Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Einen herzlichen
guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich der Kollegin Brigitte Lange,
die am 6. November ihren 60. Geburtstag feierte, die besten Glückwünsche des Hauses aussprechen.
({0})
In der letzten Woche habe ich mitgeteilt, daß für den
ausgeschiedenen Kollegen Peter Jacoby der Abgeordnete Albrecht Feibel die Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag erworben hat. Heute darf ich den Kollegen
hier herzlich begrüßen.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD: Medienberichte über Zuwendungen im
Zusammenhang mit Rüstungsexporten im
Jahr 1991 ({2})
2. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({3}): Beratung des
Antrags der Abgeordneten Ursula Burchardt,
Monika Griefahn, Heinz Schmitt ({4}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Angelika Beer, Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Förderung der Friedens- und Konfliktforschung - Drucksache 14/1963 3. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({5}): Zweite und
dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs
- Drucksache 14/1666 - ({6})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7}) - Drucksache 14/2038 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Susanne Tiemann
Rainer Funke
4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
F.D.P.: Pläne der Bundesregierung zur Erhöhung der Erbschaftsteuer
5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/
CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
OSZE-Gipfel in Istanbul - für eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der OSZE
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS Neue
europäische Sicherheitsarchitektur
- Drucksachen 14/1959, 14/1771, 14/2063 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({9})
Andreas Schockenhoff
Rita Grießhaber
Walter Hirche
Wolfgang Gehrcke
6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({10}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Klaus
Grehn, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Kindergelderhöhung
auch für Kinder im Sozialhilfebezug - Druck-
sachen 14/1308, 14/2033 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Lange
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll,
soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs-
punkt 9, Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, und
den für Freitag vorgesehenen Tagesordnungspunkt 13,
Strafverfahrensänderungsgesetz 1999, abzusetzen. Sind
Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich hö-
re keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e
auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-
deskanzlers zum Stand der deutschen Einheit
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum
Stand der deutschen Einheit
- Drucksache 14/1825 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({11})
Innenausschuß
Sportausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuß für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Dr.-Ing. Paul Krüger, Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Weiterführung des Jahresberichtes der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit
- Drucksache 14/1715 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({12})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der neuen Länder ({13})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die wirtschaftliche Stärkung der neuen
Länder - Voraussetzung für die Gestaltung
der deutschen Einheit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael
Luther, Dr. Angela Merkel, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Aufbau Ost endlich wieder richtig machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Türk, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Aufbau Ost muß weitergehen
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse und zur Herstellung von mehr
Rechtssicherheit in Ostdeutschland „Chefsache Ost“
- Drucksachen, 14/1210, 14/1277, 14/1542, 14/
1551, 14/2032 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Werner Schulz ({14})
Jürgen Türk
Gerhard Jüttemann
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({15})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert
Otto ({16}), Dirk Fischer ({17}), Dr.Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Realisierung des Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ ({18}) Nr. 8 Schienenneu-
baustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leip-
zig-Berlin
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, Horst
Friedrich, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ müs-
sen zügig realisiert werden
- Drucksachen 14/1208, 14/1543, 14/2047 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Oswald
Heide Mattischeck
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache dreieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Verehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der
Entschlossenheit und den mutigen Initiativen der ost-
deutschen Bürgerbewegungen, die von Hunderttausen-
den in Leipzig, Berlin und anderen Städten der damali-
gen DDR aufgenommen wurden, haben wir es zu ver-
danken, daß wir heute hier, wenige Meter von einer
nicht mehr sichtbaren Sektorengrenze entfernt, in einem
gesamtdeutschen Parlament über den Stand der deut-
schen Einheit debattieren können.
Durch die gewaltlose Revolution des Jahres 1989 ist
Deutschland ein souveräner und gleichberechtigter Part-
ner in einem zusammenwachsenden Europa geworden.
Präsident Wolfgang Thierse
Zugleich sind die Erwartungen an das vereinte
Deutschland gestiegen, Verantwortung in Europa und
darüber hinaus in der Welt zu übernehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 10. No-
vember 1989, einen Tag nach der Öffnung der Mauer,
begann Willy Brandt seine Rede vor dem Schöneberger
Rathaus mit den Sätzen - ich zitiere sie - :
Dies ist ein schöner Tag nach einem langen Weg,
aber wir befinden uns erst an einer Zwischenstati-
on. Wir sind noch nicht am Ende des Weges ange-
langt, es liegt noch eine ganze Menge vor uns.
Inzwischen liegen zehn Jahre seit den bewegenden
Ereignissen des Revolutionsherbstes hinter uns, und die
heutige Debatte zum Stand der deutschen Einheit gibt
mir die Möglichkeit einer Zwischenbilanz des gemein-
samen Weges.
Die erste und wichtigste Erkenntnis meiner Be-
standsaufnahme lautet: Wir haben unbestreitbar große
Erfolge beim Aufbau Ost erzielt. Diese Erfolge sind
ebenso unbestreitbar zuallererst das Resultat der Lei-
stungen der Ostdeutschen selbst.
[Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)
Zweifellos waren und - ich füge hinzu - bleiben die
Solidarität der Westländer und die Leistungen des Bundes weiter wichtig. Sie waren und sie sind oftmals Initialzündung und Katalysator; aber vollbracht wurde das
bisher Geleistete vor allen Dingen von den Menschen in
Ostdeutschland.
Die Voraussetzungen der bisherigen Erfolge sollen
hier benannt werden:
Zum einen ist es ostdeutscher und westdeutscher
Unternehmergeist. Heute existieren in Ostdeutschland
mehr als 500 000 mittelständische Unternehmen; ein
Drittel arbeitet bereits profitabel, ein weiteres Drittel ist
auf dem Weg dorthin. Das Bruttoinlandsprodukt pro
Erwerbstätigem ist zwischen 1991 und 1998 von 31
Prozent auf 60 Prozent des westdeutschen Vergleichsniveaus gewachsen. Die Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe hat sich im gleichen Zeitraum mehr
als verdoppelt. Das sind Steigerungsraten von jährlich
10 Prozent.
Auch die Investitionsquote ist in Ostdeutschland noch
immer höher als in Westdeutschland. Dies wäre nicht
möglich gewesen ohne die Flexibilität, ohne die Mobilität und vor allen Dingen ohne die Qualifikation und die
Leistungskraft der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer.
({0})
Nur eine Zahl zur Illustration: Etwa 30 Prozent aller ostdeutschen Beschäftigten arbeiten heute in einem anderen
als in ihrem erlernten Beruf. Die große Offenheit gegenüber neuen Technologien hat vielen ostdeutschen Unternehmen Startvorteile verschafft. Die neuen Länder verfügen heute über das modernste Kommunikationsnetz
Europas. In einigen Zukunftstechnologien wie der Biotechnik, der Informatik und der Halbleiterforschung
nehmen ostdeutsche Unternehmen Spitzenplätze ein. Innovative Formen des Technologietransfers - etwa zwischen Fachhochschulen und kleinen und mittleren Unternehmen - sind beispielhaft für ganz Deutschland geworden.
Zugleich ist in vielen Bereichen die erfolgreiche Anknüpfung an gute Traditionen gelungen: Die Qualitätsuhren der Ruhlaer Glashütte, die maritime Wirtschaft
etwa um die Kvaerner Werft am alten Werftenstandort
Warnemünde, wo inzwischen wieder 1 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind, oder Jenoptik
stehen beispielhaft hierfür.
Vor allem aber: Die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft der Menschen sind der Anreiz für Investitionen in den neuen Ländern. Die Qualifikation der
Autobauer in Eisenach etwa hat es ermöglicht, daß dort
Europas modernstes und zugleich eines der effizientesten Autowerke von General Motors mit heute wieder
mehr als 4 000 Mitarbeitern produziert.
Noch eindrucksvoller zeigt sich ostdeutsche Leistungskraft in mittelständischen Unternehmen mit oft
langer Tradition. Mit großem persönlichen Engagement
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch der
Firmenleitungen, mit hoher Innovationsbereitschaft und
einem guten Produkt konnten sich viele am Markt
durchsetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den Debatten über den Stand der deutschen Einheit haben sich
Regierung und Opposition immer wieder gegenseitig
vorgeworfen, sie hätten in den Jahren 1989 und 1990
gezaudert, sich geirrt oder falsche ökonomische Entscheidungen getroffen. Ich will diese Debatte hier nicht
noch einmal eröffnen. Wir können es uns nicht leisten,
uns in Rechthaberei oder Selbstgerechtigkeit zu ergehen.
({1})
Unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, die Probleme
beim Aufbau Ost zu lösen und endlich die Angleichung
der Lebensverhältnisse in Ost und West voranzubringen.
({2})
Die Aufbausituation seit der Vereinigung stand unter
einem ganz anderen Vorzeichen als die Zeit des Wirtschaftswunders in den 50er Jahren oder auch die Eingliederung des Saarlandes in den Jahren nach 1957. Es
gab keine wirtschaftliche Sonderzone Ostdeutschland
und kaum Übergangsregelungen oder Schutzklauseln für
ostdeutsche Unternehmen. Unternehmer und Arbeitnehmer mußten sich über Nacht auf eine neue Wirtschaftsordnung einstellen. Die Märkte für ostdeutsche
Produkte in Ost- und Mitteleuropa sind vielfach weggebrochen. An den westeuropäischen Märkten waren die
Unternehmen unvermittelt einer starken westlichen
Konkurrenz ausgesetzt.
Die zweite Feststellung zur Zwischenbilanz lautet
deshalb: Die Revolution von 1989 brachte zwar allen
demokratische Freiheiten und in der Folge vielen auch
materiellen Wohlstand. Aber der Übergang von der sozialistischen Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft verlief
nicht bruch- und auch nicht reibungslos. Für viele Menschen war er mit herben Einbußen und tiefen Einschnitten verbunden. Das betrifft vor allen Dingen den Arbeitsmarkt. Millionen von Arbeitsplätzen gingen verloren. Sie konnten durch die hohe Zahl der neugeschaffenen Arbeitsplätze bei weitem noch nicht ausgeglichen
werden. Die Folge: Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland ist auch heute noch immer etwa doppelt so
hoch wie die in Westdeutschland. 44 Prozent der in Ostdeutschland im Jahr 1990 Beschäftigten sind heute entweder in Rente oder arbeitslos.
Viele Betriebe sind dem Strukturwandel zum Opfer
gefallen. Heute ist sich die Mehrheit der Fachleute in
Politik und Wirtschaft über Parteigrenzen hinweg einig:
Man hat in den ersten Jahren nach 1990 - so hat es
Klaus von Dohnanyi jüngst formuliert - „die Weisheit
des Marktes überschätzt“. Statt unbeirrt an der reinen
Lehre des freien Marktes festzuhalten, wäre es erforderlich gewesen, die Bildung ostdeutschen Eigentums im
Produktionsbereich zu vereinfachen und ostdeutschen
Anbietern zumindest zeitweise lokale Standortvorteile
zu gewähren.
({3})
Selbst der BDI forderte 1993 - zu Recht, aber vergeblich - eine steuerliche Wertschöpfungspräferenz für das
verarbeitende Gewerbe. Natürlich war es die SEDHerrschaft - dies gilt es festzuhalten -, die für den desolaten Zustand des Wirtschaftsraumes Ostdeutschland
Ende der 80er Jahre verantwortlich gewesen ist. Darin
und nirgendwo anders liegen die wesentlichen Ursachen
für die ökonomischen Folgen der Vereinigung.
({4})
Ebenso unbestreitbar ist aber, daß nach zehn Jahren
in Ostdeutschland das Gefühl der Entfremdung und der
Enttäuschung noch immer sehr deutlich zu spüren ist.
Diese Empfindungen werden auch von Menschen geteilt, die vom Schicksal der Arbeitslosigkeit verschont
wurden und ihren privaten und beruflichen Weg unter
neuen Verhältnissen erfolgreich gegangen sind. Dafür
lassen sich objektive wie subjektive Ursachen ausmachen, die allesamt zu tun haben mit 40 Jahren getrennter,
aber auch mit zehn Jahren gemeinsamer, aber unterschiedlich erlebter Geschichte.
Zu den objektiven Ursachen gehören die einschneidenden und alle Lebensbereiche umfassenden Veränderungen im persönlichen Umfeld. Die Veränderungsleistung, die den Ostdeutschen nach der Vereinigung abverlangt wurde, war ohne Frage ungleich größer als die
ihrer westdeutschen Landsleute. Mit der Industrie- und
Gewerbestruktur ging häufig die soziale und auch die
kulturelle Infrastruktur verloren. Aber vor allem wurde
mit dem Verlust der Arbeit für viele der wichtigste soziale Bezugsrahmen zerstört. Mit den sozialen Strukturen und den gesellschaftlichen Bindungen ging wiederum ein Teil des Identitätsgefühls verloren.
Viel schwerer wiegen darum die subjektiven Ursachen: Viele Ostdeutsche schmerzt das als zu gering
empfundene Interesse der Westdeutschen an ihrer Geschichte und auch an ihrer Heimat. Sicher ist: Mehr
Neugier auf Ostdeutschland, seine Geschichte und seine
Menschen würde das Verständnis zwischen Ost und
West fördern.
({5})
Auch manches undifferenzierte Urteil über die Gesellschaft der DDR und damit über die Lebensleistung
der Menschen dort wird zu Recht als unfair, gelegentlich
auch als anmaßend empfunden.
({6})
In Ostdeutschland mußten die Menschen ihr Leben unter
ungleich schwierigeren Bedingungen meistern. Sie haben deshalb Anspruch auf Respekt vor dieser Lebensleistung wie jeder andere.
({7})
Noch mehr muß der oft zu vernehmende Vorwurf
kränken, die meisten Ostdeutschen seien Mittäter oder
Mitläufer einer Diktatur gewesen. Auch hier rate ich zu
Vorsicht und zu Demut: In guter rechtsstaatlicher Tradition erlaubt erst die Feststellung persönlicher Schuld in
Kenntnis der besonderen Umstände ein faires Urteil. Jedes pauschale Verdikt ist von vornherein unangebracht.
({8})
Nur die gerichtliche Aufarbeitung individuellen Unrechts und die politisch-historische Aufarbeitung der
Geschichte beider deutscher Staaten als gemeinsame
Nachkriegsgeschichte ermöglichen Rechtsfrieden und
gesellschaftliche Versöhnung.
({9})
Unter diese Aufarbeitung darf allerdings kein wie immer
gearteter Schlußstrich gezogen werden.
Eines sollten wir nicht vergessen: Meine Generation
hat die Demokratie von den Westmächten gleichsam als
Geschenk bekommen; die Menschen in der DDR haben
sich ihre demokratischen Freiheitsrechte in einer
friedlichen Revolution erkämpft.
({10})
Die Demokratie im Osten war gerade kein Westimport,
sondern das Verdienst der erfolgreichen gewaltlosen
Revolution.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, viel ist gerade in den letzten Monaten vom angeblichen Auseinanderdriften der Ost- und der Westdeutschen geredet und
in den Medien national wie international verbreitet worden. Dazu stelle ich zunächst einmal fest, daß es so etwas wie einen einheitlichen deutschen Nationalcharakter
glücklicherweise immer nur als Klischee in der Karikatur gegeben hat. Deutschland war immer von verschiedenen Kulturen geprägt und hat seinen Reiz gerade in
den regionalen Besonderheiten. Gleichwohl sind sich
Ost- und Westdeutsche in vielen Bereichen bereits viel
näher gekommen, als man es gelegentlich hören und lesen kann.
({11})
Dennoch bleiben Unterschiede. Das kann nach 40
Jahren der Teilung und nach zehn Jahren sehr unterschiedlich erlebter Einheit nicht überraschen. Darin
spiegeln sich die Realitätsunterschiede in Ost- und in
Westdeutschland, und darin spiegeln sich auch die ganz
verschiedenen gesellschaftlichen Erfahrungen, die die
Menschen in unterschiedlichen politisch-sozialen Zusammenhängen gemacht haben, wider. Für die weitere
schrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse benötigen wir dringend diese unterschiedlichen Erfahrungen
aus Ost- und Westdeutschland; denn die Vielfalt der Anschauungen ist für eine offene, wirklich plurale Gesellschaft unverzichtbar.
Vielfalt erfordert Toleranz und verdient Toleranz.
Auf eines allerdings will und muß ich hinweisen: Fremdenhaß und fremdenfeindliche Gewalt verdienen diese
Toleranz nicht. Gegenüber Intoleranz gibt es keine Toleranz.
({12})
Meine Damen und Herren, Einheit heißt nicht Einheitlichkeit. Einheit heißt Gleichwertigkeit unterschiedlicher Lösungen und Wege, heißt auch Wettbewerb,
heißt aber vor allen Dingen Chancengleichheit. Hierin
liegt der Grund, daß die Bundesregierung im Oktober
1998 mit einem klaren Ziel angetreten ist. Dieses Ziel
heißt Innovation und Gerechtigkeit.
Nur eine Politik der gerechten Modernisierung wird
den von vielen Ostdeutschen noch immer empfundenen
Widerspruch - einerseits Freude über demokratische
Freiheiten und individuelle Selbstbestimmung, andererseits die Erfahrung von Ungerechtigkeit, existentiellen
Verlusten und gelegentlich auch dem Gefühl sozialer
Kälte - überwinden können. Mit dem Jahresbericht zur
deutschen Einheit haben wir eine ehrliche Bilanz der
bisherigen Aufbauleistung vorgelegt. Diese Bilanz überhöht nichts, und sie beschönigt nicht die noch vor uns
liegende Wegstrecke.
Jede Bundesregierung hätte unverantwortlich gehandelt, wenn sie auf Kosten der Zukunft dieses Landes die
Politik der Schuldenexplosion, der Stagnation und des
Reformstaus fortgesetzt hätte.
({13})
Wer die einzelnen Entscheidungen unter den Gesichtspunkten betrachtet, ob sie gerecht waren und ob
die Interessen des Ostens berücksichtigt wurden, der
wird zugeben müssen: Gerade die Entscheidungen des
ersten Jahres unserer Regierungszeit haben das Versprechen, Gerechtigkeit zu schaffen, eingelöst.
Ich nenne drei Beispiele: Der bis 1996 geltende
Kündigungsschutz wurde wiederhergestellt. Alle Arbeitnehmer erhalten im Krankheitsfall wieder 100 Prozent ihres Arbeitsentgelts.
({14})
- Darüber würde ich übrigens nicht lachen. Auch Sie
bekommen diese 100 Prozent. Warum wollen Sie es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorenthalten?
({15})
Exakt das was Sie hier aufführen, ist es, was als unerträgliche Arroganz den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegenüber empfunden wird.
({16})
Um Lohn- und Sozialdumping dauerhaft zu bekämpfen, wurde die Befristung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes aufgehoben.
Ein wesentlicher Schwerpunkt lag in diesem ersten
Jahr beim Aufbau Ost. An dieser Stelle will ich nur zwei
sehr bedeutende Beispiele ins Gedächtnis rufen: Mehr
als 40 Prozent der mehr als 180 000 Ausbildungs-, Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Rahmen des Sofortprogramms zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit entfielen auf die neuen Länder.
({17})
Besonders erfreulich ist der überdurchschnittliche
Rückgang der Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen
unter 25 Jahren.
({18})
Im Oktober sank die Zahl arbeitsloser Jugendlicher noch
einmal um rund 50 000.
Auch in den ostdeutschen Ländern nahm die Jugendarbeitslosigkeit spürbar ab. Insgesamt ist die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen in Deutschland von 10,8 Prozent im September auf 9,7 Prozent im Oktober zurückgegangen. Ich halte das für einen wirklich großen Erfolg.
({19})
Wenn wir es schaffen, den Jugendlichen im Westen,
aber eben auch vor allen Dingen im Osten eine Perspektive in Ausbildung und Arbeit zu geben, dann werden
wir es auch schaffen, sie von Rechtsradikalismus und
Gewalt fernzuhalten.
({20})
Auch mit dem Entwurf zur Novelle des SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes löst die Regierung ihre
Zusage ein, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Die Verbesserung der Entschädigung und Rehabilitierung von
Opfern des SED-Unrechts ist von uns auf den Weg gebracht worden.
({21})
Auf Dauer Vertrauen gewinnen - dies lehrt die Erfahrung - wird nicht der, der nur den einfachen Weg geht.
({22})
Wer die Vielzahl von Verbands- und Klientelinteressen,
mit denen wir jetzt konfrontiert werden, erlebt, wer ihnen weit entgegenkommt, der wird sehen, daß alle Reformprojekte versanden.
({23})
Innovation und Gerechtigkeit, das sind die Ziele, die
in drei Dimensionen wirken müssen, um auf Dauer erfolgreich zu sein: Zum ersten in der Breite der Gesellschaft. Das heißt, wir müssen gerade angesichts der
Herausforderung der Globalisierung für Bedingungen
sorgen, unter denen jeder Mensch eine Chance hat, seine
Fähigkeiten zu entwickeln und sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten.
Dazu gehört vor allem eine Ausbildungschance für
jeden Jugendlichen, für jeden, der sie wahrnehmen kann
und wahrnehmen will. Bei dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe hat uns der Ausbildungskonsens, den wir
mit den Tarifpartnern im „Bündnis für Arbeit“ geschlossen haben, einen wesentlichen Schritt vorangebracht.
({24})
Die Bundesregierung hat mit ihrem Sonderprogramm
selber einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet. Trotz
aller finanziellen Enge wird dieses Programm im Jahr
2000 fortgesetzt werden.
({25})
Innovation und Gerechtigkeit müssen auch in der
Tiefe der Zeit wirken. Das heißt: Wir müssen die sozialen Sicherungssysteme, also Alters- und Gesundheitsvorsorge, so gestalten, daß die gerechtfertigten
Ansprüche und die notwendigen Bedürfnisse der heutigen Leistungsempfänger gesichert sind, ohne daß dies
allein zu Lasten der nachwachsenden Generationen gehen darf, für deren Sicherheit wir ebenso Verantwortung
tragen.
({26})
Aus dem gleichen Grund müssen wir die finanzielle
Bewegungsfreiheit des Staates zurückgewinnen und die
großen Hypotheken abbauen, die in den letzten Jahren
auf Kosten der nächsten Generation aufgehäuft wurden.
({27})
Will der Staat den Anspruch nicht aufgeben, sowohl der
Garant für Chancengerechtigkeit als auch für sozialen
Schutz der Schwachen zu sein, dann muß er sich auch
und gerade als Anwalt der zukünftigen Generation verstehen.
Schließlich müssen diese Ziele in die Fläche des Landes wirken. Das heißt, wir werden die innere Einheit in
dem Maße vollenden, wie sich West- und Ostdeutsche
mit ihren Stärken, Schwächen und Eigenheiten gegenseitig respektvoll annehmen. Wir werden in dem Maße
erfolgreich sein, wie wir mit dem gemeinsamen Projekt
Aufbau Ost in den neuen Ländern selbständige europäische Regionen schaffen, die sich aus eigener Kraft behaupten können. Wir halten deshalb an der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als einem vorrangigen
Ziel dieser Regierung fest.
Es gibt zum ausgehenden Jahrhundert kaum ein
wichtigeres, lohnenderes und erfolgversprechenderes
Projekt als die Herstellung der inneren Einheit.
({28})
Dieses gemeinsame Ziel ist nicht allein eine solidarische
Verpflichtung des ganzen Landes. Nein, von seinem Erfolg hängt auch ab, wie gut Deutschland seiner Verpflichtung als Motor der europäischen Einigung nachkommen kann und wie gut Deutschland im globalen
Wettbewerb bestehen wird.
Der Erfolg wird auf vier Säulen ruhen, zum ersten auf
dem Solidarpakt. Er ist das finanzpolitische Rückgrat
für die Finanzausstattung der neuen Länder. Er hebt die
gemeinsame Verantwortung des Bundes und der Länder
für den Aufbau Ost hervor. Er stärkt den Föderalismus
als wichtiges strukturelles Element.
({29})
Deshalb wird sich die Bundesregierung für eine Nachfolgeregelung ab 2005 einsetzen. Mit zunehmender Differenzierung der wirtschaftlichen Entwicklung müssen
die ostdeutschen Länder noch stärker in die Lage versetzt werden, eine regionalisierte Wirtschafts- und
Strukturpolitik zu betreiben.
({30})
Die zweite Säule ist das Zukunftsprogramm der Bundesregierung. Es schafft die finanzpolitische Voraussetzung dafür, daß der Aufbau Ost auf hohem Niveau fortgeführt werden kann. Durch die Reformen der Sozialsysteme und das Steuerentlastungsgesetz werden die Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum und für
Wettbewerbsfähigkeit in ganz Deutschland verbessert.
({31})
Im übrigen: Die hohe Schuldenlast, die uns zwingt,
fast jede vierte Mark des Bundeshaushaltes für Zinsen
und Tilgung auszugeben, ist nicht nur eine Umverteilung von Ost nach West, sondern auch eine von unten
nach oben. Sie ist zugleich eine Umverteilung zu Lasten
der nachwachsenden Generation.
Die dritte Säule ist schließlich die Verankerung der
Bundesrepublik in Europa und die aktive Gestaltung des
europäischen Einigungsprozesses. Dabei sind die Beschlüsse der Agenda 2000 von elementarer Wichtigkeit
auch und gerade für die neuen Länder. Sie bleiben bis
zum Jahr 2006 Ziel-1-Fördergebiet. Für den Ostteil Berlins besteht eine angemessene Übergangsregelung.
Ohne Michail Gorbatschows Reformpolitik, ohne die
Frauen und Männer der Solidarnosc und ohne die Weitsicht der tschechischen und der ungarischen Regierung
im Umgang mit den Botschaftsflüchtlingen bis hin zur
Grenzöffnung hätte es im Jahre 1990 keine deutsche
Einheit gegeben.
({32})
Dies gilt übrigens auch für die Solidarität der westlichen
Alliierten.
Nur mit einer Europapolitik, die den mittel- und osteuropäischen Staaten eine verläßliche Perspektive für den
Beitritt zur Europäischen Union sichert, kann der Bau
des europäischen Hauses vollendet werden. Deutschland
wird diesen Prozeß als ein Anwalt der mittel- und osteuropäischen Interessen begleiten und befördern - aus
Dankbarkeit, aus Solidarität, aber, meine Damen und
Herren, auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse.
({33})
Schließlich bietet eine vierte und zugleich die wichtigste Säule die Gewähr für den Erfolg des gemeinsamen
Projektes der deutschen Einheit. Diese wird durch die
„typisch ostdeutschen“ Fähigkeiten, die die Menschen in
den neuen Ländern auch in den letzten zehn Jahren unter
Beweis gestellt haben, repräsentiert: Tatkraft, Kreativität, Veränderungsbereitschaft sowie Anpassungs- und
Kooperationsfähigkeit.
Ausgangspunkt unseres Konzeptes für den Aufbau
Ost ist die Erfahrung, daß sich Entwicklungserfolge dort
eingestellt haben, wo aus der Region heraus eine spezifische Profilbildung gelungen ist. Gelungen ist dies insbesondere dort, wo die Grundsätze von Kommunikation
und Kooperation beherzigt wurden: Netzwerksbeziehungen zwischen Unternehmen mit dem Ziel der sinnvollen Ergänzung von Produktionen und Dienstleistungen; Vereinbarungen der Wirtschaft mit Berufsschulen
und Hochschulen über Ausbildungskooperationen und
Technologietransfer; Verabredungen mit der öffentlichen Verwaltung über den zielgenauen Ausbau der Infrastruktur, über anforderungsgerechte und zeitnahe
Umschulung des erforderlichen Personals sowie die
richtige Fort- und Weiterbildung der vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Viele Regionen in Ostdeutschland haben sich auf diese Weise bereits zu Kompetenzzentren entwickelt. Andere Regionen benötigen
noch Unterstützung, aber Potentiale sind in allen Regionen Ostdeutschlands vorhanden.
Wir haben vier Zukunftsfelder definiert, auf die wir
uns besonders konzentrieren wollen:
Erstens: Investitionen in die regionalen Stärken. Dazu
führt die Bundesregierung ständig intensive Gespräche
mit den Ländern auf allen Ebenen, unter anderem im
Rahmen gemeinsamer Kabinettsausschußsitzungen. Um
vorhandene regionale Kompetenzen freizulegen, haben
wir neue Förderprogramme aufgelegt, zum Beispiel das
Forschungsförderungsprogramm Inno-Regio. In Zusammenarbeit von Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Wirtschaftsförderungsgesellschaften werden in
den nächsten Jahren 25 konkrete regionale Entwicklungsvorhaben angestoßen, für die der Bund
500 Millionen DM bereitstellt.
Zweitens: Investitionen in Ausbildung und berufliche
Kompetenz und eine Offensive gegen den Mangel an
Fachkräften im Bereich der Informationstechnologien.
Das erfolgreiche Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit wird - ich sagte es bereits - im Jahr
2000 fortgeführt.
Drittens: Investitionen in unternehmerische Eigeninitiative, zum Beispiel durch ein neues Startgeldprogramm der Deutschen Ausgleichsbank für kleine Existenzgründungen - damit wird die Kreditbeschaffung für
viele Existenzgründer konkret erleichtert - oder durch
eine verbesserte Eigenkapitalausstattung für innovative
Unternehmen im Rahmen des ERP-Investitionsprogramms.
Viertens: Investitionen in die Infrastruktur. Wir haben
ein zusätzliches Verstärkungsprogramm „Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern“ mit einem Umfang von 3 Milliarden DM aufgelegt. Damit können zum
Beispiel notwendige Autobahnanschlüsse finanziert
werden. Die weitere Verbesserung des Wohnumfeldes
unterstützen wir durch das neue Programm „Die soziale
Stadt“. Schließlich wird durch das „Aufbauprogramm
Kultur“ die Kulturförderung für die neuen Länder verdoppelt, sie beträgt allein im Jahre 1999 267 Millionen
DM. Dadurch werden die Länder und Kommunen bei
der Modernisierung ihrer Kultureinrichtungen unterstützt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der
großen Mehrheit aller Deutschen sind wir stolz darauf,
daß 1989 vom deutschen Boden eine friedliche Revolution ausgegangen ist, eine Revolution, die dieses Land
vereint hat.
({34})
Gemeinsam müssen die Deutschen nun den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden und zugleich den Prozeß der friedlichen Vereinigung unseres
Landes vollenden, den die Männer und Frauen in Ostdeutschland vor zehn Jahren auf den Weg gebracht haben. Die bisherigen Leistungen beim Aufbau Ost lassen
die Erwartung zu, daß entscheidende Anstöße für die
Bewältigung dieser Herausforderungen auch in Zukunft
aus Ostdeutschland selbst kommen werden. Die Einheit
unseres Landes ist eben noch nicht vollendet. Die weitere schrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse
bleibt für die nächsten Jahre eine dringliche Aufgabe.
Daran mitzuwirken, sind alle aufgerufen, in Ost und
West.
({35})
Wir wollen deshalb bisher Trennendes überwinden.
Wir wollen nicht mehr nach der Herkunft, nicht nach
Ost und West unterscheiden, sondern im Engagement
für unsere gemeinsame Zukunft eine Chance für unser
Land und eine Chance für Europa erkennen. Diese
Chance, meine Damen und Herren, wollen und werden
wir nutzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({36})
Für die CDU/CSUFraktion hat der Kollege Arnold Vaatz das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Rede des Bundeskanzlers enthielt nicht allzuviel Neues.
({0})
Aber, Herr Bundeskanzler, Sie haben sich immerhin bedeutend verbessert, wenn man sich daran erinnert, daß
Sie noch im Jahre 1996 zitiert wurden mit den Worten:
Wir können die ja schließlich nicht an Polen abtreten.
Und weiter: Man wünscht den Südkoreanern eine Wiedervereinigung mit dem Norden, damit sie auf den
Weltmärkten etwas schwächer werden.
Meine Damen und Herren, es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Ihrer und unserer Auffassung.
Dieser besteht darin, daß wir meinen, daß Deutschland
durch die Wiedervereinigung nicht schwächer, sondern
stärker wird, und zwar in jeder Hinsicht.
({1})
Meine Damen und Herren, wir reden heute über den
Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der
Einheit. Von einem solchen Jahresbericht erwartet man
etwas Besonderes. Er ist nahezu ein rhetorisches Feuerwerk - im Gegensatz zu Ihrem Vortrag, Herr Bundeskanzler.
({2})
In diesem Jahr hatten wir ein rundes Jubiläum, den
zehnten Jahrestag des Mauerfalls. Auch deshalb ist es zu
begrüßen, daß - anders als Ihre Rede - der Bericht der
Bundesregierung sehr eindringlich an die Opfer der
SED-Gewaltherrschaft erinnert und daß er sich beispielsweise zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und zum
Fortbestand des Amtes des Bundesbeauftragten für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes bekennt. Meine
Damen und Herren, Sie schreiben, zu den geistigen
Grundlagen einer innerlich gefestigten Demokratie gehört ein von der Gesellschaft getragener antitotalitärer
Konsens - so steht es in dem Bericht: Warum koaliert
dann die SPD in Mecklenburg-Vorpommern mit der
PDS, und warum lassen Sie sich in Sachsen-Anhalt von
ihr tolerieren?
({3})
Es müßte Ihnen doch aus der deutschen Geschichte bekannt sein, daß Wahlerfolge einer Partei bei demokratischen Wahlen keine hinreichende Bedingung für deren
demokratischen Charakter sind.
({4})
Oder werten Sie die Standortbestimmung, wonach die
PDS systemoppositionell sei, diese Gesellschaft als ein
Durchgangsstadium betrachte, als ein Bekenntnis zur
gewaltenteiligen Ordnung? Das frage ich Sie. Ich halte
das nicht für ein solches Bekenntnis.
({5})
Sie haben, meine Damen und Herren - Sie können
schimpfen, wie Sie wollen -, den antitotalitären Konsens, den Sie in Ihrem Bericht beschwören, schon seit
Jahren aufgegeben. Die Verzweiflung darüber geht bis
tief in Ihre Reihen. Fragen Sie zum Beispiel einmal den
Kollegen Hilsberg.
({6})
Ich fände es gut, wenn es Ihnen gelänge, die Entschädigungsbeträge im Rahmen der Rehabilitierung der
SED-Opfer aufzustocken. Ich habe die Regelung, die
damals unter schwierigen Randbedingungen eines Neuanfangs von der von uns getragenen Regierung gefunden
wurde, niemals für zureichend gehalten. Aber ich warne
Sie vor der Illusion, man könne sich das Einverständnis
der SED-Opfer für eine Umarmung der PDS durch höhere Entschädigungssummen erkaufen. Das wird fehlschlagen.
Ihre Bilanz der letzten zehn Jahre fällt sehr nüchtern
und buchhalterisch aus.
({7})
Die Ereignisse von 1989 bleiben seltsam unreflektiert.
Mir wird manchmal die Frage gestellt: Haben sich Ihre
Ideale von 1989 nach zehn Jahren erfüllt? Ich antworte
dann immer: Es ging mir gar nicht um Ideale. Mir ging
es damals um die Rückkehr zur Selbstverständlichkeit:
um die Rückkehr zur Freiheit des Wortes und der Wahl
des Aufenthaltes, um die Rückkehr zu freien Wahlen,
zum Rechtsstaat und zur Gewaltenteilung. Ich wollte,
daß keine Partei mehr ihren Machtanspruch direkt in der
Verfassung festschreiben darf, daß niemand mehr Bücher, die in Buchläden in der ganzen Welt zu kaufen
sind, aus Paketen konfiszieren darf. Ich wollte nicht, daß
die Kinder weiter gezwungen werden, verlogene und
anmaßende Sätze, wie zum Beispiel „Die Partei hat immer recht.“ und „Der Charakter unserer Epoche besteht
im weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus.“ nachzusprechen. Die Rückkehr zu diesen
Selbstverständlichkeiten ist uns nahezu vollständig gelungen. Die Grundrechte sind heute selbstverständliche
Rechte. Wir tun in Ostdeutschland zuweilen so, als hätten wir nie andere Zeiten gekannt.
({8})
Mehr, als man damals erwarten konnte, geschah im
infrastrukturellen Bereich. Auch Sie, Herr Bundeskanzler, haben das bestätigt. Wir haben in den 80er Jahren
gesehen, mit welcher Geschwindigkeit die Städte und
Wohnungen verfielen. Wir haben die Weigerung der
Führung erfahren, diese Mißstände überhaupt wahrzunehmen. Was sich aus dieser eigentlich aussichtslosen
Lage im Rahmen der gesamtdeutschen Solidarleistung
entwickelt hat, lag - im positiven Sinne - jenseits von
all dem damals Vorstellbaren.
({9})
Der vielgeschmähte Begriff „blühende Landschaften“ ist
keine Übertreibung; er ist eine massive Untertreibung
für das tatsächlich Stattgefundene.
({10})
Wenn Sie den Aufschwung denunzieren, indem Sie sagen, daß dafür eine erhöhte Nettokreditaufname notwendig war, dann wird dadurch Ihr nach wie vor
vorhandenes Nichtwissen oder auch vorgetäuschtes
Nichtwissen über die wirkliche Lage in der DDR offenbart.
({11})
Herr Bundeskanzler, Sie sind auf das Bruttosozialprodukt pro Kopf in Ostdeutschland eingegangen. Es
liegt im Augenblick bei 60 Prozent des westdeutschen
Bruttosozialprodukts. Es ist notwendig, diese Zahl durch
zwei andere Zahlen zu ergänzen. Die Löhne betragen
in Ostdeutschland außerhalb des öffentlichen Dienstes
im Augenblick durchschnittlich 75 Prozent der Westlöhne. Im öffentlichen Dienst betragen sie 86,5 Prozent. Es ist also festzustellen, daß nach wie vor Löhne
und Produktivität in Ostdeutschland entkoppelt sind.
Wenn Sie angesichts dieses Problems das Anliegen, wie
wir in Zukunft mit dieser Schere zu Rande kommen,
nicht zu einem Ihrer wichtigsten Anliegen machen, dann
begeben Sie sich in Gefahr, eines Tages vorgehalten zu
bekommen, daß Sie die Realität nicht wahrnehmen
wollten.
({12})
Herr Bundeskanzler, Sie haben recht, wenn Sie in erster Linie die Leistungskraft der ostdeutschen Arbeitnehmer hervorheben. Diese kann man gar nicht genug
betonen. Aber es gab noch einen anderen wichtigen
Grund für diesen Aufschwung. Ich glaube nämlich nicht,
daß unsere tschechischen und polnischen Nachbarn so
viel fauler und dümmer als wir Ostdeutschen sind. Diese
Arbeitnehmer verdienen aber heute für ihre Arbeit - das
ist keine Sozialhilfe - im Durchschnitt 500 bis 700 DM
im Monat. Das entspricht ungefähr 15 bis 20 Prozent der
Löhne in Ostdeutschland. Aber nichts kostet in Polen
oder in Tschechien - ein Liter Benzin kostet dort eben
nicht 40 Pfennig - nur 15 oder 20 Prozent von dem, was
es in Ostdeutschland kostet. Daran muß man sich ab und
zu erinnern. Das heißt, daß der Aufbau in Ostdeutschland eine andere Dimension hat als das, was in Polen
oder in Tschechien gegenwärtig geschieht, und das verdanken wir der deutschen Einheit.
({13})
Hier scheint mir Ihr Grundproblem zu liegen, Herr
Bundeskanzler. Den Einigungsvertrag verdanken wir
maßgeblich der Arbeit von Wolfgang Schäuble und
Günther Krause.
({14})
- Sie waren alle nicht dabei. - Dieser Vertrag war, gemessen an der kurzen Zeit, die bis zu seiner Verabschiedung zur Verfügung stand, ein überragender Erfolg.
({15})
Herr Bundeskanzler, Sie und Ihr damaliger saarländischer Ministerpräsidentenkollege, Lafontaine, haben
diesen Vertrag seinerzeit im Bundesrat abgelehnt.
({16})
Wenn sich alle so verhalten hätten wie Sie, dann wäre es
Ihnen gelungen, die deutsche Einheit nicht nur zu verzögern, sondern zu verhindern.
({17})
Denn wir alle wissen, wie schnell sich nach dem Jahr
1990 die weltpolitische Lage gewandelt hat. Gorbatschow stürzte im Sommer 1991. Jetzt denken Sie, Sie
könnten in Ihrer Rede denjenigen, der Sie daran erinnert,
der Rechthaberei und der Selbstgerechtigkeit bezichtigen. Umgekehrt möchte ich Ihnen sagen: Sie versuchen,
die Geschichte, die Sie selbst mit verursacht haben, ungeschehen zu machen. Das ist das Problem.
({18})
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich - das hat man an
Ihrer Rede gemerkt - die innere Kälte gegenüber der
deutschen Einheit bewahrt.
({19})
Das steht völlig in der Kontinuität dessen, was Sie und
Ihre Partei in den 80er Jahren von sich gegeben haben.
Schon 1985 war es für Sie selbstverständlich, die Staatsbürgerschaft der DDR zu respektieren, wie man im
„Neuen Deutschland“ nachlesen konnte.
({20})
- Nehmen Sie das nur einmal zur Kenntnis; so ist es gewesen. - Hätten wir den Art. 23 des Grundgesetzes im
Jahre 1990 nicht gehabt, dann wäre diese deutsche Einheit so nicht gekommen.
({21})
Es ist den vernünftigen Menschen im Deutschen Bundestag zu verdanken, daß dieser Artikel Bestand gehabt
hat.
({22})
Sie, Herr Bundeskanzler, möchte ich in diesen Dank
nicht einschließen.
({23})
Ich sage Ihnen noch mehr. Ich bin ein gläubiger
Mensch und danke Gott und dem deutschen Wähler, daß
im Jahre 1989/90 nicht Sie Bundeskanzler waren, sondern Helmut Kohl.
({24})
Heute können Sie die deutsche Einheit nicht mehr verhindern. Sie können sie nur noch zur Chefsache machen,
was immer das bedeuten mag.
({25})
Ich weiß nicht, wie andere es halten, aber ich bin den
Menschen in Westdeutschland dankbar dafür, daß sie
bereit waren, uns mit einer so beispiellosen Unterstützung aus dem Loch herauszuhelfen,
({26})
in das wir durch die aberwitzige Anmaßung der Kommunisten gefallen waren. Ich finde übrigens, Dankbarkeit ist kein Zeichen von Naivität oder Bigotterie,
({27})
sondern Dankbarkeit hat etwas mit Menschlichkeit und
Einsicht in menschliche Grenzen zu tun, also mit Reife
und Erwachsensein.
({28})
Ich bedaure - vielleicht holt die Regierung das ja im
Jahre 2000 nach -, daß in diesem Bericht 1999 nicht
einmal der Vergleich mit unseren ehemals sozialistischen Nachbarstaaten, also der Vergleich von Ostdeutschland mit Polen, Tschechien usw., herausgearbeitet worden ist. Bei fortdauernder Zweistaatlichkeit in
Deutschland wären ähnliche Entwicklungen auch in
Ostdeutschland zu erwarten gewesen.
Freilich lastet auf uns Ostdeutschen ein nahezu
schmerzhafter Umorientierungsdruck. Dieser Druck ist
aber nicht deshalb so schmerzhaft, weil die neue Ordnung so erbarmungslos wäre, sondern deshalb, weil die
alte so falsch war.
({29})
Ich höre oft den Klagegesang: Unsere sozialistische Geborgenheit, wo ist sie hin? Es heißt: In der DDR war
nicht alles schlecht. Dieser Satz ist im übrigen richtig.
Aber ich erinnere mich an meine Haftzeit: Auch im Gefängnis war nicht alles schlecht. Was denken Sie! Es gab
dort einen Koch, der verhaftet worden war und der aus
nichts etwas gemacht hat, was hervorragend schmeckte.
Aber es war eben Knast.
({30})
Auch in der DDR war nicht alles schlecht. Das ist der
rhetorische Anlauf zu den Nostalgiearien, die auch Sie
in Ihrem Bericht beklagen.
({31})
Leider gehen Sie der Frage nicht ausreichend nach, warum das so ist. Die Beantwortung dieser Frage ist aber
wichtig. Viele trauern der Geborgenheit in der DDR
nach. Diese Geborgenheit ähnelte aber eher einer Kasernenhofgeborgenheit. Die Geborgenheit eines Kasernenhofes mag zwar klären, was es zum Frühstück gibt und
wie die Marschordnung lautet.
({32})
Sie mag unter Umständen auch die Beschäftigungslosigkeit wegorganisieren. Aber Exerzieren und Produzieren sind eben zweierlei. Beides ist anstrengend; das ist
wahr. Aber es ist notwendig, etwas zu produzieren, das
auf dem Markt zum Herstellungspreis verkauft werden
kann. Alles anderes hat mehr mit Exerzieren zu tun als
mit Produzieren.
({33})
Meine Damen und Herren, leider ist nicht jeder falsche Satz, den wir im Staatsbürgerkundeunterricht gelernt haben, so leicht als Schwachsinn zu erkennen wie
der Satz: Die Partei hat immer recht.
Es gab auch andere Sätze - das, Herr Bundeskanzler,
hätten Sie einmal aufgreifen können -: In Ostdeutschland gibt es ein schwerwiegendes Grundmißverständnis.
Viele meinen, daß der Satz, der Wert einer Ware bestehe
in der zu ihrer Herstellung notwendigen gesellschaftlichen Arbeitszeit, nach wie vor Bedeutung habe. Wenn
man diesen Satz ernst nahm, dann konnte man darüber
verzweifeln, für welche Preise teilweise die Produktionsanlagen in Ostdeutschland über den Ladentisch gegangen sind. Aber wenn man deutlich macht, daß in der
Marktwirtschaft ein Dritter durch das, was er für eine
Ware zu geben bereit ist, über den Wert dieser Ware
entscheidet, wenn man also den Begriff des Wertes eines
Produktes auch in Ostdeutschland genügend präsent
macht, dann hat man, so glaube ich, einen großen Teil
der Nostalgie an der Wurzel bekämpft.
Herr Bundeskanzler, ich bedaure es, daß Sie diesen
begrifflichen Verwirrungen nicht auf den Grund gegangen sind. Ich halte die Zweisprachigkeit in Ostdeutschland und in Westdeutschland für die nach wie vor
schwerwiegendste Ursache der Mißverständnisse zwischen den beiden Teilen unseres Landes.
({34})
Herr Bundeskanzler, Sie haben die Aufgabe, dieser
Zweisprachigkeit auf den Grund zu gehen, die daraus
erwachsenen politischen Mißverständnisse aufzuheben
und darauf unsere Zukunft aufzubauen.
({35})
Sie haben nicht die Aufgabe, Platitüden abzuarbeiten,
die wir schon zwanzigmal gehört haben, und sich damit
aus Ihrer schlechten Rolle herauszureden, die Sie in der
Vergangenheit gespielt haben.
({36})
Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen eines: Ich finde
es gut, daß Sie Willy Brandt zitiert haben. Da kann nicht
viel passieren. Das hat Sie der Arbeit enthoben, sich selber zu zitieren.
({37})
Als nächstes rate ich Ihnen: Lesen Sie Ihre Rede nach,
und klopfen Sie sie darauf ab, was man daraus in zehn
Jahren noch zitieren könnte. Ich fürchte: Null!
({38})
Ich erteile das Wort
nun dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Peter Struck.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vaatz, ich
habe mir zum einen im Bundestagshandbuch Ihre Biographie angesehen. Zum anderen habe ich 1989 und
1990 auf der Basis meiner eigenen politischen Erfahrung
Ihr damaliges Wirken in Dresden für das Neue Forum
mitverfolgen können.
({0})
Angesichts der Leistungen, die Sie zweifellos für die
friedliche Revolution in Dresden und anderswo erbracht
haben, muß ich sagen: Die Rede, die Sie soeben gehalten haben, ist für mich eine einzige Enttäuschung. Sie
desavouiert Sie selbst.
({1})
Sie haben ganz offenbar mit persönlichen Angriffen gegen den Bundeskanzler eine bestimmte Linie halten
wollen, die objektiv so nicht zu halten war. Sie haben
sich in das gefährliche Fahrwasser von manch anderem
Redner Ihrer Fraktion begeben.
({2})
Wenn Sie die Rede, die Sie eben gehalten haben, in zehn
Jahren nachlesen werden, dann wird davon nur ein Wort
übrigbleiben, Herr Vaatz, nämlich das Wort „Null“.
({3})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, erlauben
Sie mir zu Beginn eine sehr persönliche Bemerkung: Für
mich ist es noch immer ein Ereignis besonderer Art,
wenn ich morgens am Brandenburger Tor vorbei in
mein Büro in Unter den Linden fahre. Für mich ist die
Alltäglichkeit, aus meinem Büro auf das Brandenburger
Tor zu schauen, ungebrochen Anlaß zu staunen.
({4})
Machen wir uns nichts vor - damit meine ich zumindest
viele Kolleginnen und Kollegen aus den alten Ländern -:
Wir verstehen erst jetzt so richtig, was die Einheit bedeutet; wir realisieren es erst jetzt vollends. 1989 waren
wir freudig gerührt. Dann waren wir mit der Vollendung
der Einheit befaßt. Jetzt, in Berlin, sind wir im wahrsten
Sinne des Wortes berührt.
Für mich, der ich in Göttingen groß geworden bin,
war die DDR, der Ostblock keine ferne Drohung. Die
Grenze war in unmittelbarer Nähe. Ich war nicht eingesperrt; meine Erfahrungen sind nicht mit den Erfahrungen jener zu vergleichen, auch vieler in meiner
Fraktion, die im Osten leben mußten. Aber ich habe
die Teilung des Landes als Alltagserfahrung realisiert:
Der Sonntagsausflug, die Klassenfahrt, die Schulwanderung - all das endete immer an der Grenze im Eichsfeld. Die widersinnige, unnatürliche Grenze war faßbar.
Deshalb war der 9. November 1989 für mich ein Erlebnis tiefer innerer Befriedigung. Am Dienstag ist dieses
Datum in diesem Hause umfassend und, wie ich finde,
in hervorragender Weise gewürdigt worden - ich schließe alle Redner, die an diesem Tag gesprochen haben,
ein.
({5})
Mir wird die Sitzung des Deutschen Bundestages
am 9. November 1989, in der die Meldung kam: „Die
Mauer ist offen!“, immer im Gedächtnis bleiben, auch
die Tatsache, daß wir, die wir im Plenum waren, spontan
die Nationalhymne gesungen haben.
({6})
- Herr Kollege Glos, das ist wieder einmal typisch für
Sie. Ich sage Ihnen: Anläßlich dieses Ereignisses haben
wir, ich und viele andere Mitglieder meiner Fraktion, die
Nationalhymne mitgesungen. Das ist doch dummes,
parteipolitisches Geschwätz. Sie sollten sich für Ihre
Haltung schämen.
({7})
- Diesen Zwischenruf, Herr Kollege Glos, gebe ich gerne an die Menschen, die zusehen und mich hören können, weiter: Sie haben gerade gesagt, wir hätten die Internationale gesungen. Schämen Sie sich, Herr Glos!
Schämen Sie sich!
({8})
Wir erinnern uns, wenn wir an den 9. November 1989
denken - das ist vorgestern in der Berichterstattung
deutlich geworden -, an den Mut und an die unerhörte
Zivilcourage, durch die die Revolutionäre dieses Ereignis möglich gemacht haben. Ich will an dieser Stelle nur
ein Mitglied meiner Fraktion, ohne anderen Unrecht tun
zu wollen, besonders hervorheben: Ich nenne meinen
Freund Markus Meckel, der als Mitbegründer der damaligen SDP und späteren SPD in der DDR einen großen
Anteil an der friedlichen und demokratischen Entwicklung in diesem Teil unseres Landes hatte.
({9})
Heute, zehn Jahre danach, geht es darum, diese Einheit endlich realistisch zu erfassen und sie in unserem
Innern endgültig zu gestalten. Das kann nur gelingen,
wenn aus Bilanzen und Analysen zu richtigen, zukunftsweisenden Konzepten, zu Entscheidungen der
Vernunft gekommen wird.
Der Einigungsprozeß und der Aufbau Ost vollziehen
sich politisch, gesellschaftlich und ökonomisch unter
immer wieder neuen, völlig anderen Rahmenbedingungen; denn inzwischen - das sehen wir jeden Tag - ist
leider ein großer Teil der überschäumenden Freude aus
dem friedlichen Revolutionsherbst 1989 in unserem
Volk verlorengegangen. Darüber können auch die unmittelbaren Eindrücke aus dem Erleben der letzten Tage
nicht hinwegtäuschen.
Im Osten ist vielfältige, manchmal auch irrationale
Enttäuschung an die Stelle fast euphorischer Erwartungen getreten. Sie reicht zum Teil bis zur Bitterkeit. Im
Westen ist die anfängliche erfreuliche und weit verbreitete Hilfs- und Opferbereitschaft einer bisweilen sehr
mißmutigen Stimmung gewichen. Sie schließt ungerechtfertigte Vorwürfe an die Menschen in den östlichen Bundesländern ein.
Zum Thema Vereinigung und Aufbau Ost gab und
gibt es eine Menge Konsens in diesem Haus. Über das,
was jetzt im einzelnen zu tun ist, werden und müssen
wir streiten. Jetzt ist vor allen Dingen wichtig, darüber
nachzudenken, was not tut und danach zu handeln, anstatt einseitig und allein Fehler der Vergangenheit zu
beklagen.
Dafür gibt es ein einfaches Rezept: Es gilt, die Realität nicht zu schönen oder sie zu verzerren, sondern
nüchtern mit ihr umzugehen. Dafür bietet der vorliegende Jahresbericht der Bundesregierung eine hervorragende Grundlage.
({10})
Ich halte es für richtig und wichtig, den konkreten
Zahlen, Daten und Fakten noch einmal die politischhistorischen Rahmenbedingungen des Vereinigungsprozesses voranzustellen. Es gab bis zu diesem Zeitpunkt in
der Geschichte kein Beispiel, daß ein Land aus zwei
auseinandergerissenen Zeithälften neu zusammengesetzt
wurde. Das bedeutete für die Ostdeutschen die radikale
Umwälzung ihrer Lebensbedingungen, ihrer Sicherheiten und Gewohnheiten, und das alles in einer brutal kurzen Zeit.
Bei allen Brüchen, die dieser Prozeß fast zwangsläufig mit sich brachte, gilt aber auch: Diese schwierigen
Erfahrungen werden eines Tages auf der Haben-Seite
der Menschen in den neuen Bundesländern stehen. Die
Flexibilität, die Anpassungsfähigkeit, die Bereitschaft
und die Mobilität, die abverlangt wurden, sind eine ungeheure Lernerfahrung.
Vor über 30 Jahren hat einer meiner Vorgänger im
Amt des Fraktionsvorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Fritz Erler, gesagt:
Wir sind ein Volk, und da trage jeder des anderen
Last.
Ich denke, das muß auch heute noch gelten.
({11})
In der Tat: Wir haben heute Lasten zu tragen, mit denen
die meisten 1989 und 1990 nicht gerechnet haben, weil
sie Illusionen von einem Wirtschaftswunder binnen weniger Jahre gehabt haben.
Diese Illusionen hat die Regierung Kohl damals
vollmundig verbreitet und herbeigeführt. Es war falsch,
meine Damen und Herren, den neuen Bundesbürgern
blühende Landschaften zu versprechen und die alten
Bundesbürger in dem Glauben zu wiegen, der Einigungsprozeß werde sie gänzlich ungeschoren lassen.
({12})
Rüdiger Pohl, der Hallenser Wirtschaftswissenschaftler, hat vor einigen Tagen in einem Artikel der
„Berliner Zeitung“ seine kenntnisreiche Analyse, die ich
nicht in allen Punkten nachvollziehe, mit einem Gedankenspiel begonnen, das ich sehr reizvoll finde. Ich zitiere ihn:
Stellen Sie sich vor, es gibt einen großen Knall, und
wir finden uns im Jahre 1990 wieder - aber mit
dem Wissen von 1999.
Ich frage also: Wie würden wir den Vereinigungsprozeß nun neu und anders gestalten? Hätten wir dann
Skepsis und Ernüchterung, Mißverstehen und Mißvergnügen vermeiden können?
Was die Fehler angeht, so dürfen sie nicht allein betrachtet werden. Sie dürfen nicht die Aktivposten verdrängen, die im Zuge des bisherigen Einigungsprozesses
und des Aufbaus Ost zu verbuchen sind. Das reicht von
den demokratischen und bürgerlichen Freiheiten, dem
Wiedererstehen der Länder, dem solidarischen Kraftakt
von Ostdeutschen und Westdeutschen bis zu einem erstaunlichen Aufbau einer neuen Infrastruktur. Der Bundeskanzler hat darüber gesprochen.
Im Vergleich zur Ausgangslage 1989/90 haben wir in
der Angleichung der Lebensverhältnisse große Fortschritte gemacht, wenngleich wir noch nicht an unserem
Ziel angelangt sind. Lassen Sie uns aber nicht vergessen:
Mehr als die Hälfte der Wohnungen in den neuen Ländern sind saniert oder modernisiert worden. 650 000
Wohnungen wurden neu gebaut. Fast 1 200 Kilometer
Straße und 5 400 Kilometer Schiene wurden saniert, und
- der Bundeskanzler hat es erwähnt - Ostdeutschland
hat das modernste Telefonnetz Europas. Wir sind beim
Aufbau eines lebenswichtigen Mittelstandes deutlich vorangekommen. Es gibt in den neuen Ländern etwa
550 000 kleine bis mittelständische Betriebe mit
3,2 Millionen Beschäftigten.
({13})
In den letzten Jahren ist ein großer Teil dieser Betriebe
im Forschungssektor entstanden. Die Umweltbelastungen wurden drastisch reduziert. Zwar hat dazu auch die
Stillegung zahlreicher Betriebe und veralteter Kraftwerke beigetragen, aber das Ergebnis ist auch eine bessere
Wasser- und Abwasserqualität, eine bessere Abfallwirtschaft und eine bessere Luft in den neuen Ländern. Das
sind die positiven Daten.
({14})
Dem stehen natürlich auch Defizite und Fehlentscheidungen gegenüber, die sowohl den Bereich der
wirtschaftlichen wie auch der sozialen und emotionalen
Einigung betreffen. Ich nenne die Übernahme der noch
von der Modrow-Regierung geschaffenen Treuhandkonstruktion und die damit praktizierten Privatisierungsvorhaben. Der erste Chef der Treuhandanstalt, Detlev
Rohwedder, hat ein „entschlossenes Privatisieren und
behutsames Sanieren“ gefordert. Davon ist nur die
Hälfte mit lange nachwirkenden Folgen realisiert worden.
Bis heute ist die ostdeutsche Wirtschaft weit davon
entfernt, den Bedarf der eigenen Bevölkerung zu dekken. Das Defizit an Arbeitsplätzen wird auf 25 Prozent
geschätzt. Die wirtschaftsnahe Forschung wurde geradezu auf Null gebracht. Weniger als 10 Prozent des Produktivvermögens gingen über die Treuhandanstalt in
ostdeutsche Hände, über 90 Prozent gingen an Westdeutsche und Ausländer.
Ich nenne als weiteren schwerwiegenden Fehler die
Vermögensregelung nach dem unseligen Prinzip Rückerstattung vor Entschädigung.
({15})
Ich spreche Sie, Herr Kollege Schäuble, in diesem Punkt
auch persönlich als denjenigen an, der für die damalige
Bundesregierung mit Herrn Krause verhandelt hat. Ich
erinnere mich auch an die Diskussionen, die wir über
dieses Prinzip und darüber geführt haben, welche Konsequenzen es gehabt hätte, wenn wir statt des Prinzips
Rückerstattung vor Entschädigung den umgekehrten
Weg gegangen wären.
Ich weiß nicht, wie Sie das bewerten. Ich glaube
allerdings, daß wir dieses Prinzip damals tatsächlich
nicht hätten wählen sollen. Dieses Prinzip hat der Bewirtschaftung jahrelang Milliardenwerte entzogen und
so zu Investitionshemmnissen,
({16})
zu Haß und Feindschaft zwischen Alteigentümern und
Nutzern geführt. Wir wissen: Auch heute sind noch immer 10 Prozent oder fast 200 000 Ansprüche unerledigt.
Der Zwischenruf von der PDS - „Da habt ihr zugestimmt!“ - gibt natürlich die Wahrheit wieder. Wir haben dem Einigungsvertrag zugestimmt, obwohl wir zum
Beispiel in diesem Punkt eine andere Position vertreten
haben. Aber für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten war immer klar: Der Einigungsvertrag
mußte vom Deutschen Bundestag und auch vom Bundesrat beschlossen werden, weil er - ungeachtet mancher Unterschiede im einzelnen - Voraussetzung auf
dem Weg zur deutschen Einheit war.
({17})
Als weiteren Fehler nenne ich die Aufbauförderung
über Abschreibungen für Ostinvestitionen. Dem haben
wir auch zugestimmt. Ich weiß das.
({18})
- Gut, dann nehme ich das Prinzip. Das Prinzip hatte als
Konsequenz eine westliche Kapitalbildung und das Entstehen kapitalintensiver, aber menschenleerer Produktionsstätten. Wir sehen das heute, wenn wir durch die
neuen Länder fahren. Jetzt zeigt sich, daß wir vielleicht
andere Wege als den hätten gehen sollen, der dort über
die Steuergesetzgebung gegangen worden ist.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben innerhalb des letzten Jahres eine
Fülle von Fehlentwicklungen korrigiert und neue Akzente für den Aufbau Ost gesetzt. Ich hätte mir gewünscht, Herr Kollege Vaatz, daß Sie nicht eine polemische und flache Rede gehalten hätten, sondern auf diese
Punkte eingegangen wären.
({19})
Ich will sie noch einmal nennen: die Erleichterung
beim Altschuldenhilfegesetz, die Verlängerung der Investitionsvorrangregelung, der Risikostrukturausgleich
zugunsten der ostdeutschen Krankenkassen. Das ist ein
Thema, das uns jetzt auch wieder beschäftigen wird.
({20})
Wir lassen die Krankenkassen im Osten und ihre Mitglieder nicht im Regen stehen, wie unser Gesetzentwurf
zeigt. Wir werden ja sehen, was bei den Verhandlungen
- wenn es Verhandlungen gibt - dazu von Ihrer Seite zu
sagen sein wird. Ferner nenne ich ganz besonders die
Beseitigung von Ungerechtigkeiten bei der Entschädigung der Opfer von SED-Unrecht - eine Leistung, auf
die die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen stolz sein können.
({21})
Wir haben hier eine moralische Pflicht erfüllt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt nennen,
der mich persönlich in den letzten zwei Wochen besonders bewegt hat, weil es um ein Thema geht, das - das
ist meine Sicht - lange Zeit nicht angemessen behandelt
worden ist. Wir kennen das Problem der Hepatitis-Cgeschädigten Frauen aus der ehemaligen DDR.
({22})
Es sind 2 600 Frauen, die durch eine falsche Behandlung
der damaligen DDR-Behörden und eines damaligen
DDR-Unternehmens schwer gelbsuchtgeschädigt sind.
Ich sage das auch an die Adresse all derjenigen, die hier
von Nostalgie reden. Fragen Sie die Frauen, was man
mit ihnen gemacht hat! Sie sind isoliert worden; man hat
sie in ihrem Schicksal allein gelassen. Sie wußten nicht
davon, daß auch andere durch solche Behandlungsfehler
von der gleichen schweren Krankheit betroffen sind. Es
gab einen unwürdigen Streit über die Frage, wie diese
armen Frauen zu entschädigen sind; es war ein Streit
über die Frage, wer das denn bezahlen soll. Man hat sich
dann auf eine Entschädigungssumme bzw. Rentenzahlungssumme für diese Frauen von insgesamt 10 Millionen DM für alle geeinigt, wobei der Bund und die Länder jeweils die Hälfte tragen. Das hat lange Zeit gebraucht.
({23})
Die berechtigte Forderung der betroffenen Frauen, ihnen
auch über eine Einmalzahlung zu helfen - um das, was
man ihnen angetan hat, wenigstens teilweise angemessen zu entlohnen -, ist aus finanziellen Gründen abgelehnt worden. Ich will dem Bundestag mitteilen, daß
meine Fraktion zusammen mit der Fraktion der Grünen
heute in der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses einen Antrag durchsetzen wird, wonach diesen
Frauen eine Einmalentschädigung - für alle zusammen in Höhe von 15 Millionen DM zusätzlich bewilligt wird.
({24})
Soviel dann auch zu dem Thema „Wie schön war es
doch in der damaligen DDR“, an die Adresse derjenigen
gerichtet, die ganz links in diesem Hause sitzen. Sie
brauchen ja nur einmal mit den Frauen zu reden; sie
werden Ihnen dann schon sagen, wie „schön“ es war.
({25})
Zur Beseitigung sozialer Spannungen und menschlicher Irritationen, die wir zweifellos im Verhältnis zwischen Ost und West feststellen müssen, gehört mehr. Ich
kann verstehen, daß unsere ostdeutschen Landsleute zunehmend betroffen reagieren, wenn sich bei ihnen der
Eindruck verfestigt, daß Ostbiographien überhaupt keine Chance auf differenzierte Beurteilung haben. Ich habe auch Verständnis, daß im Osten kritisch registriert
wird, wenn überwiegend westdeutsche Historiker, Publizisten und leider auch Politiker nicht nur DDRGeschichte und DDR-Biographien interpretieren, sondern auch noch Werturteile fällen. Deshalb mag ich die
Pharisäer nicht, die in westlichen Lehnstühlen Predigten
darüber verbreiten, wie man sich in der SED-Diktatur
hätte verhalten sollen. Ich mag sie nicht.
({26})
Der Aufbau Ost als politisches Vorrangprojekt wird
uns noch weit ins kommende Jahrtausend begleiten.
Kein Deus ex machina, keine der noch so oft beschworenen Selbstheilungskräfte des Marktes werden etwas
daran ändern, daß das Zeit, Geld, Ideen, Stehvermögen,
Solidarität und Zuversicht braucht. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion jedenfalls ist bereit, diese
schwierige Wegstrecke zu meistern.
({27})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, dem Vorsitzenden
der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Neulich hat Fritz Stern, der
großartige Historiker, den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhalten. Er hat uns in
seiner Rede einiges zum Zustand, zu den Fragen der inneren Einheit gesagt. Er hat das im übrigen mit einem
großartigen Humor getan. Er hat von einem berühmten
deutschen Philosophen erzählt, der sich beklagt haben
soll, daß er kaum mehr zu vertieftem Nachdenken komme, weil seine Frau soviel rede. Dann ist er gefragt worden: Worüber redet die denn? Darauf hat er geantwortet:
Das sagt sie nicht.
({0})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind. - Das
beschreibt manchen Dialog, den wir in Deutschland miteinander führen. Wir reden unendlich viel.
({1})
- Das hier ist ein typischer Fall, daß, wenn jemand mit
ausgesprochen guter Laune ans Rednerpult tritt, Zwischenrufe aus verkniffenen Gesichtern kommen.
({2})
Ich will damit nicht mehr und nicht weniger sagen, als
daß wir unendlich viel miteinander debattieren, über die
deutsche Einheit reden,
({3})
große Programme auflegen, zu Chefsachen erklären,
Produktionskennzahlen oder die Zahl der mittelständischen Betriebe, die entstehen, benennen.
Aber anscheinend sagen wir uns nicht das Richtige;
denn für jeden ist spürbar - das sagt auch Fritz Stern - :
Es ist ganz merkwürdig, die Deutschen kommen mit ihren Nachbarn außerordentlich gut zurecht, nur im Innern
haben sie das anscheinend noch nicht so richtig bewältigt. Das ist einfach wahr. Es geht nicht um die Frage,
wie sich ein Standort wirtschaftlich entwickelt hat. Mir
geht es um mentale Fragen des Zusammenlebens.
Sie waren doch genauso wie ich von den Worten beeindruckt, die Joachim Gauck an uns gerichtet hat. Mir
fehlen im Grunde viele Joachim Gaucks, die ihren
Landsleuten mit derselben Biographie viel entspannter
als wir sagen könnten, welche Chancen es für dieses
Land wirklich gibt. Wir haben nämlich große Chancen.
({4})
Wir haben eine große, klare, freiheitliche und patriotische Substanz in Deutschland. Das Beste, was wir haben, ist unsere freiheitliche Verfassung.
({5})
Sie steckt zutiefst in großen europäischen Traditionen;
aus ihr kann eine Kraft zur Erneuerung kommen.
Joachim Gauck hat das hier vor wenigen Tagen vorgetragen. Das Grundgesetz, das eine zivile Gesellschaft
herausgebildet hat, hat endlich diese Phase in Deutschland beendet, in der jedem anerzogen worden ist, nur
Dienst im Glied zu versehen. Vielmehr soll man von
seinen Freiheitsrechten Gebrauch machen. Das darf
doch nicht verschüttgehen.
Es gibt eine unendlich große demokratische Substanz - das haben wir noch vor wenigen Tagen gehört;
anscheinend ist das heute wieder in Vergessenheit geraten; wenn Feierstunden stattfinden, sollte man sich daran
erinnern -, auf die wir aufbauen können, von denen, die
sich auch in der Zeit des Naziterrors anständig verhalten
haben und die ihr Leben eingesetzt haben, um Freiheitsrechte zu erkämpfen und zu erhalten.
({6})
Es ist dann zu Recht gesagt worden - darauf kann
man stolz sein; man muß doch nicht immer ängstlich
meinen, die anderen seien die Sieger -,
({7})
daß Hunderttausende von Bürgern der früheren DDR,
ohne daß sie wußten, ob das friedlich ausging - man
hätte ja auch mit Ereignissen wie auf dem Platz in Peking rechnen können - , auf die Straße gegangen sind
und mutig die Freiheit errungen haben. Warum wir darüber als gemeinsames Paket der Freiheit und unserer
Grundverfassung nicht reden, ist mir schleierhaft. Darauf kommt es doch an, um eine Zukunft herauszubilden.
({8})
- Ich spreche als freier Abgeordneter des Deutschen
Bundestages zu meinen Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Warum muß hier denn so elend in parteipolitischen
Grenzen diskutiert werden, Herr Poß? Ich spreche das
ganz normal an.
({10})
Jedes Volk hat einen bestimmten Prozentsatz von
Menschen, die wirklich als abschreckendes Beispiel
dienen können. Der ist in Deutschland nicht höher als in
anderen Ländern auch. Aber wahr ist: Die Fairen, diejenigen, die vernünftig miteinander umgehen, die ihr historisches Gedächtnis mobilisieren, sind in der Mehrheit.
({11})
- Ja, aber dann sollten wir sie auch eher sprechen lassen
und das deutlich sagen. - Wenn es die Fairen gibt, dann
dürfen sie auch sagen: Es gab nicht nur die, die im Zuge
der deutschen Einigung andere über den Tisch gezogen
haben. Es gab nicht nur die, die Betriebe aufgekauft haben und sie dann wieder geschlossen haben. Es gab auch
die, die ihre ganze Kraft in Betriebe hineingesteckt haben.
({12})
Es gab auch Manager der Treuhand, die über all ihre
Kräfte hinaus gearbeitet haben. Und weil immer das
Bild gezeichnet wird, die Treuhand habe die Wirtschaft
der DDR ruiniert, sage ich: Es gab in den Reihen der
Treuhand nicht im entferntesten die Spitzbuben, die es
in der Truppe von Schalck-Golodkowski gab.
({13})
Das muß vorurteilsfrei festgestellt werden. Im übrigen
ist es einfach wahr, daß nicht die Treuhand die Wirtschaft der DDR ruiniert hat, sondern die SED. Sie hat
die Betriebe ausgeplündert, den Kapitalstock vernichtet
und die Menschen seelisch zerstört.
Es ist falsch, in Abscheu vor einem oberflächlich verstandenen westlichen Stil eine eigene Art zu verklären.
Fritz Stern sagt - damit vermeide ich Zwischenrufe; die
kämen, wenn ich es sagte; wenn ich Fritz Stern zitiere,
haben wir eine ruhige Kulisse -:
Das einfache, wenn auch unfreie Leben im Gegensatz zum freien und hektischen Leben des westlichen Kapitalismus, das darf schon gar nicht dazu
führen, daß der Wert demokratischer Freiheit erneut vergessen wird.
Die Privatisierung der alten Heilslehren, so sagt Fritz
Stern, ist kein Gewinn.
Das ist eine sehr deutliche Aussage, die sich ganz
eindeutig gegen eine Mentalität richtet, auf deren Welle
die PDS erfolgreich ist. Dieser Mentalität muß klar entgegengetreten werden.
({14})
Wenn wir in Deutschland eine gemeinsame Zukunft haben wollen, darf die Vergangenheit nicht so verklärt
werden.
Wir müssen unseren Mitbürgern im Westen sagen,
daß zwar auch sie einen schwierigen Anfang hatten, daß
ihnen dabei aber geholfen worden ist. Es ist wahr: Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger im Osten hatten die
ungleich schwierigere Aufgabe. Auch bei der Grundentscheidung für die Marktwirtschaft wäre es nicht zu einer
Art Wirtschaftswunder gekommen, wenn wir im Westen
amerikanische und andere internationale Hilfe nicht
gehabt hätten.
({15})
Unser Weg war chancenreicher, aber einfacher, und
deshalb müssen wir lernen, mit Entfremdung - denn in
Deutschland gibt es eine solche Distanz - umzugehen.
Das schaffen wir aber nur, wenn wir ehrlich miteinander
kommunizieren.
Es gibt in Deutschland ein großes Bedürfnis nach sozialer Sicherheit. Vielleicht ist das Austarieren von
Forderungen an den Staat in Ostdeutschland auf Grund
der Biographie der Menschen dort noch viel ausgeprägter als in der alten Bundesrepublik. Aber soziale Gerechtigkeit kann nicht bei falschen Gleichheitsvorstellungen erreicht werden. Es gibt eben Menschen, die
durch eigenes Können größere Talente entfalten und
mehr zustande bringen als andere. Der Präsident der
Max-Planck-Gesellschaft, ein hochkarätiger Wissenschaftler, sagt, die Menschen seien zwar jeder für sich
einzigartig, aber die meisten seien „einzigartig durchschnittlich“ und nur wenige „einzigartig begabt“. Wenn
eine Gesellschaft nicht in der Lage ist, Neidgefühle zurückzudrängen und den einzigartig Begabten Förderung
angedeihen zu lassen und sie als zum Wohle aller zu
verstehen, dann hat sie ein falsches Gleichheitsverständnis. Denn Gerechtigkeit besteht auch darin, besondere
Befähigungen reüssieren zu lassen und ihnen Anerkennung entgegenzubringen.
({16})
Ich spreche das deshalb an, weil wir Deutsche oft mit
falschen Begriffspaaren arbeiten. Solidarität ist eben
nicht ausschließlich eine Forderung an andere. Die eigene Leistung zum Wohle aller einzusetzen ist die größte
Solidarität, die man in einer Gesellschaft ausdrücken
kann.
({17})
Leistung ist auch keine Kategorie einer Ellbogengesellschaft, sondern sicherer Bestandteil der Lebensführung
von Menschen. Wir müssen diese Punkte ansprechen.
Sonst sehe ich die Gefahr, daß wir in Deutschland eine
völlig falsche Diskussion über Gleichheit, Gerechtigkeit
und Freiheit führen.
({18})
Das kann nicht alles auf Kosten des anderen abgearbeitet werden.
Seit dem ersten Auftreten Michail Gorbatschows, so
hat Hans-Dietrich Genscher damals gesagt, hat sich alles
verändert. Vielleicht haben wir zuerst geglaubt, es ändere sich nur etwas für die Menschen in den früheren Warschauer-Pakt-Staaten. Jetzt haben wir gemerkt: Es ändert
sich für alle.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung
gesagt, den ostdeutschen Anbietern hätten zumindest
zeitweise lokale Standortvorteile gewährt werden müssen. Das ist richtig, Herr Bundeskanzler. Ich habe, als
Sie das gesagt haben, überlegt: Wo waren Sie denn, als
wir ein Niedrigsteuergebiet Ost vorgeschlagen haben,
({19})
als wir eine Wertschöpfungspräferenz für ostdeutsche
Produkte gefordert haben? Ich kann Ihnen die Reihe Ihrer Kollegen im Amt des Ministerpräsidenten namentlich benennen, die dagegen waren, weil sie nicht die
deutsche Einheit und den Aufbau Ost im Auge hatten,
sondern den 20 Kilometer breiten Streifen westliches
Zonenrandgebiet in ihrem Land, der dann vielleicht
zeitweilig ins Hintertreffen geraten wäre. Das sind die
Tatsachen.
Sie haben vorhin Klaus von Dohnanyi zitiert, einen
hochangesehenen Mann, der gesagt hat: Der Markt ist
nicht immer weise. Das ist richtig. Ich füge noch ein
weiteres Zitat von ihm hinzu: Unsere Systeme der sozialen Sicherung haben sich zu einer Barriere gegen Beschäftigung entwickelt. Dohnanyi hat Sie dringlichst
aufgefordert, einige Reformen auf den Weg zu bringen,
weil er wie ich der Meinung ist: Die größte Sicherheit in
Deutschland ist ein Arbeitsplatz und nicht die Höhe der
sozialen Begleitmaßnahmen zur Beschäftigungslosigkeit. Deshalb kommt es im Kern darauf an, eine Politik
zu verfolgen, die mehr Beschäftigung in Deutschland
initiiert.
({20})
Die soziale Kompetenz einer Gesellschaft zeigt sich aus
der Sicht der Freien Demokraten an der Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen. Dies ist die Priorität. Alles andere ist sekundär. Deshalb müßte Ihre Politik auf diese
Priorität ausgerichtet sein. Sie müßte Hindernisse beiseite räumen. Wenn ich nur die Überschriften des Papiers lese, das Sie gemeinsam mit Herrn Blair erarbeitet
haben, dann weiß ich, daß Sie diese Hindernisse genauso gut wie ich kennen. Nur, ziehen Sie endlich die Konsequenzen daraus.
Trotz allem, was noch verbessert werden muß, hat
unser Land auf Grund seiner großartigen Infrastruktur,
seines hervorragenden Bildungswesens, seiner föderativen Grundverfassung und seines großen Garanten für
die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, des Bundesverfassungsgerichts, alle Chancen, im weltweiten Wettbewerb zu bestehen, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch
mental. Aber wir müssen zu Energieleistungen fähig
sein, die sich nicht nur auf materielle Anreize konzentrieren. Ich glaube, daß die Zukunft unserer Gesellschaft, unseres Volkes auf Grund der deutschen Einheit
für die nachfolgenden Generationen mehr Chancen,
mehr Freiheit und mehr Optionen bereithalten wird als
für jede andere Generation, die in Deutschland gelebt
hat. Für uns kommt es darauf an, dies beim Wechsel in
das nächste Jahrtausend zu stärken, zu untermauern,
nach vorne zu bringen und nicht zurückfallen zu lassen.
Es besteht die Notwendigkeit, Herr Bundeskanzler,
einiges in unserem Bildungssystem zu reformieren, weil
die Qualifizierungsfrage d i e soziale Kernfrage des
nächsten Jahrtausends ist. Sie müßten Ihren an der
Lösung dieser Frage beteiligten Genossen klarmachen,
daß sie in den Ländern den Ernstfall im deutschen
Schulwesen nicht immer hinausschieben können und sie
sich ein Beispiel an den kürzeren Schulzeiten in den
neuen Bundesländern nehmen sollten.
({21})
Wir müssen die Kraft haben, den Hochschulen wirkliche
Autonomie zu geben, einschließlich Autonomie über das
Dienstherrenrecht. Wir müssen in den beruflichen Systemen auch denjenigen, die den hohen theoretischen
Ansprüchen in der Berufsausbildung nicht gerecht werden, eine Art Zertifikat geben, damit sie überhaupt
Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
({22})
Wir müssen die Tarifvertragsparteien auffordern,
über Lohnspreizungen nachzudenken, und zwar nicht,
um Lohndumping zu betreiben, sondern um denen, die
nicht soviel wie andere können, einen Arbeitsplatz zur
Verfügung zu stellen, der für deren Würde besser ist als
Sozialhilfe.
({23})
Es würde sich lohnen, unseren Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und die Tarifverträge zu öffnen. Das Tarifkartell sollte dies schon längst gemacht haben. Sie wissen doch, daß in Ostdeutschland eine Verbandsflucht
eingesetzt hat, nämlich daß kleine und mittlere Betriebe
die Verbände verlassen, weil die Zeiten vorbei sind, in
denen Krupp, Hoesch, Thyssen und Daimler-Chrysler
bestimmen konnten, welche Löhne zum Beispiel im
Erzgebirge zu zahlen sind. Die kleinen und mittleren
Betriebe können nicht dieselben Löhne zahlen wie die
großen. Deshalb muß man ihnen entgegenkommen.
({24})
Dies gilt im übrigen auch für Westdeutschland. Es ist
kein ostdeutsches Problem. Der kleine und mittlere Betrieb kann heute nicht mehr die Tarifabschlüsse umsetzen, die die großen an ihren Tischen verhandelt haben.
Aber der kleine und mittlere Betrieb bildet die meisten
Jugendlichen aus, zahlt die meisten Steuern, schafft die
meisten Arbeitsplätze und bietet die größten sozialen
Sicherheiten in Deutschland. Diese Betriebe muß die
Politik begünstigen.
({25})
Sie betreiben Privatisierungspolitik zurückhaltend.
Sie kritisieren sie eher. Wir sind der Meinung, daß der
Staat eine solche Politik fördern muß. Eine Privatisierungspolitik ist eine Chance für Ostdeutschland. Eine
andere sehe ich nicht. In Ostdeutschland gibt es nur
dann Arbeitsplätze, wenn dort Leute investieren. Wir
müssen deshalb die Leute einladen, dort zu investieren.
Der Staat soll Menschen zum Wettbewerb befähigen.
Aber er soll in der Wirtschaft nicht selber als Wettbewerber auftreten. Darauf kommt es politisch an.
({26})
Es geht nicht nur um betriebswirtschaftliche Kenntnisse, wenn man ein Unternehmen führt. Jeder weiß
dies. Auch die ökologische Dimension muß notwendigerweise bewältigt werden, und zwar nicht am Ende der
Entscheidungen; vielmehr muß sie Bestandteil der Entscheidungen von Unternehmensführungen sein.
Aber auch die Unternehmensführung selbst muß aus
diesem alten Gegensatz von Arbeit und Kapital heraustreten. Warum haben wir - das gilt auch für die Tarifvertragsparteien - eigentlich die einzigartige Chance in
Deutschland versäumt, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Ostdeutschland von Anfang an eine Gewinnbeteiligung anzubieten,
({27})
um ihnen zu signalisieren, daß es nicht um den alten
Gegensatz von Arbeit und Kapital geht
({28})
und daß sie, wenn sie jetzt Lohnzurückhaltung üben,
später beteiligt werden, sobald die Unternehmen Gewinne machen? Das wäre doch ein Angebot gewesen, das
die alte Spaltung in jenem Denken überwindet, das die
Gewerkschaften noch heute pflegen. Die Tarifvertragsparteien sollten sich nicht nur auf eine Reform von Tarifen verständigen, sondern eine komplette mentale Innovation hinsichtlich ihrer bisherigen Verhaltensweisen
vornehmen. Es geht darum, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Perspektive eigener Verantwortung
auch in den Unternehmen zu eröffnen.
({29})
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß es uns
gemeinsam gelingen kann, einen erfolgreichen Aufbau
in den neuen Ländern herbeizuführen. Das wird dann
nicht nur ein Erfolg der neuen Länder, sondern auch
eine großartige Chance für uns alle sein. Diese Aufgabe
können wir bewältigen. Unsere Gesellschaft ist doch
nicht dumm. Wir sind zu technischer Höchstleistung fähig. Wer will, kann sich in unserem Land bis zur Spitze
hin qualifizieren. Wir sind ein verläßlicher Bündnispartner. Wir haben eine klare innere Verfassung. Wir stülpen doch niemandem die Erfolgsgeschichte der alten
Bundesrepublik Deutschland über, wenn wir 17 Millionen Menschen aus Ostdeutschland einladen, ein Stück
dieser Erfolgsgeschichte neu zu schreiben.
({30})
Meine Damen und Herren, ich habe mit einem Hinweis von Fritz Stern begonnen. Daran anknüpfend stelle
ich fest: Wir alle sind zutiefst davon überzeugt, daß der
Aufbau gelingen kann. Aber warum laufen wir eigentlich immer dann, wenn es darum geht, diesen Aufbau
voranzubringen, mit betrübten Gesichtern, so verkniffen
herum?
({31})
Warum sind wir denn nicht in der Lage, den Menschen,
die Schwierigkeiten haben, ein Stück Optimismus und
Zuversicht mitzugeben? Das gehört auch zum politischen Umgang in Deutschland.
({32})
Nachdem wir nun eine Reihe von Feierlichkeiten und
Jahrestagen hinter uns gebracht haben, sollten wir - jeder für sich - verabreden, zuversichtlicher, optimistischer und verantwortungsbereiter in die Zukunft zu
gehen und diesen Optimismus auf die Mitmenschen
zu übertragen. Sie erwarten das von uns. Wir sollten
das auch deshalb tun, weil wir ihnen sagen müssen,
daß die Zeiten vorbei sind, in denen von der Politik
alles erhofft wurde. Wir haben uns in manchem verhoben. Wir wollen ihnen nicht den Eindruck vermitteln,
wir könnten alles lösen. Wir schaffen das nur zusammen. Aber dann müssen wir es auch gemeinsam anpacken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({33})
Ich erteile das Wort
nun dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Das ist eine frohe Aufforderung am Vormittag.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
in diesem Parlament schon viele Debatten zur deutschen
Einheit geführt. Auch der vorliegende Bericht ist nicht
der erste seiner Art.
({0})
Doch ist heute etliches anders; denn die heutige Opposition ist die Regierung von gestern,
({1})
und die heutige Regierung war die Opposition. Das
sollte eigentlich in einer Demokratie normal sein. Dennoch ist es ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik.
Die Ostdeutschen haben zu diesem Regierungswechsel durch Wahlen wesentlich beigetragen.
({2})
Das hat gute Gründe, von denen ich in Ihrer Rede aber
leider nichts gehört habe.
({3})
Ein bißchen kritische Selbstreflexion würde schon guttun. Deswegen sage ich hier ganz deutlich - darüber
brauchen wir uns nicht zu streiten -: über die Grundlinien der Politik des Aufbaus Ost besteht in diesem
Haus Konsens, und das ist gut so.
Arnold Vaatz, wir haben ja eine vergleichbare Vita.
Meinst du ernsthaft, ich stünde auf einer Seite, die derart
polemische Kritik rechtfertigte? Auch im Interesse der
Streitkultur wäre es gut, mit Worten nicht das einzureißen, was man mit Taten aufbauen will.
({4})
Es ist das erste Mal, daß wir den Bericht zur deutschen Einheit hier in Berlin, sozusagen mitten im Leben,
wenn ich Ihre Devise aufgreifen darf, debattieren. Wir
haben hier die Probleme direkt vor Augen. Deutschland
ist wiedervereinigt, und die Nation hat schlechte Laune,
heißt eine gängige These, die sich jetzt endlos durch
Talk-Shows zieht und in abstrusen Büchern auf den
Markt dringt.
Ich finde, zehn Jahre nach der friedlichen Revolution
gibt es keinen Grund für Verdruß und Mißmut.
({5})
Trotz kapitaler Anfangsfehler und Verfehlungen, trotz
aller Mißtöne und Enttäuschungen ist die Entwicklung
für die Deutschen in Ost und West insgesamt erfolgreich
verlaufen.
({6})
Weder die glühenden Optimisten noch die ,,Mezzogiorno!“ rufenden Pessimisten haben recht behalten.
({7})
Das muß man sehen. Die deutsche Einheit ist stabil.
Niemand will ernsthaft die DDR wiederhaben, selbst
diejenigen nicht, die sie verklären oder im nachhinein
schön reden.
({8})
Daß sich manche in provozierender Weise die Mauer
zurückwünschen, daß solch eine Frage in unseren Medien überhaupt immer wieder gestellt wird, finde ich, ehrlich gesagt, pervers und gedächtnislos.
({9})
Wir Ostdeutschen haben in den letzten Jahren Enormes geleistet. Das war möglich, weil uns die Westdeutschen mit Rat, Tat und Geld geholfen haben. Ich bin
immer davon ausgegangen, im Gegensatz zu manch anderen, daß dieser Aufholprozeß eine ganze Generation
in Anspruch nehmen wird. Daran gemessen ist der Aufholprozeß gut vorangekommen, vielleicht aus der Sicht
mancher Ostdeutscher noch zu langsam. Aber auf der
anderen Seite, aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet, eilen
die Löhne und Einkommen der Leistungsfähigkeit voraus.
Die Befürchtung, ein national aufgeblasenes, großspuriges Deutschland könnte entstehen, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Es besteht eher Erleichterung darüber, daß wir uns im vollen Umfang den europäischen
Verpflichtungen stellen und uns in die internationale
Völkergemeinschaft eingebettet haben.
({10})
Von außen betrachtet erscheint Deutschland heute als
leistungsstark, wohlhabend und leicht neurotisch. Nicht
nur Michail Gorbatschow, sondern auch andere Osteuropäer müssen uns gelegentlich daran erinnern, daß sie
uns die Sorgen gern abnehmen würden, um mit ihren zu
tauschen. Das sollte uns zumindest zu denken geben.
Das heißt: Wir könnten zufrieden sein. Dennoch sind es
offenbar nicht alle. Dafür gibt es Gründe. Das stellt aber
auch ein produktives Potential dar, das es zu nutzen gilt.
Niemand hatte 1989 mit der Einheit gerechnet. Der
Bundeskanzler hat es in seiner Rede nochmals betont: In
der DDR waren wir eher damit beschäftigt, dieses Kürzel der drei Buchstaben wahrheitsgemäß auszufüllen.
Das heißt, um das klar zu sagen: Auch die Bürgerrechtler hatten damals die Mauer im Kopf. Sie schien nämlich u.a. überwindbar. Niemand hat vorhergesehen, was
dann passiert ist. Auf der westdeutschen Seite hatte man
ein Ministerium für innerdeutsche Fragen, aber keines
für gesamtdeutsche Antworten. Auch das muß man sich
einmal vergegenwärtigen.
({11})
Vielleicht liegt es daran, daß dieser plötzliche Freudentaumel nicht in einen Bewußtseinswandel umgeschlagen ist. Heute ist aus diesem Wahnsinn - mit drei
oder vier a geschrieben -, diesem plötzlichen Glücksfall,
Alltag geworden mit all seinen Mühen, den kleinen Nervereien und natürlich auch den kleinen Freuden.
Daß sich für die einen so gut wie nichts verändert hat
und für die anderen so ziemlich alles, mag manche der
Spannungen zwischen Ost und West erklären. Selbst
glückliche, chancenreiche Situationen können eben zu
menschlicher Überforderung führen. Was angeblich an
Werner Schulz ({12})
Jammern und Klagen aus dem Osten gehört wird, ist
oftmals nichts anderes als Stöhnen unter diesem großen
Anpassungsdruck.
Nach wie vor gehen im Osten Lage und Stimmung
auseinander. Den meisten geht es heute materiell besser.
Sie fühlen sich politisch frei, doch sozial unsicher. Die
demokratischen Grundwerte gehören zur Grundausstattung. Die Freude darüber wird jedoch getrübt, weil
die alten sozialen Sicherheiten weg sind und die neuen
noch nicht so recht greifbar oder gewiß sind.
Es wurden aber auch sehr schmerzhafte, tiefschneidende Erfahrungen gemacht. Nachdem die Ostdeutschen
für einen kurzen historischen Moment ihr Geschick in
die eigenen Hände genommen hatten, mußten sie spätestens nach der Währungsunion feststellen, daß wieder
anderenorts über ihr Schicksal entschieden wurde. Viele
Vorgänge der Treuhand blieben so undurchsichtig wie
die Vorgänge in der Staatlichen Plankommission.
({13})
Viele Hoffnungen gingen nicht auf, zum Beispiel
konnte eine größere Zahl industrieller Kerne nicht in die
Marktwirtschaft gerettet werden. Es kam an vielen Stellen völlig anders. Kein Großkonzern hat heute seinen
Sitz in einem ostdeutschen Land. Die Dresdner Bank
blieb am Main, die Gothaer Versicherung in Köln - ich
könnte die Reihe endlos fortsetzen.
Ich will mich über den Ausdruck „blühende Landschaften“ nicht streiten. Ich möchte nur Hans D. Barbier
von der „FAZ“ zitieren. Er spricht von Landschaften im
Zwielicht. Er meint: Es gibt weder flächendeckende
blühende Landschaften noch ausgeweitete Sozialbrachen. Der Osten ist in einer ambivalenten Situation:
Einerseits hat er eine materielle Verbesserung erlebt,
andererseits ist die Wirtschaftsstruktur noch nicht in
dem Maße ausgebaut, wie es sein müßte.
Wie gespalten unser Land noch ist, zeigt uns eigentlich tagtäglich die Arbeitslosenstatistik. Solange wir im
Osten noch eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit haben,
erleben wir, wie prekär das Problem ist. Dort fehlen etwa 2 Millionen Arbeitsplätze. Ich sage das, um uns die
Dimension des Aufbaus Ost immer wieder vor Augen zu
führen.
({14})
Es gibt keinen Grund, beim Aufbau Ost einen Gang
zurückzuschalten. Die Bundesregierung wird den Aufbau Ost stetig und verläßlich auf hohem Niveau und
auch mit neuer Qualität weiterführen.
({15})
- Selbstverständlich, worauf sollten Sie sonst Hoffnung
begründen? - Es hätte wenig Sinn, die Grundlinien dieser Förderung zu verändern. Wie gesagt, beim Aufbau
Ost stehen Kontinuität und Verläßlichkeit im Vordergrund. Neue Akzente sind beispielsweise durch das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gesetzt worden. Der Bundeskanzler hat betont, daß dieses
Programm dem Osten überproportional - zu über 40
Prozent - zugute kommt. Es hat dazu beigetragen, daß
man die Jugendarbeitslosigkeit und auch die Perspektivlosigkeit in der Ausbildung angegangen ist.
Ich spreche bewußt auch den Inno-Regio-Wettbewerb an. Es handelt sich dabei um eine wirklich hervorragende Initiative, an der sich über 400 Regionen beteiligt haben. 25 Regionen sind in der letzten Woche prämiert worden. Aus den Regionen sind kreative Potentiale gekommen. Traditionelle Bereiche sind revitalisiert
worden. Wie die Aufbauförderung neu angegangen werden kann, ist eine ganz tolle Sache.
({16})
In diesen Tagen, in denen wir den Mauerfall feiern,
will ich deutlich machen, daß eine virtuelle, eine unter
Hochspannung stehende Barriere gefallen ist. Ich meine
den geteilten Strommarkt, den es in diesem Land noch
immer gab. Die sogenannte Lex VEAG bedeutete, daß
man im Osten höhere Strompreise als im Westen erheben konnte. Wir haben jetzt eine Lösung gefunden, die
sowohl die Zukunft der VEAG als auch die des ostdeutschen Braunkohletagebaus sichert. Die damit verbundenen Wettbewerbsnachteile für den Standort Ost stammen nicht von der SED; vielmehr sind sie von der alten
Bundesregierung geschaffen worden. Es ist eine wirklich großartige Leistung der jetzigen Regierung, diese
Wettbewerbsnachteile beseitigt zu haben.
({17})
Man muß den Ostdeutschen nicht erzählen, was
Marktwirtschaft ist; vielmehr werden sie durch die Beseitigung der Wettbewerbsnachteile an der Marktwirtschaft beteiligt. Sie erleben Wettbewerb nicht nur in der
Zeitung oder auf Plakaten, auf denen gelber oder grüner
Strom angeboten wird; vielmehr können sie sich unmittelbar beteiligen.
Offensichtlich möchte sich jetzt der Kollege Luther
beteiligen.
Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Luther?
Ja.
Sehr geehrter
Kollege Schulz, ich möchte Ihnen eine Zwischenfrage
stellen, die sich auf den Strommarkt bezieht. Sie haben
der alten Bundesregierung soeben in die Schuhe geschoben, daran schuld zu sein, daß die VEAG momentan
Wettbewerbsnachteile erleidet. Meines Erachtens
kommt es jetzt durch die hohen Investitionen und durch
die Modernisierung der Kraftwerke zu einem verstärkten
Abschreibungsdruck. Das ist der wesentliche Grund für
die derzeitigen Probleme, die in wenigen Jahren gelöst
Werner Schulz ({0})
sein werden. Ich glaube, daß die alte Bundesregierung
genau richtig gehandelt hat. Die Kraftwerke mußten saniert werden. Die geleistete Hilfe ist schon gut. Werten
Sie das genauso?
Kollege Luther, ich bestreite den Investitionsbedarf der VEAG und die sich daraus ergebenden
Schwierigkeiten nicht. Bloß rechtfertigt das andererseits
heute überhaupt nicht mehr, daß man im Osten höhere
Strompreise bezahlen muß. Höhere Strompreise sind in
gewisser Weise auch eine Investitionsbarriere.
({0})
Wenn ich in Ihren Anträgen lese, daß Sie die Ökosteuer für den Osten abschaffen möchten und damit im
Osten im Grunde genommen ein Sondergebiet einrichten wollen, dann frage ich mich, warum Sie sich nicht
darüber freuen, daß wir dieses Sondergebiet nivellieren,
daß wir Wettbewerb und einen einheitlichen Strommarkt
in Deutschland schaffen. Das Erreichen dessen, was Sie
acht Jahre nicht geschafft haben, liegt doch eigentlich in
Ihrem Interesse.
({1})
Ich will auch der Behauptung entgegentreten, daß das
Sparpaket zu Lasten des Ostens geschnürt worden sei.
Dies kann man in gar keiner Weise belegen, weil der
Aufbau Ost auch für die jetzige Bundesregierung Priorität hat und von ihr als eine vorrangige Aufgabe angesehen wird. Gerade im Interesse von Ostdeutschland
liegt es, daß dieses Zukunfts- und Sparprogramm durch
den Bundesrat kommt. Ich hoffe, daß auch die
CDU/CSU-geführten Bundesländer im Osten sich dieser
Verantwortung bewußt sind und ihm zustimmen. Der
Westen kann besser mit einer Ablehnung leben, weil die
anspringende Konjunktur und die Exportstärke ihm eher
als dem Osten die Chance geben, von der Weltkonjunktur zu profitieren.
Auch wenn darüber kritisch diskutiert wird, steht fest:
Dem Staatsminister Schwanitz ist es mit der Neuformulierung der Systematik zur Ostförderung endlich gelungen, beim Aufbau Ost Äpfel und Birnen auseinanderzuhalten; die alte Bundesregierung hat immer alles
zusammengezählt, um möglichst hohe Transfersummen
auszuweisen. Wir haben zum erstenmal wirklich eine
klare, übersichtliche, ehrliche und wahrheitsgemäße Systematik
({2})
und wissen, was wirklich in den Aufbau Ost fließt.
({3})
Im Rahmen der anstehenden Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern werden wir
die finanziellen Grundlagen für die weitere Angleichung
der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland sichern. Die
Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen werden rechtzeitig eine Anschlußregelung für das Föderale
Konsolidierungsprogramm beschließen.
Heute wird das Bundesverfassungsgericht über die
Klagen von Baden-Württemberg, Hessen und Bayern
zum Finanzausgleich entscheiden. Unabhängig davon,
wie das Urteil ausfallen wird, besteht beim Länderfinanzausgleich über die Anschlußregelung für den Solidarpakt hinaus Handlungsbedarf. Das Verhältnis zwischen Solidarität und Wettbewerb zwischen den Ländern muß neu austariert werden. Es gibt schon lange
Zweifel daran, ob die Bundesländer in ihrer jetzigen
Größe und Form auf mittlere Sicht in der Lage sind, ihre
Aufgaben auch und gerade in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht zu erfüllen.
Ost und West befinden sich längst in einem gemeinsamen Wirtschaftskreislauf. Auch im Westen - selbst
wenn das einem nicht immer bewußt ist - ist man darauf
angewiesen. Ein dauerhaftes Zurückbleiben des Ostens
würde zu Überlastungen des Westens führen. Umgekehrt gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen,
daß eines Tages die modernen Wirtschaftsregionen des
Ostens einen Beitrag zur Sanierung der alten Industrieregionen im Westen leisten könnten.
Im Osten vollzieht sich ein Strukturwandel, den der
Westen erst noch vor sich hat. Dazu gehört die Umgestaltung von Industriebereichen, die keine staatlichen
Subventionen mehr retten können. Hier vollzieht sich
anschaulich der Übergang in die Dienstleistungs-, Wissens- und Informationsgesellschaft. Es ist sicherlich kein
Zufall, daß gerade in Ostdeutschland verstärkt die Frage
auftaucht, weshalb ein Ladenschlußgesetz, das völlig
überflüssige Vorschriften enthält, nicht einfach abgeschafft oder zumindest gelockert werden kann. Wie fit
ist ein Land für die Zukunft, das seinen Bürgern die
Einkaufszeiten vorschreibt, aber generelle Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen für unnötig erachtet?
({4})
Ich möchte auf die Themen innere Einheit und soziale Gerechtigkeit eingehen, die man nicht mit sozialistischer Gleichheit verwechseln sollte. Da irrt sich Gregor Gysi gewaltig. Er hat im Bundestag schon des öfteren sein Zielfoto der inneren Einheit vorgestellt, das
auch bei seinen Zuhörern gut ankommt. Er sagte, die innere Einheit sei erst dann abgeschlossen, wenn es auf
Sylt genauso viele ostdeutsche Millionäre wie westdeutsche Millionäre auf Rügen gebe. Das klingt phantastisch, man kann darüber lachen. Es schließen sich daran
allerdings einige Fragen an: Warum gibt es eigentlich
kaum ostdeutsche Millionäre? Als einziger fällt mir
Schalck-Golodkowski ein; der residiert allerdings nicht
auf Sylt, sondern am Tegernsee.
({5})
Aber möchte Gregor Gysi wirklich, daß es in Ostdeutschland vergleichbar viele Millionäre wie in Westdeutschland gibt? Ist er wirklich bereit, eine WirtschaftsDr. Michael Luther
und Sozialpolitik mitzutragen, die vielen Ostdeutschen
die Chance gibt, Millionär zu werden? Ist das die Form
von sozialer Gerechtigkeit, die uns die PDS demnächst
verkünden wird? Oder möchte er sein Ziel durch konfiskatorische Besteuerung der westdeutschen Millionäre
erreichen?
All diese flotten Agitpropsprüche, die dem Osten
weismachen sollen, man sei der Verlierer der Einheit,
ziehen nicht so richtig. Denn jeder weiß doch, wie die
Verhältnisse in Ostdeutschland damals ausgesehen haben. Die Leute mußten heiraten, um eine Wohnung zu
bekommen. Heute würde man vielleicht einen Trabi bekommen, wenn man 1989 eine Anmeldung abgegeben
hätte, statt die Mauer zu beseitigen.
({6})
Wir sollten das nicht vergessen. In der Bankrotterklärung der Staatlichen Plankommission vom 27. Oktober
1989 steht:
Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im
Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um
25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen.
Man muß sich merken, in welchem Zustand die DDR
war. Zehn Jahre später will nämlich die PDS den Leuten
im Osten einreden, sie hätten quasi einen Rechtsanspruch auf Westlöhne. Es liegt doch auf der Hand, daß
jedes Prozent Lohnangleichung die Wettbewerbsfähigkeit des Ostens vermindert und es schwerer macht, die
Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Für die PDS ist dies natürlich kein Problem. Sie pumpt neues Geld in den
zweiten Arbeitsmarkt. Das wiederum holt sie sich von
den Millionären auf Rügen oder Sylt. So kommt man
der sozialen Gerechtigkeit und möglicherweise auch den
alten Zuständen wieder näher.
({7})
Natürlich ist es für viele schwer zu verstehen und zu
akzeptieren, warum im öffentlichen Dienst noch Unterschiede gemacht werden, wo Kollegen aus Ost und West
denselben Arbeitgeber haben, am selben Ort die gleiche
Arbeit machen. Dennoch ist es eine Zeitlang nötig,
glaube ich, mit diesen Widersprüchen zu leben. Sie sind
weitaus erträglicher als Unterschiede, die wir früher ertragen mußten.
Es ist nämlich demagogisch, zu behaupten, daß die
Ostdeutschen Bürger zweiter Klasse sind. Bürger zweiter Klasse gab es zu SED-Zeiten.
({8})
Da war fast ein halbes Volk Bürger zweiter Klasse,
nämlich diejenigen, die kein Westgeld hatten, um in
den Intershops einzukaufen, die keinen Reisepaß in
der Tasche hatten, um das Land gelegentlich zu verlassen und nach Westberlin zu gehen. Das waren all
diejenigen, die benachteiligt waren, die waren tatsächlich Bürger zweiter Klasse. Ich habe nie so einschneidende Privilegien erlebt wie die in der DDR für die Nomenklatura.
({9})
- Ich weiß, daß es Ihnen nicht gefällt, aber ich denke,
Sie wollen sich mit Ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Nun helfe ich Ihnen und gebe Ihnen ein paar Stichworte; jetzt ist Ihnen das auch wieder nicht recht.
({10})
Während die PDS das Lied singt, es sei nicht alles
schlecht gewesen - darüber kann man diskutieren -, habe ich eine neue Melodie in den Medien gehört. Die
kommt von Wolfgang Schäuble, der sagt: Es ist nicht
alles gut gelaufen, was wir im Zuge des Einigungsvertrages gemacht haben. Das ist spannend, das finde ich
hochinteressant. Herr Schäuble, vielleicht hätten wir
darüber schon früher reden können. Damals habe ich nur
Krauses Zeug verstanden und gehört.
({11})
Wenn es noch ernsthaft eine Möglichkeit gäbe, über
Dinge zu reden, was man einfach nur übergestülpt hatte
und welche Folgen es hatte, wenn wir dann nicht nur
beim grünen Pfeil und dem seligen Andenken an Polikliniken landen - Angela Merkel, wir müssen uns da
nicht agitieren.
({12})
- Es gibt natürlich Erfahrungen, die wir hätten nutzen
können, zum Beispiel die Diskussion, die wir jetzt in der
Rentenversicherung führen. Es gab im Osten durchaus
das Bewußtsein dafür, daß man einen privaten Anteil
erbringen muß, wenn man eine bessere Altersfürsorge
haben will. Der freiwillige Zusatz zur Rentenversicherung ist zumindest eine Sache, die im Kopf war. Ich
nenne auch die Lohnangleichung im Krankheitsfall ({13})
Das sind Probleme - ich bin da vollkommen offen -,
über die man reden muß. Man muß aber auch über die
Abschaffung kirchlicher Feiertage zum Zwecke der
Sozialpolitik sprechen. Die DDR hat nämlich, um die
arbeitsfreien Samstage einzuführen, die kirchlichen Feiertage abgeschafft. Daß ich erleben mußte, daß das im
Westen aus sozialpolitischen Gründen noch einmal geschah, hat mich doch leicht geschockt.
({14})
- Sachsen hat es anders gemacht. Aber die Bundesregierung, Wolfgang Schäuble, haben Sie damals gestellt.
({15})
Werner Schulz ({16})
Herr Kollege Schulz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?
Bitte.
Herr Kollege
Schulz, nur um der historischen Wahrheit willen will ich
fragen: Sind Sie bereit, zuzugestehen, daß bei der Einführung der Pflegeversicherung die damalige Bundesratsmehrheit, bestehend aus SPD-regierten Ländern
- teilweise haben die Grünen mitregiert -, jede andere
Kompensation als die Streichung von Feiertagen abgelehnt hat
({0})
und daß wir zweitens als Bundesgesetzgeber den Landesgesetzgebern die Wahl gelassen haben,
({1})
ob sie Feiertage abschaffen oder ob sie die Beitragsbelastung durch die Pflegeversicherung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hälftig verteilen wollen? Ihre
eben getroffene Aussage, es sei der Bundesgesetzgeber
und damit die damalige Mehrheit gewesen, die die Feiertage im Westen abgeschafft haben, ist falsch.
({2})
Sie haben den Bundesländern natürlich die Wahl
gelassen; anderenfalls hätten wir ja keine unterschiedliche Regelung. Daß beispielsweise Sachsen diesem
Weg nicht gefolgt ist, finde ich in Ordnung - überhaupt
keine Frage. Aber daß Sie als Christlich Demokratische
Union die Abschaffung von kirchlichen Feiertagen als
Kompensation ins Spiel gebracht haben, ist für mich eine Enttäuschung, die Sie bei mir auch mit einer weiteren
Zwischenfrage nicht tilgen können.
({0})
Wenn wir schon über solche Fragen reden, dann müssen wir auch darüber sprechen, wie wir die Einheit vorangetrieben haben.
({1})
Nach wie vor fehlt unserem vereinten Volk ein konstitutioneller Grundakt, eine gemeinsam erfahrene Grundlegende. Ich glaube, es wäre besser gewesen, wir hätten
die Wiedervereinigung nicht in Form eines Beitrittes
durchgeführt, sondern so, wie es Art. 146 des Grundgesetzes immer schon vorgesehen hatte, nämlich daß
sich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine
Verfassung gibt. Das hätte uns auch politisch näher zusammengebracht.
({2})
Weil uns diese Erfahrung fehlt, bleibt sozusagen ein
Webfehler im vereinten Deutschland.
Bei aller Einheit in Vielfalt - ich schätze diesen
Reichtum an Vielfalt in unserer Gesellschaft; wir brauchen ihn - müssen wir aufpassen, daß wir das Feld der
Nation nicht denen überlassen, die es schon zweimal in
diesem Jahrhundert in einen Blutacker verwandelt haben. Wenn man sich die Rechtsradikalen anschaut, die
mit ihrem nationalistischem Gehabe versuchen, sich an
junge Menschen heranzumachen, dann müssen wir im
Hinblick auf die nationale Identität aufpassen; denn
neben der durch die Vereinigung gewonnenen formalen
und staatlichen Souveränität brauchen wir in einer gewissen Weise auch eine nationale Identität. Aber wir
brauchen keinen nationalen Überschwang und auch keine Flucht nach Europa. Früher gab es den „Bericht zur
Lage der Nation“. Vielleicht kommen wir wieder dahin,
daß wir das vereinte Deutschland als Nation - und zwar
als Nation in Europa - begreifen.
Für mich war nicht das fehlende Glockengeläut anläßlich der Vereinigung ärgerlich, sondern eher das fehlende Gespür für demokratische und für nationale Symbole und deren einheitsstiftende Wirkung. Das fängt bei
der Nationalhymne an; ich teile Ihre Bevorzugung,
Herr Bundeskanzler. Auch mir wäre ein einheitlicher
Text lieber gewesen, anstatt daß die Rechten mittlerweile die erste Strophe und die Demokraten in diesem
Land die dritte Strophe singen. „Anmut sparet nicht
noch Mühe“ wäre auch ein gutes Motto für unsere Regierung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Heiterkeit bei der CDU/CSU -
Die Mühe machen wir uns!)
- Die Mühe machen wir uns, und an Mut fehlt es auch
nicht.
Daß uns die Geschichte nicht losläßt und sogar wieder einholt, können wir doch auch an der im Vorfeld so
kritisch diskutierten Veranstaltung zum 9. November
erkennen. Eigentlich ist der 9. November der Tag der
Wiedervereinigung - als nämlich die Deutschen in Ostund Westberlin die Mauer gestürmt haben. Dieser Tag
und nicht der 3. Oktober ist in den Herzen und in den
Köpfen der Menschen als der Tag der Einheit.
({0})
Daß wir eine vorgezogene Einheitsfeier hatten, hängt
doch damit zusammen, daß wir diese beiden Tage permanent verwechseln. Der 9. November ist unser eigentlicher Schicksalstag; er zieht sich von 1848 bis 1989 mit
all seinen trüben und schlimmen Kapiteln, aber auch mit
seinen freudigen Momenten durch unsere Geschichte.
Wir werden möglicherweise nie eine Nation wie die
Franzosen werden, die auf den Straßen tanzt. Dieses
Verhalten geben unsere Mentalität und unsere Geschichte
nicht her. Aber wir haben Grund zur Freude und zur
Hoffnung. Vielleicht gelingt es uns doch noch, diesen Tag
zu einem nationalen Gedenkfeiertag zu machen.
({1})
Ich will zum Abschluß meiner Rede noch einen Gedanken äußern. Mich stört der Begriff von der Mauer
im Kopf. Ich halte davon nicht viel. Ich habe das eingangs erwähnt: Die Mauer im Kopf war etwas anderes;
sie hatte etwas mit dem realen Bestand dieser Mauer zu
tun. Heute geht es mehr um das Brett vor dem Kopf, habe ich den Eindruck.
({2})
Wenn man sich das genauer anschaut, ist das eine doppelseitige Pinnwand, auf der beiderseits die Vorurteile
und Vorwürfe angeheftet werden. Wir haben die wirkliche Mauer abgetragen, jetzt sollten wir auch diese Zettel
herunterreißen. Wir sollten wieder mehr miteinander ins
Gespräch kommen.
({3})
Die Deutschen in Ost und West haben in einer Nischengesellschaft gelebt. Die Zeit dieser Abschottung ist
vorbei; die Zeit vor und hinter der Mauer ist Vergangenheit. Wir bekommen das in Berlin deutlich zu spüren.
Die politische Generation des Mauerfalls muß es lernen,
mit den heutigen Problemen und Konflikten zu leben
und sie zu lösen. Heute geht es nicht mehr nur darum,
die innere Einheit zu vollenden, sondern wir müssen uns
eine gemeinsame Zukunft erarbeiten. Das ist die Aufgabe, vor der die jetzige Bundesregierung, aber auch die
Opposition steht und die wir lösen müssen. Wir müssen
daher den Dialog wiederbeleben. In der Gesellschaft und
der Politik ist es besser, miteinander als übereinander zu
sprechen. Vielleicht war die erweiterte Redeliste am 9.
November ein bescheidener Anfang dazu.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zunächst, Herr Vaatz, zu Ihrer Rede
eine Bemerkung. Ich finde, daß Sie in der DDR eine
Biographie hatten, die Respekt fordert und keine Häme,
auch nicht in diesem Hause.
({0})
Ich finde aber andererseits, daß Sie inhaltlich eine Rede
gehalten haben, die uns in der Frage der Einheit wirklich
nicht voranbringt.
({1})
Ganz im Gegenteil: Sie war durch das Denken des kalten Krieges und durch zum Teil unbegründete Vorwürfe,
übrigens in alle Richtungen der Gesellschaft, geprägt.
Das bringt eigentlich nie etwas.
Herr Struck, Sie haben uns vor Nostalgie gewarnt.
Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Wir nehmen diese
Warnung auch an. Wir haben uns allerdings in Wirklichkeit von Anfang an für einen differenzierten Umgang mit der Geschichte, für eine Anerkennung auch
der Lebensleistung der Ostdeutschen ausgesprochen.
Das hat auch der Bundeskanzler heute hier getan und
damit übrigens eine Uraltforderung der PDS aufgenommen.
Wenn Sie hier den Fall der impfgeschädigten Frauen
erwähnen, ist das aus zwei Gründen ungerecht. Erstens
ist die Art ungerecht, wie Sie das gemacht haben. Sie
haben nämlich so getan, als ob ein solcher Impfschaden
nur in der DDR hätte entstehen können. Das ist natürlich
falsch; das wissen Sie. Den gibt es in allen Ländern,
auch in der Bundesrepublik. Ich will gar nicht an Contergan etc. erinnern.
Schlimmer ist, daß damit nicht offen und öffentlich
umgegangen wurde und daß die Entschädigungen viel
zu gering waren. Das ist das, was man scharf kritisieren
muß. Deshalb haben sich diese Frauen übrigens auch an
die PDS gewandt. Wir haben diesbezüglich ganz entschieden ein Handeln der alten Bundesregierung gefordert.
Herr Gerhardt, bei Ihnen ist mir etwas aufgefallen,
worüber man in Zukunft wirklich gründlich diskutieren
muß. Sie haben von der Freiheit und der Unbequemlichkeit der Freiheit gesprochen und davon, daß man
sich auf bestimmte Sicherheiten nicht so verlassen könne wie in einer nicht freien Gesellschaft. Ich denke, es
ist ein Kernproblem, daß Sie das alternativ behandeln.
Das hat auch die DDR gemacht, natürlich in umgekehrter Richtung. Sie hat immer gesagt, eine bestimmte soziale Sicherheit, eine bestimmte soziale Gerechtigkeit
verhindere nun einmal eine bestimmte Freiheit, die die
Leute sich vorstellten. Sie sagen den Leuten nun, eine
bestimmte Freiheit verhindere nun einmal eine bestimmte soziale Gerechtigkeit und eine bestimmte soziale Sicherheit, die die Leute sich vorstellten.
({2})
Ich finde es schon im Ansatz falsch, das alternativ zu
denken.
({3})
Im Grunde genommen geht es darum, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und Freiheit miteinander zu
verbinden, statt sie einander gegenüberzustellen.
({4})
Er hat auch noch gesagt, unsere Gesellschaft müsse in
der Lage sein, einzigartige Begabungen zu fördern. Aber
- das müssen Sie zugeben - darin war die F.D.P. in den
letzten Jahren auch kein Vorbild.
({5})
Ich räume aber ein, daß das durchaus eine Aufgabe ist.
Werner Schulz ({6})
Herr Schulz, nun zu Ihnen: Erstens. Was flotte Agitprop-Sprüche betrifft, würde ich mit Ihnen nie die Konkurrenz aufnehmen. Ich finde, da sind Sie führend.
({7})
Zweitens. Sie verklären die DDR. Sie haben doch behauptet, wenn einer 1989 einen Antrag auf einen Trabant gestellt hätte, würde er ihn heute bekommen. Sie
meinen also im Ernst, daß er ihn nach zehn Jahren hätte.
Da kennen Sie die Fristen der DDR nicht. Die lagen
immer zwischen 14 und 16 Jahren.
({8})
- Selbst in Berlin dauerte es länger.
Das eigentliche Problem ist etwas anderes: Sie stellen
sich hier allen Ernstes hin - Sie müssen sich einmal
überlegen, was Sie da erzählen -, ziehen ein Zitat von
mir heran und lassen natürlich die beiden anderen Aussagen von mir weg. Ich habe nämlich damals im Bundestag gesagt, Voraussetzung für die Einheit ist, daß
man für die gleiche Leistung den gleichen Lohn bekommt und daß man es als normal und nicht als absurd
empfindet, daß auch einmal ein Ostdeutscher bzw. eine
Ostdeutsche Ministerpräsident bzw. Ministerpräsidentin
in einem alten Bundesland wird und nicht nur der umgekehrte Vorgang denkbar ist. Das waren zwei wichtige
Aussagen.
({9})
Dann - das gebe ich zu - habe ich den von Ihnen zitierten flotten Spruch mit Sylt gemacht, wobei es mir
nicht um das Einkommen ging, sondern darum, deutlich
zu machen, welche sozialen Unterschiede bestehen. Sie
aber behaupten hier allen Ernstes, es gebe in dieser Gesellschaft keine Menschen zweiter Klasse, die habe es
in der DDR in großem Umfang gegeben. Unter welchem
Realitätsverlust leiden Sie eigentlich inzwischen, Herr
Schulz?
({10})
Glauben Sie im Ernst, daß die alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin in Kreuzberg mit zwei oder drei
Kindern wirklich glaubt, sie lebe in derselben Klasse
wie der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank?
Welche naiven Vorstellungen haben Sie eigentlich? Hier
gibt es wirklich riesige Unterschiede. Wenn Sie die nicht
mehr wahrnehmen können, dann tut es mir wirklich leid.
({11})
Herr Bundeskanzler, zu Ihrer Rede möchte ich sagen:
Ich fand sie im Unterschied zu früheren Reden eines anderen Bundeskanzlers im Zusammenhang mit der deutschen Einheit sehr viel differenzierter. Ich habe vieles
gehört, dem ich zustimmen kann, zweifellos aber nicht
allem. Ich muß auch sagen: Sie sind überall dort, wo es
notwendig gewesen wäre, sehr konkret zu werden, sehr
allgemein geblieben. Der Umgang mit dem von Ihnen
Gesagten wird dadurch schwierig, weil bestimmte
Grundsatzerklärungen, wie man die Dinge sehen sollte,
noch auf ihren Gehalt geprüft werden müssen, wenn es
um die konkrete Umsetzung geht.
Sie haben gesagt, wir sollten nicht zurückschauen,
sondern in erster Linie nach vorne, haben dann aber selber zurückgeschaut. Ganz wird man dies auch nicht
vermeiden können.
Über eines freue ich mich: Ich finde, daß die Jubiläumsveranstaltung, die wir hier am 9. November 1999
hatten, von der Gesamttendenz her den Eindruck vermittelt hat, als ob die Mauer in Moskau, in Washington
und in Bonn geöffnet worden ist. Sie haben das heute in
Ihrer Rede richtiggestellt. Das war meines Erachtens
dringend notwendig.
({12})
Im Zusammenhang mit der deutschen Einheit möchte
ich aber auf ein Problem hinweisen, das so nie benannt
worden ist und das den Unterschied zu den osteuropäischen Ländern ausmacht. Dort sind die sozialen und
wirtschaftlichen Bedingungen viel schwieriger. Die reiche Bundesrepublik konnte in den neuen Bundesländern eine Menge abfangen. Das alles ist wahr. Die
osteuropäischen Länder mußten aber mit den vorhandenen Strukturen, mit der vorhandenen Wirtschaft, der vorhandenen Elite und der vorhandenen
Landwirtschaft, umgehen. Sie haben auf dieser Basis
ihre Reformen eingeleitet. Als die DDR zur Bundesrepublik kam - das werfe ich niemanden vor; das ist eine Tatsache -, brauchte die Bundesrepublik Deutschland
aus der DDR existentiell nichts. Das ist ein riesiges Problem gewesen.
({13})
Damit ist man, wie ich finde, nicht besonnen genug
umgegangen. Denn wenn ein anderes Land aus der DDR
existentiell nichts brauchte, dann ist die Folge davon,
daß vieles dichtgemacht wird und daß man im Hinblick
auf das, was erhalten bleibt, immer das Gefühl hat - das
ist ein psychologisches Problem -, es sei ein Akt der
Gnade, aber keine Notwendigkeit, nach dem Motto:
Kinder, wir können denen jetzt nicht auch noch die
Humboldt-Uni dichtmachen, also lassen wir sie bestehen. Aber die Akademie der Wissenschaften und andere
Einrichtungen wurden natürlich geschlossen. Das ist
wirklich ein Problem, das ich aber niemandem vorwerfe.
Wir sind damit jedoch nie richtig umgegangen.
Das hatte natürlich Folgen. In den osteuropäischen
Ländern sind die künstlerischen, die wirtschaftlichen,
die technischen und die wissenschaftlichen Eliten übernommen worden. Die meisten Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler der DDR sind entlassen worden. Und
soweit Einrichtungen nicht dichtgemacht worden sind,
sind die Führungskräfte fast alle durch Führungskräfte
aus den alten Bundesländern ersetzt worden - nicht nur
in der Politik, auch in der Wissenschaft. Die, die gekommen sind, waren nicht immer erste Klasse. Es war
auch eine Menge Mittelmaß dabei, Leute, für die man
keine richtige Verwendung mehr hatte. Ich habe ja Verständnis dafür: Es gab in der alten Bundesrepublik ein
Problem der angestauten Kader, das partiell über die
neuen Bundesländer gelöst wurde.
({14})
All das muß man der Ehrlichkeit halber hinzufügen.
({15})
Es sind viele Unternehmen dichtgemacht worden, die
am Markt sicherlich keine Chance gehabt hätten. Aber
viele sind eben auch aus Konkurrenzgründen oder einfach aus Nachlässigkeit dichtgemacht worden. Die
Wahrheit besteht hier nie aus nur einer Aussage; man
muß immer mehrere Dinge betrachten.
Ich habe über den Wissenschafts- und den Kulturbereich gesprochen. Lassen Sie mich noch etwas zur Kultur sagen: Sie müssen verstehen, daß in Ostdeutschland
andere Fragen gestellt werden. Gerade wenn man hier
im Bundestag jeden Tag erklärt, wie verschuldet die
DDR war und wie marode ihre Wirtschaft war, dann ist
es sehr schwer, den Leuten zu erklären, wieso diese marode DDR noch in der Lage war, in Suhl ein Symphonieorchester zu finanzieren, während sich die reiche
Bundesrepublik Deutschland außerstande sieht, dies zu
tun.
({16})
Die Leute werden doch wenigstens nachfragen dürfen.
Natürlich hängt das auch damit zusammen, daß die
Struktur anders war; das ist mir schon klar. Aber für uns
bedeutet das, daß solche Probleme gelöst werden müssen.
Herr Struck, das, was Sie hier zum Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ gesagt haben, gefällt mir überhaupt nicht. In anderen Punkten des Einigungsvertrages,
die der SPD sehr wichtig waren - ich nenne nur das
Vermögen von Parteien und Massenorganisationen -,
sind Sie zum damaligen Bundeskanzler gegangen und
haben gesagt: Wenn das nicht geändert wird, dann
stimmen wir dem Einigungsvertrag nicht zu. Aber in bezug auf das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ sind
Sie nicht zum Bundeskanzler gegangen, sondern haben
nur eine Protokollerklärung dazu abgegeben. Sie haben
dies durchgehen lassen, und deshalb haften Sie für dieses Prinzip genauso wie die damaligen Koalitionsfraktionen.
({17})
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie möchten,
daß in Zukunft niemand mehr fragt, ob jemand aus dem
Osten oder dem Westen komme, sondern daß jeder nach
seiner Leistungsfähigkeit, nach seiner Bereitschaft bewertet wird - in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und
in der Politik. Ich halte dies für einen guten Ansatz, weise Sie aber darauf hin, daß wir davon noch meilenweit
entfernt sind.
Ich will ein Beispiel nennen - dafür sind Sie nicht
verantwortlich -, um das Problem deutlich zu machen:
Wenn Sie sich heute in Bayern für den öffentlichen
Dienst bewerben, bekommen Sie einen Fragebogen.
Danach müssen Sie zunächst mitteilen, ob Sie irgendwann in Ihrem Leben einmal einer linksextremistischen
Partei oder Organisation angehörten. Durch eine kleine
Zahl werden Sie auf eine Anlage verwiesen, in der Ihnen
mitgeteilt wird, welche linksextremistischen Organisationen es gibt, in denen Sie gewesen sein könnten. Dies
müssen Sie ausfüllen, und dann sind Ihre Chancen faktisch gleich Null; denn unter Mitgliedschaft in einer
linksextremistischen Organisation - darüber würden
selbst Sie sich wundern, Herr Vaatz - fällt auch die Zugehörigkeit zum FDGB, also zum Freien Deutschen
Gewerkschaftsbund der DDR, und zum Verband der
Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter. Sie müssen
ankreuzen, wenn Sie jemals dort Mitglied waren. Dann
können Sie Ihre Bewerbung als Archivar aber gleich
vergessen.
({18})
Das ist keine Gleichbehandlung, sondern das heißt:
Du bist einfach chancenlos. Es mag zwei, drei DDRBürger gegeben haben, die nun wirklich in keiner dieser
Organisationen waren. Aber das ist wirklich eine solche
Minderheit, daß Sie das im Grunde vergessen können.
Wenn jemand einen solchen Fragebogen liest, sind für
ihn ganz viele Fragen schon beantwortet. Er hat plötzlich das Gefühl: Es geht gar nicht um die politische Elite, sondern um mich, um die Diskreditierung meines
Lebens, und das allein, weil ich im FDGB oder im Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter war.
Man muß sich einfach einmal überlegen, was das bedeutet. Ich könnte Ihnen noch weitere solcher Beispiele
nennen.
Das Problem der Bezahlung im Osten wird immer
negiert. Es geht doch nicht nur darum, daß das Verhältnis von Lohn, Gehalt und Einnahmen mit dem
der Preise übereinstimmen müsse. Niemand hat doch
die Entwicklung der Preise gestoppt. Die Preise im
Osten betragen 100 bis 110 Prozent, die Einnahmen
betragen aber eben 60 bis 80 Prozent; im industriellen
Gewerbe nur 65 Prozent. Da nutzen auch keine Vergleiche mit anderen Ländern. Es ist doch ganz logisch,
daß die Leute in erster Linie im eigenen Land Vergleiche anstellen, vor allem wenn es um die innere Einheit
geht.
({19})
Ich habe einmal eine Arztrechnung mitgebracht; diese
macht es ganz deutlich. Wenn meine Tochter im Ostteil
Berlins zur Kinderärztin geht, dann bekomme ich eine
Abrechnung, in der die Kosten aufgelistet sind. Darunter
steht: abzüglich 14 Prozent Ostrabatt. In jede Rechnung
muß die Ärztin schreiben: Da ich aus dem Osten bin, ist
meine Leistung 14 Prozent weniger wert.
Ein weiteres Beispiel: Zwei Rechtsanwälte sitzen sich
im Gericht gegenüber - es tut mir leid, daß ich dieses
Beispiel bringe -, kämpfen im Prozeß leidenschaftlich,
setzen genauso viele Schriftsätze auf und zeigen das
gleiche Engagement. Sie gehen aus dem Gericht, und
der Streitwert wird festgestellt. Dann muß der eine wesentlich geringere Gebühren abrechnen als der andere,
weil er aus dem Osten kommt. Die beiden sind allerdings nicht unbedingt mein Problem, weil sie nicht so
schlecht verdienen.
Verstehen Sie aber, was es bedeutet, wenn jemand in
jeder Rechnung mitteilen muß seine Leistung ist weniger wert als die Leistung des entsprechenden Kollegen
oder der Kollegin aus dem Westteil der Stadt oder aus
den alten Bundesländern? Das ist ein mentales Problem,
das man nicht einfach wegwischen kann.
Das blödeste Argument ist die Berechnung auf Grund
des Produktivitätsdurchschnitts. Erstens. Bei Anwälten und Ärzten ist dieses Argument Quatsch. Sie können
mir aber auch nicht sagen, wieso ein Archivar in Potsdam weniger leistet als ein Archivar in Bonn, und auch
wenn wir die Arbeit der Polizistinnen und Polizisten als
Beispiel heranziehen, stimmt das nicht.
Zweitens. Wie kommen Sie überhaupt darauf, einen
Gesamtdurchschnitt für die neuen Bundesländer zu berechnen? Das kann doch nur einer machen, der noch in
den Grenzen der alten DDR denkt. Normalerweise geht
das nach Branchen.
({20})
Das geht nach allem möglichen, aber doch nicht nach
alten Staatsgrenzen. Das ist doch ein absurder Vorgang.
Wenn das nicht mehr vermittelbar ist, können wir uns
nicht mit Zahlen herausreden, dann müssen wir das Problem lösen.
Es ist immer wieder betont worden - auch ich habe
das übrigens gemacht -, daß die Infrastrukturentwicklung in den neuen Bundesländern in den letzten
Jahren hervorragend gewesen ist. Ich nenne als Beispiele den Straßenbau, die Telekommunikation und die
Sanierung von Stadtzentren. Jeder, der ehrlich ist - auch
in den neuen Bundesländern -, akzeptiert, daß die DDR,
so wie sie strukturiert war, in den nächsten 40 Jahren
nicht das geschafft hätte, was hier in 10 Jahren aufgebaut wurde. Das zu sagen gehört zur Ehrlichkeit dazu.
({21})
Man darf aber auch das nicht einseitig sehen; denn es
ist auch Infrastruktur beseitigt worden, zum Beispiel
Krippen, Kindergärten und ein dichtes Netz an Jugendund Kulturklubs. Daneben darf man das dichte Netz an
Postdienstleistungseinrichtungen und in anderen Bereichen nicht vergessen, bei denen sich die generellen Reformen der Bundesrepublik entsprechend in den neuen
Bundesländern auswirken.
Dazu gehört auch das Streckennetz der Bahn. Die
DDR hatte immerhin das am weitesten verzweigte
Streckennetz Europas. Es war zweifellos nicht das beste;
das muß man dazu sagen.
({22})
- Das sage ich doch gerade. Bei mir können Sie sich
immer darauf verlassen, daß ich das hinzufüge. Die Einseitigkeit kommt immer von Ihnen.
({23})
Das Streckennetz zu erneuern war dringend erforderlich. Aber die Kürzungen, die dabei vorgenommen worden sind, die Menge von Kilometern, die dabei vernichtet worden ist, sind nicht Ausdruck von Zukunftspolitik;
denn wenn wir den Straßenverkehr stückweise auf die
Schiene verlagern wollen, dann hätte man dieses Strekkennetz nutzen sollen, anstatt es quantitativ auf das Niveau der alten Bundesländer zu senken. Das heißt, auch
hier müssen wir die Dinge differenziert beurteilen.
Ich möchte nun auf die Zukunft zu sprechen kommen
und etwas zum Transfer sagen. Ich bin dem Staatsminister für eines wirklich dankbar: Er hat jetzt ehrlichere
Zahlen angeführt. Ich habe bei der alten Regierung nie
verstanden, wieso sie beim Transfer immer falsche
Zahlen angegeben hat. Die Zahlen waren in dem Sinne
falsch, daß sie mit einem Transfer, wie ihn die Bürgerinnen und Bürger verstehen, nichts zu tun hatten. Die
Finanzierung einer Bundeswehrkaserne wurde zum Beispiel immer als Transferleistung, also zum Nachteil des
Einigungsprozesses, ausgegeben. Wenn ich die Transferleistungen so darstelle, dann demütige ich die Ostdeutschen und pflege bei den Westdeutschen das Vorurteil, der Transfer sei einfach zu teuer. Es ist kein edles
Motiv, das dahintersteckt.
Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel, das besonders ärgerlich ist - ich weiß gar nicht, ob Sie das wissen -: Die
Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst aus
den alten Bundesländern, die in den neuen Bundesländern Dienst tun, wurden als Transferleistungen berechnet. Das heißt, das Gehalt von Biedenkopf galt als
Transferleistung, das von Stolpe und Ringstorff nicht.
Aber selbst wenn ein Ostdeutscher Ministerpräsident in
Sachsen wäre, hätte er ein Gehalt beziehen müssen. Rein
rechnerisch war also die Berechnung der Transferleistungen Quatsch.
Das gilt nicht für die Zulage. Sie ist aber ein mentales
Problem. Wenn Sie einem Menschen aus den alten Bundesländern sagen, daß er, wenn er im öffentlichen Dienst
in den neuen Bundesländern arbeitet, eine Zulage erhält,
und die Ossis diese Zulage sofort Buschzulage nennen,
dann ist klar, was damit auf beiden Seiten zum Ausdruck gebracht werden soll.
Schauen Sie sich doch die Verhältnisse an! Was haben wir uns hier im Hause darüber gestritten, wie wir
den Angestellten und Beamten der Bundesministerien
und der Bundestagsverwaltung den Umzug von Bonn
nach Berlin erleichtern können. Was haben wir da für
Regelungen eingeführt! Sie reichen von der Bezahlung
der regelmäßigen Fahrt nach Bonn bis zu Mietzuschüssen oder zur vollständigen Übernahme der Mietkosten
für zwei Jahre. Fragen Sie doch einmal die Millionen
Ostdeutschen, die ihren Job verloren haben und danach
300 oder 400 Kilometer zu ihrem neuen Job fahren
mußten. Kein Mensch ist auf die Idee gekommen, ihnen
die Fahrt dorthin oder gar die Miete vor Ort zu bezahlen.
({24})
Das heißt, für uns lassen wir natürlich immer ganz andere Maßstäbe gelten. Das führt dann zu Verdruß, über den
man sich auch nicht wundern darf.
In diesem Zusammenhang haben Sie auch das Sparpaket gelobt. Dieses Lob kann ich nun überhaupt nicht
teilen, und zwar aus mehreren Gründen; nicht nur desDr. Gregor Gysi
halb, weil ich sowieso Bedenken habe, die ich aber jetzt
nicht aufführen muß. Sie kürzen die Mittel für den
Osten. Deshalb formulieren Sie vorsichtig und sagen,
Sie wollten die Förderung auf hohem Niveau fortsetzen.
Das heißt in Wirklichkeit: Sie erfolgt eben nicht auf höherem und nicht auf gleich hohem, sondern auf niedrigerem Niveau. Diese auf niedrigerem Niveau fortzusetzen
heißt, weniger Ergebnisse zu erzielen. Das steht von
vornherein fest.
Herr Kollege
Gysi, denken Sie bitte an die Zeit.
Ja, ich bin sofort fertig.
Außerdem - das ist das schlimmste - geht die Entwicklung bei Rente, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe in Ost und West wieder auseinander. Sie ging unter
der früheren Regierung - wenn auch nur ein wenig immerhin zusammen. Jetzt geht sie wieder auseinander.
Das ist ein großes, auch mentales, Problem.
Deshalb noch einmal meine Bitte: Wenn wir die Einheit wollen, müssen wir uns stärker füreinander interessieren, müssen wir stärker miteinander reden, müssen
wir uns in unserer Unterschiedlichkeit akzeptieren und
zugleich Gleichwertigkeit der Lebenschancen in sozialen und anderen Fragen herstellen. Wir brauchen regional funktionierende Wirtschaftsstrukturen. Dazu gehört
auch ein lebendiges Feld für kleine und mittelständische
Unternehmen. Genau dorthin darf man die Ökosteuer
dann eben nicht übertragen und Ansätze damit kaputtmachen.
({0})
Herr Kollege
Gysi!
Man muß vielmehr die
Sondersituation begreifen.
In diesem Sinne wünsche ich mir eine stärkere soziale, wirtschaftliche und kulturelle Politik für die Einheit.
Was wir brauchen, Herr Bundeskanzler, ist ein klarer
Fahrplan dafür, in welchen Fristen und in welchen
Schritten die Angleichung erfolgen soll.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Herr Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff.
Dr. Harald Ringstorff, Ministerpräsident ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt Ereignisse, die sich
im Rückblick von ihren historischen Bezügen lösen und
über den konkreten Zusammenhängen gleichsam zu
schweben beginnen. Sie sind der Stoff, aus dem Mythen
und Legenden gesponnen werden. Zu diesen Ereignissen
gehört der Fall der Berliner Mauer vor zehn Jahren.
Viele - äußere und innere - Faktoren kamen im
Herbst 1989 zusammen: die Politik Gorbatschows, die
Kommunismusverweigerung der Polen, die ungarische
Reformpolitik mit der Öffnung des Eisernen Vorhanges,
dazu die wirtschaftliche Zerrüttung der DDR und die
unerträglich gewordene Verkrustung des Herrschaftssystems. Erinnern muß man auch an die Wirkungen der
Entspannungspolitik, eingeleitet von Willy Brandt. Die
Mechanismen des kalten Krieges funktionierten nicht
mehr wie gewohnt. Der SED kam der äußere Todfeind
abhanden: die angeblichen imperialistischen Kriegstreiber. Damit verlor sie den ideologischen Knüppel, mit
dem sie bislang ihre Bürger diszipliniert hatte.
Wie lange, meine Damen und Herren, konnte da die
Mauer noch Bestand haben? Hier komme ich auf den
Glücksfall zurück, von dem so oft gesprochen wird, auf
das Geschenk, das unserem Volk nach dieser Lesart
überreicht wurde. Wer soll eigentlich wem Geschenke
gemacht haben: die Ostdeutschen den Westdeutschen
oder umgekehrt, ein den Deutschen gnädiges Schicksal,
die Geschichte? Was ist das, die Geschichte? Waren es
die Amerikaner, die Sowjetunion gar? Eine gemeinsame
Antwort steht bis heute aus.
Die regierende Koalition in Bonn erfaßte damals intuitiv, daß die deutsche Wiedervereinigung ohne Veränderungen in Westdeutschland zu haben war, wenn sie
denn rasch erfolgte. Bundeskanzler Kohl vollzog den
Willen der Deutschen zur Wiedervereinigung und erfüllte den Wunsch der Westdeutschen: keine Experimente, auch nicht in diesem Falle. Daher die anfängliche
Politik, die Kosten aus der Portokasse bezahlen zu wollen.
Die Nacht des Mauerfalls war auch die Nacht, in der
die Euphorie begann. Ein rauschhafter Zustand machte
sich breit, Illusionen bestimmten das Handeln. Der Blick
auf die realen Möglichkeiten der Bundesrepublik war
verstellt. Der Souverän delegierte sein Recht auf Selbstbestimmung auf die Parteien und Parteienbündnisse, deren Funktionieren ihm fremd war.
Meine Damen und Herren, ich beklage mich nicht;
ich gebe Eindrücke wieder. Ich war dabei.
Geschenke verpflichten zur Dankbarkeit, und Glück
verpflichtet zur Demut. Wer den Umbruch und die Wiedervereinigung als Glück und Geschenk darstellt,
wird den Ostdeutschen nicht gerecht, ja mehr noch: Er
wird ihre Empfindungen als Ausdruck von Undank definieren. Machen wir Schluß mit diesem Interpretationsmuster!
({1})
Dann gewinnen wir allesamt, die Menschen in Bayern,
in Nordrhein-Westfalen, in Mecklenburg-Vorpommern
und hier in Berlin.
({2})
Damit wir uns nicht mißverstehen: Ich bin glücklich
darüber, daß wir die SED-Herrschaft überwunden haben
und die Einheit hergestellt haben.
({3})
Aber Glück ist keine politische Kategorie und schon gar
keine Kategorie zur Beurteilung historischer Prozesse.
({4})
Jede Revolution ist begleitet von Hoffnungen - ja, sie
ist Hoffnung - und jede Revolution bringt Erwartungen
hervor. Ideale sollen so Gestalt annehmen, wie man sie
sich erträumte oder in Sonntagsreden geschildert bekam.
Doch Erwartungen sind zu einem guten Teil auch
Selbsttäuschungen. Viele Ostdeutsche - ich schließe
mich ein - glaubten damals, Teile des Erbes der DDR
könnten Grundlage für den Neubeginn sein. Darf man
uns das verdenken? Wir haben 40 Jahre lang fleißig gearbeitet und, denke ich, auch manche Entbehrung auf
uns nehmen müssen. Konnte das alles umsonst gewesen
sein? Nein, es war nicht alles umsonst. Ich wehre mich
gegen diese Urteile und bitte Sie alle, die Erfahrungen,
die wir gemacht haben, und die Ostdeutschen als Bereicherung zu verstehen.
({5})
Wir müssen für Gesamtdeutschland nutzbar machen,
was nutzbar ist: das Konzept der Polikliniken zum Beispiel, die Idee, den Schülern die Wirtschaft in der Wirtschaft nahezubringen - ich füge vorsorglich hinzu: ich
meine die Methode und nicht den sozialistischen Inhalt -, die Einfachheit vieler Gesetze und vieles andere
mehr.
({6})
Seit 1990 wird den Ostdeutschen vorgehalten, sie
hätten erst noch zu lernen, was Demokratie ist. Das hält
man Menschen vor, die im Oktober 1989 in Leipzig demonstrierten, massiv bedroht durch Sicherheitskräfte;
das hält man Menschen vor, die am 4. November 1989
hier, auf dem Alexanderplatz, gerufen haben: Wir sind
das Volk. Das waren in Berlin 500 000, in Rostock,
Leipzig, Magdeburg und überall sonst in Ostdeutschland
insgesamt mehrere Millionen Bürger. Denen sollte man
nicht länger sagen: Das war lobenswert, aber Demokratie ist etwas ganz anderes.
({7})
Das verletzt, und genau das gibt der PDS Argumente in
die Hand.
Die PDS ist auf Grund der Fehler des Vereinigungsprozesses ein politischer Faktor in den neuen Bundesländern; das ist inzwischen eine Binsenwahrheit.
({8})
Wenn daraus jedoch die Schlußfolgerung gezogen wird,
es stehe die Machtergreifung alter Kader ins Haus, dann
ist das blanker Unsinn.
({9})
Die PDS in Mecklenburg-Vorpommern folgt den Geboten des Grundgesetzes und der Landesverfassung.
Meine Damen und Herren, wenn über die Lage in
Deutschland gesprochen wird, so sollten nicht nur die
Milliardensummen, die vom Westen in den Osten fließen, rühmend hervorgehoben werden. Ich wünsche mir,
daß viel nachdrücklicher als bisher ins Bewußtsein aller
Deutschen dies gerückt wird: Die Bundesrepublik
braucht die Lebenserfahrung der Ostdeutschen, ihre
Sensibilität, ihr Wirgefühl und ihre Kompetenz. Investoren aus den alten Bundesländern, die in MecklenburgVorpommern tätig sind, heben mir gegenüber immer
wieder drei Dinge hervor: erstens die günstigen Förderbedingungen, dann die Qualifikation und Motivation der
Menschen und drittens die Innovationsfähigkeit ihrer
Mitarbeiter. Ich wünsche mir, daß davon künftig öfter
die Rede ist.
({10})
Wenn ich es recht bedenke, sind sich Ostdeutsche
und Westdeutsche viel ähnlicher, als wir glauben. In
Deutschland setzt man auf Beständigkeit. Doch diese
Tugend kann sich, wenn Europa und die Welt in Bewegung sind, als selbstzerstörerisches Moment erweisen.
Mich erinnert heute manches an die DDR. Auch da
wurde aus Furcht vor Veränderung immer wieder Kontinuität beschworen. Es gibt Aufgaben in Deutschland,
die wir gemeinsam anpacken und gemeinsam lösen
müssen.
({11})
Gelingt uns das nicht, so nehmen wir gemeinsam Schaden.
Die Probleme Mecklenburg-Vorpommerns sind auch
Probleme der alten Länder. Die Bewohner der Beletage
eines Hauses unterliegen einem Irrtum, wenn sie glauben, die Folgen vernachlässigter Sanierung in den anderen Etagen beträfen sie nicht.
({12})
Alle Etagen müssen saniert werden, und alle müssen dazu ihren Beitrag leisten. Hier liegt für mich der tiefere
Grund dafür, daß auch die neuen Bundesländer ihren
Teil zur Konsolidierungspolitik der Bundesregierung
beizutragen haben.
Meine Damen und Herren, zehn Jahre Einheit, zehn
Jahre Marktwirtschaft sind eine lange Zeit. Trotzdem:
Es sind zuwenig Jahre für die Herausbildung eines robusten Mittelstandes, zuwenig Jahre für die Akkumulation
des notwendigen Kapitals, zuwenig Jahre für die virtuose Handhabung der Marktregeln. Aber die Situation bei
uns verbessert sich fortlaufend. Es wächst eine Generation heran, die unbefangen und selbstbewußt ist und die
Ministerpräsident Dr. Harald Ringstorff ({13})
darauf brennt, zu zeigen, was sie zu leisten vermag. Ich
bin voller Zuversicht, meine Damen und Herren.
({14})
Lassen Sie mich abschließend noch eines feststellen:
Die viel zitierten Kosten der Einheit sind Kosten der
Spaltung. Im Grund handelt es sich bei jeder Transferzahlung um eine Neuverteilung der Kriegsfolgelasten
einschließlich der Lasten des kalten Krieges, der erst
1989 endete. Diese Kosten sind noch längst nicht abgetragen.
Deshalb muß der Aufbau Ost auf hohem Niveau
weitergeführt werden. Ich freue mich darüber, daß die
Bundesregierung, daß der Bundeskanzler ganz klar gesagt hat, daß dieser Aufbau Ost auf hohem Niveau fortgesetzt wird.
({15})
Wer sich dem zu entziehen versucht, ganz gleich, mit
welcher Begründung, der entzieht sich seiner nationalen
Verantwortung.
Warum ist eigentlich in diesem Zusammenhang so
wenig vom Vaterland die Rede? „Deutschland einig
Vaterland“ hieß es 1990. Was passiert, wenn dieses
Wort von anderen mit ganz anderen Zielsetzungen mißbraucht wird? Kurzum: Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, allein verbunden durch Geschichte, ist mir zuwenig. Es gibt Dinge im Leben eines Volkes, die jenseits
von Bilanzen und Transfersummen angesiedelt sind.
Ohne gerechten Ausgleich zwischen West und Ost gerät
die Stabilität der ganzen Bundesrepublik Deutschland in
Gefahr.
Dort, wo sich Gerechtigkeit bisher nicht durchgesetzt
hat, muß sie herbeigeführt werden, und dort, wo sie in
Frage gestellt wird, müssen wir gegensteuern. Es geht
nicht um Opfer für die neuen Bundesländer; es geht um
Gerechtigkeit und Versöhnung in Deutschland.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Wolfgang
Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in den
letzten Tagen eine Reihe von bedenkenswerten Reden
aus Anlaß der Tatsache, daß vor zehn Jahren in Berlin
die Mauer gefallen ist, gehört. Wenn diese Debatte heute
im Bundestag einen Sinn haben soll, dann sollten wir
aus meiner Sicht versuchen, zu klären, wo wir stehen
und wie wir weiterkommen. Ich finde, daß uns die Debatte insofern ein Stück vorangebracht hat - der Kollege
Schulz hat darauf hingewiesen -, als wir heute zum erstenmal in unterschiedlicher Verantwortung diskutieren:
Vorher waren die einen Regierung und die anderen Opposition, jetzt ist es andersherum.
Wenn ich die Regierungserklärung des Bundeskanzlers sowie die Reden von Herrn Struck, von Herrn
Schulz und sogar von Herrn Ringstorff richtig verstanden habe, ist in den zehn Jahren für den Aufbau Ost offenbar eine Menge geleistet worden.
({0})
Das klang vor einem Jahr anders, unabhängig von der
Frage - darauf komme ich noch -, auf welchem Niveau
man den Aufbau Ost fortführt, ob auf hohem oder höherem Niveau. Wenn man ihn „auf hohem Niveau fortführt“, dann heißt das, daß wir in diesen zehn Jahren
beim Aufbau Ost ein hohes Niveau hatten. Das war die
Leistung der Regierung von Helmut Kohl und der Koalition von CDU/CSU und F.D.P.
({1})
Natürlich haben wir viele Probleme. Dazu wird keiner etwas ganz Neues sagen können. Mir ist in der Debatte heute und schon in den Debatten dieser Tage, auch
vorgestern, immer wieder aufgefallen - bei Herrn Ringstorff eben war es besonders deutlich: Viele haben das
Element der Einheit nicht richtig bewertet. Michail
Gorbatschow hat vor zwei Tagen von dieser Stelle aus
gesagt: Nehmt doch unsere Probleme und wir die euren!
- Das ist doch die eigentliche Schwierigkeit: Die Menschen in Frankfurt/Oder vergleichen ihre Lage heute wer wollte es ihnen verdenken? - nicht mit ihrer Lage
vor zehn Jahren, sondern mit der Lage der Menschen in
Frankfurt am Main. Aber die Menschen in Prag, Warschau und anderswo sagen: Eure Probleme möchten wir
haben.
Und das ist das spezifisch Deutsche? Das kam in Ihrer Rede, Herr Ringstorff, überhaupt nicht vor.
({2})
Es ist die Tatsache, daß aus Freiheit und Selbstbestimmung Einheit wurde. Die Freiheit, so hat Helmut
Kohl wieder und wieder in Regierungserklärungen zur
Lage der Nation im geteilten Deutschland gesagt, ist der
Kern der deutschen Frage. Aber wir waren ganz sicher,
daß sich die Menschen, wenn sie überall in Deutschland
Freiheit und Selbstbestimmung haben, für die Einheit
entscheiden würden. So ist es gewesen.
Nur damit wir uns nicht durch Geschichtsklitterung
die Chance verbauen, richtig zu argumentieren: Die das
wollten, waren niemand anders als die Menschen in der
damaligen DDR, vielleicht nicht die Mehrheit der Bürgerbewegung, aber jene, die dann zu Hunderttausenden
auf der Straße waren, und ganz sicher die Mehrheit bei
der Volkskammerwahl am 18. März 1990. Denn mit
Verlaub: Bei der Wahl zur Volkskammer am 18. März
haben diejenigen, die bei der Wahl die Mehrheit bekommen haben, vor der Wahl für den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes Wahlkampf geführt - und
gewonnen. Wenn Demokratie in Deutschland gelten
soll, darf man das nicht kleinreden.
({3})
Ministerpräsident Dr. Harald Ringstorff ({4})
Es ist nichts übergestülpt worden, sondern die Menschen
haben so entschieden.
Deswegen, Herr Kollege Schulz, mußte es auch so
schnell gehen. Wir können ja heute - mir jedenfalls geht
es so - entspannter diskutieren als vor zehn Jahren. Vor
knapp zehn Jahren hat Lafontaine, damals Kanzlerkandidat der SPD, gesagt: Das wird furchtbar teuer und geht
viel zu schnell. Wir sollten erst einmal über zehn Jahre
getrennte Währungsgebiete anstreben usw. - Meine sehr
verehrten Damen und Herren, ich bin ganz sicher - das
ist übrigens am Dienstag von vielen, die noch berufener
waren, gesagt worden -: So wäre es nicht gelungen. Es
wäre, wenn wir uns mehr Zeit gelassen hätten, gescheitert.
Aber auf diese Frage kommt es gar nicht an. Die
Menschen in der damaligen DDR wollten nicht länger
warten, sondern sie wollten die Einheit gleich und jetzt.
Damit hatten sie die Einheit in Deutschland. Das unterscheidet die Revolution in Deutschland von der in Polen,
in Ungarn, in der damaligen Tschechoslowakei und
überall in Osteuropa einschließlich der damaligen
Sowjetunion. Das ist das große Glück der Deutschen
und ihre Chance, aber daraus haben sich auch manche
Probleme und Schwierigkeiten ergeben, über die wir
heute sprechen. Wer daran vorbeiredet, wer darüber
hinwegtäuscht, verstellt sich den Blick für die Lösung
der Probleme.
Ohne die Leistung derer, die damals die Demonstrationen auf den Weg gebracht haben, die dafür gesorgt
haben, daß Gewalt vermieden wurde - was eine ungeheuer große Leistung war: „Kerzen statt Steine“ -,
schmälern zu wollen, füge ich hinzu: Ohne die Übersiedler wäre das gar nicht in Gang gekommen. Das alles
war zunächst die Antwort auf den dramatischen Anstieg
der Übersiedlerzahlen. Das hat die Menschen auf die
Straße gebracht, die zunächst gesagt haben, sie blieben
zwar hier, aber so gehe es nicht; sie wollten bessere
Verhältnisse. Deswegen, Herr Bundeskanzler, gehört es
schon zur historischen Wahrheit: Wenn wir nicht - dafür
sind wir von Ihnen und Ihren Parteifreunden als kalte
Krieger verschrien worden ({5})
trotz des Drängens insbesondere der Sozialdemokraten
an der einen deutschen Staatsangehörigkeit festgehalten
hätten, dann wäre die deutsche Geschichte anders und
weniger glücklich verlaufen.
({6})
Herr Kollege Struck, ich möchte gar nicht darüber
streiten, wer am 9. November 1989 was gesungen hat.
Ein solcher Streit wäre albern. Aber es gehört schon zur
historischen Wahrheit, daß am Tag danach die Fraktion
der Grünen - Sie, Herr Schulz, waren nicht dabei; aber
ich sage Ihnen, es war so - das Singen der dritten Strophe des Deutschlandlieds als „nationalistische Entgleisung“ ausdrücklich verurteilt hat.
({7})
Die Fraktion der Grünen hat dazu eine offizielle Presseerklärung herausgegeben. Dies ist die Wahrheit. Ein
bißchen muß man in der Wahrheit leben, auch in
Deutschland, nicht nur in Tschechien.
({8})
- Nein, nicht Ihre Geschichte.
Jetzt möchte ich auf den Einigungsvertrag und auf
die schwierigen Fragen eingehen, die sich aus der Beschleunigung der Ereignisse und aus der Notwendigkeit
ergeben haben, dem Wunsch der Menschen, die in der
DDR eingesperrt waren, nachzukommen. Die Grenzer
haben damals gesagt: Es wird geflutet. Wenn Menschen,
die rund 28 Jahre eingesperrt waren, ein Spalt in Richtung Freiheit geöffnet wird, dann sind sie nicht mehr
aufzuhalten. Es geht dann immer schneller. Deswegen
mußten wir schnell handeln und reagieren. Die Mehrheit
der Menschen hat sich für den Beitritt nach Art. 23 des
Grundgesetzes entschieden.
({9})
- Entschuldigung, natürlich! Sie haben ja bei der Volkskammerwahl nicht so erfolgreich abgeschnitten, wie Sie
geglaubt hatten.
Mir scheint, Sie machen es sich ein bißchen zu leicht.
Wir sollten in der Einschätzung der Ereignisse vor zehn
Jahren miteinander fairer umgehen. Ich glaube, es war in
der damaligen Lage ein richtiges und angemessenes Angebot der damaligen Bundesrepublik Deutschland, zu
signalisieren: Wir sind bereit, in einem Vertrag, dem Einigungsvertrag, die Bedingungen des Beitritts vor eurer
Entscheidung einvernehmlich zu regeln. Man hätte auch
abwarten können, bis die DDR beigetreten wäre, um
dann als gesamtdeutscher Gesetzgeber entsprechende
Regelungen zu treffen. Dies wäre viel weniger berechenbar gewesen.
Ihr Urteil über die Leistungen der damaligen Verhandlungsdelegationen, auch der aus der DDR, ist übrigens aus meiner Sicht ungerecht. Ich räume ein, daß sich
über manches streiten läßt. Aber eines können Sie, Herr
Kollege Schulz, nicht machen: Sie können nicht auf der
einen Seite die staatsrechtliche Einheit, also eine Staatsbürgerschaft, haben wollen und dann auf der anderen
Seite, wenn die Einheit vollzogen ist, so tun, als hätte
die Wertordnung des Grundgesetzes für die Zeiten der
deutschen Teilung überhaupt keine Bedeutung. Die Eigentums- und Vermögensfragen waren deshalb viel
komplizierter, als Sie es heute dargestellt haben. Ob es
der richtige Weg war und ob er vielleicht zu einfach
war, darüber läßt sich trefflich streiten. Aber man kann
das eine nicht ohne das andere haben. Die Vorzüge haben überwogen.
({10})
Ich könnte noch eine Reihe weiterer Punkte dazu anführen, möchte jetzt aber nicht zu lange zurückblicken.
Die deutsche Einheit war ein Glücksfall. Für mich ist
es noch immer ein Wunder, daß das Weltreich der SoDr. Wolfgang Schäuble
wjetunion und der kalte Krieg mit atomarem Patt
und atomarer Abschreckung friedlich - ohne einen
Schuß - zu Ende gingen und dies Frieden, Freiheit und
Einheit für Deutschland, für Berlin und für Europa bedeutete.
({11})
Dieser Tatsache verdanken wir unendlich viel. Es ist
gut, wenn wir daraus das Richtige machen und wenn
alle Fraktionen des Hauses anerkennen: Es ist in den
letzten zehn Jahren schon eine Menge geleistet worden.
Es wird auch weiterhin viel geleistet werden.
Während dieser Debatte hat das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung zum Länderfinanzausgleich, über die wir jetzt nicht im einzelnen diskutieren
müssen, gefällt. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, daß die ostdeutschen Länder auch
in den kommenden Jahren einen Anspruch auf eine vorrangige Förderung im Rahmen des Länderfinanzausgleichs und durch Bundesergänzungszuweisungen haben. Damit sind wir auf einem verfassungsrechtlich sicheren Boden. Wir sollten alles daran setzen, eine vernünftige Anschlußregelung für den Solidarpakt zustande
zu bringen, der im Jahr 2004 ausläuft. Wir sind jedenfalls dazu bereit.
({12})
- Herr Kollege Meckel, ohne den großen Beitrag der
Christlich-Sozialen Union zu der Politik, die ich nur
in groben Zügen beschrieben habe und die letzten
Endes auch Voraussetzung für die deutsche Einheit
war, wären wir heute auch nicht hier. Lassen Sie also
doch denjenigen, von denen mehr Solidarität gefordert
wird - ({13})
- Nehmen wir doch einmal dankbar zur Kenntnis, daß
die Bereitschaft zur Solidarität bei den wirtschaftlich erfolgreicheren Bundesländern in Westdeutschland
ungebrochen vorhanden ist, und tun wir alles, um sie
weiter zu stützen und zu fördern. Aber sagen wir gelegentlich auch ein Wort der Dankbarkeit und des Respekts!
({14})
Ich will heute gar nicht darüber streiten - das werden
wir spätestens in zwei Wochen bei der Haushaltsdebatte
wieder machen -, füge aber folgende Bemerkung an,
Herr Bundeskanzler: Ich rate dazu, verläßlicher zu sein,
als Ihre Regierung im ersten Jahr ihrer Arbeit war, was
den Vorrang des Aufbaus Ost anbetrifft. Dafür nenne ich
Ihnen zwei Beispiele.
Was Sie mit der Ökosteuer gemacht haben, war eine
gezielte und systematische Benachteiligung der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern.
({15})
Sie haben längere Entfernungen von der Wohnung zur
Arbeitsstätte und sind also durch die Erhöhung der Benzinsteuer spezifisch mehr betroffen, haben aber wegen
des niedrigeren Lohnniveaus von der Beitragsentlastung
spezifisch weniger. Beides zusammen stellt keinen Vorrang für den Aufbau Ost, sondern das Gegenteil dar.
({16})
Bei der Rentenanpassung ist es entsprechend.
({17})
- Herr Kollege Schlauch, bei Ihnen weiß ich nicht einmal, ob Sie wissen, was Glatteis ist.
Herr Ministerpräsident Ringstorff, wenn ich sehe, wie
Sie in Mecklenburg-Vorpommern Genossensolidarität
vor die Interessen des Landes stellen - ({18})
- Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Was glauben Sie, welchen Ärger ich in meinem Heimatland BadenWürttemberg hatte, weil ich immer gesagt habe, es sei
richtig, daß sich Bundeskanzler Helmut Kohl dafür einsetzt, daß der Airbus A3XX, sofern wir ihn überhaupt
nach Deutschland bekommen, in Rostock-Laage gebaut
wird. Natürlich würden wir ihn auch gern in BadenWürttemberg bauen, aber gesamtdeutsche Solidarität
heißt, daß wir miteinander dafür eintreten, daß er nach
Rostock-Laage kommt. Da haben Sie versagt.
({19})
Gerade weil die einen mehr Veränderungen aushalten
müssen als die anderen, brauchen wir Solidarität und
Verläßlichkeit. Die deutsche Einheit stellt auch eine
Chance, eine Bereicherung dar. Die Menschen aus dem
Osten haben nicht nur für uns alle eine geglückte Freiheitsrevolution eingebracht - darauf können sie stolz
sein -, sondern ihre Bereitschaft, Veränderungen in einer Welt, die sich so ungeheuer schnell entwickelt, zu
ertragen und zu gestalten, ist auch eine Erfahrung, von
der wir überall in Deutschland gar nicht genug profitieren können. Deswegen bin auch ich dafür - da hat Herr
Kollege Gerhardt aus meiner Sicht das Richtige ausgesprochen -, kein so miesepetriges Gesicht zu machen.
Vielmehr sollten wir sagen: Nicht nur vor zehn Jahren
war es ein großes Glück, sondern noch heute ist es eine
große Chance.
In diesem Zusammenhang war es bemerkenswert,
Herr Kollege Schulz, daß Sie die Lohnfortzahlung hier
erwähnt haben. Sie hatten damit ja völlig recht; aber ich
frage mich, in welcher Koalition Sie sitzen. In der DDR
gab es keine hundertprozentige Lohnfortzahlung.
Zur Pflegeversicherung muß ich schnell noch etwas
in Ordnung bringen: Die Wahrheit ist, daß wir eine ganz
andere Kompensation für die Einführung der Pflegeversicherung wollten; das wissen Sie. Die einzige Kompensation, die möglich war, ohne daß die Mehrheit im Bundesrat die Pflegeversicherung verhinderte, war schließlich die, die gefunden worden ist und die ich in meiner
Zwischenfrage beschrieben habe. In Sachsen hat man
diese Kompensation nicht angewandt. In BadenWürttemberg - das ist mein Heimatland, was man ja an
meiner Sprache hört; die Baden-Württemberger können
alles außer Hochdeutsch, das ist ja der neue Slogan hatten wir damals eine große Koalition, Herr Parteivorsitzender Schröder. Der Ministerpräsident Erwin Teufel
wollte ebenfalls nicht den Buß- und Bettag abschaffen.
Wer Erwin Teufel kennt, versteht das sofort. Er wollte
vielmehr dieselbe Regelung wie in Sachsen. Die SPD
hat gedroht, die große Koalition in Baden-Württemberg
zu sprengen, wenn Baden-Württemberg das machen
würde. Machen Sie hier keine falschen Geschichten!
Bleiben Sie bei der Wahrheit! Sie und niemand anders
haben es erzwungen.
({20})
Herr Ministerpräsident Ringstorff, ich würde die PDS
nicht an der Regierungsverantwortung beteiligen. Von
allen anderen Gründen abgesehen gibt es für mich dafür
einen entscheidenden Grund: Wenn wir die Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts bewältigen
wollen, wenn wir den Aufgaben zehn Jahre nach diesen
grandiosen Veränderungen in der Welt und in Deutschland gerecht werden wollen, brauchen wir mehr Veränderungsfähigkeit, dann müssen wir die Innovationsfähigkeit stärken, dann müssen wir schneller anpassungsfähiger werden und weniger Besitzstände verteidigen.
Ich habe es in der letzten Woche bei der Gesundheitsdebatte dem Kollegen Dreßler gesagt: Ich bin ganz
sicher, daß wir der Dynamik solcher Entwicklungen
niemals durch zentralistische Regelungen gerecht werden können. Deswegen haben Sie den falschen Grundansatz. Trauen Sie doch den Menschen mehr an Fähigkeiten, an Verantwortung und auch an der Bereitschaft
zur Solidarität zu. Entmündigen Sie nicht immer die
Menschen wie in Ihrer unsäglichen Gesundheitsreform,
bei der alles reglementiert werden muß.
({21})
Es waren doch die Menschen, die vor zehn Jahren die
friedliche Revolution gemacht haben. Wir können doch
aus der Geschichte der Deutschen am Ende dieses Jahrhunderts das Vertrauen schöpfen: Die Menschen selber
sind, wenn man sie nur fördert und fordert, zu viel größeren Leistungen bereit als jede zentralistische, bürokratische Reglementierung erreichen kann.
({22})
Das können Sie mit den alten Kadern und den alten
Sozialisten niemals machen. Deswegen sind Sie auf dem
Holzweg: in Magdeburg wie in Schwerin und wo immer
Sie die Finger davon nicht lassen können. Das ist ein
Grund. Es gibt noch viele andere Gründe.
Deswegen haben Sie in Ihren praktischen politischen
Entscheidungen den falschen Ansatz. Sie trauen den
Menschen zuwenig zu. Geben Sie ihnen mehr Freiheit.
Geben Sie ihnen mehr Chancen zur Eigengestaltung.
({23})
Betreiben Sie Vorsorge für solidarische Regelungen,
aber nehmen Sie die Menschen in die Pflicht und in die
Verantwortung. Reglementieren Sie nicht alles und
erdrücken Sie nicht dadurch Initiative wie soziale Verantwortung. Das ist der eigentliche Unterschied.
({24})
Wir diskutieren so oft und so viel in Feuilletons und
sonstwo, daß die Unterschiede bei den praktischen Lösungsansätzen vielleicht gar nicht so groß seien. Vom
grundsätzlichen Ansatz her ist es auf dem sozialistischen
Weg, egal ob neu oder alt, ob New Labour oder nur Labour - bei dem internationalen Sozialistentreffen in Paris war es gerade wieder ein bißchen komplizierter oder bei der Politik der Bundesregierung immer dasselbe: Wenn man genau hinschaut, wollen Sie die Ergebnisse immer durch Gesetze, durch Reglementierung,
durch die Einengung des freien Entscheidungsspielraums der Menschen erreichen.
Wir wollen die Verantwortung der Menschen stärken.
Deswegen sind für uns Werte wichtiger. Deswegen stehen wir für eine wertegebundene Politik, eine Politik,
die Fundamente hat. Wir haben eine Politik, die den
Menschen zutraut, aus der Chance der Freiheit etwas zu
machen, was der Verantwortung für Gerechtigkeit entspricht. Das ist der Weg der Deutschen im kommenden
Jahrhundert.
({25})
Ich erteile jetzt
dem Herrn Staatsminister Rolf Schwanitz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schäuble, es gehört zu den guten Traditionen in diesem Haus, daß man auch bei Debatten, bei
denen etwas Feierliches mitschwingt, nicht alle Auffassungen teilen muß. Dabei gibt es auch harte Kontroversen und Auseinandersetzungen. Aber ich sage zu Beginn
ganz ausdrücklich: Persönliche Diffamierungen sollten
unterbleiben. Ich weise das entschieden zurück.
({0})
Ich kann mir auch drei inhaltliche Bemerkungen nicht
verkneifen.
({1})
Erstens. Ihre Aussage, wir hätten die Ökosteuer gezielt zur Benachteiligung der Ostdeutschen - quasi vorsätzlich zu diesem Zweck - eingeführt, ist völlig abstrus.
Ich hätte mir gewünscht, daß Sie sich einmal Gedanken
über die Auswirkungen Ihrer Politik auf die Ostdeutschen gemacht hätten, als Sie in den acht Jahren Ihrer
Regierungstätigkeit nach der Herstellung der deutschen
Einheit eine Explosion der Lohnnebenkosten erzeugt
haben. Das wäre angebracht gewesen.
({2})
Zweitens. Herr Dr. Schäuble, ich stimme Ihrer nachdenklichen Bemerkung über den Vergleich Ostdeutschlands immer nur mit dem Westen, nicht mit den früheren
RGW-Ländern Osteuropas, zu. Sie haben das als spezifisch deutsch bezeichnet. Sie haben aber vergessen, auch
zu erwähnen, daß gerade Ihre Partei und die damalige
Bundesregierung die ersten waren, die im Jahr der deutschen Einheit genau diesen Vergleich in die Auseinandersetzungen des Wahlkampfs 1990 eingebracht haben.
({3})
Drittens. Zwar gab es von Ihnen auch nachdenkliche
Töne; aber ich will Ihnen folgenden Hinweis nicht ersparen: Wir hätten gut daran getan, Klischees wie „kalter Krieger“ auf der einen Seite oder „Einheitsgegner“
auf der anderen Seite endlich einmal zu den Akten zu
legen.
({4})
Vielleicht wird das auch noch geschehen.
Ich sage das übrigens zutiefst aus der Sicht eines Ostdeutschen. Ich habe 1990, als wir in den ersten gesamtdeutschen Bundestag gekommen sind, schmerzlich erlebt, daß wir diese alten Schlachten und Debatten wieder
vorgefunden haben, die wir als Ostdeutsche via Fernsehen jahrzehntelang gesehen haben. Damit muß zehn Jahre nach der friedlichen Revolution endlich Schluß sein.
({5})
Vor genau einem Jahr hat der Bundeskanzler seine
erste Regierungserklärung nach dem Regierungswechsel
abgegeben. Diese Regierungserklärung stand unter der
Überschrift: Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen.
Deutschlands Kraft, das ist vor allem die Kraft der Menschen im vereinigten Deutschland, ihre Leistungsfähigkeit, ihre Kreativität und nicht zuletzt ihre Bereitschaft
zur Solidarität.
Leistungsfähigkeit, Kreativität und Solidarität
sind auch die Schlüsselbegriffe für die großen Aufbauleistungen, die vor allem von den Menschen in den neuen Ländern in den letzten Jahren erbracht worden sind.
Die Fortsetzung des Prozesses der Angleichung der
Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ist deshalb
eine lohnende Investition in die Zukunft des gesamten
vereinigten Landes.
Die Bundesregierung läßt sich an dem messen, was
sie versprochen hat. Versprochen haben wir: Der Aufbau Ost hat Priorität. Dieses Versprechen haben wir eingelöst.
({6})
In den Bundeshaushalten 1999 und 2000 werden der
wirtschaftliche und infrastrukturelle Aufbau und die aktive Arbeitsmarktpolitik stärker als unter der Regierung
Kohl gefördert. Die Kassandrarufe der Opposition, die
Arbeitsmarktpolitik werde zusammengestrichen und zusammengekürzt, sind widerlegt. Im Gegenteil: Nach
1999 haben wir die Leistungen für den Osten im nächsten Jahr noch einmal gesteigert. Unser Ziel ist, dafür
mehr als 21 Milliarden DM bereitzustellen.
Das bedeutet konkret: Das Auf und Ab der Arbeitsmarktpolitik der Regierung Kohl ist endgültig beendet.
Die Förderzahlen in den Bereichen der Arbeitsmarktmaßnahmen, der ABM und der Strukturanpassungsmaßnahmen, liegen im Jahresdurchschnitt selbst über den
Zahlen des Wahlkampfjahres 1998. Das ist verantwortungsvolle Politik für arbeitslose Menschen. Das ist
Sicherheit statt Wechselbäder.
({7})
Wir haben, wie versprochen, die Förderpräferenzen
für die neuen Länder gesichert und die Förderung zielgenauer gestaltet, um mit gleichem oder weniger Geld in
den unterschiedlichen Segmenten mehr bewirken zu
können.
({8})
Die Stichworte dafür lauten: 40 Prozent der Mittel des
Sofortprogramms gegen Jugendarbeitslosigkeit fließen
in die neuen Länder. Ich werde dafür sorgen, daß das
auch im nächsten Jahr so bleibt.
({9})
Das Ergebnis ist, daß der im Rahmen des „Bündnisses
für Arbeit“ vereinbarte Ausbildungskonsens, jedem ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen eine Perspektive
zu bieten, kein leeres Versprechen bleibt; die jugendlichen Menschen können vielmehr die Auswirkungen unserer Politik selber erfahren.
Wir haben im Rahmen der Verhandlungen über die
Finanzverteilung in der Europäischen Union erreicht,
daß die Förderpräferenzen für die neuen Länder im
europäischen Vergleich nicht nur gesichert, sondern die
Mittel sogar um 700 Millionen DM pro Jahr aufgestockt
werden. Wir haben die Interessen der ostdeutschen
Landwirtschaft bei diesen schwierigen Verhandlungen
in einem Umfang gewahrt - ich schaue jetzt einmal zu
Ihnen, Herr Ministerpräsident Ringstorff, zur Bundesratsbank -, wie es selbst viele Regierungen in den neuen
Ländern nicht erwartet hatten.
({10})
Ein letztes Beispiel, meine Damen und Herren: Der
Infrastrukturausbau bei Verkehr, Wohnen und Städtebau wurde von uns für die nächsten Jahre auf eine sichere und planbare Grundlage gestellt.
({11})
An die Stelle der Luftbuchungen im Verkehrswegeplan
tritt ein verläßliches und in der Finanzierung abgesichertes Investitionsprogramm Verkehr. Rund 50 Prozent
der gesamten Mittel fließen in die neuen Länder. Darin
enthalten ist ein Sonderprogramm Ost, damit für die
Wirtschaft der neuen Länder besonders wichtige Projekte zeitlich beschleunigt und früher, als ursprünglich
erwartet, fertiggestellt werden können.
Zu Ihrer Zeit haben Sie, meine Damen und Herren,
eine Altschuldenhilferegelung für die ostdeutschen
Wohnungsunternehmen - ich erinnere mich noch sehr
gut - erst nach sehr langem Zögern verabschiedet. Wir
haben nach dem Regierungswechsel durch notwendige
Erleichterungen bereits 1000 ostdeutschen Wohnungsunternehmen einen Freistellungsbescheid erteilt, damit
es weitergehen kann mit den Investitionen - wohnungspolitisch bei der Erneuerung des Bestandes, ökologisch
bei der Modernisierung - und vor allen Dingen auch die
Beschäftigung im Baugewerbe gesichert werden kann.
Das ist wirklich eine Erfolgsbilanz, auf die man stolz
sein kann.
({12})
Die Beispiele ließen sich fortsetzen: vom Aufbauprogramm Kultur bis zur Sportförderung. All das schüttelt
man doch nicht aus dem Ärmel. Sie aber fragen in der
heutigen Debatte wieder: Was ist eigentlich aus der
Chefsache geworden? Meinen Sie etwa, daß das angesichts des von Ihnen ruinierten Bundeshaushaltes alles
Selbstverständlichkeiten und quasi Selbstläufer wären?
({13})
Einsparungen im Haushalt 2000 in Höhe von
30 Milliarden DM, wie wir sie vornehmen, damit die
Staatsfinanzen wieder gesunden, müssen in jeder Regierung durchgeboxt werden. Das wissen Sie von der
CDU/CSU und die übrige Opposition sehr genau; das
wissen übrigens auch die ostdeutschen Wirtschaftsminister, die auf ihrer letzten Konferenz ausdrücklich und dankbar - festgestellt haben, daß der Aufbau Ost
trotz dieser schwierigen Lage Priorität behalten hat. Genau das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
({14})
Die Menschen in den neuen Ländern können sich
darauf verlassen, daß wir auch weiterhin ein Aufbaukonzept umsetzen, das den besonderen Problemen der
neuen Länder gerecht wird, sie aufgreift und Antworten auf Zukunftsfragen gibt. Ostdeutschland ist nach
zehn Jahren mittlerweile ein integraler Teil der gesamtdeutschen Wirtschaft. Deswegen liegt die Antwort auf die wirtschaftlichen und auf die sozialen Probleme des Ostens in einer Doppelstrategie: Einerseits
müssen die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen, die
zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen, verbessert werden; dieses haben wir im Zukunftsprogramm
2000 ja auch vorgesehen. Und sie besteht andererseits
in einer besonderen Politik im Interesse der Zukunft des
Ostens.
Das Zukunftsprogramm 2000 schafft nicht nur die
finanziellen Voraussetzungen für eine weitere Unterstützung des Ostens in den nächsten Jahren. Die von uns
vorgesehene Unternehmensteuerreform, die Absenkung
der Lohnnebenkosten und auch die Entlastung von Familien und von kleineren und mittleren Einkommensbeziehern sind gerade auch für Ostdeutschland wichtig.
All dies eröffnet zusätzliche Spielräume für Investitionen in den ostdeutschen Unternehmen und schafft zusätzliche Nachfrage bei der Bevölkerung. Dies liegt zutiefst im Interesse der Menschen in den neuen Bundesländern, meine Damen und Herren.
({15})
Neben dem Zukunftsprogramm 2000 steht unser
Aufbaukonzept für Ostdeutschland. Es verbessert infrastrukturelle Bedingungen, gleicht Standortnachteile
aus und verbessert die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft. In den ostdeutschen Städten und Gemeinden,
zum Beispiel bei der Innenstadtsanierung und der Modernisierung der Wohnungssubstanz, gibt es in den
nächsten Jahren noch viel zu tun. Deshalb ist es richtig,
daß das zentrale Förderinstrument für die Sanierung
des Wohnungsbestandes, das KfW-Wohnraummodernisierungsprogramm - anders als von der Vorgängerregierung ursprünglich geplant - nicht in diesem Frühjahr
ausgelaufen ist. Die Bundesregierung hat dieses Programm 1999 mit 9 Milliarden DM fortgesetzt. Wir werden es mit einer Summe von 10 Milliarden DM - übrigens gemeinsam mit den neuen Ländern - auch in den
nächsten Jahren fortführen.
({16})
Dies bedeutet übrigens auch eine Stabilisierung von
Tausenden von Arbeitsplätzen in der ostdeutschen Bauwirtschaft und beim ostdeutschen Handwerk. Dieser
politische Einsatz war nicht nur richtig, meine Damen
und Herren. Er war und ist auch eine gute Entscheidung
im Interesse des Ostens.
({17})
Unsere Entscheidung, bei der Investitionszulage
künftig zwischen der Erst- und Ersatzinvestition zu unterscheiden, schafft in Brüssel freie Fahrt für dieses
wichtige Gesetz - etwas, was eigentlich die Vorgängerregierung hätte leisten müssen, aber in den ganzen vier
Jahren seit Verabschiedung des Gesetzes nicht geschafft
hat. Im übrigen, meine Damen und Herren, durch diese
Veränderung und durch die damit verbundene Erhöhung
der Investitionszulage für Erstinvestitionen um 25 Prozent werden auch Mitnahmeeffekte verringert. Aber vor
allem setzen wir damit stärkere Anreize für Zukunftsinvestitionen, für Investitionen in neue Erzeugnisse, neue
Technologien und Verfahren. Gerade das, meine Damen
und Herren, braucht der Osten in dieser Zeit.
Von zentraler Bedeutung für die Zukunft des Ostens
ist aber noch etwas anderes, nämlich die regionale Profilbildung für den weiteren Aufbau Ost, die stärkere
Förderung und Entwicklung regionaler Entwicklungspotentiale. Viele Regionen Ostdeutschlands haben sich
über besondere Profilbildung in den letzten Jahren zu
Kompetenzzentren entwickelt. Der Raum Potsdam ist
heute ein Synonym für ein Netzwerk zukunftsorientierter Unternehmen der Medien- und Telekommunikationswirtschaft. Allein auf dem ehemaligen Gelände der
DEFA arbeiten mittlerweile wieder mehr Mitarbeiter als
vor 1990, weit über 3 000 Fachkräfte. In Dresden und
Freiberg sind neue Hochtechnologiestandorte der Mikroelektronik entstanden, die bis heute 350 neue, innovative Unternehmen angezogen haben. Um das thüringische Institut für Textil- und Kunststofforschung in Rudolstadt/Schwarza haben sich bereits 50 innovative Unternehmen niedergelassen. Solche und ähnliche regionale Entwicklungsprofile zu schaffen und Innovationspotentiale vor Ort zusammenzuführen, das ist die
eigentliche Aufgabe der Zukunft. Deshalb investieren
wir in die regionale Stärke.
({18})
Auch dies ist eine richtige Entscheidung.
Dafür ist unser neues Programm „Inno-Regio“ - es
ist heute schon mehrfach erwähnt worden - nicht nur ein
neuer Förderansatz, der sich durch seinen Wettbewerbscharakter vom früheren Gießkannenprinzip verabschiedet und eine enorme Multiplikatorenwirkung erzeugt,
bezogen auf lokale und regionale Initiativen und innovative Prozesse. Nein, wir zielen damit auch und gerade
auf die Grundvoraussetzung für die Entwicklung der
ostdeutschen Unternehmen, die vor allem aus den kleinen Betriebsstrukturen erwächst, nämlich auf den Aufbau von Netzwerken und hilfreichen Verbindungen und
Kooperationen untereinander. Gerade diese Netzwerke,
die das Engagement von Unternehmen, von Hochschulen, von öffentlicher Verwaltung und von privaten Initiativen zusammenführen, sind für kleine und mittelständische Unternehmen in der Zukunft geradezu lebensnotwendig. Wir werden deshalb in den nächsten
Jahren 25 Modellprojekte voranbringen und setzen dafür
rund eine halbe Milliarde DM ein. Das ist gut verwendetes Geld; denn es ist Geld, das in die Zukunft der
Menschen und der ostdeutschen Unternehmen investiert
wird.
({19})
Genau aus demselben Grund investieren wir auch in
Ausbildung, in die Hochschulen und in die Zukunft der
Regionen. Ebenso wichtig ist es uns, die Gründung von
technologieorientierten Unternehmen zu fördern. Deshalb werden wir das von der alten Bundesregierung nur
bis 1999 vorgesehene, aber wichtige und gut funktionierende Programm FUTOUR bis zum Jahr 2003 verlängern. Dies ist eine wichtige und für die Betriebe gute
Nachricht in dieser Debatte.
({20})
Dafür, daß die Bundesregierung seit 1998 die richtigen Schritte gegangen ist und sich auf dem richtigen
Kurs befindet, spricht übrigens auch das Herbstgutachten der Wirtschaftsinstitute. Sie haben das Wachstum
der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Ostdeutschland für das nächste Jahr zum erstenmal wieder so hoch
vorhergesagt wie das Wachstum in den alten Bundesländern. Diese Entwicklung ist ein großer Schritt nach
vorn, nachdem die Wirtschaft im Osten in den Jahren
1997 und 1998 langsamer als die im Westen gewachsen
ist und sich der ökonomische und soziale Spalt zwischen
Ost und West wieder geöffnet hat.
Ich nehme die Aufforderung der Institute an die Bundesregierung gerne auf, an unserem bisherigen Kurs gegenüber Ostdeutschland festzuhalten. Diese Aufforderung ist ein Beleg für die richtige Richtung, die wir hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung eingeschlagen haben. Wir sind auf dem richtigen Weg, den wir
deshalb entschlossen fortsetzen werden.
({21})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesregierung zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls - wir
meinen, dem eigentlichen Tag der deutschen Einheit hat für uns Liberale eine besondere Bedeutung. Der
Wille zur deutschen Einheit ist in der 50jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - rückblikkend betrachtet - immer der rote Faden liberaler Politik
gewesen. Die Namen Theodor Heuss, Reinhold Maier,
Wilhelm Külz, Thomas Dehler, Walter Scheel und
Hans-Dietrich Genscher sprechen für sich.
({0})
Für uns ist die deutsche Einheit ein Glücksfall für die
deutsche Geschichte.
Wenn wir heute in den ausländischen Tageszeitungen
lesen, daß die deutsche Einheit nach zehn Jahren eine
Erfolgsstory sei, dann denke ich, daß uns das ein bißchen stolz machen sollte. Die deutsche Einheit ist nämlich eine Grundvoraussetzung dafür, daß wir im europäischen Einigungsprozeß vorankommen, was ein besonderes Anliegen - wir werden es immer wieder hier zum
Thema machen - von uns Liberalen ist.
({1})
Von Anfang an ist es Kredo liberaler Politik seit der
deutschen Einheit, der politischen Einheit auch die wirtschaftliche und soziale Einheit folgen zu lassen.
Es ist unbestritten, daß in den letzten zehn Jahren des
gemeinsamen Weges enorme Leistungen von den Deutschen sowohl im Osten als auch im Westen erbracht
worden sind. Die Ostdeutschen haben ja nicht nur Mut
bewiesen, indem sie auf die Straße gegangen sind und
für die Freiheit gekämpft haben. Sie haben auch Mut
bewiesen und Aufopferungsbereitschaft gezeigt, indem
sie sich auf eine vollkommen neue Lebenssituation eingestellt haben.
({2})
Die Deutschen im Westen haben mit ihrer Leistung,
der Schaffung eines stabilen Wirtschaftssystems, die
Grundlagen für die Finanzierung des Aufbaus Ost gelegt. Nach meiner Auffassung ist im Vereinigungsprozeß auch deutlich geworden, daß wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit zwei Seiten einer Medaille sind,
die einander bedingen. Bereits am Vorabend des Mauerfalls, am 8. November 1989, hat der damalige Außenminister, Hans-Dietrich Genscher, im Bericht zur Lage der
Nationen gesagt - Frau Präsidentin, ich zitiere mit Ihrer
Genehmigung -:
Nach dem, was in der DDR geschieht, wird nichts
mehr so sein, wie es war: nicht dort, auch nicht bei
uns und nirgendwo in Europa.
So ist es gekommen. Der Strukturwandel im Osten ist
vollzogen. Ihm muß aber noch so manche Reform in
Gesamtdeutschland folgen. Aber Reformen, wie Sie sie
machen und verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Regierungskoalition, sind nicht die Reformen,
die wir in Deutschland brauchen.
({3})
Ich komme noch einmal auf Ihr Gesetz zur Ökosteuerreform zurück. Wenn Sie in diesem Gesetz vorsehen,
die Gaskraftwerke zu begünstigen, wird sich die Situation für die Braunkohle im Osten dramatisch verschärfen.
Damit gefährden Sie nicht nur den bei der Stromerzeugung bestehenden Energiemix, sondern Sie gefährden
darüber hinaus Arbeitsplätze in einer wettbewerbsfähigen Branche. Dies ist, Herr Staatsminister Schwanitz,
wahrlich kein guter Beitrag zum Aufbau Ost. Dessen
können Sie sich nun wahrlich nicht rühmen.
({4})
Und da reden Sie, Herr Schulz, von der Zukunft der ostdeutschen Braunkohle! Ich glaube, das ist eine Verdrehung der Tatsachen.
Heute, nach zehn Jahren, ist der Strukturwandel im
Osten vollzogen. Die Besorgnis über die in den neuen
Ländern immer noch doppelt so hohe Arbeitslosigkeit
wie in den alten Ländern bleibt. Allerdings sind in diesem Punkt Differenzierungen angebracht. So gibt es im
Osten moderne Unternehmen mit gleich hoher Produktivität wie in den alten Ländern, und es gibt auch im Westen strukturschwache Regionen mit gleich hoher Arbeitslosenquote wie im Osten.
Fakt ist: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hat
seit der Wiedervereinigung zwischen Ostsee und Erzgebirge kräftig zugenommen. Das reale Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 1991 und 1998 um insgesamt
45 Prozent. Erfreulich sind ebenso die Zuwachsraten in
der Industrie, auch wenn die industrielle Basis insgesamt
noch zu schwach ist. Fakt ist aber auch, daß sich der
Aufholprozeß seit Mitte der 90er Jahre deutlich verlangsamt hat. Wie schon 1998 wird das Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern mit 1,9 Prozent auch in
diesem Jahr um gut ein Viertel hinter dem der alten
Bundesländer zurückbleiben. Vor allen Dingen die Exportwirtschaft kommt nicht voran. Die Exportquote ist
mit knapp 18 Prozent nach wie vor nur halb so hoch wie
in den alten Bundesländern. Darum, meinen wir, müssen
in Zukunft die Förderinstrumente für die neuen Bundesländer viel straffer, gezielter und effizienter eingesetzt werden. Dabei kommt es vor allem darauf an, Prioritäten auf eine stärkere Förderung von Innovation und
Infrastrukturausbau zu setzen.
({5})
Hier, meine Damen und Herren von der rotgrünen
Regierungskoalition, haben Sie im wahrsten Sinne des
Wortes die Weichenstellungen falsch vorgenommen.
Bei Ihrem sogenannten Investitionsnotprogramm sind
zwar die neuen Bundesländer im Verhältnis zu den alten
gut weggekommen. Allerdings schwebt über diesem
Programm angesichts einer globalen Minderausgabe in
Höhe von 5 Milliarden DM das Damoklesschwert der
völlig unsoliden Finanzierung.
({6})
Angesichts dieser investitionspolitischen Keule geraten
dann auch die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit in
Bedrängnis oder werden, sollte ich vielleicht lieber sagen, gleich aufs Abstellgleis geschoben. Dabei denke ich
an die geplante ICE-Strecke Berlin-Leipzig/HalleNürnberg. Damit, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, ist ein großer Teil der neuen
Bundesländer vom zukünftigen Hochgeschwindigkeitsschienennetz in Europa abgekoppelt. Somit sind die
neuen Bundesländer auch in ihrer wirtschaftlichen
Entwicklung benachteiligt.
Gleiches gilt auch für die Steuerpolitik. Es wurde
schon gesagt: Wir haben als Liberale Anfang der 90er
Jahre bewußt ein Niedrigsteuergebiet für die neuen
Bundesländer gefordert. Wäre man dem gefolgt, wären
wir auf dem gemeinsamen Weg der Angleichung der
Lebensverhältnisse heute vielleicht schon weiter. Wir
fordern jetzt niedrige Steuersätze in ganz Deutschland.
Was aber machen Sie? Sie erhöhen die Steuern für die
Bürger und die kleinen und mittelständischen Unternehmen.
({7})
Der Schwung für den Aufbau Ost darf nicht nachlassen, und das Verfassungsgebot, einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu schaffen, bleibt bestehen. Deshalb entlassen wir die Bundesregierung nicht
aus ihrer Pflicht, den Aufbau Ost zum zentralen Ziel ihrer Politik zu machen. Nur, dieses, Herr Bundeskanzler
- ich sehe ihn jetzt leider nicht -, vermissen wir nach einem Jahr Ihrer Regierung. Bisher hat Ihre Politik, gerade
in den neuen Ländern, nur zur Verunsicherung der Bürger beigetragen.
({8})
Heute tun Sie so, als seien Sie der Kanzler der deutschen
Einheit. Damals jedoch sind Sie als Ministerpräsident
von Niedersachsen im Bundesrat sowie in öffentlichen
Reden der Bremser der deutschen Einheit gewesen.
({9})
Frau Kollegin,
denken Sie daran, daß Sie Ihre Redezeit schon um eine
Minute überzogen haben.
Selbstverständlich, Frau
Präsidentin. - Erlauben Sie mir einen letzten Satz: Sie,
Herr Bundeskanzler, müssen sich heute - selbst wenn es
Ihnen unangenehm ist - mit dieser Sache auseinandersetzen und mit ihr konfrontieren lassen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Markus Meckel.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Saal ist etwas leerer geworden. Trotzdem muß ich feststellen: Für mich ist es
etwas Besonderes, das erste Mal hier in Berlin an diesem
Pult zu stehen. Auch Peter Struck hat das heute früh für
sich schon gesagt. Ich bin - anders als er - in Ost-Berlin
aufgewachsen, habe jetzt mein Büro „Unter den Linden“
und überspringe gewissermaßen jeden Tag die Mauer,
indem ich durch das Brandenburger Tor hierher gehe. Da
schließt sich für mich ein Kreis. Ich glaube schon, daß
das auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer nicht nur
eine ganz wichtige persönliche Angelegenheit ist. Nein,
wir sollten schon deutlich machen, daß dies für uns als
Deutsche ein ganz zentraler Punkt ist.
Jeder von uns kann anläßlich bestimmter historischer
Daten vermutlich sagen, wo er sich jeweils aufhielt.
Dies kann sicherlich jeder im Hinblick auf den
9. November 1989 sagen, als er die Nachricht erhielt,
daß die Mauer gefallen sei. Ich selber kann es auch in
bezug auf den Mauerbau 1961 sagen. - Ich war knapp
neun Jahre alt, als ich erfuhr, daß die Mauer gebaut
wird. - Und ich kann es übrigens auch im Hinblick auf
den Tag im Jahre 1968 sagen, an dem ich erfuhr, daß die
Sowjets in Prag einmarschiert sind. Das sind Daten, die
man nicht vergißt und die das eigene Leben prägen.
Ich finde es wichtig, daß wir, wenn wir über die deutsche Einheit sprechen, solche persönlichen Erinnerungen mit konkreten Wertungen und Zusammenhängen
zusammenzuführen und einander zuhören. Es ist wichtig, darüber zu sprechen. Denn nur auf diese Art und
Weise kommen wir zu einem öffentlichen Gedenken.
Mir scheint, gerade da haben wir noch Schwierigkeiten.
Erst öffentliche Festakte machen das Selbstverständnis
eines Gemeinwesens insgesamt deutlich. Ich denke, da
haben wir noch viel zu lernen. Aber das ist ja nichts
Neues.
Lassen Sie uns betrachten, auf welche unterschiedliche Art und Weise in Deutschland im Laufe der Jahrzehnte zum Beispiel das öffentliche Gedenken des
20. Juli 1944, des Attentates auf Hitler, gestaltet und
bewertet wurde: In den 50er Jahren wurde es nicht selten
als Verrat an Deutschland begriffen. Heute verstehen
wir es als eine Tat, die unser demokratisches Selbstverständnis wesentlich mitträgt.
Auch heute, wie gesagt, haben wir Schwierigkeiten
mit öffentlichen Festakten. Die Debatte, die wir über
den Festakt am letzten Dienstag geführt haben, macht
das deutlich. Alle gehaltenen Reden waren wichtig.
({0})
Trotzdem möchte ich sehr deutlich feststellen: Wir haben diesen Tag gefeiert, als wäre es der 3. Oktober 2000.
Dies ist schon oft so angesprochen worden. Ich nehme
das nicht übel. Denn nach allgemeinem Selbstverständnis ist die gesamte Zeit des Umbruchs, sind diese
14 Monate zusammengeflossen, was dann oft mit dem
Begriff „Wende“ bezeichnet worden ist. Das heißt, sowohl die Revolution der Freiheit, die Zeit des Runden
Tisches, die Zeit der frei gewählten Volkskammer und
die Vollendung der deutschen Einheit auf der staatlichen
Ebene, all das fließt in diesen einen Begriff zusammen.
Daß dann einzelne darauf kommen, dies an einem Tag
feierlich zu begehen, nehme ich nicht übel.
Aber ich halte es trotzdem für falsch. Zum einen stellt
es uns vor die Schwierigkeit, festzulegen, wie wir den
3. Oktober des nächsten Jahres feiern. Herr Gorbatschow und Herr Bush waren schon hier. Wir müssen uns
noch einmal genau überlegen, wie wir diesen Tag begehen sollten. Mein Vorschlag wäre: Wir sollten die
Staatsoberhäupter aller unserer Nachbarländer, und zwar
die der kleinen und der großen, einladen, um gemeinsam
mit ihnen diesen Tag feiern. Vielleicht gibt es noch andere Vorschläge. Ich glaube aber, dies wäre eine gute
Sache, um deutlich zu machen: Nicht nur die großen
Nachbarländer waren daran beteiligt, sondern auch die
kleinen, die auch so manche Sorge hatten.
({1})
Die Veranstaltung hier im Deutschen Bundestag
war des Ereignisses würdig. Ich habe aber oft gesagt
bekommen: Das ist nicht unsere Erfahrung am 9. November. Bei den Ostdeutschen herrschte weitgehend das
Gefühl der „Enteignung“ des eigenen Feiertages vor.
Die Leute wollten feiern, und sie haben gefeiert. Ich
fand, es war ein tolles Fest. Aber sie fragten: Warum
sind auf den Bildschirmen immer Helmut Kohl und Präsident Bush zu sehen? Was haben die beiden konkret mit
diesem Datum zu tun? Gewiß, sie haben mit der Einheit
zu tun. Aber von den Ereignissen am 9. November 1989
haben sie genauso überraschend erfahren wie wir alle.
({2})
Der Mauerfall am 9. November gehört in den Kontext
des revolutionären Herbstes. Übrigens ist die Mauer
nicht geöffnet worden - viele reden von „Maueröffnung“ -, sie ist überrannt worden. Sie ist gefallen im
Ansturm der Herbstrevolution. Wenn es in den Wochen
und Monaten zuvor nicht die Demonstrationen gegeben
hätte, bei denen nicht geschossen wurde - das war unsere Erfahrung vom 9. Oktober -, dann wäre die Mauer
auch nicht plötzlich von innen aufgedrückt worden. Die
Ostdeutschen haben damit ein weltweites Symbol für
das Ende der Teilung Europas geschaffen, und zwar
nicht nur zur Freude aller Deutschen. Kann es aber sein,
daß wir es noch nicht gelernt haben, als Nation ein Fest
zu begehen, bei dem die Ostdeutschen im Mittelpunkt
stehen und nicht die westdeutschen Politiker? Ich habe
manchmal diesen Eindruck.
Ich hätte mir gewünscht, diesen Tag gemeinsam mit
den Polen zu feiern, die viele Jahre zuvor aufgestanden
sind - das ist glücklicherweise oft erwähnt worden -,
mit den Ungarn, die schon an anderer Stelle praktisch
die Mauer durchbrochen hatten, mit den Tschechen, den
Slowaken und den Rumänen, die alle ihre Revolution
hatten, jeweils in unterschiedlicher Weise. Das wäre gut
gewesen. Für künftige Feste am 9. November sollten wir
an diesen Kontext stärker denken, als wir es diesmal
getan haben, indem wir nicht nur über diese Völker reden, sondern sie beteiligen.
({3})
Die große Politik war gewiß nötig: Zwei-plus-VierVertrag, Einbindung in internationale Organisationen,
Integration in die Europäische Union, europäische Sicherheitsstruktur. Dessen aber sollten wir am 3. Oktober
2000 und an den entsprechenden künftigen Feiertagen
gedenken. Und dann haben Helmut Kohl und all die, die
hier geredet haben, natürlich Wesentliches zu sagen.
Offensichtlich haben wir aber nicht nur damit
Schwierigkeiten, sondern überhaupt mit dem Verhältnis
von Freiheit und Einheit. Wir alle empfinden Freude,
daß erstmalig in unserer Geschichte beides möglich war:
Freiheit und Einheit. Ich empfinde das als wirklich großes Geschenk. Aber als Theologe sage ich: Auch wenn
man etwas geschenkt bekommt, heißt das nicht, daß man
untätig war. Viele haben dazu beigetragen.
Es geht aber auch um den inneren Zusammenhang
von Freiheit und Einheit. Ich habe einmal in Bonn von
diesem Pult aus jemanden sagen hören, daß er sich
freue, daß 16 Millionen Deutsche durch die Einheit die
Freiheit erhalten haben. Damit waren die Ostdeutschen
gemeint. Damals habe ich nicht bemerkt, daß jemand
dagegen gesprochen hätte. Ich glaube, die Ereignisse
waren genau andersherum: Durch die Freiheit wurde die
Einheit möglich. Freiheit wurde durch die Aktivität der
politischen Opposition, der Gruppen und neuen Parteien,
die sich bildeten, möglich. Diese aber konnte überhaupt
nur wirksam werden, weil es den Druck auf den Straßen
gegeben hat. Beides war notwendig. Ich halte es daher
auch für notwendig, beides zu benennen. Mich ärgert es,
wenn man die Ostdeutschen immer nur auf die hunderttausend Menschen reduziert, die auf die Straße gegangen sind, und sagt: Ihr habt es durch eure Demos geschafft!
({4})
Das ostdeutsche Handeln ist nicht nur auf die Demonstrationen zu beziehen, sondern auch auf das konkrete
politische Handeln. Aber das politische Handeln der
Gruppen war eben nur erfolgreich, weil es den Druck
auf der Straße gab. Deshalb, so glaube ich, muß künftig
beides genannt werden. Mit dem ostdeutschen Handeln
sind durchaus auch Namen verbunden. Eine Reihe von
denen, die damals gehandelt haben, sitzt übrigens in allen Parteien. Ich fand es auch sehr wichtig, daß Jochen
Gauck sie am 9. November genannt hat.
Natürlich dürfen wir nicht vergessen, daß auch die
Ausreisenden zu diesen Ereignissen wesentlich beigetragen haben - auch wenn ich selbst ihnen recht kritisch
gegenüberstand. Sie hatten die Nase voll und sagten:
Wir wollen unseren Weg woanders gehen. Sie hatten
keine Perspektive in diesem Land oder sahen zumindest
für es keine Zukunft mehr.
Ich finde es sehr bezeichnend, daß in diesem Jahr von
der Rolle der Kirchen im Herbst 1989 überhaupt nicht
mehr die Rede war. Ich denke, diese Rolle ist nach wie
vor wichtig. Dabei gibt es Unterschiede. Ausschlaggebend waren nicht unbedingt die Kirchenleitungen.
Herr Kollege
Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Rönsch?
Wenn sie mir nicht angerechnet wird, ja.
Ich
möchte Sie, Herr Kollege Meckel, fragen, wie Sie die
Situation hier im Plenum beurteilen. Wir debattieren
über den Aufbau Ost - der Kanzler hat ihn zur Chefsache gemacht -, und kein Minister sitzt auf der Regierungsbank.
({0})
Ich kann Ihnen bestätigen,
daß mich das nicht freut. Da ich aber nicht weiß, welche
Termine sie haben, kann ich sie auch nicht schelten.
({0})
Ich komme nun zu meiner Rede zurück. Ich habe bereits ausgeführt, daß ich es für wichtig halte, daß wir,
wenn wir künftig über solche Themen und Zusammenhänge reden, deutlich machen, daß die Perspektiven der
Abläufe andere waren, als wir in unseren Festtagsreden
oft aufzeigen. Deshalb will ich noch einmal darauf hinweisen, daß wir Ostdeutsche nicht nur diejenigen waren,
die die Freiheit erkämpft haben, sondern daß wir in den
Monaten danach auch durchaus etwas gestaltet haben.
Sehen wir uns die Reden zum 3. Oktober an. Seit
1990 wird Herr Kohl mit Recht genannt. Ebenso ist von
Herrn Bush und Herrn Gorbatschow - die Reihenfolge
war in den verschiedenen Jahren unterschiedlich; das ist
interessant - die Rede. Hans-Dietrich Genscher wird je
nach Redner - auch das ist interessant - erwähnt oder
nicht. Daneben wird dann immer nur noch von den
Hunderttausenden von Ostdeutschen auf den Straßen gesprochen.
Wenn es so gelaufen wäre, hätte die Geschichte anders verlaufen müssen. Dann hätte die alte Volkskammer nach dem 9. November, offensichtlich vor Schreck,
rasch den Beitritt nach Art. 23 des Grundgesetzes beschließen müssen, und alles wäre entsprechend anders
gelaufen. So war die Geschichte aber nicht, und das wird
oft vergessen.
({1})
Ich möchte an die runden Tische erinnern, an denen
Hunderte, ja Tausende von Menschen, die nicht nur auf
der Straße waren, konkret versuchten, Strukturen im
Transformationsprozeß zu verändern. Ich möchte nicht
nur an den zentralen runden Tisch erinnern, sondern
auch an die in den Bezirken und Kommunen; denn auch
dort wurde konstruktiv gearbeitet.
({2})
Ich halte das für eine ganz wesentliche Sache und hätte
mich sehr gefreut, wenn der Bundestag in einer eigenen
Veranstaltung dessen gedacht hätte.
({3})
Ich denke an die Volkskammer, die eine ganz wesentliche Rolle im Einigungsprozeß gespielt hat. Ich
möchte mich durchaus bei Herrn Schäuble dafür bedanken, daß er das heute deutlich ausgesprochen hat. Leider
muß ich feststellen: Bis heute - zehn Jahre danach - gibt
es keine Bände mit den Protokollen der Sitzungen der
frei gewählten Volkskammer als Teil der Dokumente
der parlamentarischen Geschichte des heute vereinten
Deutschlands und seiner Vorgeschichte. Ich halte das für
ein großes Desiderat und möchte den Ältestenrat bitten,
die Initiative zu ergreifen, um - vielleicht schaffen wir
es bis zum 18. März; die Texte sind ja vorhanden - eine
solche Ausgabe herauszugeben. Das wäre wichtig.
({4})
Ich möchte den Ostdeutschen sagen, daß sich manche
Larmoyanz, die ich in unseren Regionen erlebe, für
falsch halte. Ich glaube, daß es viel wichtiger ist, zu erkennen, welche Möglichkeiten wir in diesem geeinten
Deutschland haben und welche Partizipationsmöglichkeiten es gibt. Auch der Weg in die deutsche Einheit war
nicht so einseitig. Das verschütten wir leider, wenn wir
immer nur die Namen westlicher Politiker in diesem
Prozeß nennen. Ich behaupte: Der Weg zur deutschen
Einheit war der institutionelle Weg der Selbstbestimmung der Ostdeutschen.
({5})
Wie hätte sich dieser Prozeß anders und besser vollziehen können? Honecker ist ja bei uns gestürzt worden.
Die Macht des Politbüros war dann futsch. Modrow
übernahm die Macht für den Übergang. Dann gab es den
runden Tisch, der den Übergang organisierte und das
Wahl- und Parteiengesetz formulierte. Es gab eine von
Ostdeutschen frei gewählte Volkskammer, eine frei gewählte Regierung, die die entsprechenden Verträge mit
ausgehandelt hat. Die frei gewählte Volkskammer hat
den Beitrittsbeschluß gefaßt und das Datum entsprechend festgelegt. Was hätte an diesem institutionellen
Ablauf besser sein können? Wir sind als Ostdeutsche erhobenen Hauptes und tatkräftig in die deutsche Einheit
gegangen und nicht wie ein fauler Apfel in die alte Bundesrepublik gefallen.
({6})
Herr Kollege
Meckel, denken Sie bitte an die Zeit.
Ich komme zum Schluß. Ich
halte es für wichtig, daß wir heute im vereinten
Deutschland dem Selbstbewußtsein entsprechend, das
auf Grund des historischen Prozesses gewachsen ist,
mitarbeiten und mitgestalten sollten. Die wichtigste Botschaft, die ich gerade in Richtung Ostdeutschland habe,
ist: Organisiert eure Interessen, und macht euch deutlich,
daß der Aufbau Ost und alles das, was wir hier beschlossen haben - übrigens auch die frühere Bundesregierung -,
davon abhängen, daß in diesem Haus Verständnis für die
Sonderprobleme geweckt wird, die wir in Ostdeutschland haben!
Herr Kollege
Meckel, bitte.
Wir müssen unsere Kollegen
davon überzeugen. Das war für Paul Krüger in der früheren Zeit nicht einfach. Auch wir werden jetzt im Laufe unserer Regierungszeit zu kämpfen haben. Aber wir
werden uns durchsetzen. Dadurch, daß uns dies gelingt
und daß Verständnis geweckt wird, wird es eine Perspektive für unser vereintes Deutschland geben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katherina Reiche.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Vor zwei Tagen haben wir in
diesem Hause den zehnten Jahrestag des Mauerfalls
würdig begangen. Ich finde es wichtig und vor allem
selbstverständlich, daß wir in dieser Woche über den
Stand der deutschen Einheit debattieren. Keine andere
Entscheidung wäre der Bedeutung dieses Ereignisses gerecht geworden. Der Mauerfall war der erste Schritt zur
Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, und die Mauer
fiel von Ost nach West.
Zehn Jahre danach sind die innere Einheit Deutschlands und die Herstellung gleicher wirtschaftlicher Lebensverhältnisse nach wie vor die Herausforderung für
uns, für die Politik und für die Gesellschaft. Garant und
Träger für das stabile und dauerhafte Zusammenwachsen von Ost und West ist die junge Generation, die Generation, die entweder die Mauer nur noch vom Hörensagen kennt oder die die Diktatur erlebt hat, aber nicht
von ihr verformt wurde. Sie muß den Anspruch, den wir
an Deutschland im nächsten Jahrhundert haben, erfüllen,
nämlich ein Deutschland schaffen, das seinen Bürgern
Frieden, Wohlstand und Freiheit sichert und mit seinen
Nachbarn in Europa und in der Welt harmonisch kooperiert.
({0})
Meine Damen und Herren, die junge Generation, also
meine Generation, muß diesen hohen Anspruch in der
Zukunft erfüllen. Wir müssen heute die Voraussetzungen dafür schaffen, daß dies erreicht werden kann. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.
Die innere Vereinigung kann eines nicht zum Ziel
haben: den Einheitsdeutschen. Er ist nach den Worten
von Roman Herzog eine Schreckensvision. Roman Herzog sagte in seiner Antrittsrede 1994:
Deutschland ist … nicht nur größer und bevölkerungsreicher geworden, es ist auch bunter, widersprüchlicher und sogar konfliktreicher geworden.
({1})
Hinter dem Wort von der „Mauer in den Köpfen“
steckt die Idee des Einheitsdeutschen, und das ist
etwas in jedem Sinne des Wortes Unmögliches.
Der Einheitsdeutsche ist eine Schreckensvision.
Landsmannschaftliche Vielfalt hingegen ist eine Kraft,
nicht das - wie Ministerpräsident Ringstorff vorhin gesagt hat - diffuse ostdeutsche Wir-Gefühl, das es nicht
gibt. Es ist die Kraft, die wir aus unserer föderalen
Grundordnung ziehen und die uns so viel stärker
macht als einen zentralistischen Staat.
({2})
Bei aller Vielfalt dürfen wir auf eines nicht verzichten, meine Damen und Herren, nämlich auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner unserer Gesellschaft:
die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Viele junge Menschen in den neuen Ländern sind in der Bundesrepublik angekommen, haben ihre Freiheit angenommen, gehen selbstbewußt und aufrecht ihren Weg.
Wer hätte noch vor zehn Jahren geglaubt, daß man in
den Vereinigten Staaten, in England oder gar in Australien studieren könnte? Wer hätte daran gedacht, ein
kleines Unternehmen zu gründen oder sich in einer
Partei politisch zu engagieren, die man sich selbst ausgewählt hat?
Aber Zahlen belegen, daß nach 40 Jahren SEDDiktatur leider noch nicht alles so ist, wie wir es uns
wünschen. Das Wahlverhalten der jungen Menschen in
den neuen Ländern gibt Anlaß zur Sorge. Bei der letzten
Bundestagswahl 1998 erhielten extremistische Parteien
am linken und am rechten Rand 32 Prozent der Stimmen
von ostdeutschen Wählern zwischen 18 und 25 Jahren.
Zählt man die Nichtwähler hinzu, schenken nur 50 Prozent der jungen Wähler ihr Vertrauen den demokratischen Parteien. Eine Zeitschrift, die in diesem Jahr eine
Umfrage gestartet hat, ermittelte, daß nur 38 Prozent der
Menschen in den neuen Ländern das Modell der sozialen Marktwirtschaft befürworten. 32 Prozent sprachen
sich strikt dagegen aus. Infratest dimap hat ermittelt, daß
nur 45 Prozent der Ostdeutschen das politische System
der Bundesrepublik als dem der DDR überlegen einschätzen.
Das beunruhigt. Diese Zahlen müssen von uns positiv
verändert werden, und dabei spielt die Schule eine ganz
besondere Rolle.
({3})
Wir müssen an den Schulen drei wichtige Lehrinhalte
verbindlich vermitteln. Erstens geht es um eine umfassende Behandlung beider Diktaturen im 20. Jahrhundert
auf deutschem Boden. Beide haben unseren höchsten
Verfassungsgrundsatz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ schändlich verletzt. Ihrer nachträglichen
Mythisierung ist Einhalt zu gebieten. Die Herrschaftsund Sozialgeschichte sowie ihre Wechselbeziehungen
müssen vermittelt werden. Nur so kann verhindert werden, daß im nachhinein zum Beispiel Honeckers trügerische und unmündige soziale Sicherheit auch noch im
nächsten Jahrhundert als angebliche Errungenschaft gelobt wird.
({4})
Ich habe vor kurzem mit dem Bildungsminister von
Mecklenburg-Vorpommern diskutiert. Er hat mir recht
gegeben: Es gibt nur Rahmenpläne - es gibt keine Lehrpläne - für das Fach Geschichte. So kann es passieren,
daß ein Schüler sein Abitur macht, ohne jemals vom
kalten Krieg oder von der deutschen Einheit gehört zu
haben. Das ist in meinen Augen ein Ding der Unmöglichkeit.
({5})
Nun hat es der Minister aber auch nicht besonders leicht;
er muß - aber das ist seine eigene Schuld - mit einer
Partei in Mecklenburg-Vorpommern zusammen regieren, die sich die Systemopposition und die Überwindung
unserer demokratischen Grundordnung zur Maxime gemacht hat - eine Kröte, die schwer zu schlucken ist.
Zweitens. Eine profunde und lebendige Darstellung
der Funktionsweisen der parlamentarischen Demokratie,
der sozialen Marktwirtschaft, der Europäischen Union
und der wichtigsten internationalen Organisationen wie
NATO und UNO, denen Deutschland angehört, ist in
der Schule äußerst wichtig. Denn die Verankerung
Deutschlands in der westlichen Wertegemeinschaft war
eine ganz wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen der Einheit. Während des Kosovo-Konflikts
habe ich bei Diskussionen an vielen Schulen noch die
alten SED-Sprüche von der „imperialistischen NATO“
hören müssen.
({6})
Der dritte Punkt. Religionsunterricht an Schulen ist
ein sehr wichtiges Instrument, um christliche Werte wie
Toleranz, Mitmenschlichkeit und Eigenverantwortung
zu vermitteln und unsere abendländischen kulturellen
Wurzeln zu betonen. Aber nach der brutalen Entchristianisierung durch die SED im Osten besteht hier ein
großer Nachholbedarf. So sind Kürzungen für konfessionelle Schulen und Privatschulen in Sachsen-Anhalt
das Gegenteil von dem, was wir wollen.
({7})
Es gibt immer noch junge Menschen in den neuen Ländern, die noch nie eine Kirche besucht haben, die nicht
wissen, warum wir eigentlich Weihnachten, Ostern oder
Pfingsten feiern.
({8})
Diese drei Komponenten sind die Conditio sine qua
non unseres Staates. Sie müssen die Jugendlichen in Ost
und West als Rüstzeug für ihre Zukunft mit auf den Weg
bekommen. Wenn wir Demokratie, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft als unersetzliche Grundlagen unseres Gemeinwesens in der Jugend in Ost-, aber auch in
Westdeutschland verankern, haben wir bereits sehr viel
erreicht.
Das ist aber noch nicht genug. Vor gut neun Jahren
konnte die äußere Einheit Deutschlands nur durch die
bereits bestehende feste Einbindung der Bundesrepublik
in die westliche Wertegemeinschaft erreicht werden. Ich
weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Der Bundeskanzler hat es in seiner Ansprache am 9. November
1999 versäumt, auf die europäische Bedeutung der deutschen Einheit einzugehen.
({9})
Einzig Helmut Kohl ist auf die europäische Dimension
eingegangen.
({10})
Das ist in Anbetracht der Tatsache, daß die jetzige Bundesregierung eine jämmerliche Figur auf europäischer
Ebene abgibt, kein Wunder.
({11})
Jean Monnet sagte in diesem Zusammenhang: Wenn
ich heute den Aufbau Europas in Angriff nehmen müßte,
würde ich mit der Kultur beginnen. - Europa ist also vor
allem eine Aufgabe von Bildung und Erziehung. Dies
gilt besonders für die junge Generation in den neuen
Ländern, die eine Brücke zur Generation in den zukünftigen Beitrittsstaaten in Mittel- und Osteuropa bildet. Ich
habe die begründete Hoffnung, daß die Brücken zwischen Berlin und Warschau und Berlin und Prag bald
ebenso tragfähig sein werden wie die schon bestehende
Brücke zwischen Bonn und Paris.
({12})
Dazu müssen wir an unseren Schulen im Geschichtsunterricht die Grundlage für ein europäisches Geschichtsbewußtsein legen, ein Geschichtsbewußtsein, das den
Gedanken des Europas der Vaterländer ebenso betont
wie die historische Selbstverständlichkeit der Einbeziehung des mitteleuropäischen Kulturkreises.
Wenn ich über meine Forderungen mit den Bürgern
diskutiere, dann höre ich oft den Satz, daß eine positive
Hinwendung zu den Grundwerten unserer Gesellschaft
doch nur dann auf fruchtbaren Boden fallen kann, wenn
die junge Generation in den neuen Ländern eine gesicherte wirtschaftliche Perspektive hat. Mit anderen
Worten: Ein arbeitsloser Jugendlicher oder einer, der für
seine Arbeit die Heimat verlassen muß, will von Demokratie und Europa wenig hören. Dieser Einwand ist nicht
völlig von der Hand zu weisen. Aber auch dafür hatte
und hat nicht nur der Bund, sondern haben vor allem die
Länder die Verantwortung. So ist es nicht verwunderlich, daß es in einem Land, das rotrot regiert wird, nämlich Mecklenburg-Vorpommern, die geringste Industriedichte, die zweithöchste Arbeitslosenquote und Insolvenzen in großem Umfang gibt; letztere nehmen in
zweistelligen Prozentraten zu.
({13})
Rotrot tut den Ländern nicht gut, und das haben die
Menschen nicht verdient.
({14})
Was dazu in wirtschaftlicher Hinsicht geschehen
muß, wurde bereits ausgeführt.
Aber es gibt auch hier eine bildungspolitische Komponente. In der DDR wurden wirtschaftliche Selbständigkeit und Unternehmertum nicht zugelassen. Dieses
Denken hat sich bis heute in vielen Bildungseinrichtungen gehalten. Unternehmertum ist aber die Grundlage,
auf der der Aufbau Ost gelingen wird - wenn er denn
nicht durch eine völlig verfehlte Steuer- und Verkehrspolitik von Rotgrün abgewürgt wird.
Schätzungsweise 70 Prozent der Jugendlichen halten
eine selbständige Tätigkeit für erstrebenswert; das ist
eine positive Zahl. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, daß entsprechende Neigungen bereits früh erkannt
und gefördert werden. Schulen und Hochschulen müssen
Themen wie Existenzgründungen und unternehmerische
Selbständigkeit praxisnah im Unterricht oder auch im
Seminar vermitteln. Sonst laufen sie gerade im Osten
Gefahr, den Jugendlichen eine Angestelltenmentalität zu
vermitteln, bei der eine Beschäftigung im öffentlichen
Dienst - immer noch streben 50 Prozent aller Schulabgänger in den öffentlichen Dienst - das Maß aller Dinge
ist. Gleichzeitig wird den Schülern so vermittelt, daß der
Staat nicht für alles sorgen kann.
Natürlich werden Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme in den neuen Ländern - auch in den alten mittelfristig noch eine Rolle spielen. Den Jugendlichen
Katharina Reiche
muß aber klarwerden, daß dies nur ein Übergang sein
kann.
({15})
Es gilt also, das Unternehmertum in den neuen Ländern bereits in jungen Jahren zu fördern. Wir schaffen so
mehr selbständige Existenzen, die wiederum denjenigen,
die das nicht leisten können - nicht jeder ist der geborene Unternehmer - , einen Arbeitsplatz anbieten können.
So entstehen Arbeitsplätze in den Regionen. Die Jugendlichen können in ihrer Heimat - ich betone: in ihrer
Heimat - eine Existenz aufbauen und entwickeln so ihr
landsmannschaftliches Selbstwertgefühl.
({16})
Wenn Werteorientierung und wirtschaftliche Perspektive vorhanden sind, gibt es nach meiner Ansicht für
das Zusammenwachsen von Ost und West im nächsten
Jahrhundert gute Aussichten. Dann wird es unerheblich
sein, ob einer diesseits oder jenseits der Elbe wohnt. Auf
diesen Tag, meine Damen und Herren, freue ich mich
sehr.
({17})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch ich gehöre zu denen, die das Staunen
darüber, daß der Bundestag und die Bundesregierung
nun mitten in Berlin sind und daß wir täglich durch das
Brandenburger Tor fahren, radeln oder gehen können,
einfach nicht lassen kann. Ich finde das großartig.
({0})
Deswegen ist es mir wichtig, daß wir heute eine Diskussion der Nachdenklichkeit führen - das ist in den
meisten Beiträgen auch gelungen - und uns parteiübergreifend darüber verständigen, wo wir heute, zehn Jahre
nach dem Mauerfall, stehen, was gelungen ist, was Fehlentscheidungen waren und - das ist mir vor allem wichtig - welches die aktuellen Aufgabenschwerpunkte sein
müssen. Ich glaube auch, daß wir bei diesem Thema
nicht gegeneinander, sondern miteinander über die richtigen Wege diskutieren und streiten sollten. Denn wir
alle haben weder damals, 1989 und 1990, ein Monopol
auf die richtigen Rezepte gehabt; noch haben wir sie
heute.
Mir ist auch wichtig, daß wir um ein paar Aspekte der
Gegenwart ringen. Wir müssen mehr als bisher lernen,
die Instrumente, über die wir hier diskutieren und dann
entscheiden, unter den unterschiedlichen Blickwinkeln
zu betrachten: West und Ost. Wir neigen oft zu sehr dazu, alles unter dem West-Blickwinkel zu diskutieren.
Aber den Ost-Blickwinkel, der inzwischen teilweise sehr
differenziert ist, halte ich für genauso wichtig. Diesen
sollten wir gerade hier von Berlin aus in Zukunft stärker
entwickeln und die Diskussion darüber intensivieren.
({1})
Ich möchte meinen Blick nicht zurückwenden, sondern auf neue Aufgaben zu sprechen kommen, die wir
bisher zuwenig in den Blick genommen haben. Wir haben - ich bin Baupolitikerin - schon sehr viel für den
Aufbau Ost im Bereich des Städtebaus und des Wohnungswesens getan; Herr Schwanitz hat das bereits dargestellt. Auch die Vorgängerregierung hat dort viel getan; das sollte man überhaupt nicht wegdiskutieren. Das
ist eine großartige historische Leistung.
Trotzdem stehen wir vor folgendem Konflikt: Die
Arbeitslosigkeit, das Zusammenbrechen der Industrie
und der hohe Bevölkerungsrückgang in den Städten destabilisiert die Städte zur Zeit in einer neuen Form. Zwischen dem, was geschaffen wurde und wird, und der
Tatsache, daß die Probleme trotzdem weiter voranschreiten, erwächst eine neue Aufgabe, die wir noch
nicht gelöst haben, die wir hier noch nicht einmal diskutiert haben. Deshalb möchte ich dafür werben, daß wir
neben all den schon getroffenen Entscheidungen und
den Initiativen für eine verläßliche Fortsetzung des Aufbaus Ost, neben der Wirtschaftsförderung, der Erneuerung und dem Ausbau der Infrastruktur, der Umverteilung von Lasten der Sozialversicherungssysteme und der
Kulturförderung - was wir alles schon diskutiert haben
- diese Frage in Zukunft in neuer Weise - da reichen
unsere bisherigen Instrumente nicht aus - stellen: Wie
gehen wir um mit dem Bevölkerungsrückgang in einer
Reihe von Städten und Regionen in Ostdeutschland?
({2})
Die Abwanderung - teilweise ins Umland, teilweise
in strukturschwache Regionen - und die massive Verlagerung des Einzelhandels auf die grüne Wiese schwächen die Städte. Die Sonderabschreibung Ost hat diese
Tendenz gefördert. Um der Konkurrenz des Umlandes
und dem Bevölkerungsrückgang zu begegnen, verschulden sich viele Städte enorm: für Investitionen der Stadterneuerung - in der Innenstadt, in den Großsiedlungen und für die Eigenheimerschließung. Damit sind sie überfordert. Von daher werbe ich dafür, daß wir uns diesem
Thema neu stellen.
Ich will meine Aussagen mit ein paar Zahlen belegen:
Hoyerswerda verzeichnet seit 1996 einen Rückgang der
Einwohnerzahl um 26 Prozent, eine Arbeitslosenquote
von 28 Prozent und einen Wohnungsleerstand von fast
15 Prozent. Die Einwohnerzahl von Wolfen in SachsenAnhalt ist um 22 Prozent zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit beträgt 31 Prozent, der Wohnungsleerstand
15,5 Prozent. Als letztes Beispiel Wittenberge: Rückgang der Einwohnerzahlen um 17 Prozent, 22,5 Prozent
Arbeitslose und 19 Prozent Wohnungsleerstand allein in
der Stadt.
Dies kennzeichnet Aufgaben, die wir auch in der Zukunft diskutieren müssen. Insofern werbe ich dafür, daß
sich das ganze Haus, daß sich aber auch die Koalition,
die Länder und die Kommunen dieser Aufgabe in neuer
Intensität stellen und nicht nur nach hinten, sondern
Katharina Reiche
auch nach vorne schauen. Wir haben noch viel zu tun.
Wenn es stimmt, daß wir die Lasten gemeinsam tragen
wollen, dann sollten wir das für die Zukunft als Aufforderung an uns sehen.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Nooke.
Frau Präsidentin! Sehr
verehrte Damen und Herren! Es ist schon etwas Schönes, bei einer solchen Debatte hier im Reichstag reden zu können. Aber das will ich jetzt gar nicht vertiefen.
Wenn Herr Gysi noch da wäre, hätte ich ihm direkt
antworten können: Sein Beispiel mit den Ärzten, die
14 Prozent Ostrabatt abschreiben müssen, stimmt einfach nicht. Es ist doch Ihre Klientel, es sind doch die
kleinen Verwaltungsangestellten, die Arbeitslosen, die
Sozialhilfeempfänger, die davon profitieren. Das ist
doch ein Beispiel von Umverteilung. Jetzt machen Sie
sich Gedanken um die Anwälte und die Ärzte im Osten.
Das funktioniert so nicht. Geben Sie doch zu, daß wir
nicht mehr bezahlen können, als wir erwirtschaften! Das
hat schon einmal nicht geklappt.
({0})
Wir befinden uns im zehnten Jahr der deutschen Einheit. Wie die Debatte über den Bericht zum Stand der
deutschen Einheit zeigt, reden wir fast ausschließlich
von Ostdeutschland: über die letzten zehn Jahre, über
die 40 Jahre SED-Diktatur davor und über deren Folgen.
Aber die deutsche Einheit geht uns alle an.
Ich erlaube mir deshalb einen anderen Blickwinkel
- ich zitiere -:
Es ist das geschichtliche Leid der Deutschen, daß
die Demokratie nicht von ihnen erkämpft wurde,
sondern als letzte, als einzige Möglichkeit der Legitimierung eines Gesamtlebens kam, wenn der
Staat in Katastrophen und Kriegen zusammengebrochen war. Dies ist die Last, in der der Beginn
nach 1918, in der der Beginn mit uns steht, das
Fertigwerden mit den Vergangenheiten.
Mit diesen Worten bedauerte der erste Bundespräsident
der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, am
12. September 1949, wie selten sich in der deutschen
Geschichte demokratische Ereignisse aus ihrem eigenen
Tun legitimieren. Der Beginn der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, und der Anfang der
zweiten Demokratie, der bundesdeutschen Demokratie
1948/49, waren durch verlorene Kriege konditioniert.
Dieses im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien
nicht unwesentliche Defizit der gesamtdeutschen Geschichte haben im Herbst 1989 die Ostdeutschen behoben. Es ist also nicht wenig, woran wir mit unserer heutigen Diskussion erinnern.
({1})
Heute dagegen, zehn Jahre nach der friedlichen Revolution der Ostdeutschen, wird in der Öffentlichkeit
auffallend oft über Defizite bei den Ostdeutschen gesprochen. Ich kann mich manchmal des Eindrucks nicht
erwehren, als stellten manche in dieser Diskussion den
Ostdeutschen den Typus eines Superdemokraten entgegen, den es aber bei unvoreingenommenem Hinsehen
auch im Westen nie gegeben hat.
({2})
Es wird in Tausenden mehr oder weniger gescheiten
Abhandlungen darüber nachgesonnen, wie lange die
Menschen in den neuen Ländern benötigen, um richtige
Demokraten zu werden: eine Generation, zwei Generationen oder noch länger. Der Maßstab, der angelegt
wird, ist eine theoretische Konstruktion, nach der Menschen auf bestimmte Fragen ganz bestimmte Antworten
geben müssen. „Ist Freiheit wichtiger als soziale Sicherheit?“ ist eine der beliebtesten Fragen, die die Demoskopen bei ihren Frage-Antwort-Spielen stellen. So, als
ob beide Elemente voneinander isoliert werden können,
attestiert man denjenigen, die aus dem Bauch heraus sagen, soziale Sicherheit sei ihnen ein hohes Gut, Freiheit
sei ihnen offenkundig nicht so wichtig. Dies sei, so die
weitere Schlußfolgerung, ein Zeichen von noch nicht erreichter Demokratiefähigkeit. Ich bin skeptisch, ob der
Stand der inneren Einheit an Hand solcher Befunde und
Interpretationen überhaupt gemessen werden kann.
Auch für mich bleibt es unannehmbar, wenn einer
Stimmung nachgegeben wird, die einen Wertekanon in
Frage stellt, der von unveräußerlichen individuellen
Menschenrechten ausgeht. Freiheit ist für mich das erste
Menschenrecht. Die Ostdeutschen wollten Freiheit und
haben sie sich im Herbst 1989 endgültig erkämpft.
Für mich bleibt weiterhin unerträglich, wenn eine
vermeintlich umzäunte Kuscheligkeit des Lebens in der
SED-Diktatur gegenüber dem Leben im offenen Gelände der Demokratie favorisiert wird. Hier werden doch lax gesprochen - Äpfel mit Birnen verglichen.
Was für Debatten haben wir in der alten Bundesrepublik und in den letzten zehn Jahren geführt, wenn einer
gesagt hat, daß NS-Diktatur und SED-Diktatur zumindest strukturell vergleichbar sind! Damit wollte niemand
diese beiden Diktaturen gleichsetzen. Aber wir haben
über totalitäre Systeme gesprochen. Wie unzulässig ist
es erst, wenn wir versuchen, das Leben in einem totalitären System mit dem in einem freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat zu vergleichen und die Befindlichkeiten gegeneinander aufzurechnen!
Gleichwohl glaube ich aber auch, daß wir als Politiker nicht an Stimmungen in der Bevölkerung vorbeireden dürfen, selbst dann nicht, wenn wir für negative
Trends nicht allein verantwortlich sind. Ich hielte es für
falsch, wenn wir bei der Beurteilung bestimmter östlicher Verhaltensweisen jeden zutage tretenden Unterschied zu den Westdeutschen gleich dramatisierten. Ist
es verwunderlich, daß Menschen, die meinen, in einer
unsicheren Zeit zu leben, und die in viel stärkerem Maße
von Arbeitslosigkeit betroffen sind, auf eine entsprechende Frage soziale Sicherheit als nächstliegenden
Wunsch angeben? Dies muß nicht zwangsläufig eine
Mißachtung des Grundwertes Freiheit sein. Wer vom
theoretischen Standpunkt aus sagt, wer die Freiheit geringer schätze als die soziale Sicherheit, der sei noch
nicht in der Demokratie angekommen, macht es sich
meiner Meinung nach zu einfach.
Das politische System des Westens wurde zu einem
Zeitpunkt akzeptiert, als durch Wohlstand das Gefühl
sozialer Sicherheit hergestellt werden konnte. Mehrheitlich anerkannt wurde das politische System in der alten
Bundesrepublik von der dortigen Bevölkerung erst zirka
15 Jahre später, nämlich zu Beginn der 60er Jahre. Würde jemand ernsthaft behaupten, den Westdeutschen der
50er Jahre sei deshalb Freiheit nicht wichtig gewesen?
Wenn man das in Rechnung stellt, wird man nicht umhinkönnen, heute, zehn Jahre nach dem Mauerfall, eine
durchaus gute Bilanz im Hinblick auf die innere Einheit
zu ziehen.
({3})
Wenn wir dann noch die Umfrage der „Leipziger
Volkszeitung“ vom vergangenen Dienstag hinzuziehen,
wonach 87 Prozent der Ostdeutschen mit ihrem Leben
zufrieden seien - im Vergleich dazu waren es 1994
67 Prozent und 1996 72 Prozent -, dann sollte auch in
dieser Debatte davon einiges rüberkommen.
({4})
Wäre das Verhältnis von Freiheit und sozialer Sicherheit einfach, müßte auch die Prioritätensetzung hinsichtlich notwendiger Reformen in unserer Gesellschaft
viel leichter durchzusetzen sein. Das bezieht sich dann
insbesondere auf die westdeutsche Bevölkerung. Die
demokratischen Parteien brauchten dann nur zu sagen:
Leute, wir müssen aus zwingenden Notwendigkeiten
heraus Reformen des Rentensystems, der Sozial- und
Arbeitslosenversicherung und des Gesundheitssystems
durchführen. Ihr werdet dabei als Individuen etwas mehr
in die Pflicht genommen, weil der Staat nicht mehr alles
regeln kann. Aber bitte schön, ihr habt ja die Freiheit,
soziale Verantwortung und das, was unter sozialer Sicherheit zu verstehen ist, unter veränderten Rahmenbedingungen vor Ort und in euren Familien selbst zu regeln.
Wäre es tatsächlich so einfach, daß in unserer Gesellschaft Freiheit, losgelöst von sozialer Verantwortung,
der alleinige Maßstab für gute Demokraten wäre, dann
müßten Reformvorschläge ohne größere Widerstände
auf schnellstem Wege durchgesetzt werden können.
Aber machen wir nicht gerade die Erfahrung, daß dies
eben nicht so ist? Machen wir nicht gerade die Erfahrung, daß beispielsweise soziale Sicherungssysteme, deren Grundlagen in den 50er, 60er und 70er Jahren geschaffen wurden, für die moderne Gesellschaft des ausgehenden Jahrhunderts nicht hundertprozentig geeignet
sind?
Es ist hoffentlich nicht notwendig, zu betonen, daß
ich nicht der Abschaffung der Prinzipien der sozialen
Marktwirtschaft das Wort reden will. Aber die Diskussion und der politische Meinungsstreit um das Wie sozialpolitischer Reformen zeigt, daß unser Gemeinwesen
vom engen Zusammenhang von Freiheit und sozialer
Verantwortung geprägt ist. Ich hoffe, es ist nicht anmaßend, wenn ich die Frage nach Zukunftsfähigkeit und
Weiterentwicklung unserer Demokratie auch den Westdeutschen stelle.
So gesehen, haben auch die in Freiheit und im
Wohlstand sozialisierten Westdeutschen Ballast in die
deutsche Einheit eingebracht; denn auch sie müssen sich
fragen, ob der Halt, den sie in nunmehr 50 Jahren wohlfunktionierender Strukturen gefunden haben, unter den
Bedingungen globalen Wettbewerbs für die Zukunft aufrechtzuerhalten ist,
({5})
um weiterhin Freiheit und Verantwortung füreinander zu
praktizieren.
Wenn man zehn Jahre nach dem Mauerfall danach
fragt, was den Ostdeutschen 40 Jahre lang auf Grund des
SED-Regimes an Freiheit und Wohlstand vorenthalten
wurde, dann kommt man an folgender Feststellung nicht
vorbei - sie ist ja schon oft getroffen worden -: Für sie
hat sich über Nacht alles geändert, faktisch alle Lebensbezüge. Aber vielleicht ist dadurch die Freiheit, die sich
die Ostdeutschen erkämpft haben, sogar konsequenter
und radikaler als die Gewöhnung der Westdeutschen an
das Bewährte und Vertraute ihrer alten Bundesrepublik.
Angesichts dessen halte ich es nicht für unwahrscheinlich, daß schon bald die Ostdeutschen in einer Zukunft leben, die den Westdeutschen erst noch bevorsteht.
Damit könnte vielleicht auch eine Art Westnostalgie
nach der alten Bundesrepublik verbunden sein.
Aber ich will damit nicht schließen. Da heute der
11.11. ist, sollte hinzugefügt werden: Ich lade Sie alle
herzlich ein, ein bißchen rheinischen Frohsinn in diese
manchmal etwas griesgrämige Stadt Berlin zu bringen.
Dann ist die Sehnsucht nach dem alten Rhein nicht ganz
so schlimm.
Danke schön.
({6})
Herr Kollege, Sie
weisen zu Recht darauf hin, daß heute der 11.11. ist. Als
Kölner Abgeordnete kann ich das gut nachempfinden.
Auch mischt sich ein bißchen Trauer hinein, weil der
Karneval weiter als vorher entfernt ist.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine Kaspereit das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich in meinem
Debattenbeitrag im Wissen um die vielen Facetten der
deutschen Einheit auf zwei Dinge beschränken, die ich
für ganz besonders wichtig halte: einerseits auf ein PläGünter Nooke
doyer dafür, den Aufbau in den neuen Bundesländern als
wichtigste nationale Aufgabe zu sehen.
({0})
Andererseits möchte ich auch für ein bißchen mehr Ehrlichkeit plädieren.
Wir haben es heute in vielen Debattenbeiträgen gehört: Die objektive Lage ist einfach besser als die subjektive Wahrnehmung. Wir sind uns im ganzen Hause
- zumindest mehrheitlich - einig: Die DDR ist nicht von
allein zusammengebrochen. Sie ist nicht als wirtschaftlicher Pleitefall in die Liquidation gegangen. Sie ist keinen außen- und bündnispolitischen Umbrüchen zum Opfer gefallen.
Beeindruckend war für mich die Dokumentation der
ARD am letzten Donnerstag: Während das Politbüro
noch tagte und nach Lösungen à la SED suchte, haben
die Bürgerinnen und Bürger mit den Füßen beendet, was
die Bürgerbewegung in den Köpfen in Bewegung gesetzt hatte.
({1})
Was hat denn die Bürgerinnen und Bürger der DDR
bewogen, diesen Staat nicht mehr zu wollen? Sie hatten
die staatliche Gewalt und Repression satt. Sie hatten es
satt, in allen Lebenslagen bevormundet und gegängelt zu
werden. Sie hatten es satt, auf alles zu warten, sich für
alles anzustellen und alles zuteilen zu lassen, in eine
Schattentauschwirtschaft ausweichen zu müssen.
Wer kann das Gefühl vergessen, auf die Westverwandtschaft angewiesen zu sein, wenn man einmal
„echte“ Jeans oder gar „richtiges“ Geld haben wollte,
das oft genug erst die Tür zu Dienstleistungen oder dem
Intershop öffnete? Wer im Osten kennt nicht das demütigende Gefühl der Zurücksetzung in den Bruderländern
gegenüber Reisenden mit Westgeld?
Die Menschen wollten frei von Angst und frei von
staatlicher Gewalt leben, ihr Leben selbstbestimmt und
ohne Bevormundung gestalten. Sie wollten besser leben
und wünschten sich, zu reisen, wohin sie wollten. Das
wollten die Menschen in der ehemaligen DDR. Das haben sie erreicht.
Was die Ostdeutschen überwunden haben, sollten
sich auch alle die vergegenwärtigen, die meinen, durch
Legendenbildung ihre eigene Verstrickung verschleiern
zu können, wie Herr Krenz dies in unerträglicher Weise
erst kürzlich getan hat.
({2})
Die Vergangenheitsbeschöniger und Populisten von
der PDS, die sich nach meinen Erfahrungen noch immer
allzuviel von der alten DDR zurückwünschen, haben
nichts gelernt.
({3})
Die deutsche Einheit ist sicher nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sondern auch eine Geschichte von Täuschungen und Enttäuschungen. Da ist einerseits die
Selbsttäuschung, mit dem Fall der Mauer ins Paradies zu
gelangen, wie Joachim Gauck das so schön gesagt hat.
Viele Ostdeutsche haben den Westen nur durch das
Guckfenster Fernsehen erlebt. Werbung hat Konsumbedürfnisse geweckt, genauso wie das Durchschnittseinkommen eines Arbeitnehmers ungläubiges Staunen hervorrief. Ich verdiente als Fachzahnärztin doch gerade
mal 1 700 Ostmark.
Da ist andererseits die Selbsttäuschung, daß die DDR
schließlich eines der führenden Industrieländer sei. Am
Tag der Maueröffnung, am 9. November 1989, erklärte
der Leiter der Abteilung Planung und Finanzen des ZK
der SED, Günter Ehrensperger - ich zitiere -, „daß wir
mindestens seit 1973 über unsere Verhältnisse gelebt
haben!“ Er fährt dann fort:
Und wenn wir aus dieser Situation herauskommen
wollen, müssen wir 15 Jahre mindestens hart arbeiten und weniger verbrauchen, als wir produzieren!
Und Ehrensperger schlußfolgert: Wenn das bekannt
wird, „dann laufen uns die letzten Leute weg!“. Wie
recht er hatte! Das war die Lage im Herbst 1989 aus der
Sicht eines Mitarbeiters des ZK der SED. Ich bin dem
„Stern“ dankbar, daß er diese Zitate ausgegraben hat.
Sie entlarven die ganze Verlogenheit, mit der die Altkader der PDS gegen die Wiedervereinigung Front machen.
Die Wahrheit ist, daß die Wiedervereinigung die ostdeutsche Bevölkerung vor einem wirtschaftlichen und
sozialen Absturz bewahrt hat. Versetzen wir uns doch
einmal logisch in die Zeit zurück. Was waren denn
die Perspektiven der DDR im Herbst 1989? Durch
die Geschehnisse in Polen, Ungarn, Rumänien, der
CSSR und Bulgarien waren die RGW-Märkte bereits
weitgehend weggebrochen. Übrigens: Die UdSSR war
pleite. Die DDR hätte sich dem internationalen Wettbewerb stellen müssen, um an Devisen zu kommen. Das
heißt, der Wechselkurs der Ostmark hätte die reale Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft widerspiegeln müssen.
Damit wäre der Produktivitätsrückstand der ostdeutschen Wirtschaft mit einem Schlag ans Licht gekommen
- mit all seinen Folgen für die Menschen: Abbau der
Überbesetzung in den Betrieben; jede verfügbare Mark
in Investitionen. Der ohnehin bescheidene Lebensstandard wäre dramatisch gefallen, so wie es in den anderen
Ländern des ehemaligen RGW noch heute zu besichtigen ist. Das waren die realen Perspektiven der DDR,
und die SED-Führung wußte das. Brachland und Kahlschlag, die Sie, Herr Kollege Jüttemann beklagen, waren
das Ergebnis 40jähriger SED-Politik.
Daß auch Fehler beim wirtschaftlichen Aufbau und
im Einigungsvertrag gemacht wurden, steht außer Frage.
Dies will ich nicht leugnen. Doch es ist ein Gebot der
Redlichkeit, Ursache und Wirkung zu unterscheiden und
festzuhalten, bei wem die Verantwortlichkeit für die
schwierige Lage in den neuen Ländern liegt.
({4})
Eine große Täuschung und eine noch größere Enttäuschung war das Wort von den „blühenden Landschaften“. In dem kenntnisreichen Buch „Sternstunden der
Diplomatie“ von Zelikow und Rice ist ein Auszug aus
einem Gesprächsprotokoll vom 3. Dezember 1989 zu
finden. Auf die Frage von George Bush, der sich nach
den Möglichkeiten einer schnellen Wiedervereinigung
erkundigt, erhält er von dem damaligen Bundeskanzler
Kohl sinngemäß die Antwort - ich zitiere -:
Kissingers Voraussage, daß die Einheit schon in
zwei Jahren erfolgen könne, sei augenscheinlich
unmöglich. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen
den beiden deutschen Staaten sei zu groß.
Trotz dieser Einschätzung, aber mit dem Wissen, in
Anbetracht der Entwicklung der Ereignisse oft nur noch
reagieren und nicht mehr agieren zu können, kam es zu
der berühmten Fehlprognose von den „blühenden Landschaften“. Aus Kalkül wurden unerfüllbare Erwartungen
geweckt, denen die Enttäuschungen auf dem Fuße folgen mußten. An den Spätfolgen dieses Vertrauensverlustes leiden wir noch immer.
({5})
Lassen Sie uns zur Gegenwart zurückkommen. Bei
Umfragen in den neuen Ländern fällt die Bilanz von
zehn Jahren ohne Mauer - ich sage bewußt „ohne Mauer“, nicht „nach dem Mauerfall“ - im wesentlichen
positiv aus. Der großen Mehrheit der Ostdeutschen geht
es heute besser denn je; aber es ist unbestritten ein
Nachteil, in den neuen Ländern zu leben: niedrigeres
Einkommen, schlechtere Infrastruktur, geringes Eigenkapital, kaum Anteil am Produktivvermögen, hohes Arbeitsplatzrisiko. Gerade das Problem der hohen Arbeitslosigkeit überdeckt die positive Bilanz und trägt dazu bei, das Gefühl der Unzufriedenheit zu nähren.
Politik kann sicherlich nicht alle Probleme lösen.
Aber dort, wo sie es kann, muß sie es auch tun. Ich bin
froh darüber, daß wir die Akzente so setzen: Der Aufbau Ost muß fortgesetzt werden, auch im Interesse der
alten Länder. Wir brauchen Ehrlichkeit bei der Benennung der geleisteten Finanztransfers. Wir brauchen die
Wirtschaftsförderung nicht nur zum Strukturausgleich,
sondern auch zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Wir brauchen die Hilfen auf dem Arbeitsmarkt vor
allem zur Bekämpfung von Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit. Wir brauchen die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur. Diese Bedingungen kann die Politik
beeinflussen.
Politik kann aber nicht den Respekt vor dem Mut und
der Leistung der Ostdeutschen verordnen, ebensowenig
wie sie die Würdigung der solidarischen Leistungen der
Westdeutschen anordnen kann. Politik kann auch nicht
die gegenseitige Fremdheit nach 40 Jahren höchst unterschiedlicher Entwicklungen politischer und gesellschaftlicher Art auf dem Verordnungswege beenden.
Diese Aufgabe müssen alle gesellschaftlichen Kräfte im
Dialog miteinander, nicht übereinander lösen.
({6})
Vorurteile, Unwissen und Geringschätzung dürfen
nicht ein Bild vom jeweils anderen zeichnen, das diesem
nicht gerecht wird. Ist Ihnen nicht auch schon aufgefallen, daß wir so tun, als sei die deutsche Einheit ein in
sich abgeschlossener, eher mißlungener Versuch gewesen? Es ist aber ein sehr dynamischer Prozeß, der trotz
der unstrittigen Notwendigkeit zu Verbesserungen
durchaus positiv zu bewerten ist. Daran sollten wir gelegentlich denken, bevor wir wie bei einem Kranken in
Wunden herumstochern und über Symptome reden. Ich
bin sicher: Der Patient wird wieder, weil er einen unbändigen Lebenswillen und eine sehr gute Heilungstendenz hat. Wir alle in diesem Hause kennen die Ursachen
für seine Probleme und haben den guten Willen, ihm
auch zu helfen.
({7})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Dr. Michael Luther.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute
über den Bericht zum Stand der deutschen Einheit. Wir
tun dies in einer Woche, die von historischer Bedeutung
ist: Vor zehn Jahren fiel hier in Berlin die Mauer. Alle,
die diese Zeit bewußt miterlebt haben, verbinden mit
diesen Tagen ihre eigenen Erinnerungen.
Vielleicht darf ich einmal meine persönlichen Erinnerungen an diese Tage einflechten. Ich möchte mit dem
Datum 7. Oktober 1989 beginnen. Ich vergesse das
nicht und kann deshalb auch die damalige Zeit nicht
vergessen. Ich hatte damals eine Kerze ins Fenster gestellt. Ich hatte fürchterliche Angst und einen großen
Streit mit meinem Vater, der noch sehr genau wußte,
was am 17. Juni geschehen war und welche Folgen das
mit sich gebracht hatte. In diesen Herbsttagen handelten
viele, auch die Bürgerrechtler, vor denen ich den Hut
ziehe, weil sie mit Mut auf die Straße gegangen sind, im
sicheren Wissen darum, daß die Staatssicherheit in diesem repressiven Staat präsent war und es auch ganz anders hätte ausgehen können. Es waren ja Lager vorbereitet. Das, was am 17. Juni geschehen war, hätte in
qualifizierterer und anderer quantitativer Form vielleicht
auch damals passieren können.
Es ist damals gut ausgegangen: Der 9. November
1989 war ein Tag der Befreiung. Das war wunderbar. So
richtig freuen über das, was vor zehn Jahren geschehen
ist, konnten sich die meisten erst, nachdem sie etwas
Abstand dazu gewonnen hatten. Erst dann hatten sie gelernt, was für eine Chance es für uns alle gewesen ist.
Damals war es ein ganz besonderes Ereignis. Gerade die
Berliner haben in dieser Woche gezeigt, daß man sich
über den Fall der Mauer vor zehn Jahren wirklich von
Herzen freuen kann.
({0})
Meine Damen und Herren, wir werden auch in den
nächsten Wochen und Monaten der Ereignisse von vor
zehn Jahren gedenken. Wir werden an die Wahlen zur
Volkskammer denken und an die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion; wir werden darüber nachdenken, ob alles richtig war oder ob man es hätte besser
machen können. Wir werden an den Beitritt, der am
23. August um 2.30 Uhr in der Volkskammer beschlossen wurde - ich vergesse das Ereignis nicht, denn auch
ich bin damals Mitglied der Volkskammer gewesen -,
und an den Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober
denken.
Sie, Frau Kaspereit, haben in Ihrer Rede sehr ausführlich zu dem Thema „blühende Landschaften“
Stellung genommen. Ich möchte Ihnen einmal sagen,
was ich von diesem Bild, das Bundeskanzler Helmut
Kohl damals gezeichnet hatte, halte und warum ich es
für so wichtig gehalten habe. Gerade angesichts der großen Aufgabe, die vor uns gelegen hat, nämlich der Gestaltung der deutschen Einheit,
({1})
bestand für mich die Frage, ob man den Menschen Mut
machen soll, das gemeinsame Haus Deutschland zu bauen, oder ob man Pessimismus verbreiten und damit zu
Depressionen beitragen soll. Lafontaine hat damals davor gewarnt, daß alles ganz schlimm und furchtbar werde. Helmut Kohl hat gesagt: Liebe Leute, wir schaffen
das, und wir werden blühende Landschaften bekommen.
Ich bin ihm noch heute dankbar dafür, daß er uns diesen
Mut gemacht hat. Wir haben die Chance ergriffen und
sind so in die deutsche Einheit gegangen.
({2})
Meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler
Schröder hat heute früh eine Regierungserklärung abgegeben. Das, was er am Anfang gesagt hat, hat mir
vom Grundsatz her gefallen. Er hat nämlich gesagt, daß
die letzten Jahre deutsche Einheit eine Erfolgsstory sind.
Von einem niedrigen Wirtschaftsstand von 30 Prozent
Bruttosozialprodukt 1991 sind wir immerhin auf
60 Prozent gekommen. Es ist viel passiert in dieser Zeit.
Er hat auch ganz deutlich die Leistungen der Menschen
in den letzten acht, neun Jahren hervorgehoben. Ich
denke, es ist auch richtig, daß man dies an dieser Stelle
erwähnt. Die deutsche Einheit wäre allein von Politikern
nicht gestaltbar gewesen. Ganz wichtig ist, daß die Menschen mitgemacht haben, daß ihnen Mut gemacht wurde, daß sie sich auf den Weg gemacht haben, daß sie solidarisch waren, daß sie mitgeholfen haben. Deswegen
haben wir den heutigen Stand erreicht, deswegen können wir uns heute so sehr über den Fall der Mauer
freuen.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, eines wundert mich allerdings immer: Wenn
Sie die Regierungserklärung des Bundeskanzlers heute
früh gehört haben, werden Sie gemerkt haben, daß er die
deutsche Einheit wieder mit den Begriffen „Schuldenexplosion“ und „Schuldenlast“ in Verbindung gebracht
hat.
({4})
Ich frage mich immer: Welche Botschaft wollen uns der
Bundeskanzler und diese Bundesregierung damit vermitteln?
({5})
- Ich sage Ihnen, welche Botschaft bei den Menschen
ankommt. - Sie fördern mit dieser Diskussion, die Sie
immer wieder einflechten, nur eines, nämlich Mißgunst
und Ablehnung. Sie wollen damit den Deutschen die
Freude an der deutschen Einheit vergällen, anstatt den
Deutschen Mut zu machen, das Geschenk der Geschichte an die Deutschen tatsächlich mit frohem Herzen
anzunehmen.
({6})
Ich meine - Gott sei Dank ist das so -, die Mehrheit der
Deutschen fühlt anders. Sie steht hinter der deutschen
Einheit. Oder wollen Sie das bezweifeln? Die Mehrheit
der Menschen ist solidarisch, und sie weiß, daß man das
gemeinsame Haus deutsche Einheit bauen kann und soll
und daß dazu viel notwendig ist. Deswegen, glaube ich,
hat man sich vorgestern in eindrucksvoller Weise vor
dem Brandenburger Tor über das, was in der Vergangenheit geschehen ist, gefreut.
Ich habe in dieser Woche den Reden von Bundeskanzler Schröder gelauscht, auch heute früh wieder. Ich
muß allerdings eines konstatieren,
({7})
- das ist Ihre Einschätzung, meine ist eine andere -:
Immer, wenn er über die deutsche Einheit redet, stelle
ich fest, er redet herzlos darüber.
({8})
Das liegt daran, daß er die deutsche Einheit eigentlich
nicht wollte. Das spürt man noch heute ganz deutlich.
({9})
Ich gebe zu, Sie wollten mit der Bundestagswahl von
diesem Image wegkommen. Deswegen haben Sie schon
einen ganz klugen Trick angewandt. Sie haben nämlich
gesagt: „Aufbau Ost ist Chefsache.“ Die Stimmungslage
in der Bevölkerung hat aber gezeigt: „Aufbau Ost ist
Chefsache“ blieb leeres Gerede. Im Gegenteil: Dieser
Satz wird an vielen Stellen eher als Drohung empfunden.
({10})
Meine Damen und Herren, ich sage deutlich zur Frage der Finanzierung der deutschen Einheit: Mir tut keine
Mark leid, die in die Renovierung und die Generalinstandsetzung des Ostflügels des gemeinsamen Hauses Deutschland gesteckt wurde. Jede Mark war es
wert.
({11})
Wenn wir heute über den Stand der deutschen Einheit
reden, dann müssen wir auch darüber reden, wie es
eigentlich weitergeht, welche Signale beim Aufbau Ost
gesetzt werden. Wir wissen, daß die Wirtschaftsprognosen und die Arbeitsmarktdaten im Jahre 1999 nicht besonders gut sind. Ich glaube, das hat wesentlich damit zu
tun, was in diesem Jahr an Politik geleistet worden ist.
Gestaltung der deutschen Einheit heißt für mich: Man
muß teilungsbedingte Nachteile abbauen.
Ich stelle mir manchmal die Frage: Wie würde
Deutschland aussehen, wenn es die deutsche Teilung
nicht gegeben hätte? Dazu möchte ich sagen: Wenn es
die deutsche Teilung nicht gegeben hätte - entschuldigen Sie dieses Beispiel; ich komme aus Sachsen -, dann
wäre Audi ein sächsisches Unternehmen und der Bundesgerichtshof hätte seinen Sitz in Leipzig. Die Flugzeugindustrie würde ihre zentrale Stelle wahrscheinlich
in Rostock haben.
({12})
Es gäbe noch viele andere Beispiele.
Man darf jetzt aber nicht auf die Idee kommen und
sagen: Teilungsbedingte Nachteile sind dann beseitigt,
wenn wieder der ursprüngliche Zustand hergestellt ist.
({13})
- Auch ich behaupte das nicht. Hören Sie mir einmal
einen Moment zu, Frau Kaspereit! Ich habe bei Ihnen ebenfalls zugehört. - Es zeigt sich doch ganz klar,
wo die Defizite liegen: Wir brauchen in den neuen
Bundesländern eine neue und eigenständige Wirtschaft.
Das gelingt eben nur durch Ansiedlung von neuen industriellen Kernen und durch die Entwicklung eines
neuen und leistungsfähigen Mittelstandes. Dazu sind
Mittel für Wirtschafts- und für Innovationsförderung
notwendig.
In der Vergangenheit haben die Menschen in den
neuen Ländern ihre Chancen genutzt. Sie haben Enormes geleistet, was in der Regierungserklärung des Bundeskanzler heute morgen zu Recht festgehalten worden
ist. Es ist aber auch festzustellen, daß 60 Prozent Wirtschaftskraft eine zu schmale Basis sind. An diesem
Punkt müssen wir also ansetzen.
In diesem Zusammenhang frage ich mich aber: Warum handelt die Bundesregierung angesichts dieser Tatsache nicht entsprechend? Sie reduziert zum Beispiel die
GA-Mittel, ein sehr wichtiges Mittel für die Förderung
von Unternehmensansiedlungen, oder sie senkt durch
die Hintertür das Fördervolumen für Investitionszulagen
um rund 1 Milliarde DM. Wir haben im Ausschuß für
die Angelegenheiten der neuen Länder darüber gesprochen. Sie stoppt zum Beispiel auch das Programm FUTOUR, das innovative Unternehmensentwicklungen in
der Vergangenheit sehr erfolgreich unterstützt hat.
({14})
Dies ist eine falsche Politik. Deswegen bitte ich Sie:
Wenn Sie den Aufbau Ost ernsthaft fortsetzen wollen,
dann stocken Sie die GA-Mittel auf das vorjährige Niveau, auf mindestens 300 Millionen DM, wieder auf.
Wenn es bestimmte Vorgaben durch die EUKommission gibt, auf Grund derer das Investitionszulagengesetz geändert werden muß, dann schreiben Sie das
eingesparte Geld anderen Bereichen gut - zum Beispiel
dem Bereich der Wirtschaftsförderung oder der Verkehrsinfrastruktur.
({15})
Lassen Sie mich noch ein zweites Beispiel nennen:
Verkehrsinfrastrukturnetze. Wer diese Netze von Ost
und West im Zeitraum von 1945 bis 1989 vergleicht, der
weiß, was 40 Jahre DDR bewirkt haben und welcher
Nachholbedarf besteht. In der Vergangenheit sind deswegen die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ in Gang
gesetzt worden. Sie waren genauso wichtig wie zum
Beispiel das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Wir hatten nämlich einfach keine Zeit, 20 Jahre
lang zu planen und zu genehmigen. Es mußte vielmehr
sofort etwas geschehen.
({16})
Die Antwort der Bundesregierung ist aber das Streichen des Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ Nr. 8.
Wer heute behauptet, daß der Ausbau der Eisenbahnverbindung von Erfurt nach Leipzig nur zeitlich verschoben
wird, der muß ehrlicherweise konstatieren, daß auf
Grund der planungsrechtlichen Situation dieses Verkehrsprojekt letztendlich ad acta gelegt werden kann.
({17})
Sie beklagen eine Unterfinanzierung des Verkehrswegeplanes. Wie antworten Sie aber auf diese Unterfinanzierung? Sie senken die Mittel für den Verkehrswegeausbau.
Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Ihre Genossen in NRW, geschädigt durch ihre Bundesregierung,
können im Wahlkampf ungestraft Ost und West gegeneinander ausspielen. Sie fordern nämlich mehr Mittel für
den Verkehrswegeausbau in Nordrhein-Westfalen zu
Lasten der neuen Länder. Das ist keine Politik zur Gestaltung der deutschen Einheit. Ich sage ganz klar: Die
Verkehrsinfrastruktur in Ost und West muß ausgebaut
werden. Dazu muß man die richtigen Signale setzen.
Das heißt, man muß in diesem Bereich mehr und nicht
weniger Geld ausgeben.
({18})
Ich möchte noch eine Bemerkung hinzufügen. Wenn
Sie schon die Ökosteuer kassieren, dann lassen Sie sie
wenigstens zum Teil den Autofahrern, die täglich im
Stau stehen, zugute kommen. Bauen Sie Straßen!
Ich habe heute noch etwas Neues gelernt. Für das zusätzliche Programm Verkehrsinfrastruktur in den neuen
Ländern wird ein Finanzvolumen von 3 Milliarden DM
eingeräumt. Ich finde das gut. Denn diese Mittel gehen
nicht zu Lasten des Haushalts. Bei diesen Mitteln handelt es sich um EFRE-Mittel, also um europäische
Mittel, die Sie allerdings dem Deutschen Bundestag als
große Leistung der Bundesregierung präsentieren, obwohl sie von Europa kommen und, wie ich glaube,
wahrscheinlich gar nicht für diesen Zweck eingesetzt
werden sollen. Ich finde es gut, daß es diese Mittel gibt
und daß sie für den Straßenbau eingesetzt werden. Aber
das als besonderen Erfolg der Bundesregierung zu verkaufen, halte ich für relativ absurd.
({19})
Wenn man von der deutschen Einheit spricht, ist zu
vielem etwas zu sagen. Man müßte zum Beispiel etwas
zur sozialen Angleichung sagen. Ich glaube, daß dabei
in den letzten Jahren große Schritte gemacht worden
sind. Jetzt sind wir in der Situation, daß die Angleichung
der Lebensverhältnisse durch Ihre Gesundheitsreform,
Ihre Rentenkürzung und anderes gestoppt wird.
Man müßte auch über die Arbeitsmarktförderinstrumente reden. Sie sorgen für eine Stabilisierung des
zweiten Arbeitsmarktes, anstatt zu überlegen, wie Menschen aus der Arbeitslosigkeit in den ersten Arbeitsmarkt kommen können. Die entsprechenden Instrumente, wie zum Beispiel das Instrument Strukturanpassungsmaßnahmen Ost für Wirtschaftsunternehmen, haben Sie gestrichen und damit einiges zerstört.
({20})
- Richtig. - Ich glaube, auch das sollte an dieser Stelle
deutlich gemacht werden. Ich habe das Gefühl, im Jahr
1999 ziehen Sie von der Baustelle deutsche Einheit die
Baukräne ab.
Lassen Sie mich meinen letzten Gedanken formulieren.
Eigentlich ist Ihre
Redezeit abgelaufen, Herr Kollege.
Mein letzter Gedanke. - 1989 sind mutige Männer und Frauen in Dresden, Leipzig und Berlin auf die Straße gegangen und
haben die Mauer niedergerissen. Mutige Männer und
Frauen haben in den letzten Jahren die große Aufgabe
deutsche Einheit in die Hand genommen. Ob die Geschichte schreiben wird: „Mutige Männer und Frauen
haben die deutsche Einheit nach 1998 weitergeführt“,
wage ich zu bezweifeln. Ich glaube, man wird in bezug
auf diese Zeit beim Aufbau Ost eher von Zauderern und
Dilettanten reden. Ich hoffe, nach 2002 gibt es wieder
mutige Menschen, die den Aufbau Ost und die innere
Einheit Deutschlands vollenden.
Danke.
({0})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Frank Hempel, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich
muß eingangs etwas zu dem sagen, was der Oppositionsführer, Herr Schäuble, heute morgen hier gesagt hat. Er
hat starke Vorwürfe in Richtung Landesregierung
Mecklemburg-Vorpommern bezüglich der Ansiedelung
des Airbus A3XX erhoben.
({0})
Auch die Bundesregierung ist hier angegriffen worden.
Dazu möchte ich folgendes in Erinnerung rufen. Gerade gestern hatten wir im Ausschuß für Angelegenheiten
der neuen Länder eine Anhörung. Ich möchte Ihnen vortragen, wie die Medien die Ergebnisse dieser Anhörung
beurteilen. Der „Nordkurier“ schreibt: Dabei lobt AirbusManager Dieter Stratmann die Schweriner gar in höchsten
Tönen. Die Landesregierung hat im Vergleich zu anderen Standorten eine glänzende Bewerbung abgeliefert.
({1})
Hört! Hört!
Dasa-Manager Gerhard Puttfercken sagte: Jawohl, die
Präsentationen der Staatskanzlei in den letzten Monaten
haben den Standort Rostock-Laage bekanntgemacht, ins
Bewußtsein von Entscheidern gerückt.
Der Kollege Krüger
möchte eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
({0})
Momentan nicht. Ich möchte
das im Zusammenhang vortragen.
Außerdem erinnere ich an Ihren Exwirtschaftsminister Herrn Seidel, der als Sachverständiger geladen
war. Er hat eine wesentlich differenziertere Beurteilung
abgegeben als Herr Schäuble heute vormittag. Er hat gesagt: Sowohl die alte Landesregierung wie auch die neue
Landesregierung hat alles mögliche für die Ansiedlung
des Airbus A3XX getan.
({0})
- Moment, Herr Krüger. Auch darauf haben wir eine
Antwort. Sie sagen immer, was der Altkanzler hier alles
getan hätte. In welcher Form hat er sich denn dazu geäußert? In den Papieren der Staatskanzlei findet sich lediglich ein anderthalbseitiger Brief, ansonsten - auch
gestern nicht - keine Bestätigung von seiten der Industrie, daß der Altkanzler einmal mit Dasa-AirbusIndustrie gesprochen hätte.
({1})
Jetzt noch einmal zur CDU in MecklenburgVorpommern: Sie hielt dieses Thema für nicht sehr
hochrangig; sie hat es in ihrem Wahlprogramm
schlichtweg unterschlagen.
Jetzt möchte ich zu dem übergehen, was ich eigentlich sagen wollte: Wir erinnern uns in diesen Tagen an
die friedliche Revolution vor zehn Jahren im Herbst
1989. Sie war der Ausgangspunkt für alle folgenden
dramatischen und historischen Ereignisse. Die Menschen im Osten Deutschlands gingen damals auf die
Straße, um Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Die Erinnerung daran, so scheint
mir, verblaßt mehr und mehr. Der Fall der Mauer war
der Auftakt zur staatlichen Einheit. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit erweist sich heute wesentlich leichter als die große Herausforderung, vor der
wir jetzt stehen, nämlich die, die innere Einheit zu
vollenden.
Die Ziele, für die die Bürger der DDR damals auf die
Straße gingen, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, haben wir längst erreicht. Dennoch ist bei vielen Menschen - ob in West oder Ost - eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Für diese Entwicklung gibt es
eine Reihe von objektiven Gründen. Das betrifft zum einen den Verlust des Arbeitsplatzes und die Belastung
vieler Bürger, sich in einem radikal gewandelten Wirtschafts-, Rechts- und Verwaltungssystem zurechtzufinden.
Hinzu kommen zum anderen die im Durchschnitt
noch immer geringeren Einkommen der Bürger in den
neuen Ländern. Wohl wahr! In den alten Ländern sind
mittlerweile viele Bürger der Meinung, daß der Aufbau
Ost zulange dauert. Sie sind deswegen ungeduldig. Mitunter gewinnt man aber auch den Eindruck, daß die
Schere zwischen Ost und West wieder weiter auseinanderklafft.
Meine Damen und Herren, dann gibt es aber auch
viele positive Beispiele der gemeinsamen Entwicklung.
Es gibt kaum noch Unterschiede im Freizeitverhalten,
zum Beispiel bei den Urlaubszielen. Auch die Automarken unterscheiden sich nicht mehr. Man muß lange
suchen und die Augen weit aufsperren, will man noch
einen Trabbi auf den Straßen entdecken. Viele Menschen aus den neuen Bundesländern sind in die alten
Bundesländer gezogen - und umgekehrt. Sie haben miteinander Freundschaften geschlossen.
Die Politik ist aufgefordert, den gesellschaftlichen
Zusammenhalt zu stärken. Gewiß, sie hat sich in der
Vergangenheit bemüht, durch die finanzielle Absicherung des Aufbau Ost dazu einen Beitrag zu leisten.
Aber - Herr Luther, in diesem Zusammenhang muß ich
auf Ihre Rede zurückkommen -, die Menge der Mittel
ist nicht das Entscheidende. Vielmehr geht es um die
Qualität.
({2})
Die Verwirklichung der inneren Einheit, so meine
ich, beinhaltet im übrigen mehr als finanzielle Hilfen
und wirtschaftliches Wachstum. Die innere Einheit
braucht in erster Linie ein gemeinsames Zusammengehörigkeitsgefühl und eine soziale Verantwortung.
({3})
Die Menschen in den neuen Ländern wollen spüren, daß
Marktwirtschaft trotz Wettbewerb und Konkurrenz nicht
zu Entsolidarisierung führt. Sie wollen, daß wir die unterschiedlichen Biographien aus der Vergangenheit akzeptieren. Dies ist auch schon deshalb notwendig, um
gemeinsam in die Zukunft gehen zu können.
Als hinderlich bei der Verwirklichung der inneren
Einheit erweist sich eine Gesellschaft, die auf lange Zeit
in ihren wirtschaftlichen und sozialen Bezügen große
Unterschiede aufweist. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl kann sich so nur schwer entwickeln. Daher sage
ich: Wir müssen den Menschen in den neuen Ländern
eine Perspektive geben, was die Angleichung der Lebensverhältnisse betrifft. Ich bin mir dabei sehr wohl
bewußt, daß das kurzfristig nicht zu erreichen ist. Aber
dennoch meine ich, wir müssen einen überschaubaren
Zeitraum anstreben.
({4})
Seit der Wiedervereinigung sind, was die Angleichung der Lebensverhältnisse betrifft, beachtliche
Fortschritte erreicht worden.
({5})
Die Einkommen in den neuen Ländern sind deutlich gestiegen. Die Rentenbezüge haben sich innerhalb kürzester Zeit sogar verdreifacht. Die Infrastruktur ist erheblich ausgebaut worden, und, was die Telekommunikation betrifft, haben wir mittlerweile das modernste
System in Europa.
({6})
Trotz dieser guten Entwicklung bestehen noch immer
unterschiedliche Einkünfte zwischen Ost und West.
Wohl wahr! Zu beachten ist allerdings, daß wir stets die
spezifischen wirtschaftlichen Voraussetzungen im Auge
behalten müssen. Nicht jede Lücke kann geschlossen
werden. Das Gebot der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland schließt doch nicht aus,
daß es hier und da regionale Differenzierungen geben
muß. Das hat damit zu tun, daß es in verschiedenen Regionen eine spezifische wirtschaftliche Leistungskraft
gibt.
Für die neuen Bundesländer ist vor allem wichtig,
daß die Produktivität ihrer Wirtschaft und ihrer Unternehmen wächst. Die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit steht in einer engen Wechselbeziehung zur
Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungskraft und der
Beschäftigung. Die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern hat für uns daher eine
hohe Priorität. Dabei ist wichtig, daß die Rahmenbedingungen in Deutschland stimmen.
Das Bundeskabinett hat mit der umfassenden Haushaltskonsolidierung und dem Steuerreformpaket die
Voraussetzung auch für die Entwicklung der Wirtschaft
in Ostdeutschland verbessert. Für die neuen Länder hat
das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit generell eine große Bedeutung. Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften haben sich
darauf verständigt, im Rahmen des Bündnisses auf einen
Abbau der Arbeitslosigkeit hinzuarbeiten und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Behandelt wird in diesen
Gesprächen unter anderem die Förderung des überregionalen Absatzes von ostdeutschen Produkten, die Verbesserung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der
ostdeutschen Wirtschaft sowie die Verbesserung der
Zahlungsmoral.
Gerade in bezug auf den letzten Punkt haben wir gehandelt. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt,
({7})
der im Rahmen einer Anhörung debattiert worden ist.
Die Ergebnisse dieser Anhörung werden in dem Gesetzgebungsverfahren Eingang finden.
({8})
Damit wollen wir den vielen, von der schlechten Zahlungsmoral betroffenen Baufirmen in Ostdeutschland
helfen.
Wir stärken aber auch Forschung und Innovation.
({9})
Bereits im laufenden Haushalt haben wir die Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung um fast
1 Milliarde DM erhöht.
({10})
Im Zukunftsprogramm 2000 haben wir festgelegt, daß
Forschung und Bildung in Deutschland wieder Priorität
haben müssen.
({11})
Im Jahr 2001 und in den kommenden Jahren werden
die Investitionen jeweils um 1 Milliarde DM erhöht.
Und mit dem neuen Fördermodell Inno-Regio haben
wir in Ostdeutschland eine Vielzahl von innovativen
Ideen in regionalen Netzwerken ausgelöst. Sage und
schreibe über 400 Bewerbungen in den unterschiedlichen Regionen der Länder haben zu einer Aufbruchstimmung geführt: Viele Projekte, die nicht in die engere
Wahl des Bundes gekommen sind, werden zur Förderfähigkeit weiterentwickelt.
Für die neuen Länder ist die Förderung der Verkehrsinfrastruktur von großer Bedeutung; das ist
hier schon angeklungen. Dabei bleibt für uns der Vorrang der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit unverändert
erhalten.
Ein großes Problem besteht in der Tatsache, daß der
von der alten Regierung aufgestellte Bundesverkehrswegeplan völlig unterfinanziert war.
({12})
Wir sind deshalb gezwungen, neue Prioritäten zu setzen.
Dabei ist im übrigen zu berücksichtigen, daß sich im
Jahre 9 nach der deutschen Einheit auch die Verkehrsströme etwas verändert haben, gerade in bezug auf Polen
und Tschechien.
Frau Pieper und Herrn Luther möchte ich sagen: Das
Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 8, die Strekke Nürnberg-Erfurt-Berlin, ist nicht aufgehoben, sondern lediglich aufgeschoben. Auch der Abschnitt zwischen Erfurt und Arnstadt wird fertiggestellt. Im übrigen
hält die Strecke einer Wirtschaftlichkeitsprüfung im
Moment nicht stand. Das müssen wir berücksichtigen,
wenn wir neue Prioritäten setzen.
({13})
Mit dem Investitionsprogramm für die Jahre 1999 bis
2002 haben wir bis zum Abschluß des überarbeiteten
Bundesverkehrswegeplans die notwendige Planungssicherheit gegeben.
Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition
nimmt ihre soziale Verantwortung sehr ernst, um den
vielen Menschen zu helfen, die in Ostdeutschland bedingt durch den Strukturwandel unverschuldet in Arbeitslosigkeit geraten sind. Unabdingbar ist - das haben
die Partner im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und
Wettbewerbsfähigkeit anerkannt -, daß die aktive Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau fortgesetzt werden
muß.
Die Mittel werden wir in diesem Zusammenhang genauer auf die Zielgruppen konzentrieren. Um den künftigen Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktes
besser zu entsprechen, werden die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerkskammern den künftigen Bedarf an Fachkräften verstärkt aufklären. Wir geben für aktive Arbeitsmarktpolitik in diesem Jahr
6,3 Milliarden DM mehr aus als noch im Haushaltsjahr
1998 unter Ihrer Führung.
Wir haben uns nicht mit der hohen Zahl von arbeitslosen Jugendlichen abgefunden, sondern haben ein Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit in diesem Jahr mit 2 Milliarden DM aufgelegt, wovon
40 Prozent den Jugendlichen in den neuen Ländern zugute kommen.
({14})
Die Union hat im übrigen kürzlich gefordert, dieses
erfolgreiche Programm wieder einzustellen.
({15})
Ihr - so ist zu vermuten - ist die Lage der jungen Menschen, die ohne Ausbildungschancen sind, völlig egal.
({16})
Sie sollten sich allerdings einmal mit den Jugendlichen
unterhalten, die durch unser Programm eine Perspektive
bekommen haben.
({17})
- Frau Rönsch, wir sind von der Richtigkeit dieses Programms überzeugt,
({18})
und wir werden das im nächsten Jahr fortsetzen.
({19})
Werte Kollegen, meine Damen und Herren, die neuen
Länder bedürfen der Förderung auf hohem Niveau über
einen langen Zeitraum hinweg. Sie können in einem
föderalen Wettbewerb nur dann bestehen, wenn die
Ausgangslage für sie annähernd die gleiche ist wie die in
den alten Bundesländern.
({20})
Es kommt jedoch für die Zukunft darauf an, daß die
Mittel wirklich zielgerichtet eingesetzt werden. Dabei
müssen wir die traditionell strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands besonders fördern. Ich habe meinen Wahlkreis in einer solchen strukturschwachen Region, in Vorpommern. Ich weiß aber auch, es gibt andere neue Bundesländer, die ähnlich strukturell unterentwickelte Gebiete haben.
Vieles bleibt in Ostdeutschland noch zu tun. Der Weg
bleibt steinig, aber ich meine, wir haben die Weichen für
den weiteren Aufbau Ost in die richtige Richtung gestellt. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich noch
einmal ausdrücklich für die Arbeit und das Engagement
unseres Staatsministers Rolf Schwanitz.
({21})
Es gibt für mich keinen Grund zum Pessimismus. Die
Menschen in Ostdeutschland haben in der Vergangenheit gezeigt, daß sie sich radikaler Veränderung sehr
wohl flexibel anpassen können. Ich meine: Das ist ein
Pfund, das die neuen Länder in eine Wirtschaft, die immer globaler wird, einzubringen haben.
Ich bedanke mich.
({22})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Krüger. Bitte
sehr.
Herr Hempel,
ich bin Ihnen eigentlich dankbar, daß Sie das Thema
A3XX angesprochen haben. Ich wollte Sie nur darauf
hinweisen, daß die alte Bewerbung, die gestern in der
Anhörung als exzellente Bewerbung bezeichnet wurde,
von der alten Landesregierung vorbereitet wurde. Insofern hat die neue Landesregierung von Herrn Ringstorff
diese Bewerbung nur abgegeben.
Was heute morgen von Herrn Schäuble angesprochen
worden ist, war der Umstand, daß sich der alte Bundeskanzler, obwohl die Entscheidung damals noch nicht
feststand - wir befanden uns noch in der Vorbereitungsphase der Bewerbung -, ganz klar für Endmontage des
A3XX in Rostock ausgesprochen hat. Was wir heute mit
Sicherheit annehmen können, ist, daß sich Helmut Kohl
in der aktuellen Phase der Bewerbung, also heute, weiterhin massiv auf internationalem Parkett dafür eingesetzt hätte, daß im Zuge der deutschen Einheit in dem
traditionsreichen Flugzeugbauland MecklenburgVorpommern tatsächlich wieder ein Flugzeugbaustandort belebt wird. Davon bin ich fest überzeugt.
Herr Schäuble hat Herrn Ringstorff heute morgen
vorgeworfen, daß er sich überhaupt nicht dafür einsetzt,
daß Herr Schröder ein solches Machtwort zugunsten des
Standorts Rostock-Laage spricht. Daß hier überhaupt
kein Druck auf Herrn Schröder stattfindet, halte ich für
einen politischen Skandal. Wir haben gestern in der Anhörung erfahren,
({0})
- ich weiß, das ist unbequem für Sie zu hören -, daß mit
Sicherheit 30 000 Arbeitsplätze in Deutschland im Zusammenhang mit dem A3XX entstehen werden.
Was wir fordern und wofür wir kämpfen - ich hatte
eigentlich immer den Eindruck, daß Sie mitkämpfen ist, daß von diesen 30 000 Arbeitsplätzen einige Tausend in den neuen Ländern entstehen, insbesondere an
dem Standort Mecklenburg-Vorpommern. Bisher haben
sich dazu weder der Bundeskanzler noch Herr Schwanitz jemals geäußert. Wir haben bisher keinerlei Unterstützung bei der Ansiedlung von Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit dem A3XX in den neuen Ländern erhalten.
Wir haben uns im Ausschuß seit längerer Zeit damit
beschäftigt. Die Anträge, die vorliegen, lauten, daß wir
die Bundesregierung auffordern, sich endlich für diesen
Standort einzusetzen. Es geht hier um 5000 oder mehr
Arbeitsplätze in den neuen Ländern. Die Endmontage ist
in der Tat derjenige Teil der Work-Share, der am besten
geeignet wäre, dort Arbeitsplätze zu schaffen, weil man
nicht eine Vielzahl von Standorten fördern und nicht bei
Null anfangen müßte.
Daß wir gestern gehört haben, daß die DASA im
Moment nicht beabsichtigt, etwas für diesen Standort zu
tun, bedeutet für dieses Parlament, die Bundesregierung
anläßlich der Debatte zum Thema „Zehn Jahre nach dem
Mauerfall“ klar und deutlich aufzufordern, nun endlich
etwas zu tun, damit von diesem größten Infrastrukturprojekt,
({1})
von diesem größten Wirtschaftsprojekt Europas endlich
etwas für die neuen Länder abfällt. Ich werfe der Bundesregierung vor, daß sie dafür bisher keinen Finger
krumm gemacht hat und Herr Ringstorff zwar herumreist ({2})
Herr Kollege, beachten Sie bitte, daß Ihre Redezeit jetzt um ist.
- und so tut, als
würde er sich dafür einsetzen, er aber in Wahrheit bisher
nichts in dieser Richtung bewegt hat.
Jetzt ist Schluß, und
Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.
Ich halte das für
einen politischen Skandal.
({0})
Herr Kollege Hempel, wollen Sie antworten? Ich bitte aber darum, daß die
Drei-Minuten-Frist eingehalten wird.
Ich glaube, ich brauche nicht
so lange. Herr Krüger, das, was Sie hier gesagt haben,
ist schlichtweg unwahr.
({0})
Es wird Ihnen mit Ihren Ausführungen nicht gelingen,
eine andere Einschätzung des Ausgangs der gestrigen
Anhörung herbeizuführen.
({1})
Ich meine, die Experten haben sich gestern dazu eindeutig geäußert. Ich weiß, was Sie am liebsten gehabt
hätten: daß hier gestern eine Verurteilung von seiten der
Experten und auch von seiten der Industrie erfolgt wäre.
Das hat es nicht gegeben; ganz im Gegenteil. Man hat
Mecklenburg-Vorpommern eine ganz exzellente Bewerbung bescheinigt. Nehmen Sie das zur Kenntnis.
({2})
Im übrigen tun wir alles für die Ansiedlung des Airbus
A3XX in Rostock-Laage.
({3})
Ich schließe die
Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Angelegenheiten
der neuen Länder zu dem Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur wirtschaftlichen Stärkung der neuen Länder, Drucksache 14/2032,
Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1551 anzunehmen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? Gegen die Stimmen von F.D.P., CDU/CSU
und PDS ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Aufbau
Ost endlich wieder richtig machen“, Drucksache
14/2032, Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1210 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder zu dem Antrag der F.D.P. mit dem Titel
„Aufbau Ost muß weitergehen“, Drucksache 14/2032,
Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1542 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.
ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen jetzt zu der Beschlußempfehlung des
Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu
dem Antrag der Fraktion der PDS zur Angleichung der
Lebensverhältnisse und zur Herstellung von mehr
Rechtssicherheit in Ostdeutschland, Drucksache 14/
2032, Nr. 4. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1277 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Realisierung
der Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/
Leipzig-Berlin; das ist Drucksache 14/2047, Nr. 1. Der
Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/1208 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? ({0})
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit müssen zügig realisiert werden“; das ist Drucksache 14/2047, Nr. 2. Der Ausschuß
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1543 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? ({1})
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/1825 und 14/1715 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen,
wobei die Vorlage auf Drucksache 14/1825 zusätzlich
an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten und den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie und die Vorlage auf Drucksache 14/1715 zusätzlich
an den Sportausschuß überwiesen werden sollen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zur Regierungserklärung auf Drucksache 14/2039 an den Ausschuß für
Angelegenheiten der neuen Länder zu überweisen. Gibt
es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Maria Eichhorn, Hannelore Rönsch ({2}),
Wolfgang Dehnel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Lebenssituation von Seniorinnen und Senioren
in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 14/679, 14/1717 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({3})
- Eigentlich ist es ein spannendes Thema, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie können gerne hierbleiben.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im „Internationalen
Jahr der Senioren“ an die Bundesregierung eine Große
Anfrage zur Lebenssituation von Seniorinnen und Senioren in der Bundesrepublik Deutschland gerichtet. Wir
wollten wissen: Wie ist die tatsächliche Situation? Wie
sind die Lebensumstände? Wie wirkt das, was wir in den
vergangenen Jahrzehnten für die Senioren in unserem
Lande erreicht haben? Was müssen wir verbessern? Wo
sind Veränderungen angesagt?
Wir wollten mit dieser Großen Anfrage der Seniorenministerin im „Internationalen Jahr der Senioren“
endlich einmal die Gelegenheit geben, Stellung zur
Politik für die älteren Menschen, für die ältere Generation, für die Senioren zu nehmen, da in diesem „Internationalen Jahr“ von Regierungsseite bisher noch gar
nichts unternommen wurde.
({0})
Die einzige Großveranstaltung, die angesagt war, wurde aus politischen Gründen zwei Tage vorher abgesagt,
und etwa 500 Experten und Senioren aus ganz Deutschland wurden schlichtweg ausgeladen, weil wohl der
Kanzler wieder ein Machtwort sprechen wollte. Die Seniorenministerin hat sich in die Rente verabschiedet, bevor sie angefangen hat, überhaupt zu arbeiten.
({1})
Dabei kann Politik für ältere Menschen, für Senioren
ein sehr weites Feld und ein sehr spannendes Arbeitsgebiet sein. Diese Große Anfrage hat uns bestätigt, daß die
Lebenssituation der älteren Menschen, der Senioren von
ihnen selbst allgemein als gut beurteilt wird.
Wir werden in Deutschland alt und älter; die demographische Entwicklung zeigt dies auf. Sie wird auch
für uns in der Zukunft eine ganz besondere Herausforderung sein. Im Jahre 2030 wird über ein Drittel der Gesamtbevölkerung über sechzig Jahre alt sein. Teilweise
leben schon heute fünf Generationen im Familienverband. Das ist Freude, aber das ist auch Arbeit für die
Politik.
Hier ist ganz besonders die Bundesregierung gefordert. Warum haben wir eigentlich eine Seniorenministerin, wenn an keiner Stelle irgendwelche Initiativen ergriffen werden - ich komme nachher darauf zurück, was
an Seniorenpolitik von wem veranlaßt wurde - und
wenn man sich nicht um die Generation der Menschen
über sechzig Jahre - das ist die größte Bevölkerungsgruppe -, kümmert?
Unsere älteren, unsere alten Menschen betrachten
Alter durchaus als Chance. Sie haben eine gute Ausbildung, und sie wollen sich in der Gesellschaft beteiligen.
Sie stehen mitten im Leben, mitten in der Gesellschaft.
Sie sind selbständig, aktiv und selbstbewußt. Sie wollen
sich selbst, aber auch die Welt entdecken. Und sie wollen ihr Wissen, ihre Lebenserfahrung an die nachfolgenden Generationen weitergeben.
Ein Großteil beteiligt sich ehrenamtlich. Wir haben
dies seinerzeit als Bundesregierung aufgegriffen und haben mit dem Bundesaltenplan und mit den Seniorenbüros, die wir Deutschland modellhaft in den alten und
neuen Bundesländern eingerichtet haben, den Senioren,
die sich aktiv in die Gesellschaft einbringen wollen, die
Chance eröffnet, dies auch zu tun. Unsere Senioren
übernehmen wertvolle Aufgaben in unserer Gesellschaft, und dabei sollten wir sie unterstützen.
Erstaunlich ist für mich, daß die älteren Menschen,
die Senioren, sich ihrer Stärke in der Gesellschaft zum
Beispiel auf Grund ihrer Kaufkraft noch nicht so bewußt geworden sind. Sie sind ein Wirtschaftsfaktor und
damit ein Machtfaktor, der in der Politik ernst genommen werden will und der auch in der Politik sein Wort
machen will.
Wir müssen uns für die Zukunft überlegen, ob die
Seniorenbeiräte in den Kommunen immer nur beratend
tätig sein können oder ob sich Senioren nicht wesentlich
aktiver in die Politik einbringen sollten und müßten, um
ihre eigenen Interessen zu vertreten.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ich sagte schon: Es leben heute innerhalb einer Familie teilweise fünf Generationen. Es gibt die jungen Alten, die älteren Alten und die Senioren. Jeder Personenkreis braucht sein eigenes Politikfeld und braucht seine
eigene Zuwendung. Im Bundesaltenplan der vorigen
Bundesregierung ist dies sehr deutlich geworden.
Ältere Menschen und Senioren brauchen aber ganz
besonders Sicherheit für die finanzielle, für die soziale
Absicherung ihres Alters. In dieser Beziehung sind sie
von der neuen Bundesregierung komplett allein gelassen
worden. In jedem Feld - ich nenne hier die Gesundheitspolitik und die Gesundheitsreform, und ich nenne
ganz besonders die Rentenpolitik - werden diese Menschen verunsichert, und sie wissen nicht, wie die nächsten Lebensjahre und Lebensjahrzehnte aussehen.
({2})
In der Antwort auf die Große Anfrage erklärt die Frau
Ministerin zu den Rentenstrukturreformen: Wir haben
ein wegweisendes Konzept vorgelegt, und bis Ende
1999 werden die Eckpunkte vorliegen. Wir hören permanent etwas von Eckpunkten. Jedes Kabinettsmitglied
hat da seine eigenen Vorstellungen. Das Schöne daran
ist: Sie werden immer lauthals draußen vorgetragen. Ich
selbst habe in meinem Wahlkreis ein Kabinettsmitglied,
das sogar handschriftlich an einen besorgten Rentner
schrieb, daß man selbstverständlich Garant für die nettolohnbezogene Rente sei und daß sich der Bundeskanzler persönlich dafür verbürge.
Nun hat sich dieser bei den Rentnern schon entschuldigt; die Kabinettskollegin hat es bisher noch nicht getan. Aber sie hat noch die Chance, ihren Irrtum in diesem Punkt einzugestehen.
Ich bitte Sie: Nehmen Sie die Sorge, nehmen Sie die
Angst von den Rentnern weg, und beenden Sie die Vielstimmigkeit, die im Kabinett herrscht. Denn unsere älteren und alten Menschen brauchen eines: Sie brauchen
Verläßlichkeit, und sie brauchen Sicherheit.
({3})
In der Großen Anfrage haben wir verschiedene Fragen zur Wohnsituation der Älteren gestellt.
({4})
- Wissen Sie, von wem der initiiert wurde? - Von der
alten Bundesregierung! Herzlichen Dank für dieses
Stichwort.
Wir müssen uns Gedanken über die Wohnsituation
der älteren Menschen machen; denn sie verbringen vier
Fünftel des Tages in ihrer Wohnung. Wir werden bei
guter Gesundheit alt und älter. Trotzdem sollte diese
Bundesregierung verstärkt dafür werben - wie es schon
die Vorgängerregierung getan hat -, daß man sich beizeiten und bei guter Gesundheit bereits auf die nächste
Lebensphase einrichtet. Es sollte sichergestellt sein, daß
dann, wenn die Mobilität abnimmt, die Wohnung schon
entsprechend umgestaltet ist oder die Möglichkeit eines
Umzugs in ein Altenheim, das in der Nähe sein mag, besteht.
Noch die alte Bundesregierung hat ein Modellprogramm „Selbstbestimmtes Wohnen im Alter“ aufgelegt
und ermöglicht, daß dessen Erkenntnisse in einer Datenbank festgehalten werden können. Ich wünsche mir, daß
dieses Modellprogramm der alten Bundesregierung ausgebaut wird und die Erkenntnisse, die in der Datenbank
gesammelt werden, an die Bundesländer bzw. an die
Kommunen weitergegeben werden.
Ich habe eben schon die Altenheime und Pflegeeinrichtungen angesprochen. Diese sind bestimmt für die
Menschen, die nicht mehr selbstbestimmt leben und
wohnen können und zu Hause nicht mehr durch Verwandte oder Bekannte versorgt werden können. In den
Altenheimen und Pflegeeinrichtungen sind heute 67
Prozent der Menschen über 80 Jahre alt. Dieser Anteil
an Hochbetagten in den Pflegeeinrichtungen, von denen
ein großer Teil demenzkrank sind, wird noch zunehmen.
Diese Tatsache ist bedingt durch die Pflegeversicherung
und kennzeichnet einen guten Prozeß. Heute wird ein
Großteil der hilfsbedürftigen Alten zu Hause von Verwandten, Bekannten und über die Sozialstationen gepflegt. Die Inanspruchnahme eines Pflegeheimes ist eine
vernünftige Sache, wenn eine Versorgung zu Hause
nicht möglich ist.
({5})
- Ich finde es immer besonders pikant, wenn von der
PDS Zwischenrufe kommen, wenn es um Pflegeeinrichtungen geht. Ich selbst habe 1991 das erstemal Gelegenheit gehabt, Altenpflege- und Behinderteneinrichtungen der ehemaligen DDR zu besuchen. Ich mußte
bitter erkennen, daß dieses alte System jeden „entsorgte“, der nicht mehr produktiv war.
({6})
Man nahm überhaupt keine Rücksicht darauf, ob es sich
um geistig Behinderte, Alkoholkranke oder alte pflegebedürftige Menschen handelte.
Seinerzeit war ich verantwortlich für 1 400 Pflegeeinrichtungen. Mittlerweile bin ich, Frau Hanewinckel, in
den unterschiedlichen Regionen der neuen Bundesländer
in vielleicht 250 Einrichtungen gewesen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich weiß nicht, warum Sie von der SPD,
Frau Hanewinckel, das alte DDR-Regime verteidigen.
Ich hätte Ihnen gewünscht -
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hanewinkkel?
Ich
hätte zwar gerne noch den Satz beendet, aber selbstverständlich.
({0})
Hannelore Rönsch ({1})
Jetzt besteht der
Wunsch nach zwei Zwischenfragen. Dann zuerst die
Kollegin von der PDS.
Nein, der PDS gestatte ich keine Zwischenfrage.
({0})
Also erteile ich das
Wort zu einer Zwischenfrage der Kollegin Hanewinckel.
Frau Rönsch, Sie haben sich dazu geäußert, daß es in den Altenpflegeheimen
der DDR zum Teil sehr schlimme Zustände gab. Das
weiß ich selber; denn ich habe zwölf Jahre lang in Halle
an der Saale als Pastorin für Klinikseelsorge auch dort
gearbeitet. Sind Sie bereit, den Begriff „Entsorgung“,
der vor allen Dingen Frauen trifft, die in den Altenheimen der DDR gearbeitet haben, zurückzunehmen, weil
Sie damit unterstellen, daß die Pflegekräfte offensichtlich nicht bereit und in der Lage waren, sich um alte
Menschen nach bestem Wissen und Gewissen zu kümmern? Letzteres haben sie nämlich getan.
({0})
Dies ist keine Entschuldigung für die schlechten baulichen Zustände und für andere Mißstände. Diese waren
nur ein Spiegelbild von dem, wie es sonst in der DDR
aussah.
Sehr
verehrte Frau Kollegin Hanewinckel, ich empfehle Ihnen, die entsprechende Stelle im Protokoll sehr genau
nachzulesen.
({0})
- Bei Ihnen bezweifle ich dies, weil Sie die meiste Zeit
im Parlament schreien.
Von der Frau Kollegin Hanewinckel hätte ich schon
erwartet, daß sie genau hinhört, weil es sich um eine
sehr sensible Stelle handelt. Ich wiederhole, daß das alte
DDR-System Menschen, die nicht mehr produktiv waren, „entsorgt“ hat. Ich habe hohen Respekt vor den
Männern und Frauen, die Pflegearbeit unter schwersten
Bedingungen und in Häusern geleistet haben, die als
Pflegeeinrichtungen - teilweise - überhaupt nicht geeignet waren.
Frau Hanewinckel, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe, wie gesagt, eine große Anzahl von Behinderten- und
Altenpflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern besucht. Ich habe erlebt, daß schwerstbehinderte
Kinder Bett an Bett mit 82jährigen und 84jährigen Frauen lagen, die selber schwerstpflegebedürftig waren. Ich
habe erlebt, daß Alkoholkranke mit alten, pflegebedürftigen Männern Bett an Bett lagen. Ich hätte mir für diejenigen, die die Pflegearbeit geleistet haben und auch
noch heute leisten, andere bauliche Voraussetzungen
gewünscht.
({1})
- Hat jemand gerade gerufen, wir hätten zehn Jahre
nichts gemacht? Frau Kollegin, ist Ihnen bewußt, daß
aus der Pflegeversicherung 800 Millionen DM pro
Jahr über acht Jahre für Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern vorgesehen oder in diese geflossen
sind?
({2})
Haben Sie eine Ahnung, wie die Häuser heute aussehen?
Haben Sie schon einmal etwas von der Stiftung „Daheim im Heim“ gehört, in der sich Menschen aus der
alten Bundesrepublik organisiert haben, weil sie sich
verpflichtet fühlten, den Pflegeeinrichtungen in den
neuen Bundesländern zu helfen? Wenn Sie sich darum
einmal kümmern, dann werden Sie solche Zwischenrufe nicht mehr machen.
({3})
Ich möchte noch ganz kurz - auf Grund der vielen
Zwischenfragen kann ich darauf nicht mehr ausführlicher eingehen - auf die Situation der ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Bundesrepublik
eingehen. Es gibt heute 500 000 ältere und alte Menschen, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen in unser
Land gekommen sind. Über 90 Prozent dieser Menschen
hatten die Rückkehroption im Kopf. Deshalb haben sie
sich weder kulturell noch sprachlich bei uns integrieren
können und wollen. Aber jetzt sind sie bereit, in der
Bundesrepublik Deutschland zu bleiben, weil hier mehrere Generationen, ihre Kinder und ihre Enkel, leben.
Das Problem besteht nun darin, daß das Verhalten der
jüngeren Generationen der ausländischen Mitbürger dem
junger Deutscher entspricht. Sie leben in einer Dreizimmerwohnung und haben überhaupt keine Chance
mehr, den alten Menschen, der irgendwann aus dem fernen Anatolien nach Deutschland gekommen ist, aufzunehmen. Hier gibt es also ein großes Problem. Die alte
Bundesregierung
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
- ja hat begonnen, diesen älteren Menschen durch entsprechende Modellprojekte eine Perspektive in Deutschland
zu geben. Ich bitte Sie eindringlich: Kümmern Sie sich
um diese Menschen, weil sie besonders einsam sind.
Auch die alte Bundesregierung hat für diese Menschen
Modellprojekte auf den Weg gebracht. Ich würde mir
wünschen, Frau Staatssekretärin, daß Sie mir vier oder
fünf Modelle nennen, die während Ihrer Regierungszeit
entstanden sind; denn Seniorenpolitik ist mehr als das
Weiterschreiten auf alten Wegen. Auch die Kreativität
dieser Regierung ist gefragt.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Grehn das Wort.
Frau Kollegin Rönsch, Sie
haben sich einer Fragestellung aus der PDS verweigert
und waren nicht bereit, zu sagen, was Sie mit „Entsorgung“ meinen. Dieser Begriff ist eindeutig belegt. Ich
weise daher die Anwendung dieses Begriffes auf die
Alteneinrichtungen der ehemaligen DDR zurück. Sie
haben damit die Altenheime der Kirche genauso wie
die funktionierenden Einrichtungen, die staatlicherseits
betrieben worden sind, diffamiert. Ich selber war lange
genug ehrenamtlich in solchen Einrichtungen tätig.
Zweitens fordere ich Sie auf, zur Kenntnis zu nehmen, daß es in den Alteneinrichtungen der Stadt München Fälle gab, in denen die Bewohner dieser Heime
kurz vor der Austrocknung standen, und daß wir dies
nicht als einen systembedingten Fehler, sondern als das
angesehen haben, was es ist: Gott sei Dank in aller Regel ein Ausnahmefall, den es in der DDR sicher auch
gab.
({0})
Frau Kollegin
Rönsch, Sie wollen antworten? - Bitte sehr.
Ich
habe durch diese Kurzintervention zur Kenntnis genommen, daß sich dieser Kollege der PDS offensichtlich
zu all dem bekennt, was die SED angerichtet hat.
({0})
Jetzt erteile ich der
Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
das Wort. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Internationale Jahr der
älteren Menschen ist eine gute Gelegenheit, im Deutschen Bundestag über die Situation der Seniorinnen und
Senioren zu debattieren.
Wir haben die Große Anfrage so beantwortet, daß ein
umfassendes Bild der Lebenssituation älterer Menschen
in Deutschland entstanden ist. Die Gruppe der
60jährigen und Älteren hat heute einen Anteil von gut
einem Fünftel an der Bevölkerung; dieser Anteil wird im
Jahr 2030 über ein Drittel betragen. Wir wissen nicht,
was im Jahr 2030 sein wird. Aber das ist auch nicht die
wesentliche Frage; denn der demographische Wandel
ist nicht nur eine zukünftige Entwicklung. Nein, wir sind
heute schon mittendrin, und das nicht erst, Frau Rönsch,
seit Rotgrün regiert. Das war auch vorher schon so.
({0})
Insofern ist der Vorgang, daß die aus der Regierungsverantwortung abgewählte Fraktion der CDU/CSU ein
paar Monate nach dem Regierungsverlust diese umfangreichen Fragen an die neue Bundesregierung stellt,
schon bemerkenswert. Ihre Fragen zeigen nämlich, daß
Sie die Defizite gut kennen.
({1})
Sie haben mit großer Sorgfalt alle Probleme älterer
Menschen zusammengetragen. Die Probleme sind Ihnen
also wohl bewußt. Allerdings bleibt dann die Frage,
warum Sie während Ihrer 16jährigen Regierungszeit
keine Abhilfe geschaffen haben.
({2})
Ich möchte es jedoch positiv wenden: Ihre Fragen
drücken eine gewisse Neugier darauf aus, wie wir die
Probleme, die uns die alte Bundesregierung hinterlassen
hat, nun wohl angehen werden.
Eine erfreuliche Ursache des demographischen Wandels ist die Steigerung der Lebenserwartung. Hieraus
ergibt sich auch eine entscheidende Veränderung in
der Bevölkerungsstruktur: die Zunahme der Zahl der
Hochbetagten, also derer, die 80 Jahre alt und älter sind.
Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nimmt überproportional zu. Allein von 1970 bis 1997 hat sich der Anteil der zwischen 80 und 90 Jahre alten Personen von 1,8
Prozent auf 3,2 Prozent erhöht, der Anteil der über
90jährigen von 0,1 Prozent auf 0,5 Prozent. Mehr als
zwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner in Altenund Pflegeheimen sind bereits 80 Jahre alt und älter.
Diese Zahlen machen deutlich, wie groß die Spanne
der Lebensphase „Alter“ ist. Die Lebenssituation eines
60jährigen ist nicht mit der einer 90jährigen zu vergleichen. Auch wenn man die 70jährigen miteinander vergleicht, stellt man fest, daß sie hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Erwartungen höchst unterschiedlich sind.
Daraus folgt, daß wir es mit einem sehr differenzierten
Altersbild zu tun haben. Das ist die wahre Herausforderung für eine gute Seniorenpolitik.
({3})
Nehmen wir einmal die aktiven Seniorinnen und Senioren. Unsere Gesellschaft tut gut daran, ihr Engagement zu suchen, ihr Erfahrungswissen und ihre Qualifikationen zu nutzen. Dazu gehören das Ehrenamt, Möglichkeiten zur Teilhabe, zur Partizipation ebenso wie der
Senior-Experten-Service. Ältere Menschen wollen sich
nicht zurückziehen. Ich denke, sie sollen sich auch nicht
zurückziehen. Die Wirtschaft und insbesondere die soziale Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft können
von diesem Engagement nur profitieren.
Interessant finde ich in diesem Zusammenhang die
Frage der CDU/CSU, ob die Bundesregierung hinsichtlich des Senior-Experten-Services das Arbeitsförderungsrecht ändern wird, weil - da haben Sie vollkommen recht - bei Arbeitslosen die zulässige Tätigkeit den
Umfang von 15 Stunden nicht übersteigen darf. Die
Einsatzzeit von älteren Arbeitslosen, die sich beim Senior Expertenservice engagieren, ist in der Regel länger
als 15 Stunden.
Wir haben es also mit einer gesetzlichen Regelung zu
tun, die das Engagement älterer Arbeitsloser nicht fördert, sondern eher behindert. Aber, meine Damen und
Herren von der Opposition, ich finde diese Frage aus
Ihren Reihen schon mehr als erstaunlich. Schließlich
war es die Kohl-Regierung, die 1997 die zulässige
Stundenzahl von 18 auf 15 Stunden reduziert hat, ohne
an die besonderen Belange des Senior Expertenservices
zu denken. Sie rügen mit dieser Frage Ihre eigene Politik.
({4})
Weil Sie wissen wollen, wie es weitergeht: Wir werden es sein, die im Rahmen der großen SGB-III-Reform
diese überfällige Änderung vornehmen. Das ist eine
wichtige Maßnahme, um Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Älteren ermöglichen, sich und ihr Erfahrungspotential aktiv in unsere Gesellschaft einzubringen.
Das nutzt der Gesellschaft. Das nutzt aber auch den älteren Menschen selbst. Sie haben so Gelegenheit, ihre Fähigkeiten bis ins hohe Lebensalter zu stärken und damit
auch zu erhalten.
Obwohl die Älteren beim Eintritt in die dritte Lebensphase heute gesünder, besser ausgebildet und materiell bessergestellt sind, ist es eben nicht allen Menschen
möglich, ohne fremde Hilfe und Pflege zu leben. Derzeit
sind zirka 8 Prozent der über 60jährigen pflegebedürftig.
Aus demographischen Gründen wird in den nächsten
zehn bis 20 Jahren die Zahl der Pflegebedürftigen
überproportional steigen. Da muß unser Augenmerk insbesondere den Demenzkranken gelten.
Pflegearbeit geschieht zu Hause und in den Heimen.
Wenn ich an die Pflegeleistungen in den privaten Haushalten denke, die wertvoll und wichtig sind, möchte ich
gerne in Erinnerung rufen, daß die Pflegepersonen zu
Hause zu fast 80 Prozent die Frauen sind: Lebenspartnerinnen, Töchter und Schwiegertöchter. Ich erwähne dies,
weil dies täglich in den Wohnungen stattfindende Engagement meines Erachtens nicht genügend öffentliche
Anerkennung findet. Das will ich ausdrücklich tun.
({5})
Der zunehmende Pflegebedarf wirft natürlich auch
Fragen nach der Qualität, der konzeptionellen Weiterentwicklung von Alten- und Pflegeheimen auf. Lassen
Sie mich aus aktuellem Anlaß etwas zu Ihren Fragen
nach den Zivildienstleistenden in den Alten- und Pflegeheimen sagen.
Wir haben Ihnen geantwortet, daß 16 673 Zivildienstleistende in Alten- und Pflegeheimen eingesetzt sind. Ich
bitte Sie, diese Zahl von 16 673 zur Kenntnis zu nehmen, weil es nämlich aufhören muß, daß Sie als Opposition anstehende strukturelle Veränderungen im Zivildienst - Verkürzung der Dauer und Steuerung der
Einberufungszahlen - fahrlässigerweise immer wieder
benutzen, um die älteren Menschen zu verunsichern.
({6})
Auch im nächsten Jahr werden im Jahresdurchschnitt,
Frau Eichhorn, 124 000 Zivildienstleistende einberufen.
Damit gibt es immer genügend Zivildienstleistende für
den sozialen Bereich und erst recht für die Alten- und
Pflegeheime.
({7})
Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie das, was Sie
jetzt schwarz auf weiß als Antwort auf die Große Anfrage vorliegen haben, überall so vertreten würden.
({8})
Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Pflege
wird die Sicherung ihrer Qualität weiterhin ein wichtiges
Thema sein. Wenn es bezüglich der Politik für ältere
Menschen einen Reformstau auf Grund der Politik der
alten Bundesregierung gibt, dann genau in diesem Bereich.
Ich bin sicher, daß wir in den meisten Heimen eine
gute Pflegequalität vorfinden, aber dennoch hören, sehen und lesen wir immer in den Medien, daß es zum
Teil erhebliche Pflegemängel gibt. Hier wird man die
Spreu vom Weizen trennen müssen.
({9})
Die Rahmenbedingungen für eine gute Pflege hängen
auch von unseren politischen Vorgaben ab. Die Situation der Träger und die Situation des Personals sind davon
abhängig.
Gerade in diesem Zusammenhang hat sich die alte
Bundesregierung große Versäumnisse vorzuwerfen.
({10})
Seit über zehn Jahren reden wir davon, daß wir einen
anerkannten Beruf des Altenpflegers/der Altenpflegerin brauchen und daß wir die Qualität der Ausbildung
bundesweit sichern müssen. Aber ein entsprechendes
Altenpflegegesetz hat die Kohl-Regierung nie vorgelegt.
Wir brauchten den Regierungswechsel, um die notwendige bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung auf den
Weg zu bringen.
({11})
Sie wissen: Die erste Lesung des Altenpflegegesetzes
hat bereits stattgefunden. Wer erinnert sich nicht, daß
Sie nahezu handstreichartig versucht haben, die Fachkraftquote zu kippen, als ob die Qualität der Pflege in
den Heimen unabhängig von der fachlichen Qualität des
Personals in den Heimen wäre! Ausreichend bemessenes, gut qualifiziertes Personal ist die notwendige Voraussetzung, um gute Pflege zu leisten.
({12})
Edith Niehuis
Wir wollen und wir brauchen verläßliche und differenzierte Kriterien für die Bemessung des Personalbedarfs in Heimen entsprechend der jeweils unterschiedlichen Pflegesituation. Darum bildet die Erprobung von
Verfahren zur Pflegezeit- und Personalbedarfsermittlung
in vollstationärer Pflege einen Schwerpunkt der Projektförderung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in dieser Legislaturperiode, Frau
Rönsch. - Sie hört nicht zu.
({13})
Eine von mehreren Möglichkeiten ist das in Kanada
und der Westschweiz bereits eingesetzte „PLAISIR“Verfahren zur Pflegezeit- und Personalbedarfsermittlung
in der vollstationären Pflege. Wir werden dieses Verfahren in Deutschland modellhaft erproben, weil es ein bemerkenswertes Konzept ist, das die Bedürfnisse der
Menschen in den Vordergrund stellt.
Um die Bedürfnislage und den Schutz der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner geht es auch im
Heimgesetz. Es stammt aus dem Jahre 1974 und war
das früheste Qualitätssicherungsgesetz im Bereich Pflege. In diesen 25 Jahren hat sich die Situation der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, aber auch der Heime verändert. Insofern ist es schon längst überfällig,
dieses Heimgesetz zu novellieren, Qualitätsstandards
anzupassen und Rechtsverordnungen zu aktualisieren.
Die alte Bundesregierung hat sich dieser Aufgabe
nicht gestellt, und wir werden dies nun tun müssen. In
der Tat ist die Novellierung des Heimgesetzes eine notwendige, wenn auch eine anspruchsvolle Aufgabe, weil
viele Bereiche voneinander abgegrenzt oder miteinander
verzahnt werden müssen. Gerade die Nachrichten über
Pflegemängel erfordern, daß wir die staatliche Aufsicht
über die Pflege intensivieren. Wer kann das besser als
die im Heimgesetz verankerte Heimaufsicht - als eine
unabhängige und nicht interessengeleitete Institution tun? Wir werden das Heimgesetz im Sinne einer Verbesserung des Verbraucherschutzes und der Qualitätssicherung novellieren müssen.
({14})
Leider haben Sie selbst wenig zur Verbesserung der
Qualität der Pflege beigetragen. Sie haben zwar in der
Tat viele Modellprojekte auf den Weg gebracht, aber an
die Gesetze sind Sie selten, wenn nicht sogar nie herangegangen. Da auch Sie sich in Ihrer Großen Anfrage
Sorgen um die Qualität der Pflege machen, lade ich Sie
ein, diese politische Arbeit mit uns zusammen zu leisten.
Danke schön.
({15})
Nun hat die Kollegin
Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Seniorinnen und Senioren erleben heute ihre dritte Lebensphase sehr aktiv.
Die Seniorinnen und Senioren sind heute Bürger, die ihr
Leben selbst in die Hand nehmen, gestalten und sehr
eigenwillig und sehr selbstbestimmt leben. Das wissen
wir alle. Ältere Menschen - ich hoffe, daß mir auch die
Regierungskoalition zustimmt - erwarten aber auch Akzeptanz ihrer Lebensleistung, Achtung und Anerkennung von uns allen. Es ist sehr wichtig, daß wir das heute
im Bundestag den Seniorinnen und Senioren sagen.
({0})
Wir besprechen heute die Große Anfrage der
CDU/CSU. Die F.D.P. bewertet es sehr positiv, daß dieses Thema einmal grundsätzlich im Bundestag erörtert
wird. Die Daten und Fakten, die wir bekommen haben,
sind eine gute Grundlage für die weitere Arbeit in diesem Bundestag. Die Zahlen belegen - das wissen wir
alle -, daß der Anteil der älteren Menschen immer weiter steigt. Für unsere sozialen Sicherungssysteme ist das
ein Problem. Die Bürger erwarten von uns gewählten
Vertreterinnen und Vertretern natürlich auch handfeste
Lösungen und nicht nur Reden.
Die F.D.P. ist der Ansicht, daß zum Beispiel ein
65jähriger, der nicht mehr im Berufsleben steht, aber für
sein Alter finanziell vorgesorgt hat und sich guter Gesundheit erfreut, keine direkten Hilfen des Staates benötigt. Für die Rahmenbedingungen der staatlichen Altersversorgung ist natürlich der Staat, dieses Parlament, verantwortlich. Hier hat leider - das sage ich gerade als
Oppositionspolitikerin - die rotgrüne Mehrheit den
Rentnerinnen und Rentnern mehr Unsicherheit als Sicherheit gebracht.
({1})
Wie oft werde ich gefragt: Ist meine Rente eigentlich
noch sicher? Die heutigen Rentner kann ich da nur beruhigen, weil ein neues Rentenreformgesetz, wenn es denn
kommen sollte, natürlich erst in zehn oder fünfzehn Jahren greifen wird.
({2})
Meine Damen und Herren, die Verantwortung des
Staates und besonders unsere Verantwortung als Parlamentarier liegt darin, daß wir Lösungen finden, mit denen wir unsere sozialen Sicherungssysteme und auch die
Rente zukunftsfest machen können. Die F.D.P. als liberale Partei will mehr Vielfalt und Eigenverantwortung
und dadurch auch mehr Sicherheit in das System bringen. Neben den Regelungen für bisher aktive Seniorinnen und Senioren müssen wir auch an Alte und Schwache in unserer Gesellschaft denken, für die andere Gesetze sehr wichtig sind. Die F.D.P. hat 1995 für die Einführung der Pflegeversicherung gestimmt. Diese gesetzliche Regelung hat auch Wirkung gezeigt: Zum
einen bleiben mehr pflegebedürftige Menschen in ihren
Familien, zum anderen nehmen Pflegebedürftige auf
Grund der Leistungen der Pflegeversicherung seltener
Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch. Vor dem Hintergrund, daß viele alte Menschen Probleme und
Schwierigkeiten damit haben, Sozialhilfe in Anspruch
Edith Niehuis
zu nehmen, erfüllt die Pflegeversicherung auch hier eine
wichtige Aufgabe.
Auch die F.D.P. weiß natürlich, daß auf Grund der
demographischen Entwicklung der Anteil der Pflegebedürftigen langfristig steigen wird und wir auf Grund sinkender Zahlen von Arbeitnehmern rückläufige Beitragseinnahmen in der Pflegeversicherung verzeichnen
werden. Aus der Sicht der F.D.P. müssen auch hier
rechtzeitig die Weichen für eine ergänzende Eigenvorsorge in Form der Kapitaldeckung gestellt werden. Die
F.D.P. wird sich in dieser Legislaturperiode noch mit
diesem Thema beschäftigen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich komme zu einem
wichtigen Punkt, den auch eine meiner Vorrednerinnen
angesprochen hat. Die eigene Wohnung ist für Senioren
und Seniorinnen besonders wichtig, denn Senioren
verbringen mehr Zeit in ihren eigenen vier Wänden als
junge Menschen. Die Bundesrepublik Deutschland hat
aber in bezug auf altengerechtes Wohnen keine Vorbildfunktion. Wenn man sich Dänemark und Holland
zum Vergleich ansieht, dann kann man einfach nur feststellen, daß diese weiter sind. Soweit mir bekannt ist,
werden in Dänemark die Wohnungen im Erdgeschoß
grundsätzlich barrierefrei gebaut. Dort stehen mehr älteren Menschen und auch Behinderten die Türen offen.
Von daher sehe ich auch hier Handlungsbedarf.
({4})
Ich komme nun zu neuen Wohnformen im Alter. Wir
sollten ein hohes Augenmerk auf private Wohngemeinschaften legen. Sie müssen mehr propagiert und gefördert werden. Dazu müssen in diesem Bereich einige
rechtliche Rahmenbedingungen geändert werden. Bei
uns gibt es ja das Bundesforum „Gemeinschaftliches
Wohnen im Alter“, das dazu bereits wegweisende Vorschläge gemacht hat. Ziel der F.D.P. ist es, daß alte
Menschen im Alltag selbstbestimmt wohnen und leben
können. Das ist von elementarer Wichtigkeit. Dafür setzen wir uns ein.
({5})
Seit vielen Jahren - ich komme jetzt auf einen weiteren Punkt zu sprechen - drängt die F.D.P. auf ein Altenpflegegesetz. Deshalb begrüßen wir es, daß im Deutschen Bundestag nun ein neuer Anlauf unternommen
wird, die fast unendliche Geschichte dieses Gesetzes
zum Abschluß zu bringen. Seit Mitte der 80er Jahre wird
versucht, ein Altenpflegegesetz zu verabschieden. Ich
habe gehört - ich bin ja neu in den Bundestag gekommen -, daß die Blockadehaltung Bayerns das verhindert
habe. Ich habe eben aber auch gehört, daß ebenso die
Blockadehaltung Hessens dazu beigetragen habe.
({6})
- Sie können gerne - das habe ich eben von der CDU
gehört - etwas dazu sagen. Aber ich bleibe dabei: Bayern hat vieles verhindert. Wir werden uns das Altenpflegegesetz genau ansehen müssen. Ich hoffe, daß wir in
den Ausschüssen nicht betonmäßig - hier die Regierung,
dort die Opposition - über dieses Gesetz beraten, sondern daß es auch Vorschläge der Opposition gibt, die
von Ihnen freundlicherweise, wenn Sie sie für gut halten, unterstützt werden.
({7})
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal kurz
auf die Altersvorsorge zu sprechen kommen. Ich habe
in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage mit Freude gesehen, daß in der Tabelle 7 auf Seite
12 sehr deutlich gezeigt wird, daß die Menschen für ihr
Alter schon heute auf vielfältige Art und Weise vorsorgen. Neben der gesetzlichen Rente, neben der Beamtenversorgung und der Zusatzversorgung im öffentlichen
Dienst haben sie sich schon immer ein Standbein gesucht. Das ist einmal ein zusätzliches Erwerbseinkommen - aus welchen Gründen auch immer; es muß nicht
immer das Finanzielle sein -, das sind die Einkünfte aus
Vermietung und Verpachtung und andere Einkünfte. Die
Tabelle zeigt, daß hier schon zu einem großen Teil vorgesorgt wurde. Hier zeigt sich, daß die Menschen die
dritte Säule der Altersversorgung, die private Vorsorge
neben der staatlichen, als sehr wichtig ansehen.
Jetzt möchte ich noch einmal auf die Regierung und
die These der F.D.P. zu sprechen kommen, daß die Freiräume auch in Zukunft gegeben sein müssen, daß jeder
für seine Altersvorsorge in vielfältigster Art und Weise
selber sorgen muß. Ich muß sagen, diese Koalition marschiert da in die falsche Richtung.
({8})
Sie haben die Einschränkungen bei Vermietung und
Verpachtung, die Neubewertung des Wohneigentums im
Erbschaftsteuerrecht vor, Sie wollen die Gewinnanteile
der Lebensversicherungen mit Kapitalwahlrecht versteuern. Sie wissen alle, daß wir bei 80 Millionen Lebensversicherungsverträgen eine in der dritten Säule
wirklich wichtige Art der privaten Vorsorge haben. Ich
finde es nicht gut, wenn Sie den Menschen einen ganz
bestimmten Vorsorgestempel aufdrücken. Sie sollten
noch einmal darüber nachdenken, wie bei der Absicherung aller Bürger in der Bundesrepublik die Vielfalt erhalten bleiben kann.
Wir als F.D.P. sind immer für Vielfalt und zeigen
auch in unserem Konzept
({9})
die liberalen Grundzüge für eine dauerhafte, zukunftsfeste Alterssicherung auf. Ich will mich dabei etwas kurz
halten und nur sagen, daß nach unserem Konzept die
teilweise Ablösung der umlagefinanzierten gesetzlichen
Rentenversicherung zugunsten des Ausbaus der Vermögensbildung natürlich auch eine Entlastung schaffen soll,
damit der demographischen Entwicklung und der veränderten Arbeitsbiographien Rechnung getragen wird.
({10})
Wir wollen - das wollen Sie sicher auch - die betriebliche und natürlich auch die private Altersvorsorge zu
echten Säulen der Alterssicherung machen.
Ich denke, daß auf das Parlament im Zusammenhang
mit der künftigen Rentenreform schwierige Aufgaben
zukommen, um einen gerechten Ausgleich zwischen
den Generationen zu schaffen. Ich höre von vielen Jugendlichen, daß sie hinsichtlich der gesetzlichen Rente
das Gefühl haben, zu kurz zu kommen, und daß auf
ihrem Rücken auch künftige Rentner finanziert werden.
Da müssen beide Teile erreichen, daß es zu keinem Generationenkonflikt kommt. Hier müssen wir wirklich
einiges tun.
({11})
- Ja, Herr Niebel sagt es. Dann will ich auch noch kurz
dazu kommen.
Sie haben einen Antrag der F.D.P.-Bundestagsfraktion vorliegen, in dem die Vorlage einer Generationenbilanz gefordert wird. Wir wollen erstens, daß die Regierung jährlich eine Generationenbilanz vorlegt, um die
Lasten abzuschöpfen, die sich aus der Finanzwirtschaft
des Staates für gegenwärtig und zukünftig lebende Generationen ergeben. Zweitens. Wir wollen alle wichtigen
steuer- und sozialpolitischen Reformvorhaben hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit mit Hilfe dieses Konzeptes
überprüfen.
({12})
Drittens. Wir wollen diese Bilanz in die offizielle Haushaltsstatistik des Bundes aufnehmen, um damit einen
langfristigen Indikator für die gegenwärtigen und zukünftigen Zahlungsverpflichtungen des Staates und seiner Bürgerinnen und Bürgern zu erhalten.
({13})
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum
Schluß eine persönliche Bemerkung. Ich will mich im
Namen der F.D.P.-Fraktion bei allen Seniorinnen und
Senioren bedanken, die sich in unserer Gesellschaft ehrenamtlich, auch politisch, engagieren.
({14})
Ich hatte das Glück, in einem Mehr-GenerationenHaushalt aufzuwachsen. Unsere Gesellschaft ist doch
auf die Lebenserfahrungen unserer älteren Mitbürger
angewiesen. Wir brauchen diese Erfahrungen. Ich sage
den Seniorinnen und Senioren: Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunft gestalten!
({15})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Abgeordneten Niehuis.
Frau Kollegin Lenke, damit dieser sachliche Fehler nicht im Bundestagsprotokoll stehenbleibt, möchte ich folgende Anmerkung machen. Sie haben zu Recht gesagt, daß die bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung seit mehr als zehn Jahren
überfällig ist. Sie haben ebenfalls zu Recht gesagt, daß
dies daran lag, daß der Freistaat Bayern Regelungen für
eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung massiv
verhindert hat. Sie haben weiterhin gesagt, daß Sie vom
Hörensagen wissen, auch das Land Hessen hätte daran
einen Anteil. Dies ist aber falsch, weil die rotgrüne Landesregierung Hessens Gesetzentwürfe zur bundeseinheitlichen Regelung der Altenpflegeausbildung im Bundesrat eingebracht hat. Seit Hessen einen Regierungswechsel hatte und nicht mehr sozialdemokratisch regiert
wird, hat sich dies leider geändert.
({0})
Ich bin mir daher nicht sicher, ob Hessen weiterhin ein
Gesetz zur bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung
will.
({1})
Frau Kollegin
Rönsch will antworten. Bitte sehr.
({0})
Ich
will gar nicht antworten. Ich möchte eine Kurzintervention machen.
Richtig, nur Frau
Lenke kann antworten.
Frau Kollegin Rönsch hat jetzt das Wort zu einer
Kurzintervention. Bitte sehr.
Ich
habe mich zu einer Kurzintervention gemeldet, weil die
Frau Staatssekretärin über die Historie dieses Gesetzes
hinsichtlich der Altenpflege offensichtlich falsche Auskünfte gibt. Es bedarf also einer Richtigstellung.
Es trifft zu, daß ich in meiner Amtszeit vollmundig
erklärt habe, daß ich dieses Gesetz auf den Weg bringen
würde. Ich bin einmal an Bayern gescheitert, weil Bayern seine Kulturhoheit betonte und der Meinung war,
daß dort besser als anderswo ausgebildet werde. Deshalb
war Bayern gegen eine Vereinheitlichung.
({0})
Ich bin zum anderen an Hessen gescheitert. Das war
1993, Frau Staatssekretärin. Bitte hören Sie zu, damit
Sie diese Tatsache das nächste Mal wissen! Der damalige Ministerpräsident Eichel hat bei einem Kamingespräch, das offensichtlich immer vor Bundesratssitzungen stattfindet, seine Zustimmung plötzlich zurückgezogen. Bayern stand mit seiner Ablehnung nicht mehr alIna Lenke
leine da, sondern wurde von der alten Landesregierung
unter Hans Eichel in diesem Punkt unterstützt.
({1})
Eigentlich hätte jetzt
Frau Kollegin Lenke das Wort zur Erwiderung. Aber sie
will nicht.
Es ist jetzt etwas am Rande der Geschäftsordnung,
aber wir vereinbaren, daß Frau Niehuis noch einmal
antworten darf.
Ich könnte zu der Geschichte der Altenpflegeausbildung übrigens auch selbst etwas sagen. Ich könnte zum
Beispiel sagen, wer alles dagegen und daß kaum jemand
dafür war; ich darf es aber nicht, weil ich in dieser Debatte Präsidentin bin.
({0})
Frau Kollegin Niehuis, bitte sehr.
Frau Präsidentin, ich mache es ganz kurz. Ich beziehe mich nicht auf irgendwelche Kamingespräche hinter verschlossenen Türen, sondern auf eine Drucksache des Bundesrates aus der letzten Legislaturperiode, die einem entsprechenden Antrag
des Landes Hessen enthält. Ich kann also nachweisen,
was ich hier behaupte.
({0})
Nun hat das Wort
die Kollegin Irmgard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Rönsch, ich war über die Große Anfrage
der CDU/CSU schon ziemlich erstaunt, weil ich der
Meinung war, in dem 900 Seiten umfassenden Bericht
der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“,
dessen Vorsitzender Herr Link aus Ihrer Fraktion war,
standen all die Ergebnisse, die jetzt zusammengetragen
wurden. Deshalb fragte ich nach der Motivation. Mir fiel
in diesem Zusammenhang nur ein, daß es ein Beschäftigungsprogramm für die Regierung sein könnte. Oder
was sollte das sonst sein?
({0})
Die Lebenssituation der alten Menschen in unserer
Gesellschaft zeigt ein sehr differenziertes Bild. Da gibt
es zum einen die große Zahl von Jet-settern, die ihre
Wintertage auf dem sonnigen Mallorca verbringen. Zum
anderen gibt es aber auch Menschen, die nicht wissen,
wie sie über die Runden kommen sollen. Billige Wurstund Fleischkonserven gehören zu ihren Tagesrationen.
Ihre Renten reichen gerade zum Überleben. Den Gang
zum Sozialamt scheuen viele. Scham und die Furcht,
daß ihre Kinder zahlen müssen, sind die Gründe dafür.
Glücklicherweise - das zeigt auch dieser Bericht nimmt ihre Zahl ab. Trotzdem ist es ein Gebot der Stunde, den Menschen, deren Rente unter dem Existenzminimum liegt, eine Grundsicherung für das Alter zu gewähren. Dies werden wir noch in dieser Legislaturperiode verwirklichen, damit die verschämte Armut endlich
ein Ende findet.
({1})
An dieser Stelle möchte ich auch ausdrücklich die
hier lebenden Migrantinnen und Migranten erwähnen,
von denen in zehn Jahren - Frau Rönsch hat es angekündigt - über 1 Million hier in Rente gehen werden.
Für diese brauchen wir ganz dringend eine soziale Sicherung, damit auch sie ihre Würde im Alter behalten.
({2})
Das ausdifferenzierte Bild der heutigen alten Menschen wird sich um ein Vielfaches potenzieren, wenn die
demographische Veränderung weiter Fuß faßt und die
durchschnittliche Lebenserwartung, wie wir wissen, jedes Jahr um ein Vierteljahr steigt. Neue Lebensstile, Lebensformen und auch Handlungsfelder entstehen. Wünschen und Bedürfnissen der älteren Generation ist dann
mehr Rechnung zu tragen.
Aber auch die Jungen dürfen in diesem quantitativen
Ungleichgewicht nicht zu kurz kommen. Denn sie werden in einer alternden Gesellschaft zahlenmäßig unterlegen sein. Schon in der Rentenversicherung zeigt sich
dies deutlich. Während heute über den Generationenvertrag 27 Beitragszahlende zehn Rentner und Rentnerinnen finanzieren, werden es in 35 Jahren nur noch 13
Zahler und Zahlerinnen sein. Allein diese Zahl zeigt,
daß ein solidarisches Miteinander der Generationen und
eine Generationengerechtigkeit das zentrale Anliegen
der Politik sein müssen. Die alten Menschen sind dazu
doch auch bereit. Viele unterstützen schon jetzt ihre Enkelkinder. Hieran sollten wir anknüpfen.
Dabei finde ich es, ehrlich gesagt, sehr schäbig, wenn
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, versuchen, die alten Menschen zu verunsichern und zu ängstigen.
({3})
Die demographische Entwicklung stellt aber auch eine große Herausforderung hinsichtlich der angemessenen Versorgung älterer Menschen mit Wohnraum und
Pflegediensten dar. Die bestehenden Formen des altersgerechten Wohnens müssen weiter ausgebaut werden,
da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Frau Lenke. Das
Beispiel Dänemark ist ein Vorbild für uns. Ich begrüße
daher auch das Modellprojekt „Selbstbestimmt Wohnen
im Alter“, das Ministerin Bergmann auf den Weg gebracht hat.
({4})
Hannelore Rönsch ({5})
Dieses Vorhaben wird es uns erleichtern, eine Vielzahl
von individuellen Wohnformen und Pflegemöglichkeiten zu schaffen. Das Modell des klassischen Altenheims
muß endlich der Vergangenheit angehören. Alte Menschen wollen in ihrer gewohnten und angestammten
Nachbarschaft wohnen bleiben.
({6})
- Frau Präsidentin, ich kann hier sehr schlecht reden; es
ist sehr laut.
Es war schon lauter.
Aber Sie haben recht.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie zuzuhören
und die Gespräche zu unterlassen. Es ist auch unhöflich,
wenn insbesondere die Herren der Schöpfung der Kollegin nicht zuhören.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Danke schön.
Wenn ein Umzug notwendig wird, dann möchten diese alten Menschen in ihrer eigenen Häuslichkeit bleiben.
Hierzu bedarf es einer Reihe von Hilfen im Bereich der
Wohnraumberatung oder auch Wohnraumanpassung.
Aber wir benötigen auch neue Pflege- und Betreuungsformen für alte Menschen und Möglichkeiten des generationenübergreifenden Wohnens. Wohngruppen und
betreutes Wohnen gehören zu den zukunftsfähigen
Wohnprojekten. Der Umzug in eine stationäre Einrichtung der Altenhilfe sollte nur als Ultima ratio angesehen
werden.
Neue Wohnformen müssen künftig viel stärker gefördert werden, beispielsweise im Rahmen des sozialen
Wohnungsbaus. Damit ältere Menschen mit jüngeren eine Sozialwohnung beziehen können bzw. zwei Frauen
oder zwei Männer ihre Wohnberechtigungsscheine zusammenlegen können, um eine größere Sozialwohnung
zu erhalten, ist es notwendig, daß wir den konservativen
Ehe- und Familienbegriff endlich mit dem Restmüll entsorgen.
({0})
Es ist nicht einzusehen, warum nur Eheleute ein Anrecht
auf eine gemeinsame Sozialwohnung haben sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Wohngeldnovelle der rotgrünen Bundesregierung wird die
Leistungsfähigkeit des Wohngeldes noch in dieser Legislaturperiode insgesamt verbessert.
({1})
Damit werden zukünftig mehr bedürftige Rentnerinnen
und Rentner Wohngeld in ausreichendem Maße erhalten.
({2})
Aber auch in den Heimen muß sich eine Menge ändern. Dazu gehört, daß die meines Erachtens menschenunwürdigen Vorschriften in der Heimmindestbauverordnung geändert werden: 12 Quadratmeter pro Person,
das ist ein Skandal. Das kann so nicht bleiben.
({3})
Auch entsprechend qualifiziertes Personal ist dringend notwendig. Mit dem Vorhaben, eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung zu verankern, kommt
die Bundesregierung diesem Schritt ein ganzes Stück
näher.
Das gilt im übrigen auch für die Novellierung des
Heimgesetzes. Diese hat zum Ziel: eine bessere Zusammenarbeit zwischen Pflegekassen und Heimaufsicht,
eine bessere Heimüberwachung, auch durch unangemeldete Kontrollen - dann kann das, was in Bayern passiert
ist, nicht mehr passieren -, mehr Transparenz bei Entgelten und Leistungen des Heimes und eine verstärkte
Mitwirkung der Heimbewohner.
Durch die zunehmende Zahl alleinlebender Menschen
ohne Angehörige - das werden im Jahre 2030 13 Millionen sein - nimmt die Zahl derjenigen zu, die eine
Pflege außerhalb der Familie benötigen. Die Antwort
der Bundesregierung hat gezeigt, daß bis heute die
häusliche Pflege alter Menschen überwiegend von Frauen erbracht wird, von Lebenspartnerinnen, Töchtern
oder Schwiegertöchtern. Fast zu 80 Prozent werden die
in privaten Haushalten erbrachten Pflegeleistungen von
Frauen durchgeführt. Viele Frauen zwischen 50 und 65
Jahren erbringen diese Leistung nach dem sogenannten
Sandwichsystem. Das heißt, sie pflegen die Generation
vor ihnen und die Generation nach ihnen, die Eltern und
die Enkelkinder. Diese Doppel- und Dreifachbelastung
dürfen wir nicht länger auf den Schultern der Frauen
abladen. Hier brauchen sie unsere Unterstützung.
({4})
Durch die vermehrte Erwerbstätigkeit junger Frauen
kann künftig nicht mehr darauf vertraut werden, daß
Frauen weiterhin die ihnen zugewiesenen familiären
Pflichten in diesem Ausmaß erledigen. Pflegedienste
werden noch weit mehr zum Einsatz kommen müssen.
Deshalb müssen wir schon jetzt an einen Ausbau sozialer Dienste und professioneller Hilfen denken. Das wird
sich natürlich nicht ohne Auswirkung auf die Pflegeversicherung machen lassen. Von daher sind alle Forderungen der Opposition, der Pflegeversicherung die Rücklagen zu entnehmen oder deren Beitragssätze zu senken,
unseriös und werden von uns abgelehnt.
({5})
Nun zu einer weiteren Gruppe alter Menschen, die
unserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, zu den
Demenzkranken. Was die ganzheitliche Betreuung
demenzkranker Menschen betrifft, geht der Bedarf weit
über das hinaus, was im Rahmen der Pflegeversicherung
als Leistung gewährt wird.
({6})
Es wird unerläßlich sein, eine Nachbesserung der Pflegeversicherung in bezug auf die Einteilung der Pflegestufen sowie in bezug auf die Definition des Pflegebegriffes vorzunehmen.
({7})
Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung hat ein umfassendes Bild über die Situation
der alten Menschen in dieser Gesellschaft gezeichnet.
Dort, wo Handlungsbedarf ermittelt wurde, hat die Bundesregierung erste Maßnahmen eingeleitet, die in den
kommenden Monaten hier im Plenum beraten werden.
Trotzdem können wir uns nicht zufrieden zurücklehnen.
Denn die Verwirklichung einer Gesellschaft, die allen
Bevölkerungsgruppen und allen Generationen gerecht
wird, ist ein ständiger Auftrag für alle, auch für die Politik.
({8})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Ilja Seifert, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kurz bevor es zu Ende geht, führt der
Bundestag eine Debatte zum Jahr der Seniorinnen und
Senioren durch. Ich finde das wichtig und gut. Die Botschaft, die von dieser Debatte ausgehen sollte, ist, daß
Menschen in jedem Lebensalter aktiv an der Gesellschaft teilhaben können und, wenn sie dafür entsprechende Hilfe brauchen, diese von der Gesellschaft bekommen.
Leider muß ich sagen, daß es bei Kollegin Rönsch auf
den Zwischenruf hin, daß sie doch wisse, daß die Pflegeversicherung für demente Menschen überhaupt nicht
aufkomme, zu einer Entgleisung kam, die ich so nicht
stehenlassen kann. Sie hat gesagt, daß Menschen, die
nicht produktiv gewesen seien, in der DDR „entsorgt“
worden seien. Sie hat auch mehrfach gesagt, daß sie bei
dieser Aussage bleibe.
Die Mißstände, die sie angeprangert hat, habe ich
schon zu DDR-Zeiten kritisiert. Menschen wurden unfreiwillig in einem Zimmer untergebracht, zum Beispiel
junge behinderte und alte demente Menschen. Das war
nicht in Ordnung; das ist keine Frage. Aber von „Entsorgung“ zu sprechen, einen Begriff der Nazis zu benutzen, die Juden vergast und Menschen im Rahmen eines
Euthanasieprogramms getötet haben, ist diesem Hause
und der Sache, um die es ihr ging, in keiner Weise angemessen.
({0})
Lassen Sie mich zum eigentlichen Thema dieser Debatte zurückkommen. Die Menschen jeden Alters, vom
kleinsten Kind bis zur ältesten Seniorin, zum ältesten
Senior, haben das Recht, aktiv und inmitten der Gesellschaft leben zu können und am Leben der Gesellschaft
so teilzuhaben, wie sie es sich wünschen. Insofern spielen Seniorinnen und Senioren keine Sonderrolle. Sie haben nur eine andere Lebenserfahrung als Jüngere. Diese
Lebenserfahrung, dieser große Schatz, den einzubringen
sie bereit sind und um den anzunehmen wir uns regelrecht drängeln sollten, ist eine Chance für uns.
Ich habe kein Verständnis dafür, daß das öffentliche
Bild, zum Beispiel durch die Werbung, von einem Jugendkult geprägt ist, daß so getan wird, als sei es eine
Schande, alt zu sein.
({1})
Im Gegenteil: Sehen Sie sich doch einmal an, wie das
Leben wirklich ist! Enkel und Großeltern haben häufig
ein wesentlich besseres Verhältnis als Kinder und Eltern.
({2})
- Das ist seit Generationen so; ich nehme an, daß es
auch noch Generationen so sein wird. - Nutzen wir doch
die Chance der aktiven Teilhabe von Menschen im jungen und im hohen Alter am Leben unserer Gemeinschaft!
Ich hatte eigentlich nicht vor, über die strukturelle
Gewalt auch gegen Menschen im Alter zu reden. Aber
nach diesem Verlauf der Debatte muß ich es leider doch
tun. Es ist noch kein halbes Jahr her, seit in Bonn im
Rahmen der Aktion gegen Gewalt in der Pflege die Situation in den westlichen Altenheimen angeprangert
wurde; die Kollegin Schewe-Gerigk hat dies gerade angesprochen. Unter anderem in München werden Menschen mit „pflegeerleichternden Maßnahmen“ gepeinigt.
Wenn jemand nicht weiß, was das ist, will ich es erklären: Zum Beispiel werden ihnen Pampers angezogen,
damit sie nicht so oft auf die Toilette gebracht werden
müssen. Ihnen wird nicht genügend zu trinken gegeben,
so daß sie austrocknen. Dies ist in diesem Land passiert,
nicht in der untergegangenen DDR.
({3})
Wir müssen die strukturelle Gewalt in den großen
Einrichtungen verhindern. Wenn also in Alten- und
Pflegeeinrichtungen investiert werden soll, dann bitte in
kleine, überschaubare Einrichtungen, Einrichtungen mit
einem Regime, das in jeder Hinsicht transparent und offen ist sowohl für Besucherinnen und Besucher als auch
für die Bewohnerinnen und Bewohner, wo sie hinaus und hineinkönnen, wann immer sie wollen, wenn nötig,
auch mit Hilfe.
({4})
Die Situation älterer Menschen ist durch zwei Faktoren gekennzeichnet: Zum einen wird die Gesellschaft als
Ganzes im Durchschnitt älter - das ist statistisch nachweisbar -, zum anderen werden einzelne Menschen älter. Sie empfinden sich nicht als Teil des Durchschnitts,
sondern als Individuen. Diese Individuen finden im Alter vielfältige Möglichkeiten der aktiven Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben.
Hier ist schon mehrfach über das Ehrenamt gesprochen worden. Das ist eine sehr wichtige Form dieser
Teilhabe. Ich finde aber: Wir dürfen das Ehrenamt nicht
dazu verkommen lassen, daß Menschen die Arbeit umsonst leisten, die sich der Staat nicht mehr leisten will.
Wenn Ehrenamt, dann, bitte schön, soll dessen Wahrnehmung auch denjenigen älteren Menschen möglich
sein, die eine geringe Rente beziehen und die es sich
nicht leisten können, einen Teil ihres geringen Einkommens in die ehrenamtliche Arbeit zu stecken. Aufwandsentschädigungen, Telefonkosten, Reisekosten und
dergleichen mehr müssen angemessen bezahlt werden.
Ich finde, wir bräuchten ein Gesetz über das Ehrenamt,
das die Erstattung solcher Aufwendungen für Menschen
in hohem wie in niedrigem Alter regelt.
({5})
- Ich will das Ehrenamt nicht verstaatlichen. Ich will
denjenigen, die es ausüben, die Chance geben, das zu
tun, auch wenn sie nicht so reich sind wie die meisten
Klienten der F.D.P.
({6})
- Ich denke, ihr wollt das so. Aber das ist jetzt nicht das
Thema.
({7})
- Eben, aber ihr habt doch dazwischengerufen.
Geben Sie den älteren und auch den jüngeren Menschen, die nicht im Besitz eines Arbeitsplatzes sind, die
Chance zur aktiven Teilhabe am Leben der Gemeinschaft, damit die Gesellschaft als Ganzes davon profitieren kann. Unter „profitieren“ verstehe ich nicht, daß
man mehr Geld verdient, sondern reicher wird an Kultur, an Lebenserfahrung, an Miteinander menschlicher
Art, ohne daß man Generationen oder Geschlechter gegeneinander ausspielt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,
daß wir bei der Diskussion wirklich zu einer sachlichen
Auseinandersetzung kommen oder dabei bleiben, wo
immer es geht.
({8})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Arne Fuhrmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Auch wenn sich mein Vorredner schon darauf eingelassen hat, möchte ich sagen: Frau Rönsch, in
der damaligen DDR wurden Kadaver entsorgt, wurde
Müll entsorgt, und es wurde sicherlich hin und wieder
auch Schrott entsorgt, wobei man damit teilweise behutsam umgegangen ist. Aber auch unter grundsätzlich anderen Voraussetzungen, als sie bei uns teilweise geherrscht haben mögen, sind alte Menschen in Heimen
gepflegt und betreut und teilweise liebevoll behandelt
worden.
({0})
Den Begriff ({1})
- Sie sind nicht dran; Sie haben 109 dusselige Fragen
gestellt, und jetzt sind Sie nicht dran ({2})
der Entsorgung im Zusammenhang mit alten Menschen,
egal, wo immer sie leben, weise ich im Namen meiner
Fraktion mit aller Entschiedenheit zurück.
({3})
Nun kommen wir zum Kern der Sache; denn das war
eigentlich so überflüssig wie ein Kropf.
({4})
- Wenn Sie so weitermachen, springt Ihren Kollegen der
Draht aus der Mütze, weil Sie nicht recht haben, Frau
Rönsch.
({5})
Es ist erstaunlich: Sie sitzen hier im Parlament in Ihrer
Fraktion und schwafeln dummes Zeug und haben dennoch nicht recht.
({6})
Herr Kollege Fuhrmann, - Arne Fuhrmann ({0}): Wollen Sie den Begriff der
Entsorgung alter Menschen anders bezeichnen als dummes Zeug? Wenn ich es anders bezeichnen würde, würde ich möglicherweise noch darauf eingehen wollen.
({1})
Herr Kollege Fuhrmann, ich muß Sie unterbrechen. Ich möchte darauf
hinweisen, daß es verschiedene Formen des unparlaDr. Ilja Seifert
mentarischen Verhaltens gibt. In einer oder in zwei Minuten die Ausdrücke „Geschwafel“, „dummes Zeug“
und ähnliche zu verwenden ist parlamentarisch nicht
üblich.
({0})
Bitte fahren Sie fort.
Dafür, daß ich mich unparlamentarisch benommen habe, bitte ich diejenigen, die
sich in diesem Hause als Parlamentarier bezeichnen, um
Entschuldigung. Ich glaube allerdings nicht, daß sich im
Protokoll an dem, was ich gesagt habe, vom Inhalt her
an irgendeiner Stelle etwas ändern wird.
({0})
Herr Kollege Fuhrmann, ich bitte Sie, nicht in eine Diskussion mit dem
Präsidenten einzutreten, sonst muß ich Sie zur Ordnung
rufen.
Acht Jahre lang hat die
CDU/CSU-Fraktion unter Frau Rönsch und danach unter Frau Nolte geglaubt, sie seien die Heilsbringer in der
Seniorenpolitik in diesem Land.
({0})
Kaum haben Sie die Macht in diesem Land verloren,
setzen Sie sich hin und machen einen Fragenkatalog mit
109 Fragen. Nachdem ich allerdings Frau Rönsch gehört
habe, ist es so, daß diese 109 Fragen völlig überflüssig
waren, denn Sie beantworten eigentlich alles in eigener
Vollkommenheit.
Das Entscheidende dabei und das, was mir zu denken
gibt, ist, daß Sie zwar sagen, Rentner und alte Menschen
in der Bundesrepublik leben selbstbestimmt. Aber, Frau
Rönsch, Sie werden es nicht glauben: Die Herrschaften,
die sich zu den Seniorinnen und Senioren rechnen, denken auch selbstbestimmt. Daher bin ich mir absolut sicher,
({1})
daß die Antworten auf den Katalog der Fragen, den Sie
eingereicht haben und den meine Kollegin bereits als
„Aufgabenstellung für die neue Regierung“ tituliert hat,
zum Nachschlagewerk für all diejenigen werden, die
sich ernsthaft mit der Altenpolitik in dieser Republik
auseinandersetzen.
Ich habe allerdings bei der Durchsicht der einzelnen
Fragen an der einen oder anderen Stelle schon so etwas
wie das kalte Grausen bekommen. Beispiel: Sie fragen,
wie sich zum Beispiel das Rentenalter, aufgelistet nach
Frauen und Männern, bei den Regelaltersrenten und den
vorzeitigen Altersrenten in der gesetzlichen Rentenversicherung und das Pensionsalter in der Beamtenversorgung seit 1975 entwickelt haben. Das fragen Sie heute.
Sie haben vor einem Jahr unter Hinzuziehung des
demographischen Faktors eine Rentenreform vorgeschlagen, und jeder, der daran beteiligt war, hätte diese
Frage eigentlich aus dem Effeff beantworten können
müssen. Sonst hätte er sich an Ihrer Reform nicht beteiligen dürfen.
({2})
Das zweite, was mir an Ihren Fragen auffällt, ist: Ich
weiß nicht, wie Sie in Ihrem Reformvorschlag - offensichtlich unbesehen - dazu kommen, das Rentenniveau
auf 64 Prozent abzusenken. Sie stellen nämlich die Frage, wie sich die Höhe der durchschnittlichen Altersrenten der gesetzlichen Rentenversicherung bzw. die Höhe
der Beamtenpensionen seit 1975, differenziert nach
Männern und Frauen in den alten und neuen Bundesländern, entwickelt hat.
({3})
Um Himmels willen: Wie konnten Sie dann, wenn Sie
das nicht wußten, einer Reform zustimmen, bei der Sie
unbesehen das Rentenniveau auf 64 Prozent absenken
wollten?
({4})
Hier drängt sich wirklich die Frage auf, unter welchem
Aspekt Sie diese 109 Fragen eigentlich zusammengeschrieben haben.
Bei einem Teil der Fragen gerieren Sie sich so, als
hätten Sie acht Jahre lang das Ehrenamt gepachtet gehabt, obwohl seit acht Jahren ein Ministerium besteht, in
dem - nicht ausschließlich, aber auch - die Zuständigkeit für die ältere Bevölkerung eine Rolle spielt. Sie
stellen Fragen, aus denen ganz deutlich hervorgeht, daß
bei Ihnen acht Jahre lang das Ehrenamt gerade in dieser
Altersgruppe offensichtlich vor sich hingedümpelt ist.
Anders kann ich mich zu diesen Fragen gar nicht äußern.
({5})
In Frage 28 haben Sie beispielsweise Ihr totales Unwissen über die Rundfunkräte und deren Zusammensetzung dokumentiert.
({6})
Sie fragen die Bundesregierung, ob sie auf die Rundfunkanstalten dahingehend einwirken wolle, Seniorenräte und Seniorenbeiräte in die Rundfunkräte aufzunehmen. Ich frage mich hier: Wo, bitte schön, ist Ihr Staatsverständnis? Es gibt Gesetze und Staatsverträge, die das
regeln, allerdings auf Landesebene.
({7})
Vizepräsident Rudolf Seiters
Warum haben Sie die vier Jahre, in denen Sie, Frau
Rönsch, tätig waren, nicht genutzt, um in diesem Bereich
eine Zusammenarbeit mit den Ländern zu erreichen?
({8})
Sie haben die Fragen zu einem Zeitpunkt gestellt, als
es die Regierung Schröder/Fischer ein halbes Jahr gab.
({9})
Innerhalb eines halben Jahres sollen dann meine Staatssekretärin und meine Ministerin alles das auf die Reihe
bekommen, was Sie im Laufe von vielen Jahren nicht geschafft haben. Obwohl ich überzeugt davon bin, daß sie
viel können und vieles besser können, muß ich sagen: Ich
gebe ihnen ein bißchen Zeit, damit sie sich mit solchen
Dingen auseinandersetzen können. Es gibt nämlich etwas,
das noch wichtiger als die Rundfunkbeiräte ist.
({10})
Die Frage 32 bezieht sich auf die Hochschulpolitik.
Sie fragen, ob es von seiten des Bundes Möglichkeiten
gibt, Einfluß im Hinblick auf das Seniorenstudium zu
nehmen. Dazu kann ich auch wiederum nur sagen: Wer,
bitte, hat die Kulturhoheit? Natürlich kann der Bund
daran mitwirken, daß sich die Universitäten möglicherweise noch mehr öffnen, als sie es bisher tun. Aber darüber haben die Länder zu entscheiden,
({11})
und das hat mit den Studiengängen und mit den einzelnen Studienorten mittel- und unmittelbar etwas zu tun.
Frau Schewe-Gerigk hat schon gesagt: Wenn man
sich mit den Fragen beschäftigt, hat man den Eindruck,
als sei das eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für diese
Regierung gewesen.
({12})
Auch ich unterstelle das. Es ist das gute Recht einer Opposition, der Regierung Arbeit zu verschaffen. Nur, Sie
haben einen Fehler gemacht: Sie haben die Entwicklungsschwierigkeiten, die Fehler und die Nachlässigkeiten, die Sie in 16 Jahren zu verantworten hatten, in
einen Fragenkatalog gekleidet, an dem sich möglicherweise - man kann es so interpretieren - die Unfähigkeit
der derzeitigen Regierung erweisen sollte, weil sie nicht
in der Lage sei, Ihnen das vernünftig zu beantworten.
({13})
Natürlich können sie das. Im Gegensatz zu den Verfassern dieser Fragen haben sich nämlich die Regierungsmitglieder auch mit den zwei Zwischenberichten der
Enquete-Kommission auseinandergesetzt, in denen im
Prinzip - auch darauf ist Frau Schewe-Gerigk eingegangen - jede Ihrer Fragen differenziert und gut beantwortet
wurde. Die Regierung hat das also gemacht, und sie hat
darüber hinaus noch etwas getan: Sie hat einen exzellenten Katalog von möglichen Schritten und Handlungen aufgestellt, die in der nächsten Zeit mit dieser Regierung und von dieser Regierung in Angriff genommen
werden.
({14})
- Ich denke, die Fehler, die Sie 16 Jahre lang gemacht
haben, können Sie dieser Regierung an der Stelle zumindest nicht anlasten. In anderen Bereichen versuchen
Sie es ja immer wieder.
({15})
Ich komme zum Schluß - mir fehlen ja zwei Minuten,
deshalb muß ich das alles ein bißchen abkürzen -: Sie
haben viel Wind gemacht.
({16})
Aber Sie haben trotz des Windes eine gute Ernte eingefahren, weil die Antworten der Regierung als exzellent
zu bewerten sind.
({17})
Dies sehe nicht nur ich so; das sehen auch diejenigen so,
die sich in der Wissenschaft damit auseinandersetzen.
Ich bedanke mich bei der Regierung für die Arbeit, die
sie da getan hat.
({18})
Ich kann Ihnen als der Opposition nur wärmstens
empfehlen - dies tue ich noch einmal mit allem Nachdruck -:
({19})
Ich bin dafür - bei allen Diskussionen und allen Debatten, die wir in der Zukunft in diesem Hohen Hause führen; aus diesem Grunde bitte ich, meine aufgeregten ersten zwei Minuten richtig zu werten und zu verstehen -,
die Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich bin dafür, Futter
bei die Fische zu geben, wenn es darum geht,
({20})
auch in bezug auf die ehemalige DDR die Dinge tatsächlich aufzuklären, die es aufzuklären gilt. Aber in unserem Sprachschatz sollten wir uns nicht auf ein Niveau
begeben, das wir Jahrzehnte - weil es diese DDR gab
und weil es ein Naziregime gab - bekämpft und das wir
aus unseren Köpfen verbannt haben.
In diesem Sinne danke ich Ihnen.
({21})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Gerald Weiß, GroßGerau.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Fuhrmann, die, wie Sie gesagt haben, aufgeregten ersten
zwei Minuten sehen wir Ihnen nach. Aber daß Sie dann
außer Beleidigungen und Platitüden in den übrigen acht
Minuten nur geredet und nichts gesagt haben, das nehmen wir Ihnen schon ein bißchen übel.
({0})
Sie haben zum Beispiel von den „dusseligen“ 109
Fragen der CDU/CSU-Fraktion gesprochen. Die Antworten auf diese 109 „dusseligen“ Fragen hat „Ihre“
Staatssekretärin - Sie haben hier gesagt: „meine Staatssekretärin“, besitzanzeigendes Fürwort - als ein „umfassendes Bild der Lebenssituation älterer Mitbürgerinnen
und Mitbürger“ dargestellt. Dann haben sich die Fragen
doch eigentlich schon gelohnt.
Allerdings muß dann das „umfassende Bild“, das
auch Frau Schewe-Gerigk - momentan ins Gespräch
vertieft - bestätigt hat, auch zu politischen Folgerungen
führen. Nach einem Jahr der Existenz der neuen Bundesregierung darf man schon fragen, ob das zu politischen
Folgerungen geführt hat. Da fällt die Bilanz ziemlich
dünn aus,
({1})
wenn man sich hier nur mit Modellvorhaben der Frau
Rönsch und der Frau Nolte schmücken kann und nichts
Eigenes auf den Weg gebracht hat.
({2})
Frau Staatssekretärin, Sie sprechen von einem „umfassenden Bild der Lebenssituation der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger“. Noch entlarvender ist es dann,
daß Sie in Ihrer Stellungnahme hier kein Wort zum zentralen Feld der Zukunft unserer Alten geäußert haben.
Ich meine die Frage nach der Alterssicherung - Frau
Rönsch hat sie hier in die Debatte gebracht -, die Frage
nach der Rente. Dazu haben Sie kein Wort gesagt.
Wenn man sich das vergegenwärtigt - auch den Tatbestand, daß Sie und nicht die Ministerin heute gekommen sind -, kann man sehr schnell darauf schließen,
wie es um die Anwaltsfunktion dieser Ministerin und
ihrer Staatssekretärin in Sachen Rentenpolitik, um die
Anwaltsfunktion für die älteren Mitbürgerinnen und
Mitbürger bestellt ist; ich glaube: sehr traurig.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Politik ist
nicht dazu da, Lebenspläne zu verordnen. Aber dafür,
daß die Lebenspläne älterer Menschen und ihre Bedürfnisse eine Chance haben, können Politik und Staat sehr
viel tun. Politik und Staat können aber auch sehr viel
verderben. Was die rotgrüne Politik in einem einzigen
Jahr verdorben hat, ist, für sich gesehen, schon wieder
eine Leistung.
({4})
Das gilt insbesondere für die Rentenpolitik.
Ganz besonders wichtig ist die Alterssicherung. In
diesem Bereich haben Sie nach einem Jahr einen beabsichtigten manipulativen Eingriff in die Rentensystematik vorzuweisen, wie wir ihn noch nicht erlebt haben.
({5})
Das verunsichert die Seniorinnen und Senioren nicht
nur, sondern schadet ihnen auch massiv.
Jetzt klage ich noch einmal die Anwaltsfunktion ein:
Wo war denn die Stimme der Familienministerin oder
ihrer Vertreterin zu hören, als sich dieser unglaubliche
Eingriff anbahnte?
({6})
Rente ist doch keine Sozialleistung. Sie ist eine Sozialversicherungsleistung. Das ist etwas ganz anderes.
({7})
Rente ist doch kein gnadenvoller Gewährungsakt der
Politik. Rente ist ein verbriefter Anspruch, gedeckt
durch Leistung und Beitrag.
({8})
Es wäre so schön gewesen, wenn Sie dazu Stellung genommen hätten.
Man kann doch die Lohndymanik - das ist die Basis
unseres Rentensystems seit der großen Reform von 1957
gewesen -, die Lohnbezogenheit in der Rentenanpassung, nicht wie einen Fernsehapparat beliebig abschalten, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wer dennoch so handelt, verletzt den Generationenvertrag. Diese
Wertung können wir Ihnen nicht ersparen.
({9})
Herr Fuhrmann, Sie haben ins Feld geführt, daß die
CDU/CSU auf dem Feld der Rentenpolitik viele Reformen gemacht hat und auch viele schwierige Reformen
machen mußte. Ganz besonders eine haben Sie diffamiert - und damit den Konsens in der Rentenpolitik aufgekündigt -, die Einführung des demographischen
Faktors in der Rente. Höhere Lebenserwartung, längerer Rentenbezug, mehr Rente - das ist ja alles erfreulich,
aber die daraus erwachsenden Lasten kann man doch
nicht einfach Betrieben und Beitragszahlern auferlegen.
Wenn man das hätte laufen lassen, wäre der Rentenversicherungsbeitrag auf 26 bis 28 Prozent gestiegen.
({10})
- Unser demographischer Faktor ist auf Grund Ihres
verleumderischen Wahlkampfes als Rentenkürzung angekommen. Das hat uns schon zu schaffen gemacht.
Dennoch war unsere Politik richtig.
({11})
Ältere Menschen haben sehr wohl ein Gespür für Gerechtigkeit, auch für Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Wenn man die Chance gehabt hätte, ihnen
klarzumachen, daß die Berücksichtigung der Lebenserwartung in der Rentenformel bedeutet, daß die Rentner
an der Last durch das Mehr an Rente beteiligt werden
müssen, damit die Jungen und die Betriebe nicht alles
alleine schultern müssen, und daß die Minderung der
Rentenanpassung - keine Rentenkürzung - um den sogenannten demographischen Faktor über eine lange
Zeitspanne hinweg Verläßlichkeit und Sicherheit in der
Rente bedeutet hätte, dann hätten sie das sehr wohl akzeptiert. Da bin ich mir ganz sicher.
({12})
Heute muten Sie den Rentnerinnen und Rentnern diesen unglaublichen manipulativen Akt der Kopplung der
Rentenanpassung an die Inflationsrate zu, und zwar in
einem Moment, wo sie von der Lohnkopplung hätten
profitieren können. Es ist wahr: Die Rentenanpassung
war vorher - dies ist der Generationenvertrag - nicht
sehr hoch, einfach deshalb, weil - gute Zeiten, schlechte
Zeiten - auch die Löhne nicht sehr stark gestiegen sind.
Aber jetzt, wo die Menschen qua Lohnkopplung höhere
Renten hätten bekommen können, schaffen Sie das ab.
Das ist der Vertrauensbruch gegenüber der älteren Generation, den Sie zu verantworten haben.
({13})
Respektvoller mit diesen Rentenansprüchen umzugehen,
das ist das, was wir einfordern. Frau Staatssekretärin, es
wäre ganz nett gewesen, wenn Sie zu dieser zentralen
Frage der Seniorenpolitik hier etwas gesagt hätten.
Jetzt kommt die Frage, wie es eigentlich weitergeht.
Nach einem Jahr kann man durchaus einmal fragen:
Was ist Ihr Konzept? - Nichts! Ständig werden neue Reformtrümmer in die Landschaft gesprengt. Reformirrlichter geistern durch die politische Szene. Eine Sau
nach der anderen wird durch das Dorf getrieben, und
keiner weiß, wohin es wirklich geht. Das ist doch skandalös, meine sehr verehrten Damen und Herren, was Sie
hier in der Rentenpolitik machen!
({14})
Leistungsgerechtigkeit in der Rente - das ist in der
Debatte bereits angesprochen worden. Auf einem Sektor
sind wir diesbezüglich noch sehr entwicklungsbedürftig:
Es ist ein Skandal, daß diejenigen, die wegen Kindererziehung aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, nachher ein geringeres Durchschnittsalterseinkommen haben
als diejenigen, bei denen das nicht der Fall war.
({15})
- Die CDU hat doch mit der Anrechnung der Erziehungsjahre auf die Rente angefangen. In Ihrer Regierungszeit - unter Schmidt und vorher Brandt - ist doch
auf dem Sektor gar nichts passiert. Das haben wir doch
erst in den 80er Jahren angestoßen.
({16})
Dies ist eine perverse Korrelation: Diejenigen, die
Kinder großgezogen haben, haben ein geringeres Alterseinkommen. Wir reden hier ja über Perspektiven.
Das macht Sie nervös, wenn von Folgerungen und Perspektiven die Rede ist.
({17})
Dennoch müssen wir an diesen Punkt herangehen.
Wir müssen auch an folgenden Punkt herangehen: Es
ist ein Erfolgsbeweis unserer Rente, daß die Sozialhilfeabhängigkeit der Rentenbezieher so gering ist. Aber sie
ist in einzelnen Teilen der Bevölkerung - bei Ausländerinnen und Ausländern - hoch. Auch das muß man angehen.
Jetzt sind die Zahlen ganz gut aufbereitet worden.
Das ist etwas. Aber die Regierung hat keine Antwort auf
die Frage gegeben, wie es weitergehen soll. Auf dem
Weg Ihrer Rentenpolitik liegen bislang nur Trümmer.
Daß das eine miserable Bilanz ist, müssen wir Ihnen leider bescheinigen.
Danke.
({18})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Kurt Bodewig, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe als Parlamentsneuling hier eben
gelernt, daß „Geschwafel“ unparlamentarisch ist, aber
„Entsorgung“ von Menschen nicht. Dies war eine Urerfahrung.
Herr Kollege Bodewig, ich möchte Sie unterbrechen. Ich rufe Sie zur
Ordnung,
({0})
weil Ihre Äußerungen eine eindeutige Kritik an der Sitzungsleitung des amtierenden Präsidenten darstellen. Ich
bin mir absolut sicher, daß dies im gesamten Präsidium
so gesehen wird.
({1})
Bitte fahren Sie fort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich nicht irritieren lassen. Ich befasse
mich jetzt mit der Großen Anfrage der CDU/CSU und
der Antwort der Bundesregierung darauf. Man ist geneigt, den Fragestellern erst einmal ein Fleißkärtchen zu
geben. Eine Unzahl von Fragen wurde gestellt, wichtige
und unwichtige. Der Kollege Fuhrmann hat dies schon
beschrieben. Doch mir stellt sich eine andere Frage: Auf
welcher Basis haben Sie von den Oppositionsparteien in
der Vergangenheit eigentlich Politik gemacht? Sie waren 16 Jahre in der Regierung. Aber erst jetzt werden
Gerald Weiß ({0})
Basisdaten erhoben, die schon vorher hätten ermittelt
werden müssen. Dies ist aber nicht verwunderlich; denn
die Bemerkung von Frau Rönsch auf die Zwischenfrage
hat sehr deutlich gemacht, daß es mit der Kenntnis der
Materie nicht weit her ist. Frau Rönsch, ich möchte Sie
nur beruhigen: Die Pflegeversicherung existiert nicht
seit acht Jahren, sondern erst seit 1995. Aber auch Sie
als ehemalige Familienministerin können noch dazulernen. Es ist nur konsequent, sich zumindest in der Oppositionszeit fitzumachen. Dieses Recht möchte ich Ihnen
nicht nehmen.
Die Fakten sind interessant. Ein zentrale Aussage in
der Antwort der Bundesregierung ist, daß Altersarmut
nicht mehr das Armutsrisiko in unserer Gesellschaft ist.
Dies ist eine gute Entwicklung. Hieran ist erfreulicherweise gearbeitet worden. Aber ich möchte hinzufügen,
daß jetzt die Anzahl der Kinder eher zu einem Armutsrisiko wird. Wir haben mit der Kindergelderhöhung und
mit den Kinderbetreuungsfreibeträgen wichtige Schritte
gemacht. Auch im Rahmen des Rentensystems werden
Kindererziehungszeiten bewertet. Dies ist der richtige
Weg.
({1})
Sie haben die Frage gestellt, wie hoch die Einkünfte
im Alter sein werden. Darauf antworte ich Ihnen: Das
Bruttoeinkommen der Menschen ab 60 Jahren beträgt
nach der Antwort der Bundesregierung 4 160 DM. Davon stammen etwa 63 Prozent aus der gesetzlichen
Rentenversicherung oder aus gleichgelagerten Systemen. Aber um diese Zahl geht es eigentlich nicht; vielmehr geht es darum, daß die Renten von Männern und
Frauen immer noch über 1 000 DM auseinanderliegen.
Deswegen ist die Grundsicherung - Ihre Frage, Herr
Weiß, zielte auf die Perspektiven ab; ich kann Sie beruhigen, wir haben Perspektiven - ein ganz wichtiges
Element in unserem Rentenkonzept. Sie liegt gerade im
Interesse der Seniorinnen und Senioren.
({2})
Aus der Antwort der Bundesregierung auf Frage 15
wird deutlich, daß ein Teil der alten Menschen trotz Anspruchs aus Angst vor Stigmatisierung in der Gesellschaft, aus Angst davor, daß die Kinder in Regreß genommen werden könnten, und aus Scham keine Sozialhilfe bezieht. Mit unserem Rentenkonzept wollen wir sicherstellen, daß alte Menschen in Zukunft nicht mehr
gezwungen sind, trotz Rente ergänzende Sozialhilfe zu
beziehen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt für alte
Menschen.
({3})
Nun möchte ich auf die Debatte über die Aussetzung
des demographischen Faktors eingehen. Lassen Sie mich
etwas ganz deutlich sagen, was schon in vielen Debatten
gesagt worden ist: Der demographische Faktor bedeutet nichts anderes als die systematische Abkopplung
der Renten von der Nettolohnentwicklung, und zwar unabhängig vom Inflationsausgleich. Sie hätten per Gesetz
das Rentenniveau auf 64 Prozent des Nettoeinkommens
begrenzt.
({4})
- Keine Angst, darauf komme ich gleich zurück. Ich
werde dem nicht aus dem Weg gehen.
Es gibt noch einen weiteren Punkt. Sie haben in der
Vergangenheit die Leistungen systematisch gekürzt.
Dies hat dazu geführt, daß die Renten gesunken sind.
({5})
Für junge Menschen macht sich die Reduzierung der anerkannten Ausbildungszeiten von sieben auf drei Jahre
deutlicher bemerkbar als die Tatsache, daß die Renten
nicht mehr an die Entwicklung der Nettolöhne gekoppelt
sind. Wir wollen etwas anderes.
({6})
Wir bitten die Rentner, für zwei Jahre auf eine Kopplung der Renten an das Nettolohnniveau zu verzichten.
Die Rentner erhalten einen Ausgleich in Höhe der Inflationsrate. Damit wird das gegenwärtige Rentenniveau
beibehalten. Es gibt keine Kürzung. Damit erhalten die
Rentner etwas, was es in den letzten zehn Jahren nicht
gegeben hat, nämlich einen Ausgleich in Höhe der Inflationsrate.
({7})
Herr Kollege Bodewig, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Reinhardt?
Ich lasse die Zwischenfrage
gerne zu.
({0})
- Das ist üblich.
Herr Kollege, stimmen Sie mir zu,
({0})
daß Ihre auf zwei Jahre angelegte Abkopplung von der
Nettolohnentwicklung das Rentenniveau auf 65 Prozent
absenkt, während bei der CDU/CSU der demographische Faktor innerhalb von 16 Jahren zu einer Absenkung
auf 64 Prozent geführt hätte?
Ich kann Ihnen leider nicht
zustimmen, weil Ihre Berechnung hinsichtlich der
16 Jahre durch die aktuellen Zahlen längst überholt ist.
Zum zweiten stimmen auch die 65 Prozent, die Sie unterstellen, nicht. Wir kommen geringfügig unter
67 Prozent und werden dauerhaft ein Niveau von
67 Prozent erreichen.
({0})
Dies werden wir erreichen, weil unser Konzept drei
Elemente hat. Erstens stabilisieren wir die Renten dadurch, daß wir in diesen beiden Jahren ein Fundament
für die Zukunft schaffen. Zweitens finanzieren wir mit
der Ökosteuer
({1})
sowohl die Beitragssätze als auch bestimmte Aufgaben
in der Rente; eine davon habe ich eben schon angesprochen. Drittens streben wir eine Eigenvorsorge an.
Ich verstehe die Aufgeregtheit bei Ihnen nicht. Am
Dienstag habe ich gemeinsam mit Herrn Glos und Herrn
Westerwelle eine Podiumsdiskussion bestritten, auf der
diese beiden Herren ein Modell bejubelt haben, das dazu
führen würde, daß das Nettorentenniveau auf 52 Prozent
absinkt und dann erst durch den Kapitalstock strukturell
wieder aufgebaut wird. Daran sieht man die Doppelbödigkeit Ihrer Argumentation.
({2})
Ich sage das so deutlich, weil ich glaube, daß die Rente
auf Vertrauen basieren muß. Dieses Vertrauen erhalten
wir, und wir zeigen ein Konzept auf, das sich umsetzen
läßt und eine dauerhafte Perspektive beschreibt.
({3})
- Sie brauchen es ja nicht zu glauben, Frau Lenke. Im
übrigen ist das keine Frage des Glaubens, sondern von
Fakten, die Sie nachlesen können.
Das Thema Generationenbilanz ist nach meiner
Meinung zweifellos sehr wichtig. Die von Ihnen vorgeschlagene Methode des „generational account“ ist dagegen höchst manipulierbar und hat in den Ländern, in denen dieses Thema systematisch angegangen worden ist,
den Begriff der Generationenbilanz diskreditiert. Es wäre besser, wenn wir unsere Wertschätzung für die Lebensleistung älterer Menschen in diesem Hause dadurch
bezeugten, daß wir alle gemeinsam an einem Rentensystem arbeiteten, das zukunftssicher ist und das nicht von
Mythen, sondern von Fakten bestimmt ist.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Situation der Seniorinnen und Senioren diskutieren
wir vor dem Hintergrund - das hat die Antwort auf die
Große Anfrage gezeigt - einer relativ wohlhabenden
Rentnergeneration. Das gilt für den Durchschnitt im
Westen, aber auch im Osten. In Ostdeutschland haben
Rentnerinnen und Rentner vor allem dann, wenn sie
nicht allein leben, eine verhältnismäßig gute soziale Absicherung. Das entspricht der Lebensleistung dieser Generation, die beide Teile dieses Landes entsprechend den
jeweiligen Rahmenbedingungen aufgebaut hat. Dennoch
lassen Sie mich auf drei Dinge hinweisen, die von dieser
allgemeinen Bemerkung nicht abgedeckt sind.
Erstens. Herr Bodewig hat gerade darüber gesprochen, daß es nach wie vor Altersarmut gibt. Besonders
dramatisch ist dabei die verschämte Altersarmut. An
dieser Stelle kann ich die Arroganz, die Sie heute hier
zum Ausdruck gebracht haben, nicht verstehen.
({0})
Gerade in der Vergangenheit war dies auch zahlenmäßig
ein riesiges Problem. Eine unbekannt große Zahl von
Menschen hat sich in Ihrer Regierungszeit geschämt,
auch nur das in Anspruch zu nehmen, was ihr zusteht.
Das hat sicherlich zwei Gründe: Der eine waren die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die wir ändern. Ich
denke da etwa an die Unterhaltsverpflichtungen von
Kindern gegenüber ihren Eltern. Der andere war Ihr Gerede von der „sozialen Hängematte“, mit dem Sie auch
die armen Alten gemeint haben müssen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
müssen sich daher fragen lassen, inwieweit Sie zu einer
Verschärfung der Altersarmut beigetragen haben, indem
Sie Menschen als würdelos abgestempelt haben. Das
war alles andere als verantwortungsvoll und hat nichts
mit dem zu tun, wovon Sie uns heute hier glauben machen wollen, daß Sie es in Ihrer Regierungszeit getan
hätten.
({1})
Wir machen damit Schluß. Mit einer bedarfsorientierten
Mindestabsicherung - pauschal ausgezahlt, nicht vom
Sozialamt und ohne Anrechnung einer Unterhaltsverpflichtung von Kindern gegenüber ihren Eltern - geben
wir den Menschen ihre Würde zurück. Das haben Sie
nicht geschafft. Wir tun es.
({2})
Zweitens. Wir wissen - auch das bestätigt die Antwort auf die Große Anfrage - um die demographische
Entwicklung. Da will ich auf einiges eingehen, was hier
gesagt worden ist. Sie behaupten, daß es ein Riesenskandal sei, daß diese Regierung die Rentenanpassung
mit der Kaufkraft Schritt halten läßt.
({3})
Das haben Sie in den vergangenen Jahren nicht einmal
geschafft. Sie sollten einmal in aller Ehrlichkeit eingestehen, daß auch Ihr demographischer Faktor nichts anderes getan hat; auch er hat einerseits Lohnbezogenheit
gewährleistet, soweit es eben ging, und andererseits mit
der Einbeziehung der demographischen Entwicklung eiKurt Bodewig
ne Abkopplung von genau dieser Nettolohnbezogenheit
bewirkt.
({4})
Wir brauchen - ich glaube, darauf hat diese Gesellschaft einen Anspruch - eine Antwort auf die doppelte
Frage nach Gerechtigkeit, nämlich zum einen nach Gerechtigkeit innerhalb einer Rentnergeneration - gerade
für diejenigen, die Kinder großgezogen haben und durch
unstete Erwerbsbiographien keine vernünftige eigenständige Altersabsicherung aufbauen konnten -, aber
zum anderen auch nach Gerechtigkeit zwischen Alt und
Jung. Wir wissen - und das wissen auch Sie -, daß die
Bereitschaft gerade der älteren Generation dazu ziemlich
groß ist. Deswegen wollen wir einerseits eine Stabilisierung der Beiträge, andererseits aber auch eine klare Option für die heute Jüngeren auf eine adäquate, ihrer Lebensleistung entsprechende Altersversorgung. Deswegen nimmt diese Regierung dieses Problem, das Sie seit
Jahren vertuscht und verschoben haben, endlich ernst.
Inzwischen haben es sogar einige von Ihnen eingesehen.
Wenn man Herrn Storm oder Herrn Wulff hört, hat man
den Eindruck: Es bewegt sich tatsächlich auch etwas,
auf der rechten Seite dieses Hauses.
({5})
Bündnis 90/Die Grünen sind der Meinung, daß diese
Langfristoption gewährleistet werden kann, wenn man
neben der Lohnbezogenheit der Rente einen Generationenfaktor einführt, der einerseits die steigende Lebenserwartung und andererseits die geringere Geburtenrate
abbildet.
({6})
Das bedeutet keine Abkopplung von der Lohnentwicklung, sondern eine zusätzliche Komponente, die die
Demographieentwicklung ernst nimmt.
({7})
Dafür stehen wir.
({8})
Wir brauchen darüber hinaus dringend eine eigenständige Absicherung von Frauen im Alter und eine
Besserstellung derjenigen, die Kinder erzogen haben.
Wir stellen also nicht, wie es in der Vergangenheit gewesen ist, einzig und allein darauf ab, ob jemand verheiratet gewesen ist oder nicht.
Lassen Sie mich noch ein Drittes sagen - ich glaube,
auch das gehört in diese Debatte -: Angesichts der neuen Situation - gestiegene Lebenserwartung und ein größerer Anteil von Seniorinnen und Senioren an der Bevölkerung - ist es zwingend notwendig, darüber zu reden, wie die gesundheitliche Versorgung abgesichert
und zukunftsfest gemacht werden kann. Was Sie uns dazu in der letzten Woche angeboten haben, wird dem in
keiner Hinsicht gerecht. Sie tun so, als ob Sie mit einer
neuen Zuzahlungswelle die Krankenversicherung zukunftsfähig machen könnten. Tatsächlich verursachen
Sie damit neue Verunsicherung. Tatsächlich ist das die
klare Option auf eine Zweiklassenmedizin.
({9})
Das werden Sie mit uns nicht machen können. Ihre Vorschläge waren ziemlich platt und hatten wenig Inhalt.
Sie haben auf Maßnahmen hingewiesen, wegen denen
Sie abgewählt worden sind.
Meine Damen und Herren, diese Regierung hat den
Gestaltungsauftrag, dafür zu sorgen, daß die Generationen zusammenhalten und nicht auseinanderdividiert
werden, daß neue Gerechtigkeit in diesem Land entsteht.
Das tut diese Regierung. Helfen Sie dabei konstruktiv
mit! Verunsichern Sie nicht die Jungen und die Alten!
Sie würden es Ihnen vielleicht am Ende danken.
Schönen Dank.
({10})
Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Renate Diemers.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zänkisch, verschroben,
quengelig, nörgelnd, hilflos und gebrechlich - dies sind
wohl auch heute noch die gängigsten Vorurteile gegen
Mitmenschen in unserer Gesellschaft, die oftmals ein
anstrengendes Arbeitsleben, Erziehungsarbeit und den
Wiederaufbau unseres Landes geleistet haben: unsere
eigenen Eltern und Großeltern.
Es heißt - das wurde schon heute morgen deutlich -,
den Wert einer Gesellschaft erkenne man daran, wie sie
mit den Alten und den Schwächeren in ihrer Mitte umgeht.
({0})
Das Miteinander der Generationen ist in diesem
Zusammenhang ein wichtiger Begriff. Einer der interessantesten Aspekte ist die Beziehung zwischen den alten
und den ganz jungen Menschen. Großeltern sollen
Großeltern sein dürfen - ich bitte Sie, über diese Aussage einmal nachzudenken. Großeltern sollen eben nicht
die ureigenen Aufgaben der Eltern übernehmen und den
Erziehungsauftrag ausführen müssen; vielmehr sollten
sie ganz einfach nur Großeltern - Opa und Oma - sein
dürfen.
Großeltern haben oft die Aufgabe - dies kennen sicherlich viele aus der eigenen Familie -, die Vermittlerrolle zwischen Eltern und Kindern zu spielen. Das tun
sie gerne; denn ältere Menschen verstehen die jungen
Menschen manchmal besser als die dazwischenliegende
mittlere Generation. Die Gemeinsamkeiten überraschen
uns von Zeit zu Zeit.
Junge Menschen kämpfen um ihre Eigenständigkeit.
Das ist richtig und natürlich. Ältere Menschen müssen in
unserem Land leider wieder oft darum kämpfen, ihre
Eigenständigkeit zu behalten. Jugendliche sollten also
eigentlich eine Ahnung davon haben, warum ältere
Menschen ihre Eigenständigkeit verteidigen, ihre eigene
Wohnung, ihren selbstgestalteten Lebensrhythmus und
ihren erarbeiteten Lebensstandard bewahren möchten.
Hieran wird besonders deutlich, daß es von äußerster
Wichtigkeit ist, für die eigenständige soziale Sicherung
im Alter einzutreten.
Wenn ich in diesem Zusammenhang die Rentenbiographien der Frauen sehe, dann erkenne ich: Wir müssen uns vehement dafür einsetzen, daß die Altersversorgung nicht zugunsten anderer Leistungen zurückbleibt.
({1})
Transferleistungen für die Familien während der Erziehungszeit sind wichtig und müssen auch weiter ausgebaut werden. Das darf aber nicht zuungunsten der Altersversicherung geschehen. Das heißt, wir müssen an
der zweigleisigen Familienförderung festhalten: an der
finanziellen Förderung während der Erziehungszeit und
an der Anerkennung der Kindererziehungszeiten im
Rentenrecht.
({2})
Ältere Menschen im Ruhestand, in Rente, brauchen
nicht weniger Geld - ich selbst habe das als junger
Mensch oft geglaubt -, nur weil sie alt sind, keine berufsbedingten Ausgaben für Kleider, Fachliteratur etc.
und angeblich auch keine großen Bedürfnisse mehr haben. Vielmehr brauchen ältere Menschen sogar mehr
Geld; denn Ältere sind nicht automatisch pflegebedürftig und haben damit auch keinen Anspruch auf Pflegegeld. Sie brauchen Geld, um sich Leistungen, die sie in
jungen Jahren nicht benötigten, kaufen zu können, zum
Beispiel, wenn sie Hilfe im Haushalt benötigen, wenn
sie den Einkauf nicht mehr allein bewältigen, wenn sie
die Straße nicht mehr kehren, die Treppe im gemeinsamen Treppenhaus nicht mehr putzen und den Mülleimer
nicht mehr an den Straßenrand stellen können.
Ältere Menschen wollen auch nicht unbedingt in
eine kleinere Wohnung, nur weil ihre Kinder aus dem
Haus sind. Seniorinnen und Senioren haben den berechtigten Anspruch auf ihre alte, geräumige Wohnung, und
sie brauchen den Platz. Sie brauchen Platz, damit sich
andere Personen, zum Beispiel ihre Kinder, Freunde,
Pflegedienstleistende usw., länger - auch mit Übernachtung - in der Wohnung aufhalten können, was diese
dann auch gerne tun.
Ein anderer Fall liegt vor, wenn ältere Menschen,
zum Beispiel wegen Arbeitserleichterung, von sich aus
einen Wohnungswechsel vornehmen wollen. Dann muß
eine entsprechende altengerechte Wohnung mit dem
eventuell notwendigen Sozial- und Dienstangebot zur
Verfügung stehen. Frau Rönsch hat schon darauf hingewiesen.
Eigentlich sollte es uns doch nicht wundern, wenn
ältere Menschen, insbesondere in den Heimen, auch
einmal aggressiv reagieren, wenn man sie im übertragenen und auch - leider - im eigentlichen Sinne entmündigen will. Dazu gehört beispielsweise auch der Zwang,
um 19.00 Uhr schlafen zu gehen, nur weil abends kein
Pflegepersonal mehr da ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wünschen Sie sich,
daß Ihnen jemand vorschreibt, wann Sie schlafen gehen
oder fernsehen sollen, wenn Sie sich zum Beispiel auf
Grund eines Schlaganfalls nicht mehr mündlich artikulieren können? Ich höre quasi in Gedanken Ihr lautes
Nein. Diesen Blickwinkel müssen wir bei der Erarbeitung unserer Gesetze berücksichtigen.
In diesem Zusammenhang kritisiere ich noch einmal
ausdrücklich die Koalition, die die Gelder für Zivildienstleistende, die auch und gerade im Pflegebereich
unverzichtbar sind, deutlich reduzieren möchte.
({3})
Die „Zivis“ können nicht die notwendigen Pflegekräfte
ersetzen, aber sie können sie in ihrer Arbeit unterstützen.
Außerdem hat der Einsatz von Zivildienstleistenden
positive Auswirkungen für alle Seiten. Ich verstehe darunter zum Beispiel, daß der überwiegende Teil der jungen Männer anschließend die ältere Generation mit größerem Verständnis sieht und manchmal mit veränderten
Wertvorstellungen ins Berufsleben geht.
Viele ältere Menschen, die nach Jahren einer aktiven
Erwerbs- und Familientätigkeit, in der sie ihre persönlichen Bedürfnisse oft zurückstellen mußten, nun wieder
mehr Zeit zur Verfügung haben, nutzen diese Zeit, um
wieder verstärkt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Die Bedeutung des Sports für das allgemeine Wohlbefinden von Älteren, für die Erhaltung von Mobilität
und die Selbständigkeit hat die Bundesregierung ja soeben in der Antwort auf unsere Große Anfrage bestätigt.
Ich finde es auch gut und richtig, wenn Ältere Zeit
und Möglichkeiten nutzen, um verschiedene Formen des
Tourismus wahrzunehmen. Wir sollten uns weiter verstärkt dafür einsetzen, daß interessante, seniorengerechte, barrierefreie Reisemöglichkeiten in Deutschland angeboten werden.
({4})
Nach meiner Definition ist die Fahrt mit dem Bus des
ÖPNV, der schräg gegenüber der eigenen Haustür abfährt, auch schon eine Reise.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig:
Eine der Stärken der älteren Generation sind ihre Erfahrung und ihr Wissen. Trotz neuer Medien, Internet, das
heißt, trotz aller neuen Technologien, profitiert die jüngere Generation, wenn sie diesen Schatz an Erfahrung
und Wissen nutzt. Ich denke an die Einbindung von Seniorinnen und Senioren in ausgewählte Bereiche des
Schulunterrichts in Form eines Großeltern-Services auf
Grund verwandtschaftlicher Verhältnisse oder als
Dienstleistung, an Patenschaften von alten und älteren
Menschen für Kindergärten und Kindertagesstätten und
- umgekehrt - auch an Patenschaften von Schulen und
Schulklassen mit Altenheimen. Ich denke an Gesprächskreise der Generationen über Kultur, Geschichte oder
Politik, an Hilfestellungen von Mittelständlern im Ruhestand für Existenzgründer. Ein anderes Beispiel sind die
sogenannten Senioren-Handwerker-Dienste e. V. aus
Hagen, die 1967 als „Kompanie des guten Willens“ gegründet wurden.
({5})
Dies ist das älteste Modell des aktiven Ruhestands seiner Art in Deutschland. Die Mitglieder übernehmen
Handwerkeraufgaben für gemeinnützige Einrichtungen.
Auch hier müßten wir übrigens einmal über Fördermittel
nachdenken.
Damit wird zugleich ein anderes, sehr großes Problem aufgegriffen. Viele ältere Menschen haben zwar
viele Lebensjahre, aber sie fühlen sich nicht alt und gebrechlich, wollen und können noch weiterarbeiten und
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Sie wollen
nicht auf dem Abstellgleis landen - schon gar nicht
automatisch mit 60. Aber dies werden wir an anderer
Stelle noch ernsthaft zu diskutieren haben.
Mir ist der menschenverbindende Aspekt im Zusammenhang mit dem Begriff des Generationenvertrages
genauso wichtig wie eine gute Altersversorgung. Alleinige Meßlatte für die soziale Wärme in unserem Land
darf nicht nur die Höhe der sozialen Leistungen sein,
sondern auch der Umfang unserer Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit muß berücksichtigt werden.
Herr Fuhrmann, Sie sind auf den umfangreichen Fragenkatalog in unserer Großen Anfrage eingegangen.
Selbstverständlich hätten wir die Antwort auf die eine
oder andere Frage nachlesen können. Aber zum einen
wollen wir mit unseren Fragen die Probleme im Rahmen
der Seniorenpolitik noch einmal öffentlich erörtern und
die Menschen - insbesondere uns selbst - für dieses
Thema sensibel machen. Zum anderen möchten wir von
der Regierung hören, welche Maßnahmen sie ergreift,
um weitere Verbesserungen auf den Weg zu bringen.
({6})
Denn wir, meine Damen und Herren von der Koalition,
haben gute Gesetze gemacht und Ihnen gute Vorlagen
für weitere Verbesserungen hinterlassen.
Danke schön.
({7})
Ich gebe das Wort
der Kollegin Christa Lörcher, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Als letzte Rednerin in dieser Debatte möchte ich meine große Betroffenheit ausdrücken, daß in diesem Haus das Wort „entsorgen“ im Zusammenhang mit Menschen gefallen ist.
Ich schäme mich dafür.
({0})
- Ich schäme mich für die Kollegin, die Verantwortung
für alte Menschen getragen hat und so etwas sagt.
Zur Großen Anfrage: Sie dokumentiert ein breites
Interesse an der Situation der älteren Menschen bei uns:
Alters- und Vermögensstruktur, Aktivitäten und Engagement, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, Wohnsituation
von Älteren, Gewalt gegen Ältere, Altern in der Fremde
und Alternsforschung. Diese Anfrage ist erfreulich, weil
sie uns allen Gelegenheit gibt, zu den wichtigen Themen
der Altenpolitik Stellung zu beziehen: Welchen Stellenwert haben Ältere in unserer Gesellschaft? Wie sind ihre
Lebensbedingungen? Wie haben diese Bedingungen sich
entwickelt, wie werden sie sich voraussichtlich weiterentwickeln? Welchen Handlungsbedarf gibt es in Politik
und Gesellschaft?
Die Große Anfrage ist aber auch verwunderlich, weil
sie manches offenbart. Sie zeigt - wie meine Kollegen
schon gesagt haben -, daß ein großer Teil der intensiven
Arbeit in der Enquete-Kommission „Demographischer
Wandel“ an den damaligen Regierungsparteien fast
spurlos und ohne Gewinnung von Erkenntnissen vorbeigegangen ist. Und sie zeigt - es mag für Sie in der Opposition schwierig sein das zu akzeptieren -, daß Strategien und Handeln für eine solidarische und zukunftsorientierte Altenpolitik während Ihrer Regierungsjahre
nicht stattfanden.
({1})
Ich will zu einigen Bereichen der Anfrage aufzeigen,
wo es interessante Daten und Informationen gibt und wo
nicht erst seit heute dringender Handlungsbedarf besteht.
Die Fragen 1 und 2 der Großen Anfrage beziehen
sich auf die demographische Entwicklung und verlangen
Auskünfte zu Veränderungen der Altersstruktur mit besonderem Augenmerk auf die Älteren in unserer Bevölkerung. Bei der Frage der Altersstruktur - das wissen
wir - ist nicht nur die Situation der Älteren wichtig,
sondern auch, wie sich die Zahl der Jüngeren entwickelt,
wie ihre Lebenssituation ist. Und weil die Geburtenquote bei uns und in anderen Industrienationen ziemlich
beständig auf einem niedrigen Niveau verharrt, können
wir froh sein über Familien mit Kindern, die zu uns
kommen, sei es aus der Türkei, sei es aus Kasachstan
oder aus anderen Teilen der Welt. Wie also entwickeln
sich Daten und Fakten zu Migration und Integration in
unserem Land?
Ich bin froh, daß in der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ dazu sehr ausführlich und differenziert recherchiert und diskutiert wurde und damit
Grundlagen für die nötigen Schlußfolgerungen gelegt
wurden. Diese wollen wir gemeinsam in politisches
Handeln umsetzen.
Zur Vermögenssituation der älteren Menschen bei
uns hat der Kollege Kurt Bodewig schon einiges gesagt.
Ich will nur zwei sehr persönliche Bemerkungen anfügen. Ich bin dankbar, daß von dieser Regierung endlich
die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen
Arm und Reich unter die Lupe genommen und ein Bericht erstellt wird, der über Armut und Reichtum in unserem Land Auskunft geben soll.
({2})
Und: Ich freue mich, daß endlich die große Kluft zwischen dem Einkommen von Männern und Frauen im
Alter zumindest abgemildert werden kann: zum einen
durch die verschiedenen Modelle für die eigenständige
Alterssicherung der Frau, zum anderen durch die geplante Grundsicherung, die den Gang zum Sozialamt ersparen soll.
({3})
Dazu eine kleine Geschichte aus dem Alltag einer
Seniorin: Als ich vor rund zehn Jahren in einer Sozialstation auf der Alb tätig war, traf ich eine alte Frau, die
von 90 DM im Monat - ich habe keine Null vergessen gelebt hat: im Hause ihrer Eltern, mit einem für das
Überleben äußerst wichtigen Garten, in den Kleidern
ihrer Großmutter. Nie wäre dieser Frau in den Sinn gekommen, zum Sozialamt zu gehen. Dies als konkretes
Beispiel zu Frage 15 und zu den Möglichkeiten, verschämte Altersarmut zu bekämpfen.
Zu dem Fragenkomplex Aktivitäten und Engagement der Älteren in unserer Gesellschaft drei Anmerkungen: Unabhängig von der Güte der bisherigen Daten
wissen wir, daß ohne die ehrenamtliche Mitarbeit von
älteren Menschen in Vereinen, Parteien, Sport- und
Wohlfahrtsverbänden, Bildungs- und sozialen Einrichtungen, Hilfsorganisationen und kirchlichen Gruppen
vieles an Ideen, Verständigung, Hilfe, Solidarität und
Menschlichkeit fehlen würde. Deswegen mein Dank an
alle, die sich für eine solidarische und humane Gesellschaft einsetzen.
({4})
Daß eine Enquete-Kommission zur Förderung des
Ehrenamtes in dieser Legislaturperiode ihre Arbeit aufnehmen wird, ist ein positives Signal, das von diesem
Parlament ausgeht.
Daß mehr Frauen als Männer ehrenamtlich aktiv sind,
ist nicht überraschend. Längst ist bekannt, daß Frauen an
der unbezahlten Arbeit stärker und weit weniger an der
bezahlten Arbeit beteiligt sind. Dies ist eine der Ursachen für die geringere Absicherung im Alter. Eine gerechtere Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit ist eine der uralten Forderungen von uns Frauen in
der SPD.
Eine interessante Information enthält die Antwort auf
die Frage 55. In einer Studie der Universität ErlangenNürnberg im Rahmen des Forschungsprojektes „Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in
privaten Haushalten“ wurde festgestellt, daß es deutliche
Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern
bei der Beteiligung von Frauen und Männern an der
häuslichen Pflege von Angehörigen gab. In den östlichen Bundesländern beteiligten sich signifikant mehr
Männer als in den westlichen. Dafür gibt es sicherlich
viele Gründe, unter anderem die höhere Arbeitslosigkeit.
Trotzdem empfinde ich diese höhere Beteiligung der
Männer an der häuslichen Pflege als ein positives Signal.
Damit bin ich beim nächsten Bereich, nämlich der
Hilfs- und Pflegebedürftigkeit im Alter. Es fällt auf,
daß sehr viel an Daten zur Pflegeversicherung abgefragt
wird: Pflegesätze, Entgelte und monatliche Differenzen.
Sicher ist eine ausreichende finanzielle Ausstattung für
Pflegebedürftige, Pflegende und die nötigen Institutionen eine Grundvoraussetzung für eine menschenwürdige
Pflege. Die Finanzierung allein macht aber noch keine
menschenwürdige Pflege und Betreuung aus. Zu den
Bedürfnissen und der Lebensqualität der zu Betreuenden
habe ich in der Großen Anfrage keine Frage gesehen.
Die Fragen zu Demenzerkrankungen sind insofern
interessant, als sie nochmals auf die Große Anfrage
meiner Fraktion in der letzten Legislaturperiode zur Situation der Demenzkranken aufmerksam machen. Positiv ist, daß Untersuchungen und Forschungsprojekte
zum Thema Demenzerkrankungen auch bei uns in
Deutschland verstärkt angegangen werden und daß sowohl Grundlagen- wie auch Versorgungsforschung
„einen hohen Stellenwert haben“ - so die Bundesregierung in ihrer Antwort.
Auch die Tatsache, daß es immer mehr Selbsthilfegruppen für Angehörige von Alzheimerkranken gibt und
daß inzwischen verschiedene Institutionen und Verbände speziell für Demenzkranke und für ihre Angehörigen
da sind, ist sehr erfreulich.
Entscheidend für die Qualität von Pflege und Betreuung ist, daß Pflegende kompetent sind für ihre Arbeit mit Menschen. Qualifikation ist nötig für Qualität.
Deshalb werbe ich, wie vor sechs Wochen bei der Debatte zur Altenpflegeausbildung, für eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung auf hohem Niveau und für
gute Rahmenbedingungen bei dieser anspruchsvollen
und oft schwierigen Arbeit.
({5})
Frau Kollegin Lörcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Reinhardt?
Bitte.
Frau Kollegin Lörcher, ich stimme Ihnen zu, daß das Thema Demenzerkrankung eine wesentliche Rolle spielt und daß es hierzu
im Bereich der Pflege dringend einer Verbesserung bedarf. Sind Sie bereit, in der Regierungskoalition dafür
Sorge zu tragen, daß es auf diesem Gebiet eine Verbesserung gibt?
Danke für diese Frage, Frau
Kollegin Reinhardt. Das Problem von Demenzerkrankungen ist nicht erst heute aufgetaucht, sondern dieses
gab es schon während Ihrer Regierungszeit.
({0})
Sie wissen sehr wohl, daß wir in der Koalition der Meinung sind, daß geprüft werden muß, woher das Geld für
Verbesserungen der Leistungen in der Pflegeversicherung kommen kann. Ich bin ganz sicher, daß wir bei den
Verbesserungen Schritt für Schritt so weitermachen
werden, wie wir angefangen haben.
({1})
Gestatten Sie eine
weitere Zwischenfrage?
Bitte.
Frau Kollegin Lörcher, Sie haben natürlich meine Frage nicht beantwortet.
Ich wollte konkret wissen, ob Sie bereit sind, für eine
Verbesserung im Bereich der Demenzerkrankung einzutreten.
({0})
Ich habe Ihnen gesagt, das
wird geprüft. Selbstverständlich sind wir bereit, Verbesserungen vorzunehmen, wenn wir die Mittel dafür haben
und uns das möglich ist.
({0})
Ein vielfach tabuisiertes Thema, das auch in der Großen Anfrage angesprochen worden ist, ist die Gewalt
gegen ältere Menschen. Alles zu erforschen, was diese
Frage beinhaltet, und Maßnahmen zur Prävention und
Intervention zu ergreifen ist im Hinblick auf Menschen in
jedem Alter außerordentlich wichtig, allen voran aber für
diejenigen, die unseren besonderen Schutz und unsere
Hilfe brauchen, weil sie sich selber nicht wehren können.
Ich verstehe allerdings nicht, warum Sie von der heutigen
Opposition unseren damaligen Antrag „Gewalt gegen
Ältere - Prävention und Intervention“ aus dem Jahr 1996
seinerzeit abgelehnt haben. Wir wären sehr viel weiter,
wenn wir mit dieser Arbeit früher begonnen hätten.
({1})
Wichtig ist - das möchte ich als letzten Punkt aufgreifen - die Situation der älteren Migrantinnen und
Migranten. Sie haben „Ausländerinnen und Ausländer“
geschrieben; aber ich möchte ausdrücklich auch die
Aussiedlerinnen und Aussiedler nennen. Sie sind die
zahlenmäßig am stärksten wachsende Gruppe in unserer
Bevölkerung.
Ich freue mich über Ihre Fragen dazu, zum Beispiel
über etwaige Integrationshemmnisse und besondere Integrationsmaßnahmen. Es fehlt mir allerdings der Glaube an die Ernsthaftigkeit dieser Fragen, nachdem wir uns
im Rahmen der Enquete-Kommission - Sie wissen das,
Frau Reinhardt - in der Arbeitsgruppe Migration/Integration rund drei Jahre lang mit diesen Fragen beschäftigt haben, insbesondere mit der Situation von Kindern,
Familien und Älteren, siehe Kapitel VII des zweiten
Zwischenberichtes.
Der Glaube fehlt mir vor allem auch deshalb, weil
während dieser Arbeit der eine Teil Ihrer Fraktion bei
den Sitzungen praktisch nicht vertreten war und der andere Teil Ihrer Fraktion - der den schönen Namen
„christlich-sozial“ trägt -, der vertreten war, sich vor
allen Dingen durch vielfältige Bedenken und möglichst
hohe Hürden auf dem Weg zur Integration hervorgetan
hat. Sie müssen es mir nachsehen, daß ich das hier erwähne. Ich fand unsere Arbeit sehr wichtig. Die F.D.P.
hat konstruktiv mitgearbeitet. Aber aus Ihrer Fraktion
kam wenig, und wenn etwas kam, waren es Schwierigkeiten auf dem Weg zur Integration.
({2})
Ich schließe mit einer ganz kurzen Begebenheit. Herr
K. in der Gerontopsychiatrie, den ich oft und gerne zitiere, schreit, schlägt um sich und spuckt. Irgendwann sitze
ich neben ihm und frage, warum er so schreit. Seine
Antwort, knapp und deutlich: Damit ich weiß, daß ich
noch am Leben bin.
Sie sehen den Handlungsbedarf.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die
Aussprache.
Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit für eine Reihe von
Tagesordnungspunkten ohne Aussprache, bei denen wir
abzustimmen haben.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b
sowie Zusatzpunkt 2 auf:
14. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung vermögensrechtlicher
und anderer Vorschriften ({0})
- Drucksache 14/1932 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({1})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Fred
Gebhardt, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang GehrckeReymann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus
- Drucksache 14/1002 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({2})
Ausschuß für Kultur und Medien
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Burchardt, Monika Griefahn, Heinz Schmitt
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer,
Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN: Förderung der Friedensund Konfliktforschung
- Drucksache 14/1963 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4})
Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 s sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 15 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten
Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes
- Drucksache 14/1415 ({5})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6})
- Drucksache 14/2017 Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Schulz ({7})
Der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/2017, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
({8})
Wir sind bei einer Reihe von Abstimmungen, die wir
ohne Aussprache durchführen. Aber ich bitte doch sehr
darum, daß sich die Geschäftsführer der Fraktionen darauf konzentrieren, ihren Mitgliedern zu sagen, wie die
Fraktionshaltung ist.
({9})
Ich frage deshalb bei diesem Tagesordnungspunkt
noch einmal
({10})
- ich muß doch feststellen, wie die einzelnen Fraktionen
hier abgestimmt haben -: Wer stimmt dem Gesetzentwurf zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Es
wäre doch schade, wenn wir durch die Nichtwiederholung dieser Abstimmung die Einstimmigkeit des Hauses
verhindert hätten.
({11})
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Meliorationsanlagengesetzes ({12})
- Drucksache 14/1832 ({13})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({14})
- Drucksache 14/2045 Berichterstattung:
Abgeordneter Gottfried Haschke ({15})
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten
Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 c:
Zweite und Dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Verarbeitung und Nutzung der zur Durchführung der Verordnung ({16}) Nr. 820/97 des Rates erhobenen Daten und zur Änderung des
Rindfleischetikettierungsgesetzes ({17})
- Drucksache 14/1856 ({18})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({19})
- Drucksache 14/2001 Berichterstattung:
Abgeordnete Marita Sehn
Vizepräsident Rudolf Seiters
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten empfiehlt auf Drucksache 14/2001 unter
Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/2001 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 d:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Düngemittelgesetzes
- Drucksache 14/1857 ({20})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({21})
- Drucksache 14/2002 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Klaus Rose
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten empfiehlt auf Drucksache 14/2002, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Ergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 e:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll zur Änderung
des Übereinkommens vom 23. Juli 1990 über
die Beseitigung der Doppelbesteuerung im
Falle von Gewinnberichtigungen zwischen
verbundenen Unternehmen
- Drucksachen 14/1653, 14/1846 ({22})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({23})
- Drucksache 14/1897 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidemarie Ehlert
Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache
14/1897, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkte 15 f bis 15 l:
f) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Dezember 1997 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Belarus über
den Luftverkehr
- Drucksache 14/1026 ({24})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({25})
- Drucksache 14/1964 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
g) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
23. April 1998 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Tschechischen Republik über den
Luftverkehr
- Drucksache 14/1025 ({26})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({27})
- Drucksache 14/1965 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
h) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29.
Mai 1998 zwischen der Regierung der BunVizepräsident Rudolf Seiters
desrepublik Deutschland und der Regierung
der Mongolei über den Fluglinienverkehr
- Drucksache 14/1024 ({28})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen ({29})
- Drucksache 14/1966 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
i) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
10. März 1998 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Südafrika über
den Luftverkehr
- Drucksache 14/1023 ({30})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({31})
- Drucksache 14/1967 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
j) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 12. November 1997 zur Ergänzung des Abkommens
vom 2. November 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Neuseeland über
den Luftverkehr
- Drucksache 14/1022 ({32})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({33})
- Drucksache 14/1968 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
k) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 15. Juni
1998 zur Ergänzung des Luftverkehrsabkommens vom 2. März 1994 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten
- Drucksache 14/1021 ({34})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({35})
- Drucksache 14/1969 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
l) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Mai
1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der
Republik Armenien über den Luftverkehr
- Drucksache 14/1020 ({36})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({37})
- Drucksache 14/1970 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf den Drucksachen 14/1964 bis
14/1970, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen.
Kann ich davon ausgehen, daß wir über die Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen können? - Das ist der Fall.
Dann verfahren wir so.
Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Gesetzentwürfe sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 m:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Änderungen vom
24. April 1998 des Übereinkommens vom
3. September 1976 über die Internationale Organisation für mobile Satellitenkommunikation ({38})
- Drucksache 14/1089 ({39})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({40})
- Drucksache 14/1974 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller ({41})
Der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/1974, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der
Fraktion der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 n:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Dezember 1995 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Armenien über
Vizepräsident Rudolf Seiters
die Förderung und den gegenseitigen Schutz
von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/1008 ({42})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({43})
- Drucksache 14/1975 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/1975, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS
angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 o:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-MittelmeerAbkommen vom 24. November 1997 zur
Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Haschemitischen Königreich Jordanien andererseits
- Drucksache 14/1006 ({44})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({45})
- Drucksache 14/1976 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/1976, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 p:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({46}) zu der Verordnung der
Bundesregierung:
Aufhebbare Sechsundneunzigste Verordnung
zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL
zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 14/1414, 14/1616 Nr. 2.1, 14/
2034 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Der Ausschuß empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 14/1414
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 q:
Beratung des Berichts des Ausschusses für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({47}) zu den Verfahren nach §44b Abgeordnetengesetz ({48}) Überprüfung auf Tä-
tigkeit oder politische Verantwortung für das
Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Na-
tionale Sicherheit der ehemaligen Deutschen
Demokratischen Republik
- Drucksache 14/1900 -
Der Bericht liegt Ihnen auf Drucksache 14/1900 vor.
Sie haben davon Kenntnis genommen.
Tagesordnungspunkte 15 r und 15 s:
r) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({49}):
Sammelübersicht 92 zu Petitionen
- Drucksache 14/1980 -
s) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({50})
Sammelübersicht 93 zu Petitionen
- Drucksache 14/1981 Wir kommen zunächst zur Sammelübersicht 92 auf
Drucksache 14/1980. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 92 ist
mit den Stimmen des Hauses bei Ablehnung durch die
PDS angenommen.
Wir kommen zur Sammelübersicht 93 auf Drucksache 14/1981. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 93 ist mit den
Stimmen des Hauses bei Ablehnung durch die PDS angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 3:
Zweite und Dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs
- Drucksache 14/1666 ({51})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({52})
- Drucksache 14/2038 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Dr. Susanne Tiemann
Rainer Funke
Vizepräsident Rudolf Seiters
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/
2038, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Zweite und dritte Beratung des Entwurfs
eines Gesetzes zur Fortführung der ökologischen Steuerreform
- Drucksachen 14/1524, 14/1668 ({53})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht Braun ({54}), Ernst Burgbacher,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine ökologisch wirklich wirksame
Umstellung der Besteuerung ohne Mehrbelastung für Bürger und Wirtschaft
- Drucksache 14/399 ({55})
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({56})
- Drucksache 14/2027 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz
Heinz-Georg Seifert
Klaus Wolfgang Müller ({57})
Dr. Barbara Höll
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({58})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/2049 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel
Es liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion der PDS vor. Über die
beiden Änderungsanträge und den Gesetzentwurf zur
Fortführung der ökologischen Steuerreform werden wir
nachher namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die
Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen
Reinhard Schultz für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ökologische Steuerreform ist ein weiterer wichtiger Baustein des Zukunftsprogramms 2000. Neben dem Steuerentlastungsgesetz mit einer Entlastungswirkung in Höhe von
20 Milliarden DM im Jahr 2002, neben dem Familienförderungsgesetz mit einer Entlastungswirkung in beiden Stufen in Höhe von voraussichtlich 10 Milliarden
DM und neben der Unternehmensteuerreform mit einer
Entlastungswirkung in Höhe von voraussichtlich mindestens weiteren 10 Milliarden DM
({0})
wird die ökologische Steuerreform im Jahre 2003 eine
Entlastungswirkung in bezug auf die Kosten der Arbeit
in Höhe von 34 Milliarden DM entfalten.
({1})
Nehmen wir die erste Stufe der ökologischen Steuerreform und die heute zu verabschiedende zweite bis
fünfte Stufe zusammen, dann entlasten wir die Wirtschaft und die Arbeitnehmer allein durch diese Maßnahme in fünf Jahren um insgesamt 115 Milliarden DM.
({2})
Genau dieser Betrag kommt ungeschmälert den Kassen
der Rentenversicherungsträger zugute. Die Bundesregierung wird bis zum Jahre 2003 die Rentenversicherungsbeiträge auf deutlich unter 19 Prozent senken.
Das hat das Arbeitsministerium bereits mitgeteilt. Damit
wird auch bei den aktiven Versicherten, besonders bei
der jungen Generation, das Verständnis für die Frage der
Zumutbarkeit von Beitragsbelastungen und die Notwendigkeit der gesetzlichen Sozialrente gestärkt. Die ökologische Steuerreform ist damit ein ganz wichtiger Baustein für die Reform der Alterssicherungssysteme und
die Erneuerung des Generationenvertrags insgesamt.
({3})
Behutsam und in kleinen Schritten programmiert die
ökologische Steuerreform eine Erhöhung der Preise für
Kraftstoffe und Strom vor und gibt damit Verbrauchern
und Herstellern Gelegenheit, sich auf Energiespartechniken umzustellen. Dies gilt für Investitionsgüter ebenso
wie für Haushaltsgeräte, Heizungssysteme oder Kraftfahrzeuge. Wir sind davon überzeugt, daß selbst diese
kleinen Schritte ihre Lenkungswirkung mittelfristig
nicht verfehlen werden.
({4})
Dabei trifft das zweite Gesetz zur ökologischen Steuerreform auf eine energiepolitische Landschaft, die vom
Verfall der Strompreise und vom Anstieg der MineralölVizepräsident Rudolf Seiters
preise gekennzeichnet ist. Die brutale Liberalisierung
des Strommarktes in Deutschland findet in keinem anderen Land der EU eine Entsprechung. Das hat uns die
Regierung Kohl/Rexrodt leichtfertig eingebrockt.
({5})
Dumpingpreise auf dem Strommarkt werden dazu
führen, daß weder die Erneuerungsinvestitionen für den
deutschen Kraftwerkspark erwirtschaftet werden können
noch Energiesparen sich wirklich lohnen wird.
({6})
Dumpingpreise bei der Stromversorgung fördern nichts
außer eine große „Deinvestitionswelle“ und den Verzicht auf die eigene Wertschöpfung in der Stromerzeugung im eigenen Land sowie den Zusammenbruch des
daran hängenden Anlagenbaus.
Herr Kollege
Schultz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schauerte?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, Sie
haben gerade sehr eindrucksvoll geschildert, wie sehr
Sie die durch die Erhöhung der Mineralölsteuer in Höhe
von 6 Pfennig pro Liter eingetretene Lenkungswirkung
begrüßen und daß dies das wesentliche Ziel Ihrer Operation sei.
Eines von
zwei Zielen.
Begrüßen Sie
deswegen auch die Preiserhöhung durch die OPEC, die
mittlerweile zu Mehrkosten in Höhe von 25 Pfennig pro
Liter geführt hat? Ist auch das in Ihrem Sinne? Wird dadurch die Lenkungswirkung erhöht und verbessert?
Herr
Schauerte, ich wäre zwar gleich sowieso darauf zu sprechen gekommen, aber ich gehe gern schon jetzt darauf
ein. Die maßvolle Erhöhung der Mineralölsteuer auf
Kraftstoffe um sechs Pfennig pro Liter bewegt sich in
der Bandbreite der bisherigen Schwankungen der
OPEC-Einstandspreise und liegt deutlich unter den Mineralölsteuererhöhungen, die Ihre frühere Regierung im
abgelaufenen Jahrzehnt den Kraftfahrern aufgegeben
hat, allerdings nur um Kasse zu machen und ohne irgend
etwas davon an irgendwen zurückzugeben.
({0})
Insofern sage ich Ihnen, Herr Kollege Schauerte: Wir
sind deswegen so behutsam und machen so kleine
Schritte, damit wir das Marktgeschehen bei den Mineralölkonzernen miteinbeziehen können und nicht durch
eine doppelte, zu starke Verteuerung einen Schock auslösen, der zur Nichtakzeptanz der gesamten Maßnahme
führen würde.
({1})
Die Dumpingpreise in der Energiewirtschaft führen
aber auch dazu, daß international vereinbarte Ziele des
Klimaschutzes nicht oder nur sehr schwer erreichbar
sein werden, weil schlicht und einfach der ökonomische
Anreiz fehlt. Aus den genannten Gründen ist der Eingriff in die Preissysteme der Energieversorgung politisch zwingend geboten, sowohl durch die ökologische
Steuerreform als auch durch andere Maßnahmen, die
den Stromstandort Deutschland entwickeln helfen und
zugleich dem Klimaschutz dienen.
Ich habe bereits eben im Rahmen der Beantwortung
Ihrer Frage, Herr Schauerte, zu erläutern versucht, in
welchen Bandbreiten wir uns bei den Kraftstoffpreisen
bewegen, was Sie selbst hier veranstaltet haben und was
die OPEC in der Vergangenheit getan hat und jetzt tut.
Ich glaube, wir sind auf einem vernünftigen Weg.
Wir wissen ganz genau - das ist unsere Grundeinstellung -, daß wir trotz unseres großen und politisch
wichtigen Ziels, Arbeit zu entlasten und Ökologie zu
fördern, Wirtschaft und Verbraucher nicht überfordern
dürfen, daß wir sie an den Weg der Mehrbelastung von
Energieverbrauch bei gleichzeitiger Entlastung der Arbeit behutsam gewöhnen müssen. Von dieser Einsicht ist
auch dieses Gesetz deutlich geprägt.
({2})
Wir haben bereits in der ersten Stufe der ökologischen Steuerreform für das produzierende Gewerbe und
für die Landwirtschaft eine deutlich geringere zusätzliche Energiesteuerbelastung durchgesetzt als für die anderen Wirtschaftszweige und für die Verbraucher. Wir
haben die mögliche Mehrbelastung der Wirtschaft gedeckelt, indem wir nur ein Überschreiten der Mehrbelastung gegenüber der Entlastung durch die Rentenbeitragszahlungen um den Faktor 1,2 zugelassen haben.
Dieser Mechanismus gilt auch für die nächsten Stufen
der ökologischen Steuerreform.
Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen hat nachgezeichnet, für welche
Branchen es zu höheren und für welche es zu niedrigen
Belastungen gekommen ist. Als Faustregel kann man
festhalten, daß überall dort, wo mehr Mitarbeiter an der
Wertschöpfung beteiligt sind, eine deutliche Nettoentlastung durch die niedrigeren Beiträge zur Sozialversicherung eintritt. Das ist auch so gewollt.
Aber auch für die kapital- und rohstoffintensiven
Unternehmen mit geringerer Wertschöpfungstiefe ist die
Mehrbelastung begrenzt. Damit wird erreicht, daß es
trotz des harten internationalen Wettbewerbs nicht zu
Standortverlagerungen für energieintensive Unternehmen kommt.
Reinhard Schultz ({3})
Anfang dieser Woche hat Gro Harlem Brundtland,
die frühere norwegische Ministerpräsidentin und politische Patin des weltweiten Agenda-21-Prozesses,
Deutschland aufgefordert, etwas mutigere Schritte bei
den Green taxes zu gehen. Sie hat darauf hingewiesen,
daß Norwegen als Energieexportland dies getan hat und
im Grunde genommen das eigene Produkt verteuert hat
und trotzdem dabei gut gefahren ist. Ich glaube, sie hat
recht. Wenn wir unsere vorsichtige Politik der planbaren, überschaubaren und schrittweisen Erhöhung in die
Zukunft fortschreiben, werden wir die positiven ökologischen und wirtschaftlichen Effekte vielleicht eher als
heute verzeichnen können, wo wir ganz am Anfang einer Entwicklung stehen.
In diesen Zusammenhang gehört die Frage, warum
wir für die Wirtschaft so viele Ausnahmetatbestände
zulassen. Die Antwort ist einfach: Wir wollen durch den
Einstieg in diese Reform keine Standorte gefährden,
sondern wollen der Wirtschaft die Anpassung an die
neue politische Faktorbewertung zu Lasten des Energieverbrauchs und zugunsten der Arbeit erleichtern.
({4})
Dieser Anpassungsprozeß darf natürlich nicht ewig
dauern. Die EU-Kommission hat die Ausnahmegenehmigungen des ersten Gesetzes zur ökologischen Steuerreform bis zum 30. März 2002 befristet.
({5})
Wir haben die Frist in das zweite Gesetz aufgenommen,
um Klarheit auch nach außen zu schaffen. Wir haben
auch für die neuen Beihilfetatbestände, die sogenannten
Ausnahmen, nur eine Genehmigung bis zu diesem Zeitpunkt beantragt. Wir werden rechtzeitig, bereits im
kommenden Jahr, über Nachfolgeregelungen auch mit
den betroffenen Wirtschaftszweigen sprechen und diese
deutlich zielgenauer ausgestalten. Denn wir wollen keine Dauersubventionierung, sondern wir wollen einen
Anpassungsprozeß initiieren, der dann im Normalfall
abgeschlossen sein müßte.
Übrig bleiben Unternehmen mit großem Verbrauch
an Prozeßenergie - bei diesen Unternehmen machen die
Energiekosten die Standortbedingungen aus -, die auch
ohne Ökosteuerreform naturgemäß bestrebt sind, ihren
Verbrauch zu senken und damit ihre Energierechnung
niedrig zu halten. Auf diese Unternehmen - abgesehen
vom Verkehr und anderen Bereichen - werden wir uns
zu konzentrieren haben.
({6})
Die Bundesregierung hat gewaltige Anstrengungen
unternommen, um in der EU einen Konsens über die
Harmonisierung der Energiebesteuerung durchzusetzen.
({7})
Sie hatte damit auch Erfolg, mit einer Ausnahme, nämlich der Spaniens. Die Bundesregierung hatte diese Frage zu einem der wesentlichen Punkte ihrer Präsidentschaft gemacht und ist wegen des Einstimmigkeitsprinzips am Widerstand eines Landes, nämlich Spaniens, gescheitert. Trotzdem kann aber von einem Erfolg gesprochen werden; denn es ist gelungen, alle anderen Staaten
grundsätzlich mit ins Boot zu nehmen. Wenn man sich
einmal anschaut, wie sich das in den einzelnen Ländern
der EU und bei unseren Nachbarn entwickelt, dann wird
man feststellen: Wir sind längst nicht mehr allein. Die
skandinavischen Länder, die Niederlande, Großbritannien und Italien haben ähnliche Wege beschritten, nicht
zuletzt auch die Schweiz. Frankreich will einen ähnlichen Weg beschreiten. Das heißt, die ökologische Energiebesteuerung ist eine Art Selbstläufer. Die europäische
Wirklichkeit wird in dieser Hinsicht neu geprägt. Man
ist also nicht allein darauf angewiesen, einen einstimmigen Ministerratsbeschluß herbeizuführen.
Ein besonderes Problem stellt das Strompreisniveau
in Ostdeutschland dar. Verschiedentlich ist gefordert
worden, Ostdeutschland von der Stromsteuererhöhung
auszunehmen. Ich hatte Gelegenheit, vor diesem Hause
bereits darzulegen, daß dies eine zusätzliche Beihilfe
wäre, der die EU nicht zustimmen würde.
({8})
Ich hatte aber damals in Aussicht gestellt, daß die besonderen Mehraufwendungen, die auf Grund des neuen
Kraftwerksparks mit seinen hohen Abschreibungen in
Ostdeutschland zu leisten sind, auf die Schultern möglichst aller Stromkunden in Deutschland verteilt werden
sollen. Das wäre sozusagen eine strukturpolitische Hilfe.
Ich danke Bundeswirtschaftsminister Werner Müller
ausdrücklich dafür, daß er inzwischen im Konsens mit
der VEAG und den großen Eigentümergesellschaften
einen solchen Weg gefunden hat. Er hat eine unternehmerische Lösung für eine solche Verteilung hinbekommen. Das wird gleichzeitig dazu führen, daß sich das
Strompreisniveau in Ostdeutschland nicht allzu weit von
den übrigen Regionen entfernen wird.
({9})
Damit wird sich auch der preisliche Effekt der zusätzlichen Stromsteuer zugunsten Ostdeutschlands neutralisieren.
({10})
Die Regierungskoalition hat innerhalb des Reformwerks deutliche Strukturakzente für mehr Ökologie gesetzt. Wir haben die Kraft-Wärme-Kopplung mit hohen Wirkungsgraden von der Erdgassteuer ausgenommen. Wir haben in dieser Stufe kleineren, kommunalen
Anlagen, deren Geschäft im Wärmemarkt von der kalten
Jahreszeit abhängig ist, die Möglichkeit gegeben, monatlich abzurechnen. Damit stärken wir die Stadtwerke.
Wir haben in der neuen Stufe die Größenordnung bei
den Blockheizkraftwerken, die von der Strom- und Erdgassteuer ausgenommen sind, auf 2 Megawatt heraufgesetzt; wir fördern damit die dezentrale Energieversorgung. Das wird eine Investitionswelle auslösen; da bin
ich mir ganz sicher.
Reinhard Schultz ({11})
Mehr Kopfzerbrechen bereiten Überlegungen, Kraftwerke, die ausschließlich der Stromerzeugung dienen,
generell von der Erdgassteuer auszunehmen. Das hat
man ja auch in der Öffentlichkeit mitbekommen. Das
gilt erst dann, wenn der dort erzeugte Strom für die
Grundlast bestimmt ist. Die SPD lehnt eine Energiepolitik ab, die einseitig - dazu noch mit steuerlicher Förderung - auf lange Sicht einen Verdrängungswettbewerb
zugunsten von Gas im Strommarkt und zu Lasten der
einheimischen Träger in Gang setzen will.
({12})
Wenn wir, wie manche argumentieren, aus der Atomenergie schrittweise aussteigen, brauchen wir aus unserer Sicht dafür technisch zwingend keinen Ersatz; denn
bei dem Konzentrationsprozeß in der Energieversorgungswirtschaft wird die Bedeutung der Reservehaltung,
die die 40 000 Megawatt Überschuß ausmachen, deutlich abnehmen.
Wir wollen keinen Ersatz für Braun- und Steinkohle
auf anderer fossiler Grundlage über ein Maß hinaus, das
ein vernünftiger Energiemix politisch erfordert. Wer
glaubt, daß ein nennenswerter Anteil der deutschen
Stromversorgung billig mit Gas zu erreichen sei, täuscht
sich. Wenn die Nachfrage auf Grund des großen Bedarfs
im Stromsektor anzieht, wären die Lieferanten, wie
Gazprom oder Norwegen, geradezu mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn sie nicht die Preise massiv erhöhten. Da ist nichts mit billiger Stromversorgung!
({13})
Aber auf dem Weg dahin gäbe es tiefe Einbrüche in den
Strukturen unserer Bergbaureviere und einen Verzicht
auf zugesagte Kraftwerksinvestitionen, zum Beispiel im
Rheinland allein 20 Milliarden DM.
Deswegen sagt die SPD: Gas hat seine Bedeutung in
Verbindung mit Kraft-Wärme-Kopplung; da ist Gas unschlagbar. Darüber hinaus wollen wir High-TechGaskraftwerken mit besonders hohem Wirkungsgrad aus
technologiepolitischen Gründen eine Chance geben, die
Entwicklungskosten überhaupt einzufahren, und das in
einem zeitlich ganz schmalen Fenster, mehr nicht. Danach überlassen wir sie dem Markt.
({14})
Dauersubventionen wird es weder für das einzelne
Kraftwerk noch vom Grundsatz her mit uns geben. Darauf hat sich die Koalition letztendlich geeinigt.
Neue GuD-Kraftwerke mit einem elektrischen Wirkungsgrad von über 57,5 Prozent netto werden für zehn
Jahre ab Inbetriebnahme von der Mineralölsteuer auf
Erdgas befreit. Dies ist ein anspruchsvoller Wert, der in
Deutschland und in Europa bisher nicht erreicht wurde.
({15})
Damit sind Mitnahmeeffekte auszuschließen, und es
wird sichergestellt, daß die Leistungsfähigkeit des geförderten Kraftwerks objektiv und sachgerecht nachgewiesen werden muß, bevor es zu einer Steuergutschrift
kommt.
({16})
Natürlich würden sich die Kohlereviere wünschen,
daß wir auf diesem Gebiet gar nichts machen. Aber der
erreichte Wert schließt massenhafte und subventionierte
Konkurrenz durch Gas gegen Braunkohleverstromung
definitiv aus.
({17})
Ich gehe davon aus, daß es in den nächsten zwei Jahren ein oder zwei High-Tech-Kraftwerke geben wird,
eins davon hoffentlich in Ludmin, im strukturgebeutelten Vorpommern. Das wird aber auch alles sein. Das gefährdet unsere Strukturen letztendlich nicht.
({18})
Sehr geehrte Damen und Herren, die ökologische
Steuerreform setzt einen wichtigen sozialen Akzent. Sie
schafft Raum für ökologische Entwicklungen, und sie ist
struktur- und regionalpolitisch ausgewogen. Deswegen
wünschen wir sie uns und stimmen ihr zu.
Vielen Dank.
({19})
Für die CDU/CSUFraktion spricht nunmehr der Kollege Heinz Seiffert.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren ! Rotgrün präsentiert
uns heute mit der Fortführung der Ökosteuerreform ein
weiteres Stück aus dem Steuertollhaus.
({0})
Sie setzen damit konsequent den Weg ins Steuerchaos
fort. Dabei lassen Sie sich weder von der Vernunft noch
vom Sachverstand aufhalten.
Dieses Steuergesetz ist handwerklich schlampig. Es
ist verheerend, kompliziert und teilweise kaum anwendbar. Es muß, wenn Sie es heute mit Ihrer Mehrheit beschließen, alsbald wieder nachgebessert werden, weil
zumindest einer der zahlreichen Umdrucke vom Ausschuß fehlerhaft beschlossen wurde. Sie selbst hatten
zwischenzeitlich den Überblick verloren; das werfe ich
Ihnen nicht einmal vor.
Die renommierten Verfassungsrechtler Professor
Schön und Professor Herdegen haben in einem Gutachten ganz erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der ökologischen Steuerreform angemeldet. Sie sagen, diese Steuererhöhung verstoße gegen Grundsätze
des Finanzverfassungsrechts, gegen allgemeine Verfassungsprinzipien der Steuergerechtigkeit und sie verletze
Reinhard Schultz ({1})
Unternehmen in ihren Grundrechten auf Gleichheit und
Berufsfreiheit.
Meine Damen und Herren, noch beim Einstieg in die
Ökosteuer wurde von Ihnen beteuert, daß alle weiteren
Schritte bei der Energiebesteuerung nur im europäischen Verbund gemacht würden. Nun setzen Sie Ihre
Geisterfahrt fort, obwohl der Herr Bundeskanzler getönt
hat, die Zeit der nationalen Alleingänge sei vorbei. Bis
heute fehlt auch die Genehmigung der EU-Kommission
zu den Ausnahme- und Steuersubventionstatbeständen,
die Sie mit diesem Gesetz neu schaffen. Insofern steht
Ihr bürokratisches Meisterwerk unter Vorbehalt, auf tönernen Füßen.
Schlimmer noch als die Verfahrensmängel ist jedoch,
daß diese Ökosteuer inhaltlich nichts weiter als eine
Geldbeschaffungsmaßnahme ist - ein Abkassiermodell,
({2})
das weder sozial gerecht noch wirtschaftlich ausgewogen noch ökologisch wirksam ist.
({3})
Während der vielstündigen Beratungen im Ausschuß ist
nicht einmal, auch nicht nur am Rande, das Thema der
ökologischen Lenkungseffekte, die diese Reform ja haben soll, angesprochen worden.
({4})
Es geht Ihnen, gerade auch den Grünen, Herr Schlauch,
ausschließlich ums Geld. Was Sie mit den 52,3 Milliarden DM, die Sie bis 2003 durch diese Ökosteuer einnehmen, machen, wird täglich nebulöser.
Meine Damen und Herren, die Ökosteuer bringt eine
unverantwortliche Nettobelastung für viele Wirtschaftsbereiche. So zahlt allein der gewerbliche Güterkraftverkehr pro Erhöhungsstufe netto mehr als 1,2 Milliarden DM drauf. Die Brummis sind zehnmal mehr belastet, als sie durch die Beitragssubvention entlastet werden. Auch der Handel legt netto mehr als 1 Milliarde
DM pro Erhöhungsstufe drauf. Das kostet direkt Arbeitsplätze.
({5})
Noch heute morgen hat der Herr Bundeskanzler große Worte für den Aufbau Ost gefunden, der ja schließlich Chefsache ist.
({6})
Aber wer ist besonders von dieser Steuer betroffen? Die
Menschen und die vielen Betriebe in den neuen Bundesländern. Dort ist die wirtschaftliche Lage noch
schwieriger, und die Strompreise sind bei niedrigerem
Lohnniveau noch höher als in Westdeutschland. Wenn
man bedenkt, daß die Industriepreise für Strom in den
östlichen Nachbarländern bis zu 40 Prozent billiger sind
als in den neuen Ländern, dann wird doch noch deutlicher, welchen Bärendienst Sie den neuen Bundesländern
mit dieser Ökosteuer erweisen.
({7})
Und diese Reform ist zutiefst unsozial. Sie trifft nun nach den Erhöhungsstufen noch verstärkt - all die Menschen, die von der Stabilisierung bzw. der Senkung der
Rentenbeiträge nicht profitieren, zum Beispiel die Rentner, die Sie ohnehin schon um die verdiente Beteiligung
am wirtschaftlichen Zuwachs bringen wollen, oder Studenten, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger. Die alle treffen Sie verschärft. Das nehmen Sie als Sozialdemokraten in Kauf. Ich denke auch an die Selbständigen, an die
kleinen und mittleren Beamten und an die Soldaten. Sie
alle zahlen nur und profitieren nicht vom Nutzen des
Steuertransfers in die Sozialkasse.
({8})
Sie machen eine Politik gegen den Autofahrer und
gegen den ÖPNV zugleich. Im ländlichen Bereich sind
die Pendler eben auf das Auto zwingend angewiesen.
Mobilität ist heute auf dem Arbeitsmarkt zwingende
Voraussetzung.
({9})
Diese Leute bestrafen Sie mit Steuererhöhungen. Sie
kassieren beim Autofahrer ab und fahren im Gegenzug
die Investitionen beim Bundesstraßenbau auf Null. In
Baden-Württemberg wird bis zum Jahr 2003 - auch
wenn dann der Spritpreis deutlich über 2 DM liegt kein einziges neues Bundesfernstraßenprojekt begonnen.
Wie wollen Sie dies den Autofahrern und den Menschen, die dringend auf eine Umgehungsstraße warten,
erklären?
Herr Kollege Seiffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heinrich?
Gerne, Herr Heinrich.
Herr Kollege Seiffert, Sie
haben gerade eindrucksvoll eine ganze Liste von zusätzlichen einseitigen Belastungen aufgezählt. Können Sie
dem Hohen Hause vielleicht auch mitteilen, wie sich die
zusätzliche Belastung für die deutsche Landwirtschaft
darstellt? Diese Zahlen vermisse ich noch.
Die Landwirtschaft
wird mit etwa 800 Millionen DM belastet. Ich halte dies
gerade gegenüber einem Berufsstand, der um das Überleben kämpft, für völlig unverantwortlich.
({0}): Habt ihr das abgesprochen?)
Mehr als 25 Millionen Menschen nutzen täglich den
ÖPNV. Es werden riesige finanzielle Anstrengungen
unternommen, um ein attraktives, flächendeckendes
ÖPNV-Netz anzubieten. Wie paßt denn da Ihre Mineralöl- und Stromsteuererhöhung?
In der öffentlichen Anhörung zu dem vorliegenden
Gesetz hat der Vertreter des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmen wörtlich erklärt:
Wenn es so weitergeht wie bisher, dann wäre die
rot-grüne Koalition ein Totengräber des ÖPNV.
({1})
Ihre bürokratischen Nachbesserungen, die Sie in
letzter Minute eingebracht haben, ändern an diesem verheerenden Urteil nicht viel. Sie belasten die Omnibusunternehmer mit einem völlig unzumutbaren Verwaltungsaufwand. Ich nenne ein Beispiel: Sie befreien teilweise von der Ökosteuer - lassen Sie mich dies noch
ausführen -: „… Kraftomnibusse, die im genehmigten
Linienverkehr verwendet werden, wenn in der Mehrzahl
der Beförderungsfälle die gesamte Reiseweite 50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht
übersteigt“. Wer soll denn dies kontrollieren? Warum
haben Sie nicht noch ein Mindest- oder Höchstalter der
zu Befördernden in das Gesetz geschrieben? Das, was
Sie machen, ist doch bürokratischer Wahnsinn.
({2})
Herr Kollege Seifert, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen
Schultz?
Ja.
Lieber
Herr Kollege Seiffert, sind Sie erstens bereit, mir zuzustimmen, daß der von Ihnen genannte Maßstab für den
Nahverkehr dem Personenbeförderungsgesetz, das seit
zig Jahren gilt, entnommen worden ist, damit es eine
klare Rechtsgrundlage gibt? Sind Sie zweitens bereit,
mir zuzustimmen, daß die Anregungen des Verbandes
deutscher Verkehrsunternehmen von uns aufgenommen
worden sind - dies ist ein Ergebnis der Anhörung - und
daß dieser Verband der Koalition ein Dankschreiben geschickt hat, weil endlich die Preisrelationen zwischen
privatem Verkehr und öffentlichem Personennahverkehr
- trotz Erhöhung der Steuerlast durch die Ökosteuer verbessert worden sind?
Nein, Herr Kollege
Schultz, der Maßstab, den Sie in das Gesetz neu hineingeschrieben haben, wird seit Jahren nicht mehr angewandt, weil er nicht praktikabel und nicht kontrollierbar
ist.
Laut Dankschreiben, das heute über den Ticker verbessert worden ist, ist der Verband zwar dankbar dafür,
daß die Belastungen zumindest etwas verringert worden
sind. Aber im gleichen Atemzug wird der Wille bekundet, an den Herrn Bundeskanzler zu schreiben, damit er
dafür sorgt, daß der bürokratische Aufwand, den Sie den
Omnibusunternehmern aufbürden wollen, nicht so hoch
wie geplant wird.
({0})
Herr Kollege Seiffert, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Seiffert, können Sie noch einmal deutlich machen, wie die
Koalition zum Totengräber des ÖPNV wird, weil sie
seine Förderung nicht fortsetzt? Wenn die Neuregelung
für den ÖPNV, die Herr Schultz gefordert hat, in Kraft
tritt, dann würde auf Grund des bürokratischen Aufwands letzten Endes ein neues Berufsbild entstehen,
nämlich das eines Busfahrgastüberprüfungsbeamten.
Herr Kollege Michelbach, ich begrüße ausdrücklich, daß die Koalition auf
ihre Fahnen die Verringerung der Arbeitslosigkeit geschrieben hat. Aber es ist der falsche Weg, wenn ausgerechnet in der Bürokratie neue Arbeitsplätze geschaffen
werden.
({0})
Herr Kollege Seiffert, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Eich?
Ich möchte bitten, fortfahren zu dürfen.
Ich möchte noch ein Wort zur Landwirtschaft sagen.
Im Landwirtschaftsausschuß hat die rotgrüne Mehrheit
einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem festgestellt wird, daß die Landwirtschaft angemessen zu entlasten sei, weil sie durch die Ökosteuer überproportional
belastet werde. Selbst der Landwirtschaftsminister hat richtigerweise - ein Ungleichgewicht in der Landwirtschaft festgestellt. Jetzt frage ich: Was machen die
Maulhelden des Landwirtschaftsausschusses jetzt?
Stimmen Sie tatsächlich dem vorliegenden Gesetz zu,
wohl wissend, daß sie die Landwirtschaft dadurch kaputtmachen? Unsere Anträge haben Sie jedenfalls abgelehnt.
Durch die zwischen Rotgrün kurzfristig vereinbarte
Steuervergünstigung für Gaskraftwerke wird stark in
den bestehenden Energiemix eingegriffen. Gas- und
Dampfkraftwerke, die nach 1999 errichtet werden, sollen für 10 Jahre von der Energiesteuer komplett befreit
werden.
Das hört sich vordergründig harmlos an und könnte
fast als Wohltat angesehen werden. Aber mit diesem
Vorhaben werden Sie die Wettbewerbsbedingungen
für die Braunkohle und auch für die Steinkohle bei
künftigen Kraftwerksinvestitionen drastisch verschlechtern.
({0})
Wenn die Kohle unter diesen Umständen wettbewerbsfähig bleiben soll, müßten die Gewinnungskosten
um rund ein Viertel reduziert werden. Das ist völlig
unrealistisch. Wenn Sie dieses Gesetz heute beschließen, dann ist das der Einstieg in den Ausstieg aus der
Kohle.
Herr Kollege Seiffert, es gibt noch zwei Wünsche nach Zwischenfragen.
Nein, vielen Dank, nicht
mehr.
Das gilt besonders für die neuen, 14 Milliarden DM
teuren Braunkohlekraftwerke der VEAG in den neuen
Bundesländern. Das gilt auch für das Projekt Garzweiler II in NRW, wo Sie Investitionen in Höhe von
20 Milliarden DM und Tausende von Arbeitsplätzen
aufs Spiel setzen. Regierung und Parlamentsmehrheit werden mit dieser Richtungsentscheidung von der
Kohle zum Gas Wertschöpfung ins Ausland verlagern.
Sie bewirken überdies eine noch stärkere Importabhängigkeit bei der Stromversorgung, zumal Sie ja aus dem
einheimischen Atomstrom auch möglichst rasch aussteigen wollen.
({0})
Durch Ihr Vorgehen, dem jede Gesamtkonzeption fehlt,
richten Sie in der Energiepolitik dasselbe Chaos an, das
wir in der Steuerpolitik schon haben.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion setzt alles daran, diesen verhängnisvollen Weg, diese falsche Weichenstellung zu
verhindern. Deshalb haben wir einen entsprechenden
Änderungsantrag eingebracht. Jetzt müssen Sie, die
Kolleginnen und Kollegen aus den Braunkohlerevieren
in NRW und Ostdeutschland, Farbe bekennen und Ihre
Solidarität mit den Kumpeln zeigen. Jetzt wird deutlich,
ob Ihnen die Koalitionsdisziplin oder Ihre heimatlichen
Wirtschaftsstrukturen wichtiger sind. Es gibt jetzt kein
Ausweichen für Sie. Was Sie hier tun, müssen Sie zu
Hause verantworten.
({2})
Wenn Sie den Todesstoß für die Braunkohle führen helfen, stehen Sie dafür zu Hause gerade.
Meine Damen und Herren, die Ökosteuerreform ist
ein in jeder Hinsicht mißlungenes Gesetz. Dies hat
die öffentliche Anhörung eindrucksvoll gezeigt, und
auch in den Ausschußberatungen ist es keine Spur
besser geworden, im Gegenteil. Ich bin mir ganz sicher:
Dieses Gesetz wird ein Sargnagel für Ihre Koalition
sein, hier im Bundestag und erst recht in NRW. Die
CDU/CSU-Fraktion wird diese Mischung aus Ideologie,
Pfusch und Beutelschneiderei mit aller Entschiedenheit
ablehnen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat nunmehr der Kollege Dr. Reinhard Loske. - Herr Kollege Loske, ich sichere Ihnen zu,
daß die Zeituhr jetzt richtig eingestellt ist.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir schließen heute die Beratungen über die ökologische Steuerreform im Bundestag ab.
({0})
Damit kommen die Koalitionsfraktionen einem Versprechen nach, das sie vor der Wahl gegeben haben.
({1})
Es werden steuerliche Anreize zur Energieeinsparung
gegeben, und die Lohnnebenkosten sinken. Das ist gut
für die Umwelt, und das ist gut für die Arbeitsplätze.
({2})
Damit verlassen wir den verhängnisvollen Pfad der
letzten Dekade, der wie folgt aussah: Die Lohnnebenkosten sind unentwegt gestiegen, und die saftigen Mineralölsteuererhöhungen sind in Theo Waigels schwarzen
Löchern verschwunden und haben niemandem genutzt.
Das ist die Bilanz der letzten Dekade, und mit dieser
Politik gegen Arbeitsplätze machen wir jetzt Schluß.
({3})
Mit dem Einstieg in die ökologische Steuerreform
setzen wir etwas in die Tat um, was in diesem Hohen
Hause immer Konsens war: Nur mit dem Einsatz ökonomischer Instrumente werden wir unsere Klimaschutzziele, die wir stets gemeinsam verfolgt haben, erreichen
können. Es ist nicht unser Problem, wenn das Erinnerungsvermögen von CDU/CSU und F.D.P. in dieser Angelegenheit so schlecht ist.
({4})
- Wissen Sie, der Populismus, den Sie hier an den Tag
legen, ist wirklich unter aller Kanone. Ich bin es, ehrlich
gesagt, leid, immer wieder aus den alten Reden von
Herrn Töpfer, von Herrn Schäuble, von Herrn Repnik
und von Frau Merkel zu zitieren, in denen die ökologische Steuerreform in den höchsten Tönen gepriesen
wurde. Was haben Sie damals nicht alles gesagt!
({5})
Daß Sie sich heute aus populistischen Gründen nicht
mehr daran erinnern wollen, kann man nachvollziehen.
Aber wenn es wahr ist, daß wir auf Kosten zukünftiger
Generationen leben, dann erwarte ich von einer konservativen Partei zumindest, daß sie sich mit diesem Thema
auseinandersetzt und nicht einer Diktatur des Hier und
Jetzt das Wort redet.
({6})
Daß man in dieser Angelegenheit von der F.D.P.
nichts zu erwarten hat, ist klar. Das sieht man schon daran, daß heute zu diesem Thema der Kollege Möllemann
redet, den ich monatelang nicht gesehen habe und der
jetzt plötzlich wieder da ist, um die Umwelt zu retten oder die deutsche Kohle.
({7})
Das wird man gleich hören. Mal schauen, in welche
Richtung diesmal das Fähnchen gehängt wird, ob mehr
Richtung Umwelt oder mehr Richtung Kohle. Da werden ja manchmal die unmöglichsten Dinge zusammengeworfen.
({8})
Zu dem Gesetz zur ökologischen Steuerreform. Ich
glaube, man muß hier zwei Dinge auseinanderhalten.
Zunächst einmal: die Lenkungswirkung dieser ökologischen Steuerreform. Wir haben jetzt einen ganz wichtigen Gedanken systematisch im Gesetz verankert, nämlich den der Verstetigung. Dies ist also keine Sache, die
ad hoc läuft, sondern eine Sache, die auf der Zeitachse
bis 2003 absehbar ist, in fünf Schritten. Das ist genau
das, was wir immer gefordert haben. Stetigkeit ist wichtiger als die absolute Höhe. Dem folgen wir jetzt.
({9})
Herr Kollege Loske,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Thiele?
Im Moment möchte ich keine Zwischenfragen
zulassen.
({0})
Im Gegenzug werden wir die Rentenversicherungsbeiträge bis zum Ende dieses Prozesses um zwei Prozentpunkte absenken. Da sieht man wieder den inneren
Zusammenhang zwischen der Schaffung von Innovationsanreizen auf der einen Seite und der Senkung der
Arbeitskosten auf der anderen Seite.
Ich will jetzt zu einigen Einzelregelungen kommen.
Denn neben der allgemeinen Lenkungswirkung dieser
Steuer gibt es sehr viele Einzelregelungen, die ökologisch höchst relevant sind.
Erstens. Wir tun etwas für die Kraft-WärmeKopplung. Wir stellen sie nämlich bei hohen Wirkungsgraden von der Inputsteuer frei. Das ist gut und wichtig
für die Stadtwerke.
({1})
Zweitens. Wir tun etwas für die Blockheizkraftwerke.
Bis 2 Megawatt stellen wir sie sowohl von der Mineralölsteuer als auch von der Stromsteuer völlig frei. Das ist
gut und wichtig für die dezentrale Energieversorgung.
({2})
Drittens. Wir tun etwas für die Kraftwerke mit einem
hohen Wirkungsgrad. Das ist wichtig, damit wir einen
klimaverträglichen Energieträgermix hinbekommen.
Viertens. Wir tun etwas für die Reinigung der Kraftstoffe. Denn die schwefelarmen Kraftstoffe werden ab
2001 und die schwefelfreien Kraftstoffe ab 2003 steuerlich bessergestellt. Bisher ist diese steuerliche Förderung
erst ab 2005 vorgeschrieben. Wir führen sie vier Jahre
eher ein. Auch das ist gut für die Umwelt.
({3})
Fünftens. Wir tun etwas für den öffentlichen Personennahverkehr. Es ist sehr bemerkenswert, was Sie gerade gesagt haben. Das ist nämlich blanker Unsinn und
bezieht sich auf den ursprünglichen Text. Jetzt haben
wir eine Halbierung des Steuersatzes für den gesamten
öffentlichen Personennahverkehr. Damit ändern wir die
relativen Preise zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs
gegenüber dem Individualverkehr. Auch das ist gut für
die Umwelt.
({4})
Sechstens. Wir haben ein Förderprogramm für erneuerbare Energien in Höhe von 200 Millionen DM aufgelegt. Das Geld stammt aus dem Aufkommen der Ökosteuer. Wir streben aber danach, daß die erneuerbaren
Energien in Zukunft von der Steuer freigestellt werden,
wenn das wettbewerbsrechtlich sichergestellt werden
kann; davon gehen wir aus.
({5})
Das alles ist gut für die Umwelt. Das alles ist gut für
den Einsatz moderner Technologien. Das alles hat es
unter der alten Regierung nicht gegeben.
({6})
Wir sind uns dessen bewußt, daß die ökologische
Steuerreform Teil eines größeren Komplexes ist. Es ist
natürlich nicht so, daß, wenn wir die ökologische Steuerreform umsetzen, umweltpolitisch nichts mehr getan
werden muß. Wir müssen auch andere Dinge tun, um
unsere Klimaschutzziele zu erreichen. Auch die Reform
des Sozialstaates ist mit der Senkung der Rentenversicherungsbeiträge keineswegs erledigt. Nein, wir brauchen ebenfalls eine leistungsfähige, eine tragfähige, eine
zukunftsgerichtete Reform der sozialen Sicherungssysteme. Mit dieser ökologischen Steuerreform sind wir
nicht aus dem Schneider.
({7})
Zu Europa. Es ist immer wieder der Vorwurf zu hören, wir würden einen nationalen Alleingang machen.
Dieser Vorwurf ist Unfug. Erstens gehen schon neun
Länder in Europa in diese Richtung. Zweitens haben wir
als großes Land eine Vorbildfunktion. Drittens haben
wir jüngst Signale bekommen, daß wir auf europäischer
Ebene einer Einigung bezüglich der Mindestbesteuerung
von Energie ein Stück näher gekommen sind.
({8})
Das alles sind Dinge, die Sie nicht geschafft haben und
gar nicht gewollt haben.
({9})
Ich komme jetzt zu den Gas- und Dampfturbinenkraftwerken. Ich will noch einmal ganz kurz die Sachlage darstellen. Heute werden in der Stromerzeugung
Kohle und Kernbrennstäbe nicht besteuert, Erdgas aber
sehr wohl. Wir haben es hier also mit einer Ungleichbehandlung zu tun. Die logische Folgerung daraus wäre,
daß man entweder auch Kohle und Kernbrennstäbe besteuert oder die Erdgassteuer abschafft. Das wollen wir
aber nicht tun; vielmehr wollen wir Erdgas nur dann von
der Mineralölsteuer bei der Stromerzeugung befreien,
wenn es in hocheffizienten Kraftwerken eingesetzt wird.
Das ist ein ganz wichtiger Investitionsimpuls für die
Energiewende.
({10})
Ich möchte noch einen anderen Aspekt ansprechen:
Diese Technologien werden angewandt, und diese
Kraftwerke werden gebaut. Es geht also nicht mehr um
die Frage, ob sie gebaut werden; vielmehr geht es darum, wo sie gebaut werden. Vor dem Hintergrund eines
liberalisierten Marktes ist es in unserem Interesse, daß
sie in unserem Land von unseren Unternehmen - sie
können das - gebaut werden. Das ist ganz wichtig.
({11})
Gerade in Nordrhein-Westfalen sind viele dieser Anlagenbauer beheimatet. Deshalb wäre es eine Paradoxie
erster Güte, wenn - auf einem liberalisierten Markt diese Kraftwerke in Holland, Belgien, Tschechien oder
Polen gebaut würden und wenn der Strom dann von dort
zu uns importiert würde. Das wäre doch grotesk.
({12})
Wir wollen, daß diese Technologien in unserem Land
angewandt werden. Wir wollen nicht zum reinen
Stromimporteur werden.
Zur Rolle des Erdgases ist einiges gesagt worden.
Klar ist, daß eine Strategie, mit Macht die Erdgasnutzung auszubauen, unvernünftig wäre. Darum geht es gar
nicht. Es geht darum, Erdgas da einzusetzen, wo Wirkungsgrade hoch sind, wo Kraft-Wärme-Kopplung betrieben wird und wo moderne Energieerzeugungstechnologien zur Anwendung kommen.
Mir ist vollkommen bewußt, daß einige Kollegen aus
der SPD mit dieser Regelung Schwierigkeiten haben.
Ich persönlich fand die Aufgeregtheit der letzten Tage
etwas übertrieben. Klar ist - das weiß jeder, der sich
auskennt -: Wenn es um Klimaschutz und um Strukturwandel geht, dann brauchen wir vor allen Dingen effiziente Technologien. In dem Energiemix, den wir in Zukunft brauchen werden, wird auch die Kohle eine wichtige Rolle spielen. Das ist überhaupt keine Frage. Nur,
die Volumina sind zu groß. Wenn wir die CO2Minderungsziele erreichen wollen, dann müssen wir den
Verbrauch fossiler Energieträger insgesamt zurückfahren. Das ist ganz wichtig.
({13})
Dieses Gesetz leistet einen wichtigen Beitrag in
Richtung Energieeffizienz und Solarwirtschaft. Ich
glaube, es ist ein gutes Gesetz, das seinen Beitrag zum
ökologischen Strukturwandel in diesem Lande leisten
wird.
Danke schön.
({14})
Für die F.D.P.
spricht der Kollege Jürgen Möllemann.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In diesem Saal jagt ein Jahrhundertwerk in Pleiteform das andere. In der letzten Woche haben wir hier alle fassungslos erlebt, wie Frau Fischer die Abgeordneten der Regierungsfraktionen völlig entsetzt vor sich gesehen hat und
wie sie von ihrem eigenen Gesetzeswerk nichts mehr
wußte. Dennoch haben Sie es verabschiedet. Damit haben Sie Hunderttausende von Menschen in den Gesundheitsberufen getroffen. Das öffentliche Echo war für Sie
eine Katastrophe.
({0})
Heute kommen Sie mit der zweiten Katastrophe, mit
einer Flickschusterei ohnegleichen.
({1})
Das, was Sie hier „Jahrhundertwerk“ nennen, ist weder
„öko“ noch „logisch“. Es ist eine reine Abzockerei.
({2})
Sie wissen nicht mehr, wie Sie Ihren Haushalt finanzieren sollen und suchen fadenscheinige Vorwände, um
neue Einnahmequellen zu erschließen.
({3})
({4})
Wir haben immer darauf hingewiesen, daß wir den
nationalen Alleingang für den Grundfehler dieser Reform halten. Herr Kollege, Sie haben soeben allen Ernstes vorgetragen, die europäische Harmonisierung
vollziehe sich bei Ihnen dergestalt, daß Sie erste Signale
dafür hätten, daß sich demnächst jemand daran beteiligen könnte.
({5})
So machen Sie Europapolitik - mit „ersten Signalen“.
Ihre Stümperei geht zu Lasten der Bürgerinnen und
Bürger, der Unternehmen in Deutschland. Das können
wir nicht mitmachen.
({6})
Herr
Kollege Möllemann, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Eich?
Nein, das lohnt die
Mühe nicht.
({0})
Weil der öffentliche Eindruck dessen, was Sie „Reformwerk“ nennen, so eindeutig negativ geprägt ist auch Sie wissen das -, lohnt es sich nicht, das im Generellen zu vertiefen.
Aber ich möchte mich jetzt doch als nordrheinwestfälischer Abgeordneter besonders an die nordrheinwestfälischen Kollegen aus der SPD wenden.
({1})
Ich habe hier einen Text von Herrn Manfred Dammeyer, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD im nordrheinwestfälischen Landtag. Ich zitiere ihn wörtlich und ohne
jeden Kommentar:
Die zweite Stufe der Öko-Steuer kann so, wie sie
die Berliner Koalition verabschieden will, niemals
die Zustimmung Nordrhein-Westfalens finden; sie
ist gegen die Interessen unseres Landes gerichtet,
sie widerspricht auch den nationalen Interessen
Deutschlands.
Wie können Sie denn einem Gesetzeswerk zustimmen,
das gegen die Interessen von Nordrhein-Westfalen und
gegen die nationalen Interessen Deutschlands gerichtet
ist?
({2})
- Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag. - Ich
zitiere Herrn Dammeyer wiederum wörtlich:
Das hat nichts mehr mit verläßlicher und berechenbarer Politik zu tun, das ist die Rückkehr zu ideologischen Grabenkämpfen.
Das sagt Ihr Fraktionsvorsitzender. Warum stimmen Sie
denn einer Sache, die den Interessen des Landes und den
Interessen der Nation widerspricht und nichts mehr mit
verläßlicher Politik zu tun hat, zu?
({3})
Wenn Ihnen das nicht reicht, kann ich auch den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen zitieren. Herr Clement sagt - ich zitiere laut einer Erklärung
des Pressedienstes der Landesregierung -:
Das im Zusammenhang mit dem Abbauprojekt
Garzweiler II von der RWE Energie AG gegenüber
der Landesregierung zugesagte Kraftwerkserneuerungsprogramm, das eine wesentliche Steigerung
der Anlageneffizienz bewirken wird, ist deshalb
unverzichtbar.
Die Äußerungen von Vertreterinnen und Vertretern
- das ist wohl ein neuer Begriff: Vertreterinnen und
Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen zu Lasten dieses
Kraftwerkserneuerungsprogramms sind in diesem
Zusammenhang schlicht unverständlich; im Blick
auf die von diesem Projekt abhängigen Arbeitsplätze sind diese Äußerungen unverantwortlich.
Die Haltung der Landesregierung zum Abbauprojekt Garzweiler II und zu dem damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Kraftwerkserneuerungsprogramm werden davon nicht beeinflußt. Die
Haltung der Landesregierung zu Garzweiler II …
ist und bleibt unverändert.
Das war heute um 15.11 Uhr.
({4})
Herr
Kollege Möllemann, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte
das im Zusammenhang vortragen.
Gut,
keine Zwischenfrage. Danke sehr.
Um 16.17 Uhr
kommt die Tickermeldung von einer gewissen Frau
Höhn - soweit ich weiß, ist sie Mitglied dieser Landesregierung -: Garzweiler II kommt nicht. - Was ist denn
das für ein Sauhaufen in Düsseldorf?
({0})
Der Ministerpräsident teilt mit, das sei unverantwortlich
und widerspreche den nationalen Interessen, und seine
Ministerin sagt das Gegenteil. Ich habe ja auch einmal
einem Kabinett angehört, aber wenn ich das gemacht
hätte, wäre ich herausgeflogen. Ich kann Herrn Clement
nur raten: Klären Sie das.
({1})
- Liebe Freunde, Sie brauchen hier nicht hämisch dazwischenzurufen. Sie wissen doch, daß Sie im Unrecht
sind.
Sie haben den Bergleuten versprochen: Garzweiler
kommt. Sie wissen, daß durch dieses jetzt vorliegende
Gesetz Garzweiler gekillt werden soll. Nun hat der Kollege von den Grünen gerade angemerkt: Mal sehen, wohin die F.D.P. tendiert. Fragen Sie doch zu diesem Thema einmal Ihren Vormann Leo Fischer.
({2})
- Entschuldigung, Joschka Fischer. - Fragen Sie doch
einmal Leo Joschka Fischer. Ebenjener Herr Fischer hat
landauf, landab erklärt, es müsse Schluß sein mit der
Subventionierung der Steinkohle.
({3})
Bei der von der IG Bergbau noch in Bonn organisierten
Demonstration habe ich mir die Augen gerieben: Leo
Fischer stand auf den Barrikaden und sagte, es muß mit
den Subventionen für die Steinkohle weitergehen. Doch
derselbe Leo Fischer bekommt jetzt als Ausgleich für
Ihr Umfallen beim Waffenexport die Genehmigung,
Garzweiler II kaputtzumachen.
({4})
Die Leute merken, daß Sie so merkwürdige Geschäfte
betreiben. Dadurch verspielen Sie Ihre Regierungsfähigkeit in Bonn und Berlin; Sie werden sie auch in Düsseldorf verspielen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Möllemann, was Sie hier vortragen, ist aus meiner
Sicht, da Sie der Landesvorsitzende der F.D.P. in Nordrhein-Westfalen sind, außerordentlich durchsichtig. Sie
betreiben schlicht und einfach Vorwahlkampf in NRW.
Ich glaube nicht, daß Ihnen dieses irgend etwas nützen
wird, denn erstens durchschauen das auch die Menschen
im Land, zweitens wird auch die SPD durchschauen,
daß es schlicht und einfach eine Anbiederung ist, und
drittens werden Sie damit nicht über die Fünfprozenthürde in Nordrhein-Westfalen kommen.
({0})
Ich möchte Ihnen einmal folgendes sagen: Ich weiß
nicht, Herr Möllemann, ob Sie mitbekommen haben,
daß wir Wettbewerb im Energiebereich bekommen.
Da wir als Bundesregierung Ihren sehr dünnen Entwurf
bei der Zugangsregelung nachgebessert haben, werden
wir den Wettbewerb ab 1. Januar 2000 auch bis zum
letzten Tarifkunden bekommen. Das bedeutet konkret,
daß sich Garzweiler II im europäischen Wettbewerb
gegen europäische Strompreise wird behaupten müssen.
Das bedeutet ganz konkret: Wenn sich Garzweiler II in
diesem europäischen Wettbewerb rechnet, wird es gemacht; wenn es sich nicht rechnet, dann wird es nicht
gemacht. Es steht einzig und allein die Frage an, ob wir
dafür sorgen, daß in diesem Land eine Technologie entsteht, die insgesamt dafür sorgt, daß wir keine Stromimporte aus dem Ausland im kommenden Wettbewerb bekommen, sondern daß Deutschland und auch das Land
Nordrhein-Westfalen als das Energieland Nummer eins
ein Land bleibt, das Strom produziert. Da geht es nicht
um die Konkurrenz deutscher Gaskraftwerke gegen
deutsche Braunkohlekraftwerke, sondern es geht darum,
ob die deutschen Gasanlagen und die deutschen Kohleanlagen im europäischen Wettbewerb mithalten können.
Deswegen sage ich Ihnen eines: Das Gesetz, das wir
jetzt auf den Weg bringen, ändert an der Ausgangssituation für Garzweiler II nichts, aber schärft die Bedingung,
daß im Zweifelsfalle Gaskraftwerke in Deutschland mithalten können gegen die Gaskraftwerke im Nachbarland.
Deswegen glaube ich, daß es ein optimaler Kompromiß
ist, daß wir in Deutschland Stromproduktionsland werden und daß wir nicht auf den Import von anderen Ländern angewiesen sind.
Danke schön.
({1})
Zu einer
weiteren Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion. Der Redner, Herr Möllemann, hat dann die Möglichkeit, auf beide Kurzinterventionen zu antworten.
Herr Schultz, bitte schön.
Herr Kollege Möllemann, Sie haben die nordrhein-westfälischen
SPD-Abgeordneten angesprochen und gefragt, warum
sie sich so oder so verhalten.
({0})
Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren und reicht das
Gedächtnis dafür aus, daß es in der Zeit, in der Sie noch
Regierungsverantwortung hatten, in allen Fragen, in denen es um Kohle ging, alles, was an Restriktionen, an
Abbau und an Hürden für den Steinkohlebergbau an
Rhein und Ruhr kam, im wesentlichen durch Ihre Partei
in Ihre Koalition hineingetragen worden war und daß es
nur sehr schwer möglich war, dagegenzuhalten: mit ein
paar Vernünftigen aus der CDU und mit der SPD? Können Sie sich daran erinnern, daß in allen Debatten einschließlich der jüngsten Haushaltsplanberatungen
grundsätzlich Ihre Partei diejenige war, die die Frage
fossiler Energieträger noch deutlicher in Frage gestellt
hatte als der eine oder andere - zum Beispiel der Kollege Brüderle -, der heute hier gesprochen hat? Glauben
Sie nicht auch mit mir, daß die Krokodilstränen, die Sie
populistisch im Vorwahlkampf vergießen - Ihr Kollege
Rüttgers wird das wahrscheinlich gleich noch in Perfektion machen -, dermaßen unwahr sind und dermaßen
unglaubwürdig sind gegenüber den betroffenen Bergleuten oder gegenüber uns? Nehmen Sie zur Kenntnis,
daß Ministerpräsident Wolfgang Clement, der gesagt
hat, Garzweiler kommt, Erneuerungsprogramm kommt,
von uns, der SPD-Bundestagsfraktion, jegliche Unterstützung bekommt, was die Rahmenbedingungen angeht, unter denen das stattfindet.
Ich persönlich finde es geradezu lächerlich, daß Sie,
der die Liberalisierung und Marktwirtschaft in der Energieversorgung par excellence predigt und der sie während seiner Regierungszeit auch durchgesetzt hat, jetzt
dafür eintritt, daß jegliches Fremdelement, das die
Braunkohle bedrohen könnte, aus dem Markt herausgehalten werden müsse. Diese Sätze aus Ihrem Munde
sind eine Umkehrung der Rexrodtschen Liberalisierungspolitik, die Ihnen kein Mensch und keine Maus in
diesem Lande glaubt.
({1})
Herr
Kollege Möllemann, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Verehrter Herr
Kollege Schultz, was - um bei Ihrem Bild zu bleiben kein Mensch und keine Maus in diesem Lande glaubt,
läßt sich am öffentlichen Meinungsbild hinsichtlich der
Einschätzung der Regierungsfähigkeit der SPD derzeit
sehr klar ablesen.
Sie versuchen von dem abzulenken, worum es hier
geht. Ich danke Ihnen für das Kompliment, wir hätten
die Liberalisierung des Strommarktes durchgesetzt. Die
Verbraucher freuen sich derzeit über sinkende Strompreise. Das ist gut so.
({0})
Ich danke Ihnen auch für die Feststellung, daß wir an der
schrittweisen Reduzierung der Subventionen für die
Steinkohle gearbeitet haben. Übrigens setzen Sie das
fort. Jeder weiß heute, daß die Subventionen für die
Steinkohle reduziert werden müssen.
Es geht aber heute um die subventionsfreie Braunkohle, und es geht darum, daß das, was Sie hier verabschieden, von Ihrem eigenen Fraktionsvorsitzenden im
nordrhein-westfälischen Landtag als gegen die Interessen des Landes und der Nation gerichtet bezeichnet
worden ist. Was Sie heute hier verabschieden, wurde auf
einer nächtlichen stürmischen Landesgruppensitzung
von Ihnen allen verteufelt. Sie finden doch das von Ihnen vorgelegte Gesetz gar nicht gut. Das kann jeder spüren. Es ist nicht in Ordnung, daß Sie etwas mit starken
Worten verteidigen, was Sie für falsch halten. Das merken die Menschen.
({1})
Machen Sie sich deshalb nicht die Mühe, mit an den
Haaren herbeigezogenen Argumenten von dieser Tatsache abzulenken! Sie müssen hier dafür einen Preis zahlen, daß Leo Fischer dem Export von Waffen an die
Türkei und nach Abu Dhabi zugestimmt hat. Ich habe
nichts dagegen; nur hat er immer etwas anderes gesagt.
Auch diese Doppelbödigkeit erkennen die Menschen
allmählich. Ihre Doppelbödigkeit habe ich angeprangert;
von der können Sie nicht ablenken.
({2})
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Gregor Gysi
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt finde ich es ein
bißchen früh für die Eröffnung des NRW-Wahlkampfes.
Sie müssen sich die Kraft schon ein bißchen einteilen.
({0})
Das gilt aber auch für die Kurzinterventinnen und Kurzinterventen - wenn das ein zulässiger Begriff ist.
({1})
Das Problem der zweiten Stufe Ihrer ökologischen
Steuerreform besteht im Grunde genommen darin, daß
alle Fehler aus der ersten Stufe konsequent fortgesetzt
werden.
({2})
Deswegen kann sie unmöglich unsere Zustimmung erhalten.
Die ökologische Lenkungswirkung setzen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf selber außer Kraft. Jemand, der eine
Energiesteuer einführt und dann Tausende von Ausnahmeregelungen gerade für jene findet, die die meiste
Energie verbrauchen, macht sich hinsichtlich der ökologischen Lenkungswirkung völlig unglaubwürdig.
({3})
Sie können doch nicht im Ernst die Industrie von diesen
Regelungen ausnehmen und die Rentnerinnen und Rentner, die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger bezahlen lassen - was sollen diese schon groß
machen? - und dann glauben, Sie würden damit eine
tolle Wirkung erzielen.
({4})
- Ja, ich weiß, auch die Sozialhilfeempfängerin kann die
Glühbirne aus ihrer Wohnzimmerlampe herausschrauben. Aber damit werden Sie das Energieproblem in dieser Gesellschaft nicht lösen.
({5})
Ihr Gesetz ist also nicht ökologisch.
Ein zweiter Punkt. Das Gesetz ist wettbewerbsverzerrend und nicht marktwirtschaftlich. Die Bedingungen
müssen schon stimmen: Wenn Sie die Industrie weitgehend ausnehmen, aber die anderen Gewerbebereiche
nicht, dann schaffen Sie Wettbewerbsverzerrungen
zwischen Industrie und angrenzenden Bereichen.
({6})
- Hören Sie einen Moment zu! - Wenn Sie innerhalb
der Industrie sozusagen eine Obergrenze einführen, indem die Unternehmen 1 000 DM Belastungen aushalten
müssen, aber alles, was darüber hinaus geht, erstattet
bekommen, dann frage ich Sie: Warum führen Sie einen
absoluten Betrag ein und nicht einen Prozentsatz? Für
ein kleines oder mittelständisches Unternehmen sind
1 000 DM wirklich eine Menge Geld. Aber für Siemens
ist das doch eine lächerliche Summe. Da kostet schon
die Überweisung mehr.
({7})
Daß Sie derart ungerecht zwischen den Unternehmen
operieren, ist nicht hinnehmbar.
Ein dritter Gesichtspunkt. Sie machen eine ökologische Steuerreform, bei der Sie nicht nur das Auto teurer
machen. Wir stimmen in einer Frage sogar überein: Der
Ressourcenverbrauch muß teurer werden. Wir brauchen
eine wirkliche ökologische Steuerreform mit ökologischer Lenkungswirkung. Da kann man auch über die
Benutzung des privaten Pkw nachdenken. Deshalb ist
der Ansatz zunächst nicht falsch.
({8})
Aber dann braucht man eine Alternative, und zwar aus
sozialen Gründen. Dann müßten Sie den öffentlichen
Nah- und Fernverkehr preiswerter gestalten.
({9})
In der ersten Stufe haben Sie die voll zur Kasse gebeten,
nun bitten Sie sie halb zur Kasse. Das reicht schon, damit Bus und Bahn teurer werden.
({10})
Nun frage ich Sie: Was sollen die Leute denn machen?
Der private Pkw wird teurer, der Bus wird teurer, die
Bundesbahn wird teurer.
({11})
Womit sollen die Leute noch fahren?
({12})
Dafür sorgen dieselben Personen, die sich einen Tag
später hinstellen und sagen: Wir brauchen mehr Mobilität; die Leute müssen auch 50, 60, 100 Kilometer Entfernung in Kauf nehmen, um zu ihrem Arbeitsplatz zu
kommen. Das paßt alles nicht zusammen.
Nun sage ich Ihnen etwas zur Entlastung. Wir haben
das einmal ausgerechnet bzw. durch ein Institut ausrechnen lassen. Eine fünfköpfige Familie mit Pkw und
einem Einkommen von 4 000 DM im Monat muß durch
Ihre steuerlichen Veränderungen 540 DM im Jahr mehr
zahlen.
({13})
Erst ab einem wesentlich höheren Einkommen wirkt
sich die Senkung der Beiträge zur Rentenversicherung
so aus, daß die Menschen entlastet werden. Die Familien
mit niedrigem Einkommen werden hier zur Kasse gebeten. Das ist zutiefst unsozial.
({14})
Ein Satz zur Landwirtschaft. Sie belasten die Landwirte zwar nicht in voller Höhe, aber Sie belasten sie
vollständig. Denn die Landwirte haben nichts davon,
daß Sie die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung senken, da sie dort keine Beiträge zahlen. Also
zahlen sie drauf und bekommen nichts zurück.
({15})
Um die soziale Schieflage ganz deutlich zu machen:
Zwei Drittel Ihrer Ökosteuer zahlen die Privathaushalte,
nur ein Drittel zahlt die Wirtschaft. Aber nur ein Drittel
der Einsparung bei der gesetzlichen Rentenversicherung
geht wieder in die Privathaushalte, während zwei Drittel
in die Wirtschaft gehen. Das sagt im Grunde genommen
alles über die Anlage dieser ökologischen Steuerreform
aus.
({16})
Dann kommt noch etwas hinzu. Sie haben früher immer gesagt, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger würden dadurch entlastet, daß sie von der Beitragssenkung
indirekt etwas hätten, nämlich durch die Nettolohnanpassung in den Folgejahren. Nun lassen Sie diese aber
ausfallen. Auch dazu müßten Sie heute etwas sagen. Die
Rentnerinnen und Rentner bekommen im nächsten und
im übernächsten Jahr keine Nettolohnanpassung,
({17})
auch die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe nicht. Und weil die Sozialhilfe wiederum an die Rentenentwicklung gekoppelt ist,
bekommt man dort auch keinen Ausgleich.
({18})
Nein, hier zahlen die kleinen Leute drauf. Die ökologische Wirkung ist nicht vorhanden, ökonomisch verzerrt es den Wettbewerb, und sozial ist es zutiefst ungerecht. Da können Sie nicht im Ernst erwarten, daß
man dazu ja sagt. Wir werden alles, was in unserer
Macht steht, tun, um das zu verhindern.
({19})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, etwas mehr Ruhe
zu wahren, damit der Redner zu Wort und zu Gehör
kommen kann. Die Lautsprecheranlage ist nicht in der
Lage, den Geräuschpegel zu übertönen.
Als nächster Redner hat der Kollege Peter Rauen von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Diese Ökosteuerreform wird immer mehr und immer deutlicher zu dem,
was sie von Anfang an sein sollte: zu einem Abkassierungsprogramm zu Lasten aller, einem bürokratischen
Monster zu Lasten der Betriebe und einem Arbeitsbeschaffungsprogramm für die Zollämter.
({0})
Sie wollten mit den Einnahmen aus dieser Steuer die
Sozialversicherungsbeiträge senken, sozusagen in einem
Junktim: hier die Einnahmen, dort eine Senkung der
Beiträge. Dieses Junktim geben Sie erkennbar auf.
Sie haben auch in der Wirtschaft einige gefunden, die
an dieses Märchen geglaubt haben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird deutlich, daß Sie endgültig an
dem Ziel gescheitert sind, mit diesen Einnahmen die Sozialversicherungsbeiträge zu reduzieren - wenn Sie es
denn jemals vorhatten.
Ihre Unruhe ist völlig fehl am Platz. Schauen Sie nur
in Ihren Gesetzentwurf auf Drucksache 14/40 vom
17. November 1998. Dort heißt es:
Das zusätzliche Aufkommen aus der Energiebesteuerung dient der Finanzierung der Senkung
der Sozialversicherungsbeiträge. Diese werden in
einem ersten Schritt um 0,8 Prozentpunkte reduziert. Ziel ist eine Senkung in drei Schritten auf
unter 40 % der Bruttolöhne.
Obwohl Sie jetzt fünf Schritte gehen, werden Sie dieses Ziel nie erreichen.
({1})
Im Rahmen der ersten Steuerreform haben Sie noch
den gesamten Betrag, den Sie durch die Ökosteuer eingenommen haben, in die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um 0,8 Prozentpunkte gesteckt: hier Einnahmen in Höhe von 13 Milliarden DM, dort Senkung
um 12,8 Milliarden DM.
Dieses Junktim geben Sie jetzt eindeutig auf. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf lösen Sie das Versprechen, die Steuern zu nutzen, um die Beiträge zu senken,
völlig auf.
Auf der ersten Seite in dem neuen Gesetzentwurf unter „Zielsetzung“ heißt es:
Daneben soll die spürbare Senkung bei den Sozialversicherungsbeiträgen den Faktor Arbeit weiter
entlasten.
Ein Jahr vorher hieß es noch:
Um die Lohnnebenkosten zu senken, müssen die
Beitragszahler in der Sozialversicherung entlastet
werden.
Aus dem „muß“ von vor einem Jahr ist jetzt nur noch
ein „soll“ geworden.
Unter „Lösung“ finden Sie in dem neuen Gesetzentwurf die Aussage:
Mit dem zusätzlichen Aufkommen aus der Energiebesteuerung können die Rentenversicherungsbeiträge gesenkt werden.
Aus dem „werden gesenkt“ vom letzten Jahr ist nun
„können“ geworden. Selbst dieses „können“ ist nur noch
auf die Rentenversicherungsbeiträge bezogen und nicht
mehr auf die gesamten Sozialversicherungsbeiträge.
Diese liegen heute bei 41,3 Prozent. Selbst wenn Sie
die gesamten Einnahmen von 21,2 Milliarden DM im
Rahmen dieser Reform zur Senkung nützen würden,
kämen Sie gerade einmal auf die ursprünglich im alten
Gesetzentwurf genannten 40 Prozent, die Sie eigentlich
unterschreiten wollten. Aber selbst davon sind Sie meilenweit entfernt.
Beim Beschluß des Bundeshaushaltes für das Jahr
2000 am 23. Juni dieses Jahres war das Bundeskabinett
noch davon ausgegangen, daß die Beiträge zur Rentenversicherung von 19,5 auf 19,1 Prozent zurückgehen würden. Vor einigen Tagen hat das „Handelsblatt“
berichtet, daß aus dem Rentenbericht 1999, der Ende
dieses Monats vorgelegt werden soll, hervorgeht, daß ab
1. Januar 2000 der Beitragssatz nur noch um
0,2 Prozentpunkte gesenkt wird, also nur noch um die
Hälfte von dem, was Sie bisher angenommen haben.
Ich halte dies für eine sehr bemerkenswerte, ja sogar
dramatische Entwicklung.
({2})
Man muß das Ganze vor dem Hintergrund sehen, daß
Sie die Rente ohnehin nur noch nach dem Inflationsausgleich anpassen. Damit haben Sie die Wähler betrogen.
({3})
Auf der Ausgabenseite haben Sie also eine massive
Entlastung. Und was ist mit den Einnahmen aus den unsinnigen 630-DM-Gesetzen und dem Gesetz gegen die
sogenannte Scheinselbständigkeit? Sie wollten damit die
Menschen in die Sozialversicherungssysteme treiben
und den Sozialkassen Geld zuführen. 1,7 Milliarden DM
sollen laut einem Bericht des Bundesarbeitsministeriums
eingenommen worden sein. Wo ist dieses Geld?
({4})
Offenbar schon alles verbraten, Herr Schultz.
({5})
Die ökologische Steuerreform dient nicht mehr der
Senkung der Lohnzusatzkosten. Mit den Einnahmen
werden immer mehr Löcher im Haushalt und in den Sozialkassen gestopft.
({6})
Sie dienen bestenfalls der Umfinanzierung und dem
Verschleiern der Unfähigkeit der neuen Regierung, die
Sozialversicherungssysteme wirklich zu reformieren.
Nachdem vor dem Regierungswechsel die Zahl der
Erwerbstätigen noch um 400 000 gestiegen war, haben
wir seit dem Amtsantritt der Regierung Schröder zwischen 250 000 und 450 000 weniger Erwerbstätige, weniger Beitragszahler und weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.
({7})
Hierin liegt das wahre Problem für die Systeme der sozialen Sicherung, für die Sozialkassen.
({8})
Weil Sie Ihr großes Ziel, für weniger Arbeitslosigkeit
und mehr Beschäftigung in Deutschland zu sorgen, bereits aufgegeben haben, weil Sie eine Politik gegen Arbeitsplätze und Wachstum in Deutschland betreiben,
deshalb können Sie Ihr Ziel, mit dem Geld aus der Ökosteuer die Beiträge zu senken, überhaupt nicht mehr erreichen.
Ich erwarte nicht, daß Sie begreifen, wie sehr Sie die
Wirtschaft durch die Erhöhung der Energiekosten belasten. Aber als Abgeordneter eines großen Flächenwahlkreises habe ich noch die leise Hoffnung, daß Sie sensibel genug sind, um zu wissen, in welchem Maße Sie dadurch die Menschen auf dem flachen Land belasten.
Diese Menschen habe keine Alternative zum Auto. Bei
einer Entfernung zum Arbeitsplatz von 25 Kilometern das ist noch sehr niedrig gegriffen - und einem Verbrauch ihres Fahrzeugs von zehn Litern pro
100 Kilometer werden sie monatlich mit zusätzlichen
35 DM zu rechnen haben. Einschließlich der erhöhten
Preise für Strom und Heizöl belasten Sie sie stärker, als
Sie ihnen durch die ökologische Steuerreform geben.
Herr
Kollege Rauen, kommen Sie zum Schluß.
Es bleibt dabei: Diese
ökologische Steuerreform ist nichts anderes als ein Abkassieren bei Rentnern, Arbeitnehmern und Arbeitgebern unter Inkaufnahme der Zerstörung von Arbeitsplätzen in Deutschland.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Kubatschka von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte kurz
auf einige Beiträge eingehen.
Zunächst zu den GuD-Anlagen. Ich habe mich erkundigt: Wie war das Verhalten von CDU/CSU
({0})
in diesem Zusammenhang im Finanzausschuß? Vor diesem Hintergrund kann man das Verhalten der CDU/CSU
({1})
hier nur - ich sage es einmal vornehm - als unseriös bezeichnen.
({2})
Während die CDU/CSU im Finanzausschuß den Grenzwert für die Förderung von GuD-Kraftwerken als Investitionsverhinderungswerk brandmarkte und ablehnte,
weil dadurch für Gas der Zugang zum Strommarkt behindert würde, stellt sie heute einen Antrag, auf die Gassteuerbefreiung zu verzichten, damit möglichst kein Gas
in die Grundlast der Stromversorgung eindringt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wollen Sie
denn eigentlich? Von der einen auf die andere Sitzung
wissen Sie doch gar nicht mehr, was Sie beantragt und
wie Sie gesprochen haben.
({3})
Da höre ich natürlich Herrn Rüttgers, Herrn Lamers und
Herrn Möllemann trapsen. Es wird Wahlkampf betrieben. Man sollte sich aber zumindest die Argumente der
Tage zuvor gemerkt haben, um nicht ins Schleudern zu
kommen.
({4})
Noch etwas: Der Herr Kollege Seiffert hat aus der
Anhörung zitiert, dieses Gesetz sei der Totengräber des
ÖPNV. Herr Kollege, ich weiß nicht, ob Sie bis zum
Ende der Anhörung dabei waren.
({5})
- Das freut mich. Aber dann haben Sie nicht zugehört.
Denn auf unser Nachfragen hin mußte bestätigt werden,
daß der ÖPNV, weil er eher lohnintensiv als energieintensiv ist, durch die Steuerreform über die Lohnnebenkosten entlastet wird. Genau das Gegenteil ist also der
Fall. Wenn vom Totengräber für die Stadtwerke gesprochen wurde, dann doch, als es um die Liberalisierung
des Strommarktes ging. Darauf hat es sich bezogen.
({6})
- Ich brauche mich bei Ihnen nicht zu entschuldigen.
Noch zu Herrn Rauen. Er hat auch die Renten angesprochen. Das gehört natürlich in jede Rede, auch wenn
es nichts mit der ökologischen Steuerreform zu tun hat.
Ich muß Ihnen sagen, Herr Kollege: Die Rentner wären
in den letzten Jahren zufrieden gewesen und hätten mehr
bekommen, wenn ihre Renten um den Inflationsausgleich erhöht worden wären. Ihre Regierung war nämlich in den letzten Jahren gar nicht fähig, eine solche Erhöhung zu bezahlen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich
jetzt mit dem wichtigsten Gesichtspunkt der ökologischen Steuerreform auseinandersetzen, dem ökologischen Lenkungseffekt. Dazu gibt es die verschiedensten Auffassungen. Herr Gysi hat gesagt, es gebe zu
viele Ausnahmen, zählt aber gleich weitere vorzunehmende Ausnahmen auf. Sie müssen doch wissen, was
Sie wollen. Wenn wir keine Ausnahmen vorgesehen
hätten, dann wäre vom übrigen Haus der Vorwurf gekommen, wir würden Arbeitsplätze vernichten. Wir haben es gemacht, weil wir maßvoll vorgehen wollten.
Über diese Steuern wollen wir steuern, um ein ökologisches Verhalten zu erreichen. Dies haben wir den
Wählerinnen und Wählern versprochen; dies werden wir
auch halten.
Im Wahlprogramm haben wir ausgesagt: Umweltschutz soll sich auszahlen, Umweltzerstörung darf sich
nicht lohnen. Deswegen werden wir heute den Faktor
Arbeit weiter entlasten und umweltschädlichen Energieverbrauch maßvoll und berechenbar belasten. Aus diesem Grund führen wir mit dem heutigen Gesetz die
ökologische Steuerreform weiter, und zwar berechenbar
für alle über mehrere Jahre hinweg. Dafür haben wir von
den Wählerinnen und Wählern den Auftrag erhalten.
Damit haben diese Regierung und die sie tragenden
Fraktionen wieder ein Wahlversprechen erfüllt.
({8})
An dieser ökologischen Steuerreform führt kein Weg
vorbei. Sie ist notwendig, um unsere Wirtschaft zukunftsfähig zu machen. Sie ist ein Projekt der Moderne.
Auch in der CDU/CSU gibt es diese Erkenntnisse.
Sie haben sich bloß nicht durchgesetzt. Umweltpolitiker
der CDU/CSU führten im Umweltausschuß aus: Die
ökologische Steuerreform ist unbestritten. Dann kam der
berühmte Pferdefuß: die Reform müsse europaweit umgesetzt werden. Dies bedeutet, sie soll auf den SanktNimmerleins-Tag verschoben werden.
({9})
In Europa ist sehr wohl etwas geschehen: Einige
Länder sind uns bereits vorangegangen. Es wird Zeit,
daß wir uns diesen anschließen. Wir sind kein Vorreiter.
Die Vorreiterrolle wurde von der alten Koalition verschlafen.
({10})
Im Geleitzug der ökologischen Steuerreform nehmen
wir höchstens einen Mittelplatz ein. Es war langsam an
der Zeit, daß sich die größte Industrienation der EU dieser Reform anschließt. Mehrere europäische Länder haben uns die ökologische Steuerreform bereits vorgemacht.
Das, lieber Kollege Möllemann, ist die Wahrheit. Zu
Ihren Ausführungen muß ich sagen: Sie haben anscheinend die Diskussion und das Handeln in anderen Ländern verschlafen.
Die CDU/CSU und die F.D.P. mit ihrem klaren Nein
belegen, daß sie kein eigenes Modell haben. Sie gehören
zur Fraktion der Neinsager. Die Debatte war mit viel
Polemik und Horrorszenarien umrankt. Es gibt auch
Gewinner der ökologischen Steuerreform, aber diese
sind natürlich auf Tauchstation gegangen.
Bei der ersten Stufe der ökologischen Steuerreform
konnten wir einen einmaligen Vorgang beobachten:
Viele Betriebe mutierten von lohnintensiven Betrieben
zu energieintensiven Betrieben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von der Opposition
wird immer wieder behauptet, die ökologische Steuerreform sei ein Abkassiermodell.
({11})
Mich wundert, daß das Mitglieder der ehemaligen Koalition sagen, die über Herrn Waigel mit 50 Pfennig an
den Tankstellen zugeschlagen hat. Vergessen Sie denn
Ihr Handeln völlig?
({12})
Ich glaube, bei Ihnen gilt das alles nicht mehr. Sie haben
16 Jahre aus dem Bewußtsein gestrichen. Das ist eine
tolle Leistung!
Da wir aber die Lohnnebenkosten senken, das eingenommene Geld also zurückgeben, kann wirklich nicht
von einem Abkassiermodell gesprochen werden. Die
Oppositionsargumente werden auch nicht dadurch richtiger, daß sie ständig wiederholt werden.
Wir kommen der Forderung aus Industrie, Handwerk
und Gewerbe nach, daß Arbeit billiger werden muß. Wir
geben ein klares Signal: Energie muß teurer werden, und
der Verbrauch von Energie muß sinken. Darauf können
sich die Verbraucher, die Industrie, das Handwerk, das
Gewerbe und der Handel einstellen. Auch in Zukunft
wird ein stetiger maßvoller Anstieg der Energiepreise erfolgen.
Das Ziel der ökologischen Steuerreform ist klar. Es
heißt: Der Verbrauch muß gesenkt werden. Die ökologische Steuerreform ist ein Mittel, um dies zu erreichen.
Damit versuchen wir, den Energieverbrauch über den
Preis, also über den Markt, zu steuern. Der Verbraucher
kann jetzt über Energiesparen den höheren Preis auffangen, ohne daß es einen Verlust an Lebensqualität gibt.
Zwei Beispiele: Der Bleifuß beim Autofahren muß
nur etwas zurückgenommen werden, und schon sinkt der
Benzinverbrauch deutlich. Es lohnt sich also, einen Liter
Benzin zu sparen.
Das zweite Beispiel ist die Unsitte des Stand-byBetriebs bei vielen Geräten ohne Notwendigkeit. Es
stellt sicher keinen Verlust an Lebensqualität dar, wenn
man einen Fernseher ganz ausschaltet. Es muß nur ein
Knopf gedrückt werden. Doch bei manchen Geräten ist
dieser Knopf schon gar nicht mehr vorhanden. Der Verbraucher hat also gar nicht mehr die Möglichkeit, hier
Energie zu sparen.
Industrie und Gewerbe müssen sich darauf einstellen,
in Zukunft vermehrt energiesparende Geräte anzubieten.
Vielleicht ist es in Zukunft wichtiger, zu wissen, wieviel
Treibstoff ein Auto auf 100 km verbraucht, statt zu wissen, wieviel Sekunden es braucht, um von 0 auf 100
Stundenkilometer zu kommen.
({13})
Wenn sich also auf dem Markt vermehrt Produkte
durchsetzen, die Energie sparen, wird es auch dem Verbraucher leichter fallen, die Erhöhungen durch die ökologische Steuerreform aufzufangen. Wir setzen voll auf
den Markt.
Ziel der ökologischen Steuerreform ist es, Energie zu
sparen. Ziel ist es, das Bewußtsein zu verändern. In Zukunft muß klar sein: Energie ist ein kostbares Gut, mit
dem wir sorgsam umgehen müssen. Wir müssen uns auf
den Weg machen, liebe Kolleginnen und Kollegen, um
unser Wirtschaftssystem zukunftsfähig zu machen. Die
ökologische Steuerreform ist ein Instrument dazu. In einigen Jahrzehnten müssen wir fast im Kreislauf wirtschaften. Die eingesetzten Ressourcen müssen aus diesem Kreislauf stammen oder erneuerbar sein. Nur so geben wir unseren Enkeln und Urenkeln eine Chance auf
dieser Welt.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({14})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich der Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Kollege Kubatschka, Sie haben erstens in Ihrer Rede einmal mehr behauptet, daß die F.D.P. immer nur nein sage und kein
eigenes Modell habe. Entweder haben Sie die Vorlagen,
über die Sie heute abstimmen, nicht gelesen oder Sie
wollen permanent ignorieren, daß die F.D.P. ein eigenes
Modell eingebracht hat. Über einen Teil davon stimmen
wir heute ab, und zwar zum einen über die Umlegung
der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer und zum zweiten über die verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale.
({0})
Im übrigen sind dies beides Dinge, Herr Kubatschka,
von denen die SPD früher immer gesagt hat, daß man sie
machen müsse. Jetzt haben Sie und auch die Grünen die
Chance, dem zuzustimmen. Aber jetzt lehnen Sie dies
ab. Ich kann nur feststellen, daß wir hierzu Vorschläge
eingebracht haben.
Zweitens. Wir haben auch schon in der Vergangenheit Entschließungsanträge zu dem Modell eines dritten
Mehrwertsteuersatzes auf Energie eingebracht. Dieses
Modell ist im Gegensatz zu Ihrem ein Modell, das zwar
eine ökologische Umorientierung fördert, aber Arbeitsplätze nicht belastet. Was Sie mit Ihrem Modell machen,
ist eine Abzockerei der Bürgerinnen und Bürger und eine Belastung für Arbeitsplätze in diesem Land.
({1})
Dazu kommt der Verwaltungsaufwand, zu dem ich
mich nicht weiter auslassen möchte. Ich will Ihnen nur
eines sagen: Was Sie heute hier machen, ist in keiner
Weise ökologisch. Die Reform hat den Namen Ökosteuerreform überhaupt nicht verdient. Dies ist nur eine sogenannte Ökosteuerreform.
({2})
Das zeigt sich auch in dem, was Sie heute zu den GuDKraftwerken beschließen. Das, was Sie hier vorlegen, ist
bis zum Jahre 2002 begrenzt.
({3})
In diesem Zeitraum kann eine nennenswerte Kapazität,
die überhaupt erst ökologisch wirksam werden könnte,
nicht aufgebaut werden. Sie erreichen damit allerdings,
daß bei den abgeschriebenen Kohlekraftwerken eine
Situation eintreten wird, daß sich eine Erneuerung dieser
Kohlekraftwerke nicht mehr rentiert. Damit erreichen
Sie, daß Investitionen in die Erneuerung des Kraftwerkparks, in die Effizienzsteigerung der Kohlekraftwerke
unterbleiben. Damit unterlaufen Sie Ihr eigenes Klimaschutzziel!
({4})
Frau
Homburger, Ihre Redezeit läuft ab.
Ein letzter Satz, Herr
Dr. Solms. - Herr Kollege Kubatschka, es bleibt eines
festzuhalten: Was Sie hier machen, ist nicht ökologisch.
Dies ist eine einzige Abzockerei und der Versuch, die
Menschen hinters Licht zu führen!
({0})
Als
nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Jürgen Rüttgers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Abgeordnete Kubatschka hat dem Abgeordneten Möllemann
vorgeworfen, er betreibe hier Wahlkampf. Nun finde
ich es schon etwas merkwürdig, wenn ein Politiker
einem anderen vorwirft, daß das, was zur Demokratie
gehört, nämlich sich um die Menschen im Land zu
kümmern, etwas Schlechtes sei.
({0})
Nun verstehe ich allerdings, daß die SPD bei ihrer
derzeitigen Performance eine derartige Angst vor Wahlen hat, daß sie sich sagt: möglichst keinen Wahlkampf,
denn sonst haben wir schon wieder verloren.
({1})
Die Grünen, meine sehr geehrten Damen und Herren,
haben im Vorfeld dieser Debatte begründet, bei diesem
Ökosteuergesetz handele es sich um ein Jahrhundertgesetz. Wenn ich das richtig sehe, mag das unter einem
Aspekt stimmen: Es ist wahrscheinlich eines der unsinnigsten Gesetze, die in diesem Jahrhundert je durch ein
deutsches Parlament gegangen sind.
({2})
Ich habe immer versucht, zu verstehen, wie man ein
Gesetz wie dieses Ökosteuergesetz verabschieden kann,
das unter dem Vorwand, man wolle etwas für die Umwelt tun, Arbeitsplätze vernichtet.
({3})
Ich komme aus dem rheinischen Braunkohlenrevier.
({4})
- Darauf bin ich stolz. Ich finde es ziemlich schlimm,
daß die SPD schon so tief gesunken ist, daß sie sich über
die Kumpel im rheinischen Braunkohlenrevier lustig
macht, meine Damen und Herren!
({5})
Es ist wahr: Diese Kumpel, die von morgens bis
abends hart arbeiten, haben Angst um ihre Arbeitsplätze, weil Sie dieses Gesetz heute durch den Bundestag
peitschen! Das ist die Realität bei uns vor Ort.
({6})
Sie haben Angst davor, daß die international wettbewerbsfähige Braunkohle durch dieses Gesetz plötzlich
nicht mehr international wettbewerbsfähig ist, daß der
Tagebau Garzweiler II verhindert wird und damit Tausende Arbeitsplätze gefährdet sind oder gar wegfallen.
Das ist unanständig, was Sie gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land machen!
({7})
Das gilt nicht nur für das rheinische Braunkohlenrevier, sondern ebenso für das ostdeutsche Braunkohlenrevier, und es gilt auch für das Steinkohlenrevier an der
Ruhr. Deswegen werden wir als CDU/CSU-Fraktion
dieses Gesetz ablehnen. Wir beteiligen uns nicht an der
Vernichtung von Arbeitsplätzen in diesem Land!
({8})
Aber es werden nicht nur Arbeitsplätze vernichtet,
gleichzeitig werden auch neue Arbeitsplätze verhindert.
Ich habe noch vor Augen, wie Herr Clement durchs
Land gereist ist und gesagt hat, wie toll das ist:
20 Milliarden DM Investitionen für die Erneuerung des
Kraftwerkparks in Nordrhein-Westfalen. 20 Milliarden DM stehen jetzt durch dieses Gesetz auf der Kippe,
und keiner weiß, ob sie überhaupt noch kommen. Das
heißt, neue Arbeitsplätze werden nicht geschaffen, alte
werden vernichtet. Das Ganze schadet zudem noch der
Umwelt. Das ist das Perverse bei diesem Gesetz.
Ich war vor wenigen Tagen an der Ruhr. Dort habe
ich ein Laufwasserkraftwerk - eines der ökologischsten Kraftwerke, eine der ökologischsten Formen der
Stromerzeugung überhaupt - gesehen. Dieses Laufwasserkraftwerk, das keinerlei Emissionen erzeugt, muß
nach Ihrem Gesetz Ökosteuern bezahlen. Erklären Sie
das einmal einem normalen Menschen: Ökosteuer gegen
ökologische Stromerzeugung!
({9})
Herr
Kollege Rüttgers, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Formanski?
Nein.
Das Gleiche gilt in meinem Wahlkreis, dem Erftkreis. Wir haben über Jahre darunter gelitten, daß es in
unmittelbarer Nähe Kraftwerke gab. Natürlich hatte das
Auswirkungen: Es gab Emissionen. Wir sind froh, daß
die Industrie nunmehr zur Entstickung und Entschwefelung bereit ist. Die Luft wird besser; wir freuen uns
darauf. Jetzt gehen Sie hin und gefährden das Ganze!
Das ist ein Anschlag auf die Umwelt der Menschen.
Deshalb ist es unanständig, was Sie hier machen.
({0})
Ich sage abschließend: Es fällt schon auf, daß es bei
diesem angeblichen Jahrhundertgesetz niemand von der
Bundesregierung für nötig gefunden hat zu sagen: Ich
stehe dafür. Jeder von uns hier im Saal weiß, daß es zur
Zeit in der Koalition eine große Krise gibt. 70 Kollegen
der SPD wollen diesem Gesetz eigentlich nicht zustimmen. Sie sind aber in die Mangel der SPD genommen
und durch Drohungen mit einem Koalitionskrach dazu
gezwungen worden, hier die Hand zu heben, statt ihrem
Gewissen zu folgen und dagegen zu stimmen. So etwas
finde ich schlimm und unakzeptabel.
Aber daß niemand von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen hier ist - im Land tönt sie groß, aber
hier ist sie nicht! -, das ist das Schlimmste, was ich
heute erlebt habe.
({1})
Es folgen jetzt zwei Kurzinterventionen. Anschließend gebe
ich dem Kollegen Rüttgers Gelegenheit, auf beide zu
antworten.
Als erster hat der Kollege Joachim Poß von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Rüttgers, die Rolle, die
Sie hier zu spielen versuchen, ist nicht glaubwürdig.
Hier spielte der Brandstifter den Biedermann, Herr
Rüttgers!
({0})
Die Kollegen in den Bergbaurevieren wissen auch,
daß es in der Bundesrepublik Deutschland nur eine politische Kraft gibt, die immer zum Bergbau und zu den
Bergleuten stand ({1})
das gilt für die Braunkohle und für die Steinkohle -: Das
ist die deutsche Sozialdemokratie.
({2})
Sie wollten der Steinkohle den Garaus machen, nicht
wir!
({3})
Noch am 15. September haben die Kollegen Brüderle
und Protzner für die F.D.P. und die CDU/CSU das sofortige Aus für den deutschen Steinkohlenbergbau ab
2002 gefordert.
({4})
Lesen Sie doch einmal die Protokolle nach!
Im übrigen zu Ihnen, Herr Rüttgers, als Meister der
gespaltenen Zunge:
({5})
Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen oder sich zumindest sachkundig machen, daß Ihre Kollegen im Finanzausschuß am letzten Freitag den hohen Wirkungsgrad
von 57,5 Prozent netto abgelehnt haben, weil er den innovativen Ansatz beim Gas nicht genug fördere. Das
war Ihre Begründung. Heute drehen Sie Ihre Argumentation um. Was zählt denn bei Ihnen, meine Damen und
Herren?
({6})
Wir werden den Kolleginnen und Kollegen in den
Revieren deutlich sagen, weshalb Sie gegen den tragbaren Kompromiß im Finanzausschuß, der natürlich Besorgnisse ausgelöst hat, gestimmt haben.
Bei allem Verständnis für Ihr oppositionelles Hochgefühl in den letzten Wochen und Monaten: Ein wenig
mehr Seriosität und Glaubwürdigkeit würde Ihnen guttun!
({7})
Zu einer
weiteren Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhard Loske vom Bündnis 90/Die Grünen.
Ganz kurz: Erstens, Herr Rüttgers, haben wir es,
wie wir eben gehört haben, mit einem europäischen
Wettbewerb zu tun. Die deutsche Braunkohle konkurriert im europäischen Umfeld und nicht nur im deutschen.
Wir machen jetzt nichts anderes, als eine Wettbewerbsgleichheit der deutschen Gaskraftwerke und der
ausländischen Gaskraftwerke herzustellen. Das müssen
Sie zur Kenntnis nehmen. Wollen Sie lieber, daß diese
Anlagen im Ausland gebaut werden, oder wollen Sie,
daß sie bei uns gebaut werden? Sind Ihnen die Arbeitsplätze im Anlagenbau eigentlich egal?
({0})
Zweitens. Es wäre doch in einem liberalisierten
Markt eine Paradoxie erster Güte, wenn die Anlagen in
Holland, in Belgien, in Tschechien, in Polen, überall
dort, wo das Erdgas nicht besteuert wird, gebaut würden,
wir den Strom importieren würden und dadurch unseren
eigenen Stromerzeugungstechniken quasi unnötige
Konkurrenz machten. Das kann doch nicht in Ihrem Interesse liegen!
({1})
Drittens, zu den Arbeitsplätzen: Ich muß Sie wirklich
fragen, warum Sie diese ungeheure Ignoranz gegenüber
den Arbeitsplätzen im Kraftwerksbau, im Anlagenbau
oder im Kesselbau an den Tag legen. Gerade in unseren
nordrhein-westfälischen Unternehmen gib es Spitzentechnik. Da arbeiten viele Leute. Sie können doch nicht
so tun, als hätten wir sie überhaupt nicht! Das ist ein
sehr großes Problem.
Viertens und letztens möchte ich noch ansprechen: In
Mecklenburg-Vorpommern schafft jetzt Vasa Energy
am Standort Lubmin bei Greifswald 400 Arbeitsplätze.
Diese Arbeitsplätze sind für diese Region sehr wichtig,
genauso wichtig wie für uns im Rheinland, woher ich
komme, die Arbeitsplätze im Braunkohlenbergbau.
Also: Werfen Sie die Dinge hier nicht durcheinander,
und tun Sie vor allen Dingen nicht so, als gebe es gute
und schlechte Arbeitsplätze! Wir sind ein Technologieland, und das müssen wir auch deutlich machen.
Danke schön.
({2})
Herr
Kollege Rüttgers, Sie haben Gelegenheit zu erwidern.
Vielen Dank,
Herr Präsident. - Lieber Herr Poß, Sie haben Pech gehabt, daß der Kollege von den Grünen nach Ihrer Intervention geredet hat. Wenn Sie richtig zugehört haben,
werden Sie festgestellt haben, daß er meinen Vorwurf
bestätigt hat, daß die Arbeitsplätze in den Kohlerevieren
durch dieses Gesetz gefährdet werden. Er hat dies damit
abgemildert, daß im Anlagenbau im Rahmen neuer
Kraftwerke neue entstehen.
({0})
Ich darf Sie darauf hinweisen, daß diejenigen, die im
Anlagenbau arbeiten, zur Zeit dabei sind - im Kraftwerk
Niederaußem, im Kraftwerk Weisweiler, im Kraftwerk
Neurath -, neue Anlagen zu bauen, weil die alten
Braunkohlenkraftwerke gerade ertüchtigt und damit
umweltfreundlicher werden. Das machen Sie kaputt, und
das regt die Menschen auf! Deshalb ist das, was Sie hier
sagen, scheinheilig!
({1})
Herr Poß, am Anfang Ihres Beitrages habe ich gedacht, es gäbe vielleicht die Möglichkeit - ich hätte das
begrüßt, um der Menschen im Ruhrgebiet, in den
Braunkohlenrevieren willen -, zu einer gemeinsamen
Position zu kommen. Ich bin ganz sicher, daß die Menschen im Ruhrgebiet das Aufstöhnen, wenn Ihr Name
erwähnt wird, richtig einzuordnen wissen.
({2})
Leider haben Sie mit Ihrer Intervention einen anderen
Weg genommen. Es ist mir klar, daß Sie sich unwohl dabei fühlen, daß Sie als jemand, der aus dem Ruhrgebiet
kommt, heute diesem Gesetzentwurf zustimmen müssen.
Ich will mit Ihnen auch nicht darüber rechten, wer in der
Vergangenheit mehr für die Kumpel getan hat.
({3})
- Ich habe den Eindruck, Sie haben keine Ahnung, worum es hier geht. Gehen Sie nächste Woche mal mit auf
den Steinkohletag! Da können Sie hören, daß die Menschen, die in dieser Branche arbeiten, der Regierung
Helmut Kohl - die immer zu ihnen gestanden hat, egal
worum es ging - ein Dankeschön sagen.
({4})
An anderer Stelle können wir uns auch noch einmal
über folgendes unterhalten: Ich habe gehört, daß im
Haushaltsausschuß mit Ihrer Mehrheit gerade
250 Millionen DM für die Steinkohle gestrichen und
weitere 250 Millionen DM in das nächste Jahr verschoben worden sind. Ich sage Ihnen eines, Herr Poß: Es ist
schlichtweg unglaubwürdig - Sie werden damit auch
nicht durchkommen -, zu Hause zu versuchen, den Eindruck zu vermitteln, man stehe für das Ruhrgebiet, hier
aber Gesetzentwürfen zuzustimmen, die der Region
schaden.
({5})
Die Menschen spüren das. Sie haben es schon gemerkt:
Es gibt seit neuestem einen CDU-Oberbürgermeister in
Gelsenkirchen, auf Schalke. Die Leute haben kapiert,
woran sie bei Ihnen sind - glauben Sie es mir! -, und sie
werden es auch im Mai kapieren.
({6})
Ich
schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung
kommen, erteile ich dem Kollegen Dr. Hermann Scheer
das Wort zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Dem vorliegenden Gesetzentwurf
stimme ich nur zu, weil ich der an die diesbezüglichen
Steuereinnahmen gebundenen Finanzierung anderer
Aufgaben auf keinen Fall im Wege stehen will und die
Arbeitsfähigkeit der Koalition aus vielerlei Gründen
nicht gefährden will.
({0})
Was einzelne Maßnahmen der Ökosteuerregelung betrifft, habe ich jedoch zwei prinzipielle inhaltliche Einwände, die ich hiermit unterstreichen will.
Mein erster Einwand ist, daß ich es für widersinnig
halte, im Rahmen einer Energiebesteuerung unter ökologischen Vorzeichen erneuerbare Energien mitzubesteuern.
({1})
Ebenso widersinnig wäre es, die herkömmlichen Energien nicht zu besteuern. Das erste Ziel einer ökologischen Energiesteuer muß die höhere Besteuerung der
Energien, die bei ihrer Umwandlung zu gravierenden
Umweltbelastungen führen, und die Steuerbefreiung für
die Energien sein, die nicht dazu führen. Deshalb war es
richtig, daß im Koalitionsvertrag die Steuerbefreiung für
erneuerbare Energien ausdrücklich festgeschrieben wurde. Deshalb war es falsch, im ersten Gesetz zur ökologischen Steuerreform vom Frühjahr erneuerbare Energien
in die Stromsteuer einzubeziehen.
({2})
Die Begründung dafür war europarechtlicher Art, weil
bei Stromimporten nicht feststellbar sei, wie groß die
darin enthaltenen Anteile erneuerbarer Energien sind.
Mich hat diese Begründung schon seinerzeit nicht überzeugt, weil an Hand jeder nationalen Energiestatistik die
jeweiligen Stromerzeugungsanteile präzise ablesbar sind
und deshalb proportional von der Besteuerung des importierten Stroms abgezogen werden könnten.
Auch in der zweiten Stufe der Ökosteuerreform bleibt
die Einbeziehung der erneuerbaren Energien in die
Stromsteuer bestehen, obwohl nun die Stromsteuer - das
befürworte ich ausdrücklich - angehoben wird und sich
dadurch der Geburtsfehler, erneuerbare Energien zu besteuern, vergrößert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es
auf Grund einer Steuerbefreiung für erneuerbare Energien Konflikte innerhalb der Koalition gegeben hätte, weil
dieses Ziel dem Willen beider Parteien entspricht. Wenn
es dennoch bei der Besteuerung erneuerbarer Energien
bleibt, dann liegt dies daran, daß dieses Ziel bis zuletzt
eher vernachlässigt wurde. Es fehlte also das Engagement zugunsten anderer Schwerpunkte.
Erschwerend kommt hinzu, daß in letzter Minute die
Steuerbefreiung für Strom aus fossilen KWK-Anlagen
bis zu einer Kapazität von 2 Megawatt durchgesetzt
wurde. Dies halte ich zum einen für richtig. Aber zum
anderen macht dies noch weniger erklärbar, warum die
Steuerbefreiung nicht auch für erneuerbare Energien in
einem Atemzug realisiert wurde. Es ist nicht zu vermitteln, warum ersteres steuertechnisch machbar sein soll,
aber das zweite nicht.
({3})
Diese Unterlassung ist um so bedauerlicher, als dadurch die Wirkung der Markteinführungsprogramme für
erneuerbare Energien nicht so ist, wie sie sein könnte.
Nicht einmal die Steuerbefreiung zumindest für diejenigen erneuerbaren Energien, die unter das Stromeinspeisungsgesetz fallen, wurde realisiert. Auf diesem Weg
wäre es möglich gewesen, die Finanzierung der Markteinführungsprogramme für erneuerbare Energien zum
Beispiel durch die weniger problematische Besteuerung
der traditionellen Wasserkraft, aus der noch immer das
Gros des Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen
wird und die ohnehin nicht ausbaufähig ist, vorzunehmen.
Mein zweiter Einwand ist, daß ich die Steuerbefreiung für Gaskraftwerke, deren Wirkungsgrade unterhalb
von 70 Prozent für KWK-Anlagen liegen, für ökologisch falsch halte. Es geht bei dieser Frage nicht um
Braunkohle oder Gas, sondern um die Frage, ob Neuinvestitionen in den Bau von neuen Großkraftwerken oder
in die effektive dezentrale Stromerzeugung fließen sollen.
({4})
Ich kenne die Wirkungsgradunterschiede zwischen den
Kraftwerkstypen, aber jedes Kondensationskraftwerk,
also auch jedes GuD-Kraftwerk, ist im Vergleich zu dezentralen Erzeugungsstrukturen ineffektiv. Der richtige
Weg, um eine Gleichbehandlung fossiler Energieträger
zu erzielen, ist, alle und nicht nur einige Energieträger
unter Zuhilfenahme der Reziprozitätsklausel bei Importen zu besteuern.
Meine Erklärung zur Abstimmung, die von den Kollegen Lange und Berg unterstützt wird, bitte ich deshalb
als Appell zu verstehen, ökologische Unstimmigkeiten
im Rahmen der Ökosteuerreform spätestens bei der
nächsten Stufe endlich zu beseitigen. Solange erneuerbare Energien besteuert und nicht erneuerbare Energien
teilweise nicht besteuert werden, so lange ist auch der
Schritt von einer Energie- zu einer Ökosteuer noch nicht
vollzogen.
Danke schön.
({5})
Zu einer
weiteren persönlichen Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Kollegen Kurt Bodewig
von der SPD-Fraktion das Wort.
Ich gebe eine persönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten ab. Obwohl
ich mit der steuerlichen Begünstigung der Gas- und
Druckturbinenkraftwerke außerordentlich große Probleme habe, werde ich diesem Gesetz zustimmen.
({0})
Ich tue dies auch angesichts der Nöte in unserer Region.
Ich komme aus dem rheinischen Bergbaugebiet und
kenne die Nöte der Menschen, die seit Jahren verunsichert wurden. Sie wurden durch die Organklage der grünen Fraktion verunsichert, aber auch durch die Klagen
der CDU-regierten Städte. Ich sage ausdrücklich: Die
Menschen brauchen Sicherheit; diese Sicherheit erhalten
sie.
({1})
Mit der Festlegung eines Zeitfensters bis zum
30. März 2002 ist sichergestellt, daß keine Subventionierung gegen die Braunkohle erfolgt. Vielmehr geht es um
die Förderung hocheffizienter GuD-Kraftwerke in diesen Jahren.
Ich erkläre zugleich, daß ich einer Nachfolgeregelung
nicht mehr zustimmen werde.
({2})
Ich bin mir gewiß, daß ich im Sinne aller nordrheinwestfälischen SPD-Abgeordneten spreche. Mit meinem
Abstimmungsverhalten möchte ich deutlich machen, daß
man die Menschen in dieser Region nicht mehr länger in
Nöte stürzen darf.
({3})
Dieses Gesetz tut das nicht - das ist der entscheidende
Punkt -, und aus diesem Grund werde ich diesem Gesetz
zustimmen.
({4})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zur Ab-
stimmung über den von den Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen sowie der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung
der ökologischen Steuerreform, Drucksachen 14/1524,
14/1668 und 14/2027 Buchstabe a.
Hierzu liegt auf Drucksache 14/2065 ein Änderungs-
antrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Zu diesem Ände-
rungsantrag liegen uns zwei schriftliche Erklärungen zur
Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von den
Kollegen Ulrich Adam1) und Leo Dautzenberg2) von der
CDU/CSU-Fraktion vor.
1) Anlage 2
2) Anlage 3
Die CDU/CSU-Fraktion hat namentliche Abstimmung beantragt. Bevor wir mit der Abstimmung beginnen, gebe ich folgende Hinweise: Sobald die Abstimmung über diesen Änderungsantrag beendet sein wird,
werde ich die Sitzung kurz unterbrechen, bis die Auszählung der Stimmen erfolgt sein wird. Danach werde
ich die Sitzung wiedereröffnen. Wir werden dann eine
namentliche Abstimmung über den Änderungsantrag der
F.D.P.-Fraktion durchführen. Danach werde ich die Sitzung wiederum unterbrechen, bis die Stimmen ausgezählt sein werden. Danach folgt die Abstimmung in der
zweiten Lesung, anschließend die dritte Lesung und
Schlußabstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen
besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Sind alle Stimmen abgegeben? - Das ist der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.
Ich unterbreche die Sitzung, bis die Auszählung abgeschlossen ist.
({0})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die unterbrochene
Sitzung fort.
Ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung über
den Änderungsantrag der CDU/CSU bekannt. Abgegebene Stimmen 621. Mit Ja haben gestimmt 219, mit
Nein haben gestimmt 336, Enthaltungen 66.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 620;
davon:
ja: 218
nein: 336
enthalten: 66
Ja
SPD
Hans-Peter Kemper
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({0})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brudlewsky
Klaus Bühler ({1})
Hartmut Büttner
({2})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens
({3})
Peter H. Carstensen
({4})
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({5})
Axel Fischer ({6})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({7})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Kurt-Dieter Grill
Manfred Grund
Horst Günther ({9})
Gottfried Haschke
({10})
Gerda Hasselfeldt
({11})
Klaus-Jürgen Hedrich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Manfred Kanther
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({12})
Eduard Lintner
Dr. Klaus Lippold
({13})
Dr. Manfred Lischewski
Julius Louven
Erich Maaß ({14})
Erwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
({15})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({16})
Elmar Müller ({17})
Bernd Neumann ({18})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({19})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({20})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth ({21})
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({22})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({23})
Andreas Schmidt
({24})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Rudolf Seiters
Bernd Siebert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({25})
Gerald Weiß ({26})
Heinz Wiese ({27})
Hans-Otto Wilhelm ({28})
Gert Willner
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({29})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Nein
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({30})
Klaus Barthel ({31})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({32})
Klaus Brandner
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({33})
Bernhard Brinkmann
({34})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({35})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({36})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({37})
Harald Friese
Anke Fuchs ({38})
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({39})
Angelika Graf ({40})
Dieter Grasedieck
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({41})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({42})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann
({43})
Walter Hoffmann
({44})
Iris Hoffmann ({45})
Frank Hofmann ({46})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({47})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Susanne Kastner
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Brigitte Lange
Christian Lange ({48})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({49})
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({50})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({51})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({52})
Jutta Müller ({53})
Christian Müller ({54})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({55})
Gerhard Neumann ({56})
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({57})
Birgit Roth ({58})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({59})
Ulla Schmidt ({60})
Silvia Schmidt ({61})
Dagmar Schmidt ({62})
Wilhelm Schmidt
({63})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({64})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({65})
Brigitte Schulte ({66})
({67})
Volkmar Schultz ({68})
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({69})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({70})
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({71})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({72})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({73})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({74})
Jürgen Wieczorek ({75})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({76})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({77})
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf ({78})
Waltraud Wolff ({79})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({80})
Marieluise Beck ({81})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({82})
Joseph Fischer ({83})
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
({84})
Kerstin Müller ({85})
Winfried Nachtwei
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({86})
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({87})
Werner Schulz ({88})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({89})
Margareta Wolf ({90})
Enthalten
SPD
Barbara Wittig
CDU/CSU
Leo Dautzenberg
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({91})
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({92})
Rainer Funke
Joachim Günther ({93})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Walter Hirche
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Dr. Günter Rexrodt
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Ruth Fuchs
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wolfgang Gehrcke
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({94})
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Winfried Wolf
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({95})
Bierling, Hans-Dirk,
CDU/CSU
Dr. Götzer, Wolfgang,
CDU/CSU
Dr. Lamers ({96}),
Karl A., CDU/CSU
Meckel, Markus, SPD
Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2071.
Die F.D.P.-Fraktion verlangt namentliche Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, wieder
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen
besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich
die Abstimmung. Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht
abgegeben? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der Abstimmung
unterbreche ich die Sitzung.
({97})
Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführern und
Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Antrag der F.D.P.-Fraktion bekannt: abgegebene Stimmen 618. Mit Ja haben gestimmt
246, mit Nein haben gestimmt 332, Enthaltungen 40.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 617;
davon:
ja: 245
nein: 332
enthalten: 40
Ja
SPD
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({0})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brudlewsky
Klaus Bühler ({1})
Hartmut Büttner
({2})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({3})
Peter H. Carstensen
({4})
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({5})
Axel Fischer ({6})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({7})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Kurt-Dieter Grill
Manfred Grund
Horst Günther ({9})
Gottfried Haschke
({10})
Gerda Hasselfeldt
({11})
Klaus-Jürgen Hedrich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Manfred Kanther
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({12})
Eduard Lintner
Dr. Klaus Lippold
({13})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({14})
Julius Louven
Erich Maaß ({15})
Erwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
({16})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller ({17})
Bernd Neumann ({18})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({19})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({20})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth ({21})
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({22})
Andreas Schmidt ({23})
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Rudolf Seiters
Bernd Siebert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({24})
Gerald Weiß ({25})
Heinz Wiese ({26})
Hans-Otto Wilhelm ({27})
Gert Willner
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({28})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({29})
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({30})
Rainer Funke
Joachim Günther ({31})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Walter Hirche
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L.Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Dr. Günter Rexrodt
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({32})
Klaus Barthel ({33})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({34})
Klaus Brandner
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({35})
Bernhard Brinkmann
({36})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({37})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Wilhelm Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({38})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({39})
Harald Friese
Anke Fuchs ({40})
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({41})
Angelika Graf ({42})
Dieter Grasedieck
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({43})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({44})
Walter Hoffmann
({45})
Iris Hoffmann ({46})
Frank Hofmann ({47})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({48})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({49})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({50})
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({51})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({52})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({53})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Jutta Müller ({54})
Christian Müller ({55})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({56})
Gerhard Neumann ({57})
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({58})
Birgit Roth ({59})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({60})
Ulla Schmidt ({61})
Silvia Schmidt ({62})
Dagmar Schmidt
({63})
Wilhelm Schmidt
({64})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({65})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({66})
Brigitte Schulte ({67})
({68})
Volkmar Schultz ({69})
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({70})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({71})
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({72})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({73})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({74})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({75})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({76})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer
({77})
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf ({78})
Waltraud Wolff ({79})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({80})
Marieluise Beck ({81})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({82})
Joseph Fischer ({83})
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
({84})
Kerstin Müller ({85})
Winfried Nachtwei
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({86})
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
({87})
Werner Schulz ({88})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm
({89})
Margareta Wolf ({90})
Enthalten
SPD
Barbara Wittig
CDU/CSU
Dietrich Austermann
Leo Dautzenberg
Anke Eymer
Dr.-Ing. Rainer Jork
Gerhard Scheu
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({91})
Michael von Schmude
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({92})
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Winfried Wolf
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({93})
Bierling, Hans-Dirk,
CDU/CSU
Dr. Götzer, Wolfgang,
CDU/CSU
Dr. Lamers ({94}),
Karl A., CDU/CSU
Meckel, Markus, SPD
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Wir kommen jetzt - wir befinden uns immer noch in
der zweiten Lesung - zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf zur Fortführung der ökologischen Steuerreform
in der Ausschußfassung. Wer der Beschlußempfehlung
des Ausschusses auf Drucksache 14/2027 Buchstabe a
zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ange-
nommen.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Bevor wir zur Abstimmung
kommen, will ich noch bekanntgeben, daß zur dritten
Lesung 47 fast identische Erklärungen1) und drei Ein-
zelerklärungen der Kollegen Ulrich Adam, Barbara
Wittig und Klaus Lennartz2) nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vorliegen.
Die SPD hat namentliche Abstimmung beantragt. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze
einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung. -
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Sind jetzt alle Stimmen
abgegeben? - Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekanntgegeben.3)
Wir setzen die Beratung fort. - Darf ich bitten, daß
die Plätze eingenommen werden, da wir zu weiteren Ab-
stimmungen kommen, und zwar, wohlgemerkt, zu kei-
nen namentlichen Abstimmungen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/2040. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist der Ent-
schließungsantrag bei Zustimmung der PDS-Frak-
tion gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen abge-
lehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/2042. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Entschließungsantrag bei gleichem Stimmenverhältnis
abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der F.D.P. zur ökologisch wirklich
1) Anlagen 4 und 5
2) Anlage 6
3) Seite 6213 A
wirksamen Umstellung der Besteuerung ohne Mehrbelastung für Bürger und Wirtschaft auf Drucksache 14/399.
({95})
Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/2027
unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der F.D.P. auf
Drucksache 14/399 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt, und zwar
bei Zustimmung der F.D.P., bei Gegenstimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Enthaltung von
CDU/CSU und PDS. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Ich gebe Ihnen das Ergebnis der letzten namentlichen
Abstimmung später bekannt und rufe die Tagesord-
nungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer
„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden
Europas“
- Drucksache 14/2013 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({96})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Haushaltshausschuß
b) Erste Beratung des von der Fraktion der F.D.P.
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Gründung „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
- Drucksache 14/1996 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({97})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Haushaltshausschuß
c) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden
Europas“
- Drucksache 14/2014 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({98})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Haushaltshausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin gebe
ich das Wort der Kollegin Monika Griefahn von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Am 25. Juni dieses Jahres haben
wir in diesem Parlament, damals noch in Bonn, beschlossen, daß in Berlin ein Mahnmal für die ermordeten
Juden Europas errichtet werden soll. Teil dieses Beschlusses war auch, daß eine Stiftung ins Leben gerufen
wird, die den Bau des Mahnmals durchführen und noch
in diesem Jahr ihre Arbeit aufnehmen soll.
Deshalb erscheint mir der Streit über die Rechtsform
der Stiftung, der zur Zeit kursiert, künstlich und nach
außen hin nicht verständlich.
({0})
Es kann nur darum gehen, den Bundestagsbeschluß
vom Juni dieses Jahres so umzusetzen, daß am
27. Januar 2000 ein zumindest symbolischer Spatenstich
in den Ministergärten durchgeführt werden kann, der
deutlich macht, daß das Mahnmal, wie von den Auslobern vorgeschlagen, an dem vorgesehenen Platz, aber
mit der Ergänzung eines Ortes der Information tatsächlich entstehen wird.
Die von der Opposition vorgebrachten Vorwürfe, mit
der Form einer unselbständigen Stiftung würde es „zuviel Naumann“ geben, scheinen mir sehr verwunderlich.
({1})
Das Konstrukt einer unselbständigen Stiftung dient als
vorläufige Einrichtung lediglich dazu, den Bundestagsbeschluß zügig umzusetzen, so daß die Stiftung noch in
diesem Jahr ihre Arbeit aufnehmen kann. Gleichzeitig
bringen wir heute einen Gesetzentwurf zur Gründung
einer selbständigen Stiftung ein - im übrigen das gleiche
Verfahren, das Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, bei der Errichtung des „Hauses der Geschichte“ in Bonn gewählt haben.
Wir sind angesichts der über zehn Jahre währenden
Diskussion aufgerufen, die Errichtung des Mahnmals
jetzt in Angriff zu nehmen.
({2})
Was wir nicht brauchen, ist ein neuer Streit. Wir sollten
unsere eigentliche Absicht, als Land der Täter den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einen
Ort des Mahnens und Gedenkens zu errichten, nicht in
den Hintergrund geraten lassen. Vergessen wir nicht,
daß ein erneuter Streit die große Gefahr in sich birgt,
unwürdig zu werden. Wir wollen das vermeiden.
({3})
Das Mahnmal darf kein Gegenstand der Profilschärfung
und des Parteiengezänks sein. Es soll uns um die Sache
gehen.
({4})
Lea Rosh hat uns - auch wenn vielleicht nicht jeder
immer mit ihr einverstanden war - mit ihrer Argumentation vorgemacht, wie man sich für etwas, von dem
man überzeugt ist, einsetzen kann. Ohne sie und die anderen Mitglieder des Fördervereins ständen wir heute
nicht hier und würden wir jetzt nicht eine solche Stiftung
gründen.
({5})
Ich bin überzeugt, daß wir hier und heute ein Zeichen
setzen können. Der Bundestag hat beschlossen, daß das
Mahnmal gebaut wird. Wir haben beschlossen, daß eine
Stiftung diesen Beschluß umsetzen soll. Also werden
wir diese Stiftung auch ins Leben rufen.
Wir bitten deshalb den Bundeskanzler, per Erlaß zunächst eine unselbständige öffentlich-rechtliche Stiftung
in seinem Geschäftsbereich zu errichten. Sie soll während der Aufbauphase bis zum Inkrafttreten des Gesetzes den vorläufigen organisatorischen Rahmen abgeben.
Zu bedenken ist: Der Beschluß vom Juni dieses Jahres war nicht einstimmig, ist aber durch eine große
Mehrheit zustande gekommen. Natürlich gibt es immer
- auch bei Umsetzungen - Stimmen des Für und Wider.
Unser Satzungsentwurf ist bei denen, die es angeht,
weitgehend positiv aufgenommen worden. Die meisten
von denen, die in Kuratorium und Beirat vertreten sein
werden, warten nur darauf, daß wir endlich mit der Arbeit beginnen können.
({6})
Wir sollten auch nicht vergessen, welches Bild wir im
Ausland abgeben. Der jahrelange Streit und die vielen
Diskussionen um das Mahnmal sind nicht überall verstanden worden. Als Kultur- und Außenpolitikerin sage
ich Ihnen, daß wir es nicht unterschätzen sollten, welche
Wirkungen es hat, wie wir mit diesem Thema im Inneren umgehen.
({7})
Die Auseinandersetzung war und ist richtig und wichtig.
Aber wir müssen jetzt zu Potte kommen.
Wir werden ebenso einen Weg finden - auch das ist
in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen -, der
anderen Opfergruppen zu gedenken. Auch das war Bestandteil des Beschlusses vom 25. Juni dieses Jahres.
({8})
Wir müssen jetzt die Diskussion beenden, um in der
Umsetzungsphase einen würdigen Ort des Gedenkens
für die ermordeten Juden zu schaffen. Unsere Entwürfe
im Hinblick auf Satzung und Gesetz bieten dafür die
richtige Basis. Denn sie beziehen alle ein, sowohl diejenigen, die zum Mahnmal für die ermordeten Juden, als
auch diejenigen, die für andere Opfergruppen sprechen
können.
Andreas Nachama, der Vorsitzende der jüdischen
Gemeinde hier in Berlin, mahnt zu Recht: Es ist „wichtig, daß der kommende 27. Januar als Gedenktag für die
Opfer des Nationalsozialismus nicht noch einmal an
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
dem Denkmal vorbeigeht“. - Ich denke, er hat recht, und
deshalb handeln wir heute.
({9})
Ich gebe
jetzt das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur
dritten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der ökologischen Steuerreform der Fraktionen
SPD und Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesregierung bekannt. Abgegebene Stimmen 620. Mit
Ja haben gestimmt 331, mit Nein haben gestimmt
287. Enthalten haben sich zwei Kolleginnen und Kollegen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 618;
davon:
ja: 331
nein: 285
enthalten: 2
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({2})
Klaus Brandner
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({6})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({7})
Harald Friese
Anke Fuchs ({8})
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({9})
Angelika Graf ({10})
Dieter Grasedieck
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({11})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({12})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({13})
Walter Hoffmann
({14})
Iris Hoffmann ({15})
Frank Hofmann ({16})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({17})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({18})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({19})
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({20})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({21})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({22})
Jutta Müller ({23})
Christian Müller ({24})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({25})
Gerhard Neumann ({26})
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({27})
Birgit Roth ({28})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({29})
Ulla Schmidt ({30})
Silvia Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt
({32})
Wilhelm Schmidt ({33})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({34})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Richard Schuhmann
({35})
Brigitte Schulte ({36})
({37})
Volkmar Schultz ({38})
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({39})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({40})
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({41})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({42})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({43})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({44})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({45})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({46})
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf ({47})
Waltraud Wolff ({48})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({49})
Marieluise Beck ({50})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({51})
Joseph Fischer ({52})
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Ulrike Höfken
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
({53})
Kerstin Müller ({54})
Winfried Nachtwei
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({55})
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({56})
Werner Schulz ({57})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({58})
Margareta Wolf ({59})
Nein
SPD
Werner Labsch
Klaus Lennartz
Albrecht Papenroth
Jürgen Wieczorek ({60})
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({61})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brudlewsky
Klaus Bühler ({62})
Hartmut Büttner
({63})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({64})
Peter H. Carstensen
({65})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({66})
Axel Fischer ({67})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({68})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({69})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Kurt-Dieter Grill
Manfred Grund
Horst Günther ({70})
Gottfried Haschke
({71})
Gerda Hasselfeldt
({72})
Klaus-Jürgen Hedrich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Manfred Kanther
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({73})
Eduard Lintner
Dr. Klaus Lippold
({74})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({75})
Julius Louven
Erich Maaß ({76})
Dr. Martin Mayer
({77})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({78})
Elmar Müller ({79})
Bernd Neumann ({80})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({81})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard
({82})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth ({83})
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({84})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({85})
Andreas Schmidt ({86})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Rudolf Seiters
Bernd Siebert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({87})
Gerald Weiß ({88})
Heinz Wiese ({89})
Hans-Otto Wilhelm ({90})
Gert Willner
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({91})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({92})
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({93})
Rainer Funke
Joachim Günther ({94})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Walter Hirche
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Dr. Günter Rexrodt
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({95})
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Winfried Wolf
Enthalten
SPD
Dr. Mathias Schubert
Barbara Wittig
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({96})
Bierling, Hans-Dirk,
CDU/CSU
Dr. Götzer, Wolfgang,
CDU/CSU
Dr. Lamers ({97}),
Karl A., CDU/CSU
Meckel, Markus, SPD
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
({98})
Wir fahren in der Beratung des Tagesordnungspunktes 6 fort. Der nächste Redner ist der Kollege
Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Themen, die
sich für den im allgemeinen unvermeidlichen und notwendigen Streit der Parteien und Fraktionen wenig eignen.
({0})
Der Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte, die
Wahrung der Erinnerung an entsetzliche Verirrungen
und Verbrechen gehören ganz gewiß dazu. Der Deutsche Bundestag hat mit seiner Entscheidung vom
25. Juni zur Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas seine Entschlossenheit dokumentiert, diese Verantwortung wahrzunehmen.
Mit den jetzt eingebrachten Anträgen zur Gründung
einer Stiftung geht es um die Umsetzung dieses Beschlusses, um nicht mehr und nicht weniger. Die Entscheidung in der Sache ist getroffen. Sie gilt für alle,
auch für diejenigen, die in der Gestaltung oder Widmung des Mahnmals andere Akzente bevorzugt hätten.
Deswegen möchte ich gleich zu Beginn sagen: Jeder
sollte auch nur den Verdacht vermeiden, daß er über das,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
was jetzt in der Abteilung „Umsetzung“ debattiert und
beschlossen wird, eigentlich eine Korrektur in der Sache
betreiben wolle.
({1})
- Ich nehme das mit Dankbarkeit zu Protokoll.
({2})
Ich möchte für die Unionsfraktion verdeutlichen, daß
wir die Umsetzung - wie es auch bei der Sachentscheidung damals war - mit dem Ziel einer möglichst einvernehmlichen Lösung konstruktiv begleiten werden, daß
wir allerdings die vorliegenden Anträge der Koalition
nicht für geeignet halten, diese breite Zustimmung zu
ermöglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Antragspaket
der Koalition, der Gesetzentwurf und der gleichzeitig
beantragte Regierungserlaß, ist sicher gut gemeint. Daran habe jedenfalls ich keinen Zweifel.
({3})
Aber es ist nicht gut gelungen und, wie ich finde, auch
nicht gut durchdacht. Dies gilt sowohl für das Verfahren
als auch für den Inhalt.
Ich will das durch einige Hinweise verdeutlichen:
Erstens. Es gibt keinen Grund und schon gar keine
überzeugende Begründung, von der klaren Beschlußlage des Deutschen Bundestages abzuweichen. Ich zitiere den Beschluß des Bundestages: Es wird eine öffentlich-rechtliche Stiftung gegründet, der Vertreter des
Deutschen Bundestages, der Bundesregierung, des Landes Berlin und des Förderkreises zur Errichtung eines
Denkmals für die ermordeten Juden Europas angehören. - Im weiteren geht es um die Besetzung von
Gremien.
Es gibt eine ganz unmißverständliche Festlegung des
Bundestages, wer die Stifter sind. Und genau diese Stifter sollen und müssen nun auch die Verantwortung im
Stiftungsrat bzw. Stiftungskuratorium übernehmen. Es
gibt keinen wirklich überzeugenden Grund, sich mit
welchen Motiven auch immer - deren Ehrenhaftigkeit
ich überhaupt nicht in Zweifel ziehe - hinter anderen zu
verstecken, wenn nun weitere, übrigens nicht unwichtige
und nicht unstreitige Entscheidungen getroffen werden
müssen.
Zweitens. Die Erweiterung des Kuratoriums über den
Kreis der Stifter hinaus schafft ganz sicher mehr Probleme, als sie löst. Das sind allesamt Probleme, die von
vornherein vermeidbar sind. Wir müssen dann ohne Not
Entscheidungen über die Auswahl der zu beteiligenden
Organisationen und über die Anzahl der dabei jeweils zu
berücksichtigenden Vertreter treffen. Wir haben es
schon jetzt, bevor das Ganze beschlossen ist, mit der
Eigendynamik eines solchen guten Willens zu tun: Neben den vorgesehenen Organisationen melden sich andere, die unter Berufung auf die vorgesehene Berücksichtigung ihrerseits Wert darauf legen, beteiligt zu werden.
Daß sich der Deutsche Bundestag hier ohne Not in
die Situation begibt, zwischen solchen interessierten und
betroffenen Organisationen im Kreis der Stifter eine
Auswahl zu treffen, gehört zu den völlig überflüssigen
Komplizierungen eines Entscheidungsprozesses, der ohnehin hinreichend schwierig ist.
({4})
Im übrigen trägt dies zu einer Verwischung von politischen Verantwortlichkeiten bei, zu der wir gerade unter
Berücksichtigung der Debatte, die der Deutsche Bundestag damals geführt hat, keine Veranlassung haben.
Drittens. Die Einbeziehung betroffener - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - Organisationen und
Institutionen, insbesondere unserer jüdischen Mitbürger,
ist natürlich dringend erwünscht, und sie kann im Beirat
in angemessener Weise erfolgen. Hier besteht die Möglichkeit, den Sachverstand, das Interesse und das Mitwirkungsbedürfnis in einer dem Gegenstand angemessenen Weise zu integrieren, ohne daß wir dies für die politischen Entscheidungen in Anspruch nehmen müßten
und sollten, die im Kreis der Stifter getroffen werden
müssen.
({5})
Viertens. Nach dem Vorschlag der Koalition wird der
Beirat überflüssig, das Kuratorium dagegen überfordert. Das Kuratorium ist nach dem Vorschlag der Koalition in der Anzahl der Mitglieder zu groß und in der Besetzung durch Vertreter von Verfassungsorganen bis zu
Vertretern von Museen - freundlich formuliert - sehr
diffus und in den Proportionen hoffnungslos verunglückt.
Wie man das Zahlenverhältnis zwischen Bundestag
und Bundesregierung, zwischen dem Bund und dem
Land Berlin - ich will gar nicht vom Zahlenverhältnis zwischen dem Land Berlin und dem Initiativkreis reden -, das diesem Besetzungsvorschlag zugrunde liegt,
in der Sache begründen will, werden wir vielleicht noch
in dieser Debatte erfahren. Ich habe es bisher weder aus
dem Text noch aus vorgetragenen Begründungen ableiten können.
Fünftens. Mit der Bildung einer unselbständigen
Stiftung im Geschäftsbereich des Bundeskanzlers, die
mit dem Antrag begehrt wird, wird eine ausdrückliche
Beschlußfassung des Bundestages ins Gegenteil verkehrt. Ich will daran erinnern, daß wir damals im Deutschen Bundestag einen Antrag vorliegen hatten, der
nach dem Grundsatzentscheid, ein solches Mahnmahl zu
errichten, ausdrücklich die Umsetzung dieses Beschlusses der Bundesregierung übertragen wollte. Dies hat der
Deutsche Bundestag mit einer breiten Mehrheit zurückgewiesen. Nun wird auf dem Erlaßweg genau das vorgeDr. Norbert Lammert
schlagen, was der Bundestag mit seiner Mehrheit nicht
wollte.
({6})
Wenn der Staatsminister für Kultur und Medien - ich
habe es nicht selber gehört und kann es deswegen auch
nicht beurteilen - im Deutschen Fernsehen erklärt, in
diesem Kuratorium stünde - ich gebe das jetzt sinngemäß wieder, weil ich es, wie gesagt, nicht selber gehört
habe - die ganze Palette der Entscheidungsalternativen
erneut zur Debatte -,
({7})
- wenn das nicht im Traum gesagt worden ist, nehme
ich auch das ausdrücklich zu Protokoll ({8})
- dann werden genau die Befürchtungen aktiviert, die
manche mit dieser Art von Konstruktion verbinden. Es
bleibt der Sachverhalt, daß dies das Gegenteil dessen ist,
was der Bundestag damals wollte.
({9})
Sechstens. Es ist überhaupt nicht die Notwendigkeit
erkennbar, das Gesetzgebungsverfahren durch Erlaß zu
präjudizieren. Es ist doch naiv, anzunehmen, das Gesetz
könne für Aufgaben und Zusammensetzung der Organe
noch korrigierende Entscheidungen treffen, wenn diese
Organe mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben bereits
praktisch beauftragt sind.
({10})
Hier müssen wir auch ehrlich miteinander umgehen.
Deswegen ist eine solche Notwendigkeit nicht erkennbar, schon gar nicht dann, wenn es kein Einvernehmen
über die zu treffenden Abwägungen gibt.
Wie Sie, Herr Kollege Stiegler, wissen, habe ich immer gesagt: Für mich ist die Frage, ob die Umsetzung
per Erlaß oder Gesetz erfolgt, keine Grundsatzfrage. Dazu stehe ich auch. Wenn wir uns darüber einig sind, was
wir wollen, kann man das per Gesetz oder per Erlaß regeln. Was aber natürlich nicht geht, ist, einen nicht vorhandenen Konsens durch autoritäre Setzung ersetzen zu
wollen und den Gesetzgeber zum Nachvollzug eines
Regierungserlasses aufzufordern. Das ist, mit Verlaub
gesagt und ganz freundlich formuliert, unangemessen.
({11})
Eine letzte Bemerkung. Ich kann den Eilbedarf nicht
erkennen, der jetzt behauptet wird, schon gar nicht,
nachdem die Koalition in den vier Monaten seit der Beschlußfassung des Bundestages eine solche Eilbedürftigkeit offenkundig nicht gesehen hat.
({12})
Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, den wir ordentlich beraten werden. Wir haben in dem für die Federführung
vorgesehenen Ausschuß bereits verabredet, in der nächsten ordentlichen Sitzungswoche diesen Gesetzentwurf
zu beraten. Es liegt in der Hand der Mehrheit dieses
Hauses, bis zum Ende dieses Jahres das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen, wenn dies gewünscht wird.
Die Notwendigkeit, vorher durch Erlaß scheinbar vorläufig eine unselbständige Stiftung mit dem präzise gleichen Auftrag zu betrauen, ist unter keinerlei Gesichtspunkten erkennbar.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn Ihnen
an einer breiten Zustimmung für das gelegen ist, was wir
am 25. Juni 1999 quer durch alle Fraktionen im Ergebnis mit einer deutlichen Mehrheit beschlossen haben,
muß ich Sie herzlich bitten: Ziehen Sie den Antrag zurück und lassen Sie uns in Ruhe im Gesetzgebungsverfahren das abwägen, was in Ruhe miteinander abzuwägen ist. Wir sagen die Bereitschaft zu einer sorgfältigen
Beratung mit der Bereitschaft zum Konsens ausdrücklich zu. Insofern stimmen wir der Überweisung der Gesetzentwürfe zu. Wenn der Antrag aufrechterhalten
wird, müssen wir ihn aus den genannten Gründen ablehnen.
({13})
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Herr Lammert, Sie haben ganz recht: Die Entscheidung
in dieser Sache ist gefallen, und zwar am 25. Juni 1999.
Sie ist nach einer sehr langen Vordebatte gefallen, die
wiederum eine eigene Vorgeschichte hat. Diese lange
Debatte vorweg war notwendig. Sie war in manchen Teilen quälend. Aber es wurde die Entscheidung an
der wichtigsten Stelle gesucht, die es in diesem Land
gibt, nämlich beim Souverän im Deutschen Bundestag.
Hier hat es eine breite Mehrheit für die jetzige Entscheidung gegeben. Nach dieser Debatte wird niemand in der
Bevölkerung Verständnis haben, wenn es weitere Zeitverzögerungen bei der Umsetzung dieses Beschlusses
gibt.
({0})
Alles, was wir heute machen, erfolgt in dieser Absicht.
Ich hatte gehofft, daß wir nach dieser Debatte, wo
alle das Gefühl hatten, es sei gut, daß es diese Entscheidung jetzt gibt, aufhören würden, wieder Dinge zu suggerieren, die niemand will.
Dieser Bundestag wird sich heute bei der Entscheidung über diesen Antrag und bei den weiteren Entscheidungen, die wir noch treffen wollen, ganz genau an
Wort, Buchstaben und Geist dieser Entscheidung halten.
Das ist die Absicht unseres heutigen Vorgehens. Sich
daran zu halten heißt auch, nicht neue Möglichkeiten zu
geben, wieder eine zweite und dann eine dritte Debatte
zu eröffnen.
({1})
Notwendig ist die formale Debatte. Die muß in den
Gremien dieser Stiftung geführt werden. Diese Debatte
werden wir führen. Aber auch sie muß sich an die inhaltliche Vorgabe halten, die hier abgestimmt worden
ist, nämlich zu sagen: Wir errichten ein Mahnmal für die
ermordeten Juden Europas in der gestalterischen Form,
die wir „Eisenmann II“ genannt haben, ergänzt um einen
Ort der Erinnerung. Alle weiteren Debatten, die wir geführt haben, haben klargemacht, daß es sich schon aus
finanziellen Gründen, aber auch aus Respekt vor dem
Entschluß, der gefaßt worden ist, um eine kleine, um
eine bescheidene Ergänzung handeln muß.
Oft habe ich den Eindruck, als ob Sie mit dem immer
neuen Schüren von Mißtrauen an dieser Entscheidung
wieder in die inhaltliche Debatte gehen wollen. Dafür
hat keiner Verständnis.
({2})
Jetzt kommt die Debatte um die Gremien. Es gibt
eine neue Entwicklung, nämlich eben jene, daß Vertreter
des Zentralrats der Juden und der jüdischen Gemeinde
auch öffentlich ihre Bereitschaft erklärt haben, im Kuratorium dieser Stiftung mitzumachen. Niemand hätte
Verständnis, wenn diese Bereitschaft ausgerechnet von
uns abgelehnt würde, indem wir sie in ein anderes Gremium integrieren.
({3})
Jetzt fragen Sie: warum erst eine unselbständige
Stiftung und dann eine selbständige? Das war wiederum
ein Grund, neues Mißtrauen zu säen. Wir haben das sehr
deutlich gesagt. Wir wollen sehr, sehr schnell handeln.
Unser Ziel ist, daß es schon am 27. Januar eine Grundsteinlegung geben kann. Wir haben aber gleichzeitig
gesagt, um das Mißtrauen endlich aufzuheben, am gleichen Tag, nämlich heute, wo wir diesen Erfolg beantragen, reichen wir zugleich den ersten Gesetzentwurf für
die selbständige Stiftung ein. Das heißt, ab jetzt liegt es
an Ihnen, liebe Damen und Herren aus der Opposition,
das Ganze so schnell umzusetzen, daß es in kürzester
Zeit von der unselbständigen zur selbständigen Stiftung
kommt.
({4})
- Weil es von dem Gang der Debatten abhängt, die wir
jetzt führen werden.
({5})
Deswegen haben wir heute diese erste Lesung. Sie können die Zeit, die Sie so fürchten - wo nämlich der
Staatsminister für Kultur die Möglichkeit hat, mittels
seines Erlasses in den Gang der Debatte einzugreifen -,
sehr verkürzen, indem wir sehr bald die zweite und die
dritte Lesung haben und damit zu dem Ergebnis kommen, das alle von uns erwarten.
Der höchste Souverän hat in dieser Sache inhaltlich
entschieden. Er hat auch gesagt, daß in Form einer Stiftung über das formale weitere Vorgehen entschieden
werden soll. Ich finde es nicht richtig, Herr Lammert,
daß Sie, indem Sie eine neue Kategorie einführen - Sie
sagen, das eine sind die Stifter, das andere sind andere
Gruppen -, suggerieren, daß nicht ein einziges Gremium
Stifter ist, nämlich der Deutsche Bundestag in Vertretung der deutschen Bevölkerung.
({6})
Die haben entschieden, daß sie diese Stiftung wollen.
Damit sind sie auch die Stifter.
In der Ausgestaltung der Gremien folgen wir dem,
was wir damals in dem Beschluß gesagt haben, daß wir
nämlich eine möglichst breite Beteiligung wollen, insbesondere und mit großer Freude mit den Vertretern der
jüdischen Organisationen, aber auch mit den Vertretern
der Gedenkstätten.
({7})
Diese wollen, wie wir in der Vorphase sehr deutlich gemerkt haben, ihren Beitrag für ein Gesamtkonzept leisten. Sie wollen nicht, daß innerhalb der verschiedenen
Institutionen neue Konkurrenzen entstehen.
Ich finde, wir haben versucht, sehr zügig und im
Konsens zu handeln. Herr Lammert, Sie wissen auch,
wie viele Gespräche wir in den letzten Wochen geführt
haben. Den Vorwurf, daß hier irgend etwas durchgeknüppelt wurde, daß wir nicht um Ihre Zustimmung gerungen haben, können Sie nicht ernsthaft aufrechterhalten.
Aber es gibt auch eine Verpflichtung von uns, das
zu tun, wozu uns der Beschluß vom 25. Juni beauftragt
hat. Ich denke, wir sollten das jetzt sehr schnell umsetzen. Dann werden wir im zweiten Zugriff diesen Gesetzentwurf behandeln. Ich freue mich darauf, daß wir
am Ende endlich das haben werden, worum es zehn Jahre lang diese Debatte gegeben hat, nämlich ein Mahnmal, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas
mitten in Berlin, ganz dicht an diesem Deutschen Bundestag.
Danke.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Professor Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. setzt mit ihrem Gesetzentwurf den Bundestagsbeschluß vom 25.
Juni 1999 um. Das Interessante und das Schwierige ist,
verehrte Frau Kollegin Vollmer, daß der Text jenes Beschlusses vom Juni dieses Jahres ganz offensichtlich
unterschiedlich gelesen werden kann. Jedenfalls ist die
von Ihnen suggerierte Eindeutigkeit nicht vorhanden.
Solange man nicht das Vertrauen hat, daß alles richtig
läuft - dieses Vertrauen machen Sie unter anderem mit
Ihrer dekretierten unselbständigen Stiftung zunichte -,
muß man eben damit rechnen, daß etwas schiefläuft.
Dem sollte das Parlament vorbeugen.
({0})
Ich will Ihnen gerne vorführen, weshalb aus unserer
Sicht die beiden von der Koalition vorgelegten Entwürfe
- sowohl der Gesetzentwurf als auch der Antrag, daß
man eine unselbständige Stiftung einschließlich Satzung
errichten solle - vom Verfahren her, aber auch inhaltlich
dem ursprünglichen Bundestagsbeschluß nicht gerecht
werden.
Das von Rotgrün geplante Verfahren, im Wege eines
Regierungserlasses vorerst eine unselbständige Stiftung
unter dem Regierungskulturbeauftragten zu errichten,
steht weder mit dem Geist des Bundestagsbeschlusses
noch mit allen dazu gemachten feierlichen Bekundungen
im Einklang.
({1})
In seiner ersten Regierungserklärung hatte Bundeskanzler Schröder noch versprochen - ich erinnere hieran
ausdrücklich, selbst wenn die Versprechungen des Bundeskanzlers offenbar nicht so fürchterlich ernst genommen werden dürfen -,
({2})
über das Holocaust-Mahnmal werde nicht per Exekutivbeschluß, sondern im Bundestag entschieden.
({3})
- Nein, Sie wollen jetzt per Exekutivbeschluß die unselbständige Stiftung errichten. Diese Stiftung muß dann
all das, was in dem Text des Beschlusses vom Juni offengeblieben ist, ausfüllen.
Zur Begründung ihres Vorgehens führt die Regierung
bzw. die Koalition an, die Zeit bis zum 27. Januar, dem
Gedenktag an die Opfer des Faschismus, sei zu kurz, um
ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren durchzuführen. Das ist so sicherlich nicht richtig; Herr Kollege
Lammert hat darauf schon hingewiesen.
({4})
Ich will noch einmal sagen: Falls überhaupt der 27.
Januar 2000 realistischerweise für eine Grundsteinlegung angestrebt werden könnte - ich bin da skeptisch;
bis dahin müßte zum Beispiel auch das bauordnungsrechtliche Verfahren durchgeführt werden -, wäre das
auch zu machen, wenn wir ein ordentliches, allerdings
engagiertes und zügiges Gesetzgebungsverfahren durchführten.
({5})
Daß nun die Zeit knapp geworden ist, bestreitet niemand. Aber das hat jedenfalls nicht das Parlament zu
verantworten, sondern die Koalition, die fast fünf Monate ins Land gehen ließ, so daß sie jetzt hopplahopp die
Voraussetzungen schaffen muß.
({6})
Darüber hinaus will ich darauf hinweisen, daß die
Vorschläge der Regierung auch inhaltlich nicht den
Wünschen des Bundestages entsprechen - so wie ich
den Bundestagsbeschluß vom Juni lese. Der Bundestag
ist in seinem Mahnmalbeschluß von der Gleichgewichtigkeit der Zuwendungsempfänger bei der Besetzung
der Stiftungsorgane ausgegangen. Die von der Koalition jetzt geplante Zusammensetzung des Gremiums ist
völlig willkürlich. So soll das Beschlußorgan der Stiftung - bei Ihnen heißt es Kuratorium, bei uns wird es
Stiftungsrat genannt - aus 23 Mitgliedern bestehen.
Damit wird die erwünschte Drittelparität - Bund, Land,
Förderkreis - seitens der Regierung bzw. der Koalition
aufgegeben. Neben sechs Drittmitgliedern kommt vielmehr ein Verhältnis von 12 zu 3 zu 2 zustande, also eine
eklatante Majorisierung durch den Bund.
({7})
Auch das kann nicht im Sinne einer breiten Fundierung
dieser Stiftung sein.
({8})
Zudem: Je mehr Mitglieder ein Entscheidungsgremium hat, desto weniger kann dieses Gremium entscheiden
- das ist ein altes betriebswirtschaftliches Phänomen -,
weil dann kaum noch eine gemeinsame Linie erreicht
werden kann. Wenn man also wirklich handlungsfähig
sein will, sollte man eher auf kleine Gremien setzen.
Die in diesem Zusammenhang erhobene Behauptung,
diejenigen, die nicht die Linie der Koalition verträten,
wollten die jüdischen Organisationen nicht an der Ausgestaltung des Denkmals beteiligen, ist schlicht absurd.
Der Bundestag ist in seinem Mahnmalbeschluß nicht
grundlos davon ausgegangen, daß jüdische Organisationen im Beirat vertreten sein sollen. Dies fordert hier
auch die F.D.P mit allem Nachdruck. Denn das Denkmal
soll - insofern bestehen möglicherweise wirklich grundsätzliche Unterschiede zwischen uns hinsichtlich der
Konzeption - ein Denkmal der nichtjüdischen Deutschen für die ermordeten Juden Europas sein.
({9})
Um es zuzuspitzen, sage ich ganz deutlich: Es soll ein
Denkmal der Täter für die Opfer sein. Das darf nicht
verwischt werden. Es ist eine Frage der Verantwortlichkeit, die wir nicht dadurch auflösen können, daß wir an
Stelle der Stifter, eine Stelle derjenigen, die dieses
Denkmal errichten, die Vertreter der jüdischen Mitbürger in das Beschlußorgan der Stiftung einbezögen. Das
würde die Verantwortlichkeit der nichtjüdischen Deutschen - der Täter - völlig verwischen. Das ist nicht im
Sinne des Konzepts, das wir beschlossen haben. Auch
mein verstorbener, hochverehrter Parteifreund Ignatz
Bubis hat dies immer so vertreten und dazu erklärt, der
Zentralrat der Juden wolle sich aus Gründen klar umrissener Verantwortlichkeit aus der Diskussion um das
Mahnmal heraushalten.
Die Einbeziehung von Vertretern jüdischer Organisationen in das Beschlußorgan der Stiftung würde also
eine tiefgreifende Änderung des vom Bundestag beschlossenen Widmungszwecks des Mahnmals bedeuten.
Auch deshalb kann dies nicht durch die Hintertür, per
Regierungsdekret, erfolgen, sondern allenfalls durch
einen entsprechenden Beschluß des Parlaments selbst.
({10})
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit!
Meine Damen und Herren, ich will nur noch darauf hinweisen,
daß der Entwurf der F.D.P. drei Besonderheiten aufweist: zum ersten, daß im Stiftungsrat Drittelparität
herrschen soll, zum zweiten, daß wir die jüdischen Organisationen ausdrücklich in den Beirat einbeziehen
wollen, und zum dritten, daß wir darauf dringen, daß
dies alles im Wege eines förmlichen Gesetzes erfolgt
und nicht am Parlament vorbei durch die Exekutive dekretiert wird.
Besten Dank.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Juni
dieses Jahres hat der Bundestag die Errichtung eines
Denkmals für die ermordeten Juden Europas beschlossen. Gleichzeitig wurde die Gründung einer öffentlichrechtlichen Stiftung zur Verwirklichung dieses Beschlusses festgelegt.
Meine Fraktion begrüßt es, daß der Zentralrat der Juden in Deutschland und Repräsentanten jüdischer Gemeinden und Institutionen ihre Mitarbeit in Gremien der
Stiftung bereits grundsätzlich zugesagt haben. Aber das
Anliegen war und bleibt, daß die nichtjüdischen Deutschen den ermordeten Jüdinnen und Juden Europas ein
Denkmal setzen. Deshalb ist der Gesetzentwurf der
F.D.P. - Herr Kollege Schmidt-Jortzig hat ihn erläutert im Ansatz richtig, der der Koalition nicht.
Wir bitten darum, daß die Vertreterinnen und Vertreter jüdischer Organisationen und Gemeinden dieses
Vorhaben im Bereich der Stiftung im Beirat begleiten.
Die Verantwortung im Kuratorium muß aber bei uns
bleiben.
Eine Verständigung zwischen den Fraktionen ist
ebenso möglich wie nötig.
({0})
Der Beschluß, über den heute abgestimmt werden soll,
würde sie allerdings unmöglich machen. Deshalb können wir ihm nicht zustimmen. Bei zügiger Bearbeitung
der Gesetzentwürfe wäre es auch ohne diesen Beschluß
möglich, die symbolische Grundsteinlegung am 27. Januar 2000, dem Gedenktag an die Opfer des Faschismus, durchzuführen. Dies muß gemeinsames Ziel bleiben.
Außerdem setzen wir uns dafür ein, daß die Finanzierung des Denkmalbaus konkretisiert wird. Bis jetzt
heißt es im Gesetzentwurf der Regierungsparteien, daß
es um einen „jährlichen Zuschuß des Bundes nach Maßgabe des jeweiligen Bundeshaushalts“ geht. Diese vage
Angabe muß zumindest nach unten begrenzt werden.
Wir bitten, daß sich die Bundesregierung auf einen öffentlich genannten Betrag festlegt.
Beschließen Sie heute bitte nichts, was die dringend
notwendige Verständigung erschweren könnte. Wir
sollten bei unserem Beschluß vom 25. Juni bleiben.
({1})
Als nächster hat das
Wort der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jetzt geführte Debatte mutet schon sehr eigenartig an.
({0})
Auf der einen Seite wird gefordert, daß die Entscheidung sehr zügig getroffen werden müsse, damit das
Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Thema
nicht weiter gemindert werde. Auf der anderen Seite
wird gefordert, es müsse sehr sorgfältig nach einem
Konsens gesucht werden. Wenn ich die vergangenen
Wochen und Monate richtig in Erinnerung habe, dann
muß ich feststellen, daß diejenigen, die sich auch schon
zuvor - zum Teil über viele Jahre hinweg - für das
Thema engagiert haben, einen partei- und fraktionsübergreifenden Konsens gesucht haben. Über viele Wochen
sind zahllose Gespräche geführt worden, Herr Lammert
und Herr Fink. Trotzdem gab es schlicht und ergreifend
kein befriedigendes Ergebnis.
({1})
Deswegen hat die Koalition gehandelt. Deswegen haben
wir einen Vorschlag unterbreitet. Ich habe überhaupt
nichts dagegen, daß die jetzige Debatte strittig geführt
wird. Wir haben auch am 25. Juni in Bonn kein einstimmiges Votum herbeigeführt. Warum auch? Ein einstimmiges Votum ist angesichts des schwierigen TheDr. Edzard Schmidt-Jortzig
mas auch nicht möglich. Aber das Taktieren nach
Pokermanier ist des Themas unwürdig.
({2})
Ich verstehe überhaupt nicht, welchen Popanz Sie
jetzt im Hinblick auf den Erlaß aufbauen. Sie tun gerade so, als würden wir über den Erlaß ein Trojanisches
Pferd einführen. Sie tun so, als würde das Haus der Erinnerung wieder zur Debatte stehen und der Staatsminister für Kultur der böse Bube sein, der in der Ecke steht.
Diese Stigmatisierung dürfte Ihnen zumindest im Rahmen der Diskussion über die jetzt vorliegende Regelung
nicht gelingen, denn die Bundesregierung wäre mit dem
Klammerbeutel gepudert, wenn sie nicht genau das umsetzte, was der Bundestag am 25. Juni beschlossen hat
und was er in weiteren Beschlüssen fortzusetzen gedenkt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?
Selbstverständlich.
Herr Kollege
Roth, weil ich möglichst wenige Mißverständnisse im
Raum stehenlassen möchte, frage ich Sie: Könnten Sie
mir bitte sagen, wer nach Ihrem Eindruck bei der Umsetzung des Bundestagsbeschlusses in Pokermanier taktiert hat oder gegenwärtig in Pokermanier taktiert?
Das bisherige Verfahren erinnert mich schon an das Taktieren bei dem
hinlänglich bekannten Kartenspiel, wenn ich daran denke, daß sich Menschen, denen ich niemals vorwerfen
würde, sie hätten Böses im Sinn, Wochen und Monate
um eine gemeinsame Regelung in diesem Haus bemüht
haben und trotzdem kein Ergebnis zustande gekommen
ist. Deswegen bleibe ich bei dieser Formulierung.
({0})
Herr Kollege, lassen
Sie eine weitere Zwischenfrage zu?
Ja, natürlich.
Herr Lammert, Sie
können eine weitere Zwischenfrage stellen. Bitte sehr.
Ich hätte gerne
gewußt, ob Ihnen außer der Assoziation mit dem Kartenspiel auch konkrete Namen einfallen.
({0})
Ich könnte zwar
jetzt einige Namen nennen, aber das möchte ich lieber
nicht tun. Die Namen sind Ihnen sowieso bekannt; denn
schließlich haben auch Sie zu denjenigen gehört, die an
zahllosen Gesprächen teilgenommen haben. Ich muß Ihnen also die Namen nicht nennen.
({0})
Wir sollten nicht weiter debattieren, sondern zügig
und umgehend eine umfassende Entscheidung treffen.
Das Verfahren, das die Koalition vorgeschlagen hat, ist
meines Erachtens nicht nur legal, sondern auch legitim.
Es hat derlei Verfahren auch früher schon gegeben. Ich
erinnere nur an das Verfahren beim Haus der Geschichte. Diejenigen, die sich schon länger mit dem Stiftungswesen beschäftigen, wissen, daß es mitunter sehr lange
dauern kann, bis eine Stiftung arbeitsfähig ist. Ich sehe
hier keinesfalls einen revolutionären Aufstand im politischen Hühnerstall, der vom Oberhahn Michael Naumann angeführt wird. Vielmehr ist hier ein ernsthaftes
Bemühen in der Sache festzustellen.
Ich habe auch Vertrauen in die handelnden Personen. Ich habe Vertrauen zu Frau Süssmuth, ich habe zu
allen Vertrauen, die sich an den parlamentarischen Initiativen beteiligt haben. Sie aber bringen dem Minister
bzw. der Bundesregierung scheinbar kein Vertrauen entgegen, obwohl die Inhalte doch in den Vorschlägen und
Antragsentwürfen der Koalition festgezurrt worden sind.
Ich bin auch etwas enttäuscht über Ihre Kritik. Man
mag mir das vorhalten, weil ich dem Hohen Haus noch
nicht so lange angehöre und noch stolz darauf bin, Bundestagsabgeordneter zu sein. Die starke Stellung des
Bundestages ist vor dem Hintergrund, daß er am 25. Juni
entschieden hat, nur konsequent.
({1})
Wir sind doch nicht der Ortsbeirat von Posemuckel, wir
sind das höchste Verfassungsorgan. Es ist eine unserer
vornehmsten Aufgaben, an zentralen Entscheidungen
mitzuwirken.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch
eine letzte Anmerkung zu dem aus meiner Sicht großartigen Angebot der jüdischen Institutionen machen, uns bei
dieser schwierigen Arbeit hilfreich zur Seite zu stehen.
({3})
Herr Lammert, ich frage Sie, ob Sie die Jüdische Gemeinde zu Berlin und den Zentralrat der Juden nicht dabeihaben wollen.
({4})
Ich weiß nicht, was die Konsequenz sein soll. Wenn es
ein Angebot gibt, sollten wir es auch annehmen.
({5})
Michael Roth ({6})
Das würdige Gedenken aller anderen Opfergruppen es gibt ja leider eine große Zahl weiterer Gruppen - wird
dadurch gewahrt, daß im Beirat neben den Vertretern
der Gedenkstätten etliche andere Gruppen vertreten sein
werden. Jetzt muß die Stiftung endlich ihre Arbeit aufnehmen. Deshalb müssen wir jetzt hier und nicht anderswo entscheiden.
({7})
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Rita Süssmuth, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich habe schon ein eigentümliches Gefühl bei der Art und Weise, wie hier die
Seiten verkehrt werden. Man hat plötzlich einen Prügelknaben gefunden, der angeblich alles vereitelt, und es
wird alles verdreht.
Daß wir erst heute über die ,,Stiftung Denkmal für die
ermordeten Juden Europas“ beraten - soviel Fairneß
müßte unter den Beteiligten eigentlich noch bestehen -,
hat damit zu tun, daß es erhebliche Probleme bei der
Vorbereitung gegeben hat. Dabei ging es um die Frage,
ob die öffentlich-rechtliche Stiftung per Erlaß oder per
Gesetz ins Leben gerufen wird. Da Herr Roth eben die
vielen Gespräche angeführt hat, wollen wir doch Roß
und Reiter beim Namen nennen. Es ging beispielsweise
sehr massiv um die Beteiligung der Initiative. Da sind
viele Gespräche geführt worden, zum Teil intern und
zum Teil öffentlich. Wäre das so klar gewesen, wäre die
Stiftungsgesetzgebung schon früher ins Spiel gekommen.
Erhebliche Meinungsverschiedenheiten hat auch die
Frage ausgelöst, wie das Verhältnis zwischen Stiftungsrat und Beirat ist. Auch hierbei geht es um die
Beteiligung der jüdischen Organisationen. CDUKollegen wie Herrn Lammert zu beschimpfen und ihm
Vorhaltungen zu machen, das halte ich nun wirklich für
eine Verdrehung.
({0})
- Entschuldigung, es wurde hier gesagt, er wolle offenbar die jüdischen Organisationen nicht dabeihaben. Es
ist lächerlich, ihm so etwas überhaupt zu unterstellen.
({1})
Nun halte ich folgendes fest:
Erstens. Natürlich geht es uns nicht darum, daß es zu
diesem wichtigsten Punkt einen Erlaß gibt. Auch Herr
Lammert hat im Ausschuß wie hier gesagt, wenn Einvernehmen wie beim „Haus der Geschichte“ bestehe,
könne es reibungslos über die Bühne gehen.
({2})
Sollte kein Einvernehmen erzielt werden können, könnte
man das Gesetz nicht mehr ändern, sobald die Institutionen besetzt sind. Das ist eine sehr plausible Erklärung.
Zweitens. Vorhin ging es darum, wer hier irgend etwas verhindert. Die Stiftung soll gar nicht verhindert
werden. Sie soll nur gemäß dem Beschluß vom 25. Juni
ins Leben gerufen werden.
({3})
Drittens. Die Frage ist berechtigt, wie die jüdischen
Organisationen einzubeziehen sind, wenn es um ein
Mahnmal der Täter für die Opfer geht. Die Frage lautet
konkret, ob diese Organisationen in der Stiftung oder im
Beirat mitwirken.
({4})
- Eben drum!
Ich gehe weiter und sage: Wenn man sich die Aufteilung der Gruppen anschaut, dann fragt man sich,
was der Beirat in der nächsten Zeit tun soll. Denn in
ihm sind ausschließlich nichtjüdische Organisationen
vertreten.
({5})
Ich habe große Probleme damit, daß wir eine solche
Zweiteilung erneut vornehmen.
Frau Dr. Süssmuth,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Aber gerne.
Bitte sehr, Frau
Kollegin.
Frau Süssmuth, ich gehe davon aus, daß Sie genau wie
ich mit Herrn Bubis gesprochen haben, der immer gesagt hat: Es ist Sache der Täter und der Kinder der Täter,
ob sie eine solche Gedenkstätte wollen oder nicht. Ist es
denn nicht ein unglaublich gutes Zeichen, wenn jetzt
deutsche Juden und jüdische Organisationen und auch
die jüngere Generation sagen: „Wir sind Deutsche, und
wir als Opfer oder als Kinder der Opfer wollen nicht
noch einmal ausgegrenzt werden, wenn es auch vielleicht gut gemeint ist, sondern teilhaben und diese Gedenkstätte als deutsche Juden in Deutschland mittragen“? Ich muß sagen: Ich habe mich unglaublich gefreut. Ich verstehe nicht, daß jetzt solche Bedenken
kommen. Sind Sie nicht der Meinung, daß es eine unglaublich noble Geste ist, wenn die deutschen Juden die
Michael Roth ({0})
Kraft aufbringen und sagen: „Ja, wir wollen das mittragen; das ist auch unser Denkmal“?
({1})
Der Zentralrat der
Juden und jüdische Gemeinden haben sich immer an der
Diskussion um dieses Mahnmal mittelbar beteiligt auch wenn Ignatz Bubis oft erklärt hat, daß das eine Angelegenheit der Deutschen sei -, mal mit Befremden,
mal mit Zustimmung. Jetzt fragen Sie: Ist das nicht ein
nobles Zeichen?
Es hat niemand in Frage gestellt, daß die Juden an
den Stiftungsgremien beteiligt werden sollen. Das halte
ich noch einmal fest. Die unterschiedlichen Auffassungen beziehen sich darauf, wie man die beiden Gruppen
von Opfern auseinanderdividiert. Daß man das nicht
nüchtern miteinander diskutieren darf, verstehe ich
nicht. Ich habe Probleme damit, daß wir wieder zwei
Klassen von Opfern bilden.
Nun ist vorhin gerufen worden: Das entscheidet der
Stiftungsrat. - Die Gruppen sind in der Begründung zu
§ 7 des Gesetzes ausdrücklich genannt. Es ist keine jüdische Organisation dabei. Sie sind alle im Stiftungsrat.
Ich frage mich: Was soll eigentlich der Beirat, der den
Stiftungsrat beraten soll, tun? Offenbar ist der Beirat mit
der bisherigen Besetzung dazu gedacht, daß er sich Gedanken über Mahnmale für andere, nichtjüdische Opfer
macht. Es ist durchaus berechtigt, die Frage zu stellen,
ob diese Aufteilung der Opfergruppen eine sinnvolle ist.
Ich finde, das muß auch im Parlament möglich sein.
({0})
Nun hat die Kollegin
Vollmer den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Bitte.
Liebe Frau Kollegin Süssmuth, sind Sie nicht der Meinung, daß das, was wir jetzt machen, insofern eine genaue Konsequenz unseres Beschlusses ist, als wir damals beschlossen haben, ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas zu schaffen? Wir haben uns damals
dazu durchgerungen, obwohl es auch Leute gegeben hat,
die gesagt haben: Warum macht ihr nicht ein Mahnmal
für alle Opfer? Diese Entscheidung, daß dies ein Mahnmal für die Juden Europas sein soll, macht selbstverständlich auch die besondere Stellung der jüdischen
Teilnehmer in diesem Kuratorium aus.
Zum zweiten. Es wird immer Ignatz Bubis zitiert. Ich
finde, er wird inzwischen -
Eigentlich sollen Sie
eine Frage stellen, Frau Kollegin.
Ich habe Frau Süssmuth gefragt, ob sie nicht der Meinung sei, daß das, was wir jetzt machen, eine Konsequenz dieses Beschlusses sei. Wir haben in diesem Beschluß gesagt: Dieses Mahnmal wird für die ermordeten
Juden Europas errichtet und nicht für alle anderen Opfergruppen. Wir haben aber gleichzeitig gesagt, daß wir
uns verpflichten, auch für die anderen Opfergruppen
Mahnmale zu schaffen. Genau dies ist jetzt auch in den
Gremien ausgedrückt.
Übrigens, man darf in einer Zwischenfrage auch Bemerkungen machen und nicht nur fragen.
Dann macht man
eine Kurzintervention.
({0})
Ich lasse gerne alles
zu. Aber wir wollen ein bißchen darauf achten, daß die
anderen Tagesordnungspunkte irgendwann auch noch
aufgerufen werden können. Deswegen habe ich ganz
sanft eine Mahnung ausgesprochen.
Jetzt hat noch immer die Kollegin Vollmer das Wort.
Ignatz Bubis hat wörtlich gesagt: Wir Juden brauchen
dieses Mahnmal nicht, weil wir unsere Opfer in Erinnerung haben. Diese Aussage unterscheidet sich von der
Behauptung, das Mahnmal habe nur mit den Tätern zu
tun. Ignatz Bubis hat gesagt: Wir brauchen es nicht.
Wenn sich die jüdischen Teilnehmer jetzt dazu bereit
finden, uns in der formalen Umgestaltung zu helfen,
dann ist das, wie ich finde, ein wunderbares Angebot
und hat mit dem Widerspruch zu dem, was Ignatz Bubis
gesagt hat, überhaupt nichts zu tun.
({0})
Gibt es weitere
Wünsche nach Zwischenfragen oder nach einer Kurzintervention? - Das ist nicht der Fall. Frau Kollegin Süssmuth, fahren Sie fort. Aber erst beantworten Sie bitte die
Frage. Solange halte ich Ihre Redezeit an.
Auf die Frage, ob
es nicht konsequent wäre, daß die Juden am Mahnmal
für die jüdischen Opfer beteiligt werden, kann ich nur
schlicht antworten, was ich eben schon einmal gesagt
habe: Das ist die ganze Zeit geschehen.
Es geht hier übrigens nicht um Beteiligung oder
Nichtbeteiligung; vielmehr geht es darum, wie die Stiftung aufgebaut ist, wo wir die Akzente setzen und wo
die Prioritäten liegen. Der Streit dreht sich um den
Umgang mit den Opfergruppen. Sie sagen: Da wir uns
auf das Mahnmal für die jüdischen Opfer festgelegt haben, nehmen wir die einen in das Entscheidungsgremium und die anderen in das Beratungsgremium. Ich wieChrista Nickels
derhole: Der Dissens besteht nicht hinsichtlich der Beteiligung der jüdischen Opfergruppen und ihrer Institutionen; vielmehr besteht der Dissens hinsichtlich der
Gewichtung der Gremien. Wir sind über die Auslegung
des Bundestagsbeschlusses unterschiedlicher Meinung.
Ich sage noch einmal: Ich habe erhebliche Probleme mit
der erneuten Aufteilung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Opfergruppen in den verschiedenen Gremien.
({0})
Dieses Thema muß im Bundestag diskutiert werden
können. Es kommt nicht von ungefähr, daß, wie wir aus
den verschiedenen Fraktionen gehört haben, mehrere
Abgeordnete mit diesem Ansatz Probleme haben. In den
Beratungen wird die Diskussion darüber weitergehen.
Ein Mißverständnis möchte ich allerdings heute
abend ausräumen. An der schnellen Umsetzung des Beschlusses vom 25. Juni sind alle Fraktionen in gleicher
Weise interessiert. Es ist nicht unser Versäumnis, daß
wir erst heute die Frage der Stiftungserrichtung diskutieren. Ich wünsche mir, daß wir in den beratenden Ausschüssen zu Ergebnissen kommen, welche die Frage,
wer beteiligt wird, welche Gewichtung man bei der Beteiligung vornimmt und in welcher Weise die Beschlüsse aufgehalten werden, nicht weiter aufwerfen. Ich wünsche mir, daß wir diesen Gesetzentwurf bis zum 27. Januar 2000 verabschiedet haben.
({1})
Das Wort hat nun
Staatsminister Dr. Naumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
In dieser Diskussion - auch in der heute abend - werden
semantische Schwierigkeiten im Umgang mit der deutschen Geschichte manifest. Aber, Herr Lammert, es
werden auch Insinuationen, zum Beispiel über angebliche Äußerungen von mir im Fernsehen, mitgeschleppt.
Von diesen meinen Äußerungen sagen Sie gleichzeitig,
daß Sie sie nicht belegen können. Ohne mit der Wimper
zu zucken, fahren Sie aber mit der Behauptung fort, daß
solche Bemerkungen dazu angetan seien, Mißtrauen zu
säen. Nur eines von beiden geht.
Die Wahrheit ist, daß der Bund in der vorgesehenen
Besetzung des Kuratoriums keineswegs, so wie Sie
sagen, das Übergewicht hat. Wenn Sie mit „Bund“ die
Bundesregierung meinen - der Wähler und die Öffentlichkeit verstehen das so -, dann muß ich Ihnen sagen,
daß nur 2 von 23 Mitgliedern vorgesehen sind, die der
Bundesregierung angehören.
({0})
- Ach, Sie haben das kritisch angesprochen? Das heißt,
Sie stoßen sich an dem Übergewicht des Förderkreises
zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden
Europas mit drei Mitgliedern? Dieses Erstaunen teilen
wir allerdings beide. Aber Tatsache ist, daß wir heute
hier im Bundestag eben auch über dieses Kuratorium
und über diesen Beirat diskutieren.
({1})
Ich um so mehr, als ja gerade der Förderkreis in der heißen Phase der Mahnmal-Diskussion zu Ihren, auch zu
Frau Süssmuths engsten Verbündeten zählte. Sich jetzt
hier öffentlich indirekt gegen seine Partizipation im
letzten Entscheidungsforum auszusprechen ist schon ein
starkes Stück.
Nachdem ich dieses gesagt habe, möchte ich noch etwas anderes kurz anmerken: In dem Kuratorium wird
ganz selbstverständlich - das wird hier im Gespräch ein
wenig vermieden - auch darüber diskutiert werden müssen, wie groß oder klein und wie teuer der Ort der Information wird und welche Funktion er haben soll. Selbstverständlich bringt auch der Vertreter der Bundesregierung - es ist noch gar nicht ausgemacht, ob das Naumann
ist oder irgend jemand anders - seine Meinung mit der
Intention in die Diskussion ein, daß dort etwas beschlossen wird, was dem Geist der Bundestagsdebatte entspricht. Ich erlaube mir, daran zu erinnern, daß die Errichtung eines Hauses der Erinnerung durch eine Liste
mit Unterschriften von über 168 Abgeordneten aus allen
Fraktionen in der Debatte Unterstützung gefunden hatte.
Wenn nun heute dieser Ort der Information - davon gehe
ich doch aus - nicht im entferntesten die Dimensionen
haben wird, die der ursprüngliche Vorschlag von mir und
Peter Eisenman vorsah, dann ist das für mich kein Ausdruck einer politischen Niederlage, sondern Ausdruck des
politischen Willens des Bundestages, der sich in den Beratungen des Kuratoriums widerspiegeln wird.
({2})
Zuletzt noch dies, Frau Süssmuth und Herr Lammert:
Ich finde, es wird allerhöchste Zeit, daß wir den Begriff
des Volkes der Täter in Quarantäne schicken. Er taugt
nicht, da er erstens in seiner Verschwommenheit einen
Volksbegriff insinuiert, von dem sich dieses Land längst
verabschiedet hat, und zweitens ganz zu Unrecht auch
diejenigen einschließt, die nach dem Ende des Dritten
Reiches in dieses Land eingewandert sind. Dazu zählen
derzeit etwa 70 000 russische Juden, die in Deutschland
leben und von denen viele bereits deutsche Pässe haben.
Zählen die auch zum Volk der Täter? Wer zählt denn eigentlich zum Volk der Täter? In Wahrheit müßte man,
wenn man von einem Volk der Täter spricht, logischerweise auch von einem Volk der Opfer sprechen.
({3})
Das Volk der Opfer ist zweifellos nicht damit einverstanden, als Volk der Opfer bezeichnet zu werden. Sprechen Sie doch einmal mit den deutschen Juden. Sie
kommen in Teufels Küche,
({4})
wenn Sie versuchen, mit dieser Art von Semantik im
Grunde genommen moralische Positionen zu besetzen
und aus denen heraus dann politisch zu argumentieren.
Herr Staatsminister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Süssmuth?
Ich möchte ganz kurz den Gedanken zu Ende
führen, das dauert ein paar Sekunden; dann aber gerne.
Schließlich fühlt sich die junge jüdische Gemeinde
Deutschlands keineswegs aus der deutschen Gesellschaft
ausgeschlossen und nimmt als aktives und nicht als zuschauendes Mitglied am deutsch-jüdischen Dialog teil.
Es ist ein außerordentlicher Fortschritt, daß der Zentralrat und die Jüdische Gemeinde dieser Stadt bereit sind,
in wichtigen Institutionen an der Ausgestaltung eben
dieses Mahnmals und des Ortes der Information teilzunehmen; dieses ist zu begrüßen.
({0})
Jetzt kommt die
Frage der Kollegin Süssmuth.
Hier jetzt zu sagen -
Sie haben von Sekunden gesprochen, die Sie, Herr Staatssekretär, noch
reden wollten. Das ist ein weiter Begriff. Es wäre, wie
ich glaube, am besten, wenn jetzt die Kollegin Süssmuth
Gelegenheit hätte, ihre Zwischenfrage zu stellen. Bitte
sehr.
Herr Minister, Ihre
Forderung, der Begriff „Volk der Täter“ müsse getilgt
werden Dr. Michael Naumann, Staatsminister beim Bundeskanzler: Nicht getilgt, sondern in Quarantäne geschickt.
- eine Quarantäne
dient dazu, daß der Bazillus ausgemerzt wird -,
Das ist etwas anderes.
- veranlaßt mich
zu der Frage, ob Sie es allen Ernstes für richtig halten,
hier ein semantisches Spiel zu betreiben. Es geht um
Täter und Opfer.
({0})
Niemand von uns will auch die noch zu Opfern machen,
die keine Opfer sind. Deswegen laßt uns doch bei einer
klaren Sprache bleiben. Warum sollte jetzt die Sprache
auch noch vernebelt werden?
({1})
Zum zweiten frage ich Sie: Wem unterstellen Sie
eigentlich, daß er gegen die Beteiligung des Zentralrats
der Juden in Deutschland, der Jüdischen Gemeinde, des
Jüdischen Museums ist? Ich möchte wissen, wem Sie
das unterstellen und aus welchem Grund.
({2})
Frau Professor Süssmuth, ich unterstelle gar
nichts. Sie und Herr Lammert haben klipp und klar gesagt, daß dies ein Denkmal ist, gebaut vom Volk der
Täter.
({0})
Wovon reden wir denn, wenn wir von der Erweiterung des Kuratoriums reden? Wir reden doch in erster
Linie genau von diesen Gruppen, die jetzt in dieses Kuratorium hinein sollen, nämlich den jüdischen Gruppen.
Weil dies so ist, so sagten Sie doch, wäre eine solche
Erweiterung des Kuratoriums unter anderem auch
eine Verfälschung des ursprünglichen Beschlusses des
Bundestages. Das ist doch Ihr Argument. Wenn es das
nicht ist, dann sind wir uns einig; dann reden wir nicht
mehr darüber, daß das Kuratorium um diese Gruppen
erweitert wird. Dann ist alles in Ordnung. Dann wäre ich
sehr dankbar. Das ist der Sinn meiner Rede.
({1})
Vielen Dank.
Ich danke Ihnen.
Als letzter Redner in
dieser Debatte hat der Kollege Eckhardt Barthel von der
SPD das Wort.
({0})
- Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen. Wenn Sie
gestatten, Herr Barthel, gibt es noch eine Kurzintervention von Herrn Schmidt-Jortzig, auf die Sie antworten
können, Herr Staatsminister.
Bitte sehr.
Ich wollte
Sie, verehrter Herr Staatsminister, nur darauf hinweisen,
daß wir in dem Beschluß vom 25. Juni dieses Jahres
festgestellt haben, daß die Vertreter der jüdischen Organisationen in den Gremien der Stiftung vertreten sein
sollen. Ich möchte Sie gleichzeitig daran erinnern, daß
Sie selbst in dem Entwurf der Koalition drei Gremien
dieser Stiftung vorsehen: den Vorstand, das Beschlußgremium - bei Ihnen Kuratorium genannt - und den
Beirat. Sie können also nicht die Diskussion um eine
Beteiligung der jüdischen Verbände in den Gremien
willkürlich nur darauf konzentrieren, wer in das Kuratorium kommt. Das Entscheidende bei den Stiftungsorganen ist, daß wir ein Trägerorgan haben, nämlich das
Kuratorium, und ein weiteres Organ, das ihn beraten
soll, nämlich den Beirat. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis,
daß niemand die jüdischen Organisationen aus den
Gremien der Stiftung heraushalten will,
({0})
sondern daß es nur darum geht, sie vernünftig und richtig dem Konzept der Stiftung, wie wir es im Bundestag
beschlossen haben, entsprechend zuzuordnen. Wer diese
Unterscheidung nicht nachvollziehen kann, sollte sich
auch mit solchen großen Vorwürfen heraushalten: Diejenigen, die nicht Ihre Konzeption mitmachen, wollten
die jüdischen Organisationen ganz heraushalten. - Das
finde ich infam.
({1})
Herr Staatsminister,
wollen Sie antworten? - Bitte sehr.
Herr Abgeordneter, infame Unterstellungen
sind mir von Natur aus fremd. Wenn Sie auf den Verlauf
der Debatte zurückschauen, so stellen Sie fest: Es gab
unendlich viele Auslassungen, auch speziell aus dem
Förderkreis. Es wurde gesagt, daß dies ein Denkmal ist,
das wir für die ermordeten Juden in Deutschland bauen,
und daß die uns mit ihren Interventionen in Ruhe lassen
sollten. Das kann ich Ihnen mit zahllosen Zitaten belegen.
Wir sind aber heute in einer anderen Situation. Dies
ist nicht nur ein semantischer, sondern auch ein gesellschaftlicher Fortschritt, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
({0})
Das Kuratorium ist das Entscheidungsgremium eines
der bedeutendsten Bauwerke, die in dieser Republik gebaut werden sollen: das Mahnmal. Daß die Nachfahren
derjenigen, die zum Ziel des Holocaust erklärt worden
sind, bzw. die Nachfahren der Überlebenden und die
Davongekommenen uns anbieten und sagen, daß sie bei
der Gestaltung übrigens auch des Orts der Information
mitsprechen, daß sie bei der Vernetzung der Institution
mit ähnlichen Gedenkstätten mitsprechen wollen - und
das an entscheidender Stelle -, ist für mich buchstäblich
ein Durchbruch des deutsch-jüdischen Dialogs. Das hat
es in dieser Form nicht gegeben.
Sprechen Sie doch einmal mit Korn und mit Nachama
und fragen Sie sie, warum sie im Gegensatz zu Bubis so
handeln! Bubis hat in der Tat - ich habe oft mit ihm
darüber geredet - über dieses Thema gesprochen. Aber
er hat aus Gründen, die nachzuvollziehen sind und die in
seiner Biographie liegen, gesagt: An den entscheidenden
Gremien nehme ich nicht teil.
Die nächste Generation nimmt teil. Um es ganz klar
zu sagen: Sie ist gewissermaßen im ernsten Kern des
deutsch-jüdischen Dialogs auf politischer Ebene angekommen. Nun zu sagen: „Aber wir wollen euch nicht
mit entscheiden lassen“ wäre nicht nur unfair, sondern
meines Erachtens ein politischer - nicht nur ein parteipolitischer - Rückschritt für uns alle. Darum wünschte
ich mir, Herr Abgeordneter, daß Sie Ihren Widerstand
gegen den Vorschlag der Regierungskoalition aufgeben
und daß Sie die Debatte über die Gestaltung des Mahnmals in genau das Stiftungsgremium verlagern, das dafür geschaffen werden soll - in das Kuratorium.
Danke.
({1})
Nun hat der Kollege
Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion, das Wort.
Meine Damen
und Herren! Für alle diejenigen, die nicht Mitglied im
Kulturausschuß sind und die nicht die Debatte im letzten
Jahr verfolgt haben, zeigt die jetzt geführte Debatte um
die Besetzung des Kuratoriums, wie schwer doch die
Aufgabe ist, die wir uns vorgenommen haben. Abgesehen von kleinen Ausrutschern, hatten wir doch trotz aller
Gegensätze in den Positionen eigentlich immer eine faire Auseinandersetzung. Ich glaube, eine andere Art der
Auseinandersetzung wäre dieses Themas nicht würdig.
Dabei sollte es bleiben.
({0})
Wenn ich von der Schwere der Aufgabe spreche, die
wir uns aufgeladen haben - ich möchte fast sagen: die
man dem Deutschen Bundestag aufgeladen hat -, dann
heißt das aber nicht, daß wir diese Diskussion jetzt noch
länger fortführen können. Auch an dem heutigen Tage
wurde immer wieder die Frage beschworen: Wie kommt
das in der öffentlichen Meinung an? Ich möchte die
Antwort ganz vorsichtig formulieren: Das öffentliche
Interesse an der Diskussion über das Denkmal für die
ermordeten Juden Europas ist außerordentlich gering.
Man kann inzwischen von einem Desinteresse sprechen.
Es wird bei diesem Desinteresse bleiben, wenn wir jetzt
noch länger die Frage der Besetzung des Kuratoriums zu
der Kernfrage machen.
({1})
Meine Angst ist - das sage ich ganz offen -, daß das
Desinteresse an der Diskussion über das Denkmal in ein
Desinteresse an dem Denkmal selbst umschlagen könnte. Das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte.
Deswegen, meine Damen und Herren von der Opposition, sind wir sehr daran interessiert - in diesem Punkt
sind wir uns einig -, nicht nur den Beschluß vom
25. Juni aufrechtzuerhalten, sondern noch einen Schritt
weiterzugehen: Wir wollen ihn nun endlich realisieren.
Das ist der Grund, warum wir dieses Verfahren gewählt
haben, sowohl per Gesetzentwurf als auch per Erlaß
endlich mit der Arbeit anfangen zu können.
({2})
Wir berufen uns immer auf unseren Beschluß vom
25. Juni. Dort steht, daß in diesem Jahr die Stiftung gegründet wird und daß im Jahr 2000 die Bauarbeiten beginnen sollen.
({3})
Wir haben uns das große Ziel gesetzt - ich sagte bereits,
daß ich dies für sehr ehrgeizig halte -, am 27. Januar den
Grundstein zu legen. Daher müssen wir jetzt zu einer
Entscheidung kommen. Das ist unser Anliegen. Den
Weg, den wir beschrieben haben und der auch für mich
neu ist, halte ich für adäquat, um die Ziele, die wir uns
vorgenommen haben, zu erreichen.
({4})
Es ist der Zeitfaktor, der uns erdrückt. Ich als Berliner
Abgeordneter kenne die Örtlichkeiten gut. Wir brauchten sieben Jahre, um fünfhundert Meter vor dem Ort des
Denkmals eine ganze Stadt am Potsdamer Platz hochzuziehen. Aber nach 10 oder gar 15 Jahren Diskussion ist
noch nicht einmal der Grundstein für dieses Denkmal
gelegt. Daß daraus langsam Ernüchterung erwächst, ist
mir völlig klar. Deswegen sollten wir ganz schnell zu
einer Entscheidung kommen.
Ich will zur Frage des Kuratoriums noch ein paar
Sätze zu der Zusammensetzung sagen. Angesichts der
Tatsache, daß die starke Vertretung des Bundestages so
kritisiert wird, sollte man sich folgendes genau überlegen: Klar ist doch, daß das bisherige Verfahren ohne den
Bundestag zu keinem Ergebnis geführt hat.
({5})
Ich bin sehr dankbar, daß der Bundestag eine gute Entscheidung getroffen hat. Aus folgendem Grund sollte er
in diesem Kuratorium stark vertreten sein: Der Bundestag sollte auch die Verantwortung für die Umsetzung
seiner Entscheidung übernehmen.
({6})
Deshalb finde ich es richtig, daß wir mit einer großen
Zahl in diesem Kuratorium vertreten sind.
Jetzt zu der Frage, ob jüdische Organisationen daran
teilnehmen sollen! Es ist richtig: Die beiden Gremien im Gesetz steht in der Tat „Gremien“, also Plural - haben eine unterschiedliche Wertigkeit. Das Kuratorium
hat eine höhere Wertigkeit. Die Frage ist jetzt: Wer soll
in das Gremium mit der höheren Wertung hinein? Ich
glaube, kein Redner der Regierungsfraktionen hat die
Tatsache, daß Sie die jüdischen Organisationen nicht in
dem Gremium haben wollen, mit einem negativen Zungenschlag kommentiert, sondern das nur als falsch bezeichnet. Das ist legitim, wie auch Ihre Meinung legitim
ist. Man kann darüber streiten. Aber bei unserer deutschen Geschichte kann man, wenn jüdische Organisationen kommen und bei einer so sensiblen Angelegenheit
ein Angebot machen und uns praktisch die Hand ausstrecken, dieses Angebot nicht ablehnen. Ein solches
Angebot nimmt man dankend an.
({7})
In diesem Sinne sehe ich auch die Zusammensetzung
dieses Kuratoriums als eine gute Entscheidung.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/2013 und 14/1996 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu dem Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen „Stiftung Denkmal
für die ermordeten Juden Europas“ auf Drucksache
14/2014. Die Koalitionsfraktionen wünschen Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und
der F.D.P. beantragen Ausschußüberweisung.
Nach ständiger Übung geht der Antrag auf Ausschußüberweisung vor. Deswegen frage ich: Wer ist für
die Ausschußüberweisung? ({0})
Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist der
Antrag auf Ausschußüberweisung abgelehnt.
Wir stimmen deshalb jetzt über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
auf Drucksache 14/2014 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.:
Pläne der Bundesregierung zur Erhöhung der
Erbschaftsteuer
Sind alle Erbschaftsteuerexperten im Saal?
({1})
Eckhardt Barthel ({2})
- Wir beginnen jetzt mit der Aktuellen Stunde.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Carl-Ludwig Thiele, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der
Presse kann man heute und konnte man auch in den
letzten Tagen entnehmen, welche Pläne die Bundesregierung und Rotgrün im Bereich der Erbschaftsteuer
haben. Es ist erforderlich, daß solche Presseberichte hier
diskutiert werden,
({0})
denn wie Rotgrün die Verfahrensmehrheit entgegen bisherigen Gepflogenheiten nutzt, hat die Abstimmung zum
vorhergehenden Tagesordnungspunkt gezeigt.
({1})
Deshalb sind wir aufgefordert, uns hier im Bundestag
auch mit solchen Themen zu beschäftigen. Denn Rotgrün redet unwahrscheinlich viel über Steuersenkungen,
faktisch jedoch wird das Gegenteil dessen beschlossen.
({2})
Heute ist die Ökosteuer wieder erhöht worden; das Steuerentlastungsgesetz war ein Steuerbelastungsgesetz, und
im Steuerbereinigungsgesetz wird die Steuerfreiheit für
Lebensversicherungen abgeschafft. Das alles soll geeignet sein, Zutrauen in die Zukunft unseres Landes und in
den Investitionsstandort Deutschland zu erwecken. Das
funktioniert nicht.
Weil das nicht funktioniert, müssen wir das hier ansprechen und bitten wir um Klarstellung. Denn der Bundeskanzler erklärt ja immer: Wir führen keine Steuererhöhungsdebatte. Da kann ich nur sagen: Das stimmt. Sie
führen die nicht unbedingt; Sie beschließen einfach eine
Steuererhöhung.
({3})
Weil es einfach nicht geht, daß Sie die einfach beschließen, müssen wir hier über diese Sache diskutieren, damit
Sie nicht ständig in der Öffentlichkeit einen anderen
Eindruck von Ihrem Handeln erwecken, der nicht der
Wirklichkeit entspricht.
Ich möchte kurz zu vier Punkten Stellung nehmen.
Erstens. Zu den Hauseigentümern. Das, was Sie
derzeit durch eine Änderung der Bewertungsvorschriften
vorhaben, stellt eine massive Mehrbelastung der Hauseigentümer in unserem Lande dar.
({4})
Auch seitens Ihrer Fraktionen wird festgestellt, daß es
ein Ungleichgewicht zwischen der Behandlung von Kapitalvermögen und der Behandlung von Grundvermögen
gibt und daß diese Ungleichbehandlung verfassungswidrig ist.
({5})
Dazu kann ich Ihnen nur sagen - ich zitiere das Bundesverfassungsgericht gemäß dem Ausschußbericht -:
Führe die Entscheidung, in Grundvermögen oder
in Kapitalvermögen zu investieren, steuerlich zum
selben Ergebnis, werde der praktisch keiner Sozialbindung unterliegende Erwerb von Kapitalvermögen dem Erwerb von vielfach Bindungen unterliegenden Grundvermögen vorgezogen. In diesem Fall
müßten die fehlenden privaten Investitionen zur Sicherstellung der Grundversorgung der Bevölkerung
mit Wohnraum mit öffentlichen Geldern finanziert
werden.
Das ist der Punkt, den wir befürchten. Wir halten die
Erhöhung der Erbschaftsteuer, insbesondere im Hinblick
auf das Immobilienvermögen, für falsch, weil beim
Grundvermögen im Rahmen der Ermittlung des Wertes
ganz bewußt eine andere Bewertung herangezogen werden würde als beim Kapitalvermögen. Das Kapitalvermögen können Sie relativ flott bewerten, weil Sie nur
einen Bankauszug bzw. den entsprechenden Aktiendepotauszug benötigen. Dann kennen Sie den Wert. Das
geht beim Grundvermögen nicht so einfach.
Die derzeitige Regelung führt dazu, daß das Grundvermögen bei der Erbschaftsteuer - teilweise in Höhe
von 80 Prozent des Verkehrswertes - zugrunde gelegt
wird. Wer das noch erhöhen will, der bringt die Menschen um ihr kleines Häuschen. Nach dem Motto „Wir
versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“ soll der kleine
Bürger in unserem Lande abkassiert werden.
({6})
Zweitens. Zum Mittelstand. Wie viele Mittelständler
bekommen denn nur deswegen einen Kredit für ihr Unternehmen, weil sie Grundvermögen haben? Wenn dieses anders bewertet wird und sie zusätzlich zur Kasse
gebeten worden; dann entziehen Sie Kapital, welches als
Beleihungsmittel zur Verfügung gestellt werden kann.
Damit fördern Sie in unserem Lande Desinvestition. Das
ist der zweite Grund, warum wir die Erhöhung der Erbschaftsteuer ablehnen.
({7})
Drittens. Wir diskutieren auch morgen noch über die
notwendige private Altersvorsorge, die Sie im Rahmen
der Quasi-Abschaffung der Steuerfreiheit der Lebensversicherung behindern. Wir sind uns einig darüber, daß
das Rentensystem bisheriger Form dringend ergänzt
werden muß. Eine Ergänzung kann sein, Eigentum zu
bilden. Denn wer Eigentum bildet, hat im Alter eine andere Versorgung als derjenige, der dies nicht getan hat.
({8})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Wenn Sie an diese Sache herangehen, verschärfen Sie
die von Ihnen schon jetzt produzierte Rentenproblematik. Das ist der dritte Grund, warum wir die Erhöhung
der Erbschaftsteuer ablehnen.
({9})
Viertens. Bei Ihnen ist immer unwahrscheinlich viel
von sozialer Gerechtigkeit die Rede. Deshalb möchte
ich auch zu diesem Punkt Stellung nehmen. Vermögen
kommt auch aus versteuertem Einkommen.
({10})
- Auch bei einer Person, die erbt. Die unterliegt nämlich
vorher der Erbschaftsteuer. Freibeträge, die es in diesem
Zusammenhang gibt, sind vergleichbar den Freibeträgen, die es bei anderen Steuerarten gibt, Herr Kollege
Müller. Insofern ist auch das Ererbte vorher einer Besteuerung unterzogen worden.
({11})
Es ist von denjenigen, die es vererben konnten, vorher
versteuert worden, damit es überhaupt zum Vermögen
werden konnte.
Wenn Sie einfach sagen, es sei ja vorhanden, es müsse nur umverteilt werden, dann können Sie als Grüne
das zwar sagen - damit erhalten Sie den Koalitionsfrieden mit der SPD, die das auch so sieht -, dann bewegen
Sie sich aber meilenweit weg von der Realität.
({12})
Wir haben seinerzeit, als die Vermögensteuer ausgesetzt wurde - sie ist nicht abgeschafft worden; sie ist
durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ausgesetzt worden -, das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer
um gut 2 Milliarden DM erhöht, weil wir gesagt haben,
daß auch das Erbe Vermögen ist
({13})
und daß das Erbvermögen durch die Erbschaftsteuer besteuert werden soll. Deshalb ist sie erhöht worden.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Das mache ich, Frau
Präsidentin. Herzlichen Dank!
Wenn Sie jetzt darüber hinausgehen wollen, dann gehen Sie verfassungsrechtliche Risiken ein und laufen
Gefahr, daß weiter Kapital aus Deutschland abgezogen
wird. So sorgen Sie nicht für Vertrauen in Ihre finanzpolitische Kompetenz, und so schaffen Sie keine Arbeitsplätze in unserem Lande.
({0})
Als nächster hat der
Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Aktuelle Stunde ist offensichtlich Teil einer neuen politischen Strategie der
F.D.P., öffentlich stärker in Erscheinung zu treten; ich
könnte auch sagen: der Öffentlichkeit vorzugaukeln,
man habe ernstzunehmende politische Alternativen.
({0})
Die F.D.P. spielt sich als Hüterin von Omas Häuschen
auf. Das ist eine ganz neue Rolle.
Zu der Strategie, mit möglichst wenig Inhalt ein
Höchstmaß an Aufmerksamkeit zu erreichen,
({1})
gehört wohl auch der neue Slogan der F.D.P., der bald
unter das Volk gebracht werden soll: Sind wir denn besteuert?
({2})
Darauf kann ich nur erwidern: Ja, wir sind besteuert,
noch immer, nach 16 Jahren konservativ-liberaler Regierung, aber nach einem Jahr Rotgrün weniger und weitaus gerechter als nach der Ära Kohl.
({3})
In der Zeit Ihrer Regierung wurden die Bürgerinnen
und Bürger Jahr für Jahr zusätzlich mit Steuern und Abgaben überzogen; das war die Realität. Wir kehren dies
um: Mit dem Steuerentlastungsgesetz, mit dem Familienförderungsgesetz und der Unternehmenssteuerreform
realisieren wir Steuersenkungen in Höhe von
40 Milliarden DM. Daran kommen Sie nicht vorbei.
({4})
Sie können noch so viele Aktuelle Stunden beantragen,
Herr Thiele. Wir realisieren Steuersenkungen in Höhe
von 40 Milliarden DM - und das zählt.
({5})
In der Tat ist dies den Bürgern noch nicht so recht
bewußt.
({6})
Ich bin aber zuversichtlich, daß die nächste Stufe des
Steuerentlastungsgesetzes von den Bürgern weitaus
stärker wahrgenommen werden wird als die erste Stufe.
Sie haben nur über Steuersenkungen geredet, wir haben
entsprechend gehandelt.
({7})
Car-Ludwig Thiele
Zu unseren Maßnahmen haben Sie keine wirklichen Alternativen.
({8})
Weder die Bundesregierung noch die Koalition streben Steuererhöhungen an,
({9})
auch nicht über die gesetzlichen Regelungen zur Erbschaftsteuer. Tatsache ist allein, daß sich eine vom Bundesfinanzministerium eingesetzte Kommission aus
Fachleuten von Bund und Ländern mit der Frage befaßt,
wie Grundbesitz realitätsnah und damit verfassungsmäßig steuerlich bewertet werden kann.
Aktuelle Untersuchungen an Hand von Verkäufen
von Grundvermögen zeigen, daß die derzeitigen Bewertungsverfahren für bebaute Grundstücke zu einer, gemessen an den Verkehrswerten, niedrigeren Erfassung
führen: Während unbebaute Grundstücke mit rund
72 Prozent des Verkehrswerts bewertet werden, betragen
die nach dem Ertragswertverfahren ermittelten Grundbesitzwerte für bebaute Grundstücke im Durchschnitt nur
51 Prozent des Verkehrswerts.
({10})
Deswegen gibt es den Vorlagebeschluß des Finanzgerichts Hannover. Das ist doch nicht von der Koalition erfunden worden. Sie wissen doch, daß wir uns damals
über das Bewertungsverfahren gestritten haben.
({11})
- Herr Hauser, all das wissen Sie. Sie wissen es besser,
als Sie hier vorgeben.
Dieser Zustand - das müssen alle wissen - ist verfassungsrechtlich bedenklich. Er stellt eine sachlich nicht
gerechtfertigte Ungleichbehandlung innerhalb der Vermögensart Grundvermögen dar, aber auch und insbesondere gegenüber dem übrigen Vermögen. Deswegen
ist ja das Urteil in Sachen Vermögensteuer ergangen.
Aber auch hier versuchen Sie immer wieder, den Bürgern mit falschen Behauptungen Sand in die Augen zu
streuen. Die Existenz eines sogenannten Halbteilungsgrundsatzes hat der Bundesfinanzhof in der letzten Woche mit aller Deutlichkeit ad absurdum geführt.
({12})
Das paßt Ihnen nicht. Aber damit müssen Sie sich abfinden.
Ein verbessertes, verfassungsmäßiges und an den
realen Verkehrswerten orientiertes Bewertungsverfahren
tut not. Das gilt nicht nur für die Erbschaftsteuer. Auch
bei der Grundsteuer gibt es Handlungsbedarf. Hierzu hat
die Finanzministerkonferenz der Länder eine Kommission eingesetzt. Es geht also um Bewertungsfragen, um
nicht mehr und nicht weniger.
Die Beamtenkommission des BMF hat einen Zwischenbericht vorgelegt; der Abschlußbericht wird voraussichtlich im nächsten Jahr fertiggestellt. Im Lichte
dieser Erkenntnisse werden wir uns mit den Bewertungsfragen in aller Sachlichkeit erneut beschäftigen, ob
mit oder ohne Aktuelle Stunde.
({13})
Ich erteile nun der
Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Poß, regieren ist anscheinend doch schwerer, als es
sich mancher beim Rütteln am Kanzleramtszaun gedacht
hat.
({0})
Es ist vor allen Dingen dann schwer, wenn man eine
Politik machen will, die von der Partei offensichtlich
nicht mitgetragen wird. Der Parteitag im Dezember
rückt leider immer näher.
({1})
Es ist dem SPD-Bundesparteivorsitzenden bisher
nicht gelungen, seinen Parteikollegen klarzumachen,
was der Bundeskanzler will. Der Bundeskanzler will die
neue Mitte fördern, und gleichzeitig muß er als Bundesparteivorsitzender zugeben, wie sehr er die neue Mitte
mit der Ökosteuer, mit dem „Steuerbelastungsgesetz“
und dem Steuerbereinigungsgesetz schon belastet hat.
Da hat der Bundesparteivorsitzende tatsächlich recht;
denn das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat das wissen Sie ganz genau - 5 Milliarden DM Mehrbelastung allein durch das Steuerentlastungsgesetz für den
Mittelstand errechnet.
So ist das eben: Wenn man in der Öffentlichkeit behauptet, man entlaste die Unternehmen, und tut in
Wirklichkeit genau das Gegenteil, dann glaubt einem die
eigene Partei nicht mehr. Aus dieser Falle kommen Sie
nicht heraus.
({2})
So ist es auch kein Wunder, daß die SPD von falschen Voraussetzungen ausgeht und meint, sie müßte
die vermeintlich Vermögenden noch stärker belasten, als
sie das jetzt schon tut.
({3})
Da kommt man eben auf Ideen: Vermögensteuer, Vermögensabgabe und Erbschaftsteuererhöhung. Das sind
alles Dinge, die der SPD-Parteibasis ganz gut gefallen!
Dabei vergißt man zwischenzeitlich, daß sowohl der
Bundeskanzler als auch der Bundesfinanzminister immer wieder beteuert haben, daß in dieser Legislaturperiode keine Steuererhöhungen mehr stattfinden sollen.
Ob es jetzt nach dem Rentenwortbruch auch noch
einen Steuerwortbruch gibt, werden wir ja sehen. Daß
ganz offensichtlich etwas in der Mache ist, hat uns der
Kollege Poß gesagt. Es gibt die Arbeitsgruppe von Bund
und Ländern zur Neubewertung von Vermögen.
({4})
Wozu haben Sie diese eingerichtet? Sie haben es getan,
um zu prüfen, wo Sie noch mehr schröpfen können.
Oder etwa nicht?
Sie wissen ganz genau, daß 1997 das Aufkommen
aus der wegfallenden Vermögensteuer - Herr Thiele hat
es soeben gesagt - sowohl in die Erbschaftsteuer als
auch in die Erhöhung der Grunderwerbsteuer von 2 Prozent auf 3,5 Prozent eingerechnet worden ist. Allein die
Erbschaftsteuer ist dadurch schon um 40 Prozent gestiegen. Dadurch ist bei der Vererbung von mittlerem
Grundvermögen eine erhebliche Mehrbelastung eingetreten.
Um das zu bestätigen, möchte ich mit der Erlaubnis
der Frau Präsidentin Professor Lang zitieren.
Die brauchen Sie
nicht. Das können Sie auch ohne meine Erlaubnis machen.
Professor Lang ist Direktor des Instituts für Steuerrecht an der Universität
Köln. Er sagt auf die Frage „Das Ziel, mehr soziale Gerechtigkeit im Land zu schaffen, wird also nicht erreicht?“:
Ich halte es für eine Täuschung des Wählers, wenn
die Bundesregierung behauptet, mit der Erbschaftsteuer eine angebliche Gerechtigkeitslücke zu
schließen. Diese Steuer ist schlichtweg ungerecht,
weil sie die Reichen fast gar nicht trifft.
Ich finde, dieses Zitat kann man immer und überall anführen.
({0})
- Ja, deswegen sollten Sie von Ihrem Vorhaben lieber
ablassen.
Außerdem wissen Sie ganz genau, daß die Erbschaftswelle überhaupt noch nicht richtig begonnen hat.
Sie kommt erst noch. Wir haben in 1998 ein Aufkommen der Erbschaftsteuer in Höhe von 4,8 Milliarden DM
gehabt, in 1999 wird es wahrscheinlich 5,9 Milliarden
DM betragen. Das wird weiterhin erheblich steigen, und
das wissen Sie ganz genau.
Außerdem haben Sie im Steuerbereinigungsgesetz
schon dafür gesorgt, daß durch die Herausnahme von
Schulden bei Betriebsübergängen eine Verschlechterung
eingetreten ist. Das haben Sie nur ein bißchen versteckt,
damit es keiner merkt.
Ich würde an Ihrer Stelle auf den Vorsitzenden der
Steuergewerkschaft, Herrn Ondracek, hören.
({1})
- Warum nicht? Er ist ein hervorragender, sachlicher
Mann, der der Regierung viel Ärger und wenig Ertrag
voraussagt, wenn sie bei der Bewertung noch einmal zuschlagen will.
Ganz abgesehen davon frage ich mich tatsächlich,
wie Sie eigentlich Betriebsvermögen behandeln wollen,
Herr Müller. Gerade kleine Unternehmen führen ihre
Betriebe in eigenen Immobilien. Ein Betrieb wird nicht
einfach dadurch bereichert, daß ein Erbschaftsübergang
stattfindet, daß also jemand stirbt und ein Nachfolger
das Erbe antritt.
Wenn wir erreichen wollen, daß wir Nachfolger für
die Hunderttausende von Betrieben finden, die in den
nächsten zehn Jahren vererbt werden, müssen wir dafür
sorgen, daß die Erbschaftsteuerbelastung die Eigenkapitalbasis nicht kaputtmacht. Es nützt überhaupt nichts,
wenn Sie versuchen - wir haben das auch schon versucht -, Existenzgründungen zu fördern, wenn die bestehenden Arbeitsplätze beim Erbschaftsübergang tatsächlich kaputtgemacht werden.
({2})
Ich kann dem Finanzminister, Frau Staatssekretärin
Hendricks, um der Erhaltung der mittelständischen Betriebe willen wirklich nur raten, von diesem Vorhaben
abzulassen.
({3})
Hören Sie bitte nicht auf die Schalmeien der Neidideologen in der SPD von links! Es tut unseren Arbeitsplätzen nicht gut, aber das Arbeitsplatzschaffen ist bei
Ihnen sowieso nicht gut aufgehoben. Das wissen wir ja.
({4})
Jetzt hat der Kollege
Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. tut mal wieder so, als
ob Steuern einen Selbstzweck erfüllen würden. „Genug
ist genug, Mut zum Steuerverzicht!“ schallt es aus dem
Munde von Herrn Westerwelle, der dabei einmal wieder
eine Menge Staub aufwirbelt.
({0})
Mut zur Steuersenkung? Das kann doch wohl nicht Ihr
Ernst sein!
({1})
Mut gehört dazu, ein umfassendes Sparpaket zu schnüren, so wie das Rotgrün getan hat.
({2})
Mut gehört dazu, die Steuerschlupflöcher zu schließen,
damit zum 1. Januar nächsten Jahres die Steuern unter
Rotgrün zum zweitenmal sowohl beim Eingangssteuerbereich wie auch beim Spitzensteuerbereich sinken.
({3})
Das, was Sie nicht gebacken kriegen, wird Rotgrün leisten.
({4})
Aber woher sollten Sie das wissen? Bei Ihnen bleiben
Sparkurs und das Schließen von Steuerschlupflöchern
maximal Lippenbekenntnisse. Ganz im Gegenteil, morgen wollen Sie sie wieder öffnen. Im Finanzausschuß
haben Sie sich redlich Mühe gegeben, ein Steuerschlupfloch nach dem anderen wieder zu öffnen.
Allerdings gäbe es durchaus Anlaß, sich an dieser
Stelle einmal über die Steuerpläne der F.D.P. zu unterhalten. Wenn man sich einmal den Stufentarif à la
F.D.P. vor Augen führt und nachschaut, was dort tatsächlich passiert, stellt man fest, daß der Spitzensteuersatz für den oberen Einkommensbereich im Vergleich zu
Rotgrün um 13,5 Prozentpunkte gesenkt wird. Das ist
fast ein Drittel.
({5})
Bei einem zu versteuernden Einkommen von 20 001
DM - also im unteren Einkommensbereich - erhöhen
Sie die Steuerbelastung um 1,4 Prozent.
({6})
Das ist eine unsoziale Politik à la F.D.P.: Unten erhöhen
Sie die Steuern, oben senken Sie sie ab. Das ist unsozial.
({7})
Rechnen Sie einmal genau nach, Herr Solms, dann werden Sie das merken.
Nun konkret zur Erbschaftsteuer. Sie beantragen eine
Aktuelle Stunde - wie auch schon letzte Woche -, nur
viel zu früh. Die Steuerschätzung konnten Sie gar nicht
abwarten und haben riesige Erwartungen geweckt, um
nachher zu merken, daß nichts daran ist. Die Schätzungen für die Mehreinnahmen des Bundes lagen nur um
1,5 Milliarden DM für dieses und um 0,6 Milliarden DM
für nächstes Jahr höher, als bis dahin prognostiziert.
({8})
Sie krakeelen hier rum und versprechen den Leuten
Steuersenkungen, was schlicht unseriös ist.
({9})
Im Gegensatz zu Ihnen wartet Rotgrün auf eine fundierte Entscheidungsbasis. Wenn Sie heute Zeitung gelesen hätten, hätten Sie zu lesen bekommen, daß die
Steuer- und Abgabenbelastung in Deutschland - damit
wir ehrlich diskutieren - mit 37,1 Prozent sogar noch
unter dem EU-Durchschnitt von 41 Prozent liegt. Selbst
Großbritannien und Frankreich liegen nach den Angaben des Europäischen Steuerzahlerbundes sehr viel höher als Deutschland.
Niemand von Rotgrün plant eine Erhöhung der Steuersätze für die Erbschaftsteuer. Wir wollen vielmehr
eine gerechte Besteuerung von Grundbesitz im Vergleich zu anderen Vermögen, weil das von Ihnen eingeführte Verfahren nach all den Schätzungen, die zur Zeit
vorliegen, dem Gleichheitsgrundsatz widerspricht. Sie
können nachher dagegen protestieren, aber Sie werden
auch damit zurechtkommen und merken - Kollege Poß
hat schon das anhängige Verfahren erwähnt -, daß wir
dann, wenn es hier eine Ungleichbehandlung gibt, darüber reden müssen, wie man diese korrigiert, auch wenn
Ihnen das nicht paßt.
Wenn der Bericht des Bundesfinanzministeriums dies
bestätigt, dann muß das Ganze in eine gerechte Balance
gebracht werden. Wir können jetzt schon sagen, daß wir
uns auch darum kümmern werden, eine angemessene
Erhöhung der Freibeträge vorzunehmen, damit niemand
das vererbte Elternhaus unangemessen besteuern muß.
Niemand will das vererbte Elternhaus irgend jemandem
nehmen.
({10})
Kollegin Wülfing hat gerade leider gezeigt, daß sie
von dem Thema Betriebsvermögen keine Ahnung hat.
Darum möchte ich ihr gerne etwas helfen. Betriebsvermögen wird auch weiterhin erbschaftsteuerlich extrem
günstig behandelt - zu Recht -, auch im Vergleich zu
den Vorschriften in anderen Ländern.
({11})
Ich möchte erinnern an den Ansatz der Steuerbilanzwerte, minus 25 Prozent vom Verkehrswert, an den
Freibetrag von 500 000 DM speziell auf das Betriebsvermögen und dann noch einmal an den Abschlag von
40 Prozent auf die verbleibende Bemessungsgrundlage.
({12})
Dazu kommen noch persönliche Freibeträge. Insofern
glaube ich, daß sich hier niemand Sorgen machen muß,
daß betriebswirtschaftliches Vermögen im Fall des Erbschaftsüberganges ungehörig besteuert würde.
({13})
Klaus Wolfgang Müller ({14})
Es ist ja auch keine Schande, wenn man etwas erbt. Als
ob man den Leuten dann noch etwas hinterherwerfen
müßte, so wie Sie das gerade angeregt haben.
Ich möchte zum Schluß kommen. Ich denke, Sie haben nicht nur ein kurzes Gedächtnis, um nicht zu wissen,
daß Sie zuletzt die Erbschaftsteuer 1996 reformiert haben.
({15})
Dabei haben Sie die Spitzensteuersätze für große Erbschaften gesenkt und die Steuersätze für kleine Erbschaften leider deutlich erhöht. Das ist Ihre Politik. Diese wird Rotgrün nicht fortführen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Thiele schlägt für die F.D.P.
Alarm, für ihre Klientel der Besserverdienenden und
Vermögenden: Die Regierungskoalition will die Erbschaftsbesteuerung verändern. Nach dem, was wir aber
bisher wissen, ist dieser Alarm völlig unnötig.
Zwischen 1996 und dem Jahr 2000 konnten und können sich etwa 3 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger bei aller Trauer über eine Erbschaft im Gesamtvolumen von 1,8 Billionen DM freuen. Das heißt,
pro Jahr werden etwa 400 Milliarden DM vererbt. Der
Staat, sprich: die Bundesländer erhielten von diesen 400
Milliarden DM allerdings nur 4 bis 5 Milliarden DM, also etwas über 1 Prozent als Steuer.
Gerechterweise muß bereits heute niemand fürchten,
daß im Todesfall des Ehepartners oder der Eltern das
normale Einfamilienhaus mit einer Erbschaftsteuer belegt wird. Das ist gut so. Auch die PDS hält an diesem
Prinzip fest.
({0})
Die PDS hält auch daran fest, Betriebsvermögen gesondert zu behandeln, um insbesondere im klein- und mittelständischen Bereich den Fortbestand von Familienbetrieben zu sichern. Die Demokratischen Sozialistinnen
und Sozialisten fordern aber eine Modernisierung des
Steuerrechts.
Erstens bleibt es Aufgabe, die Gleichstellung aller
Vermögensarten zu gewährleisten. Dies ist ein Gebot
der sozialen Gerechtigkeit. Erst auf dieser Grundlage ist
eine tatsächliche Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu verwirklichen. Wenn die Regierung dazu zum
Jahresende ein neues Verfahren zur Bewertung von
Grund und Boden vorlegen wird, so werden wir das kritisch prüfen. Meine Damen und Herren von der Partei
der Besserverdienenden, wenn sich daraus Steuermehreinnahmen ergeben, so kann man dieses nur begrüßen.
({1})
Zweitens halten wir an der Forderung fest, daß es den
Staat, sprich: das Finanzamt nichts angeht, wie Menschen zusammenleben. Jeder Bürger und jede Bürgerin
hat das Recht, selbst zu entscheiden, wem er bzw. sie
was und wieviel er bzw. sie vererben will. Der Staat hat
kein Recht, dies im nachhinein durch die Erbschaftsteuer zu korrigieren.
Ein allseits bekannter Entertainer meinte, sein Vermögen hälftig an seine Ehefrau und seinen Freund zu
vererben. Falls dieser Wille umgesetzt wird, wird die
Witwe ein Vielfaches an Vermögen erhalten, weil sie
wesentlich weniger Erbschaftsteuer zu entrichten hat als
der Freund. Dies ist nicht gerecht.
({2})
Wir als PDS schlagen ein anderes Verfahren vor.
Dieses kennen Sie seit 1996. Wir schlagen die Einführung einer Nachlaßbesteuerung für Vermögen ab 1 Million DM vor. Damit stiege der Anreiz, zu vererbendes
Vermögen tatsächlich unter mehreren Erben aufzuteilen.
Ich meine, es ist gut, einer übermäßigen Vermögenskonzentration entgegenzuwirken.
Wir fordern, alle Erben gleich zu besteuern. Die materielle Belohnung des Trauscheins und die Besteuerung
nach dem überkommenen Prinzip der Blutsverwandtschaft sind nicht mehr zielgerecht und gehören abgeschafft.
({3})
Drittens werden wir uns vehement gegen die von der
Bundesregierung - wie aus der Presse zu entnehmen war
- angestrebte Anhebung der Freigrenzen wenden. - Bei
diesem Punkt hat Frau Wülfing doch etwas recht. In ihrem hilflosen Bestreben, die absolute soziale Schieflage
ihrer Konsolidierungspolitik zu übertünchen, rudert die
Regierungskoalition derzeit zwischen verschiedenen
Steuerthemen hin und her. Dabei ist dem Bundeskanzler
jegliche Diskussion über eine höhere Besteuerung wirklich Vermögender absolut lästig.
({4})
Die SPD-Linke fordert immer wieder einmal eine
Erbschaftsteuer, eine Vermögensabgabe oder eine Vermögensteuer. Die Grünen setzen dem Ganzen die Krone
auf: Sie wollen jetzt über das Stiftungsrecht zum reinen
Freiwilligkeitsprinzip übergehen.
({5})
Das alles ist butterweich und halbherzig.
Wenn Sie jetzt tatsächlich anstreben, die Freibeträge
von derzeit bereits 600 000 DM auf über 1 Million DM
drastisch anzuheben und den Kreis der Menschen, die in
diese Vergünstigung hineinkommen, zu erweitern, so
Klaus Wolfgang Müller ({6})
heißt das, daß Sie keine Mehreinnahmen erzielen werden - höchstens in einem Bereich von 1 bis 2 Milliarden
DM. Auch auf diesem Wege wird es Ihnen also nicht
gelingen, die wirklich Vermögenden in dieser Gesellschaft wieder stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen.
({7})
Man muß doch einmal zur Kenntnis nehmen, daß sich
60 Prozent aller Erbfälle in einem Volumen von unter
200 000 DM bewegen. Das heißt, eine Anhebung der
Freigrenzen kann nur dazu dienen, den wirklich Vermögenden doch wieder entgegenzukommen.
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit, bitte.
Ich möchte noch an die
Diskussionen erinnern, die wir vor vier Jahren geführt
haben. Damals haben Sie neben der Erbschaftsteuer
auch die Grunderwerbsteuer verändert. Über die Erbschaftsteuer haben Sie nicht die gewünschten Mehreinnahmen erzielt, allerdings bei der Grunderwerbsteuer.
Im Gegenzug zur Abschaffung der Vermögensbesteuerung haben Sie mit der Erhöhung der Grunderwerbsteuer
natürlich auch jeden kleinen Häuslebauer getroffen. Das
war bereits damals ungerecht.
({0})
Wenn Sie in dieser Richtung voranmarschieren, ist
das weitere Gesetzesvorhaben ebenfalls sozial ungerecht. Unsere Zustimmung werden Sie dazu nicht erhalten.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nun erteile ich das
Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Barbara
Hendricks.
({0})
- Das ist wahr. - Ich erteile der Kollegin Gisela Frick
das Wort. - Ich hatte Ihren Namen schon durchgestrichen und Sie sozusagen abgehakt. Ich bitte sehr um Entschuldigung. Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß Sie mich abgehakt haben, war
vielleicht gar nicht so falsch; denn Sie hören an meiner
Stimme, daß ich nicht ganz so fit bin wie sonst. Ich werde trotzdem versuchen, die Gedanken herüberzubringen,
die mir wichtig sind.
Ich muß zunächst einmal mit ein paar Irrtümern aufräumen. Ich fange bei Ihnen, Herr Müller, an: Sie haben
dankenswerterweise noch einmal darauf hingewiesen,
daß wir als F.D.P. den Stufentarif anstreben. Aber Sie
haben ihn falsch dargestellt.
({0})
- Nein. Ich weiß, Sie befinden sich damit in guter Gesellschaft. Viele verstehen ihn falsch. Sie sind auch neu
im Parlament.
({1})
Sie haben die Chance, vielleicht einmal bei Herrn Struck
nachzufragen; denn er scheint ihn verstanden zu haben.
Sonst hätte er ihn nicht unterstützt.
({2})
Der Stufentarif bedeutet - um bei Ihrem Beispiel zu
bleiben -: Vom Grundfreibetrag - wie auch immer er
angesetzt ist; im Moment sind es rund 13 000 DM - bis
20 000 DM werden 15 Prozent Steuern erhoben, ab
20 000 DM 25 Prozent. Das heißt, bei 20 001 DM wird
die 1 DM, die Sie eben dazugezählt haben, mit 25 Prozent versteuert, aber nicht die 20 000 DM davor. Das ist
ein Riesenunterschied.
({3})
Dies ist ein Tarif, der in den Bereich der Einkommensteuer und nicht in den der Erbschaftsteuer gehört.
Insofern ist es vielleicht sogar noch ein bißchen verzeihlich. - Herr Müller, ich wäre dankbar, wenn Sie zuhören würden, damit Sie nicht weiter Falsches über unsere Pläne verbreiten. - Bei der Erbschaftsteuer verhält
sich dies nämlich anders: In dem Moment, in dem der
Nachlaß bestimmte Grenzen übersteigt, ist der ganze
Nachlaß höher zu besteuern. Ich bitte Sie, da Sie Mitglied im Finanzausschuß sind, Einkommensteuer und
Erbschaftsteuer sowie die entsprechenden Prinzipien
sauber auseinanderzuhalten.
({4})
Dies war der erste Irrtum, mit dem ich aufräumen wollte.
Der zweite Irrtum. Sie haben großzügig gesagt: Wir
planen nicht, die Tarifsätze zu erhöhen. Sie wissen genauso gut wie ich - das hoffe ich jedenfalls -, daß sich
die steuerliche Belastung aus dem Zusammenspiel von
Bemessungsgrundlage und Satz ergibt. Sie haben eine
Kommission eingerichtet mit dem Ziel, die Bewertung
von Immobilien deutlich anzuheben. Dies ist im Endeffekt ganz klar eine Besteuerungserhöhung. Das ist doch
selbstverständlich; selbst wenn die Sätze so bleiben, wie
sie sind, sich die Bemessungsgrundlage aber entscheidend ändert.
({5})
Dies wird auf jeden Fall eine deutliche Erhöhung zur
Folge haben. Das ist schädlich, und zwar auch für diejenigen, an die Sie im Moment nicht denken, nämlich für
die große Gruppe der Mieter, weil dieses Vorgehen
letztendlich durchschlägt.
({6})
Herr Poß ist leider weggegangen. Eben hat er ganz
deutlich gesagt: Wir brauchen das alles nicht nur für die
Erbschaftsteuer, sondern auch für die Grundsteuer. Die
Grundsteuerbelastung schlägt erst recht und noch viel
direkter als die Erbschaftsteuerbelastung auf die Mieten
durch. In den Beratungen zu den Bewertungsverfahren
im Erbschaftsteuerrecht haben wir damals ausdrücklich
auf die Sozialbindung des Immobilieneigentums hingewiesen.
Die starke Sozialbindung, insbesondere durch die
Mieterschutzvorschriften, öffentliche Belastungen, unter
anderem durch die Grundsteuer, die Immobilität - schon
der Name sagt: die mangelnde Fungibilität der
Grundstücke - und vieles andere zeigen, daß wir sehr
gute sachliche Gründe dafür gefunden haben, daß wir
das Immobilienvermögen, obwohl wir es im Gegensatz
zur geltenden Rechtslage deutlich höher bewertet haben,
nicht bis an die oberen Grenzen ausgeschöpft haben.
Das haben wir bewußt getan.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat
genau dies angemahnt. Es darf demnach nicht auf kaltem Wege zu niedrigeren Werten im Bereich der Immobilien kommen. Wenn man aber im Gesetzgebungsverfahren sachliche Gründe dafür findet, dann sind diese
ausreichend, um zu einer mäßigeren Bewertung zu
kommen. Wir sind nach wie vor der Überzeugung, daß
dies richtig ist.
Nun muß ich noch mit einem anderen Irrtum aufräumen. - Frau Höll ist im Moment leider auch nicht anwesend. - Es wird immer wieder gesagt, auch die großen
Vermögen sollten zur Finanzierung des Gemeinwohls
beitragen. Das tun die großen Vermögen - das habe ich
hier schon x-mal erwähnt und muß mich leider dauernd
wiederholen, weil dies von Ihnen immer wieder falsch
gesagt wird - schon im Bereich des Ertragsteuerrechtes.
Es besteht eine Progression. Soweit Vermögen Erträge
abwirft, wird dies progressiv in der Einkommensteuer,
im Ertragsteuerrecht belastet. Damit tragen die großen
Vermögen sehr wohl zu einer entsprechenden Finanzierung des Gemeinwohls bei.
({7})
Ich warne Sie: Machen Sie hier nicht noch einmal den
Fehler, den Sie schon in den vergangenen Gesetzen
begangen haben. Satteln Sie nicht ständig obendrauf,
sondern halten Sie sich endlich einmal zurück, und
machen Sie eine Steuerreform, die diesen Namen auch
verdient!
Danke schön.
({8})
Jetzt habe ich die
Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks auf
meinem Rednerzettel abgehakt und erteile ihr das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Bundesregierung hat mit dem
„Zukunftsprogramm 2000“ ein Paket zur Sanierung des
Bundeshaushalts vorgelegt, das trotz des desolaten Zustandes, den Sie von der früheren Koalition uns im Bereich der Haushaltspolitik hinterlassen haben, nicht auf
Steuererhöhungen angewiesen ist.
({0})
Die Bundesregierung beabsichtigt daher gegenwärtig
keine Gesetzesinitiative zur Erhöhung der Erbschaftsteuer, zumal diese Steuer, wie wir alle wissen, bekanntlich den Ländern zusteht. Aber auch andere Steuererhöhungen sind nicht geplant. Im Gegenteil: Wir senken die
Steuern.
Weil der finanzielle Spielraum auf Grund der Haushaltslage eng ist, können wir keine Blütenträume erfüllen, sondern müssen auf dem Teppich bleiben. Das Ergebnis der jüngsten Steuerschätzung hat uns unsere Einschätzung bestätigt. Hoffentlich bringt es auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wieder auf
den Boden der Realität zurück. In der vergangenen Woche konnten wir wirklich interessante Einlassungen insbesondere des Kollegen Thiele und vieler anderer Vertreter der Opposition hören. Unsere Steuerpolitik ist im
Gegensatz zu dem, was Sie hier lautstark fordern, verläßlich, vernünftig und nachhaltig finanzierbar. Sie kann
sich jedenfalls sehen lassen.
Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002,
das schon in Kraft ist, senken wir die Steuersätze auf
breiter Front und entlasten die Steuerzahler netto um
insgesamt mehr als 20 Milliarden DM. Durch das im Finanzausschuß in der vergangenen Woche beschlossene
Familienförderungsgesetz werden Familien mit Kindern
zum 1. Januar 2000 noch einmal deutlich um 5,5 Milliarden DM entlastet. Damit wird auch eine Vorgabe des
Bundesverfassungsgerichts erfüllt. Für eine durchschnittlich verdienende Familie mit zwei Kindern bedeutet dies über 3 300 DM weniger Steuern am Ende
dieser Legislaturperiode, also im Jahr 2002, im Vergleich zu 1998. Damit wird die Steuerschuld einer solchen Familie innerhalb von vier Jahren um fast 40 Prozent gesenkt. Dafür sind die rotgrüne Bundesregierung
und die sie tragenden Koalitionsparteien verantwortlich.
Dies haben Sie in Ihrer ganzen Regierungszeit noch
nicht einmal ansatzweise geschafft. Wir haben es schon
nach gut einem Jahr Amtszeit erreicht.
({1})
Die abgewählte Regierungskoalition dagegen hat die
Arbeitnehmer und ihre Familien in den letzten Jahren
durch immer neue Steuererhöhungen an die Grenze der
Belastbarkeit und zum Teil darüber hinaus getrieben.
Die wiederholten Erhöhungen der Mineralölsteuer wurden zum bloßen Stopfen der Haushaltslöcher verwendet.
Wir geben die Mehreinnahmen im Rahmen der ökologischen Steuerreform durch Senkung der Lohnnebenkosten auf Heller und Pfennig an die Bürgerinnen und
Bürger zurück.
({2})
- Wir geben sie natürlich an die Bürgerinnen und Bürger
zurück. Sie müssen nicht dazwischenrufen, Herr Kollege
Fromme. Wer es glaubt, wird selig. Sie sind Abgeordneter dieses Hohen Hauses und können das an Hand aller Gesetzesvorhaben inklusive des Haushaltsgesetzentwurfes nachprüfen. Tun Sie also nicht so, als könnten
Sie dies nicht wissen.
({3})
Wir werden die Steuersenkungspolitik konsequent
fortsetzen. Ab dem Jahr 2002 soll nach den Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts die zweite Stufe des Familienentlastungspakets in Kraft treten. Die Bundesregierung wird rechtzeitig einen Gesetzentwurf vorlegen.
Bereits ab 2001 werden wir die Unternehmensteuerreform in die Tat umsetzen. Sie wissen, dafür ist gegenwärtig ein Entlastungsvolumen in der Größenordnung
von weiteren 8 Milliarden DM eingeplant.
Dies sollte an dieser Stelle eigentlich reichen. Aber
ich ahne schon, daß mir einige von Ihnen jetzt Aussagen
zur Vermögensbesteuerung im Koalitionsvertrag und
auch die aktuelle Diskussion vorhalten wollen. Die Koalitionsvereinbarung enthält in der Tat einen eindeutigen
Prüfauftrag, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Diesen
Auftrag werden wir erfüllen. Wir haben deshalb eine
Expertenkommission eingesetzt - Kollege Poß hat darauf schon hingewiesen -, die sich mit dem Hauptproblem einer verfassungskonformen Vermögensbesteuerung auseinandersetzt, nämlich mit der Bewertung des
Grundbesitzes. Die Kommission wird im Frühjahr nächsten Jahres ihren Abschlußbericht vorlegen. Dann erst
werden wir über die Frage der Vermögensbesteuerung
entscheiden, und zwar selbstverständlich nur im Einvernehmen mit den Ländern und unter verfassungsrechtlich
notwendigen Gesichtspunkten.
Es gibt im übrigen auch weitere Möglichkeiten, die
Finanzkraft großer Vermögen sinnvoll für unser Gemeinwesen nutzbar zu machen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die von den Koalitionsfraktionen gestartete
Initiative zur Reform des Stiftungsrechts.
Für uns ist Gerechtigkeit ein bestimmendes Ziel der
Steuerpolitik.
({4})
- Nein, dies hat nichts mit Neid zu tun. Ich glaube, wir
müssen uns wirklich einmal über einige Grundsätze unseres Gemeinwesens unterhalten. Steuern zu zahlen ist
das Vorrecht des mündigen Bürgers, weil er selber leistungsfähig genug ist, um dies zu tun. Wir sollten bald
wieder zu diesem Grundverständnis zurückkehren.
({5})
Es ist uns wichtig, eine sozial ausgewogene Beteiligung der Bürger an der Finanzierung der notwendigen
gesellschaftlichen Aufgaben zu gewährleisten. Dem widerspricht nicht, daß wir die steuerlichen Rahmenbedingungen gleichzeitig auf mehr Wachstum einstellen wollen, um insbesondere einen wichtigen Beitrag zum Abbau der hohen Arbeitslosigkeit zu erbringen; denn die
hohe Arbeitslosigkeit ist natürlich die größte soziale
Ungerechtigkeit.
Wir haben von Anfang an für mehr Gerechtigkeit in
der Steuerpolitik gesorgt. Im Steuerentlastungsgesetz
1999/2000/2002 liegt der Schwerpunkt der Entlastungen
bei Arbeitnehmern und Familien, bedingt insbesondere
durch die Konzentration der Tarifsenkungen im Eingangsbereich und die Erhöhung des Kindergeldes. Zugleich wurden in nie dagewesenem Ausmaß Ausnahmeregelungen und Steuervergünstigungen gestrichen oder
eingeschränkt, die tendenziell Bezieher höherer Einkommen begünstigt haben.
({6})
- Sie haben versucht, das alles zurückzudrehen.
So haben wir durch die Neuregelung des Verlustabzugs effektive Vorkehrungen gegen eine exzessive
Verlustverrechnung geschaffen. Es wird in Zukunft
nicht mehr möglich sein, daß sich Einkommensmillionäre bei ihren Steuerzahlungen künstlich auf Null armrechnen. Auch in den Finanzämtern in Bad Homburg
vor der Höhe und in Starnberg wird es wieder ein positives Aufkommen aus veranlagter Einkommensteuer geben und nicht mehr Auszahlungen an veranlagter Einkommensteuer als Einnahmen.
({7})
Das Kernstück vieler Steuersparmodelle, den halben
Steuersatz für Veräußerungsgewinne, haben wir so umgestaltet, daß sich diese Steuergestaltungen nicht mehr
lohnen. Unsere Steuerpolitik zugunsten der Familien
setzen wir jetzt mit dem Familienförderungsgesetz fort.
Im Kontext der geplanten Unternehmensteuerreform
werden wir weitere steuerliche Sonderregelungen abbauen. Schließlich hat auch die ökologische Steuerreform im Hinblick auf die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge eine deutliche soziale Prägung; denn die
Beitragssatzsenkung wirkt sich wegen der Beitragsbemessungsgrenze überproportional im unteren und mittleren Einkommensbereich aus. Die Verbilligung des Faktors Arbeit verbessert überdies die Beschäftigungsperspektiven.
Meine Damen und Herren, damit ist das Thema Gerechtigkeit in der Steuerpolitik noch nicht erschöpft. Wir
werden weiter daran arbeiten, noch bestehende Gerechtigkeitsdefizite im Steuersystem abzubauen. Dies betrifft
unter anderem die Besteuerung von Kapitalerträgen, die
ich für äußerst unbefriedigend halte. Dies ist vorrangig
ein Thema für Europa. Die bisherigen Ergebnisse der
Diskussion auf europäischer Ebene sind aber leider nicht
ermutigend. Wir werden hier den Druck erhöhen müssen.
Meine Damen und Herren, Gerechtigkeit und ökonomische Vernunft gehören in der Steuerpolitik zusammen. Im Koalitionsvertrag steht deshalb auch, daß wir
die gesamte Steuer- und Abgabenbelastung senken
wollen. Das wird von Ihnen natürlich bewußt übersehen
und verschwiegen. Ich stelle dagegen hier fest: Für die
Bundesregierung genießt das Ziel der Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung weiterhin oberste Priorität.
({8})
Nun erteile ich dem
Kollegen Otto Bernhardt, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir werden
täglich mit Steuerveränderungs- und Steuererhöhungsplänen aus dem Lager der Regierungsfraktionen konfrontiert. Einige fordern - man könnte zitieren, aber die
Zeit reicht dazu nicht - die Wiedereinführung der Vermögensteuer, andere eine einmalige Vermögensabgabe,
wieder andere die Erbschaftsteuer. Herr Poß hat heute
angekündigt, daß die Grundsteuer erhöht wird. Ob ich
aber die Steuersätze oder die Bemessungsgrundlage erhöhe, beides läuft letztlich auf eine Erhöhung hinaus.
({0})
Frau Kollegin Hendricks, es ist eine Zumutung für
jeden, der sich kritisch mit der Steuergesetzgebung in
Deutschland auseinandersetzt, wenn Sie von diesem
Platz aus von einer vernünftigen und verläßlichen Steuerpolitik reden. Wo waren Sie eigentlich während des
letzten Jahres?
({1})
Meine Damen und Herren, viel schlimmer ist, daß die
gesamte Diskussion um Steuerveränderungen und Steuererhöhungen die Kapitalflucht, die Flucht des scheuen
Gutes Vermögen und Geld, in unangemessener Form
verstärkt.
({2})
Ich nenne einmal zwei volkswirtschaftliche Daten, Frau
Kollegin Scheel, die deutlich machen, wie Ihre Steuerpolitik - ich muß allgemein von Ihrer Finanzpolitik reden - inzwischen gewirkt hat.
Erstens. Im letzten Jahr der Regierung Kohl ist das
Bruttosozialprodukt um 2,2 Prozent gewachsen, im ersten Jahr der Regierung Schröder werden es 1,4 Prozent
sein. Damit teilen wir uns in der EU den Schlußplatz mit
Italien. Das muß nachdenklich stimmen.
Zweitens. In den letzten zwölf Monaten der Regierung Kohl ist die Zahl der Arbeitslosen um 400 000 gesunken, bei Ihnen in den ersten zwölf Monaten um lediglich 8 000.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie erkennen hieran die
katastrophalen Folgen gerade Ihrer Steuerpolitik, insgesamt Ihrer Finanzpolitik, auf die gesamtwirtschaftliche
Entwicklung.
({4})
Bezogen auf die Erhöhung der Erbschaftsteuer,
könnte man natürlich sehr lange reden. Ich will mich aus
Zeitgründen auf drei Punkte konzentrieren.
Erstens. Die sogenannten Reichen, die hier immer
wieder abwertend zitiert werden, zahlen schon heute den
überwiegenden Teil der Steuer. Sie wissen genau, daß
die Reichen
({5})
für jede Mark, die sie zusätzlich verdienen, 60 Pfennig
Steuern zahlen.
({6})
Der zweite Punkt. Gerade die Erbschaftsteuer wurde
1996 um 40 Prozent erhöht.
({7})
- Von uns,
({8})
im Zuge der Aussetzung der Vermögensteuer.
({9})
- Wenn Sie jetzt mit dem Bundesverfassungsgericht argumentieren, dann muß man sagen: Die Lösung, die wir
da gefunden haben, wird vom Verfassungsgericht als
vernünftig angesehen; der Kollege Thiele hat es zitiert.
Ein weiterer ganz entscheidender Punkt, bezogen auf
die Erbschaftsteuer, ist der Tatbestand, daß in den nächsten Jahren etwa 500 000 mittelständische Firmen in
Deutschland vererbt werden müssen. Wahrscheinlich
kennen Sie, Herr Kollege Müller, die Praxis nicht so genau. Das nehme ich Ihnen nicht übel.
({10})
Wenn Sie wüßten, welche Probleme die Erbschaftsteuer
schon heute unter Liquiditätsgesichtspunkten auslöst!
({11})
Die Eigenkapitalquote der mittelständischen Wirtschaft
ist doch wirklich sehr gering, und Erbschaftsteuer geht
zu Lasten der Eigenkapitalquote.
Mit unserer Kritik stehen wir nicht alleine da. Hier
könnte ich viele zitieren. Das will ich aber aus Zeitgründen nicht tun.
({12})
Ich will zu einem abschließenden Punkt kommen.
Wir haben nun das Glück, daß sich die Steuereinnahmen
in letzter Zeit erhöht haben. Ich glaube, dies sollte uns
zwingen, den Begriff „Steuererhöhung“ gemeinsam zu
streichen.
({13})
Wir sollten uns gemeinsam an eine große Steuerreform
machen, wie es die wissenschaftlichen Institute vorschlagen, und zwar eine Steuerreform, bei der wir alle
Steuersätze entscheidend reduzieren,
({14})
damit wir den Weg gehen können, den die Vereinigten
Staaten erfolgreich gegangen sind. Sie haben die Steuern
gesenkt, haben aber bei rückläufigen Steuersätzen höhere Steuereinnahmen gehabt,
({15})
weil eine Reduzierung der Steuersätze die Investitionsbereitschaft stärkt und neue Arbeitsplätze schafft.
({16})
Dann kommen automatisch mehr Gelder in die Kasse.
Meine Damen und Herren, bei der aktuellen Steuerdiskussion sind weniger Buchhalter gefragt, sondern
Leute, die etwas von gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen verstehen. Darüber sollte man einmal nachdenken.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat nun
die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich kann
nur sagen: Ich stimme völlig mit der Einschätzung des
Herrn Kollegen Poß überein, der sehr schön dargelegt
hat, wie Sie uns hier jede Woche - auch vergangene
Woche hatten wir das - mit Themen beschäftigen, die
man nur als ungelegte Eier bezeichnen kann, um von Ihrer eigenen Unfähigkeit, eine gescheite Oppositionspolitik zu machen, abzulenken.
({0})
Schade ist nur, daß dies im Grundsatz zu nichts anderem führt, als daß wir hier gemeinsam - es ist leider so in gewisser Weise unsere Zeit verschwenden. Hinzu
kommt - das ist besonders fatal -, daß einer Verunsicherung in der Öffentlichkeit das Wort geredet wird, ohne
daß irgendein konkreter Vorschlag oder ein Gesetzesvorhaben hier auf dem Tisch liegen würde.
({1})
Ich kann Ihnen klipp und klar sagen: Wenn Sie sich
dieses Themas bemächtigen, dann sollten Sie auch den
Sachstand berücksichtigen. Der Sachstand ist, daß wir,
nachdem wir den Koalitionsvertrag geschlossen haben es gibt ihn nicht erst seit gestern -, eine Kommission
eingesetzt haben, die den gesamten Sachkomplex der
Belastung von Vermögen und Vermögenswerten prüft.
Es handelt sich um eine Kommission, die aus Vertretern
des Bundes und der Länder zusammengesetzt ist.
Wir warten natürlich die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe ab - das wurde auch von der Frau Staatssekretärin gesagt -, um überhaupt eine Grundlage für eine seriöse Diskussion zu haben. Alles andere - beispielsweise
das, was Sie heute geäußert haben - kann man nur in
den Bereich der Spekulationen verweisen. Leider - man
denke an die Zeit, die wir damit verbringen - steckt
mehr nicht dahinter.
({2})
Der Herr Kollege Otto Bernhardt hat gerade angesprochen, daß man bereits 1996 eine Änderung der Erbschaftsteuer vorgenommen hat. Dies ist richtig. Man hat
eine Änderung vorgenommen, weil es damals vom Bundesverfassungsgericht Vorlagen zur Neubewertung gegeben hat. Diese Vorlagen haben unter anderem dazu
geführt, daß man zum einen die Erhebung der Vermögensteuer hat ruhenlassen und daß man zum anderen bei
der Erbschaftsteuer verfassungskonforme Regelungen
finden mußte.
Es gibt unterschiedliche Bewertungen, die daraufhin
geprüft werden, inwieweit die Verfassungskonformität
für die Zukunft gesichert ist. Die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes, Frau Jutta Limbach, hat sich
erst vor kurzer Zeit öffentlich geäußert, sie könne nicht
ausschließen, daß sich das höchste deutsche Gericht erneut in die Diskussion um die Erbschaftsteuer einschalten könnte. Dabei gehe es um die Tatsache, daß ImmoOtto Bernhardt
bilien bei der Steuer mit durchschnittlich 60 Prozent ihres Marktwertes noch immer wesentlich günstiger als
Geldvermögen bewertet werden. Ich zitiere aus einer
Agenturmeldung:
Limbach sagte dem Wirtschaftsblatt handwerk magazin, „das Gericht habe auch in den vorangegangenen Beschlüssen zur Erbschaft- und Vermögensteuer seine Kontrollfunktion ausgeübt. Dabei
sei es so gewesen, dass die Verfassungswidrigkeit
schon die Spatzen von den Dächern pfiffen.“
({3})
Ich sage das nur deswegen, weil hier immer wieder so
ein Popanz aufgebaut wird, als ob man Pläne hätte. Es
gibt lediglich Diskussionen zu den Bewertungsfragen,
die unter Beteiligung der Länder inhaltlich fundiert vorbereitet werden. Wie auch Sie wissen, handelt es sich
um eine Ländersteuer. Wenn es überhaupt zu einer
Vorlage kommt, dann wird sie von den Ländern eingebracht werden.
({4})
- In den Bundesrat natürlich. Wohin denn sonst?
({5})
Gerade die F.D.P. stellt sich immer als Steuersenkungspartei hin. Ich möchte daran erinnern, daß man,
wenn man die letzten Jahre Ihrer Regierungsbeteiligung
Revue passieren läßt, feststellt, daß die Sozialabgaben
drastisch erhöht wurden - das ist besonders für die Arbeitgeber, aber auch für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ein Riesenproblem -,
({6})
daß man die Mehrwertsteuer erhöht hat, und zwar mehrere Male, daß die Mineralölsteuer erhöht worden ist,
({7})
daß die Grunderwerbsteuer erhöht worden ist und daß
Änderungen an den Erbschaftsteuerregelungen vorgenommen worden sind - all das zu Lasten der Bürger und
Bürgerinnen, die nach 16 Jahren Regierungsbeteiligung
unter dem Strich eine noch nie dagewesene Belastung
durch Steuern und Abgaben ertragen mußten.
({8})
Wir haben bereits in diesem Jahr mit viel Mühe und
mit sehr guten Wirkungen angefangen, diese Steuer- und
Abgabenbelastung zu senken. Wir haben den Trend umgedreht. Ganz konkret: Die Steuerbelastung und auch
die Abgabenbelastung sinken unter Rotgrün beständig.
Dagegen können Sie nichts haben - oder?
({9})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Seit die F.D.P. nicht
mehr an der Regierung ist, redet sie gerne und häufig
über Steuern.
({0})
Es wäre viel schöner gewesen, Herr Kollege Thiele,
wenn Sie in der Zeit, als Sie Mitverantwortung für die
Politik des Bundes getragen haben, gehandelt hätten.
({1})
Das, was Sie im Bereich der Steuern getan haben, hing
damals allerdings kaum mit dem zusammen, was Sie
damals gerne gesagt haben. Sie haben auch damals, allerdings nicht so häufig wie heute, über Steuersenkungen gesprochen,
({2})
aber tatsächlich haben Sie das krasse Gegenteil gemacht.
({3})
Ein ganzes Dutzend von Steuererhöhungen haben Sie in
den letzten 16 Jahren beschlossen.
({4})
Die erste Regierung seit langem, die es schafft, Haushaltskonsolidierung und Senkung von Steuern- und Abgabenlast durchzusetzen, ist die Regierung Gerhard
Schröder.
({5})
Ich darf das vielleicht wiederholen: Wir haben mit dem
Steuerentlastungsgesetz, das im Frühjahr verabschiedet
wurde,
({6})
- Sie wollen es ja offenbar nicht wahrnehmen, aber das
steht im Gesetzblatt -,
({7})
die Anhebung des Grundfreibetrages in drei Stufen, die
Senkung des Eingangssteuersatzes und sogar - ich hoffe, daß Sie sich doch wenigstens darüber ein wenig freuen können - die Senkung des Spitzensteuersatzes beschlossen. Sie haben früher gerne davon geredet, es aber
nicht gemacht.
({8})
- Ach, Petersberg! Die Petersberger Beschlüsse sind ein
hervorragendes Beispiel. Ich möchte Ihnen jetzt einmal
sagen, was darin stand: Zum Beispiel sollten 50 Prozent
der Rente besteuert werden,
({9})
statt nur der Ertragsanteil, der heute normalerweise bei
knapp einem Drittel liegt.
({10})
- Das stand alles in den Petersberger Beschlüssen. - Das
Arbeitslosengeld sollte zur Hälfte besteuert werden.
Auch das wollten Sie machen.
({11})
- Ja, aber sicher. Schauen Sie gelegentlich doch einmal
in Ihre eigenen alten Papiere.
({12})
Ich kann es ja verstehen, daß Sie mitunter - das
Stichwort Neid wurde ja schon genannt - neidisch
sind, daß es dieser Regierung und dieser Koalition gelingt, die Steuern zu senken und den Haushalt zu konsolidieren.
({13})
Haushaltskonsolidierung und F.D.P. sind ja zwei Begriffe, die eigentlich gar nicht zusammenpassen. Lieber
Herr Kollege Thiele, wir alle erinnern uns noch, daß
Graf Lambsdorff in der vorigen Wahlperiode mit Blick
auf den damaligen Bundesfinanzminister Waigel mal
freundlich, mal zornig von der Notwendigkeit eines
Haushaltsstrukturgesetzes sprach. Es blieb allerdings bei
den Ankündigungen. Umgesetzt haben Sie das nie. Es
gab nur einen einzigen Beitrag, den die F.D.P. in der vorigen Wahlperiode zur Konsolidierung der Bundesfinanzen geleistet hat.
({14})
Es zeugte von einem sehr sympathischen Desinteresse
an Geld, daß Ihr Bundesschatzmeister, Herr Solms, damals aus Schludrigkeit versäumte, bei der Frau Präsidentin die der F.D.P. zustehenden Gelder zu beantragen.
Das hat ein bißchen zur Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte beigetragen.
({15})
Allerdings war die Wirkung nicht nachhaltig, Herr Kollege Thiele.
({16})
Bezüglich der Erbschaftsteuer - es wurde ja schon
gesagt, daß sie von Ihnen auch erhöht wurde - kann ich
Sie in einem Punkt vielleicht doch noch beruhigen.
({17})
Wir werden mit Sicherheit nicht, Herr Kollege Thiele,
danach fragen, ob es vielleicht nicht angemessen wäre,
diejenigen Erben, die schlecht mit ihrem Erbe umgegangen sind, im nachhinein höher zu besteuern. Denn das
ginge ja eindeutig zu Lasten der F.D.P. Was Sie mit dem
politisch organisierten Liberalismus in Deutschland gemacht haben, ist ein Jammer. Das hat gar nichts mehr
mit Fortschritt und Freisinn zu tun.
({18})
Da Sie sehr großzügig mit dem Begriff der Aktualität
einer Debatte umgehen - das hat die Debatte gezeigt -,
biete ich Ihnen ein wenig Hilfe an: Wenn Sie wieder
einmal eine steuerpolitische Debatte lostreten wollen, so
können Sie doch einmal über Steuern reden, die gar
nicht mehr erhoben werden.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Hier bietet sich insbesondere an - das soll die letzte Bemerkung sein -: die
Wechselsteuer, die Spielkartensteuer oder für Sie speziell die Essigsäuresteuer.
({0})
Jetzt hat der Kollege
Hansgeorg Hauser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren!
Wir haben uns mit den Plänen der Koalition zur Erhöhung der Erbschaftsteuer schon öfter beschäftigt.
Manchmal hatte diese Diskussion einen anderen Namen.
Damals haben wir uns mit der Vermögensteuer beschäftigt.
({0})
Aber weil sie den Ländern zusteht, hat man eine Vermögensabgabe konstruiert. Alles wurde von seiten der
Regierung abgestritten. Das haben wir heute wieder hervorragend erlebt. Es heißt dann immer, alles wäre nur in
der Phantasie der Opposition. Kaum war die Debatte im
Plenum beendet, ging der Streit zwischen den Gerechtigkeitsaposteln und den Modernisierern, den Marschierern auf den alten Trampelpfaden und den Suchenden,
die sich schon auf dem „dritten Weg“ zur neuen Mitte
befanden, weiter. Einig waren sie sich aber im Bemühen, wie man den Reichen vors Schienbein treten kann.
Nur die Motive unterschieden sich. Während die einen
eine vermeintliche Gerechtigkeitslücke schließen wollten, ging es den anderen um Befriedung und Machterhalt. Die sich widersprechenden Schlagzeilen, zum Teil
vom gleichen Tag, spiegeln dieses Chaos wider. In der
„Welt“ vom 8. November 1999 steht:
SPD will die Erbschaftsteuer erhöhen.
Mit dem Untertitel:
Neue Pläne zur Besänftigung der Parteilinken.
Am gleichen Tag titelt die „FAZ“:
Bund will Erbschaftsteuer in diesem Jahr nicht
mehr erhöhen.
Das BMF will die Entscheidung also nicht vor Jahresende treffen. Also, irgendwie muß da doch etwas sein.
Es ist kein Wunder, daß die Bürger erzürnt sind über
das rotgrüne Steuerwirrwarr und der Steuerpolitik
schlechte Noten erteilen. Der Vorwurf der „Süddeutschen Zeitung“ vom 8. November trifft den Nagel auf
den Kopf, wenn festgestellt wird, daß Rotgrün sich mit
Symbolpolitik verzettele, anstatt die wahren Probleme
zu lösen. Hier wird geschrieben:
Symbolpolitiker verkaufen eine Tüte Peanuts als
Erdnußfarm. Mit mehr sozialer Gerechtigkeit hat
das alles nichts zu tun.
({1})
Es wäre vor allem an der Zeit, daß der Finanzminister
dazu ein klärendes Wort spricht, zu dem er aber auch
länger als ein paar Tage steht. Vom Kanzler wäre eine
solche Erklärung zuviel verlangt, da er bekanntlich wie
ein Chamäleon je nach Publikum die unterschiedlichsten
Versprechungen macht.
({2})
Daß es in dieser Legislaturperiode keine Steuererhöhungen geben soll, glaubt ihm schon längst niemand mehr.
So entscheidet dann der eine nach der Kassenlage und
der andere nach der Parteilage. Mit dem Grundprinzip
einer soliden Steuerpolitik hat so etwas nichts zu tun.
({3})
Hier sind Verläßlichkeit, Berechenbarkeit und Planbarkeit gefragt, damit sich die Unternehmen und Steuerzahler entsprechend darauf einstellen können.
({4})
Eine Zeitlang schien es, liebe Frau Scheel, daß sich
die Grünen gegen die Erhöhung den Erbschaftsteuer
oder die Wiedereinführung der Vermögensteuer aussprachen.
({5})
Die Farbenlehre schien etwas verdreht zu sein. Die Roten waren grün vor Neid und die Grünen rot vor Wut.
({6})
Aber gegen ein kleines Entgegenkommen scheinen sie
nunmehr bereit zu sein, den steuerpolitischen Sündenfall
mitzumachen, nach dem Motto: Wer ein bißchen stiftet,
soll einen entsprechenden Ablaß bekommen.
Ich will nicht auf die Geschichte der letzen Erbschaftsteuerreform eingehen. Sie alle wissen, daß im
Vermittlungsausschuß eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffen wurden, die wir so nicht wollten, aber
hinnehmen mußten.
Lassen Sie mich folgendes sagen: Sie erreichen mit
solchen Debatten nichts. Eine Schröpfung der wirklich
Reichen, wie es die Linken immer wieder fordern, werden Sie in dieser Form sowieso nicht erreichen.
({7})
Erstens zahlen die Reichen ihre Steuern genauso wie
die anderen Gruppen. Zweitens gibt es gerade bei der
Erbschaftsteuer einige Regelungen, die die großen Vermögen so nicht erfassen. Herr Ondracek hat es richtig
ausgedrückt, als er gesagt hat: Viel Ärger und wenig
Ertrag.
({8})
Die kleinen Vermögen sollen ausgenommen werden,
wobei sich die Streitfrage stellt, welche Grenzen gezogen werden sollen. Dazu hat Ondracek ganz nüchtern
gesagt, es sei pure Ideologie und widerspreche dem
Grundsatz der Gleichbehandlung, wenn man willkürliche Grenzen ziehen würde.
Bezüglich des Betriebsvermögens sind wir uns alle
einig, daß es nicht stärker belastet werden sollte. Also
kann der Fiskus in diesem Bereich nichts gewinnen. Übrig bleibt das Immobilienvermögen des Mittelstandes.
Genau in diesem Bereich greifen Sie zu. Bei den Großen
und auch bei den Kleinen - darin sind wir uns einig - ist
nämlich nichts zu holen. Der Mittelstand soll zusätzlich
belastet werden.
Diese Diskussion wird immer unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit geführt. In Wahrheit geht es um
pure Ideologie und um Neidkomplexe.
({9})
Der „leistungslose Reichtum“ soll erfaßt werden, wie es
im Leitantrag zum nächsten SPD-Parteitag heißt. Ich
Hansgeorg Hauser ({10})
kann verstehen, daß sich Herr Scharping um die Zukunftsfähigkeit der SPD große Sorgen macht.
({11})
Eine solche Umverteilung ist purer Sozialismus und
widerspricht den Grundsätzen einer sozialen Marktwirtschaft. Wir bekennen uns zur Sozialbindung des Eigentums. Wenn diese aber zu einer Überbesteuerung und zu
einer Schröpfung der Bürger führt, dann werden wir uns
entschieden dagegen wehren.
({12})
Nun hat die Kollegin
Nicolette Kressl, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu einer einigermaßen
redlichen Debatte hätte heute gehört, daß zum Beispiel
Sie, Herr Hauser, nicht folgendes tun: Sie zitieren eine
Überschrift aus einer Zeitung und unterstellen damit das war in mehreren Aktuellen Stunden der Fall -, daß
es sich um einen Beschluß der SPD handele.
({0})
Redlichkeit würde mehr Sachlichkeit verlangen. Ich erwarte, daß Sie in Aktuellen Stunden dementsprechend
handeln und nicht so, wie Sie das schon in mehreren
Aktuellen Stunden getan haben, indem Sie einfach nur
Nebelkerzen geworfen haben.
({1})
Ich kann allerdings ganz gut verstehen, daß Sie allen
Grund dazu haben, in Aktuellen Stunden einige Nebenkerzen zu werfen. Einer der Gründe ist, daß Sie immer
wieder versuchen müssen - Sie versuchen es aber nur -,
darüber hinwegzutäuschen, daß wir in Wirklichkeit zum Beispiel mit dem Steuerentlastungsgesetz - massive Steuerentlastungen durchgesetzt haben.
({2})
Ich gehe davon aus, Sie sind noch in der Lage - auch
Sie, Herr Seifert -, ein Finanztableau zu lesen. In dem
Finanztableau zum Steuerentlastungsgesetz können Sie
nachlesen, daß es in diesem Bereich Steuerentlastungen
in Höhe von 20 Milliarden DM netto gegeben hat. Das
sind Tatsachen, die Sie nicht leugnen können. Sie können auch nicht leugnen, daß wir zusätzlich zu diesen
Steuerentlastungen von 20 Milliarden DM weitere
6 Milliarden DM Entlastungen durch das Familienentlastungsgesetz durchgesetzt haben. Davon entfallen übrigens 900 Millionen DM auf Entlastungen, die wir nachträglich einführen mußten, weil über viele Jahre zu niedrige Freibeträge galten.
({3})
Angesichts der uns von Ihnen hinterlassenen Lasten,
die wir jetzt ausbügeln müssen und die uns im nächsten
Jahr 1 Milliarde DM kosten, sollten Sie eigentlich sehr
vorsichtig mit Ihren Vorwürfen von zu hohen Steuern
sein. Das ist einer der Gründe, warum Sie nichts anderes
können, als Nebelkerzen zu werfen.
({4})
Wir haben nämlich erkannt, daß es dringend notwendig ist, nicht nur auf Grund der Haushaltssituation, die
Sie uns hinterlassen haben, sondern auch auf Grund der
Steuer- und Abgabenbelastung, die Sie nicht uns, aber
allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hinterlassen haben, ein Steuerentlastungsgesetz zu machen, das
die Schwerpunkte auf die Entlastung der unteren und
mittleren Einkommen legt.
Daß Sie sich nicht um diese Schwerpunkte gekümmert haben, kann ich gut nachvollziehen. Aber für uns
war es wichtig zu sagen: Für uns haben die Erhöhung
des Grundfreibetrags und die Senkung des Einkommensteuersatzes Priorität, wodurch die unteren und
mittleren Einkommen entlastet werden, sowie die Erhöhung des Kindergeldes, was in vielen Bereichen ebenfalls die Förderung derjenigen bedeutet, die keine hohen
Einkommen haben, so daß Steuerfreibeträge wirken
können.
({5})
Ich will noch einen zweiten Grund nennen, warum
Sie es anscheinend nötig haben, in Aktuellen Stunden
ständig Nebelkerzen zu werfen.
({6})
Offensichtlich müssen Sie jetzt - und auch morgen,
wenn wir wieder darüber reden - davon ablenken, daß
Sie nichts anderes getan haben, als in der letzten Woche
im Finanzausschuß alle Anträge zu stellen, deren Umsetzung dafür sorgen würde, daß sämtliche Steuerschlupflöcher wieder geöffnet werden.
({7})
Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet indirekt eine Steuererhöhung für untere und mittlere Einkommen,
weil die Bezieher dieser Einkommen, die nicht die
Möglichkeit haben, diese Steuerschlupflöcher zu nutzen,
dadurch letztendlich mit höheren Steuern belastet werden. Auch das ist ein Grund dafür, daß Sie hier nicht
über Tatsachen reden können, sondern eine Nebelkerze
nach der anderen werfen.
({8})
Hansgeorg Hauser ({9})
Sie versuchen, den Vorgang, daß sich eine Sachverständigenkommission mit der Bewertung von Fakten beschäftigt und die Vorbereitungen dafür trifft, daß wir
Entscheidungen fällen können - was ich für völlig normal halte -, aufzuplustern bis hin zu Unterstellungen,
wir hätten schon irgendwelche Beschlüsse gefaßt.
({10})
- Nein, unsere Wunderkerze habe ich Ihnen schon vorgestellt: 20 Milliarden DM Nettoentlastung. Das haben
Sie nie geschafft. Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie
sich wünschen, Sie könnten das auch.
Ich will Ihnen noch eines sagen. Bei Ihrem Versuch,
sämtliche Steuerschlupflöcher wieder zu öffnen, stellen
Sie nicht die Frage in den Mittelpunkt, welche Schultern
in der Gesellschaft welche Lasten tragen können. Aber
Sie können sich einer Sache ganz sicher sein: Wir lassen
uns durch keine Aktuelle Stunde davon abbringen, daß
diese Prinzipien für uns entscheidend sind und daß wir
uns bei jeder Form der Steuerpolitik von diesen Prinzipien leiten lassen.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans Michelbach.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute
wieder eine typisch rotgrüne Steuererhöhungsdebatte
erlebt, die ein verlorenes Jahr in der Steuerpolitik insgesamt dokumentiert. Seit Wochen betreibt die rotgrüne
Regierungskoalition im Zusammenhang mit Steuererhöhungen, wie heute morgen bei der Ökosteuer, Gespensterdebatten und Versteckspiele.
({0})
Wir werfen keine Nebelkerzen, Frau Kressl, aber Sie
sind in der Steuerpolitik umnebelt!
({1})
Ich kann Ihnen deutlich sagen: Es gibt keine denkbare
Art von Steuererhöhungen, die Sie in den letzten Wochen und Monaten hier nicht debattiert hätten. Sie leugnen nun wieder Ihre Beschlüsse, die ich heute in der
„Süddeutschen Zeitung“ lese. „Associated Press“
schreibt:
Die Grünen-Bundestagsfraktion hat ihre finanzpolitischen Leitlinien verabschiedet … In dem Beschluß sprachen sich die Grünen dafür aus, hohe
Privatvermögen stärker als bisher zur Finanzierung
staatlicher Aufgaben heranzuziehen. Die Chance
für eine „gerechtere Regelung“ biete indes eine Reform der Erbschaftsteuer, die zu stärkeren Einnahmen bei hohen Erbschaften führe.
Das haben Sie beschlossen!
({2})
Geben Sie es doch zu! Sie müssen zu dem stehen, was
Sie beschlossen haben.
Frau Hendricks sagt: Wir sind verläßlich. - Bei Steuererhöhungen sind Sie verläßlich, das ist richtig!
({3})
Die Verunsicherungen der Steuerzahler haben bereits
schwere Schäden verursacht. Es gibt keine Aufhellung
der Lage durch Steuersenkungen und keine Klarheit für
mehr Wachstum und Beschäftigung. Statt dessen führt
Rotgrün Steuererhöhungen durch, trotz der Tatsache,
daß der deutsche Steuerzahler 1999 50 Milliarden DM
und bis 2002 123,4 Milliarden DM mehr Steuern zahlen
muß.
Hinzu kommt die Ökosteuer bzw. deren Erhöhungen
bis zum Jahre 2003. Wissen Sie überhaupt, was Sie anstellen? Bis zum Jahre 2003 verlangen Sie den deutschen Steuerzahlern im Rahmen der Ökosteuer
110,2 Milliarden DM ab. Das sind die Tatsachen, die
man heute deutlich nennen muß.
({4})
Sie bewirken auf der Basis rotgrüner Ideologie ein
Steuermartyrium
({5})
zu Lasten von Verbrauchern und Wirtschaft in
Deutschland. Sie drehen immer weiter an den Steuerfolterwerkzeugen.
({6})
Ich kann Ihnen deutlich sagen: Sie haben in den letzten Tagen im Rahmen des Steuerbereinigungsgesetzes
schon die Erbschaftsteuer erhöht. Morgen verabschieden
Sie es. Vom Finanzausschuß wurde es bereits beschlossen. Sie wissen anscheinend gar nicht, welche Auswirkungen das Steuerbereinigungsgesetz hat.
({7})
Schulden können nicht mehr anteilig berücksichtigt
werden. Die bisher erfolgte Anrechnung der Jahresmiete
nach dem Durchschnitt der letzten drei Jahre wird auf
ein Jahr gekürzt. Das sind für die Betroffenen klare
Steuererhöhungen im Bereich der Erbschaftsteuer.
Nichts anderes ist der Fall.
({8})
Eine nächste Erhöhung erfolgt über den Kommissionsweg, nach dem Prinzip: Wenn ich bei den Steuern
nicht mehr weiter weiß, dann gründe ich einen Erhöhungsarbeitskreis. Das tun Sie im Rahmen Ihrer neu
eingesetzten Bewertungskommission.
({9})
Weiterhin erfolgen beim Grundbesitz eine Erhöhung
der steuerlichen Bemessungsgrundlage von 50 auf
80 Prozent des Verkehrswertes, eine Steuererhöhung
durch Abschaffung der Ertragswertmethode und die Einführung eines sogenannten automationsgerechten Berliner Verfahrens, eines Sachwertverfahrens also, das auf
der Basis von Substanz- und Scheingewinnbesteuerung
ein Abkassiermodell ist. Dies ist ein Einfallstor für Erhöhungen bei der Grundsteuer, der Erbschaftsteuer und
der Vermögensteuer. Das ist die Situation, die Sie mit
diesem Arbeitskreis, mit dieser Kommission hervorrufen.
({10})
Die Auswirkungen sind: weniger Investitionen, ein
geringeres Wohnraumangebot und damit höhere Mieten,
weniger Eigenkapital und damit weniger Mittelstand,
weniger Betriebsvermögen und Betriebsübernahmen
sowie eine geringere Modernisierung der Objekte. Das
geht zu Lasten unseres Standortes Deutschland, zu Lasten unserer Arbeitsplätze. Das haben Sie mit Ihrer
Steuerpolitik zu verantworten. Geben Sie endlich zu,
daß Sie die Steuererhöhungskoalition sind!
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
muß feststellen, daß mich die soeben vorgetragene „Michelbach-Passion“ wirklich tief beeindruckt hat.
({0})
Insbesondere daß von einem Einfallstor gesprochen
worden ist, hat mich beeindruckt. Der kreative und freihändige Umgang mit 20 Textmodulen, die Ihnen in solchen Debatten zur Verfügung stehen, macht mich geradezu baff.
({1})
- Das kann natürlich sein. Diese zehn wurden durch
Kreativität überhöht. Aber das macht ja die Kunst aus.
({2})
Wenn heute nicht Hoppeditzerwachen wäre, müßte
man auf die Idee kommen, daß demnächst prophylaktisch jeder Pressespiegel mit einer Drucksachennummer
versehen wird, damit man je nach Belieben zu jedem
beliebigen Thema und allem, was in dieser Gesellschaft
passiert, eine Debatte auf die Tagesordnung setzen kann.
Das alles ist legitim. Ob es etwas nützt, weiß ich nicht.
({3})
Herr Michelbach und Frau Wülfing, daß genauso wie zu
Ihren Zeiten zu unseren Zeiten konzeptionelle Diskussionen darüber stattfinden, auf welchen Bemessungsgrundlagen Steuern erhoben werden, ob etwas verfassungsgemäß ist oder nicht, ist das tägliche Brot von
Steuerpolitik und von Steueradministration. Wenn sich
der Bund und alle Länder gemeinsam mit der Frage beschäftigen, ob die Bewertung von Grundvermögen heute
noch verfassungsgemäß ist, dann ist das zumindest fairer
und offener als der Umstand, wie es durch einen Geheimbund zu den Petersberger Beschlüssen kam. Seinerzeit wurden die SPD-geführten Länder ausgeschlossen.
Damit wurde provoziert, nichts zu erreichen.
Wir gehen mit offenem Visier an die Sache heran.
Deswegen bekommen Sie auch soviel davon mit und
können solche Debatten auf die Tagesordnung setzen.
Ich denke aber, diese Vorgehensweise ist vernünftiger.
Sie ist transparent und nachvollziehbar.
({4})
Das Ergebnis ist doch nicht allein durch die Tatsache
vorprogrammiert, daß man sich mit einem Thema befaßt. Selbst wenn die Bemessungsgrundlage verbreitert
würde, hieße dies noch lange nicht, daß automatisch
stärker besteuert würde und daß dies jeden träfe. Es
könnte auch sein, daß sich für den einen oder anderen,
für eine bestimmte Personengruppe, auf Grund von
Freibeträgen keine zusätzliche Steuerschuld einstellt.
Das muß offen diskutiert werden.
({5})
Ich persönlich - und ich befasse mich wirklich damit - lege mich nicht auf ein mögliches Ergebnis fest.
Ich weiß nur - da gebe ich Ihnen recht, vor allen Dingen
Herrn Thiele und Frau Frick -, daß ein Verhältnis zwischen der Besteuerung von Erwerbseinkommen, also der
laufenden Einkünfte, und der Besteuerung von Vermögen besteht und daß steuerlich nicht so zugeschlagen
werden kann, daß die Leistungsbereitschaft erstickt bzw.
das Recht auf Eigentum ad absurdum geführt wird. Man
muß immer die Folgen im Auge haben.
Wenn wir im Gegensatz zu Ihnen auf breiter Front bis
zum Jahr 2002 die Steuerbelastung um 40 Milliarden
DM senken, dann gibt es natürlich für Überlegungen,
am Vermögen steuerlich etwas stärker anzusetzen, mehr
Luft als in einer Situation der hohen Besteuerung von
Erwerbseinkommen. Dann kann man möglicherweise
nur noch zu dem Ergebnis kommen, daß man bei der
Besteuerung der Vermögen nicht groß etwas machen
kann. Diese Symmetrie wissen wir zu beachten.
Ich wundere mich, daß diese Diskussion vor dem
Hintergrund geführt wird, daß sowohl CDU/CSU als
auch F.D.P. versucht haben, in den Debatten der letzten
Wochen im Finanzausschuß, als es um das Steuerbereinigungsgesetz ging, die Schlachten der Vergangenheit
erneut zu schlagen und jedes Steuerschlupfloch, das wir
mühsam geschlossen haben, wieder aufzureißen.
({6})
Sie betreiben eine reine Klientelpolitik. Sie lassen jede
Bemessungsgrundlage verfallen und lassen zu, daß jeder
Steuerschuldner, wenn er nur ein hinreichend hohes
Einkommen hat, seine Steuerschuld selbst festsetzen
kann. Das war die Situation am Ende Ihrer Regierungszeit. Die veranlagte Einkommensteuer war zu einer
Marginalgröße geworden, so daß sich kaum noch die
Erhebung der Steuer gelohnt hat.
({7})
Das war das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik. Damit haben
wir aufgeräumt.
({8})
Wir sind in der Lage, die Steuersätze zu senken, weil
wir die Bemessungsgrundlage auf der gesamten Linie
erhöht haben. Wir sind überzeugt davon, daß diese Politik, also die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
und die Senkung der Steuersätze, dazu führen wird, daß
sich die Einnahmen stabilisieren. Das ist teilweise sogar
schon zu sehen.
Sie nennen immer Beispiele für eine Vermögensbesteuerung, sagen aber gleichzeitig, wir sollten eine Steuerpolitik betreiben, wie es in den USA geschieht. Wenn
wir eine solche Steuerpolitik betreiben würden
Herr Kollege,
Sie können das leider nicht mehr ausführlich darlegen.
- bezüglich
der Erwerbseinkommen und der Erbschaften, dann
müßten wir im Schnitt 80 bis 86 Prozent aller vererbten
Vermögen belasten und darüber hinaus auch noch die
bestehenden Vermögen. Das ist implizit Ihre Empfehlung, wenn Sie das Beispiel USA anführen. Das haben
wir wirklich nicht vor.
({0})
Damit ist die
Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Guido Westerwelle, Günther Friedrich Nolting,
Hildebrecht Braun ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 14/1728 ({2}) Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({3})
Innenausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein
Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat einen
Entwurf zur Änderung von Art. 12 a des Grundgesetzes
eingebracht. Damit soll Frauen endlich der Weg für den
freiwilligen Dienst in der Bundeswehr geebnet werden. Dies fordert die F.D.P. seit Jahren. Denn eines der
letzten geschlechtsspezifischen Berufsverbote betrifft
den gleichberechtigten Zugang von Frauen zur Bundeswehr. Das Grundgesetz schreibt vor, daß Frauen auf gar
keinen Fall den Dienst mit der Waffe leisten dürfen. Dadurch wird Frauen - so meinen wir - der freiwillige Zugang zu allen Bereichen der Bundeswehr versperrt.
Die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland haben sich
allerdings in den fünf Jahrzehnten so verändert, daß die
Aufrechterhaltung dieses Berufsverbots in keiner Weise
gerechtfertigt ist. Die F.D.P.-Fraktion ist zwar der Auffassung, daß mehr Gründe für die bereits jetzt bestehende verfassungsrechtliche Zulässigkeit des freiwilligen
Wehrdienstes von Frauen in der Bundeswehr mit der
Waffe sprechen als dagegen; die herrschende Meinung
im juristischen Schrifttum lautet aber, daß das Grundgesetz nicht nur die Zwangsverpflichtung, sondern auch
den freiwilligen Dienst von Frauen mit der Waffe verbietet.
Nach intensiven Beratungen in der Fraktion sehen wir
daher nur den Weg zu einer Änderung des Grundgesetzes. Die Frage, ob die Wehrpflicht für Frauen eingeführt
werden könnte oder sollte, hat nur mittelbare Bedeutung
für die Einführung eines freiwilligen Wehrdienstes für
Frauen. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes liegt nicht vor, wenn Männer der Wehrpflicht
unterliegen und Frauen nur dem freiwilligen Wehrdienst.
Unter den NATO-Staaten ist Deutschland darüber
hinaus heute das Schlußlicht bei der Öffnung der Streitkräfte für freiwillige weibliche Bewerber. Der Gesetzentwurf der F.D.P.-Bundestagsfraktion führt daher die
längst überfällige verfassungsrechtliche, politische und
gesellschaftliche Normalität in der Bundesrepublik
Deutschland herbei.
Art. 3 des Grundgesetzes, der Gleichberechtigungsartikel, hat 1994 eine Erweiterung erfahren. Dort heißt es:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
Reinhard Schultz ({0})
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.
Das ist eine Aufforderung an uns alle, und die F.D.P.Fraktion ist der Ansicht, daß das Verbot der Diskriminierung von Frauen unter den zusätzlichen Aktivierungsartikel fällt.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist wirklich bedauerlich, daß erst eine junge Frau vor dem Europäischen
Gerichtshof klagen muß, damit endlich auch hier in
Deutschland die Chance besteht, daß eines der letzten
geschlechtsspezifischen Berufsverbote aufgehoben wird.
Auch wenn die Kritiker nicht verstummen, erweisen
sich alle vorgebrachten Argumente unserer Ansicht nach
nicht als stichhaltig.
({2})
Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof, La
Pergola, hat ausdrücklich darauf verwiesen, daß die vorgebrachten Argumente der Bundesregierung und besonders die von Verteidigungsminister Scharping lediglich
allgemeine und soziale Erwägungen beinhalten, die keine Ausnahme vom Gebot der Gleichbehandlung erlauben. Auch die Worte anderer Kritiker sind sehr harsch.
Volker Rühe kann sich keine Frauen in Kampfpanzern
vorstellen, Claire Marienfeld sieht schwangere Soldatinnen als Problem an, und Rupert Scholz versteckt seine
antiquierten Vorstellungen unter einem verfassungsrechtlichen Deckmäntelchen.
Der Deutsche Bundestag sollte nicht auf mögliche
Urteile des Europäischen Gerichtshofs reagieren müssen, sondern er sollte die Modernisierung unserer Verfassung aktiv betreiben und dieses Berufsverbot endlich
aufheben.
({3})
Meine Damen und Herren, in einem Jahresbericht der
Jugendoffiziere der Bundeswehr findet sich folgende
Aussage: Das Interesse an der Bundeswehr ist gerade
bei den jungen Frauen stark angestiegen. Wie in den
vergangenen Jahren wird die praktizierte Grundgesetzauslegung von ihnen nicht nachvollzogen, da nach ihrer
Auffassung beim Bundesgrenzschutz oder bei der Polizei gleiche Voraussetzungen vorliegen. Sie sehen einen
krassen Verstoß gegen die Gleichberechtigung darin,
daß den Frauen nur ganz wenige Laufbahnen in der
Bundeswehr offenstehen. Zuweilen wird von jungen
Frauen gar von Rechtsbeugung und Frauenfeindlichkeit
gesprochen.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr befindet
sich zudem in einer Phase der Neuorientierung. Sie hat
veränderte Aufgabenstellungen wie die Krisenbekämpfung und die Prävention. Die Chance in einer solchen
Phase besteht auch darin, weitreichende Reformen
durchzuführen. Frauen in Führungsfunktionen der Bundeswehr: Das wäre ein Signal in die richtige Richtung.
({4})
Der Bundesgrenzschutz und die Länderpolizeien wie ich schon sagte - stellen Frauen für den Dienst an
der Waffe ein. Was hier gilt, kann nicht an anderer
Stelle außer Kraft gesetzt werden.
({5})
Meine Damen und Herren, der Fall Tanja Kreil vor
dem Europäischen Gerichtshof birgt noch mehr Sprengstoff als nur den einer Gleichberechtigungsdebatte. Ich
zweifle nicht daran, daß die Richter entscheiden werden,
daß es gegen europäisches Recht verstößt, Frauen
grundsätzlich vom Waffendienst auszuschließen.
({6})
Wenn dieser Fall einträte, stünde der Urteilsspruch in
eklatantem Widerspruch zum deutschen Grundgesetz.
Frau Kollegin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluß.
({0})
Die Zeit spricht, Frau Wolf, für unseren Antrag. Ich hoffe, Sie sehen das auch so.
({1})
Ich meine - trotz der fortgeschrittenen Zeit -, daß dies
sehr wichtig ist.
Nein, bitte
keine neuen Argumente mehr einführen.
Egal, ob wir mittags oder abends
über dieses Thema sprechen - das Thema ist wichtig,
und die Uhrzeit ist unwichtig -:
({0})
Lassen Sie uns gemeinsam in aller Ernsthaftigkeit und
mit Umsicht diesen Gesetzentwurf beraten. Ich sage Ihnen: Sie werden uns recht geben müssen.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Alle Jahre beschert uns die
F.D.P. einen Gesetzentwurf, der die Beseitigung des
Verbots für Frauen, in der Bundeswehr Dienst mit der
Waffe zu tun, vorsieht. Normalerweise wird die Einbringung dieses Entwurfs als Sommerlochtheater inszeniert, nunmehr zur Abwechslung als Herbstmanöver.
({0})
- Das kommt noch, warten Sie ab. Allerdings hat das
Manöver in diesem Fall einen ernsthaften Hintergrund.
Folgt man den Schlußanträgen des Generalanwalts
beim Europäischen Gerichtshof, La Pergola, in dem
Fall Tanja Kreil - Sie erwähnten es, Frau Lenke -,
({1})
ist durchaus damit zu rechnen, daß der bisherige Ausschluß von Frauen im Soldatendienst mit Ausnahme der
Verwendung im Sanitäts- und Militärmusikdienst der
europäischen Gleichstellungsrichtlinie vom 9. Februar
1976 widerspricht.
Die Begründung der deutschen Regierung für ihre
Klageerwiderung - ich zitiere -, „vor dem Hintergrund
der Geschichte“ sei „man bemüht, sicherzustellen, daß
Frauen nicht in Kampfhandlungen verwickelt“ würden,
konnte den Generalanwalt nicht überzeugen. In der Tat:
Ungleichbehandlungen auf Grund des Geschlechts können nicht einfach mit allgemeinen Erfordernissen einer
Politik zum Schutze der Frau gerechtfertigt werden.
Daß ein solcher Schutz die Frauen in Wirklichkeit auf
die traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter zu verweisen droht, zeigt das Vorbringen des damaligen Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Herrn Norbert
Blüm, der 1992 das auf ein Gesetz aus dem Jahre 1891
zurückgehende Nachtarbeitsverbot für Frauen damit
verteidigte, daß „Frauen weitaus häufiger als Männer
neben ihrer Berufsarbeit mit der Betreuung von Kleinkindern und der Hausarbeit belastet“ seien.
Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof
weist zu Recht darauf hin, daß dann die Gefahr bestünde, „daß das überkommene Stereotyp der Geschlechtertrennung immerwährend erhalten“ bliebe, wolle man die
Zulassung von Frauen in der Bundeswehr nur in wenigen Bereichen aufrechterhalten.
Frauen wollen gleichberechtigt sein. Sie sind grundsätzlich für den Dienst in den Streitkräften genauso geeignet wie Männer. Frauen, vor allem die jungen Frauen,
fragen: Darf der Staat den Frauen das Recht auf den
Dienst mit der Waffe verweigern, wenn sie gerade dies
wollen? 78 Prozent aller Bürgerinnen unter 30 Jahren
sind nach Umfrage des Meinungsforschungsinstituts
Forsa für den Dienst von Frauen in der Bundeswehr,
auch mit der Waffe. Insgesamt sprechen sich 59 Prozent
aller Deutschen dafür aus, selbst wenn das Grundgesetz
deshalb geändert werden müßte.
Aber, meine Damen und Herren, wollen wir das
wirklich: Frauen nicht nur in Uniform, sondern mit der
Waffe an vorderster Front, in U-Booten, in Kampfpanzern und in der Infanterie, im unmittelbaren Kampfeinsatz? Ich schicke voraus: Ich persönlich würde dies auf
Grund meiner Erfahrung im letzten Krieg ablehnen. Ich
frage mich, ob eine Zivilgesellschaft wie die Bundesrepublik ausgerechnet das Militär benötigt, um die
Gleichberechtigung voranzubringen.
({2})
Angesichts der Tatsache, daß überwiegend Frauen
arbeitslos sind und die Förderung von Frauen im zivilen
Erwerbsleben noch lange nicht erreicht ist, kann ich die
Begründung des F.D.P.-Gesetzentwurfes, der von einem
der letzten geschlechtsspezifischen Berufsverbote für
Frauen spricht, nicht nachvollziehen. Schauen Sie sich
doch einmal die Chefetagen von Verwaltungen und
Wirtschaft an:
({3})
Hier sind 95 Prozent Männer. In den meisten qualifizierten und gutbezahlten Berufen sind Frauen weitgehend ausgeschlossen. Das ist für mich faktisch auch ein
Berufsverbot.
({4})
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Nein.
Wir sollten deshalb gemeinsam eine Gleichstellungspolitik betreiben, die den Namen auch verdient und die
Diskriminierung der Frauen im Erwerbsleben ausschließt. Wir werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., daran erinnern, wenn wir das
Gleichstellungsgesetz zu verabschieden haben.
({0})
- Ich denke schon.
({1})
Nun ist nicht zu verkennen, daß es bei der Auslegung
des hier angesprochenen Grundgesetzartikels, gemäß
dem Frauen verboten ist, Dienst mit der Waffe zu leisten, auch die Meinung von Verfassungsrechtlern gibt,
daß sich dieses Verbot lediglich auf die Frauen bezieht,
die dienstverpflichtet werden dürfen. Ein verfassungsrechtliches Verbot für den freiwilligen Dienst von Frauen in der Bundeswehr in allen Sparten - so diese Meinung - enthalte das Grundgesetz nicht. Folgte man dieser Auffassung, würde es einer Grundgesetzänderung
überhaupt nicht bedürfen.
({2})
- Warten Sie ab!
Der Gesetzentwurf der F.D.P. wäre dann überflüssig.
Andererseits: Würde man diesem Gesetzentwurf zustimmen, würde die Streichung bedeuten, daß man
dienstverpflichtete Frauen zum Dienst mit der Waffe
zwingen kann. Ist es das, was Sie wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.?
({3})
Das mag aber hier dahingestellt bleiben, obwohl ich persönlich der Überzeugung bin, daß der damalige Gesetzgeber grundsätzlich auch den freiwilligen Dienst von
Frauen mit der Waffe nicht zulassen wollte.
Jedenfalls werden wir abwarten müssen, wie der
Europäische Gerichtshof - im Frühjahr 2000 wird das
Urteil erwartet - entscheiden wird. Dann wird sicher
auch die Frage zu klären sein, welche Konsequenz die
Entscheidung für uns hat; denn es ist fraglich, ob dem
Europäischen Gerichtshof von den Mitgliedstaaten die
Kompetenz übertragen worden ist, den Inhalt ihrer Verfassungen zu ändern. Der Generalanwalt hat, ausgehend
von der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes,
in der hier entscheidenden Frage allerdings klargestellt,
daß die europäische Gleichstellungsrichtlinie dem Ausschluß von Frauen nach dem Soldatengesetz von der
Einstellung in allen Kampfeinheiten der Streitkräfte entgegensteht.
Wenn dem so ist und wir den freiwilligen Dienst mit
der Waffe für Frauen öffnen, dann müssen wir allerdings
auch mit Klagen der Männer rechnen - und dies zu
Recht. Denn dann werden diese diskriminiert, weil sie
der Wehrpflicht unterliegen, während Frauen freiwillig
dienen und sich sogar den Tätigkeitsbereich innerhalb
der Bundeswehr aussuchen können. Eine allgemeine
Wehrpflicht für Frauen will ja wohl niemand.
Diese Konsequenz müssen wir klar sehen. Es ist sehr
kühn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., in
der Begründung des Gesetzentwurfes einfach zu behaupten, daß ein Verstoß gegen den Gleichberechtigungsartikel nicht vorliege, wenn Männer der Wehrpflicht unterliegen, Frauen dagegen nur dem freiwilligen
Wehrdienst. Ich denke, die betroffenen Männer werden
dies anders sehen.
Wenn wir den gleichberechtigten Zugang von Frauen
zu den Streitkräften wollen und gegebenenfalls durch
den Europäischen Gerichtshof dazu gezwungen werden,
werden wir allerdings auch vor der Frage stehen, ob wir
die Wehrpflicht noch beibehalten können.
({4})
In diesem Zusammenhang ist dann sicherlich auch zu
erwägen, ob es in Deutschland nicht möglich ist, die
Bundeswehr wenigstens in weiteren Teilbereichen, zum
Beispiel auf der Verwaltungsebene, für Frauen zu öffnen.
Bei unserer Diskussion um die Soldatin, die in der
Armee bisher ausschließlich im Sanitäts- und Militärmusikdienst zugelassen ist, die demnächst aber mit dem
Karabiner in der Hand auch Wache schieben soll, ist sicherlich nicht zu übersehen, daß die Bundeswehr innerhalb Europas in der Tat zum Schlußlicht bei der Gleichstellung von Mann und Frau geworden ist.
({5})
In zwölf der 15 EU-Staaten dürfen Frauen alle Tätigkeiten in der Armee, einschließlich Waffendienst, ausüben. Lediglich in Italien, Portugal und Deutschland
sind sie vom Waffendienst ausgeschlossen. Wir dürfen
bei diesem Ländervergleich aber nicht verkennen, daß
es sich um Länder mit Berufsarmeen handelt, in denen
auch die Männer freiwillig den Soldatenberuf wählen
können.
Bei aller Gleichberechtigung, für die ich mich immer
eingesetzt habe, ist auch zu bedenken, daß die Erfahrungen des Einsatzes von Mann und Frau in der Armee
nicht nur positiv zu bewerten sind, auch wenn sich, wie
der Bundeswehr-Verband meint, der Umgangston dann
verbessern würde.
({6})
Zum einen drängt sich hier, ohne etwas unterstellen zu
wollen, die Vermutung auf, daß unter dem Deckmantel
der Gleichberechtigung Frauen als Lückenbüßerinnen
für fehlendes männliches Personal in die Bundeswehr
aufgenommen werden sollen.
({7})
Zum anderen treten im militärischen Alltag immer
wieder Schwierigkeiten zwischen Männern und Frauen
auf; das muß man deutlich sehen.
({8})
Nach einer Untersuchung in den US-Streitkräften klagen
weit über 60 Prozent der dienenden Frauen über sexuelle
Belästigung, bis hin zur Vergewaltigung in Einzelfällen.
Das muß man sehen.
({9})
Auch die Erfahrungen der Israelis in ihrem Befreiungskampf 1948, als Frauen Seite an Seite mit ihren
männlichen Kameraden an vorderster Front kämpften,
haben gezeigt, daß dies zu Komplikationen geführt hat.
({10})
Manche Einheiten waren am Rande der Kampfunfähigkeit, weil die Männer in der Gefahr einen Beschützerinstinkt entwickelten.
({11})
- So ist das eben. Das muß man wissen. Das sind Fakten, die berücksichtigt werden müssen.
Ehe wir also mit Hurra und unter dem Vorwand der
Gleichberechtigung die Frauen mit der Waffe in den
Kampf schicken, sollten wir alle Argumente des Für und
Wider abwägen, bevor wir das Grundgesetz ändern.
({12})
Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab.
({13})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Irmgard Karwatzki.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über den
Antrag der F.D.P. debattieren, so geschieht dies in erster
Lesung. Ich betone das deshalb, weil der Sachverhalt,
über den wir jetzt diskutieren, nämlich der gleichberechtigte Zugang von Frauen zur Bundeswehr, noch
vieler Diskussionen, sowohl im vorparlamentarischen
Raum als auch hier im Parlament bedarf.
({0})
Ich halte es auch für wichtig, daß wir gemeinsam Informationsbesuche in den Ländern machen, wo Frauen
bereits in Streitkräften ihren Dienst leisten.
In Art. 12a des Grundgesetzes steht: Frauen „dürfen
auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten“. Der Sinn
dieser Bestimmung war der Schutz des „schwachen Geschlechts“. Die Sache mit dem schwachen Geschlecht
sehen die meisten Frauen heute allerdings anders als
damals bei der Schaffung des Grundgesetzes. Eine Änderung des Grundgesetzes gerade an dieser Stelle ist für
manche Bürger in diesem Lande und für etliche Mitglieder des Bundestages, vor allem für diejenigen, die den
zweiten Weltkrieg noch miterlebt haben, schwer vorstellbar.
Ich erspare mir hier, auf die rechtliche Seite einzugehen. Wir müssen sie sorgfältig prüfen - wie gerade auch
von der Kollegin Brandt-Elsweier gesagt worden ist -,
und wir müssen insbesondere die richtigen Folgerungen
daraus ziehen.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist eine
Frage des politischen Willens und des politisch Machbaren, ob wir Frauen mehr Chancen bei der Bundeswehr
geben oder nicht. Soldatin und Mutter zu sein schließt
sich genauso wenig aus wie Soldat und Vater zu sein.
({2})
Daß Frauen ein freiwilliger Dienst an der Waffe nicht
zugemutet werden kann, hat mit der Realität wenig zu
tun.
({3})
Viele von ihnen wollen den Sonderstatus, den ihnen das
Grundgesetz einräumt, nicht mehr. Das Bild von Polizistinnen und Bundesgrenzschutzbeamtinnen, die Waffen
tragen und auch benutzen, ist für uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Auch in anderen Armeen tun sie
das, was ihnen hierzulande aus Fürsorgepflicht verweigert wurde - zugegeben: zum Teil wegen der Probleme,
die das Zusammenleben von Männern und Frauen betreffen. Diese können Sie aber nicht dadurch lösen, daß
weiterhin eine ganze Bevölkerungsgruppe quasi per
Grundgesetz Berufsverbot erhält und auf diese Weise
von technisch anspruchsvollen Aufgaben ausgeschlossen wird.
({4})
Frauen werden bei der Bundeswehr auf die gleichen
Schwierigkeiten stoßen wie anderswo im Berufsleben
auch.
({5})
Bundeswehr und Frauen müssen damit umzugehen lernen wie andere Firmen und Unternehmen ebenfalls.
({6})
Meine Damen und Herren, ich weiß es zu schätzen,
daß bei manchen Männern der „Beschützerinstinkt“ erwacht
({7})
bei der Vorstellung, Frauen könnten in Kampfhandlungen gefangengenommen, vergewaltigt, mißhandelt oder
sogar ermordet werden. Dies finden auch wir Frauen
furchtbar. Aber trotz allem: Frauen, die freiwillig diesen
Dienst leisten wollen, müssen wissen, daß sie beim
Dienst mit der Waffe ein besonderes Risiko eingehen.
Im übrigen gilt für die Männer genau dasselbe.
({8})
Frauen und Männer sind im Kampfeinsatz gleichermaßen betroffen. Daher ist es auf jeden Fall besser, wenn
Frauen gut ausgebildet mit dieser Situation konfrontiert
werden.
({9})
Nach der bereits zitierten Umfrage sind zwei Drittel
der Deutschen dafür, daß Frauen in der Bundeswehr
Dienst mit der Waffe leisten. Als Grund für die Diskriminierung von Frauen im Berufsleben wird die unterschiedliche physische Ausstattung von Mann und Frau
in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr akzeptiert.
Einem internationalen Vergleich von Frauen in den
Streitkräften ist zu entnehmen, daß die Zahl der Frauen
in der Armee in Frankreich kontinuierlich steigt, daß
Frauen in den Niederlanden seit Beginn des zweiten
Weltkrieges soldatisch tätig sind - und zwar de jure
auch in Kampfsituationen - und daß Frauen in Norwegen, Finnland, Schweden, Luxemburg und Großbritannien Dienst mit der Waffe leisten. Österreich hat Frauen
1998 den uneingeschränkten Zugang zum Militär ermöglicht. In den Streitkräften der mittel- und osteuropäischen Staaten dienen weibliche Soldaten auf freiwilliger Basis.
Außerhalb Europas bieten Israel - hier ist die Wehrpflicht für beide Geschlechter zwingend - und die USA
die bekanntesten Beispiele für die selbstverständliche
Einbindung von Soldatinnen in ihre Armeen. Allerdings
sind auch in diesen beiden Ländern Gleichberechtigung
und Gleichverpflichtung von männlichen und weiblichen Soldaten nicht gegeben bzw. umstritten. Die GrünAnni Brandt-Elsweier
de hierfür bewegen sich im Spannungsfeld von angeblich nicht mehr abzustreitender mangelnder körperlicher
Kraft von Frauen für diesen Beruf bis hin zu Gedanken,
was Frauen in Gefangenschaft zustoßen könnte, und einer Art „hinderlichem Beschützerinstinkt“ der kämpfenden Soldaten gegenüber ihren Kameradinnen.
Der Anteil der weiblichen Soldaten in den nationalen
Streitkräften der NATO reicht von 0,5 Prozent in der
Türkei bis zirka 12 Prozent in den USA. Insgesamt ist
eine Tendenz erkennbar, Anzahl und Verwendungsbereiche weiblicher Soldaten auszuweiten.
Ich trete nicht für eine Wehrpflicht für Frauen ein.
({10})
Das Prinzip der Freiwilligkeit muß erhalten bleiben.
Frauen haben keinen Nachholbedarf in bezug auf den
Dienst an der Gemeinschaft. Sie leisten ihre Arbeit in
der Familie, bei der Kindererziehung, im Ehrenamt, in
der Altenpflege - um nur einige Aspekte herauszugreifen - und nicht zuletzt auch durch die Tatsache, daß sie
die Kinder gebären.
({11})
Aber in der Bundeswehr gibt es gute Ausbildungsmöglichkeiten und Chancen auf Arbeitsplätze mit einer guten sozialen Absicherung. Davon dürfen wir Frauen zukünftig nicht mehr ausgeschlossen sein.
({12})
Ich betone noch einmal: Es gibt keine überzeugende
Begründung dafür, Frauen den Dienst an der Waffe zu
verweigern. Es kommt schließlich nicht auf physische
Stärke bei unseren vielen hochtechnisierten Einsatzplätzen an. Die Bundeswehr hat wie die Armeen anderer
Staaten auch ein eigenes Interesse, Frauen als Soldatinnen zu rekrutieren. Frauen in Uniform signalisieren
auch, daß die Organisation traditionelle Rollen und
Prinzipien überdenkt und sich der aktuellen gesellschaftlichen Notwendigkeit, Männerbastionen aufzugeben, anzupassen bereit ist. Der Deutsche Bundeswehr-Verband - dies ist schon gesagt worden - fordert
im übrigen seit langem den Zugang von Frauen zur
Bundeswehr. Ich unterstütze ihn.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolf
({0})?
Im Moment nicht.
Nein, Sie haben keine Redezeit mehr. Sie können Ihre Redezeit nur
durch das Zulassen einer Zwischenfrage verlängern.
Frau Kollegin
Wolf, wir diskutieren später miteinander. Ich möchte
jetzt meinen Schlußsatz sagen. Wir müssen auch an die
Kolleginnen denken, die noch reden wollen. Ich danke
Ihnen auf jeden Fall für Ihre Aufmerksamkeit.
Allerdings, Herr Kollege Kolbow, habe ich auf der
Rednerliste, die uns vorliegt, gesehen, daß niemand vom
Ministerium reden möchte. Ist dies richtig?
({0})
- Das ist aber traurig.
Dies kann
nicht in einem Zwiegespräch geklärt werden.
Ich wollte das nur
wissen.
Ich bedanke mich sehr.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder
hat die F.D.P. das Sommerloch mit der Forderung gefüllt, daß Frauen nun endlich das Recht haben müssen,
sich an Kampfeinsätzen zu beteiligen. „Wer die Öffnung
der Bundeswehr für Frauen ablehnt, befürwortet eines
der letzten geschlechtsspezifischen Berufsverbote“, ließ
uns der F.D.P.-Feminist Guido Westerwelle übermitteln.
Nur schade, daß er heute nicht hier ist und seinen Gesetzentwurf selbst vorstellt.
({0})
Heute legen Sie uns nun einen Gesetzentwurf zur
Änderung des Grundgesetzes vor, der auch Frauen die
Teilnahme an Kampfeinsätzen ermöglichen soll. Begründet wird er unter anderem damit, daß das Interesse
gerade bei jungen Frauen an einem Job in der Bundeswehr stark gestiegen sei. Schaut man sich allerdings die
Bewerbungszahlen an, so reduziert sich diese Aussage
ziemlich. Auch die Anlagenelektronikerin Tanja Kreil,
deren Fall vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt
wird, hat heute kein Interesse mehr an der Bundeswehr.
Sie hat längst einen zivilen Job.
({1})
Dieses Beispiel zeigt - dies hat auch Frau Karwatzki gerade gesagt -, daß vermehrt Frauen qualifizierte technische Berufe suchen, ihnen diese aber in der Wirtschaft
nicht zur Verfügung gestellt werden. Deshalb greifen sie
auf die Bundeswehr zurück.
({2})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Frau Kollegin ScheweGerigk, ist Ihnen nicht bekannt, daß Frau Kreil, die vor
dem Europäischen Gerichtshof klagt, weiterhin ein sehr
großes Interesse an einem Job in der Bundeswehr hat?
Sie strebt ihn weiterhin an. Sie hat dies erst in der letzten
Woche beispielsweise in einer Sendung von „Phoenix“
deutlich zum Ausdruck gebracht. Sie hat zwar im Augenblick einen zivilen Job, mit dem sie durchaus zufrieden ist. Aber sie möchte weiterhin zur Bundeswehr.
Warum wollen Sie dies nicht zur Kenntnis nehmen, und
warum stellen Sie es so dar, als ob die Frauen nur dann
an einem Job in der Bundeswehr interessiert sind, wenn
sie auf ihn angewiesen sind?
({0})
Frau Kollegin, meine letzten Informationen,
die aus dieser Woche stammen, besagen, daß Frau Kreil
einen Job hat, den sie auch behalten will, und kein Interesse mehr an der Bundeswehr hat. Etwas anderes kann
ich Ihnen dazu nicht sagen. Aber gerade in diesem Bereich, Frau Lenke, hätte die F.D.P. ein großes Betätigungsfeld. Statt dessen lehnen Sie die Quotierung von
Ausbildungsplätzen, Arbeitsplätzen und Frauenförderprogrammen im zivilen Bereich ab.
({0})
Jetzt gerieren Sie sich als die große Partei für die
Gleichberechtigung der Frauen.
({1})
- Ich lasse jetzt keine Zwischenfragen mehr zu.
({2})
Ein Blick in die Begründung Ihres Gesetzentwurfs - ich setze mich gerade mit Ihrem Gesetzentwurf auseinander, Frau Kollegin - macht aber auch noch
mehr deutlich - ich zitiere -:
Die Frage, ob eine Wehrpflicht für Frauen eingeführt werden könnte oder sollte, hat nur mittelbare
Bedeutung für die Einführung eines freiwilligen
Wehrdienstes von Frauen.
Am Rande sei bemerkt: Eine Mitgliederbefragung der
F.D.P. hat mit großer Mehrheit gezeigt, daß die F.D.P.
für die Wehrpflicht ist.
Ich zitiere weiter:
Ein Verstoß gegen Artikel 3 Abs.2 des Grundgesetzes liegt nicht vor, wenn Männer der Wehrpflicht
unterliegen, Frauen dagegen nur dem freiwilligen
Wehrdienst.
Diese Schlußfolgerung ist in sich völlig widersprüchlich; denn wer eine Grundgesetzänderung befürwortet,
die Frauen den Dienst an der Waffe erlaubt, bewegt sich
natürlich im Rahmen der Organisation der Bundeswehr,
also auch der Pflicht zum Wehrdienst. Wenn Männer
und Frauen nach F.D.P.-Manier gleich behandelt werden
sollten, könnte das die Wehrpflicht für Frauen zur Folge
haben. Das nehmen Sie zumindest in Kauf.
({0})
Wer meint, Frauen sollten das Recht haben, freiwillig
Dienst an der Waffe leisten zu dürfen, verkennt, daß,
wer A sagt, auch B sagen muß. Wenn jemand von
Gleichberechtigung im formalen Sinne spricht, dann
sind damit natürlich nicht nur die Rechte gemeint, sondern über kurz oder lang auch die damit zusammenhängenden Pflichten. Für mich bedeutet das: Die F.D.P.
spricht sich also für eine allgemeine Wehrpflicht für
Männer und Frauen aus oder nimmt sie zumindest billigend in Kauf.
({1})
Dies aber lehnen die Bündnisgrünen strikt ab.
({2})
Es sind nicht nur die bösen Grünen, die Sie falsch
verstehen wollen, Frau Lenke.
({3})
Die Wohlfahrtsverbände haben sich bereits geäußert und
interpretieren Sie genauso wie ich. Sie frohlocken und
sagen, wenn Frauen auch dienstverpflichtet würden, zögen sie wohl den Zivildienst vor. Somit hätten die Verbände das Pflegepersonalproblem gelöst. Glauben Sie,
sie wollen Sie nur falsch verstehen?
({4})
Ich ermahne
Sie jetzt aber doch einmal, nicht dauernd dazwischenzurufen. Das haben wir bei Männern nicht besonders gern,
und das ist bei Frauen auch nicht so toll, wenn man sie
nicht zum Reden kommen läßt.
({0})
Danke schön.
Sollten Frauen in Deutschland zum Militär zugelassen werden, müßte die Bundeswehr erst einmal einer
grundlegenden Strukturveränderung unterzogen werden:
weg von der Wehrpflicht, hin zu einer Freiwilligenarmee. Die Wehrpflicht müßte also abgeschafft werden.
Das wäre eine echte Zäsur in der Geschichte der Bundeswehr.
({0})
Solange aber in Deutschland eine Wehrpflicht besteht, handelt es sich nicht um eine geschlechtsspezifische Benachteiligung, sondern vielmehr um eine
Schutzvorschrift für Frauen. Auch wenn ich der Begründung der damaligen Berichterstatterin, Frau
Schwarzhaupt, nicht recht gebe, die sagte, „daß unsere
Auffassung von der Natur und der Bestimmung der Frau
einen Dienst mit der Waffe verbietet“, stelle ich fest, daß
Art. 12 a des Grundgesetzes jetzt so nicht geändert werden darf.
Auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes würde daran nichts ändern. Der Europäische Gerichtshof
wird über dieses Thema im Frühjahr nächsten Jahres
entscheiden. Das Verwaltungsgericht Hannover hat ihm
den Fall Tanja Kreil vorgelegt, die für ihre Aufnahme in
die Bundeswehr geklagt hatte. Sollte sich der EuGH für
die Beteiligung von Frauen an Kampfeinsätzen aussprechen, widerspräche dies unserer Verfassung.
({1})
Eine Reihe von Verfassungsrechtlern - ich nenne
unter anderem den Kollegen Scholz, der heute leider
nicht da ist - haben dargelegt, daß der Europäische Gerichtshof nur die Kompetenzen ausüben kann, die ihm
die Mitgliedstaaten übertragen haben. Sicherheits- und
Militärpolitik liegen aber nach den Verträgen von Maastricht und Amsterdam ausschließlich in nationaler
Hand. Eine Kompetenz, den Inhalt des Grundgesetzes zu
verändern, hat der EuGH demnach nicht. Keine staatliche Stelle würde durch eine derartige Entscheidung gebunden.
Generalanwalt La Pergola argumentiert, die Streitkräfte seien ein Arbeitsmarkt wie jeder andere. Dem widerspreche ich. Die Bundeswehr ist eine Organisation,
die für den Kriegsdienst vorbereitet und in der Konsequenz auch für das Töten ausbildet.
Mehr Frauen im Militärdienst würde für mich auch
eine weitere Militarisierung der Gesellschaft bedeuten.
Ziel einer emanzipierten Gesellschaft ist aber die Aufhebung von Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung.
Ich komme zum Schluß. Ich erwarte mit großem Interesse die Vorschläge der Wehrstrukturkommission,
und ich hoffe, daß sich unsere Vorstellungen durchsetzen, die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee umzuwandeln. Dann werden wir erneut zu prüfen haben, wie
Männer und Frauen freiwillig Zugang hierzu erhalten
können. Heute das Grundgesetz zu ändern hieße, das
Kind mit dem Bade auszuschütten. Das werden wir nicht
mitmachen.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Homburger das
Wort.
Frau Kollegin ScheweGerigk, ich möchte Sie wegen Ihrer Äußerungen über
die F.D.P. ansprechen.
Sie sagen, wir hätten einen Mitgliederentscheid gehabt und wir hätten uns für die Wehrpflicht entschieden.
Bei diesem Mitgliederentscheid ging es um die Frage
der zukünftigen Struktur der Bundeswehr. Es ging um
die Frage, ob wir sie als Wehrpflicht- oder als Freiwilligenarmee organisieren. Über die Frage einer Wehrpflicht für Frauen ist bei dieser Mitgliederbefragung in
keiner Weise entschieden worden.
({0})
Deswegen können Sie sich nicht hier vorne hinstellen
und schlichtweg behaupten, die F.D.P. sei für eine
Wehrpflicht für Frauen. Das entspricht nicht der Wahrheit. Das haben wir an keiner Stelle gesagt und niemals
beschlossen. Ich bitte, solche Unterstellungen zukünftig
zu unterlassen.
Das zweite. Sie sagen, Frauen und Männer in der
Bundeswehr gleich zu behandeln würde automatisch bedeuten, die Wehrpflicht für Frauen einzuführen. Ich
glaube, die Kollegin Karwatzki von der CDU hat vorhin
sehr eindeutig klargestellt, daß das eben nicht die Folge
sein muß. Sie hat auch die Gründe genannt, warum das
nicht nötig ist: weil Frauen einen gut Teil der Familienarbeit, der Pflegearbeit usw. leisten. Solange das in dieser Gesellschaft der Fall ist, haben wir nicht über eine
Dienstpflicht für Frauen zu reden.
({1})
Dann haben Sie gesagt, es handele sich bei dieser
Grundgesetzvorschrift um eine Schutzvorschrift für
Frauen. Das zeigt allerdings Ihre verquere Vorstellung
von Gleichberechtigung: Gleichberechtigung also nur
da, wo es Ihnen politisch in den Kram paßt, und nicht
da, wo Frauen, die eine andere Meinung haben, ihre
Gleichberechtigung einfordern. Das ist nicht unser Verständnis von Gleichberechtigung.
({2})
Deswegen werden wir weiter unseren Vorschlag verfolgen.
Ich möchte eine weitere Bemerkung zu dem machen,
was Sie zum europäischen Recht gesagt haben. Sie sind
auf die Darlegung von Herrn Professor Scholz eingegangen, derzufolge die Organisation der Streitkräfte den
Mitgliedstaaten unterliege, weswegen der Europäische
Gerichtshof hier nichts zu sagen habe. Der Europäische
Gerichtshof beabsichtigt mitnichten, in die Organisationshoheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die
Streitkräfte einzugreifen. Aber er hat sehr wohl die
Möglichkeit, die Gleichberechtigungsrichtlinie durchzusetzen. Sie gilt, wie ich finde, auch in diesem Bereich.
Nur deswegen, weil Sie eine andere Auffassung davon
haben, wie Bundeswehr auszusehen hat, anderen Frauen
vorschreiben zu wollen, daß sie dort nicht Dienst tun
dürfen, ist, denke ich, keine besondere Auszeichnung Ihrer Gleichstellungspolitik.
Ich möchte zum Schluß sagen: Ich würde begrüßen,
wenn der Deutsche Bundestag eine Sache wirklich einmal politisch diskutieren und politisch entscheiden
könnte. Sich jetzt auf den Europäischen Gerichtshof zurückzuziehen und abzuwarten, was er entscheidet, um
dann die Öffnung gegebenenfalls zu vollziehen nach
dem Motto, das ist uns aufgezwungen worden, wir sind
dafür nicht verantwortlich, halte ich nicht für ein politisches Verhalten. Ich würde mich freuen, wenn wir hier
eine politische Entscheidung treffen würden.
({3})
Frau ScheweGerigk, Sie können jetzt antworten.
Frau Kollegin Homburger, ich möchte ganz
ruhig bearbeiten, was Sie hier so emotional hervorgebracht haben.
Ich habe nicht gesagt, daß ich eine Schutzvorschrift
für Frauen haben möchte. Diese „Schutzvorschrift für
Frauen“ war ein Zitat. Ich habe Ihnen auch gesagt, daß
das Frau Schwarzhaupt gesagt hat, als das Grundgesetz
geändert wurde. Da haben Sie wahrscheinlich nicht
richtig zugehört.
Ich habe auch nicht gesagt, daß die Befragung innerhalb der F.D.P. eine Wehrpflicht für Frauen beinhaltete.
Ich habe gesagt: Es hat eine Befragung stattgefunden,
und bei der jetzigen Organisation, wo wir eine Wehrpflicht haben, sehe ich es als fahrlässig an, Frauen zum
Dienst an der Waffe zuzulassen. Sie würden damit billigend in Kauf nehmen, daß Menschen auf die Idee kämen, es müsse auch eine Wehrpflicht für Frauen eingeführt werden.
Wenn Sie sagen, die Frauen sollen gleiche Rechte
haben, dann muß ich Ihnen entgegnen: Gleichberechtigung, wie wir sie uns vorstellen, sieht nicht nur gleiche
Rechte, sondern auch gleiche Pflichten vor. Das heißt,
der erste Mann, der klagen würde, würde sicherlich
recht bekommen. Denn warum sollen Männer alle
Pflichten auf sich nehmen und nicht freiwillig zur Bundeswehr gehen dürfen, während sich Frauen sogar freiwillig aussuchen dürfen, wohin sie gehen. Ich sehe diese
Gefahr.
Ich habe nicht gesagt: Wir warten auf den Europäischen Gerichtshof. Auch da müssen Sie mich mißverstanden haben. Ich habe gesagt: Ich warte sehr dringend auf die Ergebnisse der Wehrstrukturkommission.
Wenn diese Ergebnisse vorliegen, werden wir sehen,
wie Frauen in die Bundeswehr integriert werden können
oder wollen. Wir werden hier über die Ergebnisse der
Arbeit der Wehrstrukturkommission zu diskutieren haben. Wir können uns dann erneut darüber verständigen,
ob und, wenn ja, welche gesetzlichen Änderungen wir
brauchen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin aus Überzeugung gegen
den Einsatz von Frauen in der Bundeswehr. Die Bundeswehr ist meines Erachtens kein Bereich, in dem es zu
beweisen gilt, daß Frauen gleichberechtigt sind.
Das plötzliche Interesse an diesem Thema sollte
Frauen stutzig machen. Werden sie wieder einmal als
Lückenbüßerinnen gebraucht? Sind sie - diesmal im
wörtlichen Sinne - die Reservearmee?
Die Debatte über Frauen in der Bundeswehr findet
nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt. Frauen
sind in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen diskriminiert und benachteiligt. Sie haben fast überall geringere Chancen als Männer. Nun sollen sie eines der
wenigen Privilegien, das sie haben, aufgeben? Ist es das,
was wir wollen?
Ja, es handelt sich bei Art. 12 a des Grundgesetzes
um ein geschlechtsspezifisches Berufsverbot.
Frau Kollegin,
es besteht der Wunsch der Kollegin Pieper nach einer
Zwischenfrage. - Bitte.
Frau Kollegin Bläss, habe
ich Sie richtig verstanden, daß Sie eben das letzte in
Deutschland bestehende Berufsverbot für Frauen als
Privileg bezeichnet haben?
({0})
Ist Ihnen bekannt, daß es in keinem anderen europäischen Staat mehr dieses Berufsverbot gibt? Auch Italien
wird zum 1. Januar 2000 dieses Berufsverbot für Frauen
aufheben.
Zum ersten, Frau Kollegin Pieper, habe ich nicht vom letzten existierenden Berufsverbot gesprochen.
Zum zweiten hat die Debatte schon deutlich gemacht,
daß die Regularien in den anderen europäischen Ländern
einfach vor einem anderen politischen Hintergrund gelten: Es gibt dort Berufsarmeen. Das ist natürlich ein
kleiner Unterschied.
Ich werde im folgenden deutlich machen, daß es auf
diese Frage keine Schwarzweißantworten gibt und daß
man sich mit der Angelegenheit sehr differenziert auseinandersetzen muß. Ich begreife dieses geschlechtsspezifische Berufsverbot sehr wohl als eine Form der Antidiskriminierungspolitik und als ein Privileg für Frauen;
und dies wird politisch unterschiedlich bewertet. Wir
haben hier zweifellos einen unterschiedlichen Zugang
und eine unterschiedliche Bewertung.
({0})
Auch ich weise alle biologistischen Einwände gegen
Frauen beim Militär zurück. Das gilt nicht nur für die
Argumente derjenigen, die Frauen auch heute für das
schwache Geschlecht halten. Es gilt auch für jene, die
damit argumentieren, daß Soldatinnen bei Kämpfen und
Kriegsgefangenschaft besondere Gefahren drohen. Diese
Sicht verkennt, daß Frauen in allen Kriegen Opfer von
Mord, Vergewaltigung und Folter werden, vor allem
dann, wenn sie Zivilistinnen sind.
Trotzdem ist für mich die gleichberechtigte Teilhabe
an einer zutiefst hierarchischen Struktur wie der des Militärs kein Feld der Emanzipation.
({1})
Das belegen im übrigen in erschreckender Weise die Erfahrungen, die Frauen in der US-Armee gesammelt haben. Frau Kollegin Lenke, da Sie vorhin den Hinweis
der Kollegin Anni Brandt-Elsweier so lax abgetan haben: Wir Frauenpolitikerinnen müssen die Erfahrungen
der Frauen in der US-Armee sehr ernst nehmen.
({2})
Eines ist klar: In der Konsequenz hat die Forderung
nach einer Grundgesetzänderung die Wehrpflicht für
Frauen zur Folge, auch wenn das nicht unmittelbar der
Gegenstand des F.D.P.-Antrages ist. Ich frage mich
nämlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., wie es mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar
sein soll, daß Männer wehrpflichtig sind, während Frauen freiwillig zur Armee gehen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn einige Frauen
heute in bewaffneten Einheiten arbeiten und kämpfen
wollen, müssen wir das akzeptieren. Aus ihrer Sicht fordern sie das legitime Recht auf Gleichberechtigung ein.
Für mich sind Frieden und Gewaltverzicht grundlegende
Verfassungswerte.
Die Verfassungsänderung, durch die die Bundeswehr
für Frauen geöffnet werden soll, wird vor dem Hintergrund der Debatte um eine Neuorientierung der Bundeswehr diskutiert. Meine Fraktion hat sich immer für
die Abschaffung der Wehrpflicht ausgesprochen. Wir
setzen uns für den Auf- und Ausbau ziviler Kräfte ein,
die bei Konflikten zur Regulierung eingesetzt werden
können. Militärische Aktionen und Kriege müssen als
Lösung für Konfliktfälle ausgeschlossen werden.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Friedrich?
Ja.
Frau Kollegin
Bläss, ist Ihnen bei Ihrer langen Aufzählung der Tatbestand entgangen, daß die Bundeswehr eine Wehrpflichtarmee ist und Frauen schon jetzt freiwillig zur Bundeswehr gehen können? Der einzige Unterschied besteht
darin, daß sie derzeit nicht Dienst an der Waffe tun dürfen. Was unterscheidet diese Situation von der, die Sie
jetzt so lautstark beklagen?
Der Tatbestand ist mir wohl bekannt. Ich gebe Ihnen darauf eine sehr einfache Antwort:
Wer A sagt, muß auch B sagen. Ich bin auch in einem
solchen Fall nicht dafür, daß man sich - sie entschuldigen den Begriff - unpassend die Rosinchen herauspickt.
({0})
Ich möchte
jetzt keine weitere Zwischenfrage zulassen. Ich bitte,
doch etwas zu berücksichtigen, daß wir heute eine sehr
lange Debatte haben. Ich glaube, daß die Position der
F.D.P. durch Zwischenfragen und Kurzinterventionen
gut zur Geltung gekommen ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluß: Auch in der Fraktion der
PDS wird die Frage der Öffnung der Bundeswehr für
Frauen äußerst kontrovers diskutiert. Wir werden das
Verhältnis von Antimilitarismus und Gleichstellungspolitik ausloten müssen. Daß diese schwierige Frage
sehr differenzierte Antworten verlangt, zeigt die heutige
Debatte. Ich wünsche mir für den weiteren Verlauf der
Diskussionen hier im Deutschen Bundestag über dieses
streitbare Thema offene Auseinandersetzungen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Verena Wohlleben.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Herren und Damen! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich muß jetzt einmal die F.D.P. loben:
Auf sie ist wirklich Verlaß. Zuverlässig ist sie; sie hat
wie jedes Jahr das Thema „Frauen an die Waffen“ auf
die Tagesordnung gebracht. Herzlichen Dank!
({0})
Ich frage mich nur, warum Sie das tun. Haben Sie es
denn so nötig, die Frauenfreundlichkeit der F.D.P. unter
Beweis zu stellen? Ich denke, es handelt sich dabei um
puren Populismus, der sich auf Dauer nicht verschleiern
läßt; denn der Antrag ist bestenfalls von einer nachgeordneten Muse, aber nicht von der Logik geküßt worden.
({1})
Fest steht, meine sehr verehrten Herren und Damen:
Noch gibt es keine Notwendigkeit für eine Grundgesetzänderung. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn man
sich die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes anschaut, wird dies deutlich.
({2})
- Die Frau Kollegin hat das „Maschinengewehr“ mit ihrem Beitrag von vorhin ja schon hiergelassen.
Am 2. November 1999 hat das Gericht im Falle einer
britischen Köchin entschieden, daß nur in engbegrenzten
Ausnahmefällen Frauen der freiwillige Dienst in den
Streitkräften verweigert werden dürfe. Bezüglich einer
Verwendung bei den Royal Marines sah das Gericht eine solche engbegrenzte Ausnahme als gegeben an, da
diese nur 2 Prozent der britischen Streitkräfte ausmachen. Im Falle der Tanja Kreil beantragte der Generalanwalt Antonio La Pergola in seinem Schlußplädoyer,
daß die Bundesrepublik Deutschland die Gleichbehandlungsrichtlinien für Männer und Frauen anzuwenden
habe. Die Bundesrepublik Deutschland habe, so Antonio
La Pergola, nicht hinreichend nachgewiesen, daß das
männliche Geschlecht unabdingbare Voraussetzung für
die Verwendung in allen Kampfeinheiten sei.
Demzufolge wäre nach Auffassung des Generalanwalts in der logischen Folge das Kombattantenverbot
des Grundgesetzes für Frauen auch ein Hinderungsgrund, Frauen in der zivilen Bundeswehrverwaltung, in
der Polizei und dem Bundesgrenzschutz zu verwenden.
Was muß nun in dem Fall geschehen, daß der Europäische Gerichtshof dem Schlußantrag des Generalanwaltes nachkommt? Eine Grundgesetzänderung ist, wie
ich bereits ausführte, nach unterschiedlichen Rechtsgutachten nicht zwingend erforderlich, hinsichtlich verfassungsmäßiger Klarheit und Wahrheit aber wünschenswert.
({3})
Die Frage nach einer potentiellen Wehrpflicht für
Frauen schließt sich unmittelbar an. Denn, meine Damen und Herren, die Gleichbehandlungsrichtlinien für
Männer und Frauen verbieten im Umkehrschluß ebenso
eine Diskriminierung von Männern.
Die Arbeit der Kommission „Gemeinsame Sicherheit
und Zukunft der Bundeswehr“, die der Verteidigungsminister ins Leben gerufen hat, beschäftigt sich unter
anderem auch mit der Wehrform und der Struktur von
zukünftigen Streitkräften in Deutschland. Das Ergebnis
liegt im Frühjahr 2000 vor. Eventuell werden wir dann
auch über die Gestaltung der Wehrpflicht - auch der
Wehrgerechtigkeit - neu nachdenken müssen. Welche
Fragen sich damit für den Strukturwandel der Streitkräfte stellen, kann deshalb jetzt und hier noch nicht abschließend erörtert werden.
({4})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
Ich gestatte keine Zwischenfrage, weil ich die Länge der Redebeiträge meines
verehrten Kollegen Breuer aus den Ausschüssen kenne.
In Anbetracht der Zeit und mit Rücksicht auf die Nachfolgedebatte möchte ich es nicht. Lieber Kollege, wir
führen es dann im Ausschuß weiter.
({0})
Welche Fragen sich damit für den Strukturwandel
der Streitkräfte stellen, kann deshalb jetzt und hier
noch nicht abschließend erörtert werden. In diesem Zusammenhang werden wir dann auch Fragen behandeln,
die heute nicht so einfach mit einem solchen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes en passant zu beantworten sind. Ist es überhaupt praktikabel, nach einer
jahrzehntelangen entgegengesetzten Praxis, Frauen auch
in Kampf- und Kampfunterstützungseinheiten aufzunehmen? Sollen beispielsweise Grenzen bei bestimmten
Spezialverbänden in jedem Fall weiterbestehen? Ob wir
in Deutschland eine Öffnung der Streitkräfte für Frauen
haben wollen oder nicht, ist politisch sehr wohl zu diskutieren.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich der Diskussion offen stellen und dazu beitragen, eine tragfähige Lösung zu finden.
({1})
- Oh ja. Dies sind wir den Frauen, die bisher freiwillig
und gerne zur Bundeswehr wollen, dies sind wir der
Bundeswehr und den Menschen, die in ihr Dienst tun,
schuldig. Wer aber heute im Schnellschuß die Änderung
bzw. Streichung des Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 des Grundgesetzes will, handelt nicht im Sinne unserer sicherheitspolitischen Interessen. Und was noch viel schlimmer ist: Er setzt die Axt an, um die Wehrpflicht preiszugeben.
({2})
Das, meine sehr verehrten Herren und Damen, hat der
Europäische Gerichtshof sicher nicht gewollt und sollte
auch die F.D.P. nicht wollen, selbst wenn Stimmungsmacher in dieser Partei das immer wieder fordern.
Deshalb sollte eine eventuelle Änderung des Grundgesetzes erst nach reiflicher Überlegung, ausführlicher
Diskussion und vor allen Dingen basierend auf einem
breiten parteiübergreifenden Konsens erfolgen. Dazu laden wir Sie ein.
({3})
Zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Breuer das Wort. Wir
einigen uns noch einmal darauf, daß eine Kurzintervention drei Minuten dauern darf.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Sie können sicher sein, daß die
Kurzintervention kurz ist. Verehrte und geschätzte Frau
Kollegin Wohlleben, ich bin mit Ihnen der Meinung,
daß eine nicht sorgfältige und vorsichtige Abschätzung
im Hinblick auf den Wegfall des Art. 12 a Abs. 4 Satz 2
sicher nicht verantwortlich wäre. In diesem Punkt stimmen wir überein.
Ich würde Sie aber gerne im Rahmen dieser Kurzintervention auf einen anderen Punkt ansprechen. Wenn
Sie der Meinung sind, daß die Wehrstrukturkommission eine Antwort geben kann, möchte ich Sie fragen:
Warum hat Verteidigungsminister Scharping im Sommer dieses Jahres - ich beziehe mich noch einmal auf
die verehrte Frau Kollegin Brandt-Elsweier, die von
„Sommerloch“ und „Herbstmanöver“ gesprochen hat -,
völlig unabhängig von Bewertungen der Kommission,
gesagt: Ja, wir öffnen die Bundeswehr weiter für Frauen? Grundsätzlich stimme ich ihm zu. Ist es aber angesichts der Tatsache, daß kein Vertreter des Verteidigungsministeriums hier spricht, nicht so, daß das Ministerium überhaupt keine eigene Meinung mehr besitzt
und daß es alle Antworten von der Wehrstrukturkommission verlangt?
({0})
Es muß doch einen Grund gegeben haben, warum
sich der Verteidigungsminister öffentlich in dieser Form
geäußert hat. Ich gehe einmal davon aus, daß ein Minister, der sich öffentlich äußert - noch dazu im Sommer, wo es wahrgenommen wird -, genau weiß, wovon
er redet.
({1})
- Wenn Sie der Meinung sind, er wisse nicht, wovon er
redet, dann sagen Sie es. Das würde mich aber sehr
wundern.
Mich interessiert in dieser Debatte: Was hat den Minister eigentlich dazu veranlaßt, diese Äußerungen zu
machen? Warum tritt das Ministerium in dieser Debatte
nicht an und gibt seine Bewertungen im Hinblick auf die
Frage einer grundsätzlichen Öffnung der Bundeswehr
für Frauen ab - auf welchem Weg und unter welchen
Auflagen auch immer?
Ich bedanke mich.
({2})
Möchten Sie
antworten? - Bitte.
({0})
Sehr verehrter Herr
Kollege Breuer, der Tagesordnungspunkt weist aus, daß
es sich um die erste Lesung und damit um die Einbringung des Gesetzes handelt. Wir reden heute darüber. Bei
der anschließenden Beratung in den Ausschüssen haben
Sie die Möglichkeit, den Herrn Bundesminister zu fragen, was ihn im Sommer bewogen hat, die von Ihnen
vorgetragenen Äußerungen zu machen.
({0})
Ich rate Ihnen, das auch zu tun. Wir werden im Ausschuß gemeinsam seine Antwort hören. Dann wird das
Verteidigungsministerium - Herr Kolbow hat sich schon
angekündigt - seine Bewertung dazu abgeben.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Wohlleben, daß Sie eben in Ihrer Rede das Wort von der Sicherung der Wehrpflicht im Munde geführt und das Thema
Wehrgerechtigkeit angesprochen haben, ist sehr erstaunlich, zumal Sie mit Ihren haushaltspolitischen Entscheidungen und mit dem, was die Verkürzung der
Dienstzeit für Zivildienstleistende angeht, wirklich alles
tun, daß es in diesem Land um die Wehrgerechtigkeit
nicht gerade besser bestellt ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Männer und Frauen
sind nicht gleichberechtigt - jedenfalls nicht ganz; denn
Frauen dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten. So steht es in unserem Grundgesetz. Vor dem
Hintergrund der fürchterlichen Erfahrung des zweiten
Weltkrieges sahen die Väter und Mütter unseres
Grundgesetzes keinen Kulturgewinn darin, Frauen im
Verteidigungsfall den Einsatz mit der Waffe im Gefecht
aufzuzwingen. Deswegen besagt unser Grundgesetz, daß
Frauen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe herangezogen werden dürfen.
Die Verfassungsrechtler streiten sich im übrigen seit
über 30 Jahren, ob sich dies auch auf den freiwilligen
Dienst bezieht oder nur auf eine Dienstpflicht. Zunächst
ist richtig: Wir haben keine Wehrpflicht für Frauen, geschweige denn eine allgemeine Dienstpflicht. Ich sage
ganz deutlich: Ich bin dagegen, daß wir in Zukunft eine
solche bekommen.
({1})
Ich denke, daß in unserer Gesellschaft Frauen nach
wie vor die größeren Nachteile haben, im Beruf, durch
die Kindererziehung, durch den Haushalt - kurz: bei der
Vereinbarkeit von Familie und individueller Selbstbestimmung. Die Wehrpflicht ist da auch ein Stück Kompensation für diese Probleme. Im übrigen haben Frauen
auch keinen Nachholbedarf in Sachen Dienst an der
Gemeinschaft. Ich nenne nur die Stichworte freiwilliges
soziales Jahr und freiwilliges ökologisches Jahr. Hierbei
ist es in der Tat so, daß mehr Frauen wollen, als tatsächlich zum Einsatz kommen dürfen.
Die Argumentation, Frauen dürften keine Waffe tragen, weil es ihrer Natur oder ihrer Bestimmung widerspreche, ist, mit Verlaub, absoluter Quatsch.
({2})
Bei uns gehört der Dienst an der Waffe zum Alltag der
Polizistinnen und der Bundesgrenzschutzbeamtinnen.
Auch sind deutsche Frauen wohl mindestens im gleichen
Maß zum Dienst an der Waffe in der Armee geeignet
wie Frauen in Staaten, in denen es diese Möglichkeit bereits gibt. Der Blick ins Ausland - die vielen Länder
wurden bereits genannt - zeigt, daß Frauen in der Armee
gleichberechtigt Dienst leisten und dort ihren „Mann
stehen“.
Die Mehrheit der Deutschen - Frau Brandt-Elsweier
und die Kollegin Karwatzki haben die Umfrage von
Forsa bereits zitiert - ist dafür, daß Frauen in der Bundeswehr Dienst an der Waffe leisten dürfen. Ich betone:
75 Prozent der Frauen unter 30 Jahren sprechen sich für
die Möglichkeit des freiwilligen Dienstes aus.
Es ist an der Zeit, daß wir über den zivilen Tellerrand
hinaussehen und auch den engen Bereich des Sanitätsund Militärmusikdienstes aufbrechen. Es ist an der Zeit,
daß wir die Bundeswehr für Frauen ganz öffnen, auf
freiwilliger und gleichberechtigter Basis. Wenn Frauen
nicht die Möglichkeit haben, auf ihren Wunsch hin
Dienst an der Waffe zu leisten, verwehren wir ihnen
Chancengleichheit. Dies ist ein geschlechtsspezifisches
Berufsverbot. Entweder sind wir für Gleichberechtigung, oder wir sind es nicht. Wenn wir für Gleichberechtigung sind, heißt das, daß Frauen auch die Ausbildungs-, Berufs- und Karrierechancen in der Bundeswehr
nicht vorenthalten sein dürfen.
Deshalb darf ihnen auch der Dienst an der Waffe
nicht verboten sein. Ich will hier ganz deutlich sagen:
Gleiche Rechte bedeuten natürlich auch gleiche Pflichten in der Truppe. Dies betrifft auch den Kombattantenstatus. Natürlich hat die Bundeswehr einen Friedensauftrag, so daß die kämpfende Truppe hoffentlich die Ausnahme bleibt. Aber wenn wir für die konsequente Öffnung der Bundeswehr für Frauen plädieren, dann wird es
keine Tabubereiche geben dürfen.
({3})
Wenn Frauen sich freiwillig für den Beruf Soldat entscheiden, dann entscheiden sie sich in letzter Konsequenz auch für einen möglichen Einsatz mit der Waffe.
Dabei gebe ich zu bedenken, daß Frauen nicht in die
Situation kommen dürfen, bloße Lückenbüßerfunktionen
zu übernehmen. Ich betone nochmals: Gleiche Rechte
heißt gleiche Pflichten in der Truppe. Deswegen muß an
die Sache jetzt ganz ruhig herangegangen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der F.D.P., das will
ich Ihnen sagen: Ich wäre an Ihrer Stelle jetzt nicht so
forsch. Ich teile Ihre Intention. Irgendwann verlangt die
Wirklichkeit ihr Recht, und jetzt ist es an der Zeit, daß
Frauen Einzug in diese „Männerbastion“ erhalten. Ich
möchte aber deutlich darauf hinweisen, daß bei dem hier
eingebrachten Antrag auf Verfassungsänderung viele
Fragen offenbleiben und ganz neue Probleme verschiedenster Art aufgeworfen werden. Eine solche Grundgesetzänderung impliziert nämlich rechtliche Folgefragen. Diese müssen unserer Ansicht nach vorab zweifelsfrei geklärt sein. Das braucht Zeit.
Frau Lenke, wie wollen Sie, bitte schön, bis zum 1.
Januar die Voraussetzungen hierfür schaffen? Das fängt
an bei Struktur, Strategie und Psychologie, geht über
Organisation, Logistik und Baumaßnahmen bis hin zu
ganz lebensweltlichen Fragen wie Schwangerschaft,
Mutterschutz und Erziehungszeit. Vor einer Verfassungsänderung müssen alle Detail- und Folgefragen geklärt sein.
Mir ist zwar bewußt, daß Sie von der F.D.P. für die
„Muße“ - so wurde es genannt; man könnte auch sagen:
Schlafmützigkeit - von Minister Scharping in dieser
Frage nichts können. Er hat eine weitere Öffnung der
Bundeswehr für Frauen angekündigt, tut aber nichts.
Wir müssen uns schon fragen: Will er denn wirklich,
oder darf er etwa nicht?
Die Grünen haben heute gezeigt, daß sie eine klare
Haltung haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang
Ihre Kollegin Claudia Roth - schade, daß sie heute
nicht da ist - aus dem „Focus“ dieser Woche zitieren:
Eine Institution,
- gemeint ist die Bundeswehr die andersliebende Männer ausgrenzt, kann Frauen
sowieso keine Gleichberechtigung bieten.
Wenn Frau Roth zudem schreibt, den Konservativen
- gemeint sind wohl die Männer in meiner Fraktion -,
gehe es „in ihrem Chauvinismus“ nur um „Frauen im
kurzem Soldatenröckchen“, dann zeigt sie damit, mit
welcher Arroganz auch in den Reihen der Grünen von
Frauen gesprochen wird, die bereits heute in der Bundeswehr ihren Dienst leisten, zum Beispiel aktuell in
Osttimor. In Wahrheit geht es den Grünen nämlich nicht
um die Interessen von Frauen, sondern um die Abschaffung der Bundeswehr.
Ich trete dafür ein, den Frauen den vollen Zugang in
die Bundeswehr zu eröffnen. Allerdings bin ich mir
mittlerweile nicht mehr ganz so sicher, ob wir dafür tatsächlich eine Verfassungsänderung brauchen. Sie werden die Äußerungen von Professor Steiger in der „FAZ“
kennen, der Interpretationsspielräume des Grundgesetzes auslotet und den freiwilligen Dienst an der Waffe für
Frauen im Rahmen unseres Grundgesetzes keineswegs
für ausgeschlossen hält.
Wenn wir aber in großer parteiübergreifender Übereinstimmung den politischen Willen haben, Frauen den
Dienst an der Waffe künftig zu ermöglichen, dann sollten wir vorher in jeder Hinsicht für Rechtsklarheit sorgen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/1728 ({0}) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Monika
Balt, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Kein Bau einer Magnetschwebebahn Hamburg-Berlin - Transrapid-Förderung einstellen
- Drucksachen 14/38, 14/339 Berichterstattung:
Abgeordneter Albert Schmitz ({2})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die PDS soll
fünf Minuten erhalten. - Kein Widerspruch. Dann tun
wir das so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! Vor einem Jahr, am
19. November 1998, debattierten wir im Plenum des
Bundestages unseren Antrag zum Transrapid. Kollegin
Mertens schloß damals ihren Beitrag mit den wohlgesetzten Worten: „Mit dem Regierungswechsel“ unterliegt „die Frage … einer Magnetschwebebahn-Referenzstrecke … nun ganz allein der … Rationalität“. Exakt
dies war der Kern unseres Antrags. Wir haben damals
nochmals alle rationalen Gründe gegen den Einsatz des
Transrapids und die Konkretisierung der Strecke Hamburg-Berlin vorgetragen.
Kollege Schmidt meinte in der damaligen Debatte,
die Grünen hätten das in ihren Anträgen noch besser
gemacht. Doch die Entscheidung, wer überzeugender
argumentiert, sollten wir nicht Besserwessis überlassen,
sondern den Bürgerinitiativen vor Ort.
Kollege Brunnhuber hat mich in der damaligen Debatte gelobt - ich weiß, das könnte eine „tödliche Veranstaltung“ sein -, indem er gesagt hat:
Dennoch ist der Antrag interessant. Denn alle in
ihm enthaltenen Argumente sind solche, die hier
von der Fraktion der Grünen schon wortwörtlich
vorgetragen wurden.
({0})
Im PDS-Antrag wird nicht nur dieses Argument vorgetragen. Gefordert wird insbesondere die Aufhebung
des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes, die Aufhebung eines ausgesprochen raffinierten, von den damaligen Regierungsparteien eingebrachten Gesetzes, wonach
die Bundesregierung zum Bau der Strecke HamburgBerlin gesetzlich verpflichtet ist, die Aufhebung eines
Gesetzes, das bereits die Infragestellung des Bedarfs für
die Strecke Hamburg-Berlin im Rahmen der Planfeststellungsverfahren gesetzlich verbietet. Damit fordern wir
die Aufhebung eines Gesetzes, das wenig rational und
vor allem sehr undemokratisch war.
Nun ist die damals von Kollegin Mertens eingeklagte
Ratio noch weiter untergraben worden. Inzwischen hat
sich erwiesen, daß die im Koalitionsvertrag festgelegten
maximalen staatlichen Subventionen für diese Strecke
von 6,1 Milliarden DM bei weitem überschritten werden. Was tat das Tansrapid-Konsortium? Es entwickelte
flugs das Konzept einer eingleisigen Streckenführung.
Das an sich ist bereits ein Treppenwitz: Eine spurgebundene Verbindung zwischen den zwei größten deutschen Städten, auf der pro Jahr 15 Millionen Personen
hin und her katapultiert werden sollen, soll einspurig gestelzt daherkommen. Das ist eine hanebüchene Verkehrsplanung, die in krassem Widerspruch zum Eckpunktepapier steht, das damals zwischen dem Konsortium und der Bundesregierung vereinbart worden ist.
Was sagen nun die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen zu dieser gravierenden Veränderung?
Heute hat der Haushaltsausschuß in seiner Bereinigungssitzung zum Haushalt 2000 gegen unsere Stimmen
und mit den Stimmen aller anderen Fraktionen seine Zustimmung zum Transrapid auf dieser Strecke gegeben.
Verkehrsminister Klimmt wird wie folgt zitiert:
Aus technischer Sicht ist die eingleisige Variante
offenbar machbar.
Wir gestatten uns noch einmal einen Blick in das
Protokoll zur erstmaligen Beratung des Antrags vor einem Jahr. Damals hatte ich dem Kollegen Schmidt just
eine entsprechende Frage gestellt. Der geschätzte Kollege antwortete mir wie folgt:
Der Trichter, auf den jetzt die Magnetbahnplanungsgesellschaft und das Konsortium zu kommen
glauben, indem sie sagen, man könnte ja jetzt vielleicht … eingleisig bauen, um die Kosten zu senken, … funktioniert nicht. Denn das Eckpunktepapier
- so Kollege Schmidt - und das ist ja das Gute daran, daß das in dem
Koalitionsvertrag steht - gilt natürlich in allen Teilen, inklusive der ganzen Parameter … hinsichtlich
der Zweigleisigkeit.
Nun haben wir die Eingleisigkeit, die Verletzung der
„Parameter“ und des Eckpunktepapiers. Doch der
„Trichter“ funktioniert. Und SPD und Bündnisgrüne
werden vom Konsortium regelrecht vorgeführt.
Das ist nicht allein Sache der Parteien, die dafür von
den Wählerinnen und Wählern in Nordrhein-Westfalen
bei der nächsten Wahl zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Nein, es sind die Gelder der Steuerzahler,
die die Regierungsparteien hiermit ins „Casino Transrapido“ tragen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, in der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen zu unserem Antrag, über die wir abstimmen müssen, steht nicht nur, daß unser Antrag abgelehnt und Ja zum Transrapid gesagt werden soll. Dort
steht auch unter der Rubrik „Kosten“: Keine. Und das ist
die schlichte Unwahrheit. Das Beharren auf dem Magnetschwebebahnbedarfsgesetz und den Bau einer nunmehr eingleisigen Streckenführung zwischen Hamburg
und Berlin bedeutet allein für den Haushalt 2000 zusätzlich zu den bereits veranschlagten Ausgaben in Höhe
von 2,2 Milliarden DM die Bereitstellung von 1 Milliarde DM.
Wir fordern den Bundestag auf, das walten zu lassen,
was vor einem Jahr die Kollegin Mertens als Koalitionsmaxime ausgab: Ratio, also schlicht Vernunft.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Reinhard Weis.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen
Sie mich zu dem Antrag der PDS-Fraktion derart Stellung nehmen, daß ich vor dem Hintergrund dessen, was
in den letzten beiden Jahren verfahrenstechnisch abgelaufen ist, ein paar Sätze zur aktuellen Entwicklung der
Diskussion um den Transrapid sagen.
Vorausschicken möchte ich meine persönliche Sicht:
Die Magnetschwebebahn ist eine faszinierende technische Herausforderung. Das sage ich aus eigener Überzeugung; denn als Diplomingenieur, der ich auch Elektromaschinenbau studiert habe, kann ich die technische
Meisterleistung schon beurteilen. Ich glaube, daß jeder
von Ihnen, der einmal Gelegenheit hatte, mit dem Transrapid auf der Teststrecke zu fahren
({0})
- zu schweben, richtig! -, von der Technik fasziniert ist.
Ich stehe mit dieser Auffassung nicht allein da. Die
Koalition hat dem Transrapid eine so große Bedeutung
beigemessen, daß er Bestandteil der Koalitionsvereinbarung wurde. Diese Vereinbarung erkennt die hochentwickelte Technologie der Magnetschwebebahn an.
Die Realisierung des Projekts wird von der Bundesregierung gewünscht und gefordert.
({1})
Diese politische Willenserklärung ist eindeutig.
Ihnen ist aber auch bekannt, daß in der Koalitionsvereinbarung die Grenzen für dieses Engagement beschrieben werden. Maßstab für unsere Entscheidung ist das
Eckpunktepapier von 1997, auf das sich das Industriekonsortium, die Bahn AG und die damalige Bundesregierung verständigt haben. In diese Verpflichtung ihrer
Vorgänger ist die rotgrüne Bundesregierung eingetreten.
Dies war aus Gründen der Rechtssicherheit und Vertragstreue auch notwendig.
Das Eckpunktepapier regelt vor allen Dingen den Finanzierungsrahmen. Die Bundesregierung übernimmt
den Auftrag ihrer Vorgänger, das Projekt mit 6,1 Milliarden DM für den Bau der Trasse zu fördern. Eine solche Summe verpflichtet natürlich zur Sorgfalt und zum
Verantwortungsbewußtsein. Das gilt insbesondere für
die Investoren, die viele öffentliche Gelder ausgeben.
Nun gab es schon frühzeitig erste Signale, die davor
warnten, daß der ursprüngliche Kostenrahmen nicht
eingehalten werden kann. Heute wissen wir ziemlich
verbindlich: Die Schätzungen der Baukosten für die
zweispurige Trasse liegen bei rund 9 Milliarden DM,
das sind 3 Milliarden DM mehr als veranschlagt.
({2})
Die Bundesregierung hält ihre Zusage über 6,1 Milliarden DM unverändert aufrecht. Den Rest kann sie nicht
übernehmen, das wäre unverantwortlich. Sie alle kennen
die Grenzen unserer finanziellen Handlungsfähigkeit.
({3})
Nach dem Eckpunktepapier sind nun Bahn und Industrie am Zug. Sie haben über den Umgang mit den
Mehrkosten und über den Vorschlag des ehemaligen
Verkehrsministers Franz Müntefering aus der ersten Lesung des Haushalts 2000 zu einer denkbaren eingleisigen Streckenführung zu entscheiden. Diese Entscheidungen werden sie vor allem unter dem Blickwinkel der
Wirtschaftlichkeit zu fällen haben; schließlich macht
eine Referenzstrecke als Voraussetzung für die weltweite Vermarktung des Transrapid nur Sinn, wenn sie
Wirtschaftlichkeit nachweist.
Nun sagen die Sprecher von Wirtschaftsverbänden,
daß die Bundesregierung die vollen Kosten übernehmen
solle. Sie sagen, der Transrapid sei für den Standort
Deutschland so wichtig, daß er unter allen Umständen
gebaut werden müsse. Diesen Sprechern schlage ich vor:
Beteiligen Sie sich. Bilden Sie einen Finanzierungsfonds. Beweisen Sie, wie überzeugt Sie von der Produktreife und den Marktchancen des Transrapid sind.
An einem solchen Fonds könnten sich auch die Bundesländer beteiligen, die ein eigenes Interesse an der
Realisierung haben. Ein solches Engagement wäre nach
meiner Meinung ein eindrucksvoller Beweis dafür, auf
wie breiter Basis die Innovationsfreudigkeit in
Deutschland tatsächlich steht oder ob von vielen nur
Lippenbekenntnisse zu diesem Thema abgegeben werden; aber dies nur nebenbei.
Im Zusammenhang mit der Forderung nach Aufstokkung der Bundesmittel für den Transrapid möchte ich
mich ausdrücklich an die Kollegen der Opposition von
CDU/CSU und F.D.P. wenden. Aber das ist nur ein
Blick in die Vergangenheit; denn wir wissen, daß der
Kollege Wissmann im Amt des Verkehrsministers ausdrücklich ausgeschlagen hat, die Finanzierungsvereinbarung für den Transrapid zu unterschreiben. Im Sommer 1998 gab es schon Spekulationen und Informationen über steigende Trassenpreise. Wohlweislich hatte
Herr Wissmann, der besser informiert war als die Öffentlichkeit, die Finanzierungsvereinbarung nicht unterschrieben. Ihr Verkehrsminister war der Überzeugung,
daß der Transrapid ein gutes Produkt ist - dieser Meinung sind auch wir -, er hatte aber auch erkannt, daß der
Transrapid den öffentlichen Kassen nicht jeden Preis
wert sein darf. Da hatte er recht.
In diesen Tagen scheint Bewegung in die Diskussion
über den Transrapid zu kommen. Beim China-Besuch
des Bundeskanzlers konnte ein „letter of intent“ über
eine Machbarkeitsstudie für den Transrapid in China
unterschrieben werden. Auch das belegt das eingangs
erwähnte Interesse der Bundesregierung am Erfolg des
Transrapid.
Der Gedanke - wenn auch vage und noch nicht mit
Realisierungsaussichten belegt -, die Strecke HamburgBerlin nicht als Sonderlösung, sondern als Bestandteil
einer europäischen Hochgeschwindigkeitsstrecke zu
sehen, ist Beleg für die Suche nach einer weiteren Anwendung. Auf der Grundlage des aktuellen Interesses
aus dem Ausland scheint die Suche nach einer alternativen Referenzstrecke in Deutschland nicht sinnvoll.
Wir stehen im Wettbewerb mit einem japanischen
Projekt, und unser Vorsprung ist geschmolzen. Der
Transrapid muß, wenn die Betreiber ihn wollen und die
finanziellen Lücken geschlossen werden können, jetzt
auf die Spur gebracht werden. Alle anderen Ideen verschieben die Realisierung auf den Sankt-NimmerleinsTag. Das sage ich auch vor dem Hintergrund bekanntgewordener Ideen aus Süddeutschland. Anscheinend
sieht München einen so großen Bedarf auf der S-BahnStrecke München-Flughafen München, daß vielleicht
eine dritte S-Bahn-Linie zum Flughafen als Referenzstrecke für den Transrapid geeignet wäre.
Ich glaube aber, daß für ein neues Magnetschwebebahnbedarfsgesetz auf dieser Linie nicht einmal die
Mehrheiten aus der alten Legislaturperiode zustandekommen würden. Das ist aber nicht unser heutiges Thema, wir wollen und sollten uns mit dem Antrag der PDS
zur Einstellung des Projekts Magnetschwebebahn Hamburg-Berlin auseinandersetzen. Die Aufmerksamen unter Ihnen ahnen es längst: Die SPD-Bundestagsfraktion
lehnt den Antrag der PDS-Fraktion ab.
({4})
Ich fasse die Begründung noch einmal zusammen.
Erstens. Unsere Koalitionsvereinbarung regelt das Verfahren. Wir stehen zur Zeit noch mitten in diesem Verfahren. Jetzt müssen Industrie und Bahn AG entscheiden. Darauf brauchen wir wahrscheinlich nicht mehr
lange zu warten, denn die Partner des Eckpunktepapieres treffen sich noch in der Mitte dieses Monats.
Zweitens. Der PDS-Antrag nimmt die aktuellen Entwicklungen in der Transrapid-Diskussion nicht zur
Kenntnis. Das kann er auf Grund der Tatsache, daß er
vom 17. November 1998 datiert, auch nicht; das ist klar.
Diese Entwicklungen stellen die industriepolitische Verantwortung, die mit diesem Projekt und seinen Zukunftschancen verbunden ist, in den Vordergrund. Es ist
nicht verantwortbar, dies auszublenden.
Schlußendlich wurden von den Projektentwicklern,
der Bundesbahn und nicht zuletzt dem Bund bereits große Vorleistungen erbracht. Hier sind neben den eingesetzten Forschungsmitteln auch die seit Jahren laufenden
Genehmigungsverfahren zu nennen. Es gibt keinen
Grund, das mutwillig in den Sand zu setzen. Mehr ist
heute zu dem Thema Transrapid nicht zu sagen, zum
PDS-Antrag schon gar nicht. Ich habe deshalb meine
Redezeit nicht voll ausgenutzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Georg Brunnhuber.
({0})
Verehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Wolf, Sie haben recht: Ein Antrag zu dem Thema Magnetschwebebahn ist hier in dieser Form schon zum
wiederholten Male diskutiert worden: früher von den
Grünen,
({0})
heute von Ihnen. Aber dem Antrag der PDS wird das
gleiche Schicksal widerfahren wie seinen Vorgängern.
Er wird in diesem Deutschen Bundestag keine Mehrheit
finden.
({1})
Die Argumente im Antrag der PDS zielen auf die
Schwachstelle in der Regierungskoalition, nämlich auf
die Grünen.
({2})
Damit spiegelt sich das Dilemma dieser Koalition auch
im Transrapid wider.
Es stimmt zwar, Herr Weis, daß Sie sich im Koalitionsvertrag eindeutig auf den Bau der Magnetschwebebahn Transrapid geeinigt haben. Aber nachdem ich die
Ausführungen der Grünen dazu in den letzten Wochen und
Monaten verfolgt habe, stelle ich fest, daß diese Vereinbarung nicht das Papier wert ist, auf dem sie geschrieben
ist. Denn Sie fühlen sich an diese Vereinbarung nicht
Reinhard Weis ({3})
gebunden. Insofern bietet die heutige Debatte schon eine
gute Möglichkeit,
({4})
in diesem Hause nochmals zu verdeutlichen, warum der
Transrapid zwischen Hamburg und Berlin für den Industriestandort Deutschland so wichtig ist und welche
Vorteile der Transrapid gegenüber allen anderen Verkehrssystemen hat.
({5})
Als im Sommer dieses Jahres der frühere Verkehrsminister Müntefering mit der Idee an die Öffentlichkeit
getreten ist, den Transrapid zwischen Hamburg und
Berlin nur einspurig zu bauen, frohlockten die Gegner
bereits, weil sie glaubten, damit sei das Projekt gestorben.
({6})
Wer sich aber mit dem Thema schon länger befaßte, der
wußte schon zu diesem Zeitpunkt, daß eine Einspurigkeit vom Grundsatz her technisch möglich ist und der
Transrapid bei entsprechenden Taktzeiten von zirka 30
Minuten auch wirtschaftlich betrieben werden kann. Wir
hoffen, daß wir in den nächsten Tagen und Wochen das
Ergebnis der Überprüfung auf dem Tisch haben werden.
Herr Wolf, eines möchte ich zu diesem Punkt noch sagen: Eingleisigkeit des Schienennetzes ist nichts Neues;
denn auch die Hochgeschwindigkeitsstrecke des ICE ist
in Deutschland an vielen Stellen einspurig, ohne daß
sich das irgendwie negativ ausgewirkt hätte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir von der
CDU haben uns zunächst darüber geärgert und auch gewundert, daß die Regierung ausgerechnet bei diesem
modernen System darauf beharrt, daß die im Sommer
1996 vereinbarten Investitionskosten in Höhe von 6,1
Milliarden DM die absolut oberste Grenze sein müssen.
Zu dem Zeitpunkt, in dem wir hier diskutieren, wird von
dieser Regierung - ohne mit der Wimper zu zucken mitgeteilt, daß die ICE-Strecke von Köln nach Frankfurt
nochmals um 1,5 Milliarden DM teurer wird als vorgesehen
({7})
und in der Zwischenzeit Gesamtkosten von über 9 Milliarden DM anfallen. Wahrscheinlich werden es noch
mehr, vielleicht sogar 10 Milliarden DM.
({8})
Man kann eigentlich nicht mehr nachvollziehen, daß
diese Regierung hinsichtlich der Investitionskosten für
das modernste Verkehrssystem, das weltweit einmalig
ist, so wenig flexibel ist, aber gleichzeitig Mehrkosten in
Milliardenhöhe für ein konventionelles Schienensystem
mit einem Federstrich akzeptiert.
Doch wir wollen heute nicht nur lamentieren, sondern
sind schon froh, daß die Bundesregierung - Gott sei
Dank - im Grundsatz zu ihrer Verpflichtung steht und
wenigstens die 6,1 Milliarden DM bereitstellt. Wenn ich
unseren Haushaltsexperten, Herrn Austermann, richtig
verstanden habe, dann hat er ja wohl im Gespräch mit
Minister Klimmt im Haushaltsausschuß deutlich gemacht, daß die Vereinbarung im Eckpunktepapier Preisstand: 1996 - bedeutet, daß die Inflationsrate mit
dazugerechnet werden muß. Dann sind es noch einmal
rund 700 Millionen DM mehr; dann hätten wir 6,8/6,9
Milliarden DM zur Verfügung. Ich glaube, es ist ganz
wichtig, das heute hier festzuhalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch einmal auf ein paar Punkte aufmerksam machen, die verdeutlichen, wie toll diese Technik ist.
Erstens. Der Transrapid ist das sicherste und umweltfreundlichste Verkehrsmittel der Zukunft.
Zweitens. Der Transrapid ist mit bis zu 500 Kilometern in der Stunde Spitzengeschwindigkeit ein sehr
schnelles und damit äußerst attraktives Verkehrsmittel,
das in der Lage ist, Millionen Menschen zu befördern
und damit die Mobilität einer modernen Industriegesellschaft zu sichern.
Drittens. Die Magnetschwebebahn verfügt über berührungsfreie Trag-, Führungs-, Brems- und Antriebssysteme. Deshalb entfallen sämtliche Roll- und Motorengeräusche. Der Transrapid - das muß man sich einmal
vor Augen führen - ist bei einer Geschwindigkeit von
mehr als 400 Stundenkilometern leiser als ein ICE bei
160 Stundenkilometern.
({9})
Viertens. Der Energieverbrauch des Transrapids
liegt bei 400 Stundenkilometern in etwa bei dem Wert
eines ICE bei 280 bis 300 Stundenkilometern. Er verbraucht 30 Prozent weniger als ein Flugzeug auf der
gleichen Distanz.
Fünftens. Der Transrapid ist so umweltfreundlich,
daß allein auf der geplanten Strecke zwischen Hamburg
und Berlin gegenüber dem individuellen Verkehr jährlich 3 Millionen Liter Benzin bzw. 100 000 Tonnen CO2
eingespart werden.
({10})
Wenn die Grünen und Teile der SPD - Herr Weis,
Sie sind hier eine Ausnahme - ihre eigenen umweltpolitischen Zielvorstellungen ernst nehmen würden, dann
müßten sie allein aus diesen Gründen die glühendsten
Anhänger des Transrapids sein. Aber leider Gottes sind
die ideologischen Scheuklappen und die Technologiefeindlichkeit bei den Grünen und in Teilen der SPD größer als ihre Verantwortung für Umwelt und Natur.
({11})
Sechstens. Laut einer Intraplanstudie wird das Personenverkehrsaufkommen bis zum Jahre 2010 immens
ansteigen. Allein der Verkehr in Ost-West-Richtung
wird sich gemäß den Schätzungen des Bundesverkehrswegeplanes verdreißigfachen. Angesichts dieser Perspektiven wird die Verlagerung des Verkehrs auf emissionsärmere Verkehrsträger zur entscheidenden ökologischen Herausforderung. Deutschland hat mit der Magnetschnellbahn den Schlüssel zur Lösung dieser Probleme in der Hand.
({12})
Nicht umsonst ist die gesamte Welt an diesem technischen System interessiert. In den USA wird derzeit ein
Planungsauftrag zum Transrapid vergeben. Der Herr
Bundeskanzler hat nun in China selber erfahren, daß
man dort großes Interesse am Transrapid hat. Natürlich
ist die Strecke Peking-Schanghai noch nicht so ausgereift, daß man es als ernsthaftes Projekt ansehen könnte.
Aber ich finde, auch dies müßte jedem zu denken geben.
Ich habe den Eindruck, daß die einzigen Ignoranten auf
der ganzen Welt hier vor uns auf den Regierungsbänken
sitzen.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein wichtiger Hinweis - das spielt in dieser Koalition teilweise offensichtlich keine Rolle mehr -: Der Transrapid wird in
der Bauphase fast 18 000 Arbeitsplätze sichern und danach allein für den Betrieb 4 400 neue Arbeitsplätze
schaffen.
Der Transrapid ist im Vergleich zu den ICENeubaustrecken pro Kilometer wesentlich wirtschaftlicher als alles, was bisher gebaut wurde. Für die ICENeubaustrecke Köln-Rhein-Main müssen rund 47 Millionen DM pro Kilometer aufgewandt werden. Für die
Neu- und Ausbaustrecke Hannover-Berlin, die topographisch mit der Transrapidstrecke Hamburg-Berlin vergleichbar ist, sind rund 34 Millionen DM pro Kilometer
angefallen. Die Transrapidstrecke von Hamburg nach
Berlin kostet pro Kilometer, und zwar zweigleisig, nur
20 Millionen DM.
({14})
Damit ist dieses System in der Lage, die großen Verkehrsströme zwischen den Hauptstädten in Europa in der
Zukunft preisgünstiger zu bewältigen als jede noch so
moderne Schienenstrecke.
({15})
Nicht umsonst gibt es deshalb im Konsortium der Transrapid-Industrie Überlegungen, den Transrapid von
Hamburg über Berlin, Dresden und Prag bis nach Wien
und Budapest zu verlängern.
({16})
Natürlich ist das eine Vision. Aber diese Vision ist in
einer Machbarkeitsstudie fast schon greifbar. Es ist doch
geradezu phantastisch, wenn wir heute über das Angebot
eines Verkehrssystems diskutieren können, bei dem man
hier im Lehrter Bahnhof einsteigt und zwei Stunden
später in Wien im Westbahnhof aussteigt.
({17})
Ich finde es geradezu blamabel, daß Sie diese Position
nicht stärker unterstützen.
Meine Damen und Herren, wer in den Debatten ständig über CO2-Emissionen und das Ozonloch streitet, wer
das dauernd vor sich herträgt,
({18})
der sollte endlich auch den Mut haben, dem umweltfreundlichsten Verkehrssystem, nämlich dem Transrapid, freien Lauf und grünes Licht zu geben.
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Albert Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kollege Brunnhuber ist wie immer sehr
unterhaltsam. Vieles von dem, was er sagt, ist durchaus
bedenkenswert, und manches ist sogar richtig.
Richtig war zum Beispiel, daß Sie darauf hingewiesen haben, daß die ICE-Neubaustrecke von Frankfurt
nach Köln in der Tat teurer wird. Sie wird sogar noch
teurer, als Sie gesagt haben: Die Kostensteigerung beträgt 1,75 Milliarden DM. Leider stimmt es aber nicht,
wie Sie gesagt haben, daß der Bund einfach in die
Schatulle greift und das Geld nachschießt. Schön wäre
es! Wissen Sie, was Ihr Verkehrsminister damals mit
Heinz Dürr beschlossen hat? Er hat gesagt: Die Mehrkosten übernehmt ihr bei der DB AG. Genau das findet
jetzt auch statt. Die Bahn AG wird nun diese Mehrkosten tragen müssen. Genau dieses Risiko wollen wir
beim Transrapid vermeiden und der Bahn ersparen.
({0})
Es war in den letzten Tagen und Wochen sehr unterhaltsam, sogar direkt aufregend, überall in den Zeitungen vom Transrapid zu lesen: Transrapid nach Prag,
Transrapid nach Warschau, nach Budapest, nach Wien,
von Peking nach Schanghai. - Es fehlte noch Las Vegas-Amsterdam oder Bremen-Bremerhaven. Auch Australien war früher schon im Gespräch. Mir war schon
ganz schwindelig vor lauter Transrapid. Überall, wo
man hingeguckt hat, war der Transrapid schon da. Es
gab ein wahres propagandistisches Trommelfeuer, das
zeigt, wie groß im Moment der Bedarf an Stimmungsmache ist, um vielleicht doch noch eine Entscheidung
hinzubekommen, die natürlich in Ihrem Interesse wäre.
({1})
Ach, die Verbindung München Hauptbahnhof-München Flughafen habe ich ganz vergessen! Auch das ist
eine sehr interessante Idee. Man müßte zwar eine
Schneise durch Nordschwabing schlagen, aber ansonsten ist das eine sehr interessante Idee. Das sollte man
wirklich einmal prüfen. Ich wünsche jedem viel Vergnügen in der Auseinandersetzung mit den Tausenden
von Menschen, die dort ihre Wohnungen verlassen
müßten.
Aber es wird noch toller: Plötzlich war in den Zeitungen von einer Studie zu lesen: Einspurigkeit ist wirtschaftlich machbar! Begutachtet von einem gewissen
Herrn Professor Nich aus Berlin. ({2})
Die Studie ist nicht von der DB in Auftrag gegeben
worden; das kann ich Ihnen versichern. - Wer ist eigentlich Herr Professor Nich? Herr Professor Nich war
stellvertretender Leiter der Versuchsstrecke im Emsland
Mitte der 80er Jahre. Das heißt, er hat in großer Objektivität sich selbst begutachtet. Man kann sich ja vorstellen, was dabei herauskommt. Das war also nicht sehr
ernst zu nehmen. Nun ist ein neues Gutachten im Gespräch, zitiert von einem geschätzten SPD-Kollegen aus
Kassel.
({3})
Auch in diesem Gutachten steht angeblich - keiner hat
es bisher gelesen, aber die „Bild“-Zeitung hat es geschrieben -, eine einspurige Strecke sei wirtschaftlich. Man befördere fast ebenso viele Fahrgäste - und
dies dazu noch billiger als auf einer zweispurigen
Strecke. Gestern hat sich der Herr Jablonski von der
Magnetbahn-Planungsgesellschaft zu Wort gemeldet
und gesagt, dies sei ein Mißverständnis. Auf einer
einspurigen Strecke werde es nicht billiger, sondern teurer. Es ist auch merkwürdig, daß der halbe Fahrweg
plötzlich mehr kostet als der ganze. Dies sei aber einmal
dahingestellt.
Es stellt sich die weitere Frage, wie viele Fahrgäste
befördert werden sollen. Dies ist für mich das Hexeneinmaleins: Der Fahrweg wird teurer und halbiert; es
werden weniger Fahrgäste befördert, aber das Ganze
wird wirtschaftlicher. Auf diese Studie bin ich sehr gespannt. Aber vielleicht ist auch die Aussage hinsichtlich
der Fahrgastzahl ein Mißverständnis.
Ich lade Sie zu einem kleinen Experiment ein. Wenn
Sie heute abend nach Hause gehen, gehen Sie an Ihrem
Computer ins Internet. Rufen Sie die Webseite von
„www.bahn.de“ auf. Dort ist ein aktuelles Angebot der
Deutschen Bahn nachzulesen, nämlich „surf and rail“.
Es erscheint eine Karte, auf der verschiedene Städte
Deutschlands aufgelistet sind. Die schwach ausgelasteten Strecken der Deutschen Bahn AG können Sie dort
elektronisch buchen. Raten Sie, welche Sie unter den
schwach ausgelasteten Strecken der Bahn finden, die auf
dem elektronischen Wühltisch verhökert werden? - Die
Strecke Hamburg-Berlin, und zwar zum Preis von
75 DM. Wenn Sie die Bahncard besitzen, beträgt er sogar nur 70 DM. Soviel zur Auslastung der Strecke zwischen Hamburg und Berlin.
({4})
- Herr Brunnhuber, das erklärt doch schon alles.
({5})
Herr Brunnhuber, probieren Sie es heute abend im Internet aus und buchen Sie. Dann bekommen Sie diese Verbindung, Hin- und Rückfahrt, für 75 DM. Für die Fahrt
mit dem Transrapid müßten Sie über 200 DM bezahlen.
Das ist der Unterschied.
({6})
Hier war auch von der Koalitionsvereinbarung die
Rede. Eines möchte ich deutlich sagen: Ein Transrapid
ist ja kein Atomkraftwerk. Es handelt sich um eine Verkehrstechnik, nicht mehr und nicht weniger, noch dazu
um eine hochentwickelte, wie mehrfach richtig gesagt
wurde, und auch eine interessante. Für mich ist die
schlichte Frage nicht: Ist die Technologie gut oder
schlecht? Dies wäre eine ideologische Debatte. Die Frage ist - wie bei jeder anderen Verkehrstechnik auch -:
Rechnet sich dieses Projekt auf einer bestimmten Strekke? Weil wir dies zumindest in Zweifel gestellt sahen,
haben wir eine kluge und klare Verabredung im Koalitionsvertrag getroffen.
({7})
Darin steht: Als Grundlage für die Entscheidung über
die Realisierung des Projektes gilt das Eckpunktepapier vom April 1997 - nicht vom Sommer 1996, wie
Sie sagten, Herr Brunnhuber. Es ist festgehalten: zweispuriger Fahrweg, 6,1 Milliarden DM Kostendeckel und
dazu eine bestimmte Fahrgastprognose, die natürlich
nötig ist, damit das Ganze wirtschaftlich betrieben werden kann.
In diesem Eckpunktepapier sollten Sie auch Ziffer 10
nachlesen. Dort steht: Bei signifikanter Änderung der
Daten müssen sich die drei Projektbeteiligten, Bund,
Bahn und Industrie, zusammensetzen und in der Hauptsache neu entscheiden. - Genau dies wird geschehen.
Mitte November dieses Jahres wird dieses Zusammentreffen stattfinden. Dann wird man sich die Zahlen in
Ruhe ansehen.
Herr Kollege Wolf, ob Sie es glauben oder nicht: Ich
bin immer noch sehr gelassen, daß nach Analyse der
Zahlen, die dann auf dem Tisch liegen werden, von allen
drei Projektbeteiligten die richtige Entscheidung getroffen werden wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Albert Schmidt ({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der PDS
ist zwar schon ein Jahr alt, aber - man kann über ihn sagen, was man will - er bleibt wenigstens konsequent in
der Linie der Ablehnung. Insofern ist die PDS berechenbar,
({0})
was über den veritablen Eiertanz sowohl der Grünen als
auch der SPD nicht gesagt werden kann. Denn wie Sie
sich in den letzten Jahren zu diesem Thema geäußert haben, ist schon nicht mehr nachvollziehbar. Nur schadet
es dem Transrapid mehr, als es ihm nutzt.
({1})
Es ist schon interessant: Der überfliegende Kanzler Gerhard Schröder, der in Japan stolz verkündet, welch veritable Technologie der Transrapid darstellt,
({2})
um in China mit großem Stolz einen „letter of intent“ zu
unterschreiben,
({3})
sagt gleichzeitig: Über das Ganze zu entscheiden traue
ich mich nicht. Dies muß die beteiligte Industrie tun.
Herr Kollege Schmidt, auf einer Regionalkonferenz
in Kassel am 13. November dieses Jahres wird der
Kanzler mit dieser Aussage nicht durchkommen. Denn
es ist zu lesen, daß Thyssen, die Betriebsräte, Herrn
Schröder in Form von mehr als 10 000 Unterschriften
fragen wird, was er denn nun tatsächlich zum Transrapid
belastbar meint. Dann müssen Sie endlich mit Ihrem
Eiertanz aufhören.
({4})
Am Anfang hat Klaus Daubertshäuser ein Buch geschrieben, in dem er gefordert hat, daß der Transrapid
endlich umgesetzt wird. Die Verkehrsgruppe der SPD
hat dann erklärt: Wir möchten nur „ein bißchen Transrapid“, vielleicht auf der Strecke von Bremen nach Bremerhaven. Dann hat Herr Schröder gesagt: Tolle Technologie. Damals war er noch Ministerpräsident von Niedersachsen und hat gefordert, daß bis zur EXPO 2000
alles wunderbar sein müsse, insbesondere die Versuchsstrecke in Lathen. Auf dem Parteitag der SPD 1997
wurde der Transrapid überraschenderweise abgelehnt.
Zur großen Freude aller steht in der Koalitionsvereinbarung - dies ist ein glänzender Beweis dafür, daß der
grüne Koalitionspartner umgefallen ist -, daß der Transrapid auf der Strecke Hamburg-Berlin verwirklicht werden soll. Die Frau Staatssekretärin Ferner hat dies offensichtlich nicht gelesen; denn sie möchte zwar den Transrapid, aber nicht auf der Strecke Hamburg-Berlin. Dies
hat sie erst vor kurzem öffentlich erklärt. Wie denn nun?
Was soll dieses ganze Geeiere? Sie müssen bis zum Jahresende die Debatte um den Transrapid zum Abschluß
bringen. Die USA haben schon signalisiert, daß sie sich
wahrscheinlich nicht an der EXPO beteiligen werden.
Das wäre schlimm genug.
({5})
Wenn Sie jetzt nicht die Diskussionen über den Transrapid beenden, dann wird sich die Industrie aus der Finanzierung der Versuchsstrecke in Lathen zurückziehen.
Wenn bis zur Eröffnung der EXPO 2000 im Sommer
nächsten Jahres die vorgesehene Außenstelle des Transrapids, die Versuchstrecke in Lathen, durch Ihre Beschlüsse eingestellt sein sollte, dann gäbe die Bundesrepublik ein „glänzendes Zeugnis“ nach außen ab.
({6})
Was muß denn eigentlich noch passieren, damit Sie dieses unwürdige Schauspiel beenden?
Nun hat uns der ehemalige Verkehrsminister Franz
Müntefering, der nur für eine Interimszeit tätig war, zum
Abschied den Vorschlag der Einspurigkeit hinterlassen.
Jetzt kommt etwas ganz Interessantes: Offensichtlich ist
eine Einspurigkeit realisierbar. Sie wird auch innerhalb
des Kostenrahmens darstellbar sein. Ich bin gespannt,
welche Ausreden Sie sich dann wieder einfallen lassen.
Ich frage auch, wie sich der jetzt nicht mehr anwesende Bundesfinanzminister Hans Eichel entscheiden
wird. Er ist damals als Ministerpräsident von Hessen entgegen Ihren Vorstellungen - nicht Ihrer Aufforderung gefolgt und hat das Magnetschwebebahnplanungsgesetz abgelehnt. Er hat es dann aber doch über die Hürden gebracht, weil er an die Arbeitsplätze in Kassel gedacht hat. Nun hat er eine besondere Finanzverantwortung. Ich bin gespannt, wie sich der ehemalige Ministerpräsident des Landes Hessen in dieser Frage entscheiden
wird. Sie haben noch die große Chance, einen unwürdigen Eiertanz möglichst schnell zu beenden. Der Transrapid hat etwas Besseres verdient als das, was Sie planen.
Herr Kollege Wolf, ich bitte um Ihr Verständnis, aber
den Antrag Ihrer Fraktion müssen wir leider ablehnen.
({7})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion der PDS
zur Magnetschwebebahnstrecke Hamburg - Berlin und
zur Einstellung der Transrapid-Förderung. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/38 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
bei einer Enthaltung aus dem Kreis der Grünen angenommen worden.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/
CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
OSZE-Gipfel in Istanbul - für eine Stär-
kung der Handlungsfähigkeit der OSZE
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Neue europäische Sicherheitsarchitektur
- Drucksachen 14/1959, 14/1771 -
Die Kollegen Uta Zapf, Dr. Andreas Schockenhoff,
Rita Grießhaber, Walter Hirche, Wolfgang Gehrcke und
Staatsminister Dr. Ludger Volmer haben darum gebeten,
ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie
damit einverstanden? - Kein Widerspruch. Dann wird es
so gemacht.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bünd-
nis 90/Die Grünen und F.D.P. zu dem OSZE-Gipfel in
Istanbul, Drucksache 14/2063 Nr. 1. Der Ausschuß emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1959 in der Aus-
schußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS, angenommen
worden.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS
*) Anlage 8
zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur,
Drucksache 14/2063 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/1771 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hau-
ses im übrigen angenommen worden. Es gab keine Ent-
haltungen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulla Lötzer, Rolf Kutzmutz, Dr. Winfried Wolf,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Internationales Kartellrecht, Unternehmens-
fusionen und -konzentrationen
- Drucksachen 14/1403, 14/1824 -
Auch hier ist darum gebeten worden, die Reden der
Kollegen Dr. Uwe Jens, Hartmut Schauerte, Werner
Schulz, Gudrun Kopp und Ursula Lötzer sowie des Par-
lamentarischen Staatssekretärs Siegmar Mosdorf zu
Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. November 1999,
9 Uhr ein.
Diese Sitzung ist geschlossen. Allen Kolleginnen und
Kollegen wünsche ich eine gute Nacht.