Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/4/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet. Vor Eintritt in die Tagesordnung mache ich einige Mitteilungen: Der Abgeordnete Peter Jacoby hat am 19. Oktober 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Albrecht Feibel am 29. Oktober 1999 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich. ({0}) Sodann müssen einige Änderungen bei der Besetzung von Gremien vorgenommen werden. Die Fraktion der SPD teilt mit, daß der Kollege Dr. Christoph Zöpel aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes als stellvertretendes Mitglied ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Gert Weisskirchen ({1}) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Weisskirchen als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes bestimmt. Der Kollege Hans Martin Bury scheidet als Mitglied aus dem Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank aus. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger den Kollegen Dr. Ditmar Staffelt vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Dr. Staffelt als Mitglied im Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank entsandt. Die Fraktion der PDS teilt mit, daß der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel sein Amt als Schriftführer niedergelegt hat. Als Nachfolger wird der Kollege GustavAdolf Schur vorgeschlagen. ({2}) Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Schur als Schriftführer gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegen, zu erweitern: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Steuermehreinnahmen zu größeren Steuersenkungen für die Bürger nutzen ({3}) 2. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({4}): Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Änderungsgesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte - Drucksache 14/1958 3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung der Bundesregierung zu den jüngsten Kritiken hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des Bundes 4. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Klimaschutz durch ökologische Modernisierung und Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit - Drucksache 14/1956 Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 ({5}) - Drucksachen 14/1245, 14/1721 ({6}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({7}) - Drucksache 14/1977 Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch Wolfgang Lohmann ({8}) Dr. Dieter Thomae Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. und der Fraktion der PDS vor. Nach der Aussprache werden wir über den Gesetzentwurf und den Entschließungsantrag der F.D.P. namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. ({9}) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Gesundheit, Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den letzten Monaten ist fast nichts ungesagt geblieben, was man an polemischen Äußerungen zur Gesundheitspolitik machen kann. ({0}) Die Debatte ist in den letzten Wochen und Monaten immer stärker eskaliert. Ich möchte deshalb an alle appellieren, eine weitere Eskalation zu verhindern, da wir es hier mit einem sehr sensiblen Feld zu tun haben, auf dem die Menschen schnell zu verunsichern sind. Selbst wenn man der Auffassung ist, daß das, was wir vorschlagen, nicht richtig ist, kann man darüber auch kritisch debattieren, ohne die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Das sollte für uns alle das Gebot der Stunde sein. ({1}) Wir haben - das ist unbestritten - ein gutes Gesundheitssystem und eine gute Gesundheitsversorgung. Unsere Aufgabe ist es, sie immer wieder für die Zukunft zu stabilisieren und fit zu machen. Wir stehen vor großen Herausforderungen: Der demographische Wandel, der medizinische Fortschritt, aber auch eine andere Haltung der Menschen zum Gesundheitssystem verlangen von uns, daß wir Reformen durchführen. ({2}) Außerdem geht ein gewisser Druck davon aus, daß trotz aller Kostendämpfungsmaßnahmen, die in den letzten Jahren vorgenommen worden sind, die Beiträge immer wieder gestiegen sind. 1991 lag der durchschnittliche Beitragsatz der Krankenversicherung noch bei 12,2 Prozent; bis 1998 ist er auf 13,6 Prozent gestiegen. Insgesamt gesehen, kann man nicht davon sprechen, daß wir geordnete finanzielle Verhältnisse vorgefunden haben. ({3}) Die Situation in Ostdeutschland ist schon seit Jahren bekannt gewesen; das Problem der Verschuldung der Ostkassen ist in den letzten Jahren zumindest nicht weitreichend genug angegangen worden. ({4}) Mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz haben wir dafür gesorgt, daß wir 1999 ein ausgeglichenes Ergebnis haben werden - und das trotz der Ausgabenzuwächse im Arzneimittelbereich, der beschlossenen Leistungsverbesserungen und der Absenkung der Zuzahlungen. ({5}) Wir können jetzt zwar von einem ausgeglichenen Ergebnis ausgehen. Wenn wir die Zustimmung der Versicherten und Patienten zu diesem System auf Dauer erhalten wollen, dann kommen wir um Reformen nicht herum, die zwei Anforderungen miteinander vereinbaren, nämlich einerseits die Beitragsstabilität, das heißt die Kostenentwicklung, immer wieder im Blick zu behalten und andererseits eine Modernisierung der inneren Verhältnisse des Gesundheitswesens anzustreben. ({6}) Das ist der Grund, warum wir auf strukturelle Reformen setzen, die die Effizienz steigern und neue Versorgungsformen ermöglichen sollen. Ich bin mir sicher: Auch heute wird jemand - viele unserer Gegner haben das immer wieder getan - sagen, wir brauchen einen längeren Diskussionsprozeß. Auch was das Verfahren anlangt, werden Sie dieses Argument vermutlich wieder anbringen. Ich will nur noch einmal sagen: Wir haben hier ein fast einjähriges geordnetes Gesetzgebungsverfahren hinter uns. ({7}) Das heißt, es gibt überhaupt keine Veranlassung, so zu tun, als müsse man noch einmal von vorn anfangen. ({8}) Ich meine grundsätzlich, daß sich niemand auf das Terrain von formalen Einwänden begeben sollte, wenn es in Wirklichkeit um politische Differenzen geht. ({9}) Uns ist immer wieder, auch jetzt, vorgeworfen worden, wir würden nur Kostensenkung oder Kostendämpfung machen. Ich meine, daß dieser Vorwurf auf seine Urheber zurückfällt. ({10}) Denn in diesem Gesetz geht es wie bei noch keinem zuvor darum, inhaltliche Verbesserungen zu machen. Die Stichworte dazu sind: mehr Patientennähe, mehr Qualität, mehr Kooperation zwischen den Leistungserbringern. Das sind die Zukunftsthemen der Gesundheitspolitik. Wer mit uns darüber nicht redet, muß sich fragen lassen, warum er über diese inhaltlichen, strukturellen Veränderungen nicht spricht, sondern immer nur ausschließlich über die Frage: Was ist der gesamte finanzielle Rahmen für das Gesundheitssystem? ({11}) Deswegen will ich jetzt noch einmal die wichtigsten Punkte festhalten und Argumente dafür bringen, warum wir sie gemacht haben. Die mangelnde Kooperation zwischen ambulantem und stationärem Bereich wird seit langem beklagt - und zwar auch von denjenigen, die dort arbeiten, nicht nur von den Beobachtern des Systems und den Patientinnen und Patienten. Das wirkt kostentreibend und führt zu Präsident Wolfgang Thierse einer schlechteren Versorgung, wovon insbesondere auch chronisch Kranke zu berichten wissen. Das ist der Grund, warum wir sagen: Wir wollen die integrierte Versorgung, mit der wir in den letzten Jahren gute Erfahrung gemacht haben, zu einem Bestandteil der Regelversorgung machen. Wir wollen die Rolle des Hausarztes als Lotsen durch dieses immer komplexer werdende System stärken. Ferner haben wir ein weiteres Bündel von Maßnahmen zur besseren Verzahnung der beiden Bereiche vorgesehen. Ich meine, daß diese konkreten Vorschläge auch eine konkrete Debatte verdienen und nicht in dieser allgemeinen Aufgeregtheit untergehen sollten. Ich finde sie wirklich bemerkenswert. Wir haben dort ja Sachen aufgegriffen, die seit langem in der Debatte sind und seit langem gefordert werden. Deshalb frage ich die Opposition im Parlament heute: Unterstützen Sie das nicht? Wollen Sie nicht, daß wir neue Versorgungsformen einführen und möglich machen? Wollen Sie tatsächlich, daß in diesem Bereich alles beim alten bleibt, daß Patienten und Patientinnen hin und her geschoben werden und das Problem von Doppel- und Mehrfachuntersuchungen nicht angegangen wird? ({12}) Ein weiterer Punkt: mehr Qualität in der Versorgung durch die Orientierung an anerkannten Leitlinien und die Einführung verbindlicher Verfahren des Qualitätsmanagements. Auch hier hat das deutsche Gesundheitswesen erheblichen Nachholbedarf. ({13}) Aber: Nur eine qualitätsgesicherte Versorgung ist auch eine wirtschaftliche Versorgung. Alle reden gern über die verschiedenen ökonomischen Instrumente, die uns zur Steuerung im Gesundheitswesen zur Verfügung stehen. Dabei gerät aber meines Erachtens völlig aus dem Blick, welche große Bedeutung Qualitätssicherung auch als ein Steuerungsinstrument in der Gesundheitspolitik hat. Zu dieser besseren Steuerung gehört auch eine Verbesserung der Daten. Um das direkt vorwegzunehmen: Wir haben im Laufe der Beratung mit den Datenschützern aus Bund und Ländern eine Verständigung über die Veränderungen, die wir vornehmen, erreicht. Von Datenschützerseite wird die Auffassung vertreten, daß die Regelungen zum Patienten- und Datenschutz, die wir jetzt vereinbart haben, besser sind als das, was vorher galt. ({14}) Gleichwohl bieten sie uns verbesserte Datentransparenz, die wir brauchen, wenn wir wissen wollen, was im Gesundheitswesen los ist. ({15}) Auch die größere Patientenorientierung ist im deutschen Gesundheitswesen seit langem überfällig. In der Praxis ist das paternalistische Verhältnis zwischen Arzt und Patient ohnehin Vergangenheit. Die Menschen engagieren sich für ihre Gesundheit. Sie wollen einbezogen werden. Sie wollen informiert werden. Sie wollen wissen, was warum geschieht. Dem, was sich in der Praxis vollzieht, müssen die Strukturen des Gesundheitswesens Rechnung tragen. Dazu gehört auch, daß wir der Eigenverantwortung der Gesundheitspolitik eine andere Rolle zuweisen. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir die Prävention und die Gesundheitsförderung in diesem Gesetz gestärkt haben. ({16}) Wir wollen mit diesem Gesetz dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ zum Durchbruch verhelfen. Zudem wollen wir die Kosten für den Klinikbereich begrenzen. Die Maßnahmen dazu sind: Änderungen bei der Krankenhausplanung und Einführung eines neuen Preissystems im Krankenhausbereich sowie eines Stufenplans für eine monistische Krankenhausfinanzierung. Letzteres ist einer der umstrittensten Punkte. Ich habe in diesem Zusammenhang mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß der Bundesrat mit sehr großer Mehrheit beschlossen hat, daß das Verfahren der monistischen Finanzierung, wie es in unserem Gesetzentwurf vorgesehen ist, auch auf die Hochschulkliniken anzuwenden ist. Offenkundig ist die Skepsis gegenüber der Monistik doch nicht ganz so groß, wie es manche öffentliche Debatte erscheinen ließ. In diesem Sinne bin ich wirklich sehr gespannt auf die Diskussion mit den Ländern über diesen Bereich. In dieser ganzen Debatte gerät die geplante Veränderung des Preissystems häufig aus dem Blick. Ich halte das für einen Fehler, weil ich glaube, daß wir in diesem Punkt an der richtigen Stelle ansetzen, um die Wirtschaftlichkeit der Krankenhäuser zu fördern. Wir haben auch in den Diskussionen gemerkt, daß die Krankenhausseite diesen Teil durchaus begrüßt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es im Sinne der CDU-Opposition hier im Haus und der CDU-geführten Länder ist, die Krankenhausentwicklung nicht zu steuern und der zunehmenden Verschiebung der Kosten hin in den Krankenhausbereich der letzten Jahre einfach zuzusehen. Ich denke, daß es gute Gründe gibt, gemeinsam nach einem Weg zu suchen. ({17}) Ein Thema, das in den letzten Wochen eine eigene Dynamik entwickelt hat, betrifft die Sozialmauer zwischen Ost und West im Gesundheitsbereich. In den letzten Jahren ist zum Abbau dieser Mauer zu wenig getan worden. Wir als neue Bundesregierung haben mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz schon einen wichtigen Schritt getan. In den letzten Monaten hat sich die Problematik noch einmal deutlich verschärft. Die Schulden der betroffenen Kassen sind weiter gestiegen, und gleichzeitig hat es deutliche Mitgliederwanderungen gegeben, die bei ihnen noch einmal zu einer Verschlechterung der Mitgliederstruktur und damit der Finanzsituation geführt haben. Wir haben seit Monaten in einer Vielzahl von Gesprächen - es handelt sich hier um einen langen Prozeß - nach einer einvernehmlichen Lösung gesucht. ({18}) Dabei hat sich gezeigt, daß die sehr unterschiedlichen Interessen der Beteiligten einer Lösung nicht ganz zuträglich waren. Ich weiß, daß der Vorschlag, den wir jetzt gemacht haben, umstritten ist. Aber ich vertrete ihn mit voller Überzeugung. Wir haben für die kurzfristig unerläßliche Entschuldung Bedingungen gestellt, die dazu führen, daß wirklich nur die Kassen, die nicht auf Grund eigenen Versagens, sondern auf Grund der Besonderheiten Ostdeutschlands in den zehn Jahren seit der Vereinigung Schulden aufgehäuft haben, in den Genuß der Entschuldung kommen - und dies auch nur teilweise - und das System immer noch dazu verpflichtet ist, sich intern auszuhelfen. Wir haben außerdem dafür gesorgt, daß diese Mittel wirklich nur zur Entlastung bei den Altschulden herangezogen werden und nicht dazu verwendet werden dürfen, sich damit ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Ich halte das Vorgehen unter diesen Bedingungen für vertretbar. Wir haben darüber hinaus dieses kurzfristige Programm mit einer langfristigen Perspektive verknüpft. Ich finde, daß die Beschwerden aus Ostdeutschland berechtigt sind, daß es nach 10 Jahren deutscher Einheit wirklich höchste Zeit ist, zu einer Angleichung der Regelkreise zu kommen. Wir haben deswegen die Schritte dorthin aufgezeigt. Wir wissen, daß das ein schwieriger Prozeß ist, aber ich glaube, daß wir alle miteinander gute Gründe haben, diesen Prozeß endlich anzugehen. ({19}) Eines möchte ich hier ganz deutlich sagen: Ich weise entschieden den Vorwurf zurück, es handele sich hier um irgendeine Art von Trick, mit dem wir Zustimmung erkaufen oder gar erpressen wollten. ({20}) Wir haben das in die laufende Gesetzgebung einbezogen, weil die Zeit für die betroffenen ostdeutschen Kassen wirklich drängt. ({21}) Sie sind hier gefordert. Sie müssen sich der Frage stellen, ob Sie wirklich zuschauen wollen, wie in Ostdeutschland einige Kassen in den Ruin getrieben werden. Das wird weitreichende Folgen haben, weit über die betroffenen Kassen hinaus, auch für das Vertrauen der Menschen in unser Sozialversicherungssystem. Deswegen sage ich noch einmal: Ich finde, auch Sie haben eine Verpflichtung als Opposition, daß wir hier einen gemeinsamen Weg finden. Ich meine, daß es keine Veranlassung gibt, diese Frage in die polemische Auseinandersetzung so einzubeziehen, wie Sie es tun. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thomae?

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Nein, ich würde gerne fortfahren. ({0}) In den vergangenen Monaten wurde kein Bestandteil des Gesetzes so engagiert diskutiert wie die Maßgabe, daß Beitragssatzstabilität auch in Zukunft das Maß der Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung bilden soll. Mich hat gestern jemand gefragt, wer eigentlich das Gebot der Beitragssatzstabilität erfunden habe. Das ist eine gute Frage, auf die es eine einfache Antwort gibt: Es sind die Versicherten, die der Meinung sind, daß ihre Belastung mit den Sozialversicherungsbeiträgen in den vergangenen Jahren ein Maß erreicht hat, das sie überstrapaziert hat und überfordert hat. Ganz zu schweigen von den sonstigen Auswirkungen. Ich will uns aber alle ökonomischen Diskurse über die Bedeutung der Lohnnebenkosten für die Arbeitsmarktentwicklung ersparen. Ich meine, daß Beitragssatzstabilität ein wichtiges Gebot ist, bei dem wir darauf achten müssen, daß wir diese starke Forderung der Mitglieder dieses Sozialsystems auch erfüllen. ({1}) Deswegen bin ich der Auffassung, daß die Debatten, die wir darüber in den letzten Monaten zu führen hatten, häufig wirklich an dem Problem vorbeigingen und auch an der politischen Aufgabe vorbeigingen, daß man solidarische Systeme nicht überstrapazieren darf, weil einem sonst die Menschen einfach die Gefolgschaft aufkündigen. Wir erleben es jetzt schon, daß zum Wechseltermin bei den Krankenkassen eine wachsende Anzahl der jungen Gesunden sich die billigsten Kassen sucht. Es handelt sich dabei um so etwas wie eine Abstimmung mit den Füßen. ({2}) Wenn wir das vermeiden wollen, müssen wir die Beitragssatzstabilität für das gesamte System zu einem wichtigen Leitpunkt für die Gesundheitspolitik machen. ({3}) Ich habe von der Union immer gehört, daß sie das im Grund auch nicht in Frage stellen will. ({4}) Aber so richtig hat sich mir das alles noch nicht erschlossen. ({5}) Ich kann bisher nur erkennen, daß man gegen unsere Vorschläge zur Steigerung von Qualität und Effizienz ist. Dagegen zu sein ist ja nicht so schwer, aber selbst meine aufmerksame Lektüre aller einschlägigen Reden und Vorschläge hat meine Verwirrung eher gesteigert, als daß sie zur Klarheit geführt hat. Einmal ist da die Rede von 20 DM pro Arztbesuch. ({6}) Dann wird eine Erhöhung von Zuzahlungen allgemein ins Spiel gebracht. Dann geht es darum, einen Selbstbehalt von 300 DM pro Versichertem oder auch Wahltarife für angebliche zusätzliche Leistungen einzuführen, worunter sogar Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation fallen. Wenn ich die vielen Vorschläge, die ich gelesen und gehört habe, richtig verstehe, ({7}) läuft alles darauf hinaus, daß von seiten der Union die Beitragssatzstabilität dadurch gesichert werden soll, daß zu Lasten von Versicherten und Patienten mehr Geld ins System kommt. Dies ist Voraussetzung. ({8}) Das Argument dafür, daß man mehr Geld braucht, lautet: Das, was wir haben, reicht nicht aus, und auch die vorgesehenen Steigerungen sind nicht ausreichend. Nach Maßgabe des Gesetzentwurfes, der heute hier zur Debatte und Abstimmung steht, würde eine Steigerung der Grundlohnsumme um 2 Prozent bedeuten, daß im kommenden Jahr 5 Milliarden DM mehr ins System fließen. Jetzt stellt sich die Frage: Reicht das nicht? Was braucht man mehr? Sie sagen, wir könnten die Zuzahlungsabsenkung vom letzten Jahr zurücknehmen. Dies würde 1 Milliarde DM bringen. Reicht das dann, um den medizinischen Fortschritt zu finanzieren? Oder meinen Sie, es muß eine erheblich größere Summe sein? Dann müßten Sie schon richtig zulangen. Jetzt haben wir Zuzahlungen der Patienten für diverse Leistungen in Höhe von rund 12 Milliarden DM. Wenn Sie mehr Geld in einer nennenswerten Größenordnung in das System fließen lassen wollen, müssen Sie vermutlich die bestehenden Zuzahlungen verdoppeln. Sie müßten schon sagen, um welche Größenordnung und um welche Mittel es Ihnen geht. Dann sollten Sie darüber die Auseinandersetzung mit Patientinnen, Patienten und Versicherten suchen. Teil des Problems der Union 1998 war auch - wenn ich die Debatte richtig verfolgt habe -, daß die Menschen den Eindruck hatten, ihre Belastung durch Zuzahlungen sei definitiv an eine Grenze gekommen. ({9}) Ich glaube, daß man dem Problem nicht ausweichen kann, indem man irgendeine neue Geldquelle auftut. Man muß sich wirklich den strukturellen Reformen stellen und sehen, was man innerhalb dieses Systems ändern muß. Ich finde, deswegen sind Sie in der Pflicht, sich mit den strukturellen Vorschlägen stärker auseinanderzusetzen, als das bislang geschehen ist. ({10}) Es ist völlig klar, daß in einem solidarischen Versicherungssystem nicht alles, was man sich vorstellt, finanziert werden kann, sondern eben - das ist eine schon lange bestehende Regel - nur das, was notwendig und zweckmäßig ist. Die Entscheidung darüber ist nicht einfach. Sie mußte immer schon getroffen werden und wird auch in Zukunft zu treffen sein. Die Mittel werden immer begrenzt sein. Das ist völlig klar. Deswegen müssen auch wir als Politiker uns dazu bekennen, daß dieses System Grenzen bezüglich dessen hat, was es finanzieren kann. Aber - das ist der Punkt, wo ich behaupte, daß meine Gegner eine bewußte polemische Zuspitzung vornehmen, die mit der Sache nichts zu tun hat ({11}) diese Erklärung hat mit Rationierung nichts zu tun. ({12}) Denn Rationierung würde bedeuten, daß den Menschen das Notwendige vorenthalten wird. Das wird und soll es nicht geben. Deswegen machen wir genau diese Reform. ({13}) Für die schwierige Entscheidung darüber, welche Kosten die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt und welche nicht, brauchen wir rationale Kriterien, die sich an der medizinischen Notwendigkeit orientieren. Deswegen schreiben wir in dieses Gesetz Maßnahmen zur Qualitätssicherung. Diese, eine unabhängige Technologiebewertung und auch die Positivliste sollen genau dazu dienen. Auch im Wissen darum, wie schwierig diese Entscheidung ist - übrigens auch als Konsequenz aus einer Debatte, die in den letzten Monaten geführt wurde, in deren Rahmen viele Behauptungen in die Welt gesetzt wurden -, erscheint es uns sinnvoll, daß wir den Sachverständigenrat mit einem regelmäßigen Bericht zum notwendigen Bedarf und den finanziellen Mitteln beauftragen. Vielleicht können wir dann eine gemeinsame Gesprächsgrundlage darüber, was in unserem System notwendig ist, finden und diese Debatte mehr auf den Punkt bringen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Fischer, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Thomae? ({0})

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Nein, ich möchte immer noch meine Ausführungen zu Ende bringen. Wer der Meinung ist, daß das, was wir hier in diesem Gesetzentwurf vorgelegt haben, so nicht richtig ist, der muß wirklich Alternativen auf den Tisch legen. Wir diskutieren jetzt seit fast einem Jahr über den Gesetzentwurf und haben von Ihnen keine wirklichen Alternativen gehört. ({0}) Wir wissen ganz genau, daß wir für diesen Gesetzentwurf die Zustimmung der Länder brauchen. Ich werbe für diese Zustimmung, weil ich glaube, daß dieser Gesetzentwurf sie verdient hat. Verständigung zwischen Bund und Ländern setzt Kompromiß- und Veränderungsbereitschaft voraus. Ich glaube, daß wir das immer deutlich gemacht haben. Die Union muß sich entscheiden. Wenn Sie Ihre Behauptung ernst meinen, daß eine Blockadepolitik das Schlechteste ist, was diesem Land passieren kann, dann blockieren Sie diesen Gesetzentwurf nicht einfach nur, sondern diskutieren Sie mit uns über Veränderungen! ({1}) - Trotz der Art und Weise, wie Sie mich hier anbrüllen, ({2}) werde ich mich nicht davon abbringen lassen, Sie zu einem Gespräch über mögliche Gemeinsamkeiten einzuladen. Ich lade für den kommenden Donnerstag die Oppositionsfraktion der CDU/CSU, die B-Länder und die A-Länder zu einem Gespräch bei mir ein. Zusammen mit den Koalitionsfraktionen können wir über Ihre Änderungsvorschläge reden. ({3}) - Herr Zöller, wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der in einem ausführlichen Beratungsverfahren - das ist die Geschäftsgrundlage für Gespräche - zustande gekommen ist. Ohne ein solches Beratungsverfahren würden Sie uns wahrscheinlich den Vorwurf machen - da bin ich sicher -, wir wüßten nicht, was wir wollten. Von daher glaube ich, daß wir über den dann verabschiedeten Gesetzentwurf miteinander reden können. ({4}) Meines Erachtens können wir aber nicht so tun, als könnten wir jetzt „zurück auf Los“. Die Lage duldet keinen Aufschub. Wenn wir die Dinge jetzt auf die lange Bank schieben, ({5}) dann ergeben sich zwei, wie ich finde, durchaus unerquickliche Alternativen, die ich deutlich machen will: Die eine Alternative wäre eine unkontrollierte Ausgabenentwicklung. Diese Befürchtung hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme geäußert, weswegen er diese Alternative nicht will. ({6}) Wir hätten Defizite und Beitragssatzerhöhungen. Das kann keiner wollen. Die andere Alternative wäre, daß wir zu neuen Zwischenlösungen gezwungen wären. Ich glaube, auch das ist keine gute Alternative. Beide Alternativen wären keine Lösung der vor uns stehenden Probleme. Gerade vor dem Hintergrund, mit welcher Emphase Sie in den letzten Monaten die Auffassung vertreten haben, daß die Menschen ein anderes Gesundheitswesen verdient haben, haben Sie wirklich die Verantwortung, Ihre Position und unsere Position zu einer gemeinsamen zu machen und die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs nicht einfach zu blockieren. ({7}) Die Menschen sind durch die Debatten in den letzten Monaten gründlich verunsichert. Sowohl die Patientinnen und Patienten als auch die im Gesundheitswesen Beschäftigten haben es verdient, daß wir zu einem gemeinsamen Weg finden und aus dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf, den der Bundestag heute mit Mehrheit verabschieden wird, eine erfolgreiche Reform machen. Wir befinden uns in einem demokratischen Vorgang. - Ich wundere mich darüber, welche Aufregung er bei Ihnen hervorruft. - Das zu akzeptieren ist die Grundlage für gemeinsame Gespräche. Sie sollten Ihrer Verantwortung gerecht werden! Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Lohmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie merken: Ich bin verschnupft. ({0}) Deswegen komme ich auch gleich auf das Verfahren zu sprechen. Frau Ministerin, Sie hielten es gerade für richtig, den Ablauf dieser sogenannten Gesundheitsreform als ein geordnetes Verfahren zu bezeichnen. ({1}) Wenn Sie das behaupten, muß ich sagen, dann wissen Sie nicht mehr, was überhaupt in dem Gesetz steht. ({2}) Darauf, was uns hier zugemutet wird, komme ich noch zu sprechen. Vorweg nur noch eines: Verbesserung der Patientenrechte. Na, bravo! Großartig! Daß man den Patienten künftig Leistungen vorenthält, an die sie gewöhnt waren, das sind die Verbesserungen der Patientenrechte. - Aber ich will, weil ich auch Berichterstatter bin, in der Chronologie bleiben. Meine Damen und Herren, Ihre löblichen Zielvorstellungen, die Überschriften haben wir heute wieder gehört. Aber man kann sagen: Durch die Änderungsanträge ist außer diesen Zielvorstellungen und Überschriften nichts in diesem Gesetzentwurf unverändert geblieben. ({3}) Dabei müssen wir einmal auf das sogenannte Solidaritätsstärkungs- oder Vorschaltgesetz zurückblenden, Herr Dreßler. Damals hieß es, dies sei dringend notwendig, um die ständigen Beitragssatzsteigerungen zu vermeiden und um die Ruhe zu gewinnen, eine wirkliche Gesundheitsreform zu konzipieren und zu entwickeln. Bei dieser Gelegenheit haben Sie, Frau Schaich-Walch, und andere sich - nicht nur privat, sondern auch öffentlich; deshalb sage ich es hier auch - bei uns bedankt und sich teilweise wegen dieses weiß Gott chaotischen Verfahrens sogar entschuldigt. - Sie nicken. Ich danke Ihnen dafür. Ich wäre danach jede Wette eingegangen, daß Sie etwas auch nur annähernd Ähnliches nicht wieder tun würden. Aber weit gefehlt, meine Damen und Herren. Wir lasen im ersten Halbjahr dieses Jahres in den Zeitungen zunächst von Streit in der Koalition: Dreßler gegen Fischer; der Kanzler unterstützt wiederum Frau Fischer. Er hat mit Sicherheit diesen späteren Entwurf nicht gelesen; aber hierbei geht es ja auch um andere Dinge. Dann hörte man, es liege nunmehr ein Referentenentwurf vor. Aber dieser durfte bei der Veröffentlichung nur „Arbeitsentwurf“ genannt werden, weil die SPD - und vor allen Dingen Herr Dreßler - noch erhebliche Bedenken hatte. ({4}) Schließlich fand am 30. Juni die erste Lesung hier im Hause statt, und ab 8. September dieses Jahres wurde der Gesetzentwurf beraten. Eine Anhörung mußte stattfinden. An vier Tagen, und zwar am 9. und 10. September und am 21. und 22. September, fand diese statt. Natürlich können die Protokolle nicht fertig sein. Uns wurde zugesagt, wir würden die Protokolle über diese viertägige Anhörung am 18. Oktober erhalten. Nichts geschah. Inzwischen liegen die Protokolle von zwei Tagen bzw. seit gestern von drei Tagen vor, nicht aber vom vierten Tag. ({5}) Aber das ist noch längst nicht alles. - Ich lasse jetzt einige Zwischenstationen weg. - Nachdem Sie uns bis einschließlich gestern mit insgesamt 345 Seiten Änderungsanträgen - ({6}) - Insgesamt 345 Seiten Änderungsanträge, ({7}) davon alleine rund 60 Seiten am letzten Beratungstag, an dem die Entscheidung fallen sollte. Was daran seriös sein soll, kann ich beim besten Willen nicht erkennen. ({8}) Nun haben Sie ja in letzter Minute, in einer Sondersitzung am 29. des vergangenen Monats, noch erkannt, daß die Frage der Ostkassen, vor allem die der AOK, dringend einer Lösung bedarf. ({9}) Wir haben monatelang auf eine Vorlage in Form eines eigenen Gesetzes gewartet. Wir haben es bedauert, daß Sie als eine der ersten Amtshandlungen den Auftrag, den der Sachverständigenrat vom früheren Gesundheitsminister Seehofer bekommen hatte, nämlich genau zu dieser Frage Stellung zu nehmen und eine seriöse Beratungsgrundlage zu erarbeiten, zurückgenommen haben. - Als erste Amtshandlung haben Sie übrigens den Sachverständigenrat entlassen. - Und nun wird, wie Sie sagen, in monatelanger Diskussion - ich füge hinzu: hinter verschlossenen Türen -, mit wem auch immer, darüber gesprochen, und dann kommt, wie gesagt, in der Sondersitzung eine Vorlage, die dringend der Anknüpfung an dieses Gesetz bedarf. ({10}) Ich gehöre zu denjenigen - Sie werden das bestätigen -, die bisher immer gesagt haben: Ich spekuliere nicht, was der Hintergrund dessen ist, obwohl es in allen Zeitungen stand. Aber wenn Sie jetzt die Stirn haben, zu behaupten, daß das Ganze nichts mit dem Versuch zu tun hat, die Ostländer zur Zustimmung zu bewegen ({11}) - nein, im Moment nicht, Dieter Thomae; ich weiß schon, was ich sagen möchte -, ({12}) dann muß ich - leider - Sie selber unmittelbar ins Visier nehmen. Mir liegt ein Aktenvermerk vor, in dem es heißt: Das Entschuldungsprogramm sollte allerdings nicht, wie von Ihnen - vom Ministerium - intendiert, in einem speziellen Gesetz, Finanzhilfegesetz, geregelt werden. - Dieser Meinung waren wir auch. - Es drängt sich angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat vielmehr geradezu auf, diese Materie in der Gesundheitsreform 2000 zu behandeln, um den Bundesländern Thüringen und Sachsen Sachgründe an die Hand zu geben, dem Gesamtpaket zuzustimmen. ({13}) Soviel dazu. Ich möchte daraus nicht weiter zitieren. Ich möchte nur auf die heutigen Überschriften „Metamorphose einer Gesundheitsreform“, „Die Frau mit den leeren Händen“ aus der „Süddeutschen Zeitung“ sowie „Fischers Gesundheitsreform ist nicht zu retten“, „Gesundheitsreform vor dem Aus“ und „Auch Ersatzkassen fordern Neuanfang“ hinweisen. Nein, Ihr Beratungsverfahren war nicht seriös. Ein Letztes zu der gestrigen Sitzung: Wir haben den Antrag gestellt, das Problem mit den Ostkassen abzutrennen und möglichst - wenn Sie es wollen - sofort wieder in einem eigenen Gesetz einzubringen, über das wir reden können. Dies haben Sie abgelehnt. Nachdem die Anhörung über die Änderungsanträge - 345 Seiten umfassend - endlich beendet war, haben wir gefragt: Wie soll jetzt seriös weiterberaten werden? Kein Mensch - auch Sie nicht - blickt noch durch, was mit dem Gesetz im einzelnen geschehen soll. Auf unsere Frage hin wurde uns von Herrn Dreßler gestern gnädigerweise zugestanden, man könne ja noch zwei Stunden darüber reden. Nachdem wir bereits zig Stunden ({14}) - zwei Stunden - beraten hatten, sollte noch weiter über den Gesetzentwurf geredet werden, um dann erklären zu können: Sieh doch, Öffentlichkeit! Wir haben doch seriös beraten. - Aber wir wären in zwei Stunden möglicherweise erst bis Antrag C gekommen; denn die Zeit war kurz, weil bis gestern 24.00 Uhr die Beschlußvorlage des Ausschusses in den Fächern sein mußte. Wenn man dies nicht geschafft hätte, dann wäre der Zeitplan zum Teufel gewesen. Nein, dies war keine seriöse Beratung. Nun möchte ich noch einige Bemerkungen zu dem Reformentwurf selbst machen, damit Sie nicht sagen können, wir wüßten nicht, worum es eigentlich geht. Einige von uns wissen tatsächlich nicht, worum es geht. In der gestrigen Beratung hat unser Kollege Zöller - ich sage gelegentlich: „Z“ in Zöller steht für Zahlen und Zähne - Ihnen nachgewiesen, daß allein 30 Seiten in den Änderungsanträgen doppelt waren. Diese Seiten mußten wieder herausgenommen werden. Es war also chaotisch. ({15}) Danach wurden neue Anträge gestellt. Wir haben darauf hingewiesen - dies ist eines der wenigen Minderheitenrechte, die wir noch haben -, daß darüber beraten werden muß. Daraufhin gab es eine Unterbrechung. Einige riefen: Wir setzen das aus! Andere riefen: Nein, wir setzen das ab. Wir haben abgewartet. Als wir in den Ausschuß zurückkehrten, hieß es: Wir ziehen den Antrag zurück. So lief die gestrige Sitzung ab. Zur Bewertung. Diese sogenannte Gesundheitsreform richtet sich nach unserer Auffassung in ihrer Wirkung gegen die Kranken, gegen die Versicherten, gegen die Arbeitnehmer, ({16}) gegen die Gesundheitsberufe und letztlich auch gegen die Länder. ({17}) Mit diesem Entwurf werden dem Gesundheitswesen erforderliche Mittel entzogen und wird die Entscheidungsfreiheit der Patientinnen und Patienten, der Ärztinnen und der Ärzte sowie der Beschäftigten in anderen Gesundheitsberufen beeinträchtigt. Durch ihn wird in zunehmendem Maße die Entwicklung hin zu einem Kassenstaat vorangetrieben. Der Gesetzentwurf hat ein Übermaß an Bürokratie zur Folge. Durch ihn werden die bedarfsorientierten Plankontingente durch Bürokratie ersetzt. Durch ihn werden Selbständigkeit und Neugründungen erschwert und Beschäftigungschancen verhindert. Die Selbstverwaltung und die Tarifautonomie im Gesundheitswesen werden nicht beachtet. Sie enthalten den Versicherten, die sich keine private Vorsorge leisten können, eine optimale medizinische Versorgung vor, obwohl Sie eben erklärt haben, Sie wollten die Rechte der Patienten verbessern. Mit dem Globalbudget wird der Weg zur Rationierung der Gesundheitsleistungen bereitet. Dies ist unbestreitbar. ({18}) Im Grunde genommen bestätigt jeder: Ein Globalbudget mit einem Unterbau sektoraler Budgets, das ganz unabhängig von der medizinisch-technischen Entwicklung, von der Überalterung der Bevölkerung und von dem notwendigen Bedarf in den einzelnen Bereichen ist, muß dazu führen, daß den Menschen Leistungen vorenthalten werden. Das wird nicht mehr bestritten. Wir lehnen jede Budgetierung ab, ({19}) weil wir, Herr Dreßler, dazugelernt haben. ({20}) - Das ist gar keine Frage. Wahrscheinlich werden Sie sich ja noch an Lahnstein und Ihre Sternstunden erinnern. Seitdem ist viel Zeit vergangen, und wir haben gemeinsam dazugelernt, daß die frühere Politik der immer weitergehenden Kostendämpfung nicht fortgesetzt werden kann. Das ist in den Reformgesetzen der letzten Legislaturperiode schon überdeutlich geworden. Es fehlt in diesem Gesetz jede Auseinandersetzung mit der nicht ausreichenden EinWolfgang Lohmann ({21}) nahmeentwicklung der Krankenkassen auf Grund der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, auf Grund unstetiger Beschäftigungsverhältnisse und der dadurch sinkenden Lohnquote. Herr Dreßler, da ja jetzt, wie gesagt, über Einnahmen nicht gesprochen wird, versucht die Frau Ministerin irgendwelche Unterstellungen. Wenn ich alles zitieren würde, wer von Ihnen bei verschiedenen Gelegenheiten mit welchen Vorschlägen gekommen ist, dann würde ja der Rest von Durchsicht verlorengehen. Diese oder jene Bemerkung von diesem oder jenem Kollegen ist doch kein Vorschlag, ist doch kein Antrag, sondern es kommt auf das an, was Sie hier vorgelegt haben. Herr Dreßler, ich zitiere einmal, weil auch Sie ja nicht über Einnahmen sprechen wollen: Die gesetzliche Krankenversicherung braucht mehr Einnahmen. Dies war das Fazit eines von der kassenärztlichen Bundesvereinigung veranstalteten Symposiums. Da heißt es wörtlich: Das Gesundheitssystem braucht mehr Einnahmen. Die finanziellen Probleme lassen sich langfristig nicht durch Einsparungen lösen. Denn Kürzungen führen zu einem Kellertreppeneffekt. Stufe um Stufe gerät man auf ein niedrigeres Leistungsniveau, bis es nicht mehr weitergeht, weil man unten angekommen ist. Eine dauerhafte Lösung sieht der Sozialdemokrat nur in einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Dieser „Sozialdemokrat“ war aber nicht irgendwer, sondern es war Rudolf Dreßler. Die Einnahmen also sind problematisch, und die Ausübung von Druck über budgetierte Ausgaben führt zum Kellertreppeneffekt. Darin stimmen wir mit Ihnen voll überein. ({22}) Der Entwurf gibt auch keine Antwort auf die Herausforderungen der demographischen Entwicklung - ich sagte es bereits: von Eigenverantwortung der Versicherten kann natürlich nicht mehr geredet werden -, sondern er ist im Gegenteil getragen von einem tiefen Mißtrauen gegenüber den Leistungserbringern und den Versicherten. Er ignoriert völlig die Frage, ob der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung angesichts der veränderten Rahmenbedingungen noch zeitgemäß ist, ob er mit den vorhandenen, begrenzten Mitteln weiter finanziert werden kann. Alles das findet nicht statt. Und dann kommt dieses Gesetzeswerk, bürdet der Selbstverwaltung unlösbare Aufgaben auf. Sie ist schlicht überfordert. Der Vertreter der Ersatzkassen hat ja nicht zu dem Ostkassenproblem, sondern gerade zu diesem Problem in der öffentlichen Anhörung gesagt, das sei schlicht nicht umsetzbar. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um von vornherein der Legendenbildung vorzubeugen. Sie tun jetzt so, als wäre wegen der Ablehnung dieses Gesetzentwurfs - ich tue mich immer wieder schwer, dazu „Gesetzentwurf“ zu sagen - gleichzeitig die Verantwortung für Beitragssatzerhöhungen spätestens ab Mitte nächsten Jahres bei uns abzuladen. Meine Damen und Herren, seit Monaten sagen diejenigen, denen Sie immer große Glaubwürdigkeit beimessen, nämlich die Krankenkassen, daß völlig unabhängig von diesem Gesetz erhebliche Beitragssatzsteigerungen kommen werden, weil Sie durch Ihr Vorschaltgesetz ja nicht nur auf Zuzahlungen verzichtet haben, nicht nur auf die Finanzierung im Krankenhausbereich, das sogenannte Notopfer, verzichtet haben. Nein, Sie haben ja auch Leistungen ausgeweitet und die entsprechende Gegenfinanzierung dafür nicht erbracht. ({23}) Man spricht allein in diesem Bereich - die einen sagen: 1 Milliarde DM, die anderen: 3,5 Milliarden DM; nehmen wir die Mitte - von 2 Milliarden DM Unterfinanzierung dieses alten Gesetzes. Das haben wir für unnötig gehalten, daran darf man erinnern. Damals haben wir gesagt, das müßte zur Abbremsung der ständigen Beitragssatzerhöhung stattfinden. Wir hatten sechs Jahre lang Beitragssatzstabilität; denn kleine Schwankungen zwischen 13,4 Prozent und 13,5 Prozent kann man ja wohl als Stabilität bezeichnen. Wir hatten 1997 und 1998 erfreulicherweise erstmals einen Überschuß in der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie selbst sagen jetzt sogar, daß das Defizit aus dem ersten Halbjahr dieses Jahres möglicherweise bis zum Ende dieses Jahres noch ausgeglichen werden kann. Diese Möglichkeiten sind die Folgen unserer Gesetzgebung, ({24}) so daß man sagen kann: Trotz dieses unmöglichen Vorschaltgesetzes, trotz der damit verbundenen erhöhten Kosten und trotz der mangelnden Gegenfinanzierung haben Sie möglicherweise das Glück, auf der Basis unserer Gesetze wenigstens dieses Jahr ohne Beitragssatzerhöhungen zu bestehen. Dafür hätte man vielleicht einmal ein Wort des Dankes erwarten können. ({25}) Jetzt möchte ich noch etwas zu den Hauptpunkten sagen, weil das für viele die einzigen Punkte sind, die unverrückbar bleiben und zu denen man bemerken kann, daß Sie davon auf keinen Fall abrücken werden. Das Globalbudget habe ich genannt. Der zweite Punkt ist die Positivliste, sie führt dazu, daß den Menschen Arzneimittel vorenthalten werden. ({26}) - Ach, Frau Schmidt-Zadel, „umstritten“. Wissen Sie nicht, daß in Deutschland ein Arzneimittel als umstritten gilt, wenn zwei Professoren unterschiedlicher Meinung über seine Wirksamkeit sind? Wissen Sie, was alles umstritten ist? Sie können Gutachten von Professoren zu jeder Frage so bekommen, wie Sie sie erwarten. Insofern ist das doch kein Kriterium. Wolfgang Lohmann ({27}) Patienten und Ärzte haben keine Therapiefreiheit und Therapievielfalt mehr. Wenn ein Arzneimittel trotzdem verordnet werden soll, dann muß der Patient das zu 100 Prozent selbst bezahlen. Ist das noch Solidarität? ({28}) Sie nicken. Gut. Ich hoffe, die Patienten erkennen, was damit wirklich gemeint ist. ({29}) - Frau Schmidt-Zadel hat unter anderem genickt. ({30}) Dieser Gesetzentwurf, der durch ein chaotisches und durch nichts mehr zu übertreffendes sogenanntes Bera- tungsverfahren bis zur Unkenntlichkeit verschlimmbes- sert oder sogar zerstört worden ist, kann nur mit klarer Haltung abgelehnt werden. [Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es! - Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Wo ist die Alternative?) Es wäre vernünftiger gewesen, wenn Sie Ihr Gesprächsangebot gemacht hätten, bevor dies alles zu Papier gebracht und anschließend dreimal geändert worden ist. Ich bin ganz sicher, daß dieser Gesetzentwurf im Bundesrat nicht das Licht der Welt erblicken wird; denn die Mehrheit im Bundesrat wird wissen, was man dem deutschen Gesundheitswesen noch zumuten kann, was man den Patienten noch zumuten darf und was man an Arbeitsplatzzerstörung damit bewirken wird. Er wird Ihnen eine klare Antwort zu diesem Gesetz geben. Ich bedanke mich. ({31})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Rudolf Dreßler, SPD-Fraktion.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir einleitend eine Bemerkung zur Verdrängung von parlamentarischen Abläufen, und zwar von parlamentarischen Abläufen während der Regierungszeit von CDU/CSU und F.D.P. Selbst 1992, als mit meiner Fraktion eine Gesundheitsstrukturreform auf den Weg gebracht werden sollte, also eine breite parlamentarische Basis für dieses Gesetz bestand, waren die Verhandlungen für die Abgeordneten in den federführenden Ausschüssen und im Plenum des Deutschen Bundestages, um es höflich zu sagen, brutal. Es hat, so weit ich zurückblicken kann - und das sind schon einige Jahre -, keinen Entstehungsprozeß von maßgebenden Gesetzen gegeben, bei denen nicht den Abgeordneten in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestages Erhebliches zugemutet wurde. Das war in diesem Fall zweifellos genauso. Daraus aber zu konstruieren, man habe in 16 Jahren Regierung Kohl nur einwandfreie und seriöse Parlamentsabläufe, die den Abgeordneten dienlich waren, organisiert, ist geradezu absurd. ({0}) Herr Lohmann, die einzige These, die richtig wäre und die ich auch unterstreichen könnte, ist die: Egal, wer regiert, den Abgeordneten wird immer sehr viel zugemutet. Das ist die Wahrheit. ({1}) - Sehen Sie, das ist der Punkt. Sie haben den Abgeordneten im Einvernehmen etwas zugemutet, und jetzt haben die SPD und Bündnis 90/Die Grünen ohne Einvernehmen mit der CDU/CSU uns allen etwas zugemutet. ({2}) In der Substanz bleibt das gleich: Egal, wer regiert, den Abgeordneten wird immer brutal viel zugemutet. Das nun zum Dollpunkt zu erklären, Herr Lohmann, wird den Tatbeständen, die Sie 16 Jahre mit zu verantworten haben, nicht gerecht. [Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gesundheitspolitische Entscheidungen berühren die Menschen unmittelbar und existentiell. Nicht zuletzt deshalb rangiert die Gesundheitspolitik im Bewußtsein der Bürgerinnen und Bürger im Gesamtkomplex der Gesellschaftspolitik stets vornan. Die Sicherung einer leistungsfähigen und bezahlbaren Gesundheitsversorgung in hoher Qualität gehört daher zu den politischen Aufgaben ersten Ranges. Diese drei Attribute - Leistungsfähigkeit, Bezahlbarkeit und Qualität - muten manchmal wie die Quadratur des Kreises an. Daß es gleichwohl möglich ist, dies alles zu gewährleisten, soll der heute zur Verabschiedung anstehende Reformentwurf für die nächsten Jahre beinhalten. Die akuten Finanznöte der unterschiedlichsten Gesundheitssysteme in den Industriestaaten sind auch an Deutschland nicht vorbeigegangen. Allerdings enthält der heute zur Verabschiedung anstehende Gesetzentwurf - im Unterschied zu allen Gesundheitsgesetzen der letzten 20 Jahre - keine einzige Zuzahlungserhöhung, keine einzige Leistungskürzung und auch sonst keine einzige Belastung für die Versicherten oder die Kranken. Das ist die Wirklichkeit. ({3}) Wolfgang Lohmann ({4}) Unser Ziel ist klar: Es geht nicht zuallererst darum, mehr Geld ins System zu pumpen, sondern es geht darum, mit dem vorhandenen Geld wirtschaftlicher und effektiver umzugehen. Es geht nicht darum, Leistungen des Systems zu streichen oder auszudünnen und in die private Zusatzfinanzierung zu verlagern, sondern es geht darum, die Leistungsdichte beizubehalten. Der Gesetzentwurf stellt unter Beweis: Diese Regierung geht den exakt gegenteiligen Weg der Regierung Kohl. Eine Privatisierung gesundheitlicher Risiken findet mit uns nicht statt. Wir rationieren nicht, wir rationalisieren. ({5}) Der vorliegende Gesetzentwurf hat ein vielfältiges Echo gefunden. ({6}) Auch mit Kritik ist wahrlich nicht gespart worden. Dazu ist unter Berücksichtigung aller vorangegangenen Gesundheitsgesetze zunächst einmal festzuhalten: Das war immer so, das war nie anders. ({7}) Kritik geübt hat sogar die Opposition in diesem Haus. Das ist nicht nur deren Recht, sondern das ist sogar deren parlamentarische Pflicht. Aber die Opposition hat noch eine andere Pflicht: ihrer Kritik an der Politik der Regierung die Alternative der Opposition anzufügen. ({8}) Von einer Alternative der Opposition ist nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Es gibt keinen einzigen noch so klitzekleinen Alternativantrag der CDU/CSU, weder im Gesundheitsausschuß noch hier im Plenum. ({9}) Konzeptionell kommt diese Opposition nicht vor. CDU/CSU und F.D.P. sind gesundheitspolitisch nicht existent. ({10}) Nur wer zwischen den Zeilen liest, was die heimliche Alternative der Opposition wäre, der kommt vielleicht zu einem Ergebnis: Sie will an der Zuzahlungsschraube drehen und den Leistungskatalog ausdünnen. Kurz gesagt, die Opposition will eine höhere Selbstbeteiligung der Patienten, und sie will Leistungskürzungen. Aber sie traut sich nicht, das laut zu sagen. ({11}) Die Menschen in Deutschland sollten deshalb wissen: Der Begrenzung der Einkommenssteigerungen bei Ärzten und Pharmaindustrie setzen CDU und CSU neue Selbstbeteiligungen der Patienten gegenüber. ({12}) Dem Abbau von überflüssigen Kapazitäten im Krankenhaus und bei Arzneimitteln setzen CDU und CSU Leistungskürzungen für Kranke gegenüber. ({13}) Das alles ist nicht verfassungswidrig. Das kann man politisch wollen. Aber wer das verheimlicht, weil es ihm unangenehm ist, der führt die Menschen hinters Licht und täuscht. ({14}) Ich fordere Sie deshalb auf: Hören Sie mit Ihrer Heimlichtuerei auf! Hören Sie mit Ihrer Täuschung auf! ({15}) Sagen Sie endlich offen, was Sie vorhaben, wenn man Sie denn ließe oder Sie durchsetzen könnten, was Sie wollen. Sagen Sie, was Sie anders machen würden. Wir haben das Recht, das von Ihnen zu verlangen. ({16}) Im Zentrum der Kritik der Interessengruppen sowie außerhalb des Parlaments und der Opposition steht die Absicht der Koalition, die Steigerung der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen zukünftig an der Steigerung der Gesamteinnahmen zu orientieren. Kurz gesagt, wir wollen, daß zukünftig nicht mehr ausgegeben wird, als eingenommen wurde. Globalbudget nennen wir das. Über den Namen kann man streiten, über das Instrument nicht. Was soll eigentlich unvernünftig daran sein, sich beim Geldausgeben an den Einkünften zu orientieren? ({17}) Wer diesen Grundsatz nicht beherzigen will, wer in Kauf nehmen will, daß mehr ausgegeben als eingenommen wird, der hat nur zwei Möglichkeiten, auf andere Weise für ausgeglichene Konten bei den Krankenkassen zu sorgen: ({18}) Möglichkeit eins, Herr Zöller, wäre, den Kranken Leistungen zu streichen, damit sie sie zukünftig selbst bezahlen. Möglichkeit zwei, Herr Lohmann, wäre, die Krankenversicherungsbeiträge zu erhöhen. Etwas anderes gibt es nicht. ({19}) - Lottospielen, das können Sie tun. Nur, damit retten Sie die deutsche Krankenversicherung bzw. das deutsche Gesundheitswesen nicht. - Wir wollen weder das eine noch das andere. ({20}) Ebenso wollen wir nicht, daß versteckt der Patient bzw. der Kranke wiederum derjenige ist, der Defizite zu begleichen hat. Wir wollen ein vernünftiges Leistungsangebot bei stabilen Beitragssätzen. All denjenigen, die behaupten, mit der als Globalbudget bezeichneten Obergrenze würden im Gesundheitswesen die Ausgaben für Leistungen zusammengestrichen, muß entgegengehalten werden, daß sie die Unwahrheit behaupten. Wir streichen nicht; wir begrenzen die Zuwächse. Wenn die Krankenkassen in diesem Jahr - Herr Lohmann, ein kleiner Ausflug in das kleine Einmaleins; das große will ich Ihnen heute morgen noch nicht zumuten ({21}) 260 Milliarden DM für Gesundheit ausgeben werden, dann dürfen sie im Jahre 2000, also nächstes Jahr, eine Steigerung der Grundlohnsumme um 2 Prozent vorausgesetzt, 265 Milliarden DM ausgeben und im Jahre 2001 unter den gleichen Bedingungen 271 Milliarden DM. Wo wird da zusammengestrichen? Jahr für Jahr kann mehr ausgegeben werden, und zwar so viel mehr, wie auch mehr eingenommen wurde. ({22}) Ich vermute, daß in den Unternehmen, in denen Sie tätig waren oder sind, das gleiche Prinzip gilt. Denn andernfalls würde der Amtsrichter kommen. Wir wollen den Anteil der Gesundheitsausgaben am Volkseinkommen stabil halten. Das heißt, daß der Grundsatz gilt: Wächst das Volkseinkommen, kann man auch mehr für Gesundheit ausgeben. Ich gebe ja zu, daß während der Vorgängerregierung das alles anders gelaufen ist. Da wurden Leistungen gestrichen, was bei der gesetzlichen Krankenversicherung zu Milliardeneinsparungen geführt hat. Das haben Sie dann gefeiert. Sie feiern dies ja heute noch. Daß gleichzeitig die Versicherten die gestrichenen Leistungen selbst bezahlten oder außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung abdeckten, in der Gesamtrechnung also nicht gespart wurde, das haben Sie den Menschen verschwiegen. Solche Buchhaltertricks hat sich die jetzige Koalition nicht einfallen lassen. ({23}) Wir sichern diese Ausgabenobergrenze zusätzlich strukturell ab: In dem vorliegenden Gesetzentwurf begrenzen wir die Zahl der Neuniederlassungen von Vertragsärzten. Wir führen über das Mitbestimmungsrecht der Kassen bei der Krankenhausbedarfsplanung die Zahl der Krankenhausbetten zurück, und wir bereinigen über die Positivliste die Zahl der abrechnungsfähigen Arzneimittel. Alles das sind zusätzliche Instrumente, um das Globalbudget einzuhalten. ({24}) Nun höre ich von seiten der Medizingerätehersteller, von Siemens bis General Electric, und von seiten der Pharmaindustrie, von Hoechst bis Novartis, heftige Proteste gegen die von uns vorgesehene Ausgabenobergrenze. Ich finde das gelinde gesagt eigentümlich. Kann man einerseits als Elektrokonzern stabile Lohnnebenkosten einfordern und andererseits zulassen, daß die eigene Medizingerätetochter alles dagegen tut, daß dieses Ziel tatsächlich erreicht wird? ({25}) Kann man einerseits als Chemiekonzern stabile Krankenversicherungsbeiträge fordern und andererseits die eigene Pharmatochter eine Geschäftspolitik betreiben lassen, die diese Beiträge steigen läßt? Wie sieht es da mit der Glaubwürdigkeit aus, meine Damen und Herren? ({26}) Es ist richtig, daß der Gesundheitsbereich ein Wachstumsmarkt ist. Wer aber dieses Wachstum reklamiert, der muß auch ehrlich sein: Wachstum nur auf der Ausgabenseite, dem nicht ein entsprechendes Wachstum auf der Einnahmenseite, sprich der Beitragsseite, gegenübersteht, darf es nicht geben. Das führt im Gesundheitswesen wie anderswo auf direktem Wege zum Konkursrichter. Wer keine Ausgabenobergrenze für die Krankenversicherung will, der sollte sicherheitshalber den Begriff „stabile Lohnnebenkosten“ nicht mehr in den Mund nehmen. ({27}) Einige Kritiker halten uns vor, mit ökonomisch orientierten Ausgabefonds sei der medizinische Fortschritt nicht zu finanzieren. Dem halte ich entgegen, daß nicht jede fortschrittliche Weiterentwicklung so gewaltig und finanziell so schwerwiegend ist, als daß sie nicht durch die Mehreinnahmen im Rahmen des üblichen Wachstums abgedeckt werden könnte. ({28}) Sollte es Entwicklungen geben, Herr Lohmann, wie zum Beispiel eine bahnbrechende und kostspielige Neuorientierung bei der Krebsbekämpfung, dann muß diese eingeführt werden können, und zwar außerhalb des vorgesehenen Budgets. Aber das wird die Politik von Fall zu Fall zu entscheiden haben. ({29}) Auch der Gesetzentwurf sieht diese Sonderfälle vor. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion wird dazu regelmäßig dem Deutschen Bundestag und damit der Öffentlichkeit verläßliche Vorschläge unterbreiten. Auch das ist geklärt. Meine Damen und Herren von der Opposition ohne eigenen Lösungsvorschlag, was bleibt jetzt noch an substantieller Kritik an der Ausgabenbeschränkung? ({30}) Nichts, gar nichts bleibt! ({31}) - Es bleibt nichts, Herr Lohmann. Sonst müßten Sie einmal substantielle Kritik im Deutschen Bundestag artikulieren. ({32}) Wenden wir uns einem zweiten Kritikpunkt der Opposition ohne eigenen Lösungsvorschlag zu. Er richtet sich gegen die von der Koalition in der Arzneimittelversorgung vorgesehene „Liste verordnungsfähiger Arzneimittel“; so heißt es im Gesetzestext, wir nennen das „Positivliste“. Die Kritik von CDU/CSU und F.D.P. an der Positivliste ist zunächst einmal schon vom politischen Ansatz her unglaubwürdig. ({33}) Was führen Sie in diesem Zusammenhang nicht alles für Vokabeln im Mund? „Fortschrittsfeindlichkeit“, „Reglementierungswut“ und anderes, was Ihnen dazu eingefallen ist. Um Ihr Gedächtnis etwas aufzuhellen: Die Positivliste ist exakt jenes Instrument, das CDU/CSU, SPD und F.D.P. für so wirksam zur vernünftigen Neuordnung des Arzneimittelmarktes gehalten haben, daß wir deren Einführung 1992 gemeinsam ins Gesetzblatt geschrieben haben. ({34}) Sie wollten diese Positivliste bis zu jenem Zeitpunkt, als man Ihnen höheren Ortes verbot, sie länger zu wollen. Das ist aber auch alles. Die Koalition will sie heute noch. Wir wollen ein qualitätsorientiertes Instrument zur Sicherung einer ebenso hochwertigen wie preisgünstigen Arzneimittelversorgung der Versicherten. Wir brauchen therapeutisch sinnvolle, wirksame und über jeden qualitativen Zweifel erhabene Arzneimittel. Was wir in den Arzneimittelschränken der Krankenversicherten nicht brauchen, sind therapeutischer Schrott und Mittel von therapeutischer Zweifelhaftigkeit. ({35}) Genau jene zweifelhaften Mittel und jenen Schrott wird die Positivliste aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen entfernen. ({36}) Im übrigen wollen, Herr Lohmann, die Krankenkassen und die Vertragsärzte die Liste; die Krankenhäuser haben bereits eine je nach Haus individuelle Liste. Das zeigt, daß das Gemosere der Opposition ohne eigenen Lösungsvorschlag abwegig ist. ({37}) CDU/CSU und F.D.P. müßten es eigentlich besser wissen. In einer Antwort auf eine entsprechende Kleine Anfrage nach Positivlisten in anderen EU-Staaten in der zweiten Hälfte dieses Jahres - nicht vor 20 Jahren, meine Damen und Herren -, also vor wenigen Wochen, wurde Ihnen von der Bundesregierung mitgeteilt, auf wie viele Präparate die zugelassenen Arzneimittel in den EU-Staaten begrenzt sind. Ich will das noch einmal festhalten: Belgien 4 900, Dänemark 4 000, Frankreich 7 700, Griechenland 5 800, Italien 9 100, Niederlande 9 900, Österreich 10 900, Portugal 4 500, Schweden 3 500 und Spanien 8 000. In der Regel gehen diese Positivlisten in den EU-Staaten mit einer Staffelung der Erstattungsfähigkeit einher. Damit wird in diesen Ländern ein flächendeckendes therapeutisches Angebot zur Verfügung gestellt. Die Gegner der Positivliste wollen uns aber einreden, es müsse alles so bleiben, wie es ist, und es müsse also weiterhin - je nach Zählweise - zwischen 28 000 und 53 000 Arzneimittel geben, um das gleiche Ziel in Deutschland zu erreichen. ({38}) Wer den Menschen das einredet, ist nichts anderes als ein politischer Scharlatan, dem es nur um Interessen und nicht um das Wohl der Menschen geht. ({39}) Fortschrittsfeindlich und innovationshemmend soll die Liste sein. Daß ich nicht lache: Das Gegenteil ist richtig; denn auch für Arzneimittel stehen nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Wenn aber innerhalb des begrenzten finanziellen Arzneimittelrahmens therapeutische Zweifelhaftigkeiten mit therapeutisch Hochwertigem um Marktanteile konkurrieren, dann ist das von Nachteil für Fortschritt und Innovation. ({40}) - Das stimmt doch wohl! Es ist von Nachteil in diesem Wettbewerb. ({41}) Nur wo Fortschritt und Innovation vor derart zweifelhafter Konkurrenz geschützt sind, lohnen sich neue Forschung und Innovation. Genau dieses pharma- und standortpolitische Ziel lohnt sich zusätzlich anzustreben, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Genau das tut diese Koalition. Sie setzt nämlich mit der Positivliste auf beide Ziele: Die Positivliste schadet nicht dem Pharmastandort Deutschland; sie nützt und fördert ihn, weil sie auf Innovation setzt, statt Zweifelhaftes zu begünstigen. ({42}) Der dritte Schwerpunkt unserer Reformvorhaben liegt im Bereich der Krankenhausversorgung. Wir alle wissen: Das ist der politisch schwierigste Teil jeder Gesundheitsreform. ({43}) Die Koalitionsfraktionen haben - jedenfalls da, wo sie über politischen Einfluß verfügen - von Anfang an großen Wert darauf gelegt, daß der Krankenhausteil des Gesetzentwurfes besonders intensiv mit den Bundesländern abgesprochen wird. Bei der ersten Lesung des Gesetzes habe ich darauf hingewiesen, daß unsere Reformbemühungen im Gesundheitswesen ein Torso blieben, würde es abermals nicht zu durchgreifenden Veränderungen in der Krankenhausversorgung reichen. Das bleibt aus meiner Sicht unverändert. Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs steht die Einführung einer zukünftig gemeinsam von Krankenkassen und Bundesländern durchgeführten und verantworteten Krankenhausbedarfsplanung. Wir wollen, daß in der Krankenhausversorgung endlich das Platz greift, was in jedem Wirtschaftsbetrieb existentiell für dessen Leistungsfähigkeit ist. Die Verantwortung für die Investitionsplanung einerseits und die Verantwortung für die finanziellen Folgen dieser Investitionsplanung andererseits sollen zusammengeführt werden. Das hat mit der verfassungsgrechtlich garantierten Planungshoheit der Länder nichts zu tun; sie bleibt selbstverständlich unberührt. Es darf nicht länger so bleiben, daß die eine Seite Investitionen planen kann, ohne die finanziellen Langzeitfolgen dieser Planung zu berücksichtigen, weil sie diese sozusagen an der Garderobe anderer politisch abgeben kann. Deshalb gilt: Die Krankenkassen gehören in die Mitentscheidung für die Krankenhausbedarfsplanung. Es ist kein Zufall, daß die Bettendichte und übrigens auch die Krankenhausverweildauer in Deutschland bedeutend höher sind als in allen vergleichbaren europäischen Ländern. Über die Neuordnung der Planungsverantwortung wollen wir den Bettenüberhang in Deutschland abbauen helfen. Mit einiger Verwunderung muß ich dabei zur Kenntnis nehmen, daß die Deutsche Krankenhausgesellschaft dadurch die Krankenhausversorgung gefährdet sieht. Mit Verlaub: Das ist absurd. Die Krankenhausversorgung gefährdet nicht der, der die Zahl der Krankenhausbetten auf ein normales und vertretbares Maß zurückführt, sondern der, der an überflüssigen Kapazitäten festhält und so über kurz oder lang den Finanzinfarkt des Gesamtsystems heraufbeschwört. ({44}) Wenn die Deutsche Krankenhausgesellschaft darauf hinweist, schon in vergangenen Jahren seien fast 100 000 Betten abgebaut worden, dann antworte ich: Mag sein, aber auch diese 100 000 Betten sind gegen den Willen der Deutschen Krankenhausgesellschaft abgebaut worden, die damals ebenfalls den Zusammenbruch der Krankenhausversorgung prophezeit hat. Nichts davon ist eingetreten. Das im Zusammenhang mit dem Bettenabbau geäußerte Arbeitsplatzargument nehme ich hingegen ernst, sehr ernst sogar. Dieses Argument gilt übrigens nicht nur für den Krankenhausbereich, sondern überall da, wo Kapazitäten abgebaut werden. Wir beklagen in Deutschland überhöhte Lohnnebenkosten. Wir wollen das Niveau zunächst stabilisieren und dann zurückführen. Es entspricht der ökonomischen Logik, daß überhöhte Lohnnebenkosten zu Arbeitsplatzverlusten führen. Überhöhte Kapazitäten, die zu überhöhten Lohnnebenkosten führen, mögen kurzfristig zur Aufrechterhaltung von Arbeitsplätzen beitragen, an anderer Stelle unserer Volkswirtschaft aber führen sie zu Arbeitsplatzverlusten. Kurzfristig handelt es sich arbeitsplatzpolitisch also um ein Nullsummenspiel; längerfristig wird sogar eine Negativbilanz daraus. Längerfristig bezahlen wir gesamtwirtschaftlich durch Arbeitsplatzverluste, heraufbeschworen durch die sinkende Wettbewerbsfähigkeit. Das Arbeitsplatzargument gegen dieses Gesetz führt also in die Irre. Wir bleiben bei der Neuordnung der Planungsverantwortung für die Krankenhäuser. Die Investitionskosten, die durch die Krankenkassen zu übernehmen sind, betragen fast 7 Milliarden DM. Diese Summe - sie entspräche fast einem halben Beitragspunkt - kann nicht auf einem Schlag aufgebracht werden, zumindest nicht unter Beachtung des Gebots der Beitragssatzstabilität. Deshalb muß die Überführung der Finanzlast der Krankenhausinvestitionen auf die Krankenkassen zeitlich gestreckt werden und schrittweise erfolgen. Wir wollen letztlich echte Preise im Krankenhausbereich erreichen. Sie werden unabhängig von der Dauer des Krankenhausaufenthalts nur auf den jeweiligen Fall und die jeweilige Diagnose bezogen sein. Das schafft Kostentransparenz und macht unwirtschaftliches Verhalten bei den einzelnen Krankenhäusern sichtbar. Ich bin mir ganz sicher: Die Neuordnung der Krankenhausentgelte, die mancher Wirtschaftsabteilung in den Krankenhäusern als Revolution erscheinen mag, wird weitreichende Folgen für das Erreichen von mehr Effizienz haben, und zwar ohne daß die Qualität der medizinischen Versorgung beeinträchtigt wird. Bleibt abschließend zu fragen: Wie hält es die Opposition in diesem Hause mit dem Reformteil „Krankenhaus“ im heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf? Sie bleibt eine Opposition ohne eigenen Lösungsvorschlag. Es gibt nicht den Hauch einer eigenen Konzeption. Es ist schon bemerkenswert: Die zweitgrößte Fraktion im Parlament legt sich bei einer der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben dieser Wahlperiode einfach auf Grund und spielt U-Boot. ({45}) Vom Kartell der politischen Schweiger konnte man mehrfach erfahren, man lehne die Gesundheitsstrukturreform ab. ({46}) Meine Güte, habe ich gedacht, wie originell, wie aufregend ist das! - Sie von der CDU/CSU müssen sagen, was Sie an die Stelle des von Ihnen Abgelehnten setzen wollen. Sie wollen kein Globalbudget, also keine Ausgabenbeschränkung. Was wollen Sie statt dessen? Wollen Sie einfach alles laufen lassen, höhere Zuzahlungen oder Leistungskürzungen? ({47}) Sie wollen keine Positivliste. Das bedeutet: Sie wollen keine Qualitätsverbesserung, keine Neuordnung auf dem Arzneimittelmarkt. Was aber wollen Sie statt dessen? Was setzen Sie an deren Stelle? Sie wollen keine Krankenhausreform, keine monistische Finanzierung, keine Neuordnung der Krankenhausvergütungen. Was will die CDU/CSU? Es bleibt uns allen ein Rätsel. ({48}) Sie werden die Stunde der Wahrheit auf sich zukommen sehen. Sie werden dem Konzept der Koalition etwas entgegensetzen müssen. ({49}) U-Boot-Spielen kann man immer nur eine begrenzte Zeit. Irgendwann - das wissen wir - muß jedes U-Boot auftauchen. Wir sind gespannt, was für ein Bötchen aus dem Meer des politischen Schweigens auftauchen wird. ({50}) - Herr Lohmann, ich will Ihnen an dieser Stelle sagen: Abgetakelte Fregatten können manchmal zwar noch schwimmen, aber als Fortbewegungsmittel sind sie ungeeignet. ({51}) Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die für unser Gesundheitswesen Verantwortung Tragenden, können und werden nicht auf die CDU/CSU warten. Wir setzen uns heute für die notwendigen Strukturveränderungen ein, damit unser Gesundheitswesen seine Qualität auch weltweit sichern kann. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. ({52})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun dem Kollegen Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihre Philosophie ist, man könne das Gesundheitswesen über Globalbudgets organisieren. Auch wir haben 1992 mit Ihnen zusammen geglaubt, wir könnten es so organisieren. Leider hat sich in den Folgejahren gezeigt, daß das ein absoluter Fehlschlag war; denn es waren bereits 1994 Rationierungstendenzen im Lande zu erkennen. ({0}) Ich frage Sie: Wenn wir diese praktischen Erfahrungen mit Globalbudgets in Deutschland gemacht haben und noch mehr praktische Erfahrungen dieser Art in England und Schweden gemacht worden sind, warum gehen Sie dann diesen Weg? Warum sorgen Sie dafür, daß die Patienten Probleme bekommen? Im Vorschaltgesetz haben Sie die Zuzahlungen zwar abgesenkt; aber Sie haben dabei verschwiegen, daß Sie gleichzeitig das Budget reduziert haben. Meine Damen und Herren, was bedeutet das für den Patienten? Er muß in der Tat weniger zuzahlen, aber der Arzt kann ihm wegen des Budgets die Arzneimittel und Heilmittel nicht mehr verschreiben. Das hat zur Folge, daß der Patient diese Mittel hundertprozentig selbst bezahlen muß. Ist das Ihre Sozialpolitik? ({1}) Wie sieht das heute in der Praxis aus? Als Beispiel nehme ich die Physiotherapie: Patienten brauchen dringend Behandlungen, der Arzt verschreibt heute jedoch nur noch zwei Behandlungen, auch wenn der Patient dringend mehr Behandlungen braucht. Es gibt zwar keine Zuzahlungserhöhung, aber eine nennenswerte Leistungsreduzierung. ({2}) Das ist der Betrug am Patienten, der von Ihrer Seite ganz bewußt betrieben wird. ({3}) Meine Damen und Herren, das Problem besteht nicht nur darin, daß lediglich zwei Behandlungen verschrieben werden. Weil der Patient weitere Behandlungen dringend benötigt, wechselt er den Arzt. Er geht zu mehreren Ärzten, und jeder Arzt schreibt ein oder zwei weitere Rezepte aus. Damit sind Kostensteigerungen vorprogrammiert, und eine vernünftige therapeutische Behandlung ist bei diesen Arztwechseln natürlich nicht gegeben. ({4}) Ich nenne Ihnen ein zweites praktisches Beispiel: In den neuen Bundesländern sind die Budgets auf Grund des Vorschaltgesetzes schon weitgehend erschöpft. Nun ist Ihr neues Paket keinen Deut besser, sondern verstärkt diese Tendenz noch. Gehen Sie einmal zu Rheumapatienten gerade in den neuen Bundesländern! Ein Arzt fragte mich, was er angesichts der Tatsache tun solle, daß sein Budget erschöpft sei. Er erzählte, daß er zumeist Arzneimittel verschreibe, die mehr als 100 DM kosteten, und solche hochinnovativen Arzneimittel verschreiben müsse, da es wenig Zweck habe, auf Generikaprodukte auszuweichen. Was soll er tun? Er hat drei Möglichkeiten: Er verschreibt wie bisher, dann wird er in Regreß genommen und muß selber zahlen. Die zweite Möglichkeit: Er reduziert seine Verschreibungen und nutzt Generika; aber dann sind die Therapieerfolge erheblich reduziert. Die letzte Möglichkeit ist, daß er den Patienten an ein Krankenhaus überweist. Das ist Ihre Gesundheitspolitik, von der Sie behaupten, es werde nichts reduziert. In der Praxis wird massiv reduziert. Der Patient merkt es manchmal heute schon, und er wird es in den nächsten Wochen noch mehr merken. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie müssen doch ehrlich bekennen, daß Budgets zu Lasten der Patienten und der Leistungserbringer gehen. Ihr Parteikollege Professor Hankel hat das im „Handelsblatt“ eindeutig definiert. Die Patienten erfahren indirekt eine Leistungskürzung. Auf der anderen Seite werden die Leistungserbringer im Honorarteil schlechtergestellt. Was bedeutet das? Unser freiberufliches Gesundheitswesen wird angegriffen. Die Ärzte werden auf Dauer nicht mehr in der Lage sein, in ihre Praxen zu investieren, weil ihre Honorare heruntergehen. Sie wissen doch, wie es in den neuen Bundesländern im freiberuflichen ärztlichen Bereich aussieht. Sprechen Sie mit diesen Ärzten, dann erkennen Sie die Situation der Freiberufer in den neuen Bundesländern! Gehen Sie darüber einfach hinweg? Sie sollten Ihre Politik wirklich überdenken! ({6}) Dann fallen Ihnen noch weitere Schlagworte ein. Man muß sich ja fragen, wie Sie darauf kommen. Ich nenne hier das „Globalbudget“. Ja, wie soll das denn mit zehn sektoralen Budgets organisiert werden? Das kann Ihnen keiner sagen. Kein Vertreter einer gesetzlichen Krankenkasse kann Ihnen sagen, wie dies in der Praxis organisiert werden soll. Das wird ein Chaos, sage ich Ihnen. Die Bürger und die Patienten werden es ertragen müssen. Daneben fallen Stichworte aus der Industrie wie „Benchmarking“. Man sagt, man solle sich an der Region orientieren, die die niedrigsten Arzneimittelausgaben hat. Aber dabei werden beispielsweise überhaupt nicht die Pro-Kopf-Ausgaben in der Region, die Befreiungsquoten, die Härtefallregelung, die Fälle der chronisch Kranken und auch nicht die Morbiditätsentwicklung in der betreffenden Region berücksichtigt. Ich verweise jetzt noch einmal auf die neuen Bundesländer. Da ist die Situation völlig anders. Sie wollen eine Politik für die neuen Bundesländer machen? Ich sage Ihnen: Sie machen genau das Gegenteil, und darum sind die Wahlergebnisse so, wie sie sind; verdammt noch mal! ({7}) - Ich würde nicht so spucken. ({8}) Ihre Wahlergebnisse in den neuen Bundesländern können sich auch nicht sehen lassen. ({9}) Zweites Stichwort: Positivliste. Herr Dreßler bejubelt die Positivliste, und dabei weiß er, daß er nur die Hälfte der Wahrheit gesagt hat. ({10}) Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland 42 000 Arzneimittel. Wir haben auch eine besondere Zählweise. Denn jede Darreichungsform wird extra gerechnet. ({11}) Es gibt fünf Darreichungsformen. Wenn wir die von mir genannte Zahl durch fünf dividieren, dann kommt man zu dem Ergebnis, daß wir im europäischen Durchschnitt liegen. Das muß man wissen. Was Sie behaupten, ist völlig falsch. ({12}) Jetzt, Herr Dreßler, zu Ihrer großen Innovation Positivliste. Sie glauben doch wohl nicht, daß Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland zunächst forschen, dafür den Antrag beim zuständigen Institut für Arzneimittel und Medizinprodukte stellen und dann einen zweiten Antrag bei dem neu zu gründenden Institut stellen werden. Glauben Sie, das wäre ein sinnvoller Weg? ({13}) Ferner behindert die Positivliste die Therapiefreiheit und die Erfüllung von Patientenwünschen. Sie haben es doch eingesehen. Warum hätten Sie denn sonst einen Anhang zugestanden? Sie vernichten mit diesem Vorhaben die gesamte Therapie im Bereich der Naturheilmittel, und dies wollen wir nicht. ({14}) Sie, Frau Ministerin, bejubeln die integrierte Versorgung. Über integrierte Versorgung kann man wirklich reden. Aber man kann es nicht so machen wie Sie, nämlich sofort als Pflicht. Sie bringen ein ganz neues Modell auf den Weg. Sie behaupten, daß die integrierte Versorgung in der Stadt und auf dem Land gleich zu organisieren ist. Eine solche Verantwortung, wie Sie sie jetzt im Gesetz pauschal formulieren, kann man nicht übernehmen. ({15}) Dies kann man nur machen, wenn es vorher entsprechende Modellversuche gegeben hat. Wir haben in der Vergangenheit ausgesprochen interessante und gute Konzepte im Rahmen von Modellversuchen auf den Weg gebracht. Ich will Ihnen das einmal an einem Beispiel aufzeigen. Das soll Ihnen klar machen, daß Sie so etwas nicht mit Budgetierung und pauschal machen können. Vielmehr müssen Sie es mit intelligenten Lösungen vor Ort organisieren. Ich nenne einmal die Diabetiker-Betreuung. Wir haben in meiner Region ein Modell auf den Weg gebracht: Niedergelassene Ärzte sollen Zuckerkranke betreuen. Wenn dies nicht mehr möglich ist, sollen sie in eine spezielle Rehabilitationsklinik und nicht in das Krankenhaus. Es ist nämlich medizinisch günstiger, das so zu organisieren. Die betreffende Krankenkasse hat bundesweit 840 Millionen DM durch vernünftige organisatorische und medizinische Maßnahmen eingespart. ({16}) Wenn Sie glauben, Sie könnten so etwas bundesweit zentral organisieren, dann sage ich Ihnen: Das geht daneben. ({17}) Nur durch intelligente Lösungen können Sie das machen. ({18}) Als weiteren Punkt nenne ich die Krankenhausfinanzierung. Auch wir sind für die monistische Finanzierung; auch wir sind dafür, daß die laufenden Betriebskosten und die Investitionskosten monistisch finanziert werden. Aber sich das Leben so einfach machen zu wollen, wie Sie es vorhaben, geht nicht: Glauben Sie nicht, Sie bekämen die Zustimmung der Bundesländer dafür, im Krankenhausbereich über Einsparungen 7 bis 9 Milliarden DM herauszupressen, um diese Investitionen zu tätigen! Das ist der völlig falsche Weg ({19}) und zerstört die guten Ansätze der Neuorganisation der Krankenhauslandschaft, die wir in den letzten Jahren durchgesetzt haben. Man muß hier ehrlich sagen, Herr Dreßler: Wir haben im Krankenhausbereich in den letzten Jahren sehr viel verändert. Die Zuwachsraten im Krankenhausbereich sind in den letzten Jahren gleich Null gewesen. Das war schon ein großer Erfolg. Ich will nicht auf den europäischen Kontext eingehen - ein großes Thema, das die Bundesregierung völlig aus dem Blick läßt. Europa wächst immer enger zusammen, und sicherlich werden auch die Gesundheitsleistungen in Zukunft stärker grenzüberschreitend in Anspruch genommen. Wir stellen heute einen Entschließungsantrag zur Abstimmung. Die Positionen der F.D.P. sind genau formuliert und eindeutig festgelegt. Die wichtigsten möchte ich hier nennen: Die Finanzierung ist so zu gestalten, daß keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigungslage ausgehen. ({20}) - Moment, ich sage es Ihnen. - Wie kann man das machen? Wir sind der Auffassung, daß der heutige Leistungskatalog, verglichen mit anderen Staaten dieser Welt, sehr umfangreich ist. Das ist sicherlich mehr als eine Grundversorgung. Wir möchten jetzt den Arbeitgeberbeitrag festschreiben. ({21}) Wenn der Leistungskatalog erweitert wird - was nicht sein muß -, soll der Arbeitnehmer die entstehenden Beitragserhöhungen tragen. ({22}) - Hören Sie genau zu! - Das geht nur im Zusammenhang mit einer Steuerreform, die den Bürgern mehr Geld in der Tasche beläßt, damit sie sich das leisten können. ({23}) - Daß eine Steuerreform Auswirkungen auch auf diesen Bereich haben kann, ist Ihnen wohl fremd. ({24}) Wir werden also auch die Thematik Leistungskatalog besprechen müssen. Ein weiterer Punkt wird in Ihrem System überhaupt nicht organisiert. Wir denken, daß dann, wenn Anreize sowohl für die Patienten als auch für die Leistungserbringer geschaffen werden, mehr Wettbewerb in das System hineinkommt. Beitragsrückgewähr, Bonusregelungen, Selbstbehalt, Wahlmöglichkeiten - all dies sind für uns wichtige Überlegungen. ({25}) - Das schadet gar nichts. Wir wollen auch weg vom Sachleistungssystem. Dieses alte Prinzip wird in der Bundesrepublik nicht zu halten sein. Die europäische Ebene wird auf das Sachleistungssystem einen solchen Druck ausüben, daß Sie sich schon heute Gedanken machen sollten, wie man unser Gesundheitswesen über die Kostenerstattung organisieren kann. ({26}) Wenn Sie Versicherten und Leistungserbringern mehr Freiheit geben würden, dann würden Sie manche planwirtschaftlichen Elemente, die Budgetierung, manch falsche Organisation - Detlef Parr wird noch auf den Medizinischen Dienst zu sprechen kommen - und manche Superbehörde nicht benötigen. Ich sage sehr deutlich: Die sozial Schwachen müssen über eine vernünftige Härtefallregelung und über eine Überforderungsregelung geschützt werden. Eine solch gute Härtefallregelung und Überforderungsregelung, wie wir sie gemeinsam mit der CDU/CSU in der letzten Wahlperiode verabschiedet haben, können Sie lange suchen. ({27}) Wenn bei der Budgetierung das Budget erschöpft ist, dann bekommt der sozial Schwache nichts mehr, dann muß er alles selbst bezahlen. Das aber kann er nicht. Das ist der Betrug am Bürger, am Patienten. ({28})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit zwei Vorbemerkungen beginnen. Werte Frau Ministerin Fischer, es ist richtig, daß die Polemik zu dieser Gesundheitsreform in der letzten Zeit wirklich unerträglich war. Aber Sie vergessen, daß durch die Art und Weise Ihres Vorgehens, nämlich daß diese Gesundheitsreform nicht von einem ordentlichen Verfahren begleitet wurde, Ihr Eigenanteil an dieser Entwicklung nicht ganz unwesentlich ist. ({0}) Aus meiner Sicht war es ein Chaos, und da interessiert es mich überhaupt nicht, ob in der Zeit vorher, als ich noch nicht dabei war, das genauso gelaufen ist. Ich habe es als schlimm empfunden. Was ich ganz schlimm finde, ist: Das Öffentlichkeitsimage dieser Reform, die gute Ansätze hat, wurde im Prinzip beschädigt, und die Patienten wurden verunsichert. Lieber Herr Dreßler - ich weiß gar nicht, ob ich „Lieber“ sagen darf -, ({1}) daß für Sie die Opposition nur aus der CDU/CSU besteht, kann ich nachvollziehen, denn mit ihr müssen Sie sich im Bundesrat auseinandersetzen. Aber ob es Ihnen paßt oder nicht: Es liegen außerdem Entschließungsanträge von der F.D.P. und von uns vor. Bei der F.D.P. passen mir die Inhalte nicht, und unsere Anträge mögen Ihnen nicht passen. ({2}) - Eben. Sie haben „die Opposition“ gesagt, aber damit immer nur die CDU/CSU gemeint. Ich finde, das ist nicht gerecht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, wenn es nicht von der Zeit abgeht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das wissen Sie doch.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Fuchs, ich lege wegen des parlamentarischen Ablaufs auf folgendes sehr großen Wert: Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich immer von der „Opposition ohne eigenen Lösungsvorschlag“ gesprochen habe? ({0}) Ich nehme an, daß Sie sich deshalb auch nicht angesprochen fühlen dürfen.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Dreßler, ich heiße Fuchs, aber Sie sind ein Fuchs! ({0}) Ich akzeptiere das. Nun zum Thema. Was das Reformvorhaben selbst betrifft, so unterstützen wir ausdrücklich, daß dabei an einer solidarischen Absicherung des Krankheitsrisikos festgehalten werden soll. Damit besteht die Aussicht, daß die entscheidenden Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Fähigkeit zum Solidarausgleich erhalten bleiben. Natürlich begrüßen wir die Absicht der Koalition, den Weg der Zuzahlungserhöhungen nicht weiter zu beschreiten, obwohl ich ehrlich sagen muß: Ich hatte erwartet, daß Sie Ihr Wahlversprechen einlösen und hier mehr zurücknehmen. Das mit dem Gesetz verfolgte Ziel, bestehende Unwirtschaftlichkeiten durch Strukturreformen zu beseitigen, wird von uns grundsätzlich befürwortet. Es kann kein ernsthafter Streitpunkt sein, daß es im Gesundheitswesen gravierende Strukturfehler gibt. Man denke nur an die vielfältige Aufteilung der medizinischen Versorgung in voneinander getrennte Einzelbereiche oder an die schwache Stellung der Hausärzte. Bekannt ist auch, daß falsche Stimuli, noch dazu vor dem Hintergrund einer fast unkontrollierten Machtstellung und einer kaum gebremsten Profitorientierung der Medizinindustrie, das ärztliche Handeln teilweise in eine medizinisch nicht begründete Mengen- und Ausgabendynamik treiben. Deshalb sind echte Strukturreformen im Gesundheitswesen dringend erforderlich. Aber lassen Sie mich auch folgendes sagen: Entscheidend ist die richtige Ausgestaltung solcher Absichten im Sinne überzeugender Lösungen, und zwar solcher Lösungen, die sich in der Praxis auch als funktionstüchtig erweisen. In dieser Hinsicht lassen die im Gesetz enthaltenen Vorstellungen nach wie vor viele Fragen offen. Natürlich ist zum Beispiel eine Positivliste wirksamer und unverzichtbarer Arzneimittel ein sinnvolles Einzelelement, vor allem wenn man zu einer qualitativ besseren und rationelleren Arzneimittelversorgung kommen will. Aber davon allein sind die notwendigen Veränderungen kaum zu erwarten. Eine rationelle Arzneimittelversorgung verlangt auch die Zurückdrängung der gegenwärtigen Abhängigkeit des Verordnungsverhaltens der Ärztinnen und Ärzte von den Herstellern. Es verlangt außerdem die Gewährleistung einer gezielten und vor allem industrieunabhängigen fachlichen Information und Fortbildung der Leistungserbringer und letztendlich den Vorrang definierter Versorgungsaufgaben vor den Profitinteressen der Pharmaindustrie. ({1}) Doch der entscheidende Fehler dieser Gesundheitsreform besteht nach unserer Auffassung darin, daß die elementare Tatsache ignoriert wird, daß auch in der gesetzlichen Krankenversicherung die allein lohnbezogene Beitragsfinanzierung an ihre Grenzen gestoßen ist. Damit wird das wichtigste Problem des Gesundheitswesens in der vorgelegten Reform völlig ausgeblendet. Aber Tatsachen halten sich hartnäckig: Das Gesundheitswesen hat nicht nur ein Ausgabenproblem, sondern auch ein zunehmendes Einnahmenproblem. Die Finanzierungsschwierigkeiten in der gesetzlichen Krankenversicherung sind keineswegs in einer vermeintlichen Kostenexplosion begründet. Sie gehen in erster Linie auf die relativ zurückbleibenden Einnahmen in Folge der einschneidenden Veränderungen im Erwerbsleben zurück. Die bekannten Verschiebebahnhöfe zugunsten des Bundeshaushaltes haben diese Situation zusätzlich verschärft. Andererseits darf man die Augen nicht davor verschließen, daß die demographische Entwicklung und der medizinische Fortschritt den Bedarf nach gesundheitlicher Versorgung objektiv weiter erhöhen. Damit bleibt unabweisbar, daß sowohl die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen als auch die finanziellen Aufwendungen für diesen Bereich weiter zunehmen müssen. Reformansätze in der GKV und im Gesundheitswesen, die sich dieser Ausgangssituation nicht stellen, laufen Gefahr, in der Praxis zu scheitern. Will man dem begegnen, sind sowohl Strukturreformen als auch eine systematische Konsolidierung der Finanzgrundlagen unabdingbar. Allerdings sind wir - im Gegensatz zu bekannten gesundheitspolitischen Grundphilosophien von CDU/CSU und F.D.P. - nicht der Meinung, man solle die Einnahmenprobleme durch ständig steigende Belastungen der Patientinnen und Patienten lösen. ({2}) Im Gegenteil: Wir halten eine Stärkung und Erneuerung des Solidargedankens für notwendig und möglich, die auch unter den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen den Grundsätzen solidarischer Gerechtigkeit klar verpflichtet bleiben. ({3}) Dabei ist es erforderlich, dem Gesundheitswesen Entwicklungsspielräume im Rahmen der Steigerung des Bruttoinlandprodukts zu ermöglichen. Beitragssatzstabilität ist auch unter solchen Bedingungen zu gewährleisten. Notwendig ist nur der politische Wille - und der scheint zu fehlen -, die Möglichkeiten des bestehenden lohnbezogenen Finanzierungssystems voll auszuschöpfen. So ist es beispielsweise immer weniger vertretbar, daß sich ausgerechnet der besserverdienende Teil der Bevölkerung aus der solidarischen Übernahme von Gemeinschaftslasten verabschieden kann. ({4}) Wir halten es nach wie vor für richtig - was übrigens vor der Bundestagswahl auch von SPD und Grünen noch zu hören war -, die Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung auf das Niveau der Rentenversicherung zu heben. Auch die Auffassung, weitere Bevölkerungsschichten auf der Grundlage einer allgemeinen Versicherungspflicht in die gesetzliche Krankenversicherung einzubeziehen, finden wir richtig. Nach unserer Überzeugung gilt für das Gesundheitswesen und die gesetzliche Krankenversicherung ebenso wie für die anderen Sozialversicherungssysteme: Wer ihren solidarischen Charakter bewahren will, muß auch die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen. ({5}) Darüber hinaus muß man in diesem Zusammenhang eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums einfordern. Mittel- und längerfristig halten wir es für notwendig, daß auf der Grundlage einer anderen Steuer- und Finanzpolitik Bund, Länder und Gemeinden in die Lage versetzt werden, gesundheitliche Leistungen stärker als bisher aus Steuermitteln mitzufinanzieren. Darüber hinaus sollte bedacht werden, künftig den Arbeitgeberanteil der Unternehmen nach ihrer Leistungsfähigkeit zu berechnen, das heißt, nach ihrer Bruttowertschöpfung, die - im Unterschied zu den entsprechenden Lohnkosten - regelmäßig durchschnittlich steigt. Genau dies würde mehr Verteilungsgerechtigkeit bedeuten. ({6}) Die Tatsache, daß die Regierung eine Erweiterung der Finanzierungsbasis der GKV ausschließt - daran kann auch die kleine Veränderung, die Sie dort inzwischen bezüglich der Einnahmen von geringfügig Beschäftigten vorgenommen haben, nichts ändern -, wird schwerwiegende Folgen haben. In der zentralen Frage der Reform zwingt dies zum Abschied von der Realität. Denn nichts anderes ist es, wenn die Regierungskoalition an die Strukturveränderungen die Erwartung knüpft, sofort mit geringstmöglichen Finanzzuwächsen auszukommen, oder glaubt, Mittel direkt freisetzen zu können. Aber weder durch die Stärkung der Hausärzte noch durch Formen der integrierten Versorgung, noch durch die Positivliste können kurzfristig entsprechende Einsparungen erwartet werden; denn bei solchen Strukturveränderungen handelt es sich um tief in bestehende Denkund Handlungsmuster eingreifende soziale Lernprozesse. Das benötigt Zeit und muß von den Betroffenen mitgetragen und vor allen Dingen auch mitgestaltet werden. Hinzu kommt, daß das Gesundheitswesen nicht nur Überkapazitäten und Wirtschaftlichkeitsreserven besitzt. Es hat auch große Felder mit Unterversorgung und Nachholbedarf. Erfreulicherweise hat das inzwischen auch die Regierung zur Kenntnis genommen. Dennoch zieht sie es vor, nur das Ausgabenproblem des Gesundheitswesens wahrzunehmen und ab sofort ein hart begrenztes Globalbudget zu verordnen. Damit dient das richtige Ziel, Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen, nicht primär der Verbesserung in der medizinischen Versorgung. Es muß letztendlich als Begründung für eine rigorose Sparpolitik herhalten. Eine Gesundheitspolitik, die den Wachstumsbereich Gesundheitswesen von der Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungskraft abkoppelt, kann nur als Teil eines neoliberalen Gesamtkonzeptes verstanden werden. ({7}) Darüber hinaus wird deutlich, daß diese Reform primär von wirtschaftspolitisch determinierten Vorgaben und nicht von den eigentlichen gesundheitspolitischen Notwendigkeiten geprägt ist. Ein solcher Sparkurs kann nicht ohne Auswirkungen auf die Patientenversorgung bleiben. Auch wenn man annimmt, daß von einer Stärkung der hausärztlichen Tätigkeit oder von Formen der integrierten Versorgung günstige Wirkungen ausgehen können, bleibt die Gefahr für die medizinische Arbeit vorherrschend. Ihnen allen ist bekannt, daß ein bloßer Einspardruck nicht nur fragwürdige, sondern in gleichem Maße auch medizinisch notwendige Leistungen verhindert. Hinzu kommt: Die Verlierer solcher Art von Reformen sind die sozial Schwächeren und insgesamt all jene, die sich am wenigsten wehren können. Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit in der gesundheitlichen Versorgung werden auch auf solche Weise in Frage gestellt. ({8}) Es kann deshalb kaum verwundern, wenn ein so wenig durchdachtes Herangehen an Reformen von den Ärztinnen und Ärzten und den anderen im Gesundheitswesen Beschäftigten als Druck in Richtung Qualitätsminderung und Rationierung empfunden wird. Darüber hinaus weiß man, daß Anbieter medizinischer Leistungen, die bei prospektiven Preissystemen im wirtschaftlichen Wettbewerb stehen, tendenziell zu Unterversorgung stimuliert werden. ({9}) Unter anderem deshalb halten wir es für eine grundsätzlich falsche Weichenstellung, daß die Bundesregierung gewillt ist, ökonomischen Wettbewerb jetzt auch auf Krankenhäuser und andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen auszudehnen. ({10}) Ob man es wahrhaben will oder nicht: Marktprinzipien und wirtschaftlicher Wettbewerb haben in der gesundheitlichen Versorgung höchst verhängnisvolle Wirkungen. Sie machen chronisch Kranke und damit aufwendige Patienten zu unerwünschten Risiken, und sie diskriminieren die sozial Schwächsten. Im übrigen sind die negativen Folgen der Sparpolitik der Regierung schon im laufenden Jahr sichtbar geworden. Vor allem in Ostdeutschland ist es als Folge von grundlohnorientierten Budgetierungen bereits zu massiven Androhungen von Personalabbau, zu Abstrichen bei der medizinischen Leistungsfähigkeit sowie zu verschlechterten Arbeitsbedingungen gekommen. Es ist äußerst dringlich, die besonderen Finanzierungsprobleme in Ostdeutschland aufzugreifen und den Transfer zwischen West und Ost neu zu regeln. Deshalb wird es von uns außerordentlich begrüßt, daß sich die Regierung jetzt zu konkreten Maßnahmen entschlossen hat, um die Finanzsituation verschuldeter Kassen in den neuen Bundesländern substantiell zu verbessern. Die vorgesehene Kombination von Soforthilfen für eine weitgehende Entschuldung mit einem stufenweisen Übergang zum gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich bietet eine tragfähige Lösung. Allerdings hätte die erforderliche Hilfe für unverschuldet in Not geratene ostdeutsche Krankenkassen schon früher eine eigene gesetzliche Regelung gerechtfertigt. ({11}) - Ja, Herr Professor Pfaff, keine Frage: schon bei der vorigen Regierung. Die entsprechenden Herrschaften müssen sich das an den eigenen Hut stecken. Der größte Fehler war, daß man diese Kreditaufnahme überhaupt garantiert hat. Ich sage trotzdem: besser später als gar nicht. Ich vermute und befürchte, daß Sie durch die Verknüpfung dieses Problems mit der Gesundheitsstrukturreform versuchen - in Ihren Reden tun Sie es laufend -, die CDUregierten Länder ins Boot zu bekommen. Ich sage Ihnen im Interesse des eigentlich parteiübergreifend zu klärenden Problems ganz ehrlich und offen: Ich befürchte, daß das der Sache leider nicht dienen wird und daß es weitaus später zu einer Lösung kommen wird. ({12}) - Das ist nicht zum Klatschen, lieber Herr Kollege Zöller. Das ist traurig! Dieses Problem muß unbedingt gelöst werden. Ich glaube zwar nicht an Wunder, aber wir wollen einmal sehen, Frau Ministerin, was Ihr Treffen bringen wird und was es bringen wird, wenn Sie versuchen, Ihren Charme auszuspielen und die Herrschaften noch umzustimmen. Abschließend möchte ich aus unserer Sicht sagen: Die gegenwärtige Gesundheitsreform unterscheidet sich im Hinblick auf den Erhalt des Solidarsystems durchaus positiv von den Reformansätzen der Vorgängerregierung, aber insgesamt stellt auch sie keine adäquate Antwort auf die entscheidenden gesundheitspolitischen Herausforderungen dar. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich Ihnen mitteilen, daß die Fraktion der PDS um eine Sitzungsunterbrechung von 30 Minuten nach der Aussprache und vor der Abstimmung gebeten hat. Nun erteile ich der Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion, das Wort.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben von Herrn Thomae erfahren, welche Freiheiten er sich für die Versicherten vorstellt, ({0}) nämlich daß sie die Zeche zu bezahlen haben, weil Sie nicht den Willen und die Kraft haben, im System das zu verändern, was notwendig ist. ({1}) Sie wollen die Beitragssätze der Arbeitgeber festschreiben, obwohl Sie die Kosten explodieren lassen wollen. Zu zahlen hat der Versicherte, indem er zum einen die Beitragssätze bezahlen muß. Zum anderen rufen Sie ihn mit Ihrer sogenannten Selbstbeteiligung oder unter dem Stichwort Eigenverantwortung dazu auf, den Rest über den Bereich zu tragen, den man Zuzahlung nennt. Das heißt, Sie greifen den Leuten letztendlich zweimal in die Tasche. ({2}) Sie, Herr Thomae, haben allerdings - das muß man sagen - einen Sachverhalt ordentlich beschrieben, nämlich die Tatsache, daß unser System in den letzten 20 Jahren von Debatten über Kostenexplosion, Kostendämpfung und Kostensenkung geprägt war und daß wir einen Verteilungskampf unter den Leistungserbringern in diesem Gesundheitssystem haben, der letztendlich immer auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten ausgetragen wird. Das erleben wir in der Praxis derzeit wiederum. ({3}) Insoweit haben Sie die Situation trefflich beschrieben. Aber was passiert jedesmal, wenn die Politik sagt: Wir wollen Hand an die finanziellen Besitzstände der Leistungserbringer legen, wir wollen sehen, daß die Mittel ordentlich eingesetzt werden? - Dann werden die Patientinnen und Patienten gegen die Politik in Stellung gebracht. Das ist zwar in bezug auf die Besitzstände derer, die dort arbeiten, verständlich, aber meiner Meinung nach absolut schädlich für das Allgemeinwohl. ({4}) Bei all diesen Auseinandersetzungen, die wir in den letzten Jahren und auch in diesem Jahr erlebt haben, bleibt meiner Meinung nach eine ganz zentrale Frage des Gesundheitswesens auf der Strecke, nämlich die nach seiner Wirksamkeit, seiner Qualität und nach der Notwendigkeit der erbrachten Leistungen. Wir wissen zwar, was unser Gesundheitssystem kostet, wir wissen aber letztendlich nicht, was es leistet. ({5}) Es wird allerhöchste Zeit, daß wir diese Frage stellen, und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit, sondern insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der Qualität. Wir wissen inzwischen von unserem Gesundheitssystem, daß das Problem massiver Über-, Unter- und Fehlversorgung besteht. Das wollen Sie unter dem Oberbegriff der Therapiefreiheit festschreiben. Ich möchte Ihnen an einigen Beispielen deutlich machen, um welche Brisanz es sich dabei handelt. Untersuchungen im Bereich der Fehlversorgung haben ergeben, daß jede fünfte Behandlung, die im Krankenhaus durchgeführt wird, ebensogut - bei gleicher Qualität - auch ambulant durchzuführen wäre. Ich frage Sie: Wer geht schon gerne ins Krankenhaus? Dies ist allerdings noch die harmlose Form. Katastrophal wird es, wenn in einem noch von Minister Seehofer in Auftrag gegebenen Bericht festgestellt werden muß, daß 25 Prozent aller Eileiterentfernungen und 50 Prozent aller Gebärmutteroperationen unnötig waren. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Angesichts dieser Zahlen müssen doch auch Sie zu der Erkenntnis gelangen: Den Schaden hat der Patient; den Nutzen hatte allein derjenige, der die Leistung erbracht hat. Dies müssen wir beenden. ({6}) Auch die Überversorgung ist ein Problem. In der Bundesrepublik werden jährlich 5,5 Milliarden DM für Ultraschalluntersuchungen ausgegeben. Aber in Gesamteuropa werden lediglich 4,5 Milliarden ausgegeben! ({7}) Man könnte sagen: Vielleicht ist unsere Bevölkerung deshalb total gesund. Aber das Gegenteil ist der Fall: Wir geben in Europa das meiste Geld für die medizinische Versorgung aus. Trotzdem sind wir hinsichtlich der Qualität der Versorgung nicht die Nummer eins. ({8}) Ich möchte Ihnen auch Stück für Stück die Bereiche auflisten, in denen Unterversorgung herrscht. Es gibt im Bereich der chronischen Erkrankungen Unterversorgungen. Diese führen oftmals nicht nur zu einer Verlängerung des Leidens, sondern auch zu gravierenden gesundheitlichen Schäden, wie zum Beispiel zu Amputationen, die bei schlecht versorgten Diabetikern durch geführt werden müssen, die aber letztlich durch eine qualitativ gute Versorgung hätten vermieden werden können. Wir müssen uns noch mit einem weiteren Bereich des Gesundheitswesens beschäftigen; denn wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß schlecht versorgte Kranke weitere Kosten produzieren und daß schlecht versorgte Patienten vermeidbare Einbußen ihrer Lebensqualität in unserem Land hinnehmen müssen. Sie persönlich müssen den Preis dafür bezahlen, daß sie nicht so wirksam behandelt werden, wie es möglich wäre. Diesem wollen wir endlich und endgültig mit dem Gesetz einen Riegel vorschieben. Wir werden Maßnahmen ergreifen, auf deren Grundlage die Akteure des Gesundheitswesens gemeinsam vereinbaren können, nach welchen Qualitätskriterien und nach welchen Standards in der Bundesrepublik behandelt werden soll. Es ist selbstverständlich, daß dazu eine gewisse Bandbreite notwendig ist. Aber es kann nicht sein, daß das, was qualitativ gut gemacht werden könnte, den Menschen letztendlich vorenthalten wird. Auf diese Weise kann auch nicht das geleistet werden, was notwendigerweise in unserem Gesundheitssystem geleistet werden muß. Wir müssen endlich dafür sorgen, daß das Geld dorthin gelangt, wo es gebraucht wird, daß der Patient dann behandelt wird, wenn es notwendig ist, und daß der Patient dort behandelt wird, wo es sinnvoll ist. ({9}) Das alles beklagen Sie, Herr Thomae, unter dem Gesichtspunkt „Einbuße an Therapiefreiheit“. Ich sage Ihnen: Auch die Freiheit der Therapie muß dort Grenzen haben, wo sie sich auf Patientinnen und Patienten negativ auswirkt und etwas nicht so positiv durchgeführt wird, wie es möglich wäre. ({10}) Wir haben die anstehenden Aufgaben einem Koordinierungsausschuß übertragen, ({11}) an dem Ärzte und Patienten im Rahmen des Bundesausschusses beteiligt sind. ({12}) Sie sollen zusammen mit den Fachleuten der einzelnen Arztgruppen und mit den anderen am Gesundheitswesen Beteiligten Leitlinien entwickeln und Standards festlegen. Wir haben uns auch deshalb für diesen Weg entschieden, weil wir glauben, daß es in diesem Ausschuß ganz persönliche wirtschaftliche Interessenskonflikte nicht geben wird und deshalb sachgerechtere Entscheidungen über die Qualitätssicherung getroffen werden. Vor dem von mir beschriebenen Hintergrund der Zielsetzung des Gesetzes, mehr Qualität zu vernünftigen Bedingungen durchzusetzen, muß ich ehrlich zugeben, daß ich die Opposition nicht verstehen kann. Ich kann nicht nachvollziehen, wo Sie Probleme sehen. Die Regelungen für den Qualitätsstandard zielen vor allen Dingen darauf ab, daß jeder weiterhin das bekommt, was er braucht, um seine Krankheit zu heilen, oder daß dem Patienten, wenn seine Krankheit nicht mehr heilbar ist, das zur Verfügung gestellt wird, was notwendig ist, um die Auswirkungen dieser Krankheit möglichst gering zu halten. ({13}) Ich bin der festen Überzeugung, das ist zu erreichen nicht, indem man mehr Geld durch Zuzahlungen in das System pumpt. Das ist nicht eine Frage des Geldes, die wir hiermit zu entscheiden haben. Geld ist meiner Meinung nach genügend im System. Es muß an der richtigen Stelle eingesetzt werden. Solange in unserem Gesundheitswesen zu viel und unnötig geröntgt, operiert wird und solange immer noch Medikamente verschrieben werden, deren Wirkung nicht nachgewiesen ist, die aber ihrerseits durchaus Gesundheitsschäden verursachen können, solange in unseren Krankenhäusern aus Gründen der Kapazitätsauslastung Patienten untergebracht werden, obwohl sie ebensogut ambulant operiert und behandelt werden können, so lange ist in unserem Gesundheitssystem etwas nicht in Ordnung und so lange müssen wir unser Hauptaugenmerk darauf richten, die Mittel, die wir haben, vernünftig einzusetzen ({14}) und das durch vernünftige Verwendung eingesparte Geld dorthin zu lenken, wo es gebraucht wird und zur Verbesserung der Versorgung beitragen kann. ({15}) Diesen Weg sollten wir gehen, nicht den Weg: Einfrierung der Arbeitgeberbeiträge, Erhöhung für die Arbeitnehmer. Bei guter Qualität auf die Kosten zu achten sind wir meiner Überzeugung nach denjenigen schuldig, die jeden Monat mit vielen hundert Mark ihren Beitrag für das Gesundheitssystem leisten. ({16}) Diese Menschen sorgen auch dafür, daß im nächsten Jahr 5 Milliarden DM mehr für die Versorgung der kranken Menschen in diesem Lande zur Verfügung stehen. Sie aber stellen sich regelmäßig hier hin und tun so, als gäbe es immer weniger. ({17}) Es gibt aber beständig immer mehr Geld: 5 Milliarden DM mehr aus den Beiträgen, und wir werden zirka 1 Milliarde DM mehr allein aus den 630-DM-Arbeitsverhältnissen zur Verfügung haben, die endlich sozialversicherungspflichtig geworden sind. ({18}) Ich frage Sie auch noch einmal: Wie sieht es denn mit Ihren Alternativen aus? Sie sagen uns, wir sollten zu den Regelungen der Vorgängerregierung zurückkehren, die die Patientinnen und Patienten in Milliardenhöhe belastet haben, ({19}) die im Bereich Kuren und Rehabilitation eine Tabularasa-Politik betrieben haben, an der alle Bundesländer, auch Bayern, immer noch leiden. ({20}) Frau Fuchs, es wäre schön gewesen, wir hätten mehr Zuzahlungen zurücknehmen können. Aber auch für uns gilt in diesem Bereich: Wir können nicht mehr ausgeben, als wir in der gesetzlichen Krankenversicherung einnehmen. ({21}) - Wir haben vor den Wahlen Beitragssatzstabilität versprochen ({22}) und in diesem Rahmen Rücknahme von Zuzahlungen. Das haben wir auch durchgeführt, Herr Thomae. ({23}) Das, was Sie uns hier im Augenblick vorschlagen, ist nichts anderes als eine zusätzliche Belastung von Patientinnen und Patienten in Milliardenhöhe. ({24}) Das führt zur Zweiklassenmedizin. Sie wollen damit das erreichen, was Sie beim Zahnersatz schon vor einem Jahr erreicht haben: daß die Menschen es sich nicht mehr leisten können, die ärztliche Versorgung in Anspruch zu nehmen. Das werden Sie mit uns nicht hinkriegen. Wir sind an einem Kompromiß mit Ihnen im Bundesrat interessiert. ({25}) Aber wenn Sie bei der Haltung bleiben, die Sie seit Monaten haben, nämlich sich zu verweigern und keinen einzigen inhaltlichen Vorschlag auf den Tisch zu legen, dann werden wir prüfen, was alles zustimmungsfrei möglich ist. ({26})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich dem Kollegen Wolfgang Schäuble, Vorsitzender der CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen Gesundheitspolitiker, die Fachleute in diesem Haus, mögen mir verzeihen, wenn ich als Nichtexperte die Empfindung äußere, daß in dieser Debatte, in der es um sehr viele komplizierte technische Fragen geht, ein bißchen zu viel von Leistungserbringern und Kosten und all diesen Dingen die Rede ist. Deswegen lautet mein erster Satz: Aus der Sicht der Patienten haben wir in erster Linie immer wieder daran zu erinnern, daß wir in Deutschland ein gutes System und ein hohes Niveau gesundheitlicher Versorgung haben. ({0}) Ich glaube, gerade wenn man über so schwierige Fragen redet und sie regeln muß, ist es richtig, in der Debatte ein Wort des Dankes an die sogenannten Leistungserbringer, also an die Ärzte, an die Krankenschwestern und Krankenpfleger, an die Physiotherapeuten, an die Krankengymnasten und an alle medizinischen Hilfsberufe zu richten. ({1}) Wir sollten darauf achten, daß die Debatte nicht so verstanden wird, als würden wir eine Art Kriminalitätsbekämpfungsgesetz beraten. Nein, es geht darum, das hohe Niveau gesundheitlicher Versorgung in Deutschland zu erhalten und für die Zukunft zu sichern, ({2}) und das unter sich verändernden Rahmenbedingungen. Es gibt Veränderungen im Altersaufbau und beim medizinischen Fortschritt, der ungeheuerlich ist - ein Segen für die Menschen -, ein stärker werdendes Bewußtsein der Menschen für die Notwendigkeit der Gesundheit und dergleichen mehr. Deswegen ist es überhaupt keine Frage, daß unser System der gesetzlichen Krankenversicherung reformbedürftig ist. Das ist völlig außer Streit, deswegen sage ich das als zweiten Satz. ({3}) Als dritten Satz will ich ausführen, Frau Minister Fischer, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen: Das Gesetz, das Sie heute verabschieden wollen, ist keine Grundlage für eine verantwortbare Reform unserer gesetzlichen Krankenversicherung. ({4}) Der Kollege Lohmann hat das Verfahren ganz ruhig und nüchtern, wie er ist, geschildert. Es hat doch wirklich keinen Sinn, das Verfahren zu behindern. Das haben wir auch nicht getan, sondern zugestimmt, daß heute die zweite und dritte Lesung stattfinden kann, obwohl es von den Fristen her nicht möglich wäre. Wir hatten dabei aber nicht im Traum die Vorstellung, daß Sie in den letzten Tagen der Ausschußberatungen 345 Seiten ÄnGudrun Schaich-Walch derungsanträge einbringen würden, davon gestern, wie ich gehört habe, noch einmal an die 50 Seiten. ({5}) - Ich will Ihnen sagen: Ich höre im Moment von den Kollegen, daß in der Beschlußempfehlung des Ausschusses ein Punkt zur Beschlußfassung vorgeschlagen ist - ich kann das gar nicht prüfen, kein Mensch kann das im einzelnen übersehen ({6}) den Sie gestern als Antrag eingebracht und dann wieder zurückgezogen haben, weil Sie ein neues Anhörungsverfahren ausgelöst hätten. ({7}) Jetzt liegt er wieder der Beschlußempfehlung zugrunde. Nun mag es sein, daß das ein Versehen ist. ({8}) Man muß aber ein wenig darauf achten, denn der Verdacht liegt nahe, daß Sie sagen: Probieren wir es so, wenn es anders nicht geht. Ich will das aber nicht unterstellen. ({9}) Die Rückfrage, die ein Fraktionsvorsitzender an seine Kollegen im Ausschuß stellen muß, lautet: Könnt Ihr denn garantieren, daß ansonsten alles dem entspricht, was der Ausschuß beschlossen hat? Die Antwort ist: Kein Mensch kann das garantieren. Wie wollen wir als Gesetzgeber verantworten, daß wir etwas beschließen, Frau Minister, obwohl im Zweifel nicht einmal Sie wissen, was in der Beschlußempfehlung genau steht? ({10}) Ich mache eine weitere Bemerkung. Der Bundesrat muß diesem Gesetz zustimmen, sonst kommt es nicht zustande. Gibt es nicht von vornherein eine Übereinstimmung, kann es zu einem Vermittlungsverfahren kommen. Das ist alles geregelt. Es ist unvorstellbar, daß man ein solches Gesetz, das im Bundestag mit so wenig Sorgfalt beraten worden ist, nun im Vermittlungsausschuß in irgendwelchen Arbeitsgruppen - die Vermittlungsausschußmitglieder sind an keine Weisung gebunden - quasi vollständig neu beraten muß, wobei die Rolle der Regierung nur eine beratende ist. Der Vermittlungsausschuß ist ein Organ, mit Hilfe dessen am Schluß eines Gesetzgebungsverfahrens bestehende Differenzen zwischen Bundestag und Bundesrat aus der Welt geschaffen und vielleicht eine Einigung gefunden werden soll. Aber es soll nicht dazu dienen, ein Gesetz von Anfang an neu zu beraten. Das wäre eine Perversion des Vermittlungsverfahrens. ({11}) Frau Minister Fischer, es war für Menschen, die nicht jeden Tag mit den Auseinandersetzungen zu tun haben, schon ein bißchen bezeichnend, daß Sie anläßlich der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes, also anläßlich der Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag, die Fraktionen des Bundestages zu einem Gespräch in der nächsten Woche einladen, bei dem darüber diskutiert werden soll, wie man das Gesetz gemeinsam verabschieden kann. Das ist schon ein bißchen absurd. ({12}) Es ist auch ziemlich peinlich, wenn Sie die Lösung der Probleme der ostdeutschen Krankenkassen - ohne jede Not und ohne jede sachliche Begründung - in diesem Gesetz regeln wollen, nach dem Motto: Wollen wir einmal schauen, ob sich nicht der eine oder andere auf diesem Wege für die Zustimmung zu diesem Gesetz, das er eigentlich ablehnen möchte, gewinnen oder - wie ich salopp sagen möchte - kaufen läßt. Sie lassen sich nicht kaufen. ({13}) Wenn schon der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe, der nicht der CDU/CSU angehört, ({14}) gestern nach einer Konferenz der ostdeutschen Ministerpräsidenten gesagt hat, dieses Junktim werde von den ostdeutschen Ländern nicht unterstützt, sollten Sie doch merken: Solche Versuche sollten Sie bleiben lassen, wenn es Ihnen darum geht, eine verantwortungsvolle Reform zu machen. ({15}) Wenn das Gesundheitswesen, etwa das Krankenhauswesen und die gesetzliche Krankenversicherung, gesetzlich reformiert werden muß, dann muß man sich klarmachen: Die veränderten Rahmenbedingungen, die ich angedeutet habe - ich will keine lange Rede zur Sache halten -, sprechen wohl dafür, daß wir einen wachsenden Bedarf an Leistungen unseres Gesundheitssystems haben. Ich glaube nicht, Herr Dreßler - darüber werden wir beide uns wahrscheinlich nie verständigen -, daß man einen dynamisch wachsenden Bedarf - Bedarf heißt auch wachsende Nachfrage der Menschen - mit bürokratischen Systemen regeln kann. Das ist ein grundsätzlich falscher Ansatz. ({16}) Deswegen wird der Ansatz der Budgetierung nicht tragen. Im übrigen, Herr Dreßler, sollten Sie uns nicht vorwerfen, wir würden mehr Geld ausgeben. Sie haben beschlossene und in Kraft gesetzte Maßnahmen, die Sie im Wahlkampf bekämpft haben - das ist ja in Ordnung; wir haben das Wahlergebnis akzeptiert -, in diesem Jahr zurückgenommen, damit der gesetzlichen Krankenversicherung Einnahmen entzogen und zugleich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeweitet. ({17}) Die Methode „Haltet den Dieb“ funktioniert also nicht. ({18}) Sie können jetzt ganz spitzfindig sagen, Zuzahlungen seien keine Einnahmen für die Krankenkassen. Aber angesichts des wachsenden Bedarfs an gesundheitlichen Leistungen haben Sie die Einnahmen verringert. Deswegen will ich Ihnen sagen: Wenn Sie diesen dynamisch wachsenden Bedarf - die Bevölkerung will ja mehr an Gesundheitsleistungen haben; sie will die Segnungen behalten - deckeln wollen, wird es besser sein, daß wir uns darüber verständigen, was solidarisch und sozial an Grundsicherung gewährleistet werden muß, inwieweit die Eigenbeteiligung von Versicherten und Patienten möglich sind und welche Steuerungselemente sich daraus ergeben. Bei der Debatte um die Budgetierung hat man das Gefühl, daß Sie ein furchtbares Mißtrauen gegen Ärzte und Patienten haben, Frau Ministerin. Ich finde, Sie sollten das nicht haben, sondern den Menschen mehr zutrauen. ({19}) Nützen Sie die Elemente der Wahlfreiheit bei Leistungserbringern - so lautet ja der technische Begriff und Versicherten sowie die eines verstärkten Wettbewerbs und einer größeren Transparenz. Mit diesen vier Elementen werden wir - wenn Sie wollen, gemeinsam eine verantwortliche und dem Interesse der Menschen dienende Reform unserer gesetzlichen Krankenversicherung zustande bringen. Dies kann aber nicht auf der Basis des vorliegenden Gesetzentwurfes erfolgen. Wenn Sie ihn zurücknehmen und nächste Woche mit Gesprächen beginnen wollen, sind wir dazu bereit. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollegin Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle diejenigen, mit denen wir im vergangenen Jahr über das Gesundheitssystem gesprochen haben, sind sich darüber einig - auch Herr Schäuble hat das soeben betont -: Wir haben zum einen trotz Unterversorgung in einigen Bereichen eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Dieses Gesundheitssystem - auch das haben Sie soeben zugestanden - ist zum anderen dringend reformbedürftig, damit es überhaupt erhalten werden und überleben kann. Herr Kollege Schäuble, jetzt zu sagen, dieses System sei zwar reformbedürftig, aber da, wo Sie die Verantwortung für die Patientinnen und Patienten mittragen, nämlich in den Ländern, sei man nicht zu Gesprächen bereit, das halte ich für eine Form der Auseinandersetzung, für die wir nicht zur Verfügung stehen. Das verunsichert die Menschen draußen nach all den Kampagnen der letzten Wochen und Monate noch mehr. Ich glaube, Sie nehmen hier Ihre Verantwortung nicht wahr, sondern betreiben weiterhin Verunsicherung auf eine Weise, die zu Lasten gerade der Schwachen in unserer Gesellschaft geht. Dafür stehen wir nicht zur Verfügung. ({0}) Natürlich wissen wir, daß jede Reform im Gesundheitsbereich von großer Aufregung begleitet wird. Herr Seehofer weiß das. Manche im Haus erinnern sich noch daran, daß Herr Blüm - Spaßvogel, der er nun einmal ist - irgendwann einmal Sozialhilfeanträge an demonstrierende Ärzte verteilt hat. Ich sage das ohne Häme, aber auch ohne Leichtfertigkeit nach dem Motto: „Kritik interessiert uns nicht“. Im Gegenteil: Sie interessiert uns. Ein derart offener Umgang mit Kritik, aber auch mit Bestärkung, wie er dieses Gesetzesvorhaben begleitet hat, hat es noch in keiner Regierung bei keiner Gesundheitsreform gegeben. Deswegen kann man hier nach einem derartig offenen Prozeß die über Monate hinweg gemachten Vorwürfe, was das Verfahren im Parlament angeht, mit aller Deutlichkeit zurückweisen. Das tue ich hier für meine Fraktion. ({1}) Warum ist dieses Thema so sensibel? Auf der einen Seite geht es um Besitzstände, die sicherlich keiner gerne aufgibt. Auf der anderen Seite geht es um das Intimste, was man sich vorstellen kann, nämlich um die eigene Gesundheit, um den eigenen Körper, im Zweifel um Leben und Tod. Deswegen ist es unzulässig, die Ängste der Menschen zu instrumentalisieren, wie das in den letzten Wochen geschehen ist und wie Sie es heute auf die Spitze getrieben haben. Ich habe keine Lust darauf, daß, wenn wir im Bundesrat über die Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfes sprechen und darüber diskutieren, welche Möglichkeiten am besten zu dem Ziel führen, das bestehende System zu erhalten, dies auf Kosten derjenigen ausgetragen wird, die sowieso schon verängstigt sind. Wenn Sie unsere Vorschläge rundweg ablehnen, dann gibt es einige Fragen, die Sie den Patientinnen und Patienten sowie den Versicherten zu beantworten haben. Alle Welt beklagt sich über die Sektorierung im Gesundheitswesen: hier die niedergelassenen Ärzte, dort die Krankenhäuser, die Reha-Einrichtungen und die physiotherapeutische Praxis. ({2}) Wenn ein Mensch all diese Sektoren durchläuft, ist nicht sichergestellt, daß irgendeiner derjenigen, der an der einen Stelle behandelt, etwas von dem anderen weiß, der auch schon behandelt hat. Wenn Sie meinen, daß es weiter verantwortbar ist, innovative Elemente wie Modernität und Teamarbeit im Gesundheitswesen außen vor zu lassen und den Patienten nicht zu gewähren, statt dessen aber ein System, bei dem die eine Abteilung dieses und die andere jenes macht, ohne daß je darüber geredet würde, und das in jedem Wirtschaftsunternehmen nicht mehr tragbar wäre, zu befürworten, dann lehnen Sie diesen Gesetzentwurf ab. Diese Haltung müssen Sie den Patientinnen und Patienten dann aber auch erklären. Zweitens. Man könnte wahrscheinlich - wir alle haben vermutlich nicht genügend Zeit dafür - jeden Abend auf einem anderen Sender im Fernsehen einen Film sehen, der von einem Landarzt handelt, der die Kinder und die Eltern kennt, von den Großeltern und vom Liebeskummer weiß und im Zweifelsfall auch eine warme Suppe bereithält. Natürlich geht es bei der Stärkung des Hausarztsystems nicht um diese Umsetzung eines solchen Klischees von einer heilen Welt. Es geht aber schon um das Gute daran: Es soll nämlich derjenige gestärkt werden, der im Sinne der Patientinnen und Patienten den ganzen Menschen in seinem Umfeld, in seiner Geschichte und im konkreten Leben im Auge hat. Es sollen Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, damit er diese Arbeit gut leisten kann. ({3}) Wir haben dazu ganz konkrete Vorschläge gemacht; über die wurde ja heute auch geredet. Durch dieses Gesetz soll die Rolle der Hausärzte in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gestärkt und die sprechende Medizin aufgewertet werden. All das wird dazu führen, daß Hausärztinnen und Hausärzte ihre eigentliche Aufgabe wahrnehmen und kompetente Partnerinnen und Partner für die Patientinnen und Patienten werden können. Wenn Sie verhindern wollen, daß Patientinnen und Patienten solche Partner zur Verfügung stehen, dann müssen Sie gegen dieses Gesetz stimmen. Drittens. Alle hier wissen, daß Vorbeugung immer die beste Medizin ist. Das Gesetz sieht vor, daß an Hand von klaren Kriterien und mit einem sich jährlich dynamisierenden Betrag Prävention und qualitativ hochwertige Vorsorgemaßnahmen zum Standardprogramm werden. ({4}) Vorsorgemaßnahmen setzen beispielsweise im zahnärztlichen Bereich bei denen an, die sie tatsächlich brauchen, nämlich bei besonders gefährdeten Kindern und Jugendlichen. Das ist eine ganz konkrete Antwort auf die von Ihnen eingeführte Streichung von Zahnersatzleistungen für nach 1978 Geborene, die wir bereits zurückgenommen haben. ({5}) Wenn Sie dahin zurückwollen, müssen Sie es sagen und gegen das Gesetz stimmen. Viertens. Sie wissen, daß es die beste Möglichkeit für den Umgang mit einer Krankheit ist und auch der Gesundungsprozeß am besten dadurch unterstützt wird, wenn Patientinnen und Patienten selbst einbezogen werden und ihre Kompetenz einbringen können. Die Selbsthilfebewegung in Deutschland leistet in Verbänden, in kleinen und großen Gruppen hier richtige, gute und unverzichtbare Arbeit. Selbsthilfe braucht aber auch Unterstützung. Deswegen geben wir das klare Signal, daß Selbsthilfeeinrichtungen künftig auch finanziell von den Krankenkassen unterstützt werden. ({6}) Das wird natürlich auch Rückwirkungen auf das Gesundheitssystem haben. Wenn nämlich solche Kompetenz klarer organisiert ist, kann sie auch in die weitere Entwicklung des Systems zurückfließen. Wenn Sie dagegen sind, müssen Sie eben gegen dieses Gesetz stimmen. Fünftens. Jede Illustrierte macht heute Patientenberatung. Ärztinnen und Ärzte beklagen zu Recht, daß derart „aufgeklärte“ Patienten mit teilweise schwierigen eigenen Vorstellungen zu ihnen kommen. Weil wir das Vertrauensverhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten auf der einen und Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite stärken wollen, sehen wir in Form von Modellversuchen unabhängige Patientenberatung, die kompetent beraten kann, in unserem Gesetz vor. Auch davon erwarten wir uns natürlich Rückwirkungen auf die weitere Entwicklung des Systems. Patientenberatung dient zur Stärkung von Eigenverantwortung und von Selbstbestimmung. Sechstens. Es bestreitet niemand, daß angesichts von mehr als 40 000 Arzneimitteln eine große Unübersichtlichkeit auf dem Markt herrscht und es notwendig ist, neben der Zulassung auch noch für Qualitätssicherung zu sorgen. Patientinnen und Patienten wollen genau wissen, daß ein Medikament für ihren Fall wirksam ist. Zur Qualitätssicherung und nicht auf Grund irgendwelcher Einsparmaßnahmen wollen wir eine Positivliste für die Schulmedizin auf der einen und für Medikamente mit besonderen Therapierichtungen auf der anderen Seite einführen. Wenn Sie dieses Gesetz ablehnen, werden Sie begründen müssen, warum Sie nicht für eine solche zusätzliche Qualitätsprüfung im Sinne der Patientinnen und Patienten sind. ({7}) Über die Situation in Ostdeutschland ist heute schon viel gesagt worden. Wenn Sie die Regelung bezüglich der Krankenkassen in Ostdeutschland nur als strategisches Element hinstellen wollen, dann verkennen Sie gerade die Lage derjenigen, die in den Allgemeinen Ortskrankenkassen in Ostdeutschland versichert sind. Dazu gehören nämlich diejenigen, die nicht zu den Gewinnerinnen und Gewinnern der deutschen Einheit gehören, sondern diejenigen, die unsere Unterstützung und das ganz klare Signal brauchen, daß die beiden getrennten Rechtskreise, die wir im Gesundheitswesen in Ost und West immer noch haben, endlich aufgehoben werden. Diese Maßnahme ist nicht strategisch, sondern längst überfällig. Wir packen sie mit diesem Gesetzentwurf an. Darum werbe ich an dieser Stelle eindringlich um Ihre Zustimmung. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluß. Ich möchte am Ende meiner Rede auf Ihre Alternativen verweisen. ({0}) Was bei uns Prävention, Selbsthilfe, Eigenkompetenz und Selbstbestimmung heißt, heißt bei Ihnen neue Zuzahlungen. Was bei uns Stärkung der hausärztlichen Versorgung und integrierte Versorgung heißt, heißt bei einem Teil von Ihnen, Eintrittsgeld beim Arzt zu bezahlen. ({1}) Man kann nur feststellen, daß Sie keine weiteren Angebote haben. Darüber haben wir heute nichts gehört. Wir haben von Ihnen nur gehört, daß Sie nicht darüber reden wollen, wie das Gesundheitswesen gesichert werden kann und wie wir für die Patientinnen und Patienten mehr Vertrauen, mehr Sicherheit und mehr Selbstbestimmung schaffen können. Ich finde diese Haltung sehr schade und fordere Sie auf, diese Haltung zu überdenken. Vielen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nunmehr der Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit des Freistaates Bayern, Barbara Stamm, das Wort. Barbara Stamm, Staatsministerin ({0}) ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich die heutige Debatte vergegenwärtigt und wenn man Ihre Argumente, Frau Bundesgesundheitsministerin Fischer, und die der Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen hört, in denen immer wieder Ihre Kritik gegenüber der Opposition in diesem Hause und gegenüber der Union im Bundesrat - wir seien konzeptlos - zum Ausdruck kommt, dann kann ich nur feststellen: Sie waren es doch - das kann man Ihnen gar nicht oft genug sagen -, die mit dem hohen Anspruch die Regierungsverantwortung übernommen haben: Wir machen nicht alles anders, aber wir machen alles besser. ({2}) Alle waren begeistert von dem, was Sie besser machen wollten. Aber nun können Sie es nicht besser machen; Sie bessern nur nach. Sie sind wirklich die Nachbesserungsregierung: Was heute morgen gilt, ist am Abend schon nicht mehr gültig. ({3}) Jetzt beschweren Sie sich bei der Opposition in diesem Hohen Hause und demnächst bei den von der Union regierten Ländern im Bundesrat, daß wir nicht bereit sind, Konzepte zu liefern und den Dialog mit Ihnen zu führen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann Ihnen dazu schlicht und einfach sagen: Sie hätten kein sogenanntes Solidaritätsstärkungsgesetz zum 1. Januar 1999 in Angriff nehmen müssen. Sie hatten geordnete Verhältnisse in der gesetzlichen Krankenversicherung, Frau Bundesgesundheitsministerin. ({4}) - Natürlich hatten Sie geordnete Verhältnisse. ({5}) Es gab einen Überschuß von 1 Milliarde DM im Jahre 1998. Was ist aber dann passiert? Mit Ihrem sogenannten Solidaritätsstärkungsgesetz haben Sie diesen Überschuß im Grunde genommen für die Zukunft aufgebraucht. ({6}) Wir haben mittlerweile ein Defizit von 3,3 Milliarden DM, was Sie zu verantworten haben. ({7}) Frau Bundesgesundheitsministerin, ich habe wirklich gedacht, mir verschlägt es den Atem, als Sie gesagt haben, Sie wollten geordnete Verhältnisse schaffen. Sie hatten geordnete Verhältnisse in der gesetzlichen Krankenversicherung. ({8}) Ein weiterer Punkt. Frau Bundesgesundheitsministerin, es muß endlich einmal mit den Märchenstunden Schluß sein. Sie sagen, daß wir den Dialog verweigern. Was haben Sie denn in den zurückliegenden Monaten mit den von der Union regierten Länder gemacht? Wie oft haben wir - auch ich persönlich - Sie gebeten, vor Ihrem ersten Arbeitsentwurf Gespräche nicht nur mit den A-Ländern, sondern auch mit den B-Ländern aufzunehmen. Sie aber haben gesagt: Das nimmt nun alles seinen Lauf, wir machen das schon. Dabei haben Sie immer die Verhältnisse im Bundesrat im Auge gehabt. Sie haben uns doch nicht gebraucht, Frau Bundesgesundheitsministerin. ({9}) Nun aber stehen Sie vor der Tatsache, daß es Ihnen mißglückt ist, bestimmte Ostländer einzukaufen, und zwar wegen der Krankenkassenhilfe Ost. ({10}) Ich muß schon sagen: Dies geschah auf unappetitliche Art und Weise. Ihr Staatssekretär Jordan ist doch in den vergangenen Wochen auf Reisen gegangen, um sein Einkaufsmodell, betreffend bestimmte von der Union regierte Länder, im Osten auf den Weg zu bringen. ({11}) Nein, so können wir nicht miteinander reden. ({12}) Frau Bundesgesundheitsministerin, es sind noch einige Wochen bis zur Bundesratssitzung. Ich kann Ihnen heute sagen: Es wird Ihnen nicht gelingen, die Unionsseite in diesem Punkt auseinanderzubringen. ({13}) Es wird Ihnen auch nicht gelingen, im Vorfeld mit uns Konzepte zu erarbeiten. Wir sind nur dann bereit, mit Ihnen ein Konzept zu entwickeln, das den Namen Gesundheitsreform 2000 auch wirklich verdient, ({14}) wenn Sie Ihr Gesetz in Gänze zurücknehmen und mit uns gemeinsam die Weichen neu stellen. ({15}) Wir haben in den Ländern noch so viel Verantwortung und Selbstbewußtsein, daß wir die Gesundheitspolitik auch in Zukunft mitgestalten wollen. Herr Kollege Dreßler, nicht nur Sie erinnern sich an Lahnstein. Es gibt noch andere Kolleginnen und Kollegen, die dort waren. Was geschah denn in Lahnstein? Was wollten Sie damals mit dem Kompromiß erreichen, Herr Kollege Dreßler? Sie wollten das Globalbudget; das war im Jahre 1992. ({16}) Herr Dreßler ist stehengeblieben; er hat sich nicht weiterentwickelt. Er fordert noch immer das Globalbudget. ({17}) Dabei hatten wir mittlerweile ganz andere Herausforderungen im Gesundheitswesen zu bewältigen. ({18}) Was wollten Sie noch? Sie wollten die Monistik. Lieber Herr Kollege Dreßler, mich wundert es schon: Anscheinend haben bayerische Kolleginnen und Kollegen aus der SPD in diesem Hohen Haus und auch in der Regierung überhaupt nichts mehr zu sagen. Im Bayerischen Landtag nämlich gibt es diesbezüglich einen Antrag nach dem anderen. Wo immer Kolleginnen und Kollegen aus der SPD bei Krankenhauseinweihungen zugegen sind, sagen sie: Wir sind gegen die Monistik. Wir wollen die Letztverantwortung bei der Krankenhausplanung haben. ({19}) Sie sprechen hier doch nicht mit einer Stimme. Für was sind Sie denn nun? ({20}) Wer sich an Lahnstein erinnert, der weiß: Herr Dreßler forderte das Globalbudget, die Monistik - damit kam er aber nicht durch - und die Positivliste. ({21}) Wir alle wissen: Mitten in der Nacht und in den frühen Morgenstunden kam es nach mehreren Auftritten - es wurde gerufen: wir sind dagegen, wir machen nicht mit! - zu Sitzungsunterbrechungen. Zu sehr später Stunde, fast in letzter Minute haben wir uns auf die Positivliste geeinigt, um einen Kompromiß zu erzielen. Verehrter, lieber Herr Kollege Dreßler, ich persönlich und die Union stehen dazu: Wir haben in Lahnstein gemeinsam - mit Seehofer - zu dem Kompromiß „Positivliste“ gefunden; das ist richtig. Es war aber nicht die Idee der Union, auch nicht die der F.D.P. Sie wollten die Positivliste, und im Kompromiß haben Sie sich durchgesetzt. Wir haben aus guten, vertretbaren Gründen von dieser Positivliste Abschied genommen, ({22}) und zwar deshalb, weil wir uns weiterentwickelt haben. Wir haben gesehen, daß die Therapiefreiheit des Arztes mit einer Positivliste nicht mehr gegeben ist. Verehrter Herr Kollege Dreßler, wenn Sie sich mit SPDMinisterpräsidenten unterhalten, werden Sie sehr schnell feststellen, daß auch einige von denen ({23}) die Positivliste, was den Pharmastandort Bundesrepublik Deutschland anbelangt, als sehr negativ ansehen. ({24}) Das war letztlich der Grund, warum wir davon Abschied genommen haben.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Staatsministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Irber? Barbara Stamm, Staatsministerin ({0}): Nein, ich muß mich leider an die Zeit halten. Ich habe ein sehr strenges Zeitbudget. ({1}) Herr Kollege Dreßler, eines hat mich heute sehr erschüttert, ({2}) aber das wird wohl Ihre Botschaft an viele alte, chronisch kranke Menschen sein. Sie haben gesagt, Sie seien Staatsministerin Barbara Stamm ({3}) deshalb für die Positivliste, weil sie von therapeutischem Schrott bereinigt werden müsse. ({4}) Das ist Ihre Botschaft an viele Kranke und Ältere, vor allen Dingen an chronisch Kranke, die in Zukunft Arzneimittel nicht mehr durch die gesetzliche Krankenversicherung finanziert bekommen, weil die von der Liste gestrichen worden sind. ({5}) Angesichts dessen werfen wir Ihnen die soziale Kälte und die soziale Ungerechtigkeit vor, die Sie uns bei der Zuzahlung unterstellt haben. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, daß man sich mit einer so angelegten, in Bürokratismus verstrickten Reform ins Jahr 2000 aufmacht, ist völlig unverständlich. ({7}) Man muß sich nur einmal vorstellen, was allein der Medizinische Dienst regeln soll, ({8}) was nicht mehr in die Verantwortung des einzelnen Arztes und der einzelnen Krankenhäuser gehören soll! Lassen Sie mich noch einmal kurz auf die Krankenhäuser zu sprechen kommen. Herr Kollege Dreßler, wir nehmen für uns als Länder und vor allen Dingen für uns in Bayern in Anspruch, daß wir unsere Hausaufgaben in der Krankenhauspolitik immer gemacht haben. 1,2 Milliarden DM gibt der Freistaat Bayern jährlich für die Förderung seiner Kliniken aus. Sie führen eine Monistik ein, sind aber nicht bereit, die Gegenfinanzierung zu liefern, Frau Kollegin Fischer. ({9}) Im Jahre 2008 wird es 4 Milliarden DM weniger an Investitionsmitteln für unsere Krankenhäuser in Deutschland geben. Das ist Ihre Antwort. ({10}) Wie wollen Sie denn den kranken Menschen gerecht werden? Wenn in der heutigen Debatte gesagt wird, Sie nähmen den Menschen nichts weg, dann frage ich Sie, wo Sie leben. ({11}) Wir brauchen ja gar nicht mehr die Frage zu stellen, ob wir schon eine Zweiklassenmedizin haben. Wir haben sie schon, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({12}) - Ja, durch das Vorschaltgesetz und die Budgetierungen in diesem Jahr. Dann sagen Sie hier, es gebe keine Wartelisten in Krankenhäusern. ({13}) Es gibt sie, und sie führen dazu, daß ältere Menschen auf notwendige Operationen warten müssen, ({14}) obwohl es für sie medizinisch wichtig wäre, umgehend operiert zu werden. Gehen Sie doch einmal in Sozialstationen und unterhalten sich dort mit den Menschen. Dann werden Sie erfahren, daß heute bei schwerstpflegebedürftigen Menschen, die zu Hause leben, die Krankenversicherung nicht mehr für Leistungen eintritt, die noch im vergangenen Jahr selbstverständlich gewesen sind. ({15}) Schon heute werden in Arztpraxen keine neuen Patienten aufgenommen, weil das Budget ausgeschöpft ist. ({16}) Wissen Sie denn überhaupt, wohin Ihr Gesetz mit diesem Globalbudget führen wird? ({17}) Im übrigen frage ich mich, wo es in Deutschland überhaupt noch eine Krankenkasse gibt, die mit diesem Globalbudget zurechtkommt. Die Krankenkassen haben Sie doch verlassen. Sie brauchen nur einmal nachzulesen, was Herr Rebscher vor einigen Tagen von sich gegeben hat, und Sie brauchen nur die Protokolle der Sachverständigenanhörung nachzulesen. Dann werden Sie feststellen, daß selbst der Koalition nahestehende Wissenschaftler ganz deutlich gemacht haben, daß das Globalbudget mit dem medizinischen Fortschritt einfach nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, wenn Sie es so eng an die Grundlohnsumme binden. Nun sagen Sie, Sie hätten es gelockert, und es komme nun ein bißchen mehr Geld in das System hinein. Dazu verweise ich ganz schlicht und einfach darauf, daß Sie das, was Sie an Lockerungen im Budget vorgenommen haben, in Ihrem Gesetzentwurf zum Teil schon wieder verfrühstückt haben. ({18}) Insofern glaube ich schon - es ist hier die Polemik bedauert worden -, es war nicht gut, wie in den zurückliegenden Wochen und Monaten auch Ärzte in die Kritik gekommen sind. ({19}) - Natürlich! - Ich lege Wert auf die Feststellung, daß in einem modernen Gesundheitswesen, das vor allen Dingen auch unseren älteren Menschen gerecht werden soll, der Leistung auch das Geld folgen muß. ({20}) Staatsministerin Barbara Stamm ({21}) Das muß auch in dieser Debatte deutlich werden. Ich stehe auch dafür, daß in das Gesundheitswesen in Deutschland mehr Markt hineinkommen muß, ({22}) mehr Wettbewerb hineinkommen muß. Ich will hier aber nicht ausschließlich dem Markt das Wort reden. ({23}) Im Gegensatz zu dem von Ihnen vorgesehenen Bürokratismus mit dem Medizinischen Dienst und dem Globalbudget müssen der Markt, der Wettbewerb und die Verantwortung derjenigen, die in der Selbstverwaltung sind, gestärkt werden. ({24}) Wir verstehen Selbstverwaltung nicht so, daß es dabei um ein Diktat der Krankenkassen geht. ({25}) Für mich war ja interessant, daß Sie, Frau Kollegin Schaich-Walch, gesagt haben - ich formuliere das jetzt einmal vom Standpunkt der Länderseite -: Entweder machen Sie jetzt mit, ({26}) oder wir werden das Gesetz sozusagen auseinandernehmen und werden das Paket trennen in das, was zustimmungspflichtig ist, und das, was zustimmungsfrei ist. Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei. Machen Sie es! Frau Kollegin Fischer, gehen Sie es an! Machen Sie das Gesetz zustimmungsfrei; Sie werden dann schon sehen, was dabei übrigbleibt. Zu Strukturveränderungen werden Sie so nicht kommen. Aber wir haben dann keine Verantwortung dafür. ({27}) Vielen Dank. ({28})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.Fraktion spricht der Kollege Detlef Parr.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dieser Debatte sind wir am vorläufigen Ende einer Odyssee angelangt, einer Irrfahrt, die mit der Verweigerung eines ehrlichen Dialogs mit den Betroffenen begann - Terminanfragen, Frau Ministerin, sind offensichtlich bei Ihnen auf dem Stapel mit den Glückwünschen zum Amtsantritt gelandet -, die sich nach den Anhörungen mit der verpaßten Chance von grundlegenden Änderungen und grundlegenden Korrekturen fortsetzte und die im Wirrwarr der Änderungsanträge im Ausschuß endete. Für mich ist das eine Politik nach Gutsherrenart. ({0}) Jüngstes und eklatantestes Beispiel ist die handstreichartige Einführung eines bundesweiten Risikostrukturausgleiches, gekrönt von einer kräftigen Finanzspritze für die überschuldeten Ortskrankenkassen in den neuen Ländern. Wer die überaus komplizierten Fragen des Ausgleichs der unterschiedlichen Risikostrukturen der Kassen, die schon zahlreichen Experten seit Jahren Kopfzerbrechen bereiten, im Vorbeigehen erledigen will, ist an Verantwortungslosigkeit nicht zu übertreffen. ({1}) Ihr Herz mag links schlagen; mit der linken Hand lösen können Sie solche Probleme nicht. ({2}) Die alte Koalition war sich der Komplexität des Themas völlig bewußt; sie hatte ein Gutachten des Sachverständigenrates angefordert. Das würde in Kürze vorliegen, wenn Sie, Frau Ministerin, als eine Ihrer ersten Amtshandlungen nicht diesen Auftrag storniert hätten. ({3}) In der Anhörung war das Echo der von Ihrer Entschuldungsaktion betroffenen Krankenkassen erwartungsgemäß verheerend, natürlich mit der Ausnahme der AOK, die gegen das großzügige Geschenk der Ministerin nichts einzuwenden hatte. Aber der Chef der Barmer Ersatzkasse, Ekkehard Fiedler, hat Ihren Raubzug bei den gut wirtschaftenden Kassen im Westen völlig zu Recht als - ich zitiere - schallende Ohrfeige für all jene, die schon seit langem Solidarität üben, bezeichnet. Mit ihren bundeseinheitlichen Beitragssätzen, mit den kasseninternen Transfers haben sich die Betriebs-, Ersatz- und Innungskrankenkassen dem Problem längst gestellt. Sie haben gute Ergebnisse erzielt. Sie wollen sie jetzt dafür bestrafen. ({4}) Sicherlich ist es richtig, daß die Allgemeinen Ortskrankenkassen im Osten nach der deutschen Einheit schlechte Ausgangsbedingungen hatten und ihre Mitgliederstruktur nach wie vor problematischer ist als die im Westen. Aber - auch das darf nicht verschwiegen werden - diese Faktoren wurden weitestgehend ausgeglichen bzw., wenn man den Zahlen Glauben schenken darf, teilweise sogar überkompensiert.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Parr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie mich als Neuling nett fragen, Herr Kirschner, gerne. ({0}) - Herzlichen Dank, Herr Kirschner. Staatsministerin Barbara Stamm ({1}) Es gibt zudem hausgemachte Probleme bei den AOKs im Osten, und es wird zum Teil ineffizient gewirtschaftet. Deshalb löst diese einseitige und willkürliche Finanzspritze das Problem nur oberflächlich und kurzfristig. Was wir brauchen, ist eine Strukturanalyse als Grundlage eines schlüssigen Gesamtkonzeptes für die ostdeutsche Kassenlandschaft. Wir wollen vermeiden, daß die nächste Notlage kommt, die wieder auf Kosten der Versicherten mit Beitragssatzerhöhungen abgewendet werden muß. Die Bereitschaft, Solidarität zu üben - das hat auch Frau Ministerin Fischer heute in ihrer Eingangsrede gesagt -, ist eben nicht unendlich und darf nicht überstrapaziert werden. Festzustellen bleibt: Ein gesamtdeutscher Risikostrukturausgleich ist zehn Jahre nach Öffnung der Grenzen grundsätzlich richtig. Aber solange es unterschiedliche Tarife in Ost und West gibt, kann er nicht vollständig sein. Zudem muß man die besonderen Strukturen in Ost und West insgesamt auf den Prüfstand stellen, um beurteilen zu können, wie schnell und umfassend die Angleichung sein muß. ({2}) Die Verwerfungen in der bundesdeutschen Kassenlandschaft werden sich mit rein dirigistischen Eingriffen nicht glätten lassen. Willkürliche Beschränkungen des Wettbewerbs und der Konkurrenz unter den gesetzlichen Krankenkassen verkleistern lediglich das Problem. Jetzt komme ich zu dem Errichtungs- und Öffnungsverbot gegen BKK und IKK. Dieses Verbot zeigt, wie Sie dem Wettbewerb gegenüber eingestellt sind. Es richtet sich gegen den Wunsch der deutlichen Mehrheit der Verbraucher, die kein Kasseneinerlei wollen, sondern die Wettbewerb und Wahlmöglichkeiten wollen. ({3}) Es ist erfreulich, daß Sie kurz vor Toresschluß das Öffnungsmoratorium wieder zurückgenommen haben und damit wenigstens in diesem Teilbereich unseren Forderungen nachgekommen sind. Aber heute morgen haben Sie, Frau Ministerin, von einem „geordneten Verfahren“ gesprochen. Wir haben heute um 10 Uhr zufällig festgestellt - hier habe ich die 512 Seiten der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses zum Gesetzentwurf -, daß der § 8 der Überleitungsvorschriften im Gesetzentwurf immer noch überschrieben ist mit: „Moratorium für die Errichtung und Öffnung von Betriebsund Innungskrankenkassen“. Gestern dagegen ist der Antrag zum Öffnungsverbot zurückgezogen worden. Ich stelle mir die Frage: Ist das Chaos oder eine bewußte Irreführung? ({4}) Herr Dreßler ist nicht mehr da. Ich hätte ihn jetzt gefragt, ob man mit uns Abgeordneten jemals so in diesem Hause umgegangen ist. Ich möchte noch ein paar Bemerkungen im Hinblick auf den Datenschutz machen. Der vielstimmige Protest gegen die geplante Erweiterung der Befugnisse der Krankenkassen, persönliche Daten zu erheben und zu sammeln, hat Sie in Teilen umgestimmt, und das ist gut so. Was ich aber schlimm finde, ist, daß es überhaupt der nachdrücklichen Proteste der F.D.P. und der Datenschutzbeauftragten gegen die von Ihnen geplante Überwachung und Beschnüffelung von Patienten und Ärzten bedurfte. Diese Änderungsvorschläge hätten überhaupt nicht Eingang in diesen Entwurf finden dürfen. ({5}) Das ist ein weiterer Beweis dafür, wie weit sich die Grünen von ihren Prinzipien entfernt haben. Sie vertrauen eben dem Staat und den Institutionen mehr als dem Individuum. Uns trennen hier Welten. Wir wissen jetzt: Wir müssen gerade im Bereich des Datenschutzes weiter unser Wächteramt erfüllen. ({6}) Auch die weitgehenden Eingriffe in die ärztliche und zahnärztliche Selbstverwaltung und der Ausbau des Medizinischen Dienstes zu einem gewaltigen Kontrollorgan ({7}) zeugen von Ihrem Glauben an die Allzuständigkeit des Staates. Für uns bedeutet das Wort „Selbstverwaltung“, daß Ärzte und Zahnärzte ihre Angelegenheiten so weit wie möglich selbst regeln. Das hat sich in Jahrzehnten bewährt ({8}) und viel zur Kreativität und Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems beigetragen. Bei Ihnen liegt die Betonung offenbar auf dem Wort „Verwaltung“, nämlich im Sinne von Behörde. Denn bei dem, was Sie mit den Gremien der Ärzte und Zahnärzte vorhaben, haben offenbar behördenähnliche Strukturen Pate gestanden. ({9}) Es ist keine Frage, daß es auch in den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen so manchen Wildwuchs gibt, der behoben werden muß, aber wir möchten das im Konsens mit den Betroffenen tun und nicht gegen sie. Nur so macht das Prinzip der Freiberuflichkeit Sinn. Ansonsten könnten wir auch gleich alle Ärzte zu Angestellten der Krankenkassen machen. ({10}) Ich komme zum Schluß. Nach Wilhelm Röpke, einem der großen Liberalen und Väter der Sozialen Marktwirtschaft, ruht diese auf drei Säulen: Freiheit, Verantwortung und sozialer Ausgleich. Diese Werte sollen nach unserer Ansicht auch für das Gesundheitswesen gelten. Daran richten sich unsere Vorstellungen in dem Entschließungsantrag, der Ihnen heute vorliegt, aus. Wir brauchen Freiheit im Sinne von Wahlmöglichkeiten für die Versicherten, Sicherung der Freiberuflichkeit, freie Arztwahl, Therapiefreiheit; Verantwortung auch als Verantwortung für die eigene Gesundheit, bei der sich die Inanspruchnahme der Krankenkassen auf das gesundheitlich Notwendige beschränkt; sozialer Ausgleich, der sich unter anderem in Härtefallregelungen und Überforderungsklauseln ausdrückt. In diese Richtung muß die Gesundheitsreform gehen. ({11}) Wir werden im Bundesrat diesem Gesetzentwurf negativ gegenüberstehen, ihn in aller Konsequenz ablehnen und hoffen auf neue Gespräche und einen neuen Dialog, der offen und ehrlich geführt wird und ein besseres Ergebnis zeitigen muß als das, was auf diesen 512 Seiten vorliegt. Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Kirschner, SPDFraktion, das Wort. ({0})

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachdem gerade Kollege Parr und vorher Kollege Lohmann das Verfahren im Ausschuß als einmalig oder chaotisch bezeichnet haben, möchte ich darauf hinweisen, daß bei der Beratung des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes, das bekanntermaßen von der damaligen Koalition und Bundesregierung eingebracht wurde, ein Verfahren mit folgendem Zeitablauf im Ausschuß stattgefunden hat: Am 12. März 1997 wurden Änderungsanträge eingebracht. Am 14. März 1997 wurde um 13.30 Uhr eine Anhörung zu diesen Änderungsanträgen durchgeführt. Dann fand am 17. März 1997, also drei Tage später, eine Sondersitzung statt. Abgeschlossen wurden die Beratungen im Ausschuß am 19. März, und die zweite und dritte Lesung fand am 20. März 1997 statt. ({0}) Ein solches Verfahren gab es also nicht zum ersten Mal bei diesem Gesetz. Ich will daran erinnern, daß in der letzten Ausschußsitzungswoche der 13. Legislaturperiode am 17. Juni 1998 im Ausschuß Änderungsanträge beraten wurden, mit denen Regelungen an das Erste Medizinprodukteänderungsgesetz angehängt wurden, die völlig andere Bereiche betrafen, nämlich das Beitragsrecht des Sozialgesetzbuchs V, das Bundessozialhilfegesetz und das SGB X. In der gleichen Sitzung wurden die Ausschußberatungen abgeschlossen. Am nächsten Tag fand die zweite und dritte Lesung im Plenum statt. Dies wollte ich der Korrektheit halber darstellen. Man kann hier also nicht so tun, als ob wir im Gesundheitsausschuß zum ersten Mal unter diesem Zeitdruck gearbeitet hätten. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Martin Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele der Vorrednerinnen und Vorredner, vor allem aber Herr Dr. Schäuble und Frau Staatsministerin Stamm, haben hier vieles gesagt, ({0}) aber ehrlich in der Konsequenz waren sie nicht. ({1}) Denn wir wissen, daß es eigentlich nur drei Wege gibt, steigenden Ausgaben zu begegnen. Entweder müssen die Beiträge steigen, oder es müssen die Zuzahlungen steigen, oder man muß rationalisieren. ({2}) Dann sagen Sie doch offen, verehrte Frau Stamm, daß Sie die Beiträge anheben wollen, ({3}) oder sagen Sie offen, daß Sie die Zuzahlungen in noch weitere Höhen, als es Ihnen in Ihrer Verantwortungszeit gelungen ist, anheben wollen. Das haben Sie nicht gesagt, aber die deutschen Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht, dies zu erfahren. ({4}) Sie haben sich außerdem gebrüstet, Sie hätten geordnete Verhältnisse hinterlassen, weil Sie noch 1 Milliarde DM in den Kassen - ({5}) - Ja, aber Sie haben nicht gesagt, daß die Zuzahlungen vorher um mehrere Milliarden angehoben wurden. ({6}) Die Ausgaben über immer mehr Zuzahlungen zu finanzieren ist die Kunst der Primitiven. Das kann jeder. Sie haben keine Einsparungen realisiert. Wir haben es getan. ({7}) - Budgetierung, das ist das nächste Stichwort. Es ist eigenartig, liebe Kolleginnen und Kollegen, von wie vielen sektoralen Budgets wir von der anderen Regierung hören mußten. Das Landeskrankenhausbudget war Teil Ihres Konzepts. Jetzt, wo diese Regierung das macht und es auch im Rahmen des Globalbudgets noch flexibler macht, soll das Teufelszeug sein. Wer mit so gespaltener Zunge spricht, kann die deutsche Öffentlichkeit sicher nicht davon überzeugen, daß er ein besseres Konzept hat als wir. ({8}) Zur Positivliste: Wollen Sie wirklich, daß die Zwangsbeiträge der Versicherten verwendet werden, um Arzneimittelramsch zu finanzieren? Können Sie das wirklich sagen? ({9}) Wollen Sie wirklich, daß die Zwangsbeiträge der Versicherten oder die Zuzahlungen verwendet werden, damit Überkapazitäten - auch im Krankenhaus - finanziert werden? Nein, die knappen Mittel müssen für das verwendet werden, was wirklich notwendig ist. Nichts anderes will dieser Gesetzentwurf, den wir heute zu verabschieden haben. ({10}) Es geht nicht an, zu sagen, man wolle Einsparungen auch im Krankenhausbereich, ohne zu sagen, wie das geschehen soll. Die Monistik ist nur ein Instrument unter vielen. Daß Investitionskosten und laufende Kosten zusammengehören, hat selbst die F.D.P. heute wieder bekräftigt. Frau Staatsministerin Stamm, Sie haben Lahnstein erwähnt. Ich frage mich wirklich, mit welchem Maß Sie die jetzige Regierungskoalition messen. Wir haben uns in Lahnstein nicht verweigert. Wir haben uns beim GKV-Finanzstärkungsgesetz nicht verweigert. Jetzt, wo Sie verantwortungsvolle Oppositionsarbeit machen sollen, sagt Herr Dr. Schäuble oder deutet es zumindest an, daß selbst ein Vermittlungsausschußergebnis nicht denkbar ist. Dann frage ich Sie: Wie können Sie dies den deutschen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber vertreten? Wir würden uns schämen, mit solchen Positionen vor die deutsche Öffentlichkeit zu treten. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, können Sie wirklich dagegen sein, daß die Position der Hausärzte gestärkt wird, daß die integrierte Versorgung, also die Kooperation, verbessert wird? ({12}) Können Sie wirklich bestreiten, daß wir die Krankenhausfinanzierung reformieren müssen, daß wir die Patientenrechte stärken müssen und vieles mehr? ({13}) - Sie sagen: Ja, das wollen wir. Aber Sie zeigen nicht auf, wie Sie es anders oder besser als das machen könnten, was wir Ihnen vorgelegt haben. Auch das ist nicht konsequent. Diese Art der Opposition ist billig und wird auch nicht die Zustimmung der Deutschen finden können. ({14}) Davon sind wir fest überzeugt. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Punkt, der besonders angesprochen wird und den auch ich ansprechen will, ist der: Es geht noch immer eine Sozialmauer im Gesundheitswesen quer durch Deutschland. Es gibt noch immer getrennte Rechtskreise: West und Ost. ({16}) Es sind große Breschen geschlagen worden, aber die Reste der Mauer stehen noch. ({17}) Es ist höchste Zeit, daß die Reste der Mauer auch im Gesundheitswesen systematisch abgetragen werden. Es ist Zeit für einen gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich, denn die Probleme der Ostkassen gehen nicht nur die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands, sondern uns alle an. Es geht nicht nur um Geld, sondern es geht um viel mehr. Wir wollen nicht irgendwann in der Zukunft ein Volk von gleichen Brüdern und Schwestern in Ost und West sein. ({18}) Wir müssen etwas dafür tun. Wie es in einem Land keine Regionen unterschiedlicher Freiheit ohne Schaden für das Ganze geben kann, können wir auf Dauer keine Regionen unterschiedlicher Solidarität akzeptieren. ({19}) Wie die Freiheit ist die Solidarität in einem Gemeinwesen unteilbar. Das müßte eigentlich auch für alle hier gelten. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Pfaff, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jederzeit.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Professor Pfaff, können Sie sich daran erinnern, daß ich Anfang Mai dieses Jahres einen Antrag zum West-OstAusgleich eingebracht habe und daß von Mai bis jetzt in der Regierungskoalition nichts passiert ist, bis vor zwei Tagen Ihr Konzept auf den Tisch kam? ({0}) Halten Sie das für verantwortungsvoll gegenüber den neuen Bundesländern, die das besonders betrifft? Ich finde das unverantwortlich. ({1})

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Thomae, natürlich erinnere ich mich an Ihren Schaufenster- und Trostpflästerchenantrag. ({0}) Er hätte die Probleme der neuen Länder in keiner Weise geändert. ({1}) Seit Mai dieses Jahres und noch länger arbeiten wir an Konzepten, um die strukturellen Verwerfungen, die zu den Finanzproblemen geführt haben, zu beseitigen. Das ist die Antwort auf Ihre Frage. Auch das, lieber geschätzter Herr Dr. Thomae, sollten Sie wissen. Wir brauchen einen gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich. Wir brauchen aber noch viel mehr. Wir wissen, daß wir ihn nur schrittweise einführen können. Wir müssen auch die Altschulden beseitigen; so schwierig dies ist. Wir wissen, daß dies Schulden sind, die weder von den ostdeutschen Ländern selbst zu verantworten sind noch mit eigener Kraft abgebaut werden können. ({2}) Diese Schulden laufen seit 1994 an. Frau Staatsministerin, ich muß leider sagen: Es waren Bayern und Baden-Württemberg, die sich selbst dem damaligen Gesundheitsminister Seehofer verweigert haben, als wir die Probleme in den neuen Bundesländern anders angehen wollten. ({3}) - Ja, natürlich. - Es war die SPD, die sich bei der Lösung der Probleme beteiligt hat: die hohe Arbeitslosigkeit, der hohe Rentneranteil, die steigenden Kosten im Osten - die Schere zwischen Osten und Westen geht weiter auseinander. Ich darf daran erinnern, daß wir in Lahnstein die Aufhebung der Trennung der Rechtskreise gemeinsam beschlossen haben. Nur die Bedingungen - 90 Prozent der Lebens- und Einkommensverhältnisse - sind nicht realisiert worden. Zwar öffnet sich die Schere weiter, aber die politische Absicht sollten Sie eigentlich nicht in Frage stellen. Wir wissen, daß bestimmte Kassenarten besonders betroffen sind. Die Beiträge im Osten sind sehr viel höher als im Westen. ({4}) Die jüngeren AKV-Versicherten gehen von diesen Kassen weg, und immer mehr Schulden werden auf immer weniger und schwächere Schultern verlagert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wollen wir diese Probleme im Osten dadurch lösen, daß die Schwachen die Schwächeren finanzieren? Oder sind die Stärkeren in Gesamtdeutschland ebenfalls gefordert? Wir meinen: Solidarität ist eine Veranstaltung, die nicht nur unter den Schwachen stattfindet; Solidarität ist vielmehr eine Veranstaltung, die uns alle angeht. ({5}) Dafür haben wir in diesem Gesetzentwurf Vorkehrungen getroffen. ({6}) Zur Entschuldung von 1,3 Milliarden DM sage ich ganz offen: Dies ist eine sehr schwierige Frage. Wir wissen, daß die Situation nicht voll unverschuldet ist. Die Entschuldung erfolgt ja auch nicht vollständig; aber sie erfolgt so, daß zum Beispiel die AOKen im Westen an dieser Finanzierung in großem Umfang beteiligt sind, nachdem sie 400 Millionen DM von 3 Milliarden DM in den Osten transferiert haben. ({7}) Wir wissen, daß diese Beteiligung schwierig ist. Wir müssen die Kriterien so legen, daß das Geld auch wirklich dort ankommt, wo es gebraucht wird. Polemik und Streit gehören in ein Parlament. ({8}) Die schönsten Stunden des Parlaments, die ich erleben durfte, waren aber solche, in denen die Gemeinsamkeit der Demokraten gefordert und auch praktiziert wurde. Die Probleme der ostdeutschen Kassen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind keine Spielwiese für parteipolitische Auseinandersetzungen. ({9}) Die Probleme gehen uns alle an, ob wir es wollen oder nicht. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande dürfen erwarten, daß Sie - jetzt spreche ich die Opposition an - nicht weniger Verantwortung für das Ganze zeigen, als wir in Lahnstein oder beim Finanzstärkungsgesetz gezeigt haben. Damals haben wir parteipolitische Bedenken zurückgestellt. Wir haben Herrn Seehofer unterstützt, weil es der Sache und den Menschen diente. Nicht weniger, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, erwarten wir von Ihnen am besten heute oder spätestens, wenn es gar nicht anders geht, im Vermittlungsausschuß. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Pfaff: Zu behaupten, Ministerin Stamm und Minister Seehofer hätten nicht gemeinsam an einem Ost-West-Problemfall gearbeitet, ist einfach unwahr. Beide haben sogar einen Auftrag an den Sachverständigenrat erteilt, bis zum Dezember dieses Jahres diese diffizile Aufgabe ordnungsgemäß zu erledigen und uns Vorschläge zu unterbreiten. Die Ministerin hatte nichts anderes zu tun, als diesen Sachverständigenrat zu entlassen und das Gutachten zu streichen. Vor diesem Hintergrund kann man sich nicht hier hinstellen und behaupten: Da ist nichts passiert. - Das ist unredlich. ({0}) Es ist ebenfalls unredlich, sich hier hinzustellen und zu sagen: Unser Gesetz ist erstmals ein Gesetz, das die Versicherten nicht zusätzlich belastet.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Zöller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pfaff?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich. Entschuldigung, hier läuft die Uhr weiter. Ich bitte, daß sie angehalten wird. - Danke.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihre Uhr wird auch noch ablaufen, Herr Kollege Zöller, keine Sorge. Herr Kollege Zöller, denken wir doch zurück an die Situation, die zu diesem Gesetz geführt hat. Sie konnten sich in Ihrer eigenen Regierungskoalition nicht mit Bayern und Baden-Württemberg einigen. Die Bayern und die Baden-Württemberger wollten den Wettbewerbsföderalismus, das heißt, sie wollten die Solidarität unter den Starken einer Region, aber nicht insgesamt. Sie haben dann einen Kompromiß gefunden, um Zeit zu gewinnen. Stichwort: Laßt doch den Sachverständigenrat diese Frage beantworten. Ich sage: Die wesentlichen Punkte, um die es kurz- und mittelfristig geht, sind hinlänglich bekannt. Langfristig muß natürlich der Risikostrukturausgleich auf seine Kriterien hin überprüft werden. - Das ist die Wahrheit, und die sollten Sie bitte zur Kenntnis nehmen.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Professor Pfaff, Sie werden sich wundern: Ich war bei diesen Gesprächen im Bundeskanzleramt anwesend und kann mich daran recht gut erinnern. Damals ist diskutiert worden, wie jemandem, dessen Krankenkassenbeitrag 13,9 Prozent beträgt, zu erklären ist, daß er zusätzlich eine Krankenkasse, die ihren Beitrag künstlich auf 12,2 Prozent gesenkt hat, subventionieren soll. Mir konnte niemand erklären, was daran logisch ist. Deshalb sollte in dem Gutachten auch geklärt werden, wie man dies gerecht verteilen kann. Herr Kollege Dreßler, Sie haben vorhin gesagt, die Leute bekämen mehr, und haben versucht, dem Kollegen Lohmann das kleine Einmaleins zu erklären. Tut mir leid: Bei einer Grundlohnsummensteigerung von 1,66 Prozent bei gleichzeitigen Ausgabensteigerungen im Tarifbereich von 3,1 Prozent bleibt für die Versicherten weniger und nicht mehr übrig. Um dies zu begreifen, reicht schon die Mengenlehre aus. ({0}) Ich sage Ihnen: Mit Ihrem Gesetzentwurf wird der Patient die Zeche bezahlen. Auch bin ich verwundert, wie Sie die Patienten verunsichern. Ich darf zitieren, was die Staatssekretärin letzte Woche von diesem Pult aus zur Entlastung chronisch Kranker gesagt hat - ich zitiere wortwörtlich: Das ist für alle Alten und Kranken, die nur eine kleine Rente haben, eine ganz erhebliche Verbesserung. Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle: Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS. - Entschuldigung, Sie sagen die Unwahrheit! Leute mit kleiner Rente waren bei unserer Regelung von der Zuzahlung ganz befreit. Sie haben die Leute verunsichert und so getan, als müßten sie Zuzahlungen leisten. ({1}) Nur zu Ihrer Information: Ein Rentner oder eine Rentnerin mit einem monatlichen Einkommen von 1 764 DM ist von der Zuzahlung ganz befreit. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Einkommen von 3 307 DM monatlich ist ebenfalls von der Zuzahlung ganz befreit. ({2}) Mit Ihrer Teilrücknahme der Zuzahlung haben Sie die Besserverdienenden und nicht die Kleinen entlastet. Denn die Kleinen haben bisher nichts bezahlt. ({3}) Leider sind Sie nicht bereit, die verschiedenen sozialen Schieflagen in Ihrem Gesetz zu korrigieren oder - in Ihrem Jargon - nachzubessern. Sonst hätten Sie längst unsere Anregung aus der ersten Lesung aufgreifen müssen. Nach Ihrem Gesetzentwurf müssen nämlich Familien mit chronisch Kranken künftig das Doppelte dessen bezahlen, was sie nach unserer Regelung zu zahlen hatten. ({4}) Wenn Sie das Entlastung für chronisch Kranke nennen, tut es mir leid. Das kann ich nicht nachvollziehen. Wenn Ihr Gesetz nicht in Kraft tritt und Ihr befristetes sogenanntes Solidaritätsstärkungsgesetz außer Kraft ist, wird das für chronisch Kranke sogar besser sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im übrigen werden chronisch Kranke von der Positivliste in negativer Weise besonders betroffen, da sie künftig die benötigten schwachwirksamen Arzneimittel zu 100 Prozent selbst zahlen müssen. ({5}) Hier von medizinischem Ramsch zu sprechen, ist völlig unangebracht. ({6}) Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ärzte ihren Patienten Ramsch verschreiben. Für so unverantwortlich halte ich unsere Ärzte nicht. ({7}) Wenn sie den Versicherten jetzt nur hochwirksame Arzneimittel zukommen lassen, wird folgendes passieren: Diese hochwirksamen Arzneimittel wird die gesetzliche Krankenversicherung bezahlen ({8}) - ja, wesentlich teurer -, und die Nebenwirkungen der Arzneimittel werden wesentlich größer sein. Dies ist medizinisch nicht notwendig und zum Nachteil für die Patienten. Nun zum nächsten Punkt, mit dem Sie die Patienten benachteiligen. Ob Sie es wollen oder nicht: Behandlung nach Kassenlage führt zu Rationierung und zu Wartelisten für Kassenpatienten. ({9}) Ihre Krankenhausplanung ist ein weiteres Beispiel für eine Benachteiligung der Patienten. Nach rein fiskalischen Gesichtspunkten wird eine flächendeckende Versorgung durch Krankenhäuser auf dem Lande verhindert. Sie muten Patienten zu, daß sie nicht 15 Kilometer, sondern 30, 50 oder mehr Kilometer zur nächsten stationären Versorgungseinheit fahren müssen. Wenn Sie dies wollen, dann sagen Sie dies dem Patienten und schreiben Sie nicht über Ihr Gesetz „patientenfreundliche Regelung“. ({10}) Ein weiterer Punkt: Wir haben dem Patienten die Möglichkeit eingeräumt, seine privatärztliche Versorgung selber zu wählen. Des weiteren haben wir dem Kassenpatienten endlich das Recht auf eine Rechnung für ärztliche Leistung gegeben. Beide Regelungen haben Sie ersatzlos gestrichen. Es wäre wirklich eine Stärkung der Patientrechte gewesen, endlich eine Rechnung einfordern zu können. Durch Ihren neuen Gesetzentwurf wird zum Teil auch die freie Arztwahl eingeschränkt und die Therapiefreiheit entscheidend beschnitten. Die Auswirkungen Ihres sogenannten Aktionsprogramms gehen ebenfalls zu Lasten der Patienten. Wenn am Ende des Quartals das Budget ausgeschöpft ist, dann wird kein Arzt mehr eine Großpackung verordnen. Das Ergebnis ist: Der Patient bezahlt für eine Kleinpackung sowohl am Ende des Quartals als auch für eine Kleinpackung am Anfang des nächsten Quartals. Er zahlt also zweimal 8 DM zu statt einmal 9 DM für eine Großpackung. Nach Ihrer Regelung wird dem Patienten fast doppelt soviel abgezockt wie nach unserer Regelung. ({11}) Lassen Sie mich noch eines sagen: Ihre überzogene Überwachungs- und Reglementierungswut führt zu deutlich höheren Verwaltungskosten. ({12}) Wo soll das Geld dafür hergenommen werden? Das Geld, das für Verwaltungskosten ausgegeben werden soll, wird dort gespart, wo es für die Patienten medizinisch notwendig wäre. ({13}) Das Schlimmste an dem Gesetz ist für mich: Sie blähen die Bürokratie auf. Dadurch fehlen uns die Mittel dort, wo sie für die Patienten benötigt werden. Deshalb kann man nur zu dem Schluß kommen: Wer für die Patienten ist, muß gegen dieses Gesetz sein. ({14})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Bundesministerin für Gesundheit, Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Natürlich reizt es mich, auf etliches, was hier gesagt worden ist, inhaltlich einzugehen. Aber dies ist nicht der Punkt. Es geht vielmehr darum, wie der Vorsitzende der CDU/CSUFraktion mit dem Gesprächsangebot umgegangen ist, das ich heute gemacht habe. Ich halte es für ein eigenwilliges Demokratieverständnis, wenn Sie mir sagen, ich solle den Gesetzentwurf, über den der Bundestag heute befinden wird, zurücknehmen. So funktionieren die Gesetzgebungsverfahren in unserer Demokratie nicht, daß Minister hier handstreicherartig vorgehen und dem Bundestag vorschreiben könnten: Beendet jetzt eure Beratungen! Entscheidet euch in meinem Sinne! ({0}) Auch etwas anderes ist nicht richtig: Mit dem Hinweis auf Verfahrensfragen sagen Sie, man könne über den vorliegenden Gesetzentwurf nicht sprechen. Zwar ist heute schon einiges klargestellt worden, ich möchte aber darauf hinweisen, daß nicht alle Änderungsanträge erst seit gestern im Ausschuß vorgelegen haben. Dies haben Sie falsch dargestellt. Unabhängig davon, wie es tatsächlich gewesen ist, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß der Bundestag dieses Gesetz verabschieden wird. Erst dann stellt sich die Frage, wie das weitere Verfahren aussehen wird. ({1}) Es ist das Recht des Deutschen Bundestages, Gesetze zu verabschieden. Es ist falsch, wenn Sie das Gesetzgebungsverfahren zwischen Länderkammer und Bundestag mißbrauchen wollen, um eine Totalopposition aufrechterhalten zu können. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ramsauer?

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Nein, ich möchte meinen Gedanken fortsetzen. ({0}) Der Gesetzentwurf ist die Geschäftsgrundlage für die weiteren Beratungen. Mit Verlaub, wir brauchen für unsere Beratungen auch eine Grundlage; denn von Ihrer Seite gibt es nichts, über das wir reden könnten, außer Zeitungsinterviews und Äußerungen, die Sie irgendwo gemacht haben. ({1}) Ich will noch etwas dazu sagen, daß die Kollegin Stamm gesagt hat, wir würden erst jetzt zu den Ländern kommen, weil wir sie erst jetzt bräuchten. Liebe Kollegin Stamm, das ist einfach die Unwahrheit. Wir haben auf der Gesundheitsministerkonferenz, die meiner Erinnerung nach im Mai oder Juni in Trier gewesen ist, darüber gesprochen, daß es Sinn machen würde, wenn es zwischen den A- und B-Ländern und der Bundesseite Gespräche gäbe. Dazu hat es sogar eine Verabredung gegeben. Sie ist von Bayern aufgekündigt worden ({2}) mit dem Argument, daß sich die Verhältnisse im Bundesrat, was die Mehrheiten anbelangt, vermutlich ändern würden, und deswegen sei es sinnlos, im Spätsommer zu diesem Zeitpunkt waren wir eigentlich verabredet miteinander zu sprechen. Ich finde es ungeheuerlich, wenn Sie heute behaupten, wir hätten diese Gespräche verweigert. Ich weise auch entschieden zurück, daß Sie hier die Gespräche meines Staatssekretärs mit den Staatssekretären der B-Länder als Einkaufstouren denunzieren. ({3}) Er ist nur deswegen bei diesen Gesprächen gewesen, weil er den Kontakt und das Gespräch mit den B-Ländern gesucht hat. Das war seine Aufgabe, damit hatte ich ihn beauftragt. Es ging um die Vorbereitung solcher Gespräche. ({4}) Und jetzt reden wir doch einmal über den Sinn des Vermittlungsverfahrens: ({5}) Der Vermittlungsausschuß hat einen verfassungsrechtlichen Auftrag. ({6}) - Wir können jetzt noch eine Weile ausprobieren, wer von uns lauter brüllen kann, aber ich glaube nicht, daß es dadurch besser wird. ({7}) Sollten Sie damit weitermachen, würde ich den Präsidenten bitten, mir Unterstützung zu geben, damit ich zu diesem Punkt etwas sagen kann. Was ist der Sinn eines Vermittlungsverfahrens? ({8}) Es geht darum, Länderinteressen mit Bundespolitik in Einklang zu bringen. Das ist der verfassungsrechtliche Auftrag des Vermittlungsausschusses. Es ist nicht seine Aufgabe, parteipolitisch instrumentalisiert zu werden. ({9}) Sie sagen, daß Sie ein Interesse an konstruktiver Mitarbeit haben. Sie haben auch gesagt, Sie wollten keine Blockadepolitik machen. Dann aber ist es der Sache überhaupt nicht dienlich, wenn hier mit Vorbedingungen gearbeitet wird, die sozusagen das Verfahren als solches bereits unmöglich machen - übrigens auch mit einer falschen Unterstellung. Denn es ist allen Seiten bekannt, daß Vermittlungsverfahren auch auf Fachebene vorbereitet werden. Das wird jedoch nur funktionieren, wenn sozusagen - und dafür plädiere ich - abgerüstet wird, wenn man ohne Vorbedingungen in die Gespräche geht und respektiert, daß der Deutsche Bundestag eine Entscheidung trifft, die Gesprächsgrundlage ist, auf der dann über die drängenden Probleme geredet werden kann. Hier ist heute sowohl von mir persönlich als auch von seiten der Koalitionsfraktionen deutlich erkennbar geworden, daß wir gesprächs- und auch kompromißbereit sind. Wenn Sie dieses Angebot ausschlagen, dann spricht das nicht für Ihr Verantwortungsbewußtsein und auch nicht für Ihre Bereitschaft, wirklich zum Wohle der Gesundheitspolitik zu wirken. Jetzt sind Sie am Zug! ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Wie darf ich das verstehen, Herr Kollege Hirche? Möchten Sie eine Kurzintervention machen? Dann bitte ich darum, das rechtzeitig anzumelden. - Sie haben das Wort zu einer Kurzintervention.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mit meiner Wortmeldung gewartet, weil ich dachte, die Frau Ministerin geht noch auf den - von mir jetzt anzusprechenden - Sachverhalt ein. Deswegen kann ich das erst jetzt machen. Es ist in der Debatte von mehreren Rednern angesprochen worden, daß die Seite 394 der Drucksache einen Text enthält, der gestern im Ausschuß ausdrücklich anders beschlossen worden ist. Heute aber wird uns der Text so vorgelegt, wie er im Ministerium erarbeitet worden ist. Ich möchte von der Ministerin wissen - ich glaube, daß sie, da das im Ministerium miterarbeitet worden ist, der richtige Ansprechpartner ist; ansonsten richte ich diese Frage an den Präsidenten -, ob wir jetzt über die Ausschußvorlage - die hier nicht vorliegt - abstimmen sollen oder ob wir eine Korrektur dieser Seite bekommen, damit über den Text abgestimmt wird, der im Ausschuß beschlossen worden ist. Handelt es sich hier um eine falsche Drucksache, ja oder nein? Ist das Ministerium bereit, heute offiziell von seiner gestrigen Stellungnahme abzurücken? ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Da es dazu keine Wortmeldung gibt, fahren wir in der Aussprache fort. ({0}) - Ich kann es nicht ändern. Aber der Kollege Hirche hat eine Frage gestellt, die natürlich zu klären ist. Möglicherweise kann sie in der Unterbrechung, die heute mittag vor der Abstimmung stattfinden wird - darauf hat Präsident Thierse ja schon hingewiesen -, geklärt werden. - Eine Kurzintervention, eine Antwort des Kollegen Kirschner.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Ich will auf die relativ späte Verabschiedung eingehen, Herr Hirche. ({0}) - Ich brauche nicht zu wiederholen, was ich schon gesagt habe. ({1}) - Wenn Sie mich ausreden lassen, glaube ich, bekommen wir alles hin. Es ist völlig klar, daß es nicht korrekt übermittelt worden ist. Es handelt sich um einen Übermittlungsfehler. Ich erkläre hiermit, daß der Ausschußbericht geändert werden muß. Auf Seite 152 steht in Art. 1 Nr. 82 ({2}): ({3}) Soweit die Verträge die vertragsärztliche Versorgung einschließen, müssen sie Vorkehrungen dazu treffen, daß der Anteil der an der integrierten Versorgung teilnehmenden Versicherten höchstens 70 vom Hundert der Zahl der von dem einzelnen Vertragsarzt versorgten Versicherten umfaßt. Dieses ist zu streichen, weil dieser Antrag zurückgezogen wurde. Auf den Seiten 394 und 395 - Sie sehen, wir passen auf, Sie haben es noch nicht einmal bemerkt - sind in Art. 23 § 8 in der Überschrift die Worte „und Öffnung“ zu streichen. Darüber hinaus ist § 8 Abs. 2 einschließlich Inkrafttretungsvorschrift zu streichen. Das heißt, die Seite 18 der Ausschußdrucksache 14/274 ist zurückgezogen worden. Dies will ich der Korrektheit wegen sagen. Ich stelle hiermit den Antrag, daß diese Ausschußdrucksache so geändert wird, daß sie die vom Ausschuß beschlossene Fassung enthält.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer weiteren Kurzintervention, zu einer Erwiderung der Kollege Zöller.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich habe jetzt ein ganz großes Problem. Bisher haben wir nur von der Änderung, die nicht in diesen Entwurf aufgenommen wurde - von der Betriebskrankenkassenregelung -, gesprochen. Daher verwundert es mich, daß jetzt noch eine Änderung kommt. Ich muß also davon ausgehen, daß man diesen Bericht erst einmal durchlesen muß, um zu prüfen, ob in ihm das steht, was wir gestern beschlossen haben. Es kann ja nicht angehen, daß wir im Ausschuß etwas beschließen und heute während der Beratung ständig Änderungen kommen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Wenn Ihre Wortmeldung, Herr Kollege Ramsauer, eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung ist, dann haben Sie das Wort.

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Nach dem, was uns jetzt hier von fachlicher Seite vorgetragen worden ist, bitte ich Sie für die CDU/CSUBundestagsfraktion ({0}) - ich höre gerade, daß ich das auch für die Fraktion der F.D.P. tun kann -, zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund im Einklang mit der Geschäftsordnung unseres Hauses eine Fortführung der Beratung dieses Gesetzes überhaupt möglich ist. ({1}) Im Hinblick auf diese Prüfung beantrage ich vorsorglich für meine Fraktion - ich nehme an, auch für die F.D.P.Fraktion - eine sofortige Unterbrechung der Sitzung. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich habe diese Wortmeldung so verstanden, daß die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. die sofortige Unterbrechung der Beratung erbitten. Können wir darüber eine Verständigung unter den Fraktionen erzielen?

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Unabhängig von der Tatsache, daß es das Recht jeder Fraktion ist, eine Unterbrechung der Sitzung zu verlangen - das versteht sich von selbst -, kommt es mir auf folgendes an: Der Ausschußvorsitzende, der Abgeordnete Kirschner, hat gerade den Sachverhalt vor dem Deutschen Bundestag dargestellt. Er hat dargestellt, daß auf Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. die Koalitionsfraktionen gestern im Ausschuß die beiden Anträge, die er gerade zitiert hat, zurückgezogen haben. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Dreßler!

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich darf in eigener Sache feststellen, daß die Empörung bei der CDU/CSU nicht meiner Intervention gilt. Nun hat der Abgeordnete Kirschner in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Gesundheitsausschusses dem Hause mitgeteilt, daß diese beiden Anträge - aus einem Grunde, den ich nicht kenne - gleichwohl auf merkwürdige Weise in der Ausschußdrucksache aufgetaucht sind. ({0}) Das heißt, bei der Beschlußfassung des Ausschusses waren diese beiden Anträge nicht mehr existent. Damit kann auch hier nicht über Inhalte gestritten werden, denn diese beiden Passagen sind vom Ausschuß nicht beschlossen worden. Ich lege Wert darauf, daß zur Kenntnis genommen wird: Es geht nicht um strittige Texte, sondern nur darum, daß ein Antrag, der gar nicht zur Abstimmung stand, in diese Ausschußdrucksache eingefügt worden ist - auf welche Art und Weise auch immer. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind nun in einer etwas eigenartigen Situation. Es wurde der Geschäftsordnungsantrag auf Unterbrechung der Sitzung gestellt. Aber da der Kollege Dreßler, nachdem ich ihm das Wort erteilt habe, den Sachverhalt aus seiner Sicht dargestellt hat, möchte ich diese Möglichkeit nun auch den beiden Kollegen der Oppositionsfraktionen geben. Ich bitte Sie, sich kurz zu fassen. Dann werde ich die Sitzung unterbrechen.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe den Eindruck, Herr Präsident, auch der Kollege Dreßler hat jetzt den Überblick verloren. Es war nicht so, wie Sie sagen, daß die Anträge auf Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. zurückgezogen worden sind. Wir haben bei der Erläuterung der Anträge festgestellt, daß mit diesen Anträgen neue Tatbestände ins Verfahren eingeführt werden. Deshalb - das ist ein Minderheitenrecht - haben wir gesagt: Da muß wohl eine öffentliche Anhörung stattfinden. Daraufhin wurden diese Anträge zunächst beiseite geschoben und ausgesetzt. Dann gab es eine Sitzungsunterbrechung. Als wir in die Sitzung zurückkehrten - ohne jeden Antrag -, hatten die Antragsteller ihre Anträge zurückgezogen. ({0}) - Sie haben eben von unseren Anträgen gesprochen, aber wir haben überhaupt keine Anträge dazu gestellt, und zwar deswegen nicht, weil man befürchtet hat, daß durch eine öffentliche Anhörung der zeitliche Ablauf behindert werden würde. Noch ein Satz: Herr Kollege Kirschner, die Worte „und Öffnung“ sagen Sie so leicht dahin. Es ging bei den Worten „und Öffnung“ darum, daß Sie den bestehenden Betriebskrankenkassen untersagen wollten, sich im Rahmen der Wahlfreiheit für alle Versicherten zu öffnen, die den Wunsch haben, diesen Betriebskrankenkassen beizutreten. ({1}) Darum ging es! ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege, bitte schön.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es war in der Tat so, wie Herr Lohmann es geschildert hat. Aber ich denke, nachdem wir jetzt in Windeseile diese zwei Tatbestände gefunden haben, wäre es sehr sinnvoll, wenn wir Zeit bekämen, das Paket insgesamt daraufhin durchzusehen, ob hier nicht noch weitere Fehler vorhanden sind. Daher beantrage ich Sitzungsunterbrechung. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Wir haben in diesem Hause klare Regeln. - Jetzt kommt der Antrag des Kollegen Ramsauer. Darüber werde ich dann entscheiden.

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Ich möchte meinen Geschäftsordnungsantrag von vorhin wie folgt ergänzen: Da die Verfahrenslage immer verworrener wird und von seiten der Koalitionsfraktionen nicht für Aufklärung gesorgt werden kann, sehe ich die einzig gangbare Möglichkeit darin, daß der Ältestenrat zusammentritt ({0}) und die weiteren Möglichkeiten des Verfahrens prüft. Ich beantrage deswegen die sofortige Unterbrechung der Sitzung, verbunden mit der Bitte, daß der Ältestenrat sofort zusammentreten möge. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nach diesem Antrag der CDU/CSUFraktion und der F.D.P.-Fraktion wird die Sitzung unterbrochen. Die Sitzung des Ältestenrates wird in Abstimmung mit dem Präsidenten einberufen. Dieser Zeitpunkt und der Zeitpunkt, wann die Sitzung des Deutschen Bundestages fortgesetzt wird, werden noch bekanntgegeben. Ich unterbreche die Sitzung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich weise noch einmal darauf hin, daß der Ältestenrat beschlossen hat, daß wir jetzt mit der Beratung der weiteren Tagesordnungspunkte fortfahren und die Entscheidung des Ältestenrates und des Gesundheitsausschusses bezüglich des Gesundheitsreformgesetzes abwarten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warndatei - Drucksache 14/1662 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als ersten Redner rufe ich den Kollegen Erwin Marschewski von der CDU/CSU-Fraktion auf.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Schleusertum ist ein menschenverachtendes Geschäft und ein schweres Verbrechen. Schlepper, Schleuser und Menschenhändler versprechen den Menschen den Himmel auf Erden - natürlich gegen Geld. Eine einzige Schleusung kann bis zu 40 000 DM kosten. Der illegale Zutritt ins gelobte Land in der Mitte Europas mit seinem attraktiven Sozialsystem wird aus blanker Profitgier angeboten. So kommen der Taxifahrer aus Sri Lanka, die junge Thailänderin oder der frustrierte, gefährdete junge Mann aus dem Balkan sehr oft illegal nach Deutschland. Diese Menschen finden wir dann leider allzuoft in erzwungener Prostitution und in Kriminalität wieder, denn sie müssen ja weitere Raten für ihre Schlepper zahlen. Im übrigen machen sie dann politische Verfolgung geltend. Das haben ihnen die Schlepper so beigebracht. Da die meisten aber keine Asylgründe haben, müssen sie am Ende in ihre Heimat zurückkehren. Sie sind dann entwurzelt und gesellschaftlich wie wirtschaftlich ruiniert, denn für den Schleuserlohn haben sie sehr oft alles Hab und Gut veräußern müssen. Allein im vorletzten Jahr hat der Bundesgrenzschutz 12 000 Geschleuste festgestellt. Dies ist die offizielle Zahl. Die Zahl ist im Steigen begriffen. Die Dunkelziffer - meine Kolleginnen und Kollegen Fachleute wissen dies - ist natürlich um ein Vielfaches höher. All dies macht deutlich: Die eingeschleusten Menschen sind Opfer ihrer Schlepper. Aber auch die deutsche Gesellschaft wird durch das verbrecherische Tun dieser Gangster geschädigt. Sie hat nämlich letzten Endes die finanziellen Aufwendungen für die Opfer der Schleuser zu tragen. Daher gilt, meine Damen und Herren: Die Bekämpfung der illegalen Einwanderung und insbesondere der Schleuserkriminalität muß wieder zum Schwerpunkt deutscher Innenpolitik werden. Nur einfach zu sagen, Herr Mini ster Schily, die Grenze der Belastbarkeit sei überschritten, ohne hieraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen, das reicht einfach nicht. Es ist dringend vonnöten, diesen richtigen Worten endlich Taten folgen zu lassen, Herr Innenminister. ({0}) Wir wissen, meine Damen und Herren, daß die Schlepper, wenn sie mit ihren Opfern erst einmal die Grenze überschritten haben, gewonnen haben und unser Land den Kampf gegen diese Verbrecher verloren hat. Deswegen wollen wir im Vorfeld eingreifen, was durch unseren Gesetzentwurf ermöglicht wird. Wir erfassen bereits - das wissen Sie - gewisse Daten im Ausländerzentralregister. Doch hier sind Verbesserungen nötig: Erstens. Man muß nicht nur wissen, ob ein Ausländer einen Visumsantrag gestellt hat, man muß auch wissen, wie über diesen Antrag entschieden worden ist; denn nur so läßt es sich leichter feststellen, ob ein Ausländer versucht, mit einem gefälschten Visum seine Einreise nach Deutschland zu erreichen. Zweitens. Es reicht nicht aus, daß nur das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter Zugriff auf die Daten des Ausländerzentralregisters haben. Die Kontrollen sind meines Erachtens nur dann effektiv, wenn auch sonstige Polizeivollzugsbehörden Zugriff erhalten. Drittens. Wenn sich jemand verpflichtet - das ist nach dem Ausländerrecht möglich -, die Kosten des Aufenthaltes eines Ausländers in Deutschland zu übernehmen, diese Verpflichtung aber nicht einhält, so geht dies zu Lasten der Solidargemeinschaft. Diese Situation darf nicht so bleiben. Die Träger von Sozialhilfe und von Asylbewerberleistungsgeld müssen die fälligen Erstattungsansprüche, so meinen wir, auch durchsetzen können. Last, not least. Mit der Warndatei, die wir ebenfalls vorschlagen, wollen wir Visabetrügereien verhindern. Es kann nicht sein, daß zum Beispiel ein in Bombay konsulatsbekannter Visabetrüger nach Neu-Delhi geht, dort ein Visum verlangt und dieses Visum bekommt, weil er dort nicht bekannt ist. Deswegen sollten alle Auslandsvertretungen und alle Grenzbehörden in die Lage versetzt werden, auf diese Warndatei zuzugreifen und Auskunft aus ihr zu erhalten. Dies sind einige der Folgerungen, die zumindest wir aus fünf Jahren Erfahrung mit dem novellierten Gesetz über das Ausländerzentralregister gezogen haben. Mit dem Gesetzentwurf schaffen wir die Voraussetzungen dafür, daß eben die Schleuserkriminalität besser bekämpft wird, daß Visaerschleichungen besser verfolgt werden und daß Leistungsbetrug begrenzt wird. Der Vorsitzende des Innenausschusses, der SPDKollege Penner, hat dies bereits begrüßt. Er hat jedenfalls gesagt, so habe ich gelesen, ihm seien alle Gesetzentwürfe willkommen, die beklagenswerte Mißbräuche bekämpfen. Das haben auch andere SPD-Kollegen auf Informationsbesuchen neulich in Ghana und im Senegal gesagt. Ich werte dies als Aufforderung und als Signal, daß wir im Ausschuß eine offene Debatte über unseren Gesetzentwurf führen können. Was nun die Bundesregierung anbelangt, Herr Bundesinnenminister, habe ich den Eindruck, daß Sie das Problem erst erkannt haben, nachdem wir unseren Gesetzentwurf vorgelegt haben. In der letzten Woche gab es ein Symposium des Bundesnachrichtendienstes. Frau Kollegin Staatssekretärin, dort haben Sie gesagt, Sie wollten ein sogenanntes Frühwarnsystem einrichten. Sie haben außerdem gesagt, der gesetzliche Spielraum sei noch nicht ausgeschöpft. Herr Minister Schily, wenn man wie Sie in der Regierung ist, dann darf man ruhig ein wenig konkreter sein. ({1}) Sie haben jetzt den Auftrag zum Regieren, der zum Handeln verpflichtet. Dieser Auftrag heißt, Herr Kollege Stiegler: Nicht mehr Zuwanderung, sondern Zuwanderungsbegrenzung und vor allen Dingen eine wirksame Bekämpfung von Schleppern und Schleusern sind das Gebot der Stunde. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Marschewski, kommen Sie bitte zum Schluß.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluß. Beschränken Sie sich nicht darauf, Herr Bundesinnenminister, uns wie in Tampere ein wortreiches SollteMüßte-Dürfte vorzuschlagen! Nehmen Sie mit uns gemeinsam den Kampf gegen das organisierte Schleppertum auf! Ich verspreche Ihnen: Wenn es im Bundestag wegen der Grünen etwas schwieriger werden sollte, dann werden wir dies, so glaube ich, gemeinsam im Vermittlungsausschuß schon richten. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Eckhardt Barthel von der SPD-Fraktion das Wort.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Beitrag von Herrn Marschewski habe ich ein bißchen Angst bekommen: In welchem Land lebe ich denn? Wodurch bin ich bedroht? Es macht mir Sorge, wenn ich eine solch einseitige Beschreibung der Situation höre. Ich frage mich: Hat die Verbreitung von Angst Methode? Was ist das Ziel? All das, was Sie angeführt haben, in Verbindung mit dem AZR zu bringen, halte ich für ein wenig übertrieben. ({0}) Natürlich sieht man sich ein Gesetz, das bereits seit fünf Jahren in Kraft ist, auf Verbesserungs- und Veränderungsbedarf hin an. Das gilt allgemein und nicht nur für dieses Gesetz. Ich wundere mich aber manchmal, daß, wenn von der CDU/CSU eine Änderung in Sachen Ausländerrecht gewünscht wird, dies immer mit Verschärfung einhergeht. Vielleicht sollte man einmal in eine andere Richtung sehen. ({1}) - Nein, nicht „nur so“. Meine Damen und Herren, wenn man Änderungen will - das schlagen Sie hier vor -, so genügt es meines Erachtens nicht, nur zu sagen, was man ändern will und welches Ziel man damit verfolgt. Ich glaube, es ist notwendig, vor einer Gesetzesänderung, vor allem in einem so sensiblen Bereich, zu fragen, ob die bisherigen Instrumente wirklich nicht ausreichen. Man sollte erst einmal überprüfen: Was liegt vor? Wird es genutzt? Reicht es aus, oder ist eine Ergänzung - in welcher Form auch immer - notwendig? Erst dann läßt sich meiner Ansicht nach eine Gesetzesänderung begründen. Ich sagte, daß es hier um einen sensiblen Bereich geht. Man darf ihn nicht so leicht zur Seite schieben. Ihr Vorschlag bedeutet eine Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung von Ausländern, die in Deutschland leben. Gerade hier ist es notwendig, ganz stark den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. ({2}) Eine Frage, die sich anschließt, auch angesichts der Tatsache, daß Sie viele durch Ihr Gesetzeswerk möglicherweise zu lösende Probleme angeführt haben, ist: Besteht Handlungsbedarf? Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf - das wurde durch Ihre Rede sehr deutlich - den Mißbrauch und das Schlepperwesen bekämpfen. Wer will dies nicht? Ich glaube, da besteht überhaupt kein Dissens; das ist Ziel aller in diesem Haus vertretenen Parteien. Das Traurige aber ist, daß es Mißbrauch leider Gottes überall und fast immer gibt. Wenn man diesen Mißbrauch aber bekämpfen will, dann muß man über Einzelfälle hinaus darlegen und den Beweis dafür erbringen, daß das bisherige Instrumentarium dafür nicht ausreicht. Zudem muß klar sein, ob durch die Vorschläge zur Beseitigung des Mißbrauchs Herr Marschewski, das meine ich sehr ernst - auch negative Folgen erzeugt werden können. Wenn ich überhaupt Handlungsbedarf sehe, dann nur auf Grund der notwendigen Anpassung, die sich aus EU-Datenschutz-Richtlinien ergibt. Deutschland ist verpflichtet, diese Richtlinien umzusetzen. Zudem müssen wir zur Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Dubliner Übereinkommen eine einwandfreie Rechtsgrundlage schaffen. Meine Damen und Herren, beim Sammeln, Speichern und Weitergeben von Daten einer Minderheitengruppe, also der Ausländer, besteht immer die Gefahr der Diskriminierung. Schon deshalb kann man meines Erachtens nicht locker der Datensucht frönen, wie Sie es mit Ihrem Antrag tun. Es muß auch die Frage gestattet sein, welche Wirkung das, was wir hier tun und worüber wir reden - vor allem, wie wir darüber reden -, auf die Betroffenen und diejenigen, die sich betroffen fühlen, hat. Werden so leicht eine Verpflichtungserklärung und der Besuch eines Verwandten unterbunden? Wird er aus Angst, erfaßt zu werden, darauf verzichten? Diese Angst mag unbegründet sein - vielleicht ist sie es auch -, aber sie ist da. Das Gefühl vieler Ausländer in dieser Gesellschaft, als Problem, als Gefährdung definiert zu werden, ist vorhanden. Unsere Aufgabe muß es sein, dem entgegenzuwirken. Nur, mit Ihrem Gesetzentwurf verstärken Sie die Angst und diese Selbstdefinition von vielen in unserem Lande. ({3}) Ich glaube auch, daß Zurückhaltung geboten ist, weil beim Bundesverfassungsgericht zwei Klagen in diesem Bereich anhängig sind. Darin geht es unter anderem darum, ob das bestehende Ausländerzentralregistergesetz gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Schon deshalb bitte ich um etwas Zurückhaltung. Wir sollten auf jeden Fall im Auge behalten, welches Urteil gefällt wird. Eines ist sicher: Liberaler wird das AZR-Gesetz durch Ihren Vorschlag bestimmt nicht. ({4}) - Sie sagen selbst, daß es das auch nicht werden soll. Zumindest besteht jetzt also Klarheit über die bei Ihnen vorhandene Zielsetzung. Ich betone noch einmal: Es geht auch uns um die Bekämpfung des Mißbrauchs und des Schlepperwesens. Da sind wir uns sicherlich einig. Allerdings ist das Instrument, das Sie einsetzen wollen, zu überprüfen. ({5}) Meine Damen und Herren, wir sehen in dem von Ihnen eingebrachten Gesetzentwurf eine Verschärfung des derzeitigen AZR-Gesetzes in einer Form, die wir nicht akzeptieren können. Das gilt besonders für den zweiten Teil des Gesetzentwurfes, die Einrichtung einer Warndatei. Ich habe bisher noch keinen Beleg dafür bekommen, daß die Notwendigkeit zur Errichtung einer solchen Warndatei gegeben sei. Auch hier geht es wieder um die psychologische Wirkung, die mit einer Warndatei verbunden wäre. Worauf läuft das denn hinaus? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß es auf Bürger zweiter Klasse hinausläuft. Bei diesen Bürgern aber handelt es sich zum großen Teil um Menschen, die wir als Arbeitnehmer hierhergeholt hatten. Jetzt dürfen wir mit ihnen so nicht umgehen. ({6}) - Ob das Blödsinn ist, bezweifle ich. Sie sollten sich einmal fragen, welche Wirkung auf die Gesamtgesellschaft und das Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten von Ihren Gesetzentwürfen und Beiträgen ausgeht. Das vermisse ich bei Ihnen sehr. ({7}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, mit dieser Politik betreiben Sie Populismus. Sie engagieren sich vorgeblich für die innere Sicherheit, tun es aber auf Kosten von Menschen, die zu unserer Gesellschaft gehören. Das darf nicht sein. Auch im ersten Teil Ihres Gesetzentwurfes sind Forderungen enthalten, die wir nicht übernehmen können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Barthel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Eckhardt Barthel ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Marschewski.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Barthel, wenn Sie das „Populismus“ nennen, wie beurteilen Sie dann die Aussage des Bundesinnenministers, die ich zitiert habe und in der es heißt, die Grenze der Belastbarkeit sei überschritten, und wie beurteilen Sie seinen neuerlichen Vorschlag, sogar das subjektive Asylrecht abzuschaffen?

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aus Ihrer Zwischenfrage wird mir deutlich, daß Sie über ganz andere Dinge als das reden, was Sie uns hier vorlegen. ({0}) In Ihrem Antrag finde ich nichts, was mit dem Asylrecht zu tun hätte. Ich empfehle Ihnen, daß Sie einmal Ihren eigenen Entwurf lesen. Dann kämen Sie vielleicht zu dem Ergebnis, daß wir hier über ganz andere Dinge reden. ({1}) Wie immer man diese Aussage bewertet, es gibt keine Verbindung mit dem, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorhaben und was Sie vorhin hier selbst vorgetragen haben. Meine Damen und Herren, ich wiederhole, auch im ersten Teil Ihres Gesetzentwurfs sind noch einige Regelungen vorgesehen, die nicht den Vorstellungen der Sozialdemokraten entsprechen. Lassen Sie mich abschließend eines sagen: Ich bin neu in diesem Hause und habe deshalb nachgeguckt, was in der vorigen Legislaturperiode war. ({2}) In der vorigen Legislaturperiode haben Sie dasselbe schon einmal versucht, wenn ich richtig informiert bin. Damals hatten Sie mit der F.D.P. jedoch einen Koalitionspartner ({3}) - und eine Ausländerbeauftragte; sie gehörte ja auch der F.D.P. an -, der verhindert hat, daß Sie Ihr Vorhaben umsetzen konnten. Dazu beglückwünsche ich die F.D.P. noch nachträglich. ({4}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, glauben Sie doch nicht, daß Sie das, was Sie mit der F.D.P. nicht durchbekommen haben, mit den Sozialdemokraten durchbekämen. Das wäre ein Irrglaube. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Max Stadler von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es heute in der Tat mit einem Fall von Gesetzesrecycling zu tun. Genauer gesagt, betreibt die CDU/CSU-Fraktion die Wiederverwertung eines Gesetzentwurfes, mit dem sie in der letzten Legislaturperiode am Widerstand der F.D.P. und insbesondere am Veto der Ausländerbeauftragten Cornelia Schmalz-Jacobsen gescheitert ist. Sie war eine wirkungsvolle Ausländerbeauftragte, wie sich an diesem Beispiel zeigt. ({0}) Einen solchen Gesetzentwurf erneut einzubringen ist freilich das gute Recht der Union. Es ist im Interesse der Klarheit der politischen Positionen sogar zu begrüßen. Uns gibt es Gelegenheit, daran zu erinnern, daß die F.D.P. ihre traditionelle Rolle als Hüterin der Rechtsstaatlichkeit und der inneren Liberalität ({1}) in der alten Politik sehr wohl wirkungsvoll wahrgenommen hat. ({2}) Man darf aber aus Anlaß der Einbringung dieses Gesetzentwurfs vorweg noch eine weitere Feststellung treffen: Jeder weiß ja, daß es in der früheren Koalition Meinungsunterschiede im Bereich der Innenpolitik gegeben hat. In der neuen rotgrünen Koalition erscheinen mir allerdings die Meinungsunterschiede gerade in Fragen des Ausländer- und Asylrechts eher noch gravierender. Das, was Otto Schily im Interview in der „Zeit“ zur Asylpolitik gesagt hat, läßt sich doch nicht mit Ihren Vorstellungen, Frau Beck, als Ausländerbeauftragte vereinbaren. ({3}) Kein Wunder, daß allenthalben Stillstand in der rotgrünen Innenpolitik festzustellen ist. Bemerkenswert ist aber vor allem auch die Art der Auseinandersetzung in der neuen Koalition. Bündnis 90/Die Grünen haben in letzter Zeit so viele Demütigungen und Provokationen hingenommen, daß an der Basis die Mitglieder reihenweise austreten, wie zum Beispiel kürzlich, Herr Uhl, die grüne Stadträtin Angelika Lex aus München, die noch vor einem halben Jahr als Oberbürgermeisterkandidatin der Grünen im Gespräch war. ({4}) Demgegenüber - das will ich durchaus konzedieren kann man im Rückblick zur Arbeit der alten Koalition sagen, daß die Minister Kanther und Schmidt-Jortzig und die Innen- und Rechtspolitiker der alten Koalition immerhin fair und respektvoll miteinander umgegangen sind. ({5}) Das ändert nichts daran, daß die F.D.P. den Vorschlägen zur Veränderung des Ausländerzentralregisters und zur Einführung einer Warndatei seinerzeit eine klare Absage erteilt hat. Die dafür maßgeblichen drei Gründe gelten heute noch unverändert fort. Erstens. Wer eine Gesetzesänderung vorschlägt, trägt die Beweislast dafür, daß die Neuregelung wirklich notwendig ist. Dieser Nachweis kann von den Initiatoren des Gesetzentwurfes nicht geführt werden. Klar ist zunächst nur - das ist aber ein Nebenpunkt, wie ich ausdrücklich betonen möchte -: Ein solches Gesetz würde hohe Ausführungskosten verursachen. Experten veranschlagen allein die Beträge für notwendige Software-Änderungen auf zirka 6 Millionen DM und die Zusatzkosten bei den Auslandsvertretungen auf 10 Millionen DM. Zudem würde bei der Realisierung der Warndatei ein erheblicher Personalaufwand notwendig sein. Zweitens. Das alles wäre aber hinnehmbar, wenn die Neuregelung wirklich erforderlich wäre. Was wollen Sie denn? Sie wollen umfangreiche Datenspeicherungen vornehmen, und das ist ein erheblicher Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schreibt vor, daß in einem solchen Fall besonders sorgfältig geprüft und dargelegt werden muß, daß solche Eingriffe zwingend notwendig sind. Die Praxis kommt aber doch mit der geltenden Rechtslage durchaus zurecht. Es war die Rede davon, daß es Mitteilungspflichten geben soll, so daß man Sozialbetrug verhindern kann. Solche Unterrichtungsverpflichtungen gegenüber den Ausländerbehörden kennt auch das geltende Ausländerrecht zur Durchsetzung von Erstattungsansprüchen. Eine Änderung ist hier gar nicht notwendig. Drittens - das ist der gewichtigste, weil politische Einwand -: Dieser Gesetzentwurf enthält eine allgemeine Tendenz zur Erschwerung von Auslandskontakten. Es ist ja so, daß in bestimmten Fällen bei der Einladung von Ausländern die Verpflichtung übernommen werden muß, für sämtliche Folgekosten aufzukommen. Das ist geltendes Recht. Nach dem Gesetzentwurf der Union sollen nun Daten von Privatpersonen, aber auch Organisationen wie Firmen und Vereinen zum Beispiel dann in der Warndatei gespeichert werden, wenn sie eine solche Verpflichtungserklärung abgegeben haben und der Gast etwa später einen Asylantrag stellt. Das halten wir für äußerst bedenklich. Sie werden dann in einer Warndatei gespeichert - der Name spricht ja für sich -, das heißt, derjenige, dessen Daten dort gespeichert werden, wird mit dem Makel versehen, daß er unzuverlässig sei oder etwas Gefährliches mache. Diese Speicherung wollen Sie vorsehen, obwohl derjenige, der die Einladung ausgesprochen hat, mit dem Verhalten des Eingeladenen gar nichts zu tun hat, also auch nichts damit, daß dieser vielleicht einen Asylantrag stellt. Jedenfalls verlangen Sie nicht, daß etwa nachgewiesen werden müßte, daß es hier ein rechtswidriges Zusammenwirken zwischen dem Einladenden und dem späteren Asylbewerber gebe. Ich kann nicht akzeptieren, daß auf diese Weise Privatpersonen, aber auch Unternehmen der deutschen Wirtschaft diskriminiert werden, Herr Kollege Barthel, indem ihre Daten wegen eines Verhaltens in einer Warndatei gespeichert werden, zu dem sie gesetzlich verpflichtet sind. Sie müssen nämlich solche Folgekosten übernehmen. Mit den eventuellen Weiterungen, die sich daraus ergeben könnten, haben sie aber nichts zu tun. Im Zeitalter der Globalisierung und im Zuge vielfältiger internationaler wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Kontakte erscheint uns Liberalen die Warndatei für ein weltoffenes Land wie die Bundesrepublik Deutschland als ein falsches politisches Signal. Die Speicherung des Umstandes, daß eine Verpflichtungserklärung vorliegt, die Speicherung der Daten von Personen, die solche Kostenübernahmen erklären, würden doch - das ist der erklärte Zweck - von der Abgabe von Verpflichtungserklärungen abschrecken. Will man wirklich die damit verbundene Konsequenz, nämlich weniger Besuchs- und Auslandskontakte? Das kann doch nicht richtig sein. ({6}) Zu den Einzelheiten könnte man noch zahlreiche Anmerkungen machen. Dies ist in erster Lesung im Plenum nicht erforderlich. Das können wir in den Ausschußberatungen nachholen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion jedenfalls wird aus den dargelegten grundsätzlichen Erwägungen die Linie von Cornelia SchmalzJacobsen weiterverfolgen und den Gesetzentwurf in dieser Form nicht unterstützen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Stadler, ich muß feststellen, daß ich Ihnen in jedem Punkt zustimme. Insofern gibt es Kontinuität in der Politik. In der Tat handelt es sich um einen Gesetzentwurf, der in der letzten Legislaturperiode im Hause Kanther verfaßt worden ist. Ihnen, meine Damen und Herren von der Union, ist es nicht gelungen, damit zu Ende zu kommen, ({0}) weil innerhalb der Koalition doch schwerwiegende Differenzen in dieser Frage bestanden haben. Die Gegenargumente sind überwiegend aus dem Bundesjustizministerium, vom Bundesdatenschutzbeauftragten ({1}) und von meiner Amtsvorgängerin vorgetragen worden. Nun also versuchen Sie es ein zweites Mal; das sei Ihnen zugestanden. Allerdings werden wir einer Veränderung des AZR in dieser Form nicht zustimmen, weil wir ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken haben. Allein die Tatsache, daß schon gegen das bestehende Gesetz mehrere Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe anhängig sind, verpflichtet den Gesetzgeber, weil diese Verfahren noch laufen, zu außerordentlicher Zurückhaltung. Das AZR greift bereits jetzt massiv in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Das Bundesverfassungsgericht hat 1983 in seinem grundlegenden Urteil zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgendes ausgeführt - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -: Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes umfaßt. Weiter sagt das Bundesverfassungsgericht, daß der Gesetzgeber den Verwendungszweck von Daten bereichsspezifisch und präzise bestimmen muß und daß, so wörtlich, „die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken“ nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. ({2}) Deshalb möchte ich bereits den ersten Satz der Begründung Ihres Gesetzentwurfs in Frage stellen. Daß das Ausländerzentralregister den Anforderungen des Datenschutzes genügt, ist für uns in der Tat zweifelhaft. ({3}) Dieses Register dient nämlich nicht nur ausländerrechtlichen Zwecken. Bereits jetzt kann eine Vielzahl von Behörden - vom Zollkriminalamt über die Bundesanstalt für Arbeit bis zum Bundesnachrichtendienst - auf diese Daten zugreifen. Ist das noch die bereichsspezifische und präzise Regelung, die das Bundesverfassungsgericht fordert? Ich glaube, das kann man mit Recht in Zweifel ziehen. Vieles spricht aus meiner Sicht für das, was die SPDFraktion im ursprünglichen Gesetzgebungsverfahren zum AZR-Gesetz zu Protokoll gegeben hat - ich zitiere noch einmal -: Mit der vorgesehenen Vernetzung der polizei- und nachrichtendienstlichen Informationssysteme via AZR werden Ausländer anders behandelt als Deutsche. ({4}) Aus dem Fehlen einer sachlichen Rechtfertigung für diese Sonderbehandlung dürfte sich eine verfassungsrechtliche Diskriminierung ergeben. Es sei denn, dieses Modell sollte Vorreiter für eine entsprechende Kontrolle auch von Inländern sein. ({5}) Diese grundsätzlichen Zweifel am AZR machen aus meiner Sicht den Versuch, eine Erweiterung des Registers vorzunehmen - und das, bevor das Bundesverfassungsgericht über die anhängige Verfassungsbeschwerde entschieden hat -, mehr als fragwürdig. Wir sollten uns da tatsächlich in Zurückhaltung üben. Aber selbst wenn es die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das AZR nicht gäbe, würden wir Ihrem Gesetzentwurf kaum zustimmen, was Sie nicht verwundern wird. ({6}) Denn ich würde davon ausgehen, daß viele der von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen einfach nicht erforderlich sind. Sie berufen sich auf den massiven Mißbrauch von Sozialleistungen durch Ausländer. Aber bisher ist, obwohl es immer wieder behauptet wird, der Nachweis über das Ausmaß dieses Mißbrauchs nicht geführt worden. Auch eine Umfrage über den Deutschen Städtetag bei verschiedenen Großstädten konnte die von Ihnen behaupteten „massenhaften Mißbrauchsfälle“ nicht belegen. Da plädiere ich für große Zurückhaltung. ({7}) Zudem hat man mir bis heute auch nicht verständlich machen können, weshalb das bestehende rechtliche Instrumentarium nicht ausreicht, um Mißbrauchsfälle aufzudecken. Es gibt noch weitere Kritikpunkte an dem Gesetzentwurf. Zu den Kosten - auch das hat Kollege Stadler eben angeführt - sagt Ihr Entwurf, vermutlich aus guten Gründen, so gut wie nichts. Wir als Gesetzgeber sind aber verpflichtet, auch über die Kosten eines Gesetzes nachzudenken. In der letzten Legislaturperiode wurden allein die Kosten für neue Software beim Bundesverwaltungsamt auf etwa 5,8 Millionen DM geschätzt. Dazu kommen Kosten bei den Auslandsvertretungen allein für zwei Jahre in Höhe von etwa 10 Millionen DM. Schließlich wäre da noch ein erheblicher Stellen- und Personalbedarf beim Bundesverwaltungsamt - alles in allem also durchaus ein teurer Spaß. Die von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen sind aber nicht nur teuer, sondern sie sind auch weitgehend überflüssig. Warum sollte die Abgabe einer Verpflichtungserklärung, mit der sich ein Deutscher verpflichtet, für den Lebensunterhalt eines Ausländers aufzukommen, der ihn in Deutschland besuchen möchte, in einer zentralen Datei gespeichert werden? ({8}) Marieluise Beck ({9}) Wer gelegentlich ins Ausländergesetz schaut, weiß, daß die Ausländerbehörde das Sozialamt ohnehin über das Vorliegen von Verpflichtungserklärungen informieren muß. Eines zentralen Registers bedarf es da nicht. Es ist gerade eine der positiven Erfahrungen mit dem deutschen Föderalismus, daß vieles vor Ort besser angegangen werden kann als durch ein zentralisiertes System. Zum dritten wollen Sie, meine Damen und Herren von der Union, nun auch die wenigen positiven Regelungen, die das AZR-Gesetz enthält, noch beseitigen. So hatte meine Amtsvorgängerin durchgesetzt, daß das Instrument der Gruppenauskunft nicht auf Ausländer angewandt werden darf, die schon lange und dauerhaft in Deutschland leben. Denn bei diesen Menschen gibt es keinerlei Rechtfertigung für den Einsatz besonderer Fahndungsinstrumente. Das interessiert Sie aber nicht. Was Sie wollen, ist die Nutzung vorhandener Daten für eine polizeistaatlich orientierte Überwachung von Menschen in unserem Land, die mit dazugehören und gleichberechtigt sind. ({10}) Aber damit nicht genug. Sie wollen das Register mit der sogenannten Warndatei - nomen est omen - nunmehr auch auf deutsche Staatsangehörige ausdehnen. Gespeichert werden sollen auch diejenigen, die eine Verpflichtungserklärung für einen Ausländer abgegeben haben, wenn der im Visumsverfahren etwa falsche Dokumente vorlegt oder nach der Einreise einen Asylantrag stellt. Daß ein Gastgeber vielleicht in gutem Glauben gehandelt haben könnte, ist für Sie offensichtlich belanglos. Die Unschuldsvermutung soll hier einfach außer Kraft gesetzt werden, und das wäre in der Tat einmalig in der deutschen Rechtsordnung. ({11}) Eine solche Datei, meine Damen und Herren, würde die Bereitschaft deutscher Staatsangehöriger, Bekannte aus dem Ausland einzuladen, sicherlich nicht erhöhen, ({12}) und das wäre schade in einer Zeit, in der nationale Grenzen immer unwichtiger werden, immer mehr Menschen Bindungen und Kontakte ins Ausland haben und über die Grenzen hinweg zueinander Verbindung aufnehmen. Dabei gilt schon jetzt, daß die deutschen Auslandsvertretungen im Visumsverfahren überaus gründlich auf potentielle Asylbewerber hin prüfen. In diesen Fällen wird kein Visum erteilt, wovon Sie sich in jedem Konsulat vor Ort überzeugen können. Schon Herrn Kanther ist es nie gelungen, einen zahlenmäßig wirklich relevanten Mißbrauch des Visumsverfahrens in bezug zu gestellten Asylanträgen nachzuweisen. Gleichwohl und immer wieder fordern Sie weitere zentrale Dateien. Sie wollen immer mehr Menschen erfassen und überwachen. Offenbar haben Sie keine Sorge, daß wir zu einem Staat von zunehmend starker Kontrolle gegenüber dem Bürger werden. Dies ist nicht das Bild, das ich mir von dieser Gesellschaft mache. Es entspricht mit Sicherheit auch nicht dem Menschenbild unseres Grundgesetzes. Schönen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Marschewski, ich habe mich schon gefragt, was für ein unverfrorenes Bild von der Wirklichkeit Sie hier zu malen versuchen. Ich stimme der Kritik, die bisher an Ihrem Antrag geübt worden ist, voll zu. Sehen wir uns Ihren Antrag einmal sachlich an. Ich zitiere: Illegale Einreise und Schleuserkriminalität stellen zunehmend eine Bedrohung für die innere Sicherheit Deutschlands dar. Das haben Sie auch heute wieder als einen Schwerpunkt hier in den Raum gestellt. Wer sich die Fakten ansieht, wird sich fragen, wie Sie eigentlich zu so einer Einschätzung kommen. Ich habe mir die Daten des Bundesinnenministeriums des vergangenen Jahres dazu einmal genauer angesehen. Das Bundesinnenministerium hat im vergangenen Jahr drei Tage lang bei einer internationalen Aktion von Polizei- und Grenzschutzeinheiten aller SchengenStaaten gegen illegale Zuwanderung und Schleuserbanden mitgewirkt. Daran waren laut BMI alle Schengener Vertragsstaaten entlang der Hauptschleusungsrouten beteiligt. Es gab koordinierte Grenz- und Inlandskontrollen an sogenannten Luft-, See- und Landrouten. Auf deutscher Seite waren das Bundeskriminalamt, der Bundesgrenzschutz und die Polizeien der Länder beteiligt. Ergebnis: Ganze 706 Personen ohne Aufenthaltspapiere wurden bei dieser großangelegten Aktion gefunden, ganze 26 Schleuser festgenommen. Die meisten der Festgenommenen waren - man höre und staune - Kosovo-Albaner, rumänische Flüchtlinge und Flüchtlinge aus Afghanistan. Ich sage Ihnen hier: Vorsicht, es handelt sich hierbei um Menschen, die aus krisengeschüttelten Staaten kommen. Ein weiteres Beispiel. Das Bundeskriminalamt zeigt in seiner polizeilichen Kriminalstatistik in der Tat einen Anstieg der Schleuserkriminalität auf. Aber, Herr Marschewski, auch Sie haben heute wieder falsche Daten genannt. Es gab nicht allein im vergangenen Jahr 12 000, sondern in den vergangenen drei Jahren zusamMarieluise Beck ({0}) men - ohne das verharmlosen zu wollen - 14 400 Fälle von Schleuserkriminalität. Gleichzeitig - ich denke, das sollte man wirklich einmal gemeinsam diskutieren - registrierte das BKA allein für das Jahr 1998 rund 15 100 Fälle von Betrug und Untreue im Zusammenhang mit Beteiligungen und Kapitalanlagen und rund 18 500 Fälle von Wirtschaftskriminalität im Anlage- und Finanzierungsbereich. Dies sind die Zahlen für ein Jahr. Mit anderen Worten: Die Zahl der Straftaten in diesen Bereichen der Wirtschaftskriminalität ist mehr als dreimal so hoch wie die bei der Schleuserkriminalität. Trotzdem werden von den Unionsparteien nur für Flüchtlinge Ausländerzentralregister bzw. weitere Dateien gefordert. Somit werden Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko und potentielle Kriminelle - wie wir heute schon gehört haben - diffamiert. Ich will mit der BKA-Statistik fortfahren, denn diese Statistik nennt auch Schadenssummen zum Beispiel im Bereich der von Ihnen als Begründung genannten Erschleichung von Sozialhilfe sowie in den obengenannten anderen Bereichen von Wirtschaftskriminalität. Im einzelnen nennt das BKA für 1998 Schäden in Höhe von 2,5 Milliarden DM auf Grund von Betrugsdelikten, Schäden in Höhe von 2,9 Milliarden DM durch Konkursbetrug und Schäden in Höhe von 1,1 Milliarden DM durch Betrug bei Kapitalanlagen. Delikte im Bereich der Erschleichung von Sozialhilfe sind verglichen damit so unbedeutend, daß sie beim BKA nur als Untergruppe in der Rubrik „Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen“ erfaßt werden. Für diese gesamte Schadensgruppe, die also auch andere Kriminalitätsformen erfaßt, nennt das BKA allein für 1998 Schäden in Höhe von 191 Millionen DM. Mit anderen Worten: Die finanziellen Schäden, die jedes Jahr durch Betrug entstehen, sind 13mal so groß wie alle Schäden durch Erschleichung von Sozialhilfe. Die finanziellen Schäden durch Konkursbetrug sind 15mal so groß, und die Schäden durch Kapitalanlagebetrug sind sechsmal so groß. Und Sie erzählen uns hier diese Gruselgeschichten über illegale Einreise und über Sozialhilfebetrug! Um nicht falsch verstanden zu werden - ich habe es eben schon einmal gesagt -: Kriminalitätsbekämpfung und Verhinderung von Leistungsmißbrauch bei der Sozialhilfe sind selbstverständlich legitim. Aber vor diesem Hintergrund und mit dieser Zielsetzung werden immer mehr Überwachungsmechanismen eingerichtet meine Kollegin Beck hat es eben vorgetragen -, die in keinem Verhältnis zu dem angestrebten Zweck stehen. Opfer sind immer die Bevölkerungsgruppen, die über keine oder nur über eine schwache Lobby verfügen: Arme, Ausländer und andere Minderheiten. Das muß man Ihnen einfach einmal ins Stammbuch schreiben. ({1}) Kein anderes Thema in diesem Land wurde in den vergangenen Jahren von der CDU/CSU so hochgespielt wie die sogenannte Ausländerkriminalität. Allein die Art und Weise, wie Sie dieses Thema anpacken, ist ausländerfeindlich und rassismusfördernd.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluß.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Im Grunde genommen habe ich damit alles gesagt. Wir werden diesem Gesetzentwurf auf gar keinen Fall zustimmen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Bundesinnenminister Otto Schily das Wort.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich gar nicht vor, mich in dieser Debatte zu Wort zu melden; denn heute findet erst die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs statt, und er wird noch im Ausschuß beraten werden. Wenn es darum geht, Schleuserkriminalität und Sozialhilfemißbrauch zu bekämpfen, dann gibt es niemanden in diesem Plenarsaal, der diesen Zielen widerspricht. ({0}) Entscheidend ist die Frage nach dem richtigen Instrument. Sie müssen die Einwände, die von dem Kollegen Barthel, von der Kollegin Beck und von dem Kollegen Stadler vorgetragen worden sind, ernsthaft diskutieren. ({1}) Das heißt nicht, daß man nicht über andere Informationsmöglichkeiten für die Polizei oder für die Sozialhilfeämter nachdenken darf. Auch das muß man vorurteilsfrei diskutieren dürfen. Wir handeln nicht richtig, wenn wir alle diese Fragen mit Denkverboten belegen; vielmehr sollten wir an die Probleme vorurteilsfrei herangehen. Wenn das geschieht, dann werden wir entdecken, was die beste Lösung sein könnte. Ich habe mich wegen eines einzigen Satzes des Kollegen Marschewski zu Wort gemeldet. Er hat wieder die These aufgestellt, in Tampere sei außer schönen Wortgirlanden nichts passiert. Herr Marschewski, obwohl es nach den Usancen nicht möglich ist, hätte ich Sie gern einmal als Zuhörer zur Luxemburger Konferenz der EU-Innen- und -Justizminister eingeladen. Dort haben die Justiz- und die Innenminister aller EUMitgliedstaaten - alle - gesagt, daß das Ergebnis von Tampere sehr gut ist und daß es in wichtige Handlungsfelder hineinführt. ({2}) Wir haben von der Kommission einen Kalender, einen sogenannten „score board“, in dem wir sehen, nach welchen Abläufen und unter welcher Verantwortung etwas auf der Grundlage von Tampere in Gang kommt. Herr Marschewski, ich kann nur sagen: Sie sind europapolitisch total vereinsamt. ({3}) Es tut mir um Sie herzlich leid. Ich bin so fair, anzuerkennen, daß die CDU/CSU früher durchaus eine beachtliche europapolitische Kompetenz hatte. Seit Sie aber in der Opposition sind, haben Sie sie im Handumdrehen abgegeben. Das ist traurig. Dieser Trauer wollte ich Ausdruck verleihen. Vielen Dank meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Marschewski, möchten Sie das Wort zu einer Kurzintervention? ({0}) - Bitte sehr.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ganz so einsam bin ich nun doch nicht, wie Sie an der Reaktion meiner werten Kolleginnen und Kollegen festgestellt haben dürften. Herr Minister, für mich war Tampere zum Beispiel hinsichtlich der Asylgesetzgebung kein Erfolg. Inwieweit ist denn bei sicheren Herkunftsstaaten, bei Drittstaaten eine Angleichung erfolgt, Herr Minister Schily? ({0}) Was haben Sie in bezug auf Burden-sharing erreicht? - Nichts. Oder was haben Sie in der ganz wichtigen Frage der Angleichung der Asylbewerbergelder erreicht? Die Leute kommen doch zu uns, weil ein Nord-SüdGefälle besteht. Ich weiß, daß das alles sehr schwierig ist, und bedanke mich dafür, daß Sie gesagt haben, daß die Kompetenz für Europa bei der Union liegt; keine Frage. ({1}) Nur, in diesen Fragen haben Sie, Herr Kollege Schily, nichts erreicht. Gleiches gilt für die Verbrechensbekämpfung. Europol haben Sie in Kraft gesetzt. Wir haben die Vorleistung dazu erbracht. ({2}) Aber wie sieht es im Bereich der Angleichung des materiellen Rechts, im Bereich der europäischen Staatsanwaltschaften, im Bereich gemeinsamer Visapolitik, um nur einiges zu nennen, aus? Tampere war für die Innenpolitik und für die Sicherheitspolitik ein schwarzes, kein gutes Europa. Das darf ich Ihnen sagen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Bundesminister, wollen Sie erwidern? ({0}) - Bitte schön.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Lieber Kollege Marschewski, ich kann Ihnen nur zugute halten, daß Sie es einfach nicht besser wissen. Das kann ja einmal passieren. ({0}) Aber Sie können noch nicht einmal anerkennen, daß es eine große Leistung der deutschen EU-Präsidentschaft war, Europol arbeitsfähig gemacht zu haben, die von allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union hochgelobt und anerkannt worden ist. Sie haben vier Jahre Zeit gehabt, und es ist Ihnen nicht gelungen. Ich kann die Vorarbeiten durchaus würdigen; aber ich finde, wir haben den großen Erfolg, den Durchbruch errungen. Sie haben über Schleuserkriminalität geredet. Wir haben Eurodac zu Ende geführt. ({1}) Ich glaube, Herr Marschewski, Sie sollten ein wenig mehr Sachlichkeit in die Debatte bringen, damit Sie Ihre europapolitische Kompetenz vielleicht zurückgewinnen. Das würde Ihnen guttun. Deshalb empfehle ich Ihnen auch, einmal die Bilanz zu lesen. Ich kann Ihnen übrigens auch etwas über die Zusammenarbeit sagen, soweit es die Flüchtlinge angeht. Auch dort haben wir eine Lastenteilung erreicht, im Gegensatz zu Ihnen, die Sie dies hinsichtlich der bosnischen Flüchtlinge nicht erreicht haben. Seinerzeit hatten wir 320 000 Flüchtlinge im Lande. Jetzt beträgt das Verhältnis alles in allem 15 000 : 94 000. Sie müssen sich wirklich daran gewöhnen, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Sie sollten sich nicht in ideologischen Gefängnissen aufhalten. Das führt in der Politik nicht weiter. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Zeitlmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! ({0}) - Ich habe bislang nicht gewußt, daß der Redner das Mikrophon selbst einschalten muß. ({1}) - Herr Özdemir, die Vorstellung, Sie kämen einmal in der Lederhose, genieße ich allerdings. ({2}) - Ich habe Ihnen gar nichts versprochen! ({3}) Aber jetzt komme ich zum AZR. Wer die bisherige Debatte in diesem Hause mitbekommen hat - ich habe sie von Anfang an verfolgt -, der stellt sich die Frage, Herr Minister - darüber kann man streiten -, ob im Rahmen einer solchen Debatte auf Europa eingegangen werden muß und ob man sich durch einen Nebensatz des Kollegen Marschewski veranlaßt sehen muß, am Thema vorbeizudiskutieren. Der Schwerpunkt Ihres Redebeitrags hat das Thema verfehlt. Aber ich konzediere Ihnen sofort: Sie haben zumindest - im Gegensatz zu den Vorrednern Ihrer Koalition - klar betont, daß Sie auch für die Verhinderung von Mißbrauch eintreten. Darin bin ich mit Ihnen d'accord. Ich habe zumindest erwartet, daß jemand in dieser Debatte eine Prüfung des vorgelegten Gesetzes unter diesem Gesichtspunkt im Ausschuß vorschlägt. ({4}) - Nein, ich habe gehört, wie jemand von polizeistaatlichen Methoden gesprochen hat, und zwar jemand, der einen Text abgelesen hat, den ihm andere anscheinend aufgeschrieben haben. Dies ist alles in Ordnung; dagegen habe ich nichts. Aber denjenigen, der den Begriff „polizeistaatliche Regelung“ im Zusammenhang mit unserem freien Land verwendet, schnappe ich mir und mache ihn darauf aufmerksam, welche Denkweise dieser Begriff offenbart. ({5}) - Nein, Sie waren es nicht. Frau Beck hat davon gesprochen. Ich bitte darum, deutlich zu machen - gerade auch mit Rücksicht auf diejenigen, die draußen ihren Dienst tun -, was polizeistaatlich ist und was nicht. Es ist eine Dummheit, von so etwas in diesem Haus zu sprechen. ({6}) Ich sage Ihnen dies, auch wenn Sie ein Amt haben. Ich gehe jetzt auf den Kern des AZR-Entwurfs ein. Dieser Entwurf ist auf der Grundlage einer großen Umfrage entstanden, die der damalige Innenminister Kanther unter Fachleuten, Profis vor Ort und Leitern der Ausländerbehörden - es war jede politische Couleur vertreten durchführen ließ. Es wurde gefragt: Was stört euch? Wo drückt der Schuh? Wo läßt sich etwas verbessern? Was wird in der Praxis benötigt? Auf diese Fragen hin wurden genau die Vorschläge unterbreitet, die in unserem jetzigen Antrag enthalten sind. Man kann über diese Vorschläge streiten. Sie können dem deutschen Volk lautstark erklären, daß die Einhaltung des Datenschutzes wichtiger ist als die Strafverfolgung desjenigen, der zu uns kommt und sich Leistungen erschleicht. Sie können auch erklären, daß solche Leute Priorität genießen, weil man auf Grund von Verfassungsbeschwerden, über die Sie sich bis jetzt inhaltlich gar nicht geäußert haben, nichts gegen sie tun könne. Ich sitze jetzt ein Jahr auf der Oppositionsbank und habe erlebt, daß dieser Innenminister außer dem Staatsangehörigkeitsrecht keine anderen Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht hat. Wer es besser weiß, der möge sich jetzt melden. ({7}) - Richtig, das Wahlstatistikgesetz; Entschuldigung, Herr Minister. Dieses Gesetz - das muß ich fairerweise einräumen - war notwendig, weil sich die F.D.P. damals quergelegt hat. ({8}) Aber Sie müssen sich jetzt auch mit einem Koalitionspartner auseinandersetzen, der im Zusammenhang mit unserem freien Land unsinnigerweise von „Polizeistaat“ redet. Die Zahl der illegal Zugewanderten ist im ersten Halbjahr 1999 gestiegen. Sie hat etwa um die Hälfte zugenommen. Die Zahl der aufgegriffenen unerlaubt eingereisten Ausländer ist auf 18 754 gestiegen. Im ersten Halbjahr gab es mehr als 1 500 Einschleusungen. Ich habe leider nicht mehr die Zahl in Erinnerung - Herr Kanther hatte sie immer parat -, wie viele Visa eine durchschnittlich große Botschaft normalerweise erteilt. Wer davon redet, daß die Zahl der illegal Zugewanderten überhaupt kein Thema sei und daß der Mißbrauch von uns belegt werden müsse, dem muß ich entgegnen: Entschuldigung, Sie sind weit weg von der Realität. Sie müssen vielleicht innerhalb des nächsten Jahres selber eine Praktikerkonferenz einberufen und diejenigen fragen, die draußen die Arbeit machen. Der Landrat in meinem Wahlkreis berichtet mir, daß er keine Mitarbeiter mehr für das Ausländeramt bekommt, weil niemand die dort anfallende Dreckarbeit machen möchte. Erkundigen auch Sie sich einmal bei den Praktikern! Sehr viele - ich möchte nicht generalisieren; es sind bestimmt nicht alle - betreiben Mißbrauch. Sie können zwar hier die Augen davor verschließen, aber draußen kennt man die Realität. Machen Sie nur so weiter wie bisher und sagen Sie: Der Datenschutz ist ganz wichtig! Behaupten Sie ruhig, wir würden die Ausländer diskriminieren. In meiner Familie gibt es Ausländer, ich habe viele Gäste aus dem Ausland. Ich habe mich auch schon verpflichtet, zu zahlen, wenn der Gast nicht zurückkehrt. Aber sagen Sie diesen Leuten einmal, daß es schlimm ist, wenn sie registriert werden! Ich habe überhaupt nichts dagegen. Wenn ich morgen Herrn X einlade, dann habe ich gar nichts dagegen, wenn das registriert wird, weil ich weiß, daß es auch Schleuser gibt, die in Serie Verpflichtungserklärungen abgeben, daß es aber auch praktische Fälle gibt, daß jemand auf Grund einer solchen Verpflichtungserklärung einreist, aber ganz woanders hingeht und dort dann Anträge stellt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Zeitlmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bei Wiefelspütz immer.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Zeitlmann, weil ich Sie für einen prinzipiell anständigen Kollegen halte, Wolfgang Zeitlmann ({0}): Wenn Sie einen solchen Vorspann machen, ist Gefahr im Verzug.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- würde ich Sie herzlich bitten, sich das Wort „Drecksarbeit“ im Zusammenhang mit der Tätigkeit in Ausländerbehörden noch einmal zu überlegen. ({0}) Ich will jetzt eine Frage an Sie richten: Ich habe ja ein gewisses kollegiales Verständnis dafür, daß es Ihnen Probleme bereitet, daß der Bundesinnenminister Ihnen so wenig Angriffsfläche bietet. Sind Sie denn wirklich ernstlich der Auffassung, daß die Leistung eines Bundesinnenministers daran zu messen ist, wie viele Gesetze er auftürmt?

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Wiefelspütz, zum einen: Ich habe mit dem Begriff „Drecksarbeit“ natürlich nur den Teil der Arbeit gemeint, bei dem die Mitarbeiter in Ausländerbehörden pausenlos belogen werden, pausenlos Mißbrauch erleben. (Marieluise Beck ({0}) ({1}): Pausenlos? Er macht es nur noch schlimmer! Es wird immer schlimmer, was Sie sagen! - Gegenruf von der CDU/CSU: Nein, nein, gehen Sie einmal da hin!) - Gehen Sie doch einmal vor Ort und fragen Sie, ob das eine schöne Tätigkeit ist, das zu erleben, was diese Herrschaften erleben. Das ist zu erheblichen Teilen eine ganz, ganz schwierige Tätigkeit. Natürlich, wenn Herr Wiefelspütz einen ausländischen Gast einlädt oder eine Verpflichtungserklärung abgibt, ist das mit Sicherheit eine höchst unterhaltsame Beschäftigung, weil er sich mit diesen Menschen freundlich befassen kann. Sie wissen genau, was ich meine. Wir muten den Ausländerbehörden eine schwierige Arbeit zu, die kaum ein anderer zu erbringen bereit ist. Und das ist für einen solchen Mitarbeiter im Verhältnis zu dem, der soziale Leistungen austeilt, eine Drecksarbeit. Damit meine ich doch nicht die Menschen, die etwas beantragen. Ich habe viel Verständnis, auch für den, der wegen einer drohenden Abschiebung vielleicht falsche Angaben macht. Verständnis habe ich dafür durchaus. Aber ich muß auch sehen, daß der Praktiker vor Ort vor der pausenlosen Inanspruchnahme dieses Staates geschützt werden muß, daß der, der diese Tätigkeit zu erbringen hat, auch einen gewissen Anspruch darauf hat, daß dieser Staat für ihn einsteht. ({2}) Herr Wiefelspütz, ich habe den Minister nicht an der Zahl der eingereichten Gesetze gemessen, sondern ich habe nur gesagt: In diesem einen Jahr habe ich außer dem Staatsangehörigkeitsrecht - ich weiß gar nicht, wie viele Entwürfe es waren - nichts gesehen. Ich bin dann durch den Hinweis auf die Wahlstatistik verbessert worden. Aber abgesehen davon haben Sie nichts Wesentliches gebracht. Der Minister hätte in diesem einen Jahr Zeit gehabt, seine Praktiker zu befragen, ob es nicht doch ein Defizit gibt. Dann wäre er vermutlich zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie ich. Meine Damen und Herren, eines möchte ich noch erwähnen. Herr Kollege Barthel, Sie haben hier erklärt, die Union würde immer nur Gesetzentwürfe einreichen, die zu einer - wie haben Sie es ausgedrückt? - Verschärfung des Ausländerrechts oder der Situation der Ausländer führten. Ich habe Ihnen gerade die Zahl der illegalen Zuwanderer genannt. Dieses Ihr Argument, man müsse endlich etwas zur Erleichterung tun, müssen Sie draußen einmal vorbringen! ({3}) - Doch, Sie haben wörtlich gesagt, man sollte jetzt eher umgekehrt in Richtung Erleichterung gehen. Das müssen Sie auch mit Ihrem Innenminister absprechen. Er war ja hier, und ich habe ihn gelobt. Er hat ja ganz offen zugegeben, daß auch er Mißbrauch bekämpfen will. Natürlich muß man sich in Ruhe anschauen, ob damit womöglich eine Verbesserung der Bekämpfung von Mißbrauch verbunden ist. Meine Damen und Herren, nur einen Satz möchte ich bitte noch sagen dürfen, damit wir klar sehen, um was es geht. Schauen Sie, wir wollen mit dieser Möglichkeit des AZR den Kreis der Nutzer eines Registers erweitern. Erstens soll künftig die Sozialbehörde, die eine Leistung gewährt, direkt und nicht über Umwege hineinschauen können. Wir meinen zweitens, daß die visaerteilenden Stellen - sprich Ausländervertretungen - durchaus Überprüfungen vornehmen sollten, wenn einer zehnmal einlädt und zehn Asylbewerber die Folge sind. Drittens. Wenn die Polizei Identitätsprüfungen vor Ort vornimmt und die Menschen keine Pässe, keine Ausweise oder Paßersatzpapiere dabei haben müssen, dann kann doch niemand etwas dagegen haben, wenn der Polizeibeamte effektiver und schneller zu der Feststellung kommen kann, daß der Überprüfte legal hier ist und alles seine Ordnung hat. Nach jetzigem Recht erschweren wir den vor Ort arbeitenden Polizeibeamten die Tätigkeit. Nicht mehr und nicht weniger ist das, was wir vorschlagen. Demjenigen, der sich dagegen so heftig und mit solchen Argumenten wehrt, als würde sich der Staat in Richtung Polizeistaat verändern, kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland! Aber diese Diskussion setzen wir im Innenausschuß fort. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Herr Kollege Veit wollte eine Zwischenfrage stellen. Ich habe das nicht erkannt. Ich bitte diejenigen, die eine Zwischenfrage stellen wollen, aufzustehen, damit man sie deutlich sieht. Jetzt ist das mit der Zwischenfrage etwas schwierig, aber Sie können noch eine Kurzintervention machen.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich mache eine wirkliche Kurzintervention. Ich wollte als Praktiker, der zwölf Jahre lang in der Sache engagiert einer Ausländerbehörde als Landrat vorgestanden hat, der, wenn auch nur für sieben Jahre, die Verantwortung für die Abschiebebehörde in ganz Mittelhessen hatte, sagen: Ihre Qualifizierung der Arbeit von in der Ausländerbehörde tätigen Menschen ist genauso unwürdig wie die Qualifizierung von deren „Kundschaft“. Ich will Ihnen auch sagen, worin ein wirkliches Problem unserer Mitarbeiter dort bestand und immer noch besteht: Das sind zum Teil schlechte und zu stringente Gesetze und im übrigen Verwaltungsvorschriften auf Hunderten von Seiten, die kein Mensch mehr übersieht. Deswegen kann dort ein Beamter kaum noch seine Arbeit erledigen. Dafür tragen in erster Linie Sie die Verantwortung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Zeitlmann, wollen Sie erwidern? - Bitte schön.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege ({0}) - „lieb“ nicht, sagt mir gerade ein Zwischenrufer, aber ich wollte es höflich machen -, ({1}) ich konzediere Ihnen sofort, daß es viele Verwaltungsvorschriften gibt. Das ist sicher ein Übel. Die Tatsache, daß Sie hier so tun, als wäre dies das alleinige Übel für die Beamten und Angestellten in den Ausländerbehörden, beweist mir, daß Sie zwar Vorgesetzter waren, aber keine Ahnung haben. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Joachim Stünker, SPD-Fraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bis vor einem Jahr, bevor ich die Ehre hatte, als Bundestagsabgeordneter in dieses Hohe Haus gewählt zu werden, war ich Richter in diesem Land, und zwar fast drei Jahrzehnte lang. Ich muß Ihnen sagen: Mich erschreckt es langsam, mit welchen Platitüden umfangreiche Gesetzesänderungen und neue Gesetze begründet werden, ({0}) wie mit Fremdenhaß und Fremdenfeindlichkeit und mit Vokabeln wie Drecksarbeit, die die Beamten vor Ort machen, argumentiert wird. Das beweist im Grunde nur eines: Sie schüren Angst, aber Sie beschäftigen sich nicht im Detail mit den Dingen, die es zu regeln gilt. Das ist eigentlich nicht die Aufgabe dieses Hohen Hauses. ({1}) - Nein, ich bin nicht der einzige Gescheite hier, ({2}) aber ich bin offensichtlich der einzige - zumindest habe ich nach dem, was von Ihrer Seite bisher dazu gesagt worden ist, den Eindruck -, der sich mit dem Gesetz beschäftigt hat. Dazu habe ich von Ihrer Seite in den bisherigen Redebeiträgen so gut wie nichts gehört. ({3}) Lassen Sie mich von daher eines einleitend sagen: Für uns Sozialdemokraten war schon immer Grundüberzeugung, den einzelnen vor Verbrechen zu schützen. Das ist eine Kernaufgabe des Staates, zu der wir uns bekennen. Freiheit und Sicherheit sind eine untrennbare Einheit; daran geht in der Demokratie kein Weg vorbei. Für uns Sozialdemokraten ist es selbstverständlich, daß der Rechtsstaat die Freiheitsrechte seiner Bürger achtet. Aber wir sehen auch, daß heute in Demokratien nicht in erster Linie die Gefahr einer Übermacht des Staates, sondern eher die einer Ohnmacht des Staates droht und dem entgegengewirkt werden muß. Das ist keine Frage. Deshalb sind wir auch bereit, mit Ihnen zu diskutieren und dort Lösungen zu finden, wo es in der Tat beklagenswerte Mißbräuche gibt. Solche Mißbräuche müssen jedoch auch rechtstatsächlich verifizierbar sein. Von daher machen Sie sich vielleicht am Ende dieser Debatte noch für ein paar Minuten die Mühe, mit mir gemeinsam in das geltende Ausländerzentralregister hineinzusehen und zu schauen, was dort gegenwärtig geregelt ist. Dieses Ausländerzentralregister hat drei Funktionen: Erstens: die Identifizierungsfunktion. Das heißt, es ermöglicht die Identifizierung von Ausländern an Hand der gespeicherten Daten. Zweitens: die Nachweisfunktion. Es weist Behörden nach, die zu bestimmten Sachverhalten über nähere Informationen über Ausländer verfügen. Drittens: die Substitutionsfunktion. Es hält selbst wichtige Informationen über Ausländer bereit, die bei Entscheidungen zugrunde gelegt werden können, wenn eine Anfrage bei der aktenführenden Behörde zu lange Zeit in Anspruch nehmen würde. Somit deckt das Register die Informationsbedürfnisse verschiedener öffentlicher Stellen ab und dient letztlich einer Vielzahl von Zwecken. Es dient der Zusammenarbeit und der Aufgabenerfüllung von Behörden im Bereich des Ausländer- und Asylrechts, der polizeilichen Gefahrenabwehr, der Strafverfolgung, der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung, des Verfassungsschutzes, der Nachrichtendienste sowie der Staatsangehörigkeitsund Vertriebenenbehörden. Für die Aufgabenerfüllung werden in dem Register die zu unterschiedlichen Zwecken gesammelten Daten verknüpft, die dann einem sehr weit gefaßten Kreis von Nutzern und Anwendern, zum Teil im On-lineVerfahren, zur Verfügung gestellt werden. Das ist geltendes Recht. Damit stehen die Aufgaben dieses Ausländerzentralregisters wie bei jedem Register, das Personendaten sammelt, immer zugleich auch im Spannungsverhältnis zu dem Grundrecht auf Datenschutz. Lassen Sie mich hierzu noch einmal die vier Essentials - Frau Beck hat es vorhin teilweise bereits getan -, die das Bundesverfassungsgericht in seinem grundlegenden Urteil zu dem Grundrecht auf Datenschutz bereits im Jahre 1983 festgestellt hat, nennen. Wir können hier doch nicht so tun, als würden wir in einem Raum außerhalb unserer Verfassung argumentieren. ({4}) Das Bundesverfassungsgericht stellt erstens fest: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht beinhaltet unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung auch den Schutz des einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten. Zweitens. In dieses Recht darf nur im überwiegenden Allgemeininteresse eingegriffen werden. Drittens. Hierzu ist eine gesetzliche Grundlage erforderlich, aus der sich Art und Umfang des Rechtseingriffs normenklar ergeben müssen. Viertens. Bereits der Gesetzgeber hat organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken. Zu diesen klassischen vier Grundsätzen steht in Ihrem Entwurf nicht ein Wort. Da das Grundrecht auf Datenschutz aus dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Verbindung mit dem Schutz der Menschenwürde abgeleitet wird, kann es jedermann, ob er Deutscher oder Ausländer ist, in Anspruch nehmen. Das ist dabei zu berücksichtigen. Wir werden deshalb in der jetzt beginnenden Ausschußberatung Teile der Vorschläge, die Sie zum AZR hier gemacht haben, genau unter Berücksichtigung dieses genannten Spannungsverhältnisses beraten. Wir werden uns die rechtstatsächlichen Voraussetzungen und Untersuchungen dazu ansehen. Danach werden wir gemeinsam zu prüfen haben, wo tatsächliche Mißbrauchsbereiche gegeben sind und letzten Endes Änderungsbedarf besteht. Wir treten somit mit Ihnen in eine sachliche Diskussion ein, jedoch nicht auf dem Niveau, auf dem sie heute nachmittag von Ihnen teilweise begonnen worden ist. ({5}) Ein letzter Satz - ich hoffe, ich habe die Zeit dazu noch, weil mir dieser Punkt wichtig ist - zu Ihrem Vorschlag der Einrichtung einer Warndatei. Dazu werden Sie uns im Ergebnis nicht bewegen können; denn mit diesem Vorschlag ist beabsichtigt, die vorhin von mir genannten Funktionen zur Identifizierung, zum Nachweis und zur Substitution des Ausländerregisters zu erweitern, hin zu Mitteln zur Abwehr und zur Bekämpfung von Ausländern. Ein sachlicher Grund zur Einrichtung einer derartigen Warndatei besteht nicht und wird auch in Ihrem Entwurf nicht genannt. Es ist nicht ersichtlich und auch nicht näher begründet, aus welchen Gründen die Sammlung derartiger Daten im Hinblick auf die Bekämpfung von illegaler Einreise oder Schleuserkriminalität notwendig wäre. Letztendlich macht die Wortwahl „Warndatei“ die programmatische Zielsetzung deutlich: Es soll vor denjenigen gewarnt werden, deren Daten in dieser Kartei verzeichnet sind. Damit wird der fatale Eindruck erweckt, als ob es sich hierbei um Schwerverbrecher oder, allgemein bezeichnet, um Kriminelle handele. Betrachtet man Ihren Vorschlag genauer, ist festzustellen, daß Daten von Ausländern und übrigens auch Deutschen gesammelt und zugänglich gemacht werden sollen auf Grund von Handlungen und Verhaltensweisen, die lediglich einen Anfangsverdacht, also keinen gerichtlich festgestellten Schuldnachweis, begründen. Bei einem Anfangsverdacht also sollen Daten gesammelt werden, die über einen gewissen Zeitraum dokumentiert bleiben und auf die ein freier Zugriff der von mir genannten Nutzer möglich ist. Teilweise ist nicht einmal ein derartiger Anfangsverdacht Voraussetzung für die Eintragung. Vielmehr sollen quasi in Verantwortung für ein möglicherweise strafrechtlich relevantes Verhalten Dritter Daten von Personen registriert werden. Als zehn Jahre lang tätig gewesener Strafrichter kann ich nur sagen: Dies ist ein absurder Vorschlag. ({6}) Im Ergebnis wird im vorliegenden Gesetzentwurf die Sammlung von Verdachtstaten gefordert. Das ist rechtsJoachim Stünker staatlich unmöglich und nicht hinnehmbar. Von daher kann Ihr Entwurf zur Schaffung einer Warndatei auch nach den nun anstehenden Beratungen mit Sicherheit nicht unsere Zustimmung finden. Schönen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nach der Rede des Kollegen Stünker schließe ich die Aussprache. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes auf Drucksache 14/1662 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 l und Zusatzpunkt 2 auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Union zur Änderung der Bilanz- und der Konzernbilanzrichtlinie hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs ({0}), zur Verbesserung der Offenlegung von Jahresabschlüssen und zur Änderung anderer handelsrechtlicher Bestimmungen ({1}) - Drucksache 14/1806 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. Mai 1998 über Partnerschaft und Zusammenarbeit zur Gründung einer Partnerschaft zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Turkmenistan andererseits - Drucksache 14/1787 ({3}) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({4}) Finanzausschuß Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 11. Dezember 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik El Salvador über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/1840 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({5}) Auswärtiger Ausschuß d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. August 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Turkmenistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/1842 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({6}) Auswärtiger Ausschuß e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. September 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der mazedonischen Regierung über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/1843 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({7}) Auswärtiger Ausschuß f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. März 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kroatien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/1844 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({8}) Auswärtiger Ausschuß g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Meliorationsanlagengesetzes ({9}) - Drucksache 14/1832 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({10}) Rechtsausschuß Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung humanitärer Auslandseinsätze ({11}) - Drucksache 14/628 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verwaltungskostengesetzes - Drucksache 14/639 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({13}) Rechtsausschuß j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Apothekengesetzes - Drucksache 14/756 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({14}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Bekämpfung der sinkenden Zahlungsmoral durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes ({15}) - Drucksache 14/1878 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({16}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuß l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Überzählige Diesellokomotiven der DB AG nicht verschrotten, sondern weiterverwenden - Drucksache 14/1930 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Änderungsgesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte - Drucksache 14/1958 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({17}) Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Antrag der PDS zum Umsatzsteuerrecht auf Drucksache 14/1878 soll zusätzlich an den Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 l auf. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 17 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Änderung währungsrechtlicher Vorschriften infolge der Einführung des EuroBargeldes ({18}) - Drucksache 14/1673 ({19}) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({20}) - Drucksache 14/1962 Berichterstattung: Abgeordneter Otto Bernhardt Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS-Fraktion ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 17 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Umwandlung der Deutschen Siedlungs- und Landesrentenbank in eine Aktiengesellschaft ({21}) - Drucksache 14/1672 ({22}) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({23}) - Drucksache 14/1953 Berichterstattung: Abgeordnete Otto Bernhardt Klaus Lennartz Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der PDS ist der Entwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Tagesordnungspunkt 17 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung insolvenzrechtlicher und kreditwesenrechtlicher Vorschriften - Drucksachen 14/1539, 14/1931 ({24}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({25}) - Drucksache 14/1987 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Rainer Funke Vizepräsidentin Anke Fuchs Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen worden. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der Fraktion der PDS ist der Gesetzentwurf angenommen. Tagesordnungspunkt 17 d: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 9. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Italienischen Republik und der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zur Gründung der Gemeinsamen Organisation für Rüstungskooperation ({26}) OCCAR ({27}) - Drucksache 14/1709 ({28}) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({29}) - Drucksache 14/1943 - Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Opel Kurt J. Rossmanith bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({30}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/1945 Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Volker Kröning Oswald Metzger Jürgen Koppelin Wir kommen zur zweiten Beratung und Schlußabstimmung. Der Verteidigungsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1943, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer dagegen ist, möge sich jetzt erheben. - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Ablehnung durch die PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 17 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verleihung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit an die Internationale Kommission zum Schutze des Rheins ({31}) - Drucksache 14/1017 ({32}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({33}) - Drucksache 14/1823 Berichterstattung: Abgeordnete Christel Deichmann Kurt-Dieter Grill Winfried Hermann Ulrike Flach Eva-Maria Bulling-Schröter Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/1823, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenproben und Enthaltungen sehe ich keine. Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 17 f: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. November 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Arabischen Republik Ägypten über ihre gegenseitigen Seeschiffahrtsbeziehungen - Drucksache 14/1090 ({34}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({35}) - Drucksache 14/1845 Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Kunick Wir kommen zur zweiten Beratung und Schlußabstimmung. Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/1845, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ich sehe keine Enthaltungen und Gegenstimmen. Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Vizepräsidentin Anke Fuchs Tagesordnungspunkt 17 g: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({36}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1999 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel 683 06 - Zuweisung nach dem Gesetz über die Verbilligung von Gasöl durch Betriebe der Landwirtschaft ({37}) - Drucksachen 14/1345, 14/1577 Nr. 5, 14/1783 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Rössel Iris Hoffmann ({38}) Josef Hollerith Matthias Berninger Dr. Günter Rexrodt Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1783, von der Unterrichtung Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? ({39}) - Sie können ja die Kenntnisnahme verweigern, Herr Kollege. - Alle stimmen dafür. Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen. Tagesordnungspunkt 17 h: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({40}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1999 Überplanmäßige Ausgabe im Einzelplan 23 Kapitel 23 02 Titel 836 03 - Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Kapital der Asiatischen Entwicklungsbank, am Asiatischen Entwicklungsfonds sowie am Sonderfonds für Technische Hilfe - Drucksachen 14/1431, 14/1616 Nr. 1.7, 14/1785 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Hermenau Dr. Emil Schnell Michael von Schmude Jürgen Koppelin Dr. Barbara Höll Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1785, von der Unterrichtung Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen. Wir kommen nun zu Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses. Als erstes rufe ich Tagesordnungspunkt 17 i auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({41}) Sammelübersicht 88 zu Petitionen - Drucksache 14/1862 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Stimmenthaltung der Fraktion der PDS ist die Sammelübersicht 88 angenommen. Tagesordnungspunkt 17 j: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({42}) Sammelübersicht 89 zu Petitionen - Drucksache 14/1863 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der Fraktion der PDS ist die Sammelübersicht 89 angenommen. Tagesordnungspunkt 17 k: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({43}) Sammelübersicht 90 zu Petitionen - Drucksache 14/1864 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Einige Mitglieder der PDS-Fraktion haben sich enthalten. ({44}) - Die PDS hat also zugestimmt. - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist die Sammelübersicht 90 damit angenommen. Tagesordnungspunkt 17 l: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({45}) Sammelübersicht 91 zu Petitionen - Drucksache 14/1865 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS-Fraktion ist die Sammelübersicht 91 angenommen. Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. OSZE-Gipfel in Istanbul - für eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der OSZE - Drucksache 14/1959 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({46}) Verteidigungsausschuß Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Neue europäische Sicherheitsarchitektur - Drucksache 14/1771 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({47}) Verteidigungsausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsidentin Anke Fuchs Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine gute Tradition, daß wir vor diesen Gipfeln gemeinsam beschließen, welche politische Botschaft das Parlament an den Gipfel senden möchte. Insbesondere in dem Bereich Abrüstung und Rüstungskontrolle haben wir es immer geschafft, daß ein gemeinsamer Antrag bei allen Fraktionen eine breite Zustimmung gefunden hat. Dies zeigt, wie sehr wir die Arbeit der OSZE schätzen, wie sehr wir sie gemeinsam unterstützen wollen und wie wichtig sie uns ist. Die OSZE ist uns deshalb wichtig, weil sie eine Organisation ist, die für Demokratie, für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, für Minderheitenschutz sowie für Abrüstung und Vertrauensbildung in Gesamteuropa - in dem Raum, in dem wir gemeinsam leben - eintritt. ({0}) Die OSZE ist eine Organisation gemeinsamer Sicherheit, die sich über den Raum von Vancouver bis Wladiwostok erstreckt. Wie wichtig gemeinsame Sicherheit ist, wissen wir ganz besonders in unserer Zeit zu schätzen, in der wir immer wieder mit Krisen konfrontiert werden, von denen wir eigentlich gedacht hatten, daß es sie nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation in Europa nicht mehr geben würde. Dieser Gipfel hat eine besondere Bedeutung, weil er in den Bereichen Abrüstung, Rüstungskontrolle, Transparenz- und Vertrauensbildung - die Krisenprävention ist in unserer Zeit ganz wichtig geworden - sowie der Stärkung der OSZE hinsichtlich ihrer Missionen zur Friedenserhaltung wichtige Beschlüsse zu fassen hat. Wir wollen alle gemeinsam die OSZE stärken. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, daß wir mit unserer Delegation bei der OSZEParlamentarierversammlung in diesem Jahr einen Antrag eingebracht haben, der eine sehr breite Akzeptanz gefunden hat. In diesem Antrag haben wir die verschiedenen Maßnahmen aufgezählt, die wir uns zur Stärkung der OSZE wünschen. Es sieht aber nicht so aus, als wenn der Gipfel in Istanbul all unsere Wünsche erfüllen würde. Aber wenn er ein Erfolg wird - was wir uns alle wünschen -, wird er uns ein gutes Stück weiterbringen. ({1}) Wir wollen auf der Grundlage der Erfahrungen aus dem Bosnien- und dem Kosovo-Konflikt die OSZE in ihrer Handlungsfähigkeit stärken. Wir wollen auch, daß sie auf Krisen schneller reagiert, damit sie eingreifen kann, bevor Blut geflossen ist, und damit sie in die Lage versetzt wird, Konflikte zu verhindern. Der Erfolg des Gipfels liegt also in unser aller Interesse. Ein ganz wichtiger Punkt auf der Agenda ist eine Neufassung des KSE-Vertrages, die beschlossen werden soll. Weitere wichtige Punkte sind das Wiener Dokument - ich komme gleich darauf zurück - und eine neue Sicherheitscharta für Europa, die festlegen soll, unter welchen Bedingungen gemeinsame Sicherheit in Europa fortgeschrieben werden kann, und die die gemeinsame Sicherheitsarchitektur stärken soll, die wir uns wünschen. Die Rahmenbedingungen dafür sollen in dieser Charta niedergelegt werden. Meine Damen und Herren, es zeichnet sich ab, daß dieser OSZE-Gipfel ganz wichtig ist und daß uns allen an einem Fortschritt gelegen sein muß. Ein Scheitern hätte für uns unter Umständen ganz fatale Folgen. Das wäre nämlich ein fatales Signal für die Rüstungskontrolle nicht nur in Europa, sondern weltweit. Nach dem, was wir letzte Woche diskutiert haben, nämlich die Nichtratifikation des Atomteststopabkommens durch die USA, wäre dies ein weiteres Signal dafür, daß Abrüstung, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung nicht mehr gefragt sind und wir zu einer Politik zurückkehren, die wir überwunden zu haben glaubten. Deshalb, so glaube ich, liegt uns allen am Herzen, daß dieser Gipfel ein Erfolg wird. ({2}) Nach all dem, was im OSZE-Raum aktuell abläuft und bisher abgelaufen ist, wissen wir, daß dies gar nicht so einfach sein wird. Mein Kollege Weisskirchen wird nachher noch auf das Thema Tschetschenien eingehen. Der neue KSE-Vertrag ist deshalb so wichtig, weil er den KSE-Vertrag ablöst, der noch ganz deutlich das Signum der Blockkonfrontation trägt, und weil durch ihn die Stabilität in Europa gefestigt werden kann, dies insbesondere in einer Situation, in der die Kooperation mit Rußland nach der NATO-Osterweiterung schwieriger geworden ist. Wir alle sehen dies im täglichen politischen Geschehen. Die Kooperation mit Rußland kann durch diesen neuen KSE-Vertrag wesentlich verbessert werden. Rußland kann in das System der Vertrauensbildung, Abrüstung und Zusammenarbeit eingebunden werden. Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit wird daher auch in Zukunft eine der wesentlichen Leistungen der OSZE sein. Ein weiteres Instrument, über das auf der Konferenz in Istanbul gesprochen werden wird, ist das Wiener Dokument. Dies ist ein zentrales Dokument, um im militärischen Bereich Vertrauen zu bilden und Transparenz zu schaffen. Ich denke, wir wissen, wie wichtig das ist. Auch die Sicherheitscharta - diese Charta ist neu; sie wurde 1994 in Budapest gemeinsam verabredet soll auf dem Gipfel in Istanbul beschlossen werden. Dies ist zwar kein völkerrechtlich bindender Vertrag, aber ein politisch bindendes Dokument. Dieses Dokument soll sozusagen die Plazierung der OSZE im Verhältnis zu den anderen Sicherheitsorganisationen, also der NATO, der WEU, der UNO usw. genau beschreiben. Es soll aber auch die Möglichkeiten der OSZE verbessern auch dies wieder unter dem Gesichtspunkt der NATOOsterweiterung und der gegenwärtigen Konflikte -, weil Vizepräsidentin Anke Fuchs die sicherheitspolitischen Interessen aller beteiligten Staaten berücksichtigt werden. Wir alle sind angesichts der Erfahrungen aus den Konflikten in Bosnien und dem Kosovo zu dem Ergebnis gekommen, daß es dringend notwendig ist, die Handlungsfähigkeit der OSZE zu stärken. Thema auf dieser Konferenz wird daher auch sein: Wie stärken wir die Handlungsfähigkeit der OSZE insbesondere in Krisensituationen? Natürlich wünschen wir uns mehr, als auf dem Gipfel beschlossen werden kann. Die OSZE wird aber zu einer Organisation werden, die in der Tat all die Konflikte, die anstehen, bewältigen kann. Gerade die momentanen Ereignisse in Tschetschenien sind ein wichtiger Hinweis darauf, daß wir in diesem Bereich dringend eine Stärkung brauchen. ({3}) Es ist aber von zentraler Wichtigkeit, die Instrumente der Krisenprävention zu stärken, um auch so die Handlungsfähigkeit der OSZE zu verbessern. Die Vorgänge in Bosnien und im Kosovo haben das gezeigt. Wir versuchen, aus dem zu lernen, was dort möglicherweise schiefgelaufen ist oder mühsam war. Ich erinnere nur daran, wie schwierig es war, das große Kontingent der Kosovo Verification Mission aufzustellen, und wie gut es gewesen wäre, wenn wir uns sehr viel früher darangemacht hätten, für so etwas Vorsorge zu treffen. Dies ist jetzt geschehen. Ein Bestandteil dessen ist das, was die Bundesrepublik eingeleitet hat: eine Ausbildung für solche Emissionäre, für Fachleute - ich mag das Wort „Friedensfachkräfte“ nicht; aber es wird in diesem Fall angewandt -, die dann für das schon gerüstet sind, was sie in einer Konfliktsituation erwartet. Man kann die Menschen ja nicht einfach unvorbereitet in solche Situationen schicken. Deshalb ist es ganz wichtig, einen großen Personenkreis auszubilden und auf solche Missionen vorzubereiten, der schnell einsetzbar ist, wenn es „zu brennen“ beginnt. Möglicherweise wird dieser Gipfel auch einen Schritt hin zu sogenannten zivilen Stand-by-Forces - das ist auch kein sonderlich schöner Ausdruck, weil er so militärisch klingt - machen. Ein wichtiger Ansatz ist dabei der Vorschlag der USA, eine REACT-Truppe, also Rapid Expert Assistant and Cooperation Teams, als Standby-Truppe vorzuhalten, die mit Konflikten umgehen und sehr schnell dorthin geschickt werden kann. Darüber hinaus muß uns auch klar sein, daß wir im Bereich der Polizei mehr tun müssen, als bisher geplant und angedacht worden ist. ({4}) Ein Schwerpunkt der nächsten Jahre muß sein, zu regeln, daß Polizeikräfte sehr schnell in Krisengebiete entsandt werden können. Wir müssen ja nicht immer Soldaten schicken, sondern es geht auch auf einer zivilen Ebene. Aber es muß eben ein Ordnungsfaktor sein. ({5}) Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich noch einmal darauf zurückkommen, wie wichtig es sein wird, daß diese Konferenz Erfolg hat; denn sie wird auch Auswirkungen darauf haben, ob der Stabilitätspakt, wie wir ihn jetzt geplant haben und angegangen sind, zu einem Erfolg geführt werden kann. Scheitert dieser Pakt ausgerechnet in der Organisation, die eigentlich dafür geschaffen ist, solche Projekte durchzuführen, hätte dies erhebliche Auswirkungen zum Beispiel auf den Sicherheitstisch des Stabilitätspaktes, der ja nach dem Muster der bisherigen OSZE-Vorschläge zur Abrüstung, zur Rüstungskontrolle und zur regionalen Vertrauensbildung enthalten soll. Auch von daher haben wir ein großes Interesse daran, daß dieser Gipfel ein Erfolg wird. Er stellt aber keinen Endpunkt dar. Vielmehr geht es um den Start in eine neue Dimension. Am Ende steht das Ziel, daß auch von der OSZE Krisenbewältigung ausgeht. Statt immer auf militärische Organisation zurückzugreifen, sollten wir den zivilen Teil der Konfliktprävention stärken. Das ist uns allen enorm wichtig. Herzlichen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSUFraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der OSZEGipfel in Istanbul dient dem Ziel, die Handlungsfähigkeit der OSZE zu stärken, eine europäische Sicherheitscharta zu verabschieden, das Konzept eines gesamteuropäischen Sicherheitsraumes ohne neue Trennlinien zu bekräftigen und die Verpflichtung aller Teilnehmerstaaten zur Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hervorzuheben. Der brutale Krieg in Tschetschenien steht im Widerspruch zu jeder dieser Zielvorgaben und gefährdet den OSZE-Gipfel insgesamt. Deshalb richte ich für die CDU/CSU-Fraktion zuerst einen eindringlichen Appell an die russische Regierung, den unangemessenen und unverhältnismäßigen Krieg gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung unverzüglich zu beenden. ({0}) Wir als CDU/CSU-Fraktion können das in dieser Deutlichkeit sagen, weil wir nicht im Verdacht stehen, allein eine antirussische Politik zu verfolgen. Im Gegenteil, die heutigen Regierungsfraktionen haben uns in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen, der russischen Regierung zu weit entgegenzukommen und falsche Rücksichten auf die russische Innenpolitik zu nehmen. Wir haben den schwierigen Weg der Russischen Föderation zu Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Marktwirtschaft immer sehr realistisch und kritisch verfolgt. Wir haben nüchtern abgewägt, wie wir diese Entwicklung fördern können, soweit wir von außen überhaupt Einfluß haben. Unsere Haltung ist klar und gilt unverändert: Wir wollen, daß Rußland zu Europa gehört. Aber solange die russische Regierung die Menschenrechte ihrer eigenen Bevölkerung so massiv verletzt, steht sie außerhalb des Fundamentes, auf dem das Haus Europa gebaut wird. ({1}) Der Krieg in Tschetschenien schadet den eigenen russischen Interessen. Er macht die innere Entwicklung nicht stabiler, sondern im Gegenteil unkalkulierbar. Selbstverständlich hat jeder Staat das Recht, sich gegen Terroranschläge zur Wehr zu setzen. Die russische Kriegführung in Tschetschenien aber ist völlig unangemessen. Sie geht rücksichtslos gegen die Bewohner vor und nimmt hohe Verluste bei der Zivilbevölkerung in Kauf. Das ist ein krasser Verstoß gegen den OSZEVerhaltenskodex, der verlangt, daß im Falle eines Streitkräfteeinsatzes innerhalb eines Mitgliedstaates keine unverhältnismäßige Gewalt angewendet werden darf und Beeinträchtigungen von Zivilpersonen zu vermeiden sind. Gerade Rußland hat immer darauf gedrängt, eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur auf der OSZE aufzubauen, damit Rußland und die neuen Staaten im Kaukasus und in Ost- und Südosteuropa eingebunden sind. Mit dem Krieg in Tschetschenien zerstört Rußland die Autorität der Organisation, von der es sich selbst mehr Einfluß auf die Sicherheitspolitik in Europa erhofft. Es ist bezeichnend, daß wir als Opposition im Deutschen Bundestag diesen Appell an die russische Regierung richten müssen. Von der Bundesregierung haben wir dazu bisher leider kein öffentliches Wort gehört. ({2}) Das steht im Gegensatz zu der überzogenen außenpolitischen Rhetorik, die die Koalition ansonsten untereinander und in der Öffentlichkeit pflegt. ({3}) Dabei haben doch Sozialdemokraten und Sie von der grünen Fraktion in der Vergangenheit immer soviel Wert auf die Krisenbewältigung im Rahmen der OSZE gelegt, weil Sie der NATO mißtraut haben. Sie, Herr Staatsminister, waren einer der Wortführer gegen die NATO-Osterweiterung. Sie haben sie als Militarisierung der Außenpolitik diffamiert. ({4}) Ferner haben Sie behauptet, wir könnten die Sicherheit in Europa besser gewährleisten, wenn wir ausschließlich auf die OSZE setzen. ({5}) Wir, die CDU/CSU, waren immer realistischer. Wir setzen uns für die Stärkung der OSZE ein, weil sie die einzige Sicherheitsinstitution in Europa ist, die alle NATO-Mitglieder und alle europäischen und zentralasiatischen Staaten, die nicht der NATO angehören, umfaßt. Wir unterstützen die Forderung, daß die OSZE direkt den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anrufen kann, notfalls auch ohne Zustimmung der an einem Konflikt beteiligten Staaten. Wir sind ja auch für den Vorschlag, der OSZE eigene friedenserhaltende Maßnahmen zu ermöglichen, darunter auch den Einsatz von Streitkräften. Aber wir haben berechtigte Zweifel daran, ob die OSZE ohne die NATO und deren Instrumente im Ernstfall wirklich handlungsfähig ist. Das gilt hinsichtlich der Krisenprävention wie hinsichtlich der Krisenreaktion. Leider haben sich unsere Zweifel einmal mehr bestätigt, weil der Krieg in Tschetschenien die OSZE und ihre Prinzipien desavouiert. Welchen Wert hat ein Vertrag, dessen Bestimmungen schon bei der Unterschrift nicht eingehalten werden? Auf dem Istanbuler Gipfel soll der KSE-Vertrag an die neuen Sicherheitsgegebenheiten in Europa angepaßt werden. Aber die Truppenstärke der russischen Streitkräfte im Kaukasus liegt schon heute erheblich über den vertraglich festgelegten Werten. Glauben Sie im Ernst, daß es etwa in Armenien, wo nach dem Terroranschlag im Parlament die Armee die politische Kontrolle übernommen hat, eine Zustimmung für eine Reduzierung der konventionellen Streitkräfte geben wird? Die Vorstellung von der OSZE, die der Außenminister und seine Partei während der Debatte um die NATO-Osterweiterung vertreten haben, war Wunschdenken. Wir empfinden darüber keine Schadenfreude, im Gegenteil: Wir alle haben Anlaß zu großer Sorge. Wenn Sie Ihre Haltung jetzt an die Realitäten anpassen, ist dagegen nichts einzuwenden. Aber die Bundesregierung kann zum Krieg in Tschetschenien nicht einfach schweigen. Das ist falsch gegenüber unserem Partner Rußland, und das ist falsch gegenüber der OSZE. Wenn während des Gipfels in Istanbul die Ziele, die sich die OSZE dort setzt und die wir gemeinsam unterstützen, durch einen unverhältnismäßigen Krieg und durch massive Menschenrechtsverletzungen ad absurdum geführt werden, ist die Erfolglosigkeit des Gipfels vorprogrammiert. Der Herr Außenminister hält es nicht für nötig, dazu vor dem Parlament Stellung zu nehmen. Er hat zunehmend ein Problem mit seiner moralisierenden Rhetorik, die ethische Grundsätze der deutschen Außenpolitik je nach Opportunität für die eigene Position in Sachfragen in Anspruch nimmt oder nicht. Keiner von denen, die sich in der vergangenen Woche in der öffentlichen Debatte um die Lieferung eines Testpanzers an die Türkei beinahe inflationär auf die Menschenrechte berufen haDr. Andreas Schockenhoff ben - der Außenminister, seine Partei, viele Sozialdemokraten -, hat sich bisher in auch nur annähernd vergleichbarer Weise zu den eklatanten Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien geäußert. ({6}) - Das paßt nicht zusammen, Herr Lippelt. Ihr Wertrelativismus ist unglaubwürdig. Moral ist nicht beliebig. Richten Sie das bitte dem Herrn Außenminister aus! ({7}) Während des Kosovo-Krieges hat Joschka Fischer zum Vorgehen der Serben gegen die Kosovo-Albaner gesagt, Auschwitz dürfe sich nicht wiederholen. Das hat er natürlich getan, um die Pazifisten in Ihren Reihen zu ködern, weil er sich der Zustimmung seiner Fraktion für die Politik der Bundesregierung nicht sicher sein konnte. Wir fanden diese Rhetorik unangemessen. Im Kosovo sind schreckliche Verbrechen passiert, aber Auschwitz ist einzigartig und darf durch keinen Vergleich relativiert werden. ({8}) Zum Krieg in Tschetschenien hat sich der Außenminister öffentlich überhaupt nicht geäußert. Totschweigen ist das andere Extrem. Auch das finden wir unangemessen. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt?

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, mit Respekt: Sind Ihnen etwa zwei Presseerklärungen, die der Außenminister selber gemacht hat, und darüber hinaus eine Erklärung, die er zusammen mit dem italienischen und dem französischen Außenminister abgegeben hat, völlig entgangen?

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Lippelt, angesichts der moralisierenden Töne und der starken Sprüche, die vom Bundesaußenminister in der letzten Woche im Zusammenhang mit der Türkeifrage zu hören waren, ist ein Kommuniqué des Außenministeriums in dieser Frage zu wenig. Das ist genau der Relativismus, den ich Ihnen vorwerfe. ({0}) - Nein, der Außenminister hat sich öffentlich nicht erklärt. Es gab lediglich ein Kommuniqué, das schriftlich verbreitet wurde. Ich sage es noch einmal: Im Verhältnis zu dem Auftreten, was er sonst pflegt, ist das der massiven Verletzung von Menschenrechten in Tschetschenien nicht angemessen. Eine verläßliche, berechenbare Außen- und Sicherheitspolitik verträgt diesen Wertrelativismus nicht. Deshalb sagt die CDU/CSU in aller Klarheit: Die Raketen auf dem Marktplatz von Sarajevo waren ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Raketen auf dem Marktplatz von Grosny waren ebenfalls ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. ({1}) Es wird höchste Zeit, daß jemand von der Bundesregierung dazu in derselben Klarheit Stellung bezieht. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.

Rita Grießhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig - wie Herr Schockenhoff gesagt hat -, daß die Ereignisse in Tschetschenien den OSZE-Gipfel in Istanbul überschatten. Das Vorhaben, nach dem kalten Krieg eine substantielle europäische Sicherheitscharta zu verabschieden, ist gefährdet. Dieses Vorhaben allein ist schon schwierig genug; denn es ist keine einfache Aufgabe, die künftige Rolle der OSZE zwischen Vereinten Nationen, NATO, WEU und Europäischer Union zu gestalten. Ähnlich wie die UN ist die OSZE eine Organisation von höchst heterogenen Staaten. Die Einhaltung der Menschenrechte - das ist die aktuelle Erfahrung und die traurige Wahrheit - kann leider nicht vorausgesetzt werden. Dennoch haben KSZE und OSZE ganz entscheidend dazu beigetragen, die Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Frieden populär zu machen. ({0}) Meilensteine auf diesem weiten Weg waren die Schlußakte in Helsinki, die Charta von Paris und die Erklärung von Lissabon. Trotzdem - das ist richtig - müssen wir realistisch sein. Das Hauptverdienst der OSZE lag bisher in ihrer dialogischen Struktur, ihrer Hilfe für junge Demokratien, Wahlbeobachtung und Wahlbegleitung. Es bleibt eine Herkulesaufgabe, die Rolle der OSZE im Prozeß hin zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu definieren und zu stärken. Aber die OSZE hat eine hervorragende Rolle bei der Bewältigung des Transformationsprozesses nach Beendigung der Blockkonfrontation gespielt. Sie hat nicht nur Wahlen organisiert und sich bei der Wahlbeobachtung Verdienste erworben. Sie hat auch in sehr schwieDr. Andreas Schockenhoff rigen Konflikten vermittelt. Ich erinnere hier nur an Moldawien und Georgien. ({1}) Durch die Mitgliedschaft sämtlicher Nachfolgestaaten der UdSSR in der OSZE ist sie eine transatlantischeurasische Veranstaltung mit höchst unterschiedlichem Entwicklungsstand in den demokratischen Standards. Auch wenn sich alle verpflichtet haben, die Menschen-, Minderheiten- und demokratischen Rechte zu wahren, ist es sehr schwer, dies einheitlich hinzubekommen. In Istanbul erwartet die Teilnehmer wirklich kein Feiertagsprogramm - Herr Schockenhoff, das haben Sie ganz richtig gesehen -, sondern eine schwierige Mission. Vor allem sind wir tief besorgt über die Entwicklung in Tschetschenien. Auf dem OSZE-Gipfel muß nach Lösungen gesucht werden, wie der grausame Krieg dort beendet werden kann. ({2}) Im ersten Tschetschenien-Krieg hat die OSZE eine wichtige Vermittlerrolle innegehabt, und es ist offen, ob es jetzt zu einer politischen Lösung kommen kann. Rußland hat in Tschetschenien, wie Sie richtig bemerkt haben, den OSZE-Verhaltenskodex massiv verletzt. Der Krieg ist offensichtlich ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Minister Fischer hat das in einem Brief an Iwanow auch entsprechend zum Ausdruck gebracht. Selbstverständlich hat jeder Staat das Recht, gegen Terroristen vorzugehen, und wir wissen, daß es auch auf tschetschenischer Seite Geiselnahmen gab. Doch dies ist keine militärische, sondern eine polizeiliche Aufgabe. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung dürfen selbstverständlich nicht die Lebensgrundlagen eines ganzen Volkes zerstört werden. ({3}) Rußland hat als Mitglied der OSZE alle Möglichkeiten, die Organisation um Vermittlung anzurufen. Die Zulassung einer OSZE-Beobachtermission ist ein allererster Schritt in diese Richtung. Er genügt aber natürlich nicht. Wir erwarten von Rußland auch, daß eine öffentliche und objektive Berichterstattung aus Tschetschenien wieder möglich wird. Mit der Abschottung muß Schluß sein. Wir brauchen mehr Transparenz. ({4}) Auch Rußland hat die Einsetzung des OSZEMedienbeauftragten unterstützt. Ihn jetzt ins Land zu lassen wäre eine richtige Geste. Daß Hilfsorganisationen wie dem Internationalen Roten Kreuz und Cap Anamur endlich die Einreise gestattet wird, ist wichtig, aber angesichts der humanitären Katastrophe längst nicht ausreichend. Wir dürfen bei dieser Debatte auch nicht außen vor lassen, liebe Kollegen und Kolleginnen, daß dieser Krieg in Rußland bis jetzt auf breite Zustimmung stößt. Auch das ist ein Grund, warum eine schnelle Lösung nicht in Sicht ist. Es ist gut, wenn es jetzt in Moskau zumindest einzelne Stimmen gibt, die für Verhandlungen plädieren. Wir ermutigen alle Kräfte, die sich gegen diesen Krieg einsetzen. ({5}) Lassen Sie mich zum Gipfel zurückkommen: Die Unterzeichnung des KSE-Änderungsvertrags in Istanbul soll ein neues Kapitel der konventionellen Abrüstung in Europa eröffnen. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu einer europäischen Sicherheitsarchitektur. Herr Schockenhoff, natürlich kann man sich fragen: Was ist ein Vertrag mit Vertragspartnern wert, die das Papier mit Füßen treten? Wir wissen auch, daß Papier geduldig ist. Aber der mühsame Aushandlungsprozeß zeigt doch auch, wie bedeutend völkerrechtliche Verträge sind, wie notwendig die Einbeziehung aller Akteure ist und welche Verpflichtung für alle daraus erwächst, für ihre Einhaltung zu sorgen. Die Menschen sind darauf angewiesen, daß dies so ist. Haben Sie denn dazu eine Alternative? ({6}) Wir müssen alles tun, um die Bemühungen für Abrüstung und Rüstungskontrolle voranzubringen. Sie wissen genau, daß der Außenminister deswegen jetzt auch in den USA ist, denn all das ist nach der Weigerung des Senats, den Atomteststoppvertrag zu ratifizieren, nicht einfacher geworden. Meine Damen und Herren, die Rahmenbedingungen des Istanbuler Gipfels sind ungleich schwieriger, als wir das bei der Vorbereitung erwartet haben. Es gibt aber keinerlei Anlaß, danach zu fragen, was die OSZE überhaupt noch machen kann. Ihre Erfolge sind oft nicht spektakulär, aber gerade ihr zähes Wirken ist notwendig. Die Ankündigung des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko, in seinem Land endlich freie Wahlen durchführen zu lassen, und die Freilassungen von Oppositionellen sind Erfolge des beharrlichen Wirkens vor Ort, weil sich die OSZE-Vertreter nicht haben beirren lassen. ({7}) Der Gipfel in Istanbul kann nicht business as usual sein. Noch gibt es Chancen, im Rahmen der OSZE auf Rußland einzuwirken. Jede Einflußmöglichkeit muß genutzt werden, um den grausamen Krieg gegen die Bevölkerung in Tschetschenien zu beenden und die Abrüstung voranzubringen. Ich danke Ihnen. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Werner Hoyer, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Grießhaber hat zu Recht auf die langfristigen Entwicklungslinien der internationalen Politik und der Außenpolitik hingewiesen. Der zehnte Jahrestag des Falls der Mauer, den wir in der nächsten Woche feiern - ein überaus glückliches Ereignis in der deutschen Geschichte -, hat natürlich etwas mit dem Gegenstand unserer heutigen Debatte zu tun, nämlich mit dem Prozeß, der, von Walter Scheel und Willy Brandt angelegt, in Helsinki seinen ersten großen Höhepunkt fand und der heute einer Fortentwicklung der Organisation, in die dieser Prozeß mittlerweile eingebettet ist, bedarf. Deshalb ist es schon bedrückend, daß dieser Gipfel in Istanbul offensichtlich unter einem eher ungünstigen Stern steht, und zwar aus zwei Gründen: Erstens lastet die Katastrophe in Tschetschenien wie Blei auf den Vorbereitungen dieser Tagung. Auch die - wie ich fand - eindrucksvollen und bedrückenden Erörterungen gestern im Auswärtigen Ausschuß haben uns, was die Einschätzung der Vorgänge im Kaukasus angeht, letztendlich nicht entscheidend weitergebracht. Ich bin allenfalls noch vorsichtiger in der Bewertung und der Analyse der Vorgänge dort geworden. Zweitens haben wir nach Meinung der Freien Demokraten die notwendige kritische Bilanz des KosovoKrieges noch längst nicht gezogen. ({0}) Die Erleichterung darüber, daß wir - wenn man das so sagen darf - wohl noch mit einem blauen Auge davongekommen sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade im Hinblick auf die Interdependenz zwischen den großen internationalen Organisationen die erforderlichen Schlußfolgerungen noch nicht gezogen sind. Im übrigen muß klar sein, daß im Kosovo noch gewaltige Herausforderungen zu bewältigen sind, wenn denn alles einen Sinn gehabt haben soll. Bei diesen Herausforderungen dürfen wir diejenigen, die nach dem Ende des Krieges mit der Bewältigung des Friedens fertig werden müssen, nicht allein lassen. Das sind zum großen Teil wieder deutsche Soldaten und Polizeibeamte - qualitativ und quantitativ in ganz herausragender Form - sowie viele internationale und nationale Hilfsorganisationen. Für die Rolle, die UNO und OSZE in diesem Kontext in Zukunft spielen können und müssen, und für die Rolle, die sich die NATO aufbürden kann, wird die Bilanz, die wir noch ziehen müssen, von Bedeutung sein. Unser wichtiger Partner Rußland ist gegenwärtig natürlich in einer ganz besonders heiklen Lage. Denn während in Istanbul in feierlichen Erklärungen OSZEPrinzipien abgefeiert werden, muß sich Rußland im Hinblick auf Tschetschenien bereits an diesen Prinzipien messen lassen. Es kann dann auch wohl nicht wahr sein, daß auf Grund ausdrücklichen russischen Wunsches in Istanbul keine freie Debatte, sondern nur ein Herunterbeten abgestimmter und austarierter Statements stattfinden soll. Hierauf sollte sich die Bundesregierung nicht einlassen. ({1}) In den letzten Tagen hat es interessante Bewegungen gegeben. Es ist anzuerkennen, daß Ministerpräsident Putin nunmehr anbietet, der Entsendung einer OSZEBeobachtermission zuzustimmen und auch Hilfsorganisationen ins Land zu lassen. Das wird auch allerhöchste Zeit. Daß das jetzt geschieht, zeigt, wie sehr Rußland an Istanbul und dem OSZE-Prozeß sowie daran interessiert ist, daß der OSZE mehr Verantwortung übertragen wird. Das sollte die Bundesregierung nutzen, um Rußland zu Bewegung zu veranlassen. Erstens. Rußland sollte seine Blockadehaltung beim Konsens-minus-eins-Prinzip aufgeben. Wer wie Rußland die Übertragung von mehr Verantwortung auf die OSZE wünscht, wird unglaubwürdig, wenn er am Einstimmigkeitsprinzip festhält. ({2}) Die Zukunftsfähigkeit der OSZE wird weitgehend davon abhängen, ob es in einer konkreten Situation einem Völkerrechtsbrecher oder einem Menschenrechtsverletzer möglich sein wird, durch schlichten Verweis auf nationale Souveränitätsrechte das Tätigwerden der Völkergemeinschaft zu verhindern. Spätestens seit Kosovo müßte dieses Denken eigentlich überwunden sein. Die aktuelle Debatte in der UNO-Generalversammlung zeigt, daß erheblich mehr Dynamik in die Diskussion gekommen ist. Das sollte die OSZE-Partner ermutigen. Das Völkerrecht ist eben nicht statisch, sondern bedarf im historischen Prozeß der behutsamen, aber mutigen Fortentwicklung. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt des Völkerrechts. Für Liberale ist das ein ganz gewaltiger Fortschritt. ({3}) Die humanitäre Intervention zum Schutz der Opfer und das Statut von Rom zur Verfolgung der Täter markieren einen Epochenwandel, der nach unserer Auffassung ein Fortschritt im Sinne der Menschlichkeit ist. In Zukunft wird das alte Völkerrechtsverständnis mit seiner starken Betonung staatlicher Souveränität nicht mehr als Schutzschild für großformatige und systematische Menschenrechtsverletzungen herhalten können, und das ist gut so. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Liebe Kolleginnen und Kollegen im Saal, ich bitte darum, zuzuhören und Gesprächsbedarf außerhalb des Raumes zu befriedigen. ({0}) Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich, Frau Präsidentin. In diesen Kontext gehört die überfällige Reform der Vereinten Nationen ebenso wie die beherzte Weiterentwicklung der OSZE. Rußland sollte dabei aktiver Partner und nicht Bremser sein. Aber es muß eben auch glaubwürdig sein. Zweitens. Die Bundesregierung sollte Rußland ermutigen, seine Haltung zum Verhältnis von NATO und OSZE endlich über Bord zu werfen. Es war von vornherein ein fundamentales Mißverständnis oder eine Versuchung, der man offensichtlich nicht widerstehen konnte, der OSZE die Rolle eines NATO-Nachfolgers anzudichten. Diesem Irrtum war nicht nur Rußland aufgesessen, auf dieses Glatteis wollten uns nicht nur frühere Kreml-Chefs ziehen; vielmehr konnte auch mancher, der heute auf der Regierungsbank sitzt oder einer der jetzigen Regierungsfraktionen angehört, in den letzten Jahren der Versuchung nicht widerstehen, entsprechende Wege aufzuzeigen. ({0}) Es wird Zeit, daß wir Ordnung in unser Denken bringen, einerseits im Hinblick auf die Systeme kooperativer Sicherheit, wie UNO und OSZE, und andererseits im Hinblick auf Systeme kollektiver Verteidigung, wie NATO und WEU. Erst dann wird die überaus wertvolle Rolle deutlich, die vor allem die NATO als System kollektiver Verteidigung spielen kann, wenn sie sich mit ihrem Potential in den Dienst der Völkergemeinschaft und in den Dienst der Systeme kooperativer Sicherheit stellt. Deshalb müssen wir beides tun: NATO und UNO/OSZE weiterentwickeln und den regionalen Charakter der OSZE im System der Vereinten Nationen besser herausarbeiten. ({1}) Wenn schon die UNO-Reform dieses Jahr keinen Millimeter vorankommt, so könnte immerhin die OSZE in Istanbul einen wichtigen Schritt nach vorne machen. Mancher Beobachter hat natürlich recht, wenn er davor warnt, daß vor dem Hintergrund der TschetschenienKatastrophe und angesichts massiver Verletzungen von OSZE-Prinzipien und, wie ich befürchte, auch von KSEVereinbarungen der Gipfel über die europäische Sicherheitscharta zur Farce werden könnte und besser verschoben werden sollte. Aber vielleicht steckt in dieser bedrückenden Szenerie ja auch so etwas wie die Gunst einer schwierigen Stunde. Wenn auch zum Teil aus sehr unterschiedlichen Motiven: Alle - Amerikaner wie Russen, EU- wie NichtEU-Länder, Türken wie Deutsche - haben ein enormes Interesse daran, den KSE-Vertrag neu zu fassen und die OSZE voranzubringen. Wir Freien Demokraten fordern die Bundesregierung auf, ihren Beitrag zum Gelingen zu leisten. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu, daß es einem schwerfällt, über europäische Sicherheitsarchitektur nachzudenken und reden zu wollen, während in Tschetschenien Krieg tobt, Bomben fallen, Menschen leiden und wir tagtäglich das Drama von Tod, Flucht, Hunger und Elend betrachten müssen. Ich will, wie ich dies bereits während des KosovoKrieges getan habe, heute deutlich sagen: Für mich gibt es nur ein kategorisches Nein zum Krieg, mit welchen Begründungen er auch immer geführt wird, und zu Bomben und Raketen, mit welcher Begründung sie auch immer abgeworfen werden. ({0}) Es gibt kein Recht zum Krieg und auch keinen Krieg aus politischer Vernunft. Das sage ich zu Rußland ebenso, wie ich es zur NATO gesagt habe. Politische Lösungen sind nötig, auch in Tschetschenien. Mit Krieg löst man keine Probleme. Mit Bomben bekämpft man keinen Terrorismus, und mit Bomben erreicht man keine Menschenrechte. ({1}) Ich habe mich im Kosovo-Krieg immer gegen das Argument gewandt, daß die Bomben nicht auf das serbische Volk, sondern nur auf die serbische Führung gerichtet seien, und ich wende mich ebenso gegen das Argument, daß Rußland in Tschetschenien Krieg gegen die Terroristen führt und nicht gegen das tschetschenische Volk. Am Ende leidet immer das einfache Volk. Damit muß man endlich Schluß machen. Deswegen braucht man eine andere Politik. ({2}) Gerade weil ich möchte, daß sich Rußland auf die Solidarität und Hilfe Europas beziehen kann, weil ich immer vor der Demütigung Rußlands gewarnt habe, weil ich glaube, daß Sicherheit in Europa Rußland nicht ausschließen darf, sondern einschließen muß, nehme ich mir auch das Recht, Kritik und Mahnung an die Adresse Rußlands offen auszusprechen. Solidarität hat etwas mit Partnerschaft zu tun, weder mit Bevormundung noch mit Unterordnung; und Partnerschaft brauchen wir gegenüber Rußland ebenso wie gegenüber den USA. Aus meiner Sicht zeigt sich - deshalb sind die Töne der Regierungskoalition hier gedämpfter als in anderen Konflikten -: Wer gegenüber den USA Unterordnung akzeptiert, ist nicht souverän im Umgang mit der ande5892 ren Weltmacht. Wer wie die Bundesregierung im Kosovo auf Bomben und Raketen gesetzt hat, ist wenig glaubwürdig, wenn er ein Ende des Bombenkrieges in Tschetschenien einfordert. Das ist das eigentliche Problem, und ich finde, dies zeigt sich im Agieren der Bundesregierung. Diese Regierung schwankt nach meinem Geschmack zu oft zwischen lautstarken, oft peinlichen Erklärungen in der Öffentlichkeit, wo Selbstbeschränkung und stillere Töne angebracht wären, und einem Abtauchen, wo Position und Handeln gefordert sind. Die Töne des Bundeskanzlers zu Tschetschenien waren sehr verhalten. Da mußte man schon sehr genau hinhören, um sie überhaupt wahrnehmen zu können. Statt dessen forderte er in Japan einen Sitz für Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Ich finde es nicht hilfreich, dies gerade jetzt einzufordern. Ich finde, das sind Weltmachtallüren. Ein sinnvoller deutscher Beitrag für die UNO ist es nicht, eine deutsche Führungsrolle einzufordern. Sinnvoll ist es vielmehr, die UNO handlungsfähiger zu machen und zivile Strukturen zu stärken. Dafür kann man einen Beitrag in Europa durch die Stärkung der OSZE leisten. ({3}) Der Gipfel der OSZE in Istanbul kann ein Erfolg werden. Die OSZE leistet, wie ich mich in den letzten Tagen in Wien überzeugen konnte, selbst Erhebliches dafür. Es besteht die Chance, eine europäische Sicherheitscharta zu verabschieden, den KSE-Vertrag an die neuen sicherheitspolitischen Bedingungen anzupassen und damit nationale wie territoriale Obergrenzen der konventionellen Rüstung in Europa zu vereinbaren. Entscheidend sind jedoch nicht hehre Deklarationen, sondern konkrete Schritte. Ich muß wiederum sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen aller anderen Parteien, - dies muß ich wiederum so sagen, da sich die anderen Parteien entschlossen haben, ihren Antrag separat und ohne PDS zu gestalten - ich finde, in dem Antrag ist zuviel Folklore, zuviel Lyrik und zuwenig verbindliche Festlegung von Inhalten. Deutschland sollte klarmachen, daß für uns nicht gilt: NATO first. Zumindest für mich heißt es - hierin liegt die Differenz -: OSZE first. Ich sehe in der OSZE eine reale Alternative zu den militärischen Blöcken. Das heißt, daß kooperative Sicherheit in einem europäischen Sicherheitssystem unter Einschluß Rußlands und der transatlantischen Komponente so gut gewährleistet sein könnte, daß die NATO als Militärbündnis gegen potentielle Gegner überflüssig würde und sich die Debatte um die WEU und ihre Integration in die Europäische Union von selbst erledigte. Dazu bedarf es einer Stärkung der zivilen Strukturen, der auch eine Chance zum Abbau der militärischen Potentiale innewohnt. Für viele hier im Hause buchstabiert sich Sicherheit noch immer militärisch. Das, finde ich, ist Steinzeitdenken. Die OSZE bietet die Chance, einen zivilen Sicherheitsbegriff zu verankern. Diesen Prozeß sollten wir vorantreiben und auch gegenüber unserer Bevölkerung deutlich machen. Deutschland hätte die Chance - damit komme ich zum Schluß -, auf dem Gipfel im Sinne guter Beispiele eigene Akzente zu setzen. Deutschland sollte deutlich machen, daß wir die Sicherheitscharta für unser Land als rechtsverbindlich akzeptieren wollen. Eine solche Erklärung kann dazu beitragen, daß sich auch andere Länder auf diesen Weg begeben. Wir sollten erklären, daß wir die Obergrenze für konventionelle Rüstung im KSEVertrag nicht durch eine qualitative Umrüstung konterkarieren wollen. Wir sollten dafür eintreten, daß der OSZE mehr Geld und Personal zur Verfügung gestellt werden. Wichtig wären auch weitere Abrüstungsschritte, auch wenn sie vorerst einseitig von unserem Land ausgehen. Für mich war das gemeinsame Haus Europa immer eine große Vision. Ich gebe zu, daß es schwer ist, über das gemeinsame Haus nachzudenken, während in Europa Krieg geführt wird. Aber das gemeinsame Haus Europa ist die einzige Chance, die die europäischen Völker sinnvollerweise miteinander gestalten können. Ich bin hinsichtlich des OSZE-Gipfels in Istanbul gar nicht so pessimistisch, wenn dieses Parlament eindeutige Signale im Vorfeld des Gipfels setzt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Boris Jelzin hat in einem Artikel, der am 17. Februar 1995 in der „Rossiskaja gazeta“ erschienen ist, mit Blick auf das, was damals in Tschetschenien geschah, geschrieben: In den jüngsten Ereignissen in Tschetschenien spiegelten sich alle Probleme des heutigen Rußlands wider. Im Herbst 1999 wiederholt sich genau diese Einschätzung. Alle Probleme des heutigen Rußlands spiegeln sich in Tschetschenien wider: die tiefsitzende Angst vor dem Terrorismus, die Furcht vor der Rückkehr des Krieges und die Sorge vor dem Zerfall des Landes. Aber warum - diese Frage sollten wir uns alle stellen; hoffentlich stellt sich diese Frage auch die russische Elite sind die Jahre nach dem ersten Tschetschenien-Krieg, der ja - in welcher Form auch immer - entkrampft und politisch auf eine andere Ebene gehoben worden war, nicht genutzt worden? Warum hat Moskau die Chance vertan, mit Aslan Maschadow eine enge Kooperation einzugehen? Maschadow ist immerhin der gewählte tschetschenische Präsident, der - wenn Sie so wollen von der OSZE bestätigt wurde und dessen Legitimation durch die Wahl anerkannt wurde. Er wurde übrigens auch von der russischen Elite anerkannt. Schließlich wurden mit ihm sogar Verträge abgeschlossen, die darauf hinauslaufen, daß im Jahr 2001 endgültig geklärt wird, in welcher Form Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation verbleibt. Warum hat die Russische Föderation diese Chance also nicht genutzt? Man muß auch die russischen Kolleginnen und Kollegen aus der Duma fragen, was sie in dieser Zeit getan haben. Ich bin der Meinung, Rußland ist die Verträge aus gutem Grund eingegangen. Alexander Lebed hat schließlich mit Maschadow kooperiert und die Verträge vorangetrieben. Der russische Präsident, die russische Regierung und die Mehrheit der Staatsduma haben Tschetschenien in dieser Zeit allerdings vollständig allein gelassen. Man hat das Gefühl, daß diese Chance nicht genutzt worden ist, weil man Tschetschenien sich selbst überlassen wollte und weil man keine wirklichen Kooperationsbeziehungen eingehen wollte. Wenn Sie den Artikel von Sergej Kowalew in der heutigen Ausgabe der „Welt“ lesen, dann können Sie sich die Fragen, die ich gestellt habe, selbst beantworten. Manchmal drängt sich mir der Eindruck auf, daß die russische Elite nur darauf gewartet hat, bis sich terroristische Gruppierungen innerhalb Tschetscheniens durchgesetzt haben. Lieber Kollege Schockenhoff, wir sollten darüber nachdenken, was wir tun können, damit die russische Demokratie die Kraft aufbringt, sich auf der einen Seite mit dem Terrorismus nach den Regeln der OSZE auseinanderzusetzen und auf der anderen Seite dafür zu sorgen, daß die Russische Föderation ein integrales Angebot an alle noch so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen macht. ({0}) Das ist die zentrale Frage, die wir uns selbst stellen müssen, und ich bitte darum, lieber Kollege Schockenhoff, daß wir nicht innenpolitische Auseinandersetzungen mit dieser ungeheuer schwierigen Frage verbinden. Denn der Bundesaußenminister - das wissen Sie sehr wohl; wir waren ja gestern im Ausschuß zusammen - hat gegenüber der russischen Elite eine klare Sprache gesprochen, und ich bin dankbar dafür, daß der Außenminister dies auch in Istanbul tun wird. ({1}) Nichts hat er gesagt! - Geschwiegen hat er doch! Er ist doch ein Schweiger! Damit ich nicht mißverstanden werde: Der Kampf gegen den Terrorismus, der sich gegen die zivilen, gegen die demokratischen Strukturen des Rechtsstaates richtet, ist gerechtfertigt. Das sagt ja übrigens auch die OSZE selbst, die Budapester Erklärung. Ich will nur Punkt 5 der Erklärung zitieren: Wir erkennen, daß die Gesellschaften in der OSZERegion immer stärker durch den Terrorismus bedroht sind. Wir bekräftigen unsere uneingeschränkte Verurteilung aller Arten und Praktiken des Terrorismus, die unter keinen Umständen zu rechtfertigen sind. … Im Code of Conduct schließlich, in Punkt 36, wird sehr klar hinzugefügt - und das ist vorhin ja auch schon angesprochen worden -: „In Fällen, in denen zur Erfüllung von Aufgaben der inneren Sicherheit ein Rückgriff auf Gewalt“ geschieht, muß dieser Rückgriff auf Gewalt „den Erfordernissen der Durchsetzung angemessen sein“. Und weiter: Die Streitkräfte werden es sorgsam vermeiden, Zivilpersonen zu beeinträchtigen oder deren Hab und Gut zu beschädigen. Kaum hatte Boris Jelzin diesen Satz in Budapest unterschrieben, ihn politisch als verbindlich für sich und sein Land erklärt, begann der erste Krieg gegen Tschetschenien. Die Brutalität der russischen Armee hatte 1996 eine harte Kritik bei den russischen Demokraten hervorgerufen. Im Moment, so muß man leider sagen, sind die russischen Demokraten sehr stumm. Das ist vielleicht mit dem Blick auf die Wahlen zur Duma zu erklären, die im Dezember bevorstehen. Aber ich denke, wir sollten unseren Kolleginnen und Kollegen in der Staatsduma deutlich machen: Bitte seien Sie genauso wie in den Jahren 1995/96 hart in der Kritik an der Brutalität der russischen Armee! Diese darf von uns in Europa gemeinsam von keinem der Abgeordnetenfreunde in frei gewählten Parlamenten akzeptiert werden. Das ist die Bitte, die wir an die Staatsduma richten. ({2}) Die terroristischen Bombenanschläge - man muß sie sich einmal in der Fernsehlandschaft Rußlands genau ansehen - haben vieles verändert, auch die psychische Stimmung innerhalb des Landes selbst. Eine Konstante großrussischen Denkens taucht hier wieder auf: Sind nicht die Terroristen von heute die schwarzen - wie sie dort genannt werden - Kaukasier des 19. Jahrhunderts, gegen die das imperiale Reich 30 Jahre lang Krieg geführt hat? Tausende von Menschen sind jetzt, rechtsstaatlich fragwürdig, kurzerhand festgesetzt worden. Medien zeigen Bilder zerfetzter Bombenopfer und gehen dann einfach zum Krieg gegen Tschetschenien über. Was soll damit suggeriert werden? - Dies sei gerechtfertigt. Mit einem Krieg allerdings - das haben wir gestern im Ausschuß selber erkennen können -, mit militärischen Mitteln, ist dieser Konflikt nicht zu lösen. Man kann ihn nur mit zivilen Mitteln lösen. Die OSZE bietet dafür eine Plattform. Diejenigen, die den Krieg befürworten, müssen sich doch wohl selber die Frage stellen: Kann denn der politische Wille Tschetscheniens, nach Rußland zurückkehren zu wollen, ein integraler Bestandteil Rußlands zu bleiben, mit Bomben zurückgeholt werden? Das kann doch wohl nicht der Fall sein. Noch ist die Chance gegeben, daß das Treffen der Staats- und Regierungschefs in Istanbul helfen wird, die Probleme zu lösen, vor denen wir alle stehen. Allerdings setzt dies voraus, daß die politische Elite in Moskau diese Lösung selbst will, daß sie dazu bereit ist. Wir alle jedenfalls wollen, daß gemeinsam mit Rußland ein Europa gebaut wird, das allen Platz bietet, die sich verpflichtet haben, Freiheit und Demokratie zu sichern und die Menschenrechte zu achten. Wir alle wollen, daß eine Charta verabschiedet wird, die den Menschen in allen Mitgliedstaaten der OSZE Sicherheit bietet, damit sie in Frieden miteinander leben können, die den anderen - in Gert Weisskirchen ({3}) Respekt voreinander - in seiner Unverwechselbarkeit anerkennt. Immerhin hat Moskau jetzt den ersten Schritt getan, so daß eine humanitäre Mission in Tschetschenien tätig werden kann. Moskau sollte den politischen Dialog mit Aslan Maschadow neu aufnehmen. Das hat der Bundesaußenminister im Gleichklang mit seinem italienischen und französischen Kollegen gefordert. Wir unterstützen den Außenminister ausdrücklich darin, daß Moskau zum politischen Dialog mit Maschadow zurückkehren muß. ({4}) Es gibt noch ein anderes Zerrbild, das sich an diesem Punkt deutlich zeigt. Ich habe mir die Presse in Rußland genau angesehen und will den ehemaligen Verteidigungsminister des Jahres 1996 erwähnen, der behauptet, hinter den Auseinandersetzungen stünden „Rußlands strategische Feinde, um es zu spalten, einen Teil seines Territoriums zu besetzen und vom Zugang zum Kaspischen und Schwarzen Meer abzuschneiden“. Was sind das für Einkreisungsängste? Was sind das für Verschwörungstheorien? Es kommt darauf an, Rußland deutlich zu machen, daß es einen Platz in Europa hat. Wir wollen mit Rußland friedlich kooperieren. Rußland muß aber auch die Ängste, die es hat, und die Besorgnisse, die sich in diesem Konflikt zeigen, selbst abbauen. Nur die inneren Kräfte der Demokratie werden es möglich machen, daß Rußland bei einem solchen Verständnis seinen Platz in Europa findet - genauso wie alle anderen Europäer. Istanbul kann eine Chance für ein neues Denken innerhalb der russischen Elite werden. Ich wünschte mir, daß die Staatsduma das, worüber wir heute debattiert haben, aufnimmt und die russische politische Elite darum bittet, von diesem furchtbaren Krieg Abstand zu nehmen und in die europäische Gemeinsamkeit zurückzukehren. Frieden ist das, was wir in Europa gemeinsam wollen. Dazu brauchen wir ein Rußland, das demokratisch ist und den Tschetschenen die Chance gibt, integraler Bestandteil Rußlands zu bleiben. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist begrüßenswert, daß Tschetschenien heute in so großer Ausführlichkeit behandelt wird und wir uns in den Grundlinien alle einig sind. Ich sage das vor dem Hintergrund einer Presseerklärung, die heute in Rußland erschienen ist. Dort wird vermeldet: Der Westen will uns bestrafen, weil wir uns ihm nicht beugen. Damit macht er sich nur lächerlich. Wir hätten es begrüßt - da gebe ich dem Kollegen Schockenhoff vollkommen recht -, wenn die Einwände und Bedenken dieser Bundesregierung ein bißchen lauter zu hören gewesen wären. Ich darf daran erinnern, wie Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel früher wegen einer angeblich zu laxen Haltung in der damaligen Situation in diesem Hause, damals noch in Bonn, von der damaligen Opposition vorgeführt worden sind. Aber nun! Ich glaube, es hat keinen Sinn, wenn wir hier lediglich mit beschwörenden Formeln agieren. Wir müssen statt dessen sagen: Wenn sich Rußland hier nicht verändert und nicht politische Lösungen angestrebt werden, dann muß der Westen reagieren. Es kann nicht sein, daß wir ständig mit Geldbeträgen in Milliardenhöhe aus selbstverschuldeten Notlagen heraushelfen, ohne daß dort Reformen in Gang kommen. Noch weniger kann es sein, daß gleichzeitig 2 Milliarden US-Dollar pro Monat für diesen unsinnigen Krieg ausgegeben werden. Auch hier ist die Politik gefordert, entsprechend zu handeln. Lassen Sie mich aber mit Blick auf Istanbul noch ein paar andere Dinge sagen. Es ist aus meiner Sicht schlimm - Kritik daran ist berechtigt -, daß die USA den CTBT nicht ratifiziert haben. Ich sage ganz ungeschminkt: Unsere amerikanischen Freunde müssen es sich gefallen lassen, daß ihnen offen und ehrlich gesagt wird, daß der, der auf vielen Feldern vordenken will, zuerst nachdenken muß, was er mit seiner Haltung in diesen Bereichen anrichten kann. Ein weiterer Punkt betrifft die Türkei. Deswegen ist es gut, daß Istanbul der Ort des nächsten Gipfels ist. Wenn die Türkei ständig daran erinnert, daß sie auf dem Wege nach Europa sei, dann muß sie die Chance wahrnehmen, in Istanbul ihre Position bezüglich Menschenrechten, Minderheitenschutz und Rechtsstaatlichkeit darzulegen. Sie muß auch eine Zeitachse aufzeigen, auf der ihre wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Vorstellungen diesem Ziel näher gebracht werden können. Wir sollten den Türken ganz deutlich sagen, daß es an ihnen liegt und daß sie ihren Reden nun Taten folgen lassen müssen; sie bestimmen in einem gewissen Umfange Inhalt und Tempo dieses Fahrplanes. Wir begrüßen den Gipfel in Istanbul; wir treten für eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der OSZE ein. Wir begrüßen die Unterzeichnung der Sicherheitscharta, die eine Standortbestimmung der gesamteuropäisch ausgerichteten OSZE vornimmt. Ich unterstreiche alles, was hier in diesem Zusammenhang gesagt worden ist. Sie dient der Verbesserung der Handlungsfähigkeit, insbesondere bei der Konfliktprävention und dem Krisenmanagement, und sie führt natürlich zu einer verbesserten Zusammenarbeit der Sicherheitsorganisationen allgemein. Dieses Vertragswerk ist ein überschaubares, politisch verbindliches Dokument; auf die Völkerrechtsproblematik wurde hingewiesen. Es beinhaltet klare Aussagen. Es sollte alles darangesetzt werden, daß diese Grundsätze tatsächlich eingehalten und umgesetzt werden. Wir begrüßen auch die Unterzeichnung des neu verhandelten KSE-Vertrages, durch den die konventionelle Rüstungskontrolle auf eine neue - auch hier betone ich: von allen zu beachtende - Grundlage gestellt und die Stabilität im gesamten Sicherheitsraum gestärkt wird. Ergänzend hoffen wir - wie Frau Zapf es ausgeGert Weisskirchen ({0}) führt hat -, daß auch das sogenannte Wiener Dokument als ein Kerndokument vertrauensbildender Maßnahmen aktualisiert und gestärkt werden kann. Ich glaube, daß diese Dokumente eine gute Grundlage für ein Zukunftsmodell unserer gemeinsamen Sicherheit sein können. Sie wissen alle: Wenn wir in der OSZE von „Security“ sprechen, ist das sehr umfassend gemeint. Dazu gehören wirtschaftliche Entwicklungen, Umweltthemen, Pressefreiheit, Verhinderung von ethnischen Säuberungen, ein gemeinsames Wertesystem auf der Basis von Freiheit und Demokratie sowie Menschenrechtsfragen und Menschenrechtsprobleme. Ebenfalls abgedeckt werden die Rüstungskontrolle, die Bekämpfung des illegalen Waffenhandels und die Verringerung der atomaren Bedrohung. Die legitimen Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten werden mit Hilfe der festgelegten Obergrenzen bei Bewaffnung und Personal in den Streitkräften der jeweiligen Mitgliedsländer definiert. Das Ziel, das dabei über allem steht, ist eben nicht nur regionale, sondern globale Sicherheit. Nach meiner Auffassung - hier mag es vielleicht etwas divergierende Meinungen geben - soll und kann die OSZE die NATO als militärisches Instrument nicht ersetzen. ({1}) Aber sie kann sie ergänzen, wie man aktuell auf dem Balkan sehen kann. Bei einer engen Zusammenarbeit zwischen OSZE und NATO bräuchten die Länder, die heute auf einen Beitritt zur NATO hoffen, keine Bedenken zu haben, daß die Mitgliedschaft in der OSZE allein keinen wirklichen Schutz und letzten Endes keine Sicherheit garantieren könne. ({2}) Wie effektiv dieses Wechselspiel, diese Zusammenarbeit zwischen NATO und OSZE sein könnte, hängt maßgeblich vom politischen Willen der beteiligten Staaten und davon ab, welche Handlungsinstrumente sie letztlich zwischen EU, WEU, NATO und OSZE schaffen. Wir befinden uns da auf einem guten Wege. Ich begrüße das, was hier ausgeführt worden ist. Aber wir haben diese Ziele noch nicht erreicht und mit den entsprechenden Handlungsinstrumenten unsere gemeinsamen Interessen noch nicht durchgesetzt. Drei Grundkriterien muß man bei der Entwicklung einer zukünftigen Sicherheitsstruktur Europas für jedes Modell immer vor Augen haben: Erstens. Die legitimen Sicherheitsinteressen aller Staaten sind absolut gleichwertig und gleichberechtigt. Zweitens. Die Anbindung Europas an die USA ist überlebenswichtig. Drittens. Ohne eine angemessene Einbeziehung Rußlands und der Ukraine gibt es keine europäische Sicherheit. ({3}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch über Geld sprechen. Das ist genauso wichtig. Die Bundesregierung ist beim NATO-Jubiläumsgipfel im April dieses Jahres und beim Kölner EU-Ratstreffen im Juni dieses Jahres verteidigungspolitische Verpflichtungen im Hinblick auf die EU, die NATO, die WEU und die OSZE eingegangen. Desgleichen verpflichten uns die Aufgabenerfüllung und die Neugestaltung der Bundeswehr. Alle diese Maßnahmen erfordern eine Aufstockung und keinesfalls eine Schrumpfung des Wehretats. Die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung im Hinblick auf den Verteidigungsetat steht zu diesen Verpflichtungen im offenen Widerspruch. An die Adresse von Regierung und Koalition muß ebenso gerichtet werden, daß die notwendigen Mittel zeitgerecht zur Verfügung gestellt werden müssen. Ich bin gespannt, wie dies mit Ihrer mittelfristigen Finanzplanung in Einklang zu bringen ist. Meine Damen und Herren, unsere Diplomaten haben den Inhalt und die Gestaltung der Dokumente hervorragend mit vorbereitet. Ich möchte den im Auswärtigen Amt Beschäftigten - weniger der politischen Führung meinen herzlichen Dank dafür aussprechen. ({4}) Unsere Aufgabe ist es, durch Parlamentsdiplomatie, wie wir sie auch in der IPU pflegen, den OSZE-Gipfel in Istanbul zu unterstützen. Mit dem vorliegenden gemeinsamen Antrag - ich betone noch einmal, daß wir uns alle in den Zielsetzungen einig sind - leisten wir die notwendigen Schrittmacherdienste. Wir alle hoffen, daß dieser Gipfel uns weiterbringt und ein Erfolg wird. Vielen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort Staatsminister Ludger Volmer.

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie kann die OSZE ein Gipfeltreffen vorbereiten, auf dem es unter anderem um eine europäische Sicherheitscharta und Menschenrechte geht, wenn gleichzeitig in Tschetschenien ein Krieg geführt wird, der zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung fordert? Diese Frage wurde in den letzten Tagen immer wieder gestellt, sie ist auch in dieser Debatte ein zentraler Punkt. In der Tat überschattet der Tschetschenien-Konflikt den Gipfel von Istanbul. Militärisch ist dieser Krieg für keine Seite gewinnbar. Rußland verliert rapide an internationalem Ansehen, und die entsprechenden Berichte deuten auf eine weitere Verschärfung der Lage der Flüchtlinge hin. Die Bundesregierung hat von Anfang an klare Worte an die russische Seite gerichtet. Dabei wurde nicht der öffentliche Weg gewählt, weil die Gefahr bestand - das habe ich gestern im zuständigen Ausschuß dargestellt; niemand hat mir widersprochen -, daß während des russischen Vorwahlkampfes eine politische Intervention von den Wahlkämpfern als westliche Einmischung funktionalisiert und dazu genutzt werden könnte, die nationalistische Karte zu spielen und damit die Fixierung auf die Kriegsführung weiter zu verschärfen. ({0}) Deshalb hat der Bundesaußenminister in mehreren Telefonaten mit seinem russischen Kollegen Iwanow und im Konzert mit den europäischen Partnern vier Forderungen an die russische Seite gerichtet: erstens den Konflikt sofort zu deeskalieren, zweitens den Dialog mit den verständigungsbereiten Kräften in Tschetschenien zu pflegen, drittens rasch ausreichende humanitäre Hilfe zu leisten und internationale Hilfe zuzulassen sowie viertens in den Informationen über die Lage vor Ort Transparenz durch die Zulassung von objektiven Berichterstattern zu gewährleisten.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schockenhoff?

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Ich möchte im Zusammenhang vortragen. Selbstverständlich erkennt die Bundesregierung dabei die territoriale Integrität Rußlands und auch das in der OSZE-Charta verbriefte Recht an, mit geeigneten Mitteln Terroristen entgegentreten zu dürfen. Ich appelliere an dieser Stelle erneut eindringlich an die russische Führung: Stellen Sie den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt ein, der das Leben so vieler unschuldiger und unbeteiligter Zivilisten fordert und militärisch und politisch in die Sackgasse führt, und nehmen Sie den politischen Dialog wieder auf. ({0}) Der politische Dialog mit den gemäßigten und legal gewählten Kräften in Tschetschenien ist Voraussetzung dafür, die terroristischen Kräfte isolieren zu können. Nur so kann eine dauerhafte Lösung für den Regionalkonflikt gefunden werden. Die OSZE ist bereit, ihr Potential hier einzubringen, kurzfristig zur Erleichterung humanitärer Hilfe und zur Beendigung der Gewalt, langfristig auch zum Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen beizutragen. Die Tatsache, daß Mitte nächster Woche eine Beobachterdelegation der OSZE in die Region reisen kann, könnte ein erster Schritt zur Krisenbewältigung sein. Die Bundesregierung wird auch weiterhin in Zusammenarbeit mit ihren Partnern alles tun, um zu einer Beilegung des Konfliktes in Tschetschenien zu kommen. Außenminister Fischer weilt zur Zeit bei der UNO in New York, um mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern über das Vorgehen im Vorfeld des Istanbuler Gipfels zu beraten, damit dieser Gipfel zu einem Erfolg werden kann. Die russische Regierung muß wissen, daß die Staats- und Regierungschefs der in der OSZE vertretenen Länder in Istanbul mit ihrer Autorität nicht Rechte und Prinzipien bekräftigen können, die zur gleichen Zeit im OSZE-Gebiet massiv verletzt werden. ({1}) Die Gebote, in einem Konflikt keine übermäßige Gewalt anzuwenden, humanitäre Hilfe zu erleichtern und alles für eine friedliche Lösung zu tun, gehören zum Kernbestand der Verpflichtungen, die Rußland im Rahmen des Beitritts zur OSZE eingegangen ist. Daran wird Rußland gemessen werden. ({2}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Tschetschenienkonflikt zeigt erneut, wie wichtig die OSZE für Sicherheit und Zusammenarbeit im gesamten Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok ist. Welche andere Organisation könnte sonst in einer so komplexen Lage als Ansprechpartner dienen, der das Vertrauen aller Beteiligten hat? Nun kann man bedauern, daß die OSZE noch zu schwach ist. Das tun wir auch. Hier wird es aber gefährlich für Sie, Herr Schokkenhoff. Ich verstehe ja, daß Sie in Ihrer Rede auch Oppositionsrhetorik anwenden mußten; dabei beklagten Sie - zu Recht - die Schwäche der OSZE. Aber was haben Sie in den letzten zehn Jahren der Regierungszeit Ihrer Partei gemacht? Sie hatten damals die Chance, die OSZE zu stärken, haben das aber nicht getan. ({3}) Teile der ehemaligen Regierung haben eine Stärkung der OSZE sogar hintertrieben. ({4}) Ganz und gar gefährlich wird es, Herr Schockenhoff, wenn Sie in diesem Zusammenhang nun plötzlich die NATO ins Spiel bringen. Man kann ja über die NATOOsterweiterung diskutieren. Sie ist ein gegebenes Faktum und für den Westen der Ausgangspunkt weitergehenderer Sicherheitspolitik. Aber durch die NATOOsterweiterung kann der Kaukasus-Konflikt nicht gelöst werden. Ich möchte dringend davor warnen, die Begriffe NATO und Kaukasus in einem Atemzug zu nennen bzw. in einem Satz in den Mund zu nehmen. ({5}) Wenn man das zu Ende denkt, kommt man zu ganz und gar gruseligen Vorstellungen. Ich kann nur hoffen, daß Sie sich lediglich rhetorisch vergaloppiert haben. Über dem Tschetschenien-Konflikt dürfen wir aber auch nicht das Engagement der OSZE in anderen Regionen vergessen. Ich nenne als Beispiele nur das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und den Konflikt um Nagornyj Karabach. Für uns gilt es darüber hinaus, den Gesamtzusammenhang von Stabilität und Sicherheit in Europa im Auge zu behalten. Wir wollen konkrete Fortschritte im Bereich von Rüstungskontrolle und Abrüstung erzielen. Unser Ziel sind ein erfolgreicher Abschluß der Verhandlungen zur Anpassung des Wiener Dokuments über Vertrauensbildende Maßnahmen und die Anpassung des KSE-Vertrages. Rußland überschreitet derzeit die zukünftig vorgesehenen KSE-Flankenobergrenzen. Die Bundesregierung hat deshalb ein großes Interesse daran, daß der Istanbuler Gipfel ein Erfolg wird; denn für die europäische Sicherheit insgesamt und für das internationale Rüstungskontrollsystem steht vieles auf dem Spiel. Sollte der KSE-Vertrag in der vorgesehenen Form verabschiedet werden, gibt er uns sogar neue Möglichkeiten, die russische Politik im Kaukasus und die militärischen Operationen zu beobachten, zu beurteilen und völkerrechtlich zu bemessen. Deshalb haben wir ein großes Interesse an einem Erfolg dieses Gipfels. Ohne die Unterzeichnung des KSE-Änderungsvertrages in Istanbul, der die zukünftigen Flankenobergrenzen bestätigt, hätten wir nach der Ablehnung des Vertrages über den Atomwaffenteststopp durch den USSenat einen weiteren Rückschlag in den weltweiten Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle zu verzeichnen. Wir hoffen nicht, daß das passiert. ({6}) Der neue KSE-Vertrag dagegen wird die konventionelle Stabilität in ganz Europa durch eine historisch beispiellose Begrenzungssystematik und durch erhöhte Transparenz erheblich stärken. Ich möchte mich hier dem Dank an die Beamten des Auswärtigen Amtes anschließen; denn es ist nicht zuletzt auf ihre Initiative und ihre Kenntnis zurückzuführen, daß wir zu dieser neuen Systematik im KSE-Bereich gefunden haben. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Bundesrepublik in der Rüstungskontrolle nützlich gemacht hat. ({7}) Wir wollen auf Krisen aber nicht nur reagieren, sondern Konflikten so frühzeitig begegnen, daß es nicht zu einem gewalttätigen Ausbruch kommt. Für die Bundesregierung steht diesbezüglich die OSZE im Zentrum der multilateralen Bemühungen um Konfliktprävention, Krisenmanagement und um die Wiederherstellung demokratischer und ziviler Institutionen. Die in Istanbul zu verabschiedende Sicherheitscharta soll diese für uns zentrale Ortsbestimmung der OSZE innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur zu einem gemeinsamen Anliegen machen. Die Bundesregierung hat hier bereits einen deutlichen Akzent gesetzt. Unser Programm zur Ausbildung von zivilem Friedenspersonal soll eine Personalreserve schaffen, die der OSZE für ihre Maßnahmen zur Krisenreaktion auf Mandatsbasis zur Verfügung gestellt werden kann. Ich sehe mit großem Interesse, daß andere Länder ebenfalls in diese Richtung gehen. Dieser Ansatz, der im übrigen von der deutschen Parlamentarierdelegation bei der OSZE-Versammlung 1997 zum erstenmal zur Debatte gestellt wurde, wird nun auf dem Istanbuler Gipfel offiziell behandelt. ({8}) Allgemein gilt es, die OSZE organisatorisch dazu instand zu setzen, daß sie fähig ist, schnell die Lage zu analysieren und auf geeignetes Personal zurückzugreifen. Frühwarnsysteme existieren bereits. Nun kommt es darauf an, die Kapazitäten für frühes Handeln zu stärken. Wir haben seit dem Ende des kalten Krieges in dieser Hinsicht bereits viel erreicht. Aber der Tschetschenien-Konflikt zeigt uns mit aller Deutlichkeit, daß wir noch einen langen Weg vor uns haben. Trotz der Rhetorik, die in dieser Diskussion eine Rolle spielte, nehme ich mit Befriedigung zur Kenntnis, daß die Fraktionen des Deutschen Bundestages hier in den wesentlichen Punkten an einem Strang ziehen. Ich danke Ihnen. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Schockenhoff das Wort.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, mit Ihrem letzten Satz haben Sie das zurückgenommen, was Sie vorher gesagt haben. Wir haben in der Tat eine gemeinsame Position, die sich in einem gemeinsamen Antrag ausdrückt. Ich habe in meinem Beitrag überhaupt keinen Gegensatz zwischen der OSZE und der NATO hergestellt. Im Gegenteil: Wir begrüßen die Stärkung der OSZE und auch die im Antrag ausformulierte Forderung, der OSZE eigenständige Maßnahmen zur Krisenbewältigung und zur Friedenssicherung auch mit Hilfe des Einsatzes von Streitkräften zu ermöglichen. Ich habe ergänzt: Wir haben aber berechtigte Zweifel, ob die OSZE heute dazu ohne die NATO und ohne den Rückgriff auf Instrumente der NATO in der Lage ist. Leider bestätigen dies die Ereignisse. Zur früheren Bundesregierung haben Sie gesagt, sie habe die OSZE sogar hintertrieben. Das ist absurd und muß hier in aller Deutlichkeit zurückgewiesen werden. ({0}) Wer hat denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dafür gesorgt, daß die Staaten in Zentralasien, im Kaukasus, auf dem Balkan von der OSZE aufgenommen wurden. Sie ernten doch nur, was der frühere Außenminister gesät hat. ({1}) Ich bestätige Ihnen gerne, Herr Staatsminister, daß Sie uns im Auswärtigen Ausschuß berichtet haben, der Außenminister habe in einem Brief an die russische Regierung auf den Konflikt in Tschetschenien reagiert. Meine Position dazu ist - ich wiederhole sie hier -: Sie haben dem NATO-Partner Türkei vor laufenden Kameras, also öffentlich, Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Zu dem Morden in Tschetschenien haben Sie in einem Brief Stellung genommen - ohne sich öffentStaatsminister Dr. Ludger Volmer lich zu äußern. Außenpolitisches Gespür hätte Ihnen den anderen Weg nahegelegt: Sie hätten besser unserem NATO-Partner Türkei einen Brief geschrieben und zu den schrecklichen Kriegshandlungen in Tschetschenien nicht geschwiegen. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatsminister, möchten Sie antworten? - Bitte sehr.

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Herr Schockenhoff, ich denke, daß die Äußerungen des Bundesministers des Auswärtigen gegenüber der russischen Seite an Klarheit nichts zu wünschen übriglassen. ({0}) Er tut im Moment genau das, was er auch zu Zeiten des Kosovo-Konfliktes getan hat: Er betreibt eine Diplomatie, die die reale Chance beinhaltet, zu einer Konfliktlösung zu kommen. Das ist mehr, als sich nur öffentlicher Rhetorik zu befleißigen. ({1}) Nun komme ich auf das Verhältnis zwischen OSZE und NATO zurück: Es gibt eine seit vielen Jahren andauernde Diskussion darüber, in welchem Verhältnis die Großorganisationen zueinander stehen. Man hat dafür den pragmatischen Begriff - es gibt leider nur einen englischen Ausdruck dafür - „interlocking institutions“ gefunden: Zusammenarbeit miteinander verschränkter Organisationen, die ihre jeweiligen komparativen Vorteile nutzen. Dieses Modell an sich stellt heute niemand mehr in Frage. Sie haben in Ihrer Kurzintervention genauso wie in Ihrer Rede angemerkt, daß die OSZE, bezogen auf den Kaukasus-Konflikt, nicht durchschlagskräftig genug sei. Sie haben gerade noch einmal betont, die OSZE sei gar nicht richtig handlungsfähig ohne die Rückendeckung der NATO. Ich frage Sie noch einmal: Was soll die NATO im Zusammenhang mit dem Kaukasus-Konflikt? Daß die NATO, daß die Osterweiterung der NATO einen Sinn hat, ist doch überhaupt nicht umstritten. Im Kaukasus-Konflikt kann aber, wenn überhaupt eine Großorganisation eine Rolle spielen kann, nur die OSZE die Probleme lösen helfen. Wenn wir Europäer und wir Deutschen die Möglichkeit haben wollen, uns friedenspolitisch an der Lösung der Konflikte innerhalb des Raumes, der früher zur Sowjetunion gehörte, zu beteiligen, dann können wir das nicht über die NATO, sondern nur über die OSZE. Jenseits aller Diskussionen, was in Zukunft mit der NATO passieren soll, müssen wir unser Augenmerk darauf richten, wie wir die OSZE so stärken können, daß sie in der Lage ist, Regionalkonflikte wie die im Kaukasus bewältigen zu helfen. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/1959 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß und an den Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu überweisen. Der Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1771 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zu den jüngsten Kritiken hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des Bundes Ich weise darauf hin, daß in einer Aktuellen Stunde die Redezeit für die Mitglieder des Parlaments fünf Minuten beträgt.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wohnungsmarkt sei entspannt, Wohnraum genügend vorhanden, Deutschland ein wahres Mieterparadies. Mit fachlich so oberflächlichen Aussagen - es ist so, als hätten Sie den Begriff „Schweinezyklus“ noch niemals gehört - begründen Sie Ihren Rückzug aus der Wohnungsbauförderung. Es ist um die langfristige Wohnungspolitik unter Rotgrün schlecht bestellt. Man hat nämlich den Eindruck, daß Sie nicht zuerst fragen, wie man das existentielle Gut Wohnen für alle sichern kann, und hinterher überlegen, wie man das am sparsamsten und effizientesten tun kann. Nein, Sie drehen den Spieß um. Ihr Ziel in der Wohnungspolitik heißt Sparen, Sparen, Sparen. Dann reden Sie den verbliebenen schmalen Rest auch noch schön. Beispielsweise geht der neue Bauminister, der sich im übrigen mit dem Bußgeld für Fußgänger und Radfahrer einen Namen gemacht hat, mit folgendem Begriff in die Öffentlichkeit: Er sagt, Sie stellten in der Wohnungspolitik „zukunftsfähige Weichen“. Dabei weiß er ganz genau, daß der soziale Wohnungsbau halbiert wird. Ein anderes Beispiel: Sie sagen, das Modernisierungsprogramm werde mit 10 Milliarden DM fortgesetzt. Die Wahrheit ist, daß der Bund 300 Millionen DM an Zinszuschüssen unter der Voraussetzung gibt, daß sich die Länder beteiligen. Schließlich sagen Sie, die Abwälzung des Pauschalwohngeldes in Höhe von 2 Milliarden DM gehe nicht zu Lasten der Kommunen. Das ist ungefähr das Schärfste, was ich in letzter Zeit gehört habe. Meine Damen und Herren, die Direktförderung erfährt einen Absturz sondergleichen. Die Förderung des Sozialwohnungsbaus sinkt von 1,1 Milliarden DM auf 600 Millionen DM im nächsten Jahr und auf 450 Millionen DM im übernächsten Jahr. Zur Erinnerung: Es waDr. Andreas Schockenhoff ren einmal 4 Milliarden DM. Einst hatten wir vier Millionen Sozialwohnungen bei zwei Millionen Arbeitslosen. Heute haben wir vier Millionen Arbeitslose und zwei Millionen Sozialwohnungen. Jährlich fallen 100 000 Wohnungen aus der Bindung. Der Verkauf öffentlicher Wohnungen schreitet fort. Dabei geht die Bundesregierung - siehe Bahnwohnungen - voran. Reden wir nicht schön, reden wir Klartext: Sie beerdigen den Sozialwohnungsbau. Sein Aus können Sie auch nicht mit dem Programm „Soziale Stadt“ kaschieren. Was nützt das wunderbarste Programm - das Programm ist ja wirklich gut -, wenn Sie kein Geld dafür zur Verfügung stellen? Doch das Problem liegt in Wirklichkeit noch tiefer, meine Damen und Herren. Sie köpfen ja nicht nur die direkte Förderung. Mit dem Steuerentlastungsgesetz ist die zweite, umfangreichere Fördersäule bereits geschrumpft. Damit wir uns nicht mißverstehen: Wir sind immer dafür eingetreten, Steuervergünstigungen abzuschaffen. Aber wir wollen auch, daß die Mittel zielgerichteter in der direkten Förderung eingesetzt werden. Wenn mich nicht alles täuscht, waren das auch Ihre Überlegungen, als Sie noch in der Opposition waren. ({0}) Das Streichen steuerlicher Vergünstigungen im Wohnungswesen bringt allein 1999 und 2000 dem Bund Mehreinnahmen in Höhe von 6 Milliarden DM. Wer hoffte, daß diese Mehreinnahmen der Wohnungsförderung effizienter zugute kommen, der irrt. Der satte Betrag löst sich beim Stopfen allgemeiner Haushaltslöcher in Wohlgefallen auf. Man wird doch aber einmal fragen dürfen, warum Sie davon nicht das Pauschalwohngeld finanzieren, warum Sie nichts gegen den strukturellen Leerstand in Ostdeutschland tun, warum Sie keine weitere Mark für den Sozialwohnungsbau erübrigen, sondern ihn statt dessen in den Keller fahren, und warum Sie die Städtebauförderung nicht aufstocken. Es nützt alles nichts, auch unter Rotgrün muß eine Wohnung nach 50, spätestens nach 100 Jahren reproduziert werden. Das ist ganz parteienunabhängig. Glauben Sie mir, daß ich weiß, wovon ich rede. Ich komme nämlich aus der DDR. Um den steten Wohnungsbau, der nicht nur wegen der einfachen Reproduktion, sondern auch wegen einer Fülle anderer Faktoren sein muß, die ich jetzt nicht alle aufzählen kann, kann man sich nicht drücken. Bauen kostet Geld, jährlich dreistellige Milliardensummen. Gab bisher der Staat 1 DM aus, so gaben Wirtschaft und Private 2 DM dafür aus. Mit Ihrem Totalrückzug aus der steuerlichen wie der direkten Wohnungsbauförderung kürzen Sie, um in diesem Bilde zu bleiben, diese 1 DM auf 50 Pfennig. Sie gefährden den notwendigen Wohnungsbau damit aufs schärfste. Sie leiten die nächste Wohnungskrise ein. Sie sind nicht bereit, die Mehreinnahmen aus der Streichung der Steuersubventionen zur Reform der Förderung einzusetzen. Sie haben im Grunde nichts mehr, was Sie reformieren können. Meine Damen und Herren, Wohnen ist ein soziales und ein wirtschaftliches Gut. Es ist immer wieder aufs neue die Balance zwischen beiden notwendig. Versuche, eine der beiden Seiten über- oder unterzubetonen, gingen stets fehl ({1}) und mußten im nachhinein ausgebessert werden. Daß aber beide Seiten zugleich gefährdet sind, das ist nun wirklich einmalig. Sie bedrohen die soziale und damit auch die wirtschaftliche Seite des Wohnens. Sie setzen die wirtschaftliche und damit auch die soziale aufs Spiel. Sie ernten folgerichtig die Kritiken, die sowohl auf seiten der Wohnungswirtschaft als auch der Mieter im Kern übereinstimmen. Daß dieser Schritt von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung gemacht wird, einer Bundesregierung, die versprochen hat, zu prüfen, wie der Bestand an Sozialwohnungen für die Sicherung der sozialen Wohnungswirtschaft gewährleistet werden kann, das ist leider kein schlechter Witz, sondern es ist traurige Wahrheit. Glauben Sie mir: Wenn ich als PDSPolitikerin, die im Wahlkampf 1998 ihr Möglichstes heftig und engagiert getan hat, damit die Regierung Kohl abgewählt wurde, heute manchmal in Versuchung bin, zu sagen: „Mein Gott, das wäre vielleicht unter Helmut Kohl nicht passiert“, dann stimmt hier etwas nicht. ({2}) Aber es ist nicht so, daß etwa mit mir etwas nicht stimmt; vielmehr stimmt etwas nicht mit Ihrer Politik, mit Ihrer Wohnungspolitik. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim Großmann.

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! - Ich habe acht Minuten Redezeit; die Uhr ist falsch eingestellt. So, danke schön.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sie haben acht Minuten Redezeit; das werden wir sofort richtig einstellen.

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Wunderbar. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die alte Bundesregierung hat uns vor zwölf Monaten einen dramatischen Reformstau im Wohnungs- und Städtebaubereich hinterlassen. ({0}) Parallel dazu haben CDU/CSU und F.D.P. die Staatsfinanzen so ruiniert, daß wir nur mit großen Anstrengungen die Handlungsfähigkeit des Staates zurückgewinnen können. ({1}) Schauen wir uns doch die Eröffnungsbilanz einmal an. Seit zehn Jahren ist das Wohngeld nicht angepaßt worden. In einem Jahr verlieren die Wohngeldbezieher in den neuen Ländern 30 Prozent ihres Wohngeldes, wenn wir nicht handeln. Der soziale Wohnungsbau hat bei CDU/CSU und F.D.P. seine frühere Funktion völlig verloren. Die Zahl der sozial gebundenen Wohnungen ist von über 4 Millionen auf unter 2 Millionen Wohnungen mehr als halbiert worden. Die finanziellen Mittel sind unter der alten Regierung von zirka 4 Milliarden DM auf etwas mehr als 1 Milliarde DM, also um 75 Prozent, heruntergesetzt worden. Die Reform des sozialen Wohnungsbaus haben Sie völlig vergeigt. Allen Experten war klar: Der neue soziale Wohnungsbau muß anders aussehen als in der Vergangenheit; es muß vor allen Dingen eine Wohngeldreform geben. ({2}) Die haben Sie mit vier Bauministern nicht geschafft. Bei den Problemen der überforderten Nachbarschaften, der Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf, der Großsiedlungen und der anderen Stadtteile haben Sie statt Lösungen nur Konzeptlosigkeit hinterlassen. ({3}) Vor den Problemen des Altschuldenhilfe-Gesetzes haben Sie die Augen verschlossen. Die Baulandfrage haben Sie bei der Reform des Baugesetzbuchs außen vor gelassen. Beim Mietrecht haben Sie sich gegenseitig blockiert. Bei den steuerlichen Abschreibungen haben Sie hingenommen, daß größtenteils nur noch in Steuersparmodelle investiert wurde ({4}) und nicht in nachhaltigen Mietwohnungsbau mit langfristiger wirtschaftlicher Ertragskraft. Die Energieeinsparverordnung haben Sie in die Schublade gelegt und verstauben lassen. Nur in der Eigentumspolitik gab es einen Fortschritt, aber erst nachdem Sie zehn Jahre lang die guten Vorschläge der SPD blockiert haben. Die Liste Ihrer Sünden und Fehler ließe sich fortsetzen. Aber wichtiger ist mir, die finanzielle Katastrophe, die Sie uns hinterlassen haben, mit Beispielen aus der Wohnungs- und Städtebaupolitik zu verdeutlichen. Wir zahlen täglich 220 Millionen DM Zinsen an die Banken. In nur drei Tagen liefert der Finanzminister das Geld bei den Banken ab, das wir 1999 für den Städtebau zur Verfügung haben. In nur fünf Tagen liefert der Finanzminister das Geld für Zinsen bei den Banken ab, das wir im Jahr 1999 für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung haben. ({5}) Das ist die dramatische Ausgangsposition für die Wohnungs- und Städtebaupolitik dieser Regierung. Diese Eröffnungsbilanz müssen Sie hören; dieser Eröffnungsbilanz müssen Sie sich stellen. ({6}) Nach nur einem Jahr legen wir nun eine erste Erfolgsbilanz vor. In dem engen finanziellen Rahmen setzen wir neue Prioritäten, starten neue Konzepte und arbeiten Schritt für Schritt den Reformstau ab. Erstens. Mit dem Programm „Soziale Stadt“ starten wir eine neue Förderphilosophie. Wir bündeln verschiedene Fachpolitiken, statt nur einseitig Ressortpolitik zu machen. Wir wählen erstmals einen integrierten, vernetzten Politikansatz. ({7}) Der finanzielle Einsatz wird dadurch effektiver, ({8}) und zusätzlich mobilisieren wir das unersetzliche Engagement der Bewohnerinnen und Bewohner. Die Konzepte werden vor Ort, also von den Bewohnerinnen und Bewohnern und von den Kommunen, entwickelt. ({9}) In fünf Jahren stehen mit den Mitteln der Länder und Kommunen 1,5 Milliarden DM zur Verfügung; hinzu kommen die Mittel der EU und die Mittel aus Programmen anderer Ressorts. Zweitens. Wir haben eine gesamtdeutsche Wohngeldnovelle vorgelegt. Damit heben wir das Tabellenwohngeld in den alten Ländern an. In den neuen Ländern verhindern wir den Absturz um 30 Prozent. ({10}) All denen, die wegen der stark reduzierten Bestände von sozial gebundenen Wohnungen keine Chance auf eine Sozialwohnung haben, schaffen wir damit eine bessere Wohnkaufkraft. Das ist ein riesiger Schritt hin zu Gerechtigkeit unter den Mieterinnen und Mietern. ({11}) Drittens. Beim Altschuldenhilfe-Gesetz haben wir mit untergesetzlichen Regelungen dazu beigetragen, daß von den etwas mehr als 2 000 Unternehmen inzwischen etwa 1 000 den Schlußbescheid erhalten haben, davon die weitaus meisten nach dem Regierungswechsel, bedingt durch unsere Entscheidungen. Derzeit bereiten wir eine Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes vor, die weitere Fehler dieses Gesetzes behebt. ({12}) Inzwischen hat das auch die CDU gemerkt, die gestern so etwas ähnliches beschlossen hat. Nachdem wir jetzt monatelang darüber geredet haben, wie das aussehen soll, hat auch sie es zu Papier bringen können. Viertens. Unsere Eckwerte für die Reform des sozialen Wohnungsbaus sind fertig. ({13}) Wir hoffen, daß sich die Länder auf der Bauministerkonferenz Anfang Dezember für eine Reform aussprechen. Dann werden wir die Eckwerte zu dem Gesetzentwurf entwickeln. Wir wissen alle: Die finanzielle Ausstattung des sozialen Wohnungsbaus in der Zukunft hängt davon ab, ob wir die Reform des sozialen Wohnungsbaus schaffen. Das ist Fakt, und deshalb müssen wir das als erstes abarbeiten. ({14}) Fünftens. Die Auswüchse der Steuersparmodelle beim freifinanzierten Mietwohnungsbau haben wir gestoppt, die degressive Abschreibung aber erhalten. Mehr Effizienz und mehr Gewicht auf nachhaltige, von guten Marktaussichten unterfütterte Investitionen mit kostenbewußterer Planung sind die Folge. Sechstens. Das KfW-Programm für die Modernisierung und Instandsetzung von Wohnungen und Häusern in den neuen Bundesländern haben wir von 70 auf 89 Milliarden DM aufgestockt. ({15}) Siebtens. Das KfW-Programm „Eigentum für junge Familien“ und das KfW-Programm „CO2-Minderungsprogramm“ wurden ebenfalls aufgestockt. Achtens. Wir forcieren die Energieeinsparverordnung. Wir sind im Gespräch mit den Ländern und den Verbänden und werden bald einen überarbeiteten Entwurf vorlegen. Zur Erinnerung: Die alte Regierung hat über Monate hinweg die Energieeinsparverordnung einfach liegengelassen, weil sie sich gescheut hat, diese schwierigen Gespräche zu führen. Neuntens. Zum Mietrecht wird die Regierung unter Federführung des Bundesjustizministeriums - die Bundesjustizministerin hat dazu ja schon öffentlich Stellung genommen - einen eigenständigen und ausgewogenen Gesetzentwurf vorlegen. Die Abstimmungsgespräche zwischen Justiz- und Bauministerium sind in großer Übereinstimmung abgeschlossen worden. ({16}) Zehntens. Mit einem Programm „Bauforschung und Bautechnik“ - Federführung beim BMBF - unterstützen wir innovative Ideen und Konzepte bei Baugewerbe und Bauindustrie, um die Betriebe fit zu machen für den Wettbewerb in Europa und darüber hinaus. Elftens. Auch in die Bauland- und Bodenpolitik ist Bewegung gekommen. Eine Kommission des Deutschen Verbandes - damals eingesetzt nach einer Intervention im Vermittlungsausschuß von Rotgrün zum Baugesetzbuch ({17}) hat Vorschläge unterbreitet, die dazu beitragen können, daß wieder mehr baureifes Land an den Markt kommt und das Bodenmanagement besser funktioniert. Zwölftens. Schließlich arbeiten wir verstärkt im europäischen und internationalen Kontext. In Europa tauschen wir uns aus über Programme der „Sozialen Stadt“, um letztlich auch europäische Entscheidungen stärker beeinflussen zu können. Mit der hochrangigen Konferenz „Urban 21“ im Juli 2000 in Berlin geben wir der internationalen Diskussion über die Stadtentwicklung der Zukunft neue Impulse. All das ist die Bilanz von nur zwölf Monaten. Wir haben schon vieles erreicht, aber wir haben noch vieles vor. ({18}) Wir werden gezielt, solide, ohne Hast, aber zügig die Wohnungs- und Städtebaupolitik in diesem Land weiterentwickeln: zu mehr Innovation, zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Treffsicherheit und zu mehr Effizienz. Im Mittelpunkt stehen die Menschen, die ausreichend Wohnraum brauchen - in Stadträumen und Städten, die alltagsgerecht und zukunftsfähig zugleich sind und in denen man sich wohl und zu Hause fühlt. Vielen Dank. ({19})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Kansy, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Großmann, ich sage gleich noch etwas zu Ihrer grandiosen Geschichtsklitterung der letzten Legislaturperiode. Manches von dem, was Frau Kollegin Ostrowski gesagt hat, mag richtig sein. Nur, warum das in einer Aktuellen Stunde diskutiert werden soll, ist mir nicht ganz klar. Das wird ein Dauerbrenner sein, solange es diese Bundesregierung gibt. ({0}) Meine Damen und Herren, ich hätte dem neuen Minister gerne noch ein paar Wochen Zeit gegeben, damit er hier ein bißchen Profil zeigen kann, aber eines ist doch wohl richtig: Vom Mieterbund bis zum Gesamtverband der Wohnungswirtschaft, vom Bundesrat bis zu den kommunalen Spitzenverbänden, von Fachzeitungen bis zu Tageszeitungen ist das Urteil einmütig. Die „Frankfurter Rundschau“, nicht gerade unionsnah, hat dies bei dem Wechsel des Ministers Müntefering zu Minister Klimmt wie folgt betitelt: „Traurige Bilanz - ein Konzept ist nicht zu erkennen.“ Das ist genau das, worüber wir heute reden. Herr Kollege Großmann - inzwischen Herr Staatssekretär -, wir waren weiter. Wir hatten eine völlig durchformulierte Reform des sozialen Wohnungsbaus. ({1}) Die haben Sie im Rahmen der Lafontaineschen Blockadepolitik mit Ihren Mehrheiten im Bundesrat zynisch scheitern lassen. ({2}) Der vorherige Bauminister Oswald hat zwar im Bereich Wohngeld auch keine finanziellen Wunder vollbringen können, aber es war immerhin eine Novelle von etlichen Millionen DM drin. ({3}) Sie haben 1,5 Milliarden DM versprochen, und statt dessen erscheint Wohngeld jetzt auf der Kürzungsliste dieser Regierung, ({4}) indem Sie 2,5 Milliarden DM zu den Ländern und Gemeinden schieben wollen. Meine Damen und Herren, das ist die eigentliche Tragik beim Wohngeld. Ich sage das, damit Sie sich nicht wieder einmal blamieren. ({5}) Das ist der Super-GAU für diese virtuelle Wohngeldnovelle, weil das natürlich im Bundesrat nicht durchgeht. Deswegen hat sie Eichel aus dem Paket herausgenommen. Entweder fehlen jetzt 2,5 Milliarden DM im Bundeshaushalt, oder Sie sind ein ganzes Stück zurück hinter dem, was Minister Oswald Ihnen noch vor zwei Jahren vorgeschlagen hat. Dann hätten wir schon eine Wohngeldreform in diesem Land gehabt. ({6}) Dasselbe gilt für den sozialen Wohnungsbau. Herr Staatssekretär, Sie haben früher gesagt, Herr Kohl macht zu wenig, aber Sie haben die Mittel noch einmal halbiert. Im frei finanzierten Wohnungsbau basteln Sie so viel am Steuerrecht herum, daß er einbricht. Die Eigenheimförderung, die Sie so gelobt haben und bei der Sie in Bundestag und Bundesrat zugestimmt haben, knabbern Sie an allen Ecken an: vorne, was den Vorkostenabzug betrifft, hinten, was die Eigentumsgrenzen betrifft. Jetzt wird im Haus sogar schon diskutiert, ob man nicht eine Rückzahlungspflicht der Eigenheimzulage ab einem bestimmten Einkommen einführen sollte. Wer soll denn mit dieser politischen Grundlage in diesem Land überhaupt noch Wohnungen bauen, meine Damen und Herren? ({7}) Ich möchte auch in Richtung des Ministers sehr ernsthaft sagen - daß er heute nicht dasein kann, akzeptieren wir; der Terminkalender ist sehr ausgefüllt -: Sie werden alle anstehenden Reformvorhaben - sei es beim sozialen Wohnungsbau, sei es das angesprochene Altschuldenhilfe-Gesetz, sei es eine seriöse Wohngeldnovelle - nicht mehr in der arroganten Art machen können, in der Sie hier vor Jahr und Tag angetreten sind und gesagt haben: Was wollen Sie eigentlich? Wir brauchen Sie nicht mehr. Sie brauchen uns dringender denn je, erstens, weil Sie keine Mehrheiten mehr haben, und zweitens, damit Sie unsere Gedanken und unseren Fachverstand endlich bitte wieder in Anspruch nehmen. Dazu stehen wir bereit. Aber bisher ist Ihre Bilanz null. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS beantragt ohne Anlaß eine Aktuelle Stunde, hinter der mal wieder eine der üblichen PDSForderungen steht: Mehr Geld, mehr Geld, mehr Geld. So war auch Ihre Rede, Frau Kollegin Ostrowski. Auch zehn Jahre nach dem Mauerfall hat die PDS immer noch nicht begriffen, daß Geld ein begrenztes Gut ist und daß verantwortliche Politik auch mit den Leistungsgrenzen staatlicher Finanzen umzugehen hat. ({0}) Das Ärgerliche daran ist - das möchte ich schon einmal deutlich sagen -: Ein wesentlicher Teil der Staatsverschuldung der letzten Jahre und der aktuellen Sparzwänge ist nolens volens auch das Ergebnis des dramatischen Herunterwirtschaftens der Städte, Wohnungen und Infrastruktur und der primitiven Bautechnik, die Sie 40 Jahre lang in der DDR betrieben haben. ({1}) - Doch, das muß zehn Jahre nach dem Mauerfall noch mal deutlich gesagt werden. ({2}) Wir kritisieren die Politik und auch die Vereinigungspolitik der alten Kohl-Regierung in den letzten zehn Jahren. Dabei wurden viele Schulden gemacht, die nicht nötig gewesen wären. Ich erinnere nur an die beleuchteten Äcker im Osten und an die vielen Bürobauten, die jetzt leer herumstehen. Daher sollten wir die Fehler der Nachvereinigungspolitik der letzten zehn Jahre und die Fehler der 40 Jahre vorher, für die Sie stehen müssen, nicht einfach in einen Topf werfen. Sie können sich hier nicht unschuldig reden und so tun, als könnte unsere Gesellschaft praktisch ständig Geld drucken und alles locker bezahlen. Hier stehen auch Sie mit in der Pflicht. ({3}) Es ist wahr, und wir haben keine Probleme, das zuzugeben, daß wir einen starken Rückgang des sozialen Wohnungsbaus haben. Das ist der Kern Ihrer Kritik. Der Verpflichtungsrahmen in Höhe von 3,4 Milliarden DM für 1994 ist stark auf 1,3 Milliarden DM für 1998 - also bereits unter dieser Regierung - gesunken. Und Sie haben recht: Es gibt noch einen weiteren Abbau. Aber auf der anderen Seite - das hat Staatssekretär Großmann eben sehr deutlich dargelegt - sind die Bestandspflege und die Bestandserhaltung sehr wohl von allen Sparmaßnahmen ausgenommen worden. Das Programm „Soziale Stadt“ ist neu initiiert worden. Die Städtebauförderung ist erhalten geblieben. Die KfWKredite Ost sind wieder neu aufgelegt worden. Die CO2Minderung ist erhalten geblieben, und wir haben - das geht in Richtung des Kollegen Kansy - die Wohngeldreform geschafft, die Sie trotz Ihrer verbalen Forderungen auf Grund der finanziellen Situation nicht auf die Reihe bekommen haben. Ich erinnere Sie nur an Ihren Antrag und die fehlenden 250 Millionen DM, von denen Oswald seinerzeit behauptet hat, er hätte sie. Er hat nie eine Novelle auf den Tisch legen können. Das sollten Sie endlich einmal zugeben. Daher appelliere ich gerade an Ihre Verantwortung. Ich habe das hier schon mehrfach getan. Ich finde es hochinteressant, daß Sie hier und auch neulich im Ausschuß deutlich ausgesprochen haben, daß Sie die Wohngeldnovelle boykottieren wollen. Das müssen Sie vor der deutschen Bevölkerung und vor allen Wohngeldempfängern verantworten. Das ist Ihre Aufgabe. Wir werden noch sehen, wie Sie sich im Vermittlungsausschuß verhalten. ({4}) Ich möchte eines sagen. Wir brauchen im sozialen Wohnungsbau nicht mehr so viel Geld wie früher, weil es nicht um Neubau geht. Wir brauchen aber sehr wohl darum bemühen sich auch beide Koalitionsfraktionen sehr intensiv - eine Reform des sozialen Wohnungsbaus. Wir brauchen dafür auch ein bestimmtes Mittelkontingent als Basis. Aber die Aufgaben haben sich verändert: Wir brauchen eine Bestandserneuerung. Wir brauchen die Sicherung von Belegrechten, wir brauchen die Stabilisierung von Siedlungen und Stadtteilen, und wir brauchen mehr Wohnumfeldverbesserungen. Ich warne vor einer Wohnungspolitik, die - so, wie Sie und die PDS das immer wieder sagen, was angesichts des Wohnungsleerstandes im Osten schon fast witzig ist - immer nur auf mehr Bauen setzt, als ob die Neubauzahlen etwas über die Qualität der Wohnungspolitik aussagen würden. ({5}) Daher geht es um veränderte Ziele. Dafür stehen wir auch in dieser Koalition. Lassen Sie mich ein Letztes kritisch sagen: Wir Baupolitiker von beiden Fraktionen der Koalition wissen sehr wohl, daß die Kürzungen im Baubereich sehr viel größer waren als im Verkehrsbereich. Wir engagieren uns sehr, dieser Entwicklung ein Stück weit gegenzusteuern. Ich erwarte von der Koalition und auch von der Regierung, daß sie dieses Bemühen unterstützt, denn ohne eine wenigstens teilweise Stabilisierung der Mittel wird es uns nicht gelingen, die dringend notwendige Reform im sozialen Wohnungsbau auf den Weg zu bringen. Dafür stehen wir gemeinsam in der Pflicht. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ein Wort vorweg zu Herrn Staatssekretär Großmann: Er hat von einer Eröffnungsbilanz mit einer gigantischen Schuldenlast gesprochen. Ich glaube, es ist mittlerweile unstrittig von allen verantwortlichen Institutionen festgestellt worden, daß rund 80 Prozent dieser Schulden ausschließlich Ergebnis der Finanzierung der deutschen Einheit sind. Ich finde es geradezu bezeichnend, daß Herr Großmann kurz vor dem zehnten Jahrestag des Falls der Mauer genau diese Tatsache mit Tränen in den Augen beklagt. Ich glaube, das wirft ein richtiges Bild auf diese Regierung. ({0}) Zum Thema: Diese Bundesregierung hat in ihrer bisherigen einjährigen Amtszeit durchgehend Entscheidungen ausschließlich zu Lasten der Wohnungspolitik getroffen und weitere abschreckende Entscheidungen angekündigt. ({1}) Wenn Herr Großmann jetzt sagt, er würde das weitermachen, kann ich nur sagen: Um Gottes willen! Dies gilt vor allen Dingen für die Steuerpolitik. Stichworte hierzu sind die Beschränkungen bei der Verlustverrechnung zwischen verschiedenen Einkunftsarten oder die Streichung des Vorkostenabzugs. Dies ist geradezu tödlich für den Bestandskauf. ({2}) Zusätzlich verunsichert die permanente Diskussion über Vermögensteuer, Vermögensabgabe oder Erbschaftsteuererhöhung potentielle Investoren in den Wohnungsbau aufs schärfste. Ich will nur hinzufügen: Die Erhöhung der Erbschaftsteuer im Rahmen der Streichung der Vermögensteuer hat diese Streichung mehr als überkompensiert. Der Wohnungsbau kann nicht andauernd der Steinbruch der Ausgleichsüberlegungen des Finanzministers sein. Um den Wahlbetrug komplett zu machen, wird die Wohngeldreform dadurch finanziert, daß man die Lasten auf die Kommunen verschiebt. Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, gerade Sie waren diejenige, die vor diesem Entschluß im Ausschuß und öffentlich getönt hat, Sie würden einer Verschiebung nur dann zustimmen, wenn Ihnen eine seriöse Gegenfinanzierung präsentiert würde. Die seriöse Gegenfinanzierung besteht darin, daß man flapsig sagt: Die Kommunen mögen sich an der Differenz bedienen, die durch die geringere Steigerung der Beamtengehälter in den Kommunen aufgerechnet wird. Das war wahrscheinlich der größte Bauchklatscher in Ihrer Geschichte. Das ist eine Lachnummer. ({3}) Damit zusätzlich zum privaten Wohnungsbau der öffentlich geförderte Wohnungsbau einbricht, kürzt diese angeblich so soziale Regierung die Mittel für den sozialen Wohnungsbau von 1,2 Milliarden DM auf 600 Millionen DM. ({4}) Mich würde einmal interessieren, wie die Präsidentin des Deutschen Mieterbundes öffentlich reagiert hätte, wenn wir das in unserer Regierungszeit gemacht hätten - eine tolle Sache! ({5}) Es bleibt dabei: Die Bundesregierung Rotgrün arbeitet aktiv an der zukünftigen Wohnungsnot. Die Probleme werden uns sehr bald auf die Füße fallen. Rotgrün hat weder ein Konzept noch eine politische Zielvorstellung - es sei denn, man möchte, auf lange Sicht gesehen, Eigentumsbildung in Deutschland verhindern und alle Maßnahmen, die das fördern, beschließen. Wir brauchen in Deutschland eine neue Wohneigentumsoffensive. Das eigentlich Entscheidende, auch im Hinblick auf die Rentendiskussion, ist doch eine Stärkung des Wohneigentums und des Gedankens daran. ({6}) Sie machen mit allen Ihren Beschlüssen genau das Gegenteil. Niemand traut sich mehr, etwas zu entscheiden, weil zum Beispiel dieser berühmte § 2b, den Sie intelligenterweise beratungsresistent gegen allen Sachverstand in Ihre Gesetzeswerke aufgenommen haben, jede Möglichkeit der Deutung offenläßt. Man kann vorher wahrscheinlich nicht die eigentlich richtige Entscheidung schriftlich bestätigt bekommen. Das führt dann genau dazu, daß gar nichts entschieden und nicht investiert wird. Das, liebe Frau Kollegin EichstädtBohlig, ist das Schlimmste, was uns passieren kann. ({7}) Noch ein Wort zur PDS. Ich kann die Krokodilstränen im Zusammenhang mit der Altschuldenhilfe verstehen. Aber so ganz ohne Verantwortung sind Sie dafür nicht. Ein Großteil der Wohnungsbaugenossenschaften hat nämlich deswegen Probleme, weil jetzt auf Grund der verfehlten Industrie- und Siedlungspolitik der ehemaligen DDR die Probleme massenhaften Leerstandes auf uns zukommen. Gegen jede Vernunft sind Unmengen von Wohnungen geschaffen worden, die jetzt überhaupt nicht mehr notwendig sind. ({8}) - Damals waren sie zwangsweise notwendig, weil man die ganze DDR auf einige wenige Punkte konzentriert hat. Das ganze Thema ist in der Aktuellen Stunde vielleicht nicht richtig angesiedelt. Aber die wohnungspolitische Katastrophenbilanz des vergangenen Jahres ist immer aktuell; deswegen kann man sie auch im Rahmen einer Aktuellen Stunde diskutieren. Danke schön. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Iwersen, SPD-Fraktion.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema dieser Aktuellen Stunde lautet „Haltung der Bundesregierung zu den jüngsten Kritiken hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des Bundes“. Das heißt, es geht nicht allgemein um Wohnungsbaupolitik, sondern ganz speziell um die öffentlich geäußerte Kritik an der Wohnungsbauförderung. Wohnungsbauförderung muß in jeder Periode anders betrachtet werden. Sie hat andere Schwerpunkte, weil andere Probleme diese Gesellschaft belasten und bedrücken. In Zeiten großen Wohnraummangels hat die Schaffung neuer Wohnungen eindeutig oberste Priorität. Zum Beispiel wird dem Kauf aus dem Bestand keine große Förderung zuteil, weil es zu keiner Schaffung neuer Wohneinheiten führt. ({0}) Dem steht manchmal ein Vorrang der Mieterprivatisierung gegenüber, um zu verhindern, daß Mieter aus ehemalig gemeinnützigen oder kommunalen Wohnungsbeständen plötzlich in die Abhängigkeit von Spekulanten geraten. Auch der Gedanke der Altersvorsorge spielt durchaus eine Rolle. Das heißt, es gilt, ständig aufs neue abzuwägen, wo Schwerpunkte zu setzen sind. An erster Stelle steht aber nach wie vor die Versorgung derjenigen, die sich aus eigener Kraft am Markt nicht versorgen können. In den meisten Fällen sind das junge Familien, die nicht nur finanzielle Probleme haben, sondern auch noch mit der sehr gering ausgeprägten Kinderfreundlichkeit bzw. der Intoleranz gegenüber Kindern zu Horst Friedrich ({1}) kämpfen haben. Deshalb stehen die Familien mit Kindern im wahren Kindesalter in vorderster Reihe. Das wird wahrscheinlich auch immer so bleiben, ganz gleich, wie unsere Gesellschaft finanziell ausgestattet ist. Es geht aber nicht darum, denjenigen, die eine schöne, ausreichend große Wohnung haben, nach dem Motto „Schöner Wohnen, und das immer wieder neu“ durch öffentliche Förderung zu noch schönerem Wohnraum oder zu zusätzlicher Vermögensbildung zu verhelfen. Das ist zwar auch ein wichtiges Ziel und wünschenswert, aber dies muß nicht unbedingt die Aufgabe der Wohnungsbaupolitik und kann nicht die Aufgabe eines hochverschuldeten Staates sein. Da hat die Wohngeldnovelle einen wesentlich höheren Stellenwert. Denn die Stadtbevölkerung wird auch in Zukunft zum großen Teil in Mietwohnungen leben, und sei es nur, um ihre Mobilität und Flexibilität zu bewahren; denn das wird von Arbeitgebern heutzutage mehr und mehr gefordert. Gerade wer in strukturschwachen Regionen lebt, macht häufig die Erfahrung, daß Wohneigentum ein wahrer Klotz am Bein sein kann. Da nutzt auch die ideologische Untermauerung der Forderung nach mehr Wohneigentum nichts. ({2}) Die immer wieder geforderte Mobilität der Arbeitnehmer steht dieser quasi erzwungenen Seßhaftigkeit, die im wesentlichen durch Bausparkassen, aber auch durch politische Aussagen immer wieder untermauert wird, entgegen. Ich halte mich deshalb ganz stark zurück, wenn es um das allgemeine Lob steigender Eigentumsquoten geht. Denn auch diese Medaille hat zwei Seiten. ({3}) Der Bundesverband Freier Wohnungsunternehmen zweifelt die Begründung aus dem Haushaltssanierungsgesetz an, wonach - ich zitiere - Haushalte, die auch ohne staatliche Förderung in der Lage sind, ihr Wohneigentum zu finanzieren, auch weiterhin Wohneigentum erwerben werden. ({4}) - Die zitierte Bemerkung stammt aus der Begründung des Haushaltssanierungsgesetzes. Der Zweifel kommt vom Bundesverband. ({5}) Die Konsolidierung des Bundeshaushaltes wird von allen gutgeheißen, quer durch die Bevölkerung, quer durch alle Schichten. Aber keiner kommt auf die Idee, zu überlegen, wer dazu einen Beitrag leisten könnte. Wo, bitte schön, soll denn gespart werden? Zu überlegen ist, daß es doch viele Haushalte gibt, die gute, ausreichend ausgestattete Wohnungen, Auto, Urlaubsreisen, zwei- bis dreimal im Jahr, und dergleichen finanzieren können. Das kann in Zeiten einer sehr angespannten Haushaltslage nicht unbedingt die Zielgruppe der Wohnungsbauförderung sein. ({6}) Der Staat muß zunächst da helfen, Herr Friedrich, wo die fehlende Leistungsfähigkeit gleichzeitig zu verminderten Chancen für die zukünftige Generation führt. Aber die kennen Sie ja gar nicht; denn F.D.P.-Wähler haben ohnehin keine Kinder. ({7}) - Wenn Sie noch mehr Bemerkungen machen wollen, können Sie sich ja zu Wort melden. Es reicht langsam. ({8}) In den sozialen Brennpunkten unserer Städte muß die Hilfe ansetzen. Deshalb ist das Programm „Soziale Stadt“ weitaus wichtiger als der Ausbau oder die Beibehaltung der Wohneigentumsförderung in vollem Umfange. Es war gut, daß man sie zeitweise hat leisten können. Zur Zeit können wir dies leider nicht. Die Länder arbeiten jetzt an den detaillierten Programmen zur „Sozialen Stadt“, und wir haben nun die Aufgabe, eine stabile Finanzierung und ein gutes Instrument zu schaffen, um in den Brennpunkten unserer Städte Hilfe zu leisten, wo Menschen sonst versacken.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluß kommen. Dies ist eine Aktuelle Stunde.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe noch eine Minute gut, weil hauptsächlich Herr Friedrich gesprochen hat.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

So etwas gibt es hier leider nicht. Sie müssen sich schon wie alle anderen an die Spielregeln halten.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Schluß noch eine einzige Bemerkung: Wenn ich mir anschaue, welche Zielgruppen Kritik geäußert haben - die einen sagen, der Zweipersonenhaushalt, vermutlich ohne Kinder, werde jetzt nicht mehr gefördert; dies sei ganz schrecklich; „Haus und Grund“ hat sogar die ledigen und geschiedenen Facharbeiter als die Geplagten und Geprellten ausgemacht -, dann habe ich den starken Verdacht, daß sich die Kritik hauptsächlich auf die Interessen der Interessenvertreter und nicht auf die Probleme derjenigen bezieht, die gefördert werden sollen. Schönen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Gert Willner.

Gert Willner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002827, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstens. Sozialer Wohnungsbau wird zur Mangelware. Die SPD bricht ihre Versprechen bezüglich des sozialen Wohnungsbaus: Im ersten Schröder-Jahr gab es 250 Millionen DM weniger Bundesfördermittel. Im zweiten Schröder-Jahr gab es 750 Millionen DM weniger. Im dritten Schröder-Jahr gab es 900 Millionen DM weniger. Die SPD kürzt binnen zweier Haushaltsjahre die Mittel radikal um 60 Prozent, obwohl Wohnungsbau ein Investitionsschwerpunkt ist. Gleichzeitig schrumpft der Bestand an Wohnungen. Damit stehe der Wohnungsbau vor dem Aus, so Mieterbunddirektor Franz-Georg Rips, der weiter gesagt hat: Preiswerte und bezahlbare Mietwohnungen werden in den nächsten Jahren Mangelware sein. Zweitens. Rotgrün vernichtet Arbeitsplätze. ({0}) Der Bau von 10 000 neuen Wohnungen erzeugt Beschäftigungseffekte von 20 000 Arbeitsplätzen je Wohnungsbauprogramm. Durch Ihre Wohnungsbaupolitik verhindern Sie jeden Monat den Bau Tausender neuer Wohnungen. Sie schließen die Augen vor der Tatsache, daß allein der Erneuerungsbedarf auf 350 000 bis 400 000 Wohnungen geschätzt wird. Sie hatten vor der Wahl noch vollmundig erklärt, in rotgrüner Verantwortung den Bau von Sozialwohnungen zu stärken. Die überzogenen Einschnitte in den Wohnungsbau sind zu mißbilligen. Sie stellen eine Schwächung der Investitionskraft dar. Die Politik darf die Augen vor dem alarmierenden Auftragsrückgang im Hochbau nicht verschließen. ({1}) Wer den Rückgang der Arbeitslosigkeit zu seinem Hauptziel erklärt, kann dies nur mit dem arbeitsintensiven Baugewerbe und nicht gegen das Baugewerbe schaffen. ({2}) Wir brauchen eine Verstetigung in der Bauwirtschaft und keinen Zickzackkurs. Ihre Wohnungsbaupolitik im sozialen Wohnungsbau führt in die Sackgasse. Drittens. Die Begrenzung der Verlustverrechnung ist ebenfalls der falsche Weg. Dies ist der falsche Ansatz in der Wohnungsbaupolitik und führt zur Verunsicherung über die Behandlung von Investitionen im Mietwohnungsbau. Die Begrenzung der Verrechenbarkeit von Verlusten aus Vermietung und Verpachtung wird zu einem breiten Ausstieg aus dem frei finanzierten Wohnungsbau führen. Aber es ist wichtig, daß auch weiterhin privates Kapital für den Wohnungsbau mobilisiert wird. Der Mietwohnungsbau wird schließlich zu rund zwei Dritteln frei finanziert und stellt bisher eine zentrale Stütze der Wohnungsversorgung dar. Viertens. Es war unsinnig, den Vorkostenabzug für Erhaltungsaufwendungen zu streichen. Auch hier gehen Sie den falschen Weg. Damit ist auch die Mieterprivatisierung - darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen benachteiligt worden. Fünftens. Wir benötigen eine Einigung über die Reform der rechtlichen Grundlagen des sozialen Wohnungsbaus. Dies ist überfällig. Wir brauchen eine Bestandsförderung gleichrangig neben der Neubauförderung. Wir brauchen mehr vereinbarte Förderung. Wir brauchen mehr kommunale Entscheidungsfreiheit. Wir brauchen eine stärkere Durchmischung der Bestände. Aber dies setzt eine angemessene Bereitstellung von Mitteln für den sozialen Wohnungsbau voraus. Der jetzige Verpflichtungsrahmen ist dafür keine geeignete Grundlage. ({3}) Sechstens. Rotgrün erhöht die Wohnnebenkosten. Dies ist ebenfalls der falsche Weg. Wir alle wissen, daß sich inzwischen die Wohnnebenkosten praktisch zu einer zweiten Miete entwickelt haben. Die privaten Haushalte - Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger werden in besonderer Weise durch die Ökosteuer belastet. Dieser Personenkreis hat keine Chance, sich Entlastung zu verschaffen. Dies ist der falsche Weg. Es drohen Kürzungen der Bauinvestitionen bei den kommunalen Wohnungsunternehmen. Wenn die von Rotgrün geplante Nachversteuerung der abschreibungsbedingten Verluste als verdeckte Gewinnausschüttung Wirklichkeit wird, dann führt dies zu Steuernachforderungen in dreistelliger Millionenhöhe. Die betroffenen Unternehmen werden vor unlösbare Probleme gestellt. Es drohen Investitionskürzungen bei der Modernisierung, der Instandhaltung und dem Neubau. Das können Sie doch nicht wollen. Auch hier gehen Sie den falschen Weg. Achtens. Eine Nullquote des Bundes bei der Mitfinanzierung der Wohngeldnovelle ist inakzeptabel. Das, was Sie mit der Wohngeldreform vorhaben, ist eine plumpe Verschiebung auf Länder und Gemeinden. Das ist schon diskutiert worden. Neuntens. Sozialhilfeempfänger können die Verlierer der Wohngeldreform sein. Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß die Gemeinden faktisch gezwungen sind, die Sozialhilfeempfänger in für die Gemeinden dann finanzierbarem Wohnraum unterzubringen - und das heißt doch: möglichst einfach, möglichst billig und meistens schlecht -, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß dann auch neue Containerbauten oder Wohnheime entstehen. Auch dies kann doch, bitte sehr, nicht Ihr Ziel sein. ({4}) Meine Damen und Herren, ein letztes Wort: Eigenheimförderung ist Altersvorsorge. Die private Altersvorsorge muß künftig einen höheren Stellenwert einnehmen. Wer an der Eigenheimförderung herumschnippelt, leistet einen schlechten Dienst für die Konjunktur und für die private Altersvorsorge. Dem selbstgenutzten Wohnungseigentum kommt eine herausragende Bedeutung zu. ({5}) Wohnungseigentum stellt neben der Rentenversicherung die zweite Säule der Versorgung dar. Wir müssen Eigenheimförderung konsequent erhöhen und dürfen sie nicht abbauen. Meine Damen und Herren, all dies zeigt: Sie sind nicht auf dem richtigen, sondern auf dem falschen Weg. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Helmut Wilhelm.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Anlaß dieser Aktuellen Stunde zur jüngsten Kritik hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des Bundes ist geeignet, die überaus wichtigen Fragen und Erfordernisse einer modernen und sozialen Wohnungsmarktwirtschaft nochmals für die Öffentlichkeit zu debattieren. Allerdings meine ich, aus dieser Debatte werden weder die PDS noch die Oppositionsparteien Kapital schlagen können, wie sie es sich sicherlich erhofft haben. Denn wir alle wissen doch ganz genau, daß es nicht verantwortet werden kann, die öffentliche Hand in eine Verschuldung zu treiben und damit strukturell handlungsunfähig zu machen, seien die Motive auch noch so edel. ({0}) „Der von der Bundesregierung eingeschlagene Weg der Haushaltskonsolidierung ist vom Prinzip her richtig“, sagt auch der GdW-Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen. Darum stehen bei Rotgrün die Staatsverschuldung und die damit verbundene Reduzierung der Kreditaufnahme und der Zinslast ganz oben auf der politischen Tagesordnung. Neue Mittel locker zu machen ist nicht möglich. Wer dies fordert, handelt ohne politisches Verantwortungsgefühl, rein populistisch, und weckt in der Öffentlichkeit falsche Hoffnungen, die aus den bekannten Gründen unerfüllbar bleiben müssen. ({1}) Damit wird aber die Wohnungspolitik vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Wachsende Aufgaben müssen mit sinkenden Etats bewältigt werden. Das heißt, wir müssen die vorhandenen Mittel auf vordringliche Aufgaben konzentrieren. Wohnungspolitik und Wohnungsbauförderung nach dem Gießkannenprinzip sind nicht mehr bezahlbar. Wer unter diesen Umständen aber den Mut zu Reformen nicht aufbringt, statt dessen aus populistischen Gründen lediglich Forderungskataloge einreicht und prompte Erfüllung verlangt, verspielt den sozialen Auftrag der Wohnungspolitik. „Mehr Staat ist in der Regel nicht gleichbedeutend mit mehr Gerechtigkeit oder sozialer Kompetenz“, wird zu Recht auch vom GdW bemerkt. Statt dessen müssen die eigenverantwortlichen Handlungsspielräume der beteiligten Akteure gestärkt werden. Darum hat die Bundesregierung das Programm „Soziale Stadt“ aufgelegt, ein Programm mit „konzeptioneller Vorbildfunktion“, wie ebenfalls der GdW urteilt. Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf sollen durch eine Kombination des Einsatzes investiver Bundesmittel und nichtinvestiver Landes- und Gemeindemittel vor dem Umkippen bewahrt werden. 100 Millionen DM jährlich, 300 Millionen DM insgesamt werden dafür vom Bund bereitgestellt. Daneben werden das CO2-Minderungsprogramm sowie das Wohnungsbaumodernisierungsprogramm in vollem Umfang weitergeführt. Ebenso wird die Städtebauförderung auf dem bisherigen Niveau fortgesetzt. Die Schaffung eines neuen Mietrechts ist in die Wege geleitet. Dies, meine Damen und Herren, ist angesichts der Haushaltsproblematik ein großer Erfolg. Das ist verantwortliche Wohnungspolitik, ({2}) nicht aber, Wohnungseigentumsförderung ohne Einkommensobergrenze - sprich: für Millionäre - zu fordern, wie das die F.D.P. in der letzten Ausschußsitzung getan hat. ({3}) Wir können und werden uns jetzt natürlich nicht zufrieden zurücklehnen und die Probleme als gelöst betrachten. Wir alle in diesem Haus müssen stärker als bisher lernen, die soziale und räumliche Dimension der Wohnungspolitik zu verstehen, um geeignete Steuerungsinstrumente zu entwickeln. Das Programm „Soziale Stadt“ war nur der Anfang; darum engagieren wir Grüne uns besonders für Konzepte zum Abbau von Leerständen, insbesondere im östlichen Teil Deutschlands. Bestandserneuerung und Stabilisierung von Nachbarschaften und Quartieren sind Ziele unserer Wohnungspolitik. ({4}) Wir brauchen Wohnungsbaugesellschaften und Träger, die nicht nur auf den Neubau spezialisiert sind, sondern auch auf die Stabilisierung und Verbesserung von Nachbarschaften. Diese Aufgaben brauchen einen rechtlichen Rahmen und werden diesen auch erhalten. Konstruktive Beiträge der Opposition werden dabei gern aufgenommen. Ich meine, die Wohnungsbauförderung der Bundesregierung befindet sich auf einem guten Weg. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wohnungsbaupolitik der Bundesregierung, besonders die, die Ostdeutschland betrifft, gleicht der Situation auf der Kommandobrücke der Titanic. Aus lauter Freude und Eitelkeit über das schmucke Aussehen des Dampfers werden gefährliche Eisberge ringsum zuhauf kaum zur Kenntnis genommen. ({0}) Auf der Regierungsbank, Herr Staatssekretär Großmann, herrscht offenbar viel Zufriedenheit. Aber die von Kollegin Ostrowski aufgeworfenen Fragen aus dem Leben der Bürgerinnen und Bürger haben Sie leider nicht oder nur unzureichend beantwortet. Derweil aber sind ostdeutsche Wohnungsunternehmen an vielen Standorten kurz vor dem Absaufen mit Auswirkungen auf Mieterinnen und Mieter. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die PDS nicht hinnehmen. ({1}) Allein in Sachsen-Anhalt stehen - um ein Problem herauszugreifen - derzeit 150 000 Wohnungen leer. Das sind etwa 15 Prozent aller verfügbaren Wohnungen. In der Berg- und Rosenstadt Sangerhausen, in Wolfen im Chemiedreieck oder in Stendal in der Altmark liegt die Leerstandsquote bei annähernd 25 Prozent. Im Rathaus der Großstadt Halle an der Saale sind derzeit von insgesamt 150 000 Wohnungen 17 000 als leerstehend bekannt. Die Leerstandsquote in Ostdeutschland wächst und wächst. ({2}) Kollege Staatssekretär Großmann, dazu haben Sie leider wenig ausgeführt. Der Hauptgrund für den Leerstand in vielen Städten ist der Wegbruch von Arbeitsplätzen und die daraus resultierende massenhafte Bevölkerungsabwanderung. Ganze Ballungsgebiete wurden plattgemacht. Ein Beispiel: Mit der Schließung der Schächte im Mansfelder Revier in Sachsen-Anhalt sind 1990 mit einem Schlag 18 000 Menschen arbeitslos geworden. Das hatte natürlich Auswirkungen auf die Bevölkerungsbewegung. Wohnungsmarktbedingte Abwanderung ins Umland verschärft dieses Problem noch. Wer über ein sicheres Einkommen oder ein entsprechendes Guthaben verfügt, zieht oft aus der Stadt ins Grüne. Ein anderer Teil wiederum, der zunehmend wächst, muß aber dableiben, kann seine Miete, vor allem die ausufernden Betriebskosten, kaum noch oder bereits nicht mehr bezahlen. Mit fehlenden Mieteinnahmen wegen Leerstands in Millionenhöhe und Millionenverlusten wegen Mietschulden aber kann kein Wohnungsunternehmen bestehen, vor allem dann nicht, wenn es zusätzlich noch von irrationalen Privatisierungsauflagen - ich wiederhole: irrationalen Privatisierungsauflagen - aus dem Altschuldenhilfe-Gesetz geknechtet wird. ({3}) Wohnungsunternehmen in Sachsen-Anhalt sind von diesem Zustand ganz besonders betroffen. Es wird für die Bundesregierung allerhöchste Zeit, endlich einen auf die Veränderung der Lage abzielenden Kurs einzuschlagen. Notwendig sind sofort koordinierte Maßnahmen von Bund und ostdeutschen Ländern, für die die PDS konkrete Vorschläge und Finanzierungsalternativen unterbreitet hat. Ich nenne die wichtigsten: Erstens. Notwendig ist die sofortige Streichung der Altschulden nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz. ({4}) Wir erwarten, Herr Staatssekretär, daß Sie Ihren vielen Ankündigungen nunmehr Taten folgen lassen. Auch heute gab es wieder nur vage Ankündigungen. Noch in diesem Jahr gehört ein Gesetzentwurf auf den Tisch des Berliner Reichstages. Zweitens. Dringend geboten ist die Mitfinanzierung des Bundes bei städtebaulichen und infrastrukturellen Maßnahmen in den betreffenden Neubaugebieten, einschließlich dem Rückbau vorhandener Wohngebäude. Drittens. Rasch erforderlich ist die Bereitstellung von Bundes- und von Landesbürgschaften für Wohnungsunternehmen, die wegen Leerstand in Not geraten sind. Darüber sollte noch während der laufenden Beratungen zum Bundeshaushalt 2000 entschieden werden. Viertens. Notwendig ist die Verankerung einer Modellstadtinitiative für betreffende Neubaugebiete im Bundeshaushalt, analog dem Programm zur Sanierung ostdeutscher Innenstädte. Und auch die Finanzierung dieser und weiterer Maßnahmen im Bundeshaushalt kann gesichert werden. Es ist nicht so, daß das Geld nicht vorhanden wäre. Ein ganz wichtiger Weg zur Mobilisierung der Finanzen ist: Die Bundesregierung soll endlich nachweisbar und anhaltend auf die Finanzierung der verkehrspolitisch fragwürdigen Magnetschwebebahn Transrapid verzichten. ({5}) Allein mit diesem Projekt soll im nächsten Jahr rund 1 Milliarde DM sprichwörtlich in den märkischen Sand gesetzt werden - und dies in einer Situation, in der gleichzeitig die Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland vielerorts vor dem Zusammenbruch stehen. Herr Staatssekretär Großmann, es gibt viel zu tun. Packen Sie es in der Bundesregierung endlich an, und steuern Sie einen neuen, einen bürgerfreundlichen Kurs auch in der Wohnungsbaupolitik an! Das Geld hierfür ist Helmut Wilhelm ({6}) da. Sie müssen aber politische Entscheidungen dazu treffen. Vielen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Dieter Maaß, SPD-Fraktion.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine der Oppositionsparteien in diesem Hause, die PDS, fordert eine Aktuelle Stunde unter dem Titel „Haltung der Bundesregierung zu den jüngsten Kritiken hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des Bundes“. Man müßte noch hinzufügen, daß einiges dieser Kritik ursprünglich von einem Verband geäußert wurde und nun im Bundestag diskutiert werden soll. So etwas bringt der antragstellenden Partei natürlich Aufmerksamkeit, ohne daß sie selbst ihre Position eindeutig formulieren muß. Gleichwohl enthält die Entschließung auf dem Verbandstag des Gesamtverbandes deutscher Wohnungsunternehmen, GdW, positive und kritische Bewertungsmerkmale unserer Wohnungspolitik. Ich möchte einige dieser Bewertungen aufgreifen. Ebenso wie wir ist der GdW der Meinung, daß der soziale Wohnungsbau beibehalten werden muß. Er ist ein wichtiger Bestandteil einer sozial gerechten Gesellschaft, und er ist eine ständige Aufgabe jeder verantwortlichen Bundesregierung. ({0}) Zustimmung bekommen wir vom GdW auch zu unserem Projekt „Soziale Stadt“. Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf vor dem Umkippen zu bewahren, nennt auch der Gesamtverband deutscher Wohnungsunternehmen zukunftsweisend. Eine weitere Forderung des GdW-Verbandstages, nämlich die Vereinheitlichung und Erhöhung des Tabellenwohngeldes, haben wir bereits im Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen beschlossen. Die von uns getragene Bundesregierung steht vor der großen Aufgabe, den Bundeshaushalt zu sanieren. 1 500 Milliarden DM Schulden müssen wir abbauen, weil die Handlungsfähigkeit des Staates wiederzugewinnen und zu erhalten ist. 81 Milliarden DM Zinsleistungen pro Jahr können nicht hingenommen werden. Unter dieser Prämisse sind die aktuellen wohnungspolitischen Probleme aufzugreifen und zu lösen. Darum ist eine Reform des sozialen Wohnungsbaus notwendig. Ziel dieser Reform muß es sein, die vorhandenen Mittel effizient und zielgerichtet für bedürftige Haushalte und in Gebieten mit besonderen sozialen Problemen einzusetzen. Angesichts auslaufender Belegbindungen muß die Förderung verstärkt zum Erhalt von Bindungen, zur Bestandserneuerung und zur Stabilisierung der vorhandenen Wohnquartiere eingesetzt werden. ({1}) Ich füge hinzu: Wir müssen für Frauen und Männer, die eine Familie gründen wollen, die Wohnberechtigung im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus neu gestalten. Auf Grund der geltenden Einkommensgrenzen haben sie praktisch keinen Zugang zum sozialen Wohnungsbau. Wie in Zukunft die Fehlbelegerabgabe angewandt wird, hängt natürlich davon ab, ob sie den Erhalt von durchmischten Wohngebieten steuern kann. Zustimmung erhalten wir auch zu der Fortsetzung des KfWModernisierungsprogramms. Im Haushalt 2000 tragen wir dem Rechnung. Überlegenswert finde ich auch die Anregung, eine Neufassung der Genossenschaftsförderung vorzunehmen. Als damalige Opposition mußten wir im Eigenheimzulagengesetz die Einschränkung auf neu gegründete, einkommensorientierte Genossenschaften akzeptieren, um überhaupt eine steuerliche Förderung für Genossenschaftsmitglieder durchzusetzen. Eine entsprechende Neuregelung bleibt einer Reform des sozialen Wohnungsbaus vorbehalten. ({2}) In seiner Entschließung macht der Gesamtverband deutscher Wohnungsunternehmen weitere Vorschläge zu dieser notwendigen Reform. Beispiele sind die Teilmarktorientierung der Förderpolitik und die Vergleichsmiete an Stelle der Kostenmiete. Selbst der größte Kritiker unserer Politik wird nicht erwarten, daß wir nach einem Jahr Regierungsverantwortung auch diese Reform schon auf den Weg gebracht haben. Wenn wir diese Reform einleiten, wird es Gespräche und Anhörungen geben. Was von den in diesem Zusammenhang gemachten Vorschlägen sinnvoll und machbar ist, wird dann Berücksichtigung finden. Für eine wirkliche Reform des sozialen Wohnungsbaus müßten allerdings die in der Finanzplanung des Bundes für diesen Zweck vorgesehenen Mittel angehoben werden. Meine Schlußfolgerungen zu diesem Thema lauten: Insgesamt gesehen können wir mit der Kritik, wie sie der Gesamtverband deutscher Wohnungsunternehmen vorbringt, gut leben. Denn auch der GdW bescheinigt der Bundesregierung, mit dem eingeschlagenen Weg vom Prinzip her - richtig zu liegen. Die SPD-geführte Bundesregierung hat angesichts der vorgefundenen Haushaltssituation die Weichen richtig gestellt, einen undifferenzierten Kahlschlag im sozialen Wohnungsbau vermieden und die notwendigen Reformen auf den Weg gebracht. ({3}) Natürlich sind wir noch nicht am Ziel; aber die Richtung stimmt. Das noch einmal vor dem Bundestag erklären zu können, hat diese Aktuelle Stunde immerhin ermöglicht. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Norbert Otto.

Norbert Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001668, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Mitglieder der Regierungsfraktionen, mit wachsender Verwunderung können wir beobachten, wie Sie es seit einem Jahr kontinuierlich schaffen, sozialdemokratische Grundsätze über Bord zu werfen. Daß Sie dabei ein großes Stück Ihrer Identität aufgeben und eine große Masse von Stammwählern verprellen und verlieren, kann uns als CDU/CSU nur recht sein. Relativ egal könnte uns auch sein, daß Sie mit Ihrer Politik schamlos die eigenen Wahlzusagen brechen. Bedauerlich und vor allen Dingen ärgerlich ist es aber, daß Sie mit Ihrer Wohnungspolitik einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung und vor allem der deutschen Wirtschaft massiv schaden. ({0}) Die jüngst beschlossenen Kürzungen im Bereich des sozialen Wohnungsbaus sind ein gutes Beispiel dafür. Einst stand doch der soziale Wohnungsbau im Mittelpunkt Ihrer Wohnungspolitik. Die Fakten sehen inzwischen so aus: Kürzungen um 250 Millionen DM im ersten rotgrünen Jahr, 750 Millionen DM weniger im zweiten Jahr und im dritten rotgrünen Jahr sogar 900 Millionen DM weniger Fördermittel, sofern Sie dieses Jahr als Koalition überhaupt noch erreichen. Summa summarum kürzen Sie die Mittel für den sozialen Wohnungsbau also innerhalb von drei Jahren um knapp 2 Milliarden DM. Statt der versprochenen Erhöhung der Mittel bedeutet dies eine Halbierung der Mittel gegenüber dem letzten Haushaltsplan der Regierung Kohl. Sie würgen mit diesen Kürzungen ebenso wie mit der Reduzierung der Eigenheimförderung nicht nur die Baukonjunktur ab, Sie verringern damit langfristig auch den Bestand an bezahlbarem Wohnraum für einkommensschwache Personen und Familien. Ist das sozialdemokratische Politik? Sie wissen genauso gut wie wir, daß die aktuellen wohnungspolitischen Probleme in den Wohnungsbeständen und im Auftreten sozialer Erosion in den Wohnsiedlungen liegen. Durch das Auslaufen der Bindungsfristen sinkt der Bestand an Sozialwohnungen jährlich um 100 000 Einheiten. Preiswerte und bezahlbare Mietwohnungen werden in den nächsten Jahren Mangelware. Weil das so ist, ist Ihr Instrument der drastischen Fördermittelkürzung insbesondere in den neuen Bundesländern ein vollkommen falscher Ansatz. ({1}) Hören Sie doch auf die Stimmen der Experten der Bauund Wohnungsbranche. Der GdW, der heute schon mehrfach angesprochen wurde, hat vor wenigen Tagen mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet, in der die Bundesregierung dringend davor gewarnt wird, den sozialen Wohnungsbau Schritt für Schritt zurückzufahren oder gar ganz auf ihn zu verzichten. Der Direktor des Deutschen Mieterbundes spricht angesichts Ihrer Pläne sogar von einem Aus des sozialen Wohnungsbaus. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in den nächsten Tagen werden wir, die CDU/CSU-Fraktion, einen Antrag zur Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes einbringen. Staatssekretär Großmann hat schon darauf hingewiesen, daß wir mit diesem Antrag eine Entlastung der Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern erreichen wollen. Die verhaltene Wirtschaftsentwicklung und ein teilweise spürbarer Bevölkerungsrückgang haben dazu geführt, daß insbesondere in strukturschwachen Regionen ein erheblicher Wohnungsleerstand zu verzeichnen ist. Leerstandsquoten von deutlich über 10 Prozent sind inzwischen keine Seltenheit. In nicht wenigen Fällen stehen sogar 20 Prozent des Wohnungsbestandes leer. Viele der betroffenen Unternehmen haben daher große Probleme, ihre Altschulden zu bedienen. Das bedeutet auch, daß die Unternehmen im Moment noch auf zum Teil dringende Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen verzichten müssen. Anstatt diese schwierige Umorientierungsphase durch weitere Kürzung der Fördermittel unnötig zu verlängern, erwarten wir von der Bundesregierung, daß den Unternehmen eine weiterer Teilerlaß bei den Altschulden gewährt wird. Dadurch wird sowohl den Unternehmen als auch den potentiellen Wohnungskäufern geholfen. ({2}) Natürlich wollen wir keine Rückabwicklung des Altschuldenhilfe-Gesetzes, wie von der PDS schon vor einiger Zeit und jetzt wieder in einem zweiten Antrag etwas moderater gefordert wurde. Nein, das geht nicht, das würden unsere Wohnungsunternehmen in dieser Art auch gar nicht wollen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, Mitglieder der Bundesregierung haben wiederholt die Umsetzung entsprechender Zusagen in der Koalitionsvereinbarung in Aussicht gestellt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Otto, auch Sie müssen zum Schluß kommen.

Norbert Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001668, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich komme zum Schluß. - Geschehen ist bisher noch nicht viel. Statt mit der Axt zu einem Kahlschlag bei der Wohnungsbauförderung anzusetzen, sollte die Bundesregierung lieber die vorhandenen Mittel zielgerichteter und sinnvoller einsetzen. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Spanier.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich zum einen bei der PDS für die Beantragung der heutigen Aktuellen Stunde, zum anderen aber auch bei dem gemischten Chor der Kritiker unserer Wohnungspolitik von Herrn Dr. Kansy bis zu Frau Ostrowski - bedanken, weil ich die Gelegenheit habe, im Deutschen Bundestag öffentlich darauf aufmerksam zu machen, daß wir im Bereich der sozialen Wohnungspolitik in diesen Tagen einen ganz entscheidenden Reformschritt nach vorne machen. Der GdW hat nämlich recht, wenn er sagt: Das Wohngeld ist und bleibt das zentrale Steuerungsinstrument in der sozialen Wohnungsmarktwirtschaft. - Genau an diesem Punkt setzen wir an; genau dieses Instrument wollen wir wieder treffsicher und wirksam machen. ({0}) Wir haben eine Wohngeldnovelle vorgelegt, die nicht nur mehr Geld, nämlich 1,4 Milliarden DM, bereitstellt, was in diesen Zeiten - das ist allen in diesem Parlament klar - ein finanzieller Kraftakt ist. Daß dies der PDS zuwenig ist, ist völlig klar. Sie verfahren ja grundsätzlich nach dem Prinzip: Wir wollen alles und von allem noch ein bißchen mehr. Diesen Weg können wir natürlich nicht gehen. ({1}) Wir haben, wie gesagt, nicht nur mehr Geld bereitgestellt, sondern wir haben auch die qualitativen Reformschritte endlich durchgesetzt, die wir gemeinsam - über alle Fraktionsgrenzen hinweg - seit Jahren gefordert haben. Wir haben jetzt endlich ein einheitliches Wohngeld. Wir haben die Einkommensgrenzen und die Miethöchstbeträge angehoben. Wir haben eine deutlich stärkere Familienkomponente eingeführt. Wir haben es sogar geschafft, eventuelle Minderungen des Wohngeldes in den neuen Bundesländern - dort gab es im Vergleich zu den alten Bundesländern bislang ein deutlich höheres Wohngeld - durch eine Härtefallregelung auszugleichen. ({2}) Dies müßte geradezu das Entzücken der F.D.P. hervorrufen: Wir haben es endlich geschafft, das Wohngeldgesetz deutlich zu vereinfachen. Wir haben die teilweise Gleichstellung von Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften mit Familien erreicht. Folgender Punkt findet neben vielen anderen Punkten die Zustimmung des GdW: Wir haben nämlich das pauschalierte Wohngeld den Ländern und Kommunen zugeordnet. Der GdW sagt dazu - ich möchte ihn ausdrücklich zitieren -: „Dies ist ordnungspolitisch vom System her wünschenswert.“ ({3}) Wichtig ist natürlich der finanzielle Ausgleich. Ich bitte Sie, schlicht und einfach in unser Haushaltskonsolidierungsgesetz hineinzuschauen. Gerade Sie von der CDU/CSU und der F.D.P. haben hier eine große politische Mitverantwortung im Bundesrat, auf die Sie der GdW hinweist. Auf Ihre Unterstützung kommt es an, daß nach 1991 endlich wieder eine Wohngeldnovelle wirksam wird. ({4}) Sie sollten sich in diesem Zusammenhang einmal gefälligst an Ihre Wahlversprechen erinnern. ({5}) Sie haben es gerade den einkommensschwachen Mieterinnen und Mietern klar in die Hand versprochen, daß es eine Wohngeldverbesserung geben wird. Inhaltlich liegen wir also überhaupt nicht auseinander. Ich habe in der Ausschußberatung von Ihrer Seite kein entsprechendes Gegenargument gehört. ({6}) Ich sage nun: Butter bei die Fische und im Bundesrat keine Blockade und keinen Boykott, sondern ein gemeinsames Auf-den-Weg-Bringen dieser Wohngeldreform! ({7}) Sie ist nämlich auch im Hinblick auf die Sozialleistungen ein ganz wichtiger Schritt. Es wird oft kritisiert, daß Sozialleistungen nicht treffsicher, nicht zielgerichtet seien. Beim Wohngeld gibt es wohl keine Zweifel. ({8}) Damit können wir denjenigen helfen, und zwar treffsicher, die es am nötigsten haben. Heute war von der Wohnungsbauförderung die Rede. Hier sollten Sie die Objektförderung und die Subjektförderung - das ist doch sonst Ihr Steckenpferd - in einem Zusammenhang sehen. Man kann diese beiden Dinge nicht voneinander trennen. Es handelt sich hier um einen wirklichen Fortschritt, und ich bitte Sie ganz dringend, diesen Fortschritt nicht zu behindern. ({9}) Ich will Ihnen an Beispielen deutlich machen, was Sie den Mieterinnen und Mietern vorenthalten würden. Der Rentner oder die Rentnerin, alleinstehend, mit 1 400 DM Rente und 518 DM Mietbelastung, Mietstufe 3 - ich will keine weitere Einzelheiten ansprechen hat in den alten Bundesländern bisher ein Wohngeld

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Spanier, auch Sie muß ich an die Redezeit erinnern.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- sofort - von 19 Mark bekommen. Dies steigt nun auf 80 DM an. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Alleinverdiener mit rund 4 000 DM Bruttoeinkommen und 1 055 DM Mietbelastung bekam in den neuen Bundesländern bisher ein Wohngeld von 41 DM. Nach dieser Novelle bekommt sie ein Wohngeld von 166,25 DM. Wenn Sie dies den Mieterinnen und Mietern vorenthalten wollen, dann wünsche ich Ihnen auf Ihrem Weg kein Glück. Sie werden aber sicherlich die Konsequenzen zu spüren bekommen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Dr. Michael Meister, Sie haben das Wort für die Fraktion der CDU/CSU.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich feststellen, daß wir heute über den richtigen Weg in der Wohnungspolitik streiten können. Das war in den 40 Jahren ehemaliger DDR nicht möglich. Es ist ein Riesenvorteil, heute die Möglichkeit zu haben, über den richtigen Weg zu diskutieren. ({0}) Die größte Herausforderung für die Wohnungspolitiker der Gegenwart ist die Überwindung der 40 Jahre sozialistischer Mißwirtschaft, die Sie als Antragsteller dieser Aktuellen Stunde zu verantworten haben. Sie stellen uns vor diese großen Herausforderungen. Deshalb streiten wir heute über die Frage, was wir leisten können und was nicht. Sehr geehrter Herr Staatssekretär Großmann, Sie haben hier gesagt, das Thema Energieeinsparverordnung stünde ganz oben auf Ihrer Agenda und Sie würden dies voranbringen. Ich möchte Ihnen hier entgegenhalten, daß das, was Sie hier leisten, der Offenbarungseid rotgrüner Umweltpolitik ist. Seit zwölf Monaten gibt es nichts als Ankündigungen und keinerlei Vorlage. Von einer rotgrünen Bundesregierung hätten wir in diesem zentralen Feld der Umweltpolitik endlich Aktivitäten und Handlungen erwartet, nicht nur Ankündigungen. ({1}) Es war schon entlarvend, hier die Sprecher der SPD, Herrn Großmann, Herrn Maaß und Herrn Spanier, gehört zu haben. Diese haben sich nämlich nicht mit den Inhalten der Wohnungsbaupolitik auseinandergesetzt, sondern nur über allgemeine haushaltspolitische Zielvorgaben diskutiert. Zukunftsweisende, gestalterische Elemente blieben Mangelware. Seit einem Jahr warten wir auf die Reformen, die Herr Wilhelm von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert hat. Keine Reformmaßnahme ist in dieser Zeit von Ihnen auf den Tisch gelegt worden. Das ist ein Offenbarungseid Ihrer Wohnungsbaupolitik. ({2}) Wir hören immer: Wir müssen sparen. Selbstverständlich müssen wir sparen. Aber man muß sich natürlich die Frage stellen, wie. Herr Wilhelm hat zu Recht darauf hingewiesen, daß nicht mit dem Rasenmäher gespart werden solle. Sie aber gehen leider nicht die Konsumausgaben an, sondern die Investitionen. Deshalb erreichen Sie möglicherweise unter rein fiskalpolitischen Kriterien Erfolge. Sie werden aber einen riesigen Schaden in unserem Land anrichten, und zwar für die Bauwirtschaft und die Volkswirtschaft insgesamt. Die Wirtschaft verlangt nämlich nicht nur niedrige Zinsen und gute Rahmenbedingungen, die noch auf unsere Verdienste in der Wirtschaftspolitik zurückgehen, sondern auch eine verläßliche Politik und verläßliche Rahmenbedingungen. Wenn man Ihr Treiben in den letzten zwölf Monaten beobachtet hat, dann kann man von vielem reden, aber mit Sicherheit nicht von verläßlichen Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft. Deshalb ist Ihnen vorzuhalten, daß Sie Attentismus in der Bauwirtschaft erzeugt haben. ({3}) Sie haben sich in der Koalitionsvereinbarung dafür ausgesprochen, das dritte Standbein, die private Altersvorsorge, stärken zu wollen. Was haben Sie im Frühjahr getan? Sie haben den Vorkostenabzug aus dem Steuergesetz gestrichen. Jetzt haben Sie vor, die Einkommensgrenzen für die Eigenheimzulage abzusenken. Was Sie damit tun, ist das genaue Gegenteil: Sie schwächen die private Altersvorsorge. ({4}) Entlarvend ist auch das, was von Frau Ostrowski nicht gesagt worden ist. Es geht hier auch um die Wohnungsbauförderung. Von ihr fiel kein Wort zur Eigenheimzulage. Was bedeutet das? Das zeigt uns ihr Verständnis von Wohneigentum. Auch das sollten wir den Menschen in diesem Land sagen: Sie wollen kein Wohneigentum in diesem Land. Das sollten Sie dann aber auch offen sagen. ({5}) - Nein, das ist doch Ihre klare Aussage. ({6}) Eine zweite Aussage möchte ich machen: Ich fand es sehr interessant, was Frau Kollegin Iwersen hier vorgetragen hat. Als Herr Großmann noch Sprecher der SPD im Bauausschuß war, war ich immer davon ausgegangen, daß auch die SPD-Fraktion diese Form der Eigentumsförderung und damit die Erhöhung der Wohneigentumsquote anstrebt. Die Rede der Frau Kollegin Iwersen stellte aber eine Distanzierung von diesem Ziel dar; es war eine Abkehr von dem, was Sie in den vergangenen Wahlperioden mitgetragen haben. Vielleicht sollten Sie das einmal in Ihren eigenen Reihen ausdiskutieren. Sie sollten Ihr Verhältnis zur Förderung privaten Wohneigentums wieder in Ordnung bringen. ({7}) In das Ganze paßt auch hinein, was Sie aktuell diskutieren. Bei Ihnen wird über eine Vermögensabgabe, eine Erbschaftsteuererhöhung und eine Vermögensteuer diskutiert. Ihr Fraktionsvorsitzender, Kollege Struck, sagt, man müsse die Erbschaftsteuer erhöhen. Aus derselben Fraktion kommt von Herrn von Larcher der Vorschlag, die Freigrenze für privates Wohneigentum bei 300 000 DM zu ziehen. Meine Damen und Herren, machen Sie sich einmal klar, was das bedeutet! Wen wollen Sie damit eigentlich noch dazu bekommen, privates Wohneigentum zu bilden? Dann kommt in diesem wunderbaren Zusammenhang der weitere Vorschlag, darüber nachzudenken, ob man nicht die Eigenheimzulage in einigen Jahren zurückzahlen solle. Meine Damen und Herren, wen wollen Sie mit solchen Aussagen dazu ermutigen, Wohneigentum zu bilden? Wer soll unter solchen Umständen noch Geld in die Hand nehmen und investieren? Das habe ich mit Attentismus gemeint. Sie sollten endlich begreifen, was Sie hier anrichten, und Schaden von diesem Land abwenden. Danke sehr. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde ist die Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion.

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon sehr erstaunlich, daß PDS, CDU/CSU und F.D.P. hier gemeinsam als Robin Hood verkleidet auftreten. Alle drei Parteien haben in den letzten Jahren - jede auf ihre Weise - Verantwortung getragen. Es wäre letztlich ehrlicher, hier nicht als Robin Hood, sondern Sheriff von Nottingham aufzutreten. ({0}) Ich möchte zur Einordnung die Frage aufwerfen, wer warum kritisiert. Ich habe mir nämlich angewöhnt, Kritik danach zu beurteilen, ob sie sich erstens im Bereich der Weltuntergangsszenarien bewegt. Ein Szenario ist, daß Hunderttausende von Arbeitsplätzen gefährdet sind. Rechnet man einmal zusammen, welche Zahlen uns beim Steuerentlastungsgesetz 1999 begleitet haben, dann müßten wir uns heute in einem Zustand kurz nach dem Untergang der „Titanic“ befinden. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die Prognosen für das nächste Jahr sind übereinstimmend gut, und in diesem Jahr war es so schlecht auch nicht. Mit unserem Mix aus Angebotsund Nachfragepolitik sind wir auf dem richtigen Weg. ({1}) Eine zweite Variante der Kritik ist, daß man als Verbandsvertreter oder Lobbyist die Aufgabe hat und in der Regel auch dafür bezahlt wird, möglichst viele der eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Je nach Temperament, Muskeln und eigenem Status kann man das als angenehm oder weniger angenehm empfinden. Damit haben wir in 50 Jahren Bundesrepublik umzugehen gelernt. Drittens stelle ich die Frage, ob partikular kritisiert wird oder ob der Kritiker bzw. die Kritikerin bereit ist, auch andere Bereiche als nur den eigenen einzubeziehen. Eine Kritik, die gleichzeitig die gesellschaftlichen und finanziellen Verhältnisse berücksichtigt, nehme ich sehr wohl ernst. Die Gesellschaft differenziert sich immer mehr; man könnte vielleicht auch sagen, daß sie immer ausdifferenzierter wird. Dieser Zustand bringt uns nicht nur Probleme, sondern auch eine Menge an Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Als Politiker und Politikerinnen müssen wir, wenn wir wollen, daß die Menschen in dieser Gesellschaft miteinander und nicht gegeneinander leben, die Ausdifferenzierungen aufnehmen, nicht aber die Partikularinteressen. Um das umzusetzen, müssen wir Konzepte für die verschiedenen Problemlagen anbieten. Das letzte Jahr hat mir jedenfalls gezeigt, daß es bei den geäußerten Kritiken und neuen Forderungen ratsam ist, eine Art Diskrepanzanalyse vorzunehmen. Wir haben einige Grundsatzentscheidungen getroffen, die wir für richtig halten, weil sie gesellschaftspolitisch wichtig sind und die Verteilung von unten nach oben korrigieren. Wir haben zum Beispiel die Spekulationsfristen verlängert, weil es nicht vertretbar ist, de facto keine Besteuerung realisierter Wertzuwächse im Privatvermögen vorzunehmen. ({2}) Wir haben die vollständige Verrechnung von Einkünften aus Vermietung und Verpachung mit den Einkünften anderer Art beschnitten, weil es nicht gerechtfertigt ist, in dieser Höhe alle Steuerzahler an der Vermögensbildung einzelner zu beteiligen. Und wer hätte das gedacht: Die Welt ist nicht untergegangen. Der Rückgang beim Wohnungsbau hat sehr, sehr wenig mit dem Steuerentlastungsgesetz, aber sehr viel mit der Marktlage und mit der individuellen Kaufkraft zu tun. ({3}) Wohnungspolitik muß im übrigen in erster Linie der Versorgung in quantitativer und qualitativer Hinsicht dienen, nicht aber der individuellen Vermögensbildung. Was die individuelle Vermögensbildung angeht, so ist es durchaus vertretbar, selbstgenutztem Eigentum Vorrang vor dem Immobilieneigentum zu geben. Der Anteil des Immobilieneigentums liegt im übrigen sehr viel höher als der Anteil des selbstgenutzten Eigentums, nämlich bei ungefähr 53 Prozent im Westen und bei immerhin 36 Prozent im Osten. Es ist vielfach auf den Entschließungsantrag des GdW Bezug genommen worden, der anläßlich des Verbandstages am 27. Oktober in München verabschiedet worden ist. Ich möchte zum Schluß an Hand des Antrages durchgehen, was dieser Verband eigentlich fordert. Er fordert eine Anpassung und eine Reform in fast allen gesellschaftlichen Bereichen. Da kann ich nur sagen: D'accord; da sind wir auf dem Weg. Er sagt: Subventionsabbau ist kein Selbstzweck. - Auch wir sagen das. Aber wir sind übrigens auch nicht diejenige Partei, die sagt: Nur eine nicht vorhandene Subvention ist eine gute Subvention. - Ferner fordert er, überforderte Nachbarschaften als Herausforderung für Wohnungsunternehmen und die Wohnungspolitik zu begreifen. Wir sind mit dem Programm „Soziale Stadt“ auf dem richtigen Weg. ({4}) Wir verfolgen dabei einen neuen Politikansatz, der integrativ ist und der uns in diesem Bereich auch wirklich weiterbringt. Er fordert außerdem, daß die soziale Stadt mit Priorität weiter ausgebaut werden soll. Das können wir demnächst alle gemeinsam beschließen. Dann fordert er eine Wohngelderhöhung. Wir sagen dazu: Das ist zwingend erforderlich. Ich will Ihnen, Dr. Kansy, einmal etwas sagen: Ich glaube, Ihre Verbitterung kommt daher, daß Sie das in zehn Jahren nicht geschafft haben. Ich habe Ihr Verhalten im Ausschuß mitbekommen. Es war auch ein bißchen schwierig für Sie. Sie haben sich jedesmal die Zähne ausgebissen, und dann kommen drei Mädels, Gleicke, Eichstädt-Bohlig, Mertens, und machen zusammen mit Großmann, Heyer, Mittler und mit Vesper eine Wohngeldreform. Das muß bitter für Sie sein. Aber ich denke, die Regelungen beim Tabellenwohngeld, die wir jetzt hinbekommen haben, können auch Sie unterstützen. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Mertens, Sie müssen zum Schluß kommen.

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Wir könnten jetzt auch die weiteren Punkte durchgehen. 95 Prozent sind es vielleicht nicht, aber 90 Prozent dessen, was der GdW fordert, können auch wir fordern. Die PDS sollte mit ihren Forderungen nach mehr Geld aufhören. Geld allein macht nicht glücklich; das erzählen Sie uns ebenfalls immer. Ich erwarte von Ihnen auch mehr Konzepte, soweit Sie das bei Ihrer Scheuklappenpolitik überhaupt leisten können. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zu der heute morgen unterbrochenen Beratung des Entwurfs des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 zurück. Es ist ein Antrag der Fraktionen der F.D.P. und der CDU/CSU auf Vertagung der Beratung auf morgen angekündigt worden. Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben vorhin im Ältestenrat den Antrag gestellt, heute abend nicht wieder in die Debatte zur Krankenversicherung einzutreten ({0}) und statt dessen morgen früh zu Beginn der Tagesordnung die namentliche Abstimmung durchzuführen. ({1}) Warum haben wir diesen Vorschlag gemacht, der leider von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden ist? ({2}) Sie haben heute morgen mitbekommen, daß sich im Laufe der Beratung herausgestellt hat, daß in der Beratungsunterlage Fehler sind. ({3}) Wir haben deshalb auch die Sondersitzung des Ältestenrates gehabt. In dieser Sitzung habe ich vorgeschlagen, daß die Vorlage noch einmal durchgegangen wird, ({4}) weil es nämlich Indizien dafür gab, daß sich noch weitere Fehler finden würden. Wir alle kennen die Gründe, nämlich die schnelle Beratung, die ständigen Änderungsanträge, die in die Ausschüsse gegangen sind. Wie berechtigt dieser Verdacht war, hat sich gezeigt, als auf Vorschlag des Bundestagspräsidenten eine Sondersitzung des Gesundheitsausschusses stattfand, in der ein weiterer Fehler, nämlich betreffend die Knappschafts- und Seeschiffahrtsversicherung, entdeckt wurde, der beseitigt werden kann. Nachdem schon bei dieser kursorischen Beratung ein weiterer Fehler festgestellt wurde, haben wir das Gefühl, daß es Sinn macht, daß das Ausschußsekretariat in Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des Gesundheitsministeriums - denn immerhin handelt es sich um einen Gesetzesvorschlag der Bundesregierung - noch heute abend sorgfältig prüft, ob weitere Fehler vorliegen. ({5}) So hätte der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses morgen früh die Möglichkeit, auf die redaktionellen Fehler hinzuweisen. Wir sind durchaus offen dafür, daß Sie, Herr Kirschner, diese Gelegenheit ergreifen. Das macht deutlich, daß wir nicht Tricks anwenden, ({6}) daß uns nicht an einer Verzögerung gelegen ist, sondern daran, daß wir eine klare und eindeutige Beratungsgrundlage haben. ({7}) Ich bedauere sehr, daß die Koalitionsfraktionen diesem vernünftigen Kompromißvorschlag nicht folgen. Wenn Sie dagegen stimmen, hat das im übrigen eine klare Konsequenz: Sie tragen die Verantwortung, daß die Beratungsgrundlage, über die wir abstimmen, tatsächlich in Ordnung ist. Wir werden Sie da in die Verantwortung nehmen. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Wilhelm Schmidt, Sie haben das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mir gerade das Protokoll der Debatte von heute morgen geben lassen und will noch einmal auf folgendes hinweisen: Der Ausschußvorsitzende Herr Kirschner hat vor diesem Hause vorgetragen, daß sich die Fehler auf den Seiten 152 sowie 394/395 - einschließlich der Inkrafttretensvorschrift - der Beschlußempfehlung als Fehler der Übermittlung zwischen Ausschußsekretariat und Druck darstellen. ({0}) Die Fehler sind - das hat sich heute nachmittag in der Sondersitzung des Gesundheitsausschusses eindeutig gezeigt - nur technischer und redaktioneller Art. Sie ändern am Charakter, am Inhalt des Gesetzes nicht im entferntesten etwas. ({1}) Darum ist all das, was die Opposition hier gerade versucht, nur als Geschäftsordnungstrick zu bezeichnen. ({2}) Wir werden uns das nicht bieten lassen. ({3}) Wenn Herr van Essen, der sich als Handlanger für die ganze Geschichte hergegeben hat ({4}) - wir können das genauso wie Sie -, so tut, als habe er Verantwortung für dieses Gesetz zu übernehmen, ({5}) dann ist das heuchlerisch. Das hat die F.D.P. niemals vorgehabt. ({6}) Wir haben heute nachmittag in der Sondersitzung des Gesundheitsausschusses und in der Sitzung des Ältestenrates - das kann ich ganz leidenschaftslos berichten - festgehalten, daß nicht eine einzige Vorschrift der Geschäftsordnung eine Grundlage dafür bieten würde, den Gesetzgebungsgang aufzuhalten. ({7}) Weder § 122 unserer Geschäftsordnung noch § 86 unserer Geschäftsordnung können herangezogen werden, weil es sich eben nur um einen redaktionellen, einen technischen Fehler handelt ({8}) und weil wir nicht im entferntesten Gefahr laufen, dem Willen, den die Ausschußmehrheit im Gesundheitsausschuß zum Ausdruck gebracht hat - und der ansonsten eindeutig aus der Beschlußempfehlung, die hier vorliegt, hervorgeht -, nicht zu entsprechen. ({9}) Es ist klar, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß, wie Herr Kirschner heute morgen gesagt hat, in der Ausschußberatung zwei Anträge zurückgezogen worden sind. ({10}) - Nein, nein, das andere ist die Inkrafttretensvorschrift. Sie gehört zum zweiten Punkt. Sie müßten eben wissen, worum es geht. Dann können Sie sich auch Ihre Zwischenrufe sparen. ({11}) Insofern ist klar gewesen, daß diese Vorschriften herausgenommen werden sollten. Wir wollten damit übrigens allen am Verfahren Beteiligten, auch Ihnen, einen Schritt entgegenkommen. So ist auch klar, daß damit der Wille zumindest der Mehrheit des Hauses dargestellt worden ist. Daher sehen wir überhaupt keine Möglichkeit, in dieser Frage heute noch einmal den von Ihnen, wie ich finde, vordergründig vorgetragenen Argumenten Rechnung zu tragen. Wir wollen auch nach außen hin überhaupt nicht den Eindruck entstehen lassen, wie Sie ihn offensichtlich zu erwecken versuchen, als sei hier schlampig gearbeitet worden. Hier ist nicht schlampig gearbeitet worden. ({12}) Dabei bleibt es. Das ist festgestellt worden. Darum wollen wir, daß noch heute abend namentlich abgestimmt wird. Vielen Dank. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Hans-Peter Repnik, CDU/CSU-Fraktion.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind auf dem besten Weg, uns als Parlament bis auf die Knochen zu blamieren. ({0}) Noch hat die Koalition es in der Hand, dies zu verhindern. Wir haben dazu ein Angebot gemacht. ({1}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mein Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble hat heute früh in seiner Rede deutlich gemacht, daß es sich Wilhelm Schmidt ({2}) bei diesem Thema um ein außerordentlich sensibles Thema handelt. ({3}) Wo, wenn nicht bei der Gesundheit, sind die Menschen ganz unmittelbar, existentiell berührt? Weil dem so ist, hat jeder, der politische Verantwortung trägt, dafür zu sorgen, daß gerade auf diesem Gebiet mit allergrößter Sorgfalt gearbeitet wird. An dieser Sorgfalt mangelt es. ({4}) Verehrter Kollege Schmidt, Sie haben soeben gesagt, wir wollten nur den Gang des Verfahrens aufhalten. ({5}) Wir haben im Laufe dieser Woche, obgleich es uns sehr schwergefallen ist, erklärt, daß wir auf eine Fristeinrede verzichten, damit heute dieses Gesetz gelesen werden kann, weil dies Ihr Wunsch war. ({6}) Wir haben also niemandem Steine in den Weg gelegt. ({7}) Aber was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist, ({8}) daß wir seit letzter Woche bis zum gestrigen Tag - gestern noch einmal 60 Seiten Änderungsanträge - 510 Seiten Änderungsanträge zu diesem Gesetz bekommen haben, die der Beratung zugeführt werden mußten. Darüber hinaus haben wir eine Beschlußempfehlung und den Bericht von zusammen immerhin auch über 500 Seiten bekommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, der Bericht und die Beschlußempfehlung sind heute früh den Berichterstattern der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion zugestellt worden. Kollege Kirschner hat im Ältestenrat selbst eingeräumt, daß auch er sehr kurzfristig, nämlich erst heute, diesen Bericht bekommen habe. ({9}) - Das ist bis heute von den beiden Berichterstattern nicht unterschrieben worden. Während der Beratung heute vormittag haben Kollegen aus meiner Fraktion und aus der F.D.P.-Fraktion zwei Fehler festgestellt. Wir haben mit Ihnen darüber gesprochen. Wir wären sogar bereit gewesen, diese Fehler zu heilen. Dazu gibt es geschäftsordnungsmäßige Möglichkeiten. Plötzlich haben wir aber gemerkt, daß es in diesem Zusammenhang noch andere Unsicherheiten gibt. Deshalb haben wir dann den Ältestenrat angerufen. ({10}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Ältestenrat auf Vorschlag des Herrn Bundestagspräsidenten, weil wir alle der Meinung waren, daß es hier Klärungsbedarf gebe, beschlossen, diesen Bericht noch einmal an den Gesundheitsausschuß zurückzuverweisen, um mögliche Unstimmigkeiten, Ungereimtheiten auszumerzen. Der Sachverhalt war wie folgt: Als unsere Kollegen im Gesundheitsausschuß in die Diskussion eintreten und im Auftrag des Ältestenrates eine kursorische Durchsicht vornehmen wollten, kam ein Geschäftsordnungsantrag der SPD, der lautete: Schluß der Debatte. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben damit nicht nur dem Vorschlag des Bundestagspräsidenten, sondern auch dem Vorschlag und der Bitte des Ältestenrates eklatant widersprochen. ({12}) Im Laufe des Verfahrens sind zwei weitere Mängel offenkundig geworden, die ebenfalls noch nicht ausgeräumt sind. Verehrte Frau Präsidentin, bei einem so wichtigen Thema muß das Hohe Haus doch wissen, worüber es abstimmt! Hier haben wir Klärungsbedarf. ({13}) Wir haben deshalb ein weiteres Angebot gemacht. Das lege ich jetzt auch hier auf den Tisch, um keinerlei Legendenbildung zuzulassen. ({14}) Der Präsident war der Meinung, wir sollten die Beratung in der nächsten Woche fortführen. Das war der Vorschlag des Präsidenten. ({15}) Mein Vorschlag war: Wir nehmen trotz bestimmter Bedenken § 122 der Geschäftsordnung zur Hand und sorgen noch heute abend für eine Klärung, indem sich der Ausschußvorsitzende, Vertreter des Ministeriums und unsere Obleute noch einmal zusammensetzen und für Rechtsklarheit sorgen. Dann sind wir bereit, morgen die zweite und dritte Lesung durchzuführen. Dies entspräche einer Heilung gemäß § 122 der Geschäftsordnung. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Repnik, ich muß Sie leider an Ihre Redezeit erinnern.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nach einigen wenigen Anmerkungen, Frau Präsidentin, bin ich am Schluß. ({0}) Meine Damen und Herren, der eigentliche Grund, weshalb heute abgestimmt werden muß und nicht morgen abgestimmt werden soll, ist der, daß Sie sich morgen Ihrer Mehrheit nicht sicher sind. Deshalb zwingen Sie uns in dieses Verfahren. ({1}) Abschließend möchte ich nur sagen: Sie haben mit einer unglaublichen Arroganz der Mehrheit einmal mehr versucht, Ihre Unfähigkeit zu vertuschen. ({2}) Sie reihen dieses Gesundheitsgesetz in eine Fülle von Peinlichkeiten ein: 630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigkeit, Renten- und Steuerreform. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Repnik!

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dazu kommt jetzt noch die Gesundheitsreform. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Repnik, das ist eine Geschäftsordnungsdebatte, in der - das wissen Sie am besten - die Redezeit fünf Minuten beträgt.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir unterstützen den Antrag und bitten Sie darum, ({0}) unser Angebot anzunehmen, ({1}) morgen zu beraten und abzustimmen. Wir stehen zu diesem Wort. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Parlamentarische Geschäftsführerin, Frau Kollegin Kristin Heyne.

Kristin Heyne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002676, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Repnik, lieber Kollege van Essen, ich bin sehr beruhigt, feststellen zu können, daß Sie die Geschäftsordnung genauso auslegen wie wir, daß Sie beide bestätigen, daß das Verfahren, das hier stattfindet, in keiner Weise gegen die Geschäftsordnung verstößt. Darüber bin ich sehr beruhigt. ({0}) Es hat in diesem Bericht einige kleine Übertragungsfehler gegeben. Alle diese Übertragungsfehler haben mit wenigen Änderungen zu tun, die gestern im Ausschuß vorgenommen wurden. Übrigens ist es ein Zeichen für die Ernsthaftigkeit des Verfahrens, daß wir diskutieren und auch ändern. Diese Fehler haben alle mit diesem kleinen engen Bereich der Änderungen von gestern zu tun. Das heißt, es gibt jetzt überhaupt keinen Anlaß, alle Seiten zu wälzen und zu hoffen und zu glauben, es möge sich noch ein weiterer Fehler finden. Das ist Ihnen seit heute morgen nicht gelungen. ({1}) Bitte, seien Sie doch nicht so vergeßlich. Sie kennen das Regierungsgeschäft. Denken Sie an das Verkehrswegeplanungsgesetz in der letzten Legislaturperiode. Wie viele Änderungen daran haben Sie hier noch mündlich vorgetragen! Es ist ein ganz normaler Prozeß: Es gibt bei 500 Seiten starken Berichten Übertragungsfehler. Die Geschäftsordnung sieht vor, wie man damit umgeht und wie man das korrigiert. Das ist ein völlig normales Verfahren. Wir hätten, so wie es in der Geschäftsordnung vorgesehen ist, die Änderungen ganz normal vortragen lassen können, und wir hätten beschließen können. Daß Sie den Ältestenrat an so einer Stelle einberufen, ist, wie wenn man mit Kanonen auf Spatzen schießt. ({2}) Kollege Repnik, Sie haben gut und eindrücklich vorgeführt, worum es Ihnen geht, wenn Sie über die Bedeutung dieses Gesetzes sprechen. Es ist richtig: Dieses Gesetz ist wichtig. Aber hier ging es um eine rein technische Frage, um keine politische und um keine inhaltliche. Die Inszenierung, die wir heute erlebt haben, dient dazu, zu verunsichern und den Eindruck zu erwecken, daß mit diesem Gesetz irgend etwas problematisch ist. Das ist nicht der Fall. Das wissen Sie ganz genau. ({3}) Wir haben in der Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer sehr einvernehmlich beschlossen, daß wir gerne morgen hochaktuell - daran sind die Opposition und wir interessiert - über die Klimakonferenz diskutieren werden. Uns wird ein ganz aktueller Bericht über die dortigen Geschehnisse vorgetragen. Deswegen waren wir gemeinsam der Meinung, daß es gut ist, nicht morgen bis in den späten Abend zu tagen, sondern die Themen aufzuteilen und morgen über die Klimakonferenz, die erst heute beendet wird, zu diskutieren. Ich finde es gut, daß wir uns in dieser Runde einigen konnten. Ich denke, das sollten wir auch weiterhin so handhaben. ({4}) Meine Damen und Herren von der Opposition, ich kann Ihnen einen Verdacht nicht ersparen: Wenn Sie soviel Wert auf die Geschäftsordnung legen, dann soll das doch nur überdecken, daß Sie in der ganzen Debatte heute keinerlei Alternativen zu diesem Gesetzentwurf aufgezeigt haben. ({5}) Wir haben heute einen guten Gesetzentwurf vorgelegt, ({6}) der durch Integration und durch Vorsorge das Angebot verbessert. Dieses Gesetz wird es ermöglichen - das ist auch Ihr erklärtes Ziel -, die Kostensteigerungen zu begrenzen. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Heyne, das ist eine Geschäftsordnungsdebatte.

Kristin Heyne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002676, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich werde Ihnen klarmachen, warum ich das sagen muß. Schließlich - das ist das Wichtigste -: Dieses Gesetz stärkt die Patienten. Deswegen empfehle ich Ihnen: Lassen Sie uns jetzt abstimmen! Stimmen Sie diesem Gesetz zu! Es ist ein gutes Gesetz. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die PDS-Fraktion hat der Kollege Roland Claus.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie alle Fraktionen hat es sich auch unsere Fraktion bei dieser Entscheidung nicht leichtgemacht. Sie werden bei der Abstimmung merken, daß wir nicht den für uns leichtesten Weg gehen wollen. Insofern ist es schwierig, daß jetzt noch eine solche Verfahrenskomplizierung eintritt. Ich will Ihnen eines sagen: Aus unserer Sicht handelt es sich nicht um ein Zeitproblem. Die Frage ist nicht mehr, ob man diesen Gesetzentwurf heute abend oder nach einiger Einsicht - morgen früh abschließend behandelt. Es schmerzt mich ein wenig, sagen zu müssen: Das eigentliche Problem besteht im mangelnden Grundvertrauen in den Umgang miteinander. Zu diesem Problem haben insbesondere die großen Fraktionen einiges beigetragen. ({0}) Ich will deutlich sagen: Nicht nur die Opposition, sondern auch die Koalition und die Bundesregierung haben uns in dieser Debatte wirklich einiges zugemutet. Sie, die Mitglieder von Koalition und Bundesregierung, haben sich auch selbst einiges zugemutet. Ich meine, Sie wissen das auch. Sie müssen nicht mit den Muskeln und mit den Mehrheiten spielen. ({1}) Wenn Ihnen die CDU/CSU vorwirft, Sie kämen mit solchen Paketen immer so kurzfristig, dann sagen Sie ständig: Das haben Sie früher auch so gemacht! Sie denken, Sie haben damit ein Argument. Ich finde, das macht es aber nicht besser. Sie kritisieren doch, daß das früher so gemacht wurde. ({2}) Über die Situation ist hier schon geredet worden. Man hätte einen Korrekturversuch unternehmen können. Die Koalition hat sich jetzt einer Interpretation zugewandt, die besagt: Wir gehen über § 122 der Geschäftsordnung. Ich finde, das ist ein ziemlich dünnes Eis; denn dieser Paragraph ist eindeutig mit „Übersendung beschlossener Gesetze“ überschrieben und verweist darauf, daß Druckfehler oder offenbare Unrichtigkeiten korrigiert werden können. Wenn ich mir anschaue, worum es hierbei geht, ist es nicht so offensichtlich, daß er zutrifft. Ich hatte im Ältestenrat einen anderen Weg vorgeschlagen, nämlich den Weg über § 84 der Geschäftsordnung. Wenn sich im Ausschuß alle darüber einig sind, daß es sich nur um einen Übermittlungsfehler handelt, stellt man eben einen Änderungsantrag, so wie dies üblich ist. Daraufhin sagt mir natürlich die Koalition: Aber dann haben wir ein Problem, weil unsere Geschäftsordnung vorsieht, daß die dritte Lesung erst zwei Tage danach stattfinden kann. ({3}) Auch dafür bietet die Geschäftsordnung eine Lösung. Wir können mit Zweidrittelmehrheit beschließen, daß dies ausgesetzt wird. Ich fand, es gab Signale aus der Opposition, daß wir so verfahren können. ({4}) Aber Sie haben natürlich auch einiges dafür getan, dieses Grundvertrauen gegenüber der Opposition zu stören. Und die Interpretation der Geschäftsordnung, die Kollege Schmidt vorhin gegeben hat, finde ich in der Tat abenteuerlich. ({5}) Sie gehen immer von dem hohen Gut der Geschäftsordnung aus - das ist völlig in Ordnung - und betonen das Recht. Aber wenn Ihnen Recht und Geschäftsordnung einmal im Wege stehen, dann qualifizieren Sie Einwände als formalrechtlich ab. Das finde ich ausdrücklich nicht in Ordnung. ({6}) Auch bei uns sind Zweifel geblieben, ob sich weitere Fehler in der Vorlage verstecken. Dennoch sehen wir keinen Sinn mehr darin, zu fragen, ob wir jetzt oder morgen darüber abstimmen sollen. Wir werden uns deshalb bei dieser Geschäftsordnungsabstimmung enthalten. Sie müssen es dann verantworten, mit dem Ergebnis umzugehen. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der F.D.P. sowie der CDU/CSU auf Vertagung der Beratung auf morgen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Vertagungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.- und CDU/CSUFraktion bei Enthaltung - ({0}) - Der Vertagungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.- und der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt. ({1}) - Wenn es Zweifel an diesem Ergebnis gibt, müssen dies die Schriftführerinnen und Schriftführer signalisieren. - Aus unserer Sicht ist das Mehrheitsverhältnis eindeutig. ({2}) Aber wir können die Abstimmung gerne wiederholen. ({3}) - Alles klar. Ich entschuldige mich. Ich habe angesichts des Abstimmungsmarathons, der uns bevorsteht, den Text verwechselt. ({4}) Da die Abstimmung eindeutig war, wiederhole ich das Ergebnis in aller Ruhe: Der Vertagungsantrag ist abgelehnt worden. ({5}) - Natürlich stimmt das. Es gab den Antrag, die jetzige Abstimmung zu vertagen. Dieser Antrag ist abgelehnt worden. ({6}) Für den Antrag, die Abstimmung zu vertagen, haben lediglich die Fraktionen der F.D.P. und der CDU/CSU gestimmt, und die PDS-Fraktion hat sich enthalten. Ich glaube, wir haben es alle verstanden. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vereinbart worden, die heute morgen kurz vor ihrem Ende unterbrochene Aussprache zur Gesundheitsreform nicht fortzusetzen, sondern die Abstimmungen gleich fortzuführen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. ({8}) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 auf den Drucksachen 14/1245 und 14/1977. ({9}) - Darf ich bitte wenigstens einen Satz zu Ende reden? Dies ist das Recht einer Bundestagspräsidentin. Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen. ({10}) Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Hans-Peter Repnik zur Geschäftsordnung.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In Respekt vor Ihrem Amt, Frau Präsidentin: Ich hatte gar nicht die Absicht, Sie zu unterbrechen. Ich habe mich nur zu Wort gemeldet. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß es im Hinblick auf die Beendigung der Debatte keine interfraktionelle Vereinbarung gibt. Die Mehrheit hat bestimmt, daß die Debatte beendet wird. Dies müssen wir hinnehmen. Das heißt, es muß darüber abgestimmt werden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lasse der Form halber über das Ende der Debatte abstimmen. ({0}) Ich bin im Präsidium darüber in Kenntnis gesetzt worden, daß es eine interfraktionelle Vereinbarung gebe. ({1}) - Wenn ich weiterhin solche Töne aus den Reihen der Geschäftsführung der Fraktionen höre, dann unterbreche ich die Sitzung. ({2}) Ich bitte Sie deshalb, den Anweisungen des Präsidiums zu folgen. Ich stelle jetzt den Antrag zur Abstimmung, nach dem die Debatte des heutigen Vormittags nicht fortgeRoland Claus führt werden soll und nach dem sofort über den vorgelegten Gesetzentwurf abgestimmt werden soll. Wer für diesen Antrag stimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion ist bestätigt worden, daß die Debatte nicht fortgeführt wird. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung - ich füge bewußt hinzu: mit der heute morgen vom Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses, dem Kollegen Klaus Kirschner, vorgetragenen Berichtigung; wir wissen also worüber abgestimmt wird - zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der PDS-Fraktion und gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion angenommen worden. ({3}) - Mir ist bisher offiziell nicht mitgeteilt worden, daß es ein abweichendes Abstimmungsverhalten innerhalb der Fraktionen gibt. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Es ist namentliche Abstimmung verlangt und auch interfraktionell vereinbart worden. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge- sehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie dar- auf aufmerksam machen, daß es im Anschluß an diese namentliche Abstimmung eine weitere über den Ent- schließungsantrag der F.D.P.-Fraktion geben wird. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist offensicht- lich nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.1) Wir setzen jetzt die Beratungen fort. Ich möchte zu Protokoll geben, daß von der Kollegin Sylvia Voß2) sowie von den Kollegen Lothar Binding ({4}), Monika Heubaum, Hans-Ulrich Klose und Lothar Mark3) jeweils eine Erklärung gemäß § 31 der Ge- schäftsordnung zu Protokoll gegeben wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1978. Die Frak- tion der F.D.P. verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer erneut, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich ------------ 1) Seite 5921 D 2) Anlage 2 3) Anlage 3 nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus- zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben. 4) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre Plätze wieder einzunehmen. Interfraktionell ist vereinbart worden, daß die Reden derjenigen, die sie heute vormittag nicht mehr halten konnten, zu Protokoll gegeben werden.5) Ich setze das Einverständnis des Hauses voraus. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1979. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt gegen den Antrag der PDS? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/1977 außerdem, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Gesundheitsreform auf Drucksache 14/1721 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei einer Enthaltung aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zustimmungsbedürftige Post-Universaldienstleistungsverordnung ({6}) - Drucksachen 14/1696, 14/1775 Nr. 2.1, 14/1971 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Barthel ({7}) Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich hö- re keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- mentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsi- dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verände- rung, die wir im Bereich der Telekommunikation erle- ben, ist ein fundamentaler Strukturwandel, der die Frage aufwirft, wie wir in der Informations- und Kommunika- tionsgesellschaft von morgen eine Art von Grundver- sorgung, eine Art Grundsicherung für alle Menschen si- ------------ 4) Seite 5924 C 5) Anlage 4 Vizepräsidentin Petra Bläss cherstellen können, damit wir nicht eine neue Spaltung der Gesellschaft zwischen denjenigen bekommen, die die neuen Techniken nutzen können, und denjenigen, die sie nicht nutzen können. Deshalb ist es sehr wichtig, daß wir heute mit der Post-Universaldienstleistungsverordnung, auch gemeinsam mit den Länderrn, einen wichtigen rechtlichen Rahmen für eine flächendeckende und für jedermann erschwingliche Versorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen schaffen. ({0}) Die Verordnung setzt damit eines der wesentlichen Ziele des im Januar 1998 in Kraft getretenen Postgesetzes um. Wir schaffen damit einen bundesweiten Universaldienst und stellen sicher, daß auch diejenigen, die in strukturschwachen Gebieten leben und arbeiten, und diejenigen, die es sich nicht leisten können, online verbunden zu sein, eine flächendeckende Versorgung haben. Deswegen ist das auch eine gesellschaftspolitisch wichtige Verordnung. Regelungsgegenstand der Verordnung sind die einzelnen als unabdingbare Grundversorgung vorgesehenen Universaldienstleistungen, deren Umfang, Mindestqualitätsmerkmale und Preis in der Verordnung festgelegt werden. Die infrastrukturelle Sicherung einer bundesweiten postalischen Grundversorgung hat für die Bundesregierung herausragende Bedeutung. Die Bundesregierung hat sich daher bei der Ausgestaltung der Verordnung im Interesse der Verbraucher nachdrücklich für eine qualitativ und quantitativ ausgewogene Verordnung eingesetzt. So konnte die Verordnung auch im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf deutlich verbessert werden, ({1}) und zwar auch gemeinsam mit den Ländern. Zu den Universaldienstleistungen zählen nunmehr die Beförderung von Briefsendungen bis 2 000 Gramm einschließlich der Infopost, von Paketen bis 20 Kilogramm und von Zeitungen und Zeitschriften. Zusätzlich wird in der Verordnung festgeschrieben, daß mindestens 12 000 stationäre Einrichtungen vorzuhalten sind, von denen bis 2002 mindestens 5 000 Einrichtungen mit unternehmenseigenem Personal betrieben werden müssen. Dabei muß in jeder Gemeinde der Bundesrepublik mit mindestens 4 000 Einwohnern eine stationäre Einrichtung vorhanden sein. Die Regelentfernung bis zur nächsten Filiale beträgt in zusammenhängend bebauten Gebieten 2 000 Meter. Der nächste Briefkasten soll grundsätzlich nach höchstens 1 000 Metern erreicht werden können. Auch das ist eine wichtige Frage der Grundversorgung. Zugleich enthält die Verordnung Vorgaben für die Laufzeiten der beförderten Sendungen, legt die Leerungszeiten von Briefkästen fest und schreibt eine mindestens einmal werktäglich zu erfolgende Zustellung vor. Die Einbeziehung der Presseerzeugnisse in den Katalog der postalischen Pflichtleistungen ist eine besondere Entscheidung. Darum haben wir gekämpft, weil wir wollten, daß die Presse- und Meinungsvielfalt in Deutschland gesichert wird. ({2}) Das kann man nur erreichen, wenn man diese in die Pflichtversorgung einbezieht. Das ist in dieser neuen Verordnung gelungen. Hervorgehoben wurde auch das Beschwerderecht eines jeden Bürgers. Wir haben mit der Einführung des Beschwerderechts eine bürgernahe Regelung gefunden. Im Falle des Auftretens einer Versorgungslücke können entsprechende Maßnahmen direkt ergriffen werden, und bei der Regulierungsbehörde können Anregungen und Beschwerden zur Beseitigung der Versorgungslücke eingereicht werden. Das ist ein neuer bürgernaher Ansatz, den wir mit dieser Verordnung suchen. Des weiteren wurde sichergestellt, daß für Postdienstleistungen, für die nach dem Postgesetz eine Exklusivlizenz besteht, ein Einheitstarif anzuwenden ist, um so eine gleichwertige Versorgung in Stadt und Land zu gewähren. Mit der PUDL-Verordnung ist es nach schwierigen Abstimmungsgesprächen gelungen, die unterschiedliche Interessenlage der für die Versorgung zuständigen Unternehmen sowie der Kunden und Nachfrager, das heißt der Verbraucher, in angemessener Weise zu berücksichtigen und damit eine Dienstleistung sicherzustellen. Auch die Anliegen der Länder konnten umgesetzt werden, so daß der Bundesrat am 24. September seine Zustimmung zur Verordnung erteilt hat. Deshalb - das kann man rückblickend sagen, auch hinsichtlich der Liberalisierungspolitik der letzten Jahre - ist dies eine wichtige flankierende Maßnahme. Denn wir wollen, daß auch in einer liberalisierten Telekommunikationswirtschaft, die leistungsfähig und wettbewerbsfähig ist, der Zusammenhalt der Gesellschaft gesichert wird. Deshalb ist eine solche Universalverordnung notwendig geworden. Wir bitten Sie um Zustimmung zu dieser Verordnung. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem Kollegen Elmar Müller das Wort erteile, möchte ich Ihnen das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen bekanntgeben - es handelt sich um den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 auf Drucksache 14/1245 -: Abgegebene Stimmen 592. Mit Ja haben gestimmt 325, mit Nein haben gestimmt 241. Es gab 26 Enthaltungen. Parl. Staatssekretär Sigmar Mosdorf Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 591; davon: ja: 324 nein: 241 enthalten: 26 ungültig: 0 Ja SPD Brigitte Adler Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({0}) Klaus Barthel ({1}) Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({2}) Bernhard Brinkmann ({3}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({4}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Danckert Christel Deichmann Karl Diller Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Lothar Fischer ({5}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Peter Friedrich ({6}) Lilo Friedrich ({7}) Harald Friese Anke Fuchs ({8}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({9}) Angelika Graf ({10}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Wolfgang Grotthaus Karl Hermann Haack ({11}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Gustav Herzog Reinhold Hiller ({12}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({13}) Walter Hoffmann ({14}) Iris Hoffmann ({15}) Frank Hofmann ({16}) Ingrid Holzhüter Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Gabriele Iwersen Renate Jäger Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({17}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Marianne Klappert Siegrun Klemmer Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({18}) Detlev von Larcher Christine Lehder Waltraud Lehn Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({19}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({20}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Ulrike Mascher Christoph Matschie Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Dr. Jürgen Meyer ({21}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Michael Müller ({22}) Jutta Müller ({23}) Christian Müller ({24}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({25}) Gerhard Neumann ({26}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Georg Pfannenstein Johannes Pflug Dr. Eckhart Pick Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({27}) Birgit Roth ({28}) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Dieter Schloten Horst Schmidbauer ({29}) Ulla Schmidt ({30}) Silvia Schmidt ({31}) Dagmar Schmidt ({32}) Wilhelm Schmidt ({33}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({34}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({35}) Brigitte Schulte ({36}) Reinhard Schultz ({37}) Volkmar Schultz ({38}) Ilse Schumann Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz ({39}) Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wieland Sorge Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl ({40}) Dr. Peter Struck Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Simone Violka Ute Vogt ({41}) Hans Georg Wagner Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({42}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber ({43}) Vizepräsidentin Petra Bläss Hans-Joachim Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek ({44}) Jürgen Wieczorek ({45}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Heino Wiese ({46}) Brigitte Wimmer ({47}) Engelbert Clemens Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf ({48}) Waltraud Wolff ({49}) Heidemarie Wright Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gila Altmann ({50}) Marieluise Beck ({51}) Volker Beck ({52}) Angelika Beer Matthias Berninger Annelie Buntenbach Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Andrea Fischer ({53}) Katrin Dagmar GöringEckardt Winfried Hermann Antje Hermenau Ulrike Höfken Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Reinhard Loske Oswald Metzger Klaus Wolfgang Müller ({54}) Kerstin Müller ({55}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Claudia Roth ({56}) Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({57}) Werner Schulz ({58}) Christian Simmert Christian Sterzing Jürgen Trittin Ludger Volmer Helmut Wilhelm ({59}) Margareta Wolf ({60}) Nein CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Otto Bernhardt Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({61}) Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({62}) Dankward Buwitt Manfred Carstens ({63}) Peter H. Carstensen ({64}) Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß Renate Diemers Thomas Dörflinger Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ulf Fink Ingrid Fischbach Axel Fischer ({65}) Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich ({66}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({67}) Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Horst Günther ({68}) Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser ({69}) Hansgeorg Hauser ({70}) Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Hans Jochen Henke Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Klaus Holetschek Josef Hollerith Siegfried Hornung Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Harald Kahl Steffen Kampeter Dr. Dietmar Kansy Irmgard Karwatzki Volker Kauder Ulrich Klinkert Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers ({71}) Dr. Norbert Lammert Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({72}) Eduard Lintner Dr. Manfred Lischewski ({73}) Julius Louven Dr. Michael Luther Erich Maaß ({74}) Dr. Martin Mayer ({75}) Wolfgang Meckelburg Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({76}) Elmar Müller ({77}) Bernd Neumann ({78}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Eduard Oswald Norbert Otto ({79}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({80}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({81}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt Rossmanith Adolf Roth ({82}) Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Dr. Jürgen Rüttgers Anita Schäfer Hartmut Schauerte Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({83}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({84}) Andreas Schmidt ({85}) Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Erika Schuchardt Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Werner Siemann Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({86}) Michael Stübgen Dr. Rita Süssmuth Dr. Hans-Peter Uhl Gunnar Uldall Vizepräsidentin Petra Bläss Arnold Vaatz Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Peter Weiß ({87}) Gerald Weiß ({88}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({89}) Hans-Otto Wilhelm ({90}) Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({91}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Aribert Wolf Elke Wülfing Wolfgang Zöller F.D.P. Hildebrecht Braun ({92}) Rainer Brüderle Jörg van Essen Gisela Frick Horst Friedrich ({93}) Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Cornelia Pieper Dr. Günter Rexrodt Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Carl-Ludwig Thiele Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle PDS Dr. Heinrich Fink Carsten Hübner Angela Marquardt Christina Schenk Enthalten SPD Lothar Binding ({94}) Monika Heubaum Hans-Ulrich Klose Lothar Mark PDS Monika Balt Roland Claus Dr. Ruth Fuchs Wolfgang Gehrcke-Reymann Dr. Klaus Grehn Uwe Hiksch Dr. Barbara Höll Gerhard Jüttemann Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Kutzmutz Heidemarie Lüth Manfred Müller ({95}) Kersten Naumann Christine Ostrowski Petra Pau Dr. Ilja Seifert Dr. Winfried Wolf Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU Abgeordnete({96}) Bühler ({97}), Klaus, CDU/CSU Freitag, Dagmar, SPD Dr. Hornhues, Karl-Heinz, CDU/CSU Dr. Leonhard, Elke, SPD Zierer, Benno, CDU/CSU Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. ({98}) Ich gebe Ihnen jetzt auch das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zu dem Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000, Drucksachen 14/1245, 14/1977 und 14/1978 bekannt: Abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben gestimmt 34. Mit Nein haben gestimmt 355. Enthaltungen 202. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 590; davon: ja: 34 nein: 355 enthalten: 201 Ja CDU/CSU Otto Bernhardt Julius Louven F.D.P. Hildebrecht Braun ({99}) Rainer Brüderle Jörg van Essen Gisela Frick ({100}) Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dirk Niebel Günter Friedrich Nolting Cornelia Pieper Dr. Günter Rexrodt Dr. Edzard SchmidtJortzig Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Carl-Ludwig Thiele Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle Nein SPD Brigitte Adler Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels ({101}) ({102}) Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({103}) Kurt Bodewig Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({104}) Bernhard Brinkmann ({105}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({106}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Wilhelm Danckert Dr. Herta DäublerGmelin Christel Deichmann Vizepräsidentin Petra Bläss Karl Diller Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Lothar Fischer ({107}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Peter Friedrich ({108}) ({109}) Harald Friese Anke Fuchs ({110}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({111}) Angelika Graf ({112}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Wolfgang Grotthaus Karl Hermann Haack ({113}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller ({114}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({115}) Walter Hoffmann ({116}) Iris Hoffmann ({117}) Frank Hofmann ({118}) Ingrid Holzhüter Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Gabriele Iwersen Renate Jäger Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({119}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika KrügerLeißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({120}) Detlev von Larcher Christine Lehder Waltraud Lehn Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({121}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({122}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Ulrike Mascher Christoph Matschie Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Dr. Jürgen Meyer ({123}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Michael Müller ({124}) Jutta Müller ({125}) Christian Müller ({126}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({127}) Gerhard Neumann ({128}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Georg Pfannenstein Johannes Pflug Dr. Eckhart Pick Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({129}) Birgit Roth ({130}) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Dieter Schloten Horst Schmidbauer ({131}) Ulla Schmidt ({132}) Silvia Schmidt ({133}) Dagmar Schmidt ({134}) ({135}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({136}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({137}) Brigitte Schulte ({138}) Reinhard Schultz ({139}) Volkmar Schultz ({140}) Ilse Schumann Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz ({141}) Dr. Angelica SchwallDüren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid SkarpelisSperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wieland Sorge Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl ({142}) Dr. Peter Struck Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Simone Violka Ute Vogt ({143}) Hans Georg Wagner Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({144}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber ({145}) Hans-Joachim Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek ({146}) Jürgen Wieczorek ({147}) Heidemarie WieczorekZeul Heino Wiese ({148}) Brigitte Wimmer ({149}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf ({150}) Waltraud Wolff ({151}) Heidemarie Wright Vizepräsidentin Petra Bläss Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU Wolfgang Börnsen ({152}) Axel Fischer ({153}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gila Altmann ({154}) ({155}) Volker Beck ({156}) Angelika Beer Matthias Berninger Annelie Buntenbach Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Franziska EichstädtBohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Andrea Fischer ({157}) Rita Grießhaber Winfried Hermann Antje Hermenau Ulrike Höfken Dr. Angelika KösterLoßack Steffi Lemke Dr. Reinhard Loske Oswald Metzger Klaus Wolfgang Müller ({158}) Kerstin Müller ({159}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Claudia Roth ({160}) Irmingard ScheweGerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({161}) Werner Schulz ({162}) Christian Simmert Christian Sterzing Jürgen Trittin Ludger Volmer Helmut Wilhelm ({163}) Margareta Wolf ({164}) PDS Monika Balt Heidemarie Ehlert Dr. Heinrich Fink Wolfgang GehrckeReymann Dr. Klaus Grehn Uwe Hiksch Dr. Barbara Höll Carsten Hübner Sabine Jünger Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Kutzmutz Heidemarie Lüth Angela Marquardt Manfred Müller ({165}) Kersten Naumann Christine Ostrowski Petra Pau Christina Schenk Dr. Ilja Seifert Dr. Winfried Wolf Enthalten CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine BergmannPohl Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({166}) Dankward Buwitt Manfred Carstens ({167}) Peter H. Carstensen ({168}) Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß Renate Diemers Thomas Dörflinger Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ulf Fink Ingrid Fischbach Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich ({169}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({170}) Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Horst Günther ({171}) Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser ({172}) Hansgeorg Hauser ({173}) Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Hans Jochen Henke Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Klaus Holetschek Josef Hollerith Siegfried Hornung Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Harald Kahl Steffen Kampeter Dr. Dietmar Kansy Irmgard Karwatzki Volker Kauder Ulrich Klinkert Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers ({174}) Dr. Norbert Lammert Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({175}) Eduard Lintner Dr. Manfred Lischewski ({176}) Dr. Michael Luther Erich Maaß ({177}) Dr. Martin Mayer ({178}) Wolfgang Meckelburg Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({179}) ({180}) Bernd Neumann ({181}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Eduard Oswald Norbert Otto ({182}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Christa Reichard ({183}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({184}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt Rossmanith Adolf Roth ({185}) Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Dr. Jürgen Rüttgers Anita Schäfer Hartmut Schauerte Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({186}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({187}) Andreas Schmidt ({188}) Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram Vizepräsidentin Petra Bläss Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Erika Schuchardt Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Werner Siemann Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({189}) Michael Stübgen Dr. Rita Süssmuth Dr. Susanne Tiemann Dr. Hans-Peter Uhl Gunnar Uldall Arnold Vaatz Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Peter Weiß ({190}) Gerald Weiß ({191}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({192}) Hans-Otto Wilhelm ({193}) Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({194}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Aribert Wolf Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zöller Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO; der OSZE oder der IPU Abgeordnete({195}) Bühler ({196}), Klaus, CDU/CSU Freitag, Dagmar, SPD Dr. Hornhues, Karl-Heinz, CDU/CSU Dr. Leonhard, Elke, SPD Zierer, Benno, CDU/CSU Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Ich erteile jetzt für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Elmar Müller das Wort.

Elmar Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Eine offensichtlich unvermeidliche - wenn auch zweifelhafte - Tradition haben wir von Bonn nach Berlin gerettet. Es ist jene Tradition, die der frühere Postminister, unser Kollege Wolfgang Bötsch, einmal so bezeichnet hat: Die Postdebatten werden generell im Schutze der Dunkelheit im Deutschen Bundestag geführt. Diese Tradition führen wir heute fort. Bei allem Verständnis, Herr Kollege Barthel, hoffe ich, daß Sie anläßlich weiterer Debatten zu diesem Bereich trotzdem versuchen, irgendwann einmal einen Tagestermin zu erhalten. ({0}) Die PUDLV, die Post-Universaldienstleistungsverordnung, hat eine lange Geschichte. Mit ihr wird eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates umgesetzt. Die Umsetzungsfrist ist bereits im Februar dieses Jahres abgelaufen. Die Bundesregierung hat sich ein ganzes Jahr für die Umsetzung Zeit genommen. Die in diesem Zusammenhang erforderlichen Gespräche waren sicherlich nicht einfach, Herr Staatssekretär Mosdorf. Allerdings muß auch gesagt werden: Der Vorgang, der zu dieser Verzögerung geführt hat, spricht in dieser Hinsicht Bände. Die Bundesregierung hat sich mit dieser Umsetzung deshalb so schwer getan und so viel Zeit gebraucht, weil sie geglaubt hatte, sie könne die Post AG zwingen, mit der Postgewerkschaft vorweg einen Vertrag abzuschließen, der die Zahl der eigenbetriebenen Postfilialen in einer möglichst hohen Zahl festschreibt. Die Post hat verständlicherweise zu diesen Forderungen und dem diesbezüglichen Druck seitens der Regierung nein gesagt. Deshalb hat die Regierung in dieser Verordnung eine bestimmte Filialzahl festgelegt. Da Postgesetz und EU-Richtlinie lediglich Vorgaben zu Mindestqualitätsmerkmalen einschließlich Beförderungsbedingungen sowie die Festlegung des erschwinglichen Preises verlangen, die Zahl der Postfilialen also mit der PUDLV überhaupt nichts zu tun hat, kann es sich nur um die Einlösung eines Versprechens gegenüber der Postgewerkschaft handeln, die offensichtlich für ihre Leistung während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr eine Gegenleistung erwartet. ({1}) Das Schlimme ist nun aber, daß die Bundesregierung mit dieser Auflage zum einen die Börsenfähigkeit der Post erheblich schwächt und daß sie dies zum anderen auf Kosten der Verbraucherpreise tut. Denn 5 000 eigenbetriebene Postfilialen sind so teuer wie 10 000 Postagenturen. Hier sind Gewerkschaftsforderungen in eine Rechtsverordnung geschrieben worden, die darin überhaupt nichts zu suchen haben. Der Verbraucher zahlt nun die Zeche in Form von Posttarifen, die höher sind, als sie sein müßten. Für wie dumm hält eigentlich die Bundesregierung die Öffentlichkeit, wenn sie in der Begründung dieser Rechtsverordnung schreibt, sie erwarte positive Auswirkungen auf das Verbraucherpreisniveau, gleichzeitig aber Post AG und der Wirtschaftsminister erklären, daß das Briefporto in den kommenden Jahren stabil bleibe? In der Begründung der PUDLV wird sogar von möglichen Tarifsenkungen durch den eintretenden Wettbewerb gesprochenen. Meine Damen und Herren, das ist genau die Formel, nach der diese Bundesregierung seit einem Jahr die Bürger abzockt. Wenn die Regierung sagt, der Bürger soll entlastet werden, dann weiß der Bürger inzwischen, sie will ihn um sein Geld erleichtern. ({2}) Vizepräsidentin Petra Bläss Die Wahrheit ist doch: Der Post wurde im September 1997 durch den damaligen Regulierer, den Postminister, eine 10prozentige Erhöhung des Portos für Briefe, Postkarten und adressierte Briefsendungen, die über 5,50 DM liegen, genehmigt, weil sie, wie sie damals sagte, unter anderem zur Aufrechterhaltung ihres Filialnetzes 2 Milliarden DM wegen Abmangel aus den Monopoleinnahmen zuschießen müsse. Sie hatte nach ihren eigenen Angaben auch deswegen diesen Abmangel, weil die Postbank am Schalter mehr Kosten verursache, als sie der Post für ihre Leistungen abgelte. Die Portoerhöhung für Briefe ab September 1997 das war eine gute Entscheidung - ist vom damaligen Postminister bis zum 31. August nächsten Jahres begrenzt worden. Danach, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, erwarten wir von Ihnen, daß Sie uns dabei unterstützen, daß die Kunden endlich an den Produktionsfortschritten der Post - etwa durch den Aufbau der 83 Briefzentren - in Form von Portosenkungen beteiligt werden, wir also nach diesem Termin für eine Portosenkung sorgen. ({3}) Der Abbau von mehr als 60 000 Arbeitsplätzen, den die Post inzwischen vollzogen hat, wurde doch immer mit Produktionsfortschritten begründet und nicht damit, daß man milliardenschwere Unternehmenszukäufe finanzieren wolle. Die Rechtslage stellt sich folgendermaßen dar: Wenn die Post an der heutigen Höhe des Portos für Standardbriefe festhalten will, muß sie einen neuen Antrag bei der Regulierungsbehörde stellen. ({4}) Wenn nichts geschieht, wird das Porto im reservierten Bereich ab September 2000 gesenkt. Anstatt aber die Interessen der Endverbraucher zu vertreten, setzt Rotgrün noch eins drauf, indem das zarte Pflänzlein des Wettbewerbs durch § 6 dieser PUDLV gefährdet wird. Man tritt zwar für einen Einheitstarif ein, aber gleichzeitig will man individuelle Preisabsprachen mit Großkunden zulassen. Den Monopolisten, der fünf Jahre nach der Privatisierung immer noch mehr als 99 Prozent Marktanteil im reservierten Bereich hat, jetzt auch noch zu ermächtigen, Preisabsprachen im Rahmen der Exklusivlizenz treffen zu dürfen, führt zur unerträglichen Ungleichbehandlung der Kunden, die auf Leistungen der Post AG angewiesen sind. Der Privatkunde hat eben keine Ausweichmöglichkeit. ({5}) Preisliche Sondervereinbarungen sind heute bereits Gegenstand von Beschwerden bei der Regulierungsbehörde und haben offensichtlich nur das Ziel, den Kunden langfristig an den Monopolisten zu binden. Der Wettbewerb, der laut Begründung durch die PUDLV herbeigeführt werden soll, wird in Wirklichkeit vielmehr unterbunden. Man muß sich einmal konkrete Fälle der Praxis vorstellen: So finanziert Tante Frieda mit dem von ihr zu bezahlenden überhöhten Briefporto den Großkundenrabatt von Beate Uhse. Das ist moralisch zumindest zweifelhaft. ({6}) Im Zusammenhang mit der überfälligen Portosenkung, die Sie vermutlich mit der Annahme dieser zustimmungspflichtigen Rechtsverordnung verhindern wollen, möchte ich Ihren Blick noch auf einen besonderen Vorgang richten, der im Amtsblatt der EU vor wenigen Tagen - am 23. Oktober 1999 - veröffentlicht wurde. Wie Sie wissen, gibt es ein Verfahren vor der Kommission gegen die Post wegen des Vorwurfs der Quersubvention vom Monopol- in den Wettbewerbsbereich. In diesem Amtsblatt nimmt die Kommission wie folgt Stellung - ich zitiere -: Tatsächlich sind sie - die Einnahmen im reservierten Bereich höher, als es für diesen Zweck notwendig ist. Jede Überkompensierung des Universaldienstes ist jedoch weder durch die Postrichtlinie noch durch Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag zu rechtfertigen, da sie nicht dazu dient, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse sicherzustellen. Herr Staatssekretär, meine verehrten Kollegen von der Koalition, ich denke, daß dieses Signal von Ihnen vernommen wurde. Deshalb gehe ich davon aus, daß Sie mit uns gemeinsam im nächsten Jahr für die Senkung des Portos im reservierten Bereich eintreten werden. ({7}) Mir fehlt die Zeit, um auf die leidvollen Erfahrungen der Kommunen bei der Schließung von Postfilialen einzugehen. Jeder Kollege hat in seinem Wahlkreis ausreichend Erfahrungen mit der Post und ihrem Vorgehen gemacht. ({8}) Im übrigen lief das in der Vergangenheit immer so ab, Herr Kollege Barthel: Wenn irgendwo eine Postfiliale geschlossen werden sollte, dann sind Postgewerkschaft und SPD vor Ort in eine Kampagne mit der Behauptung eingetreten, die Regierung Kohl nimmt euch eure Postfiliale weg. ({9}) Mit Annahme der PUDLV beginnt aber ab sofort eine Welle von mehr als 2 000 ersatzlosen Filialschließungen. Damit es da keinen Zweifel gibt, meine Damen und Herren von Rotgrün: Weil Sie bis zur Bundestagswahl behauptet haben, das seien unsere Schließungen - also Schließungen der CDU/CSU -, will ich sagen: Die mehr als 2 000 Filialschließungen, die ab morgen über das Land rollen werden, sind Ihre Filialschließungen. ({10}) Die Regelung in § 2 der Verordnung, wonach bei Veränderung stationärer Einrichtungen das Benehmen mit den zuständigen Gemeinden mindestens 10 Wochen vorher herzustellen ist, entspricht der jetzigen freiwilligen Vereinbarung. Wir hoffen, daß sich die Post mehr als in der Vergangenheit an diese Zehnwochenfrist hält. Elmar Müller ({11}) Eine Bemerkung zur Pressepost. Herr Staatssekretär, es ist richtig, daß wir in der früheren Koalition insoweit einen Dissens hatten. Es war der Wunsch sowohl des früheren Postministers als auch der Fraktion, daß wir diesen Teil mit aufnehmen. Die SPD hat mit gutem Recht eine andere Position vertreten; mit gutem Recht deshalb, weil bis heute die Pressepost ohne Zweifel von jedermann bestellt und von jedermann empfangen werden kann, ohne daß es dazu eine Universaldienstverpflichtung gibt. Dieses Universaldienstgebot in der PUDLV wird im übrigen insofern keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen, als der Bund für eine eventuelle Subventionierung einer solchen Pressepost - das wäre allerdings ein anderer Fall - keinerlei Ansprüche gegen sich akzeptiert. Als letzten Punkt will ich das Beförderungsverbot von Briefsendungen mit rassendiskriminierendem Gedankengut auf der Außenseite ansprechen. Solche rassendiskriminierenden Sendungen waren bisher schon, durch das Strafgesetzbuch gestützt, von der Beförderung zurückzuweisen. Es bestand also überhaupt keine Notwendigkeit, dies jetzt in die Post-Universaldienstleistungsverordnung aufzunehmen. Jetzt verlagern Sie nämlich die Entscheidung darüber auf die Briefträger. Weil Sie selbst offensichtlich nicht in der Lage sind, eine entsprechende Definition vorzulegen, erwarten Sie, daß die Post dazu eine betriebsinterne Richtlinie für ihre Briefträger erläßt. Das ist genau die Bürokratie und die handwerkliche Schludrigkeit, mit der Sie Gesetze machen. Wir haben es ja erst heute wieder erlebt. ({12}) Als braver Erfüllungsgehilfe von Gewerkschaftsbeschlüssen, deren Folgen man in diesem Fall wirklich nur vermuten kann und die Sie noch gar nicht übersehen können, schieben Sie die Verantwortung auf die Briefträger ab. Sie werden dadurch das Vertrauen der Postkunden in die Post nicht fördern. Ganz im Gegenteil: Sie werden das Vertrauen beschädigen. Wenn Sie nämlich die Briefträger als Briefschnüffler verpflichten, dann wird das den Postkunden nicht gefallen. ({13}) Abschließend, meine Damen und Herren: Der Bundestag kann bei einer Rechtsverordnung, die von der Bundesregierung formuliert worden ist, keinerlei Änderungen beschließen, sondern darf nur ja oder nein sagen. Unserer Meinung nach überwiegt trotz einiger unterstützenswerter Passagen - das darf gesagt werden - das Mangelhafte an dieser PUDLV. Wir lehnen sie deshalb ab. Vielen Dank. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich wollte ich sagen, daß ich froh bin, daß sich nach den Turbulenzen dieses Tages endlich wieder eine sachliche Debatte einstellt. Ich muß aber leider sagen, daß ich das nach dem Beitrag von Elmar Müller nicht mehr sagen kann. Er hat doch sehr polemisch und vor allen Dingen am Thema vorbei geredet. ({0}) Ich möchte mich dennoch an die Vorgabe halten, hier sachlich über die PUDLV zu sprechen. Dies ist im übrigen ein ungeheuer symphatischer Name. Auch im Postbereich bekommen wir nun Schritt für Schritt wie im Strom- und Telekommunikationsbereich Wettbewerb. Das bedeutet eine große Transformation, die politisch auch gewollt ist. Eines aber muß verhindert werden - daran sollten wir gemeinsam arbeiten -: Die Unternehmen einschließlich der Deutschen Post AG sollten sich nicht nur die Rosinen herauspicken. Das würde nämlich in der Konsequenz dazu führen, daß bestimmte Kundengruppen insbesondere im ländlichen Raum keinen ausreichenden Zugang mehr zu Postdienstleistungen haben. ({1}) Das ist nicht, wie Sie gesagt haben, Herr Müller, eine Interessenvertretung der Gewerkschaften, sondern in der Tat eine Interessenvertretung des Endverbrauchers. ({2}) Es liegt nämlich im Interesse des Endverbrauchers, daß jeder Zugang zu Postdienstleistungen hat. ({3}) Diese Verordnung ist richtig, wichtig und überfällig. Sie setzt Mindeststandards, die künftig im Postbereich gelten sollen. Beispielsweise garantiert sie ein ausreichendes Netz von Postfilialen im ganzen Land - das finde ich sehr wichtig -, mindestens 12 000. Sie ermöglicht der Deutschen Post AG aber gleichzeitig - das halte ich für ausgewogen - ein ausreichendes Maß an Flexibilität bei der Umsetzung dieser Vorgabe. So wurde in der Verordnung geregelt, daß die Poststellen auch als Postagenturen betrieben werden können. Das macht Sinn; denn das Postamt ist nicht in jedem Ort tatsächlich voll ausgelastet. Es ist deswegen richtig, die Post entscheiden zu lassen, in kleinen Ortschaften nicht einen däumchendrehenden Postbeamten zu finanzieren, sondern in diesem Fall beispielsweise den Tante-EmmaLaden um die Ecke diese Zusatzdienste übernehmen zu lassen - natürlich nach entsprechender Schulung der Mitarbeiter. ({4}) - Ich habe nicht dagegen protestiert. ({5}) Elmar Müller ({6}) Zum Verkauf von Briefmarken und zur Entgegennahme von Päckchen bedarf es nicht immer der Postangestellten. Hinzu kommt, daß der Tante-Emma-Laden meist länger geöffnet hat als das Postamt und sich die Kunden außerdem einen Weg sparen. ({7}) Die Garantie, daß jeder Zugang zur Post hat, ist durch die der Post gegebene Möglichkeit der flexiblen Gestaltung in der PUDLV gut umgesetzt. Daneben ist in der Verordnung geregelt, daß es mindestens 5 000 Poststellen gibt, die von posteigenem Personal betrieben werden. Auch dies erfolgt in abgewogener Weise: Einerseits besteht ein flächendeckendes Netz, andererseits werden nicht unnötig Arbeitsplätze bei der Deutschen Post AG abgebaut. Die Verordnung regelt darüber hinaus, daß grundsätzlich in zusammenhängend bebauten Gebieten für alle in maximal 2 000 Metern ein Postamt erreichbar ist. Dieses Recht ist natürlich nicht individuell einklagbar, zum einen aus verfassungsrechtlichen Gründen das wissen Sie -, zum anderen, weil eine solche Regelung einen sehr starren Charakter hätte. Als Ziel aber ist dies in der Verordnung formuliert. Wir wissen von einigen Fällen - dies wurde schon angesprochen -, daß Postämter von der Deutschen Post AG geschlossen wurden, obwohl eine rege Nachfrage der Postkunden bestand. In Waldheim beispielsweise geschah dies 1993. Seitdem betreibt eine Bürgerinitiative ein Bürgerpostbüro. Die Post wird dort gesammelt und von freiwilligen Helfern zur nächsten Postfiliale gebracht. Das Engagement der Waldheimer in allen Ehren, ich frage mich aber doch, warum die Deutsche Post AG in diesem Fall bei ihrer Haltung bleibt und nicht wenigstens eine Postagentur in Waldheim eröffnet. Ich fordere deswegen die Post AG auf, die Spielräume, die wir ihr mit dieser Verordnung gegeben haben, zu nutzen, zugleich aber so kundenfreundlich zu bleiben, daß tatsächlich das Ziel erreicht wird, jedem den Zugang zu den Dienstleistungen der Post zu ermöglichen. ({8}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat sich mit der vorliegenden Verordnung bemüht, eine ausgewogene Regelung unter Abwägung der wirtschaftlichen Interessen der Post auf der einen Seite und der Kunden- und Infrastrukturinteressen auf der anderen Seite zu finden. Die PUDLV schafft endlich Klarheit bei der Ausgestaltung des Postgesetzes, was ja auch notwendig ist. Man kann sich im Blick auf den Antrag der PDS nun darüber streiten, ob ein Briefkasten alle 1 000 Meter oder alle 500 Meter vorgeschrieben wird. Ich zweifele aber daran, ob der Sachverstand der PDS in diesem Fall größer als der des Wirtschaftsministeriums ist. ({9}) Man muß nämlich folgendes sehen: Wenn man zu viele Briefkästen vorschreibt, dann erhöht man dadurch den finanziellen Aufwand der Post. Dies erhöht wiederum die Kosten, die an den Bürger weitergegeben werden müssen. Erhöhte Portokosten sind aber nicht im Sinne der sozialen Gerechtigkeit. Deswegen muß man zwischen zwei Bedingungen abwägen: Die Briefkästen müssen möglichst jedem zugänglich sein; die räumlichen Anforderungen dürfen zugleich nicht zu hoch sein. Ich glaube, daß das in dieser Verordnung gut gelungen ist. Darüber hinaus steht es dem Unternehmen Post AG frei, bei Bedarf mehr Briefkästen aufzustellen; denn hier werden lediglich Mindeststandards formuliert. Die Post ist gut beraten, ihren Standortvorteil, daß sie im Gegensatz zu allen Alternativanbietern in der Fläche präsent ist, in Zukunft auf keinen Fall aus der Hand zu geben. Wenn nun Wettbewerb kommt, kann man einem Unternehmen die Entscheidung nicht komplett per Verordnung abnehmen. Insofern handelt es sich hier um einen ausgewogenen Entwurf, in dem beides berücksichtigt wird. Danke. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion. ({0})

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Post-Universaldienstleistungsverordnung ist nicht nur ein Wortungetüm. Der Entwurf atmet auch inhaltlich den Mief der alten Postbürokratie und des Dirigismus. ({0}) Beides sollte eigentlich mit der Öffnung des Postmarktes für Wettbewerb der Vergangenheit angehören. Gerade beim Postgesetz haben wir uns - auch im Vermittlungsausschuß, im übrigen zusammen mit der SPD große Mühe gegeben. Wir alle - auch die SPD, damals durch Herrn Bury vertreten - wollten damals die Universaldienstleistung für den Zeitungsdienst und die InfoPost nicht. ({1}) Bürger und Wirtschaft haben ein großes Interesse an Postdienstleistungen, die besser auf ihre Bedürfnisse eingehen und die preisgünstig und innovativ sind. Nur im Wettbewerb mit vielen Anbietern ist dieses Ziel erreichbar. Dies sieht man am mutig liberalisierten Telekommunikationsmarkt. Wir haben heute Hunderte von Anbietern, und das dient dem Verbraucher. ({2}) Die Bundesregierung vertraut jedoch im Postbereich nicht auf den Markt. Dies wird aus der PostUniversaldienstleistungsverordnung einmal mehr deutlich. Nicht umsonst hat die Bundesregierung fast ein Jahr gebraucht, um diese Verordnung vorzulegen, galt es doch, die unterschiedlichen Interessen der Post AG, der Gewerkschaften und der Verbraucher möglichst unter einen Hut zu bringen. Dies ist, Herr Staatssekretär, erkennbar nicht gelungen. Vielmehr haben sich die Interessen der Besitzstandswahrer von der Post AG und vor allen Dingen der Gewerkschaften durchgesetzt. Die Verbraucher, die an preiswerten und qualitiativ guten Dienstleistungen interessiert sind, sind vollends unter die Räder gekommen. Nun mag man argumentieren, daß die Post AG für den Börsengang gerüstet und deswegen vor Wettbewerbern geschützt werden müsse. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte sie möglichst viel Geld vereinnahmen und eine schöne Gewinn- und Verlustrechnung vorlegen können. Die Monopolrente soll also dem Anleger die Zeichnung der Aktien versüßen, so scheinen Sie zu denken. Dabei unterschätzen Gewerkschaften und auch die Bundesregierung die Weitsicht der Kapitalanleger und verkennen letztlich auch die Interessenlage der Post AG. ({3}) Nachhaltigen Erfolg an der Börse haben aber nur Unternehmen, die sich dem Wettbewerb stellen, modern strukturiert sind, effizient arbeiten und dabei von mancher liebgewonnenen Gewohnheit Abschied nehmen, die im Monopol einfach entstanden ist. ({4}) In diesem Sinne regelt die Post-Universaldienstleistungsverordnung einfach zuviel. Schon nach dem damaligen Willen aller Beteiligten sind - das habe ich ausgeführt - der Post-Zeitungsdienst und die Info-Post nicht in den Universaldienst mit aufzunehmen, weil das ja überhaupt keinen Sinn macht. Denn auf diesen Gebieten soll ja Wettbewerb herrschen. Ob es zweckmäßig ist, der Post AG im einzelnen vorzuschreiben, wie viele stationäre Einrichtungen - und zwar Poststellen und Tante-Emma-Läden - vorhanden sein müssen, kann tunlichst bezweifelt werden. Die Verfasser der Universaldienstleistungsverordnung, die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben offensichtlich wenig Vertrauen in den Markt. Bei der Telekommunikation können Sie sehen, wie der Markt funktioniert. Damals haben Sie uns ja davor gewarnt. Ich kann nur sagen: Diese Warnung haben wir in den Wind geschlagen; auch Sie sollten jetzt den Markt für Post-Dienstleistungen öffnen. ({5}) Nachdem die Post AG und die Bundesregierung erklärt haben, daß sie noch spätestens im Jahr 2000 den Börsengang wagen wollen, hätte man erwarten können, daß man sich für eine Marktöffnung ausgesprochen hätte - denn Börsengang und Marktregulierung widersprechen einander -, also auch kleineren Wettbewerbern die Möglichkeit gegeben hätte, Post-Dienstleistungen zu erbringen, und nicht versucht hätte, diese PostDienstleister mit Prozessen vom Markt wegzubeißen, wie das zur Zeit von der Post AG gemacht wird. Ich halte es auch für höchst problematisch, daß die Post AG ihr überhöhtes Briefporto von 1,10 DM über den August nächsten Jahres hinaus aufrechterhalten will. Dies dient nur der Quersubventionierung des Paketdienstes, wodurch kleineren Wettbewerbern der Einstieg in den Paketdienst erschwert wird. Im Bereich der Briefpost stehen auch nach der Verordnung zahlreiche Hintertüren für die Post offen, so daß sie den Wettbewerb aushebeln kann. Auch das verurteilen wir. ({6}) Durch die dirigistischen Vorschriften werden die Preise insgesamt - das hat der Kollege Müller ja richtig ausgeführt - für die Verbraucher höher sein, als das bei Marktkonditionen der Fall wäre. Wir lehnen daher dieses Ungetüm von Verordnung ab. Weniger Regulierung, Herr Kollege Mosdorf, wäre mehr gewesen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion.

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es vorweg zu sagen: Die PDS wird der vorliegenden Post-Universaldienstleistungsverordnung nicht zustimmen. Dabei wollen wir nicht verkennen, daß gegenüber den vorhergehenden Entwürfen vor allem dank der beharrlichen Bemühungen der Deutschen Postgewerkschaft eine Reihe von Verbesserungen erstritten worden sind. Wir halten dies dennoch nicht für ausreichend. Wofür wird die Verordnung benötigt? Laut Postgesetz soll sie Inhalt und Umfang der Universaldienste, also der allgemein als unabdingbar angesehenen postalischen Dienstleistungen, festlegen - Dienstleistungen, die nicht für die Regierung erbracht werden, sondern für die Kunden. Und da sind wir beim ersten großen Ärgernis dieser Verordnung: Die Kunden, in deren Interesse es die Post überhaupt gibt, in deren Interesse das Grundgesetz den Bund verpflichtet, angemessene und ausreichende Post-Dienstleistungen zu gewährleisten, haben keine Möglichkeit, ihre im Gesetz und in der Verordnung festgelegten Rechte tatsächlich durchzusetzen. Das ist ein eindeutiger und durch nichts zu rechtfertigender Rückschritt gegenüber der alten Post-Kundenschutzverordnung, die immerhin die Möglichkeit eröffnete, eine öffentliche mündliche Verhandlung zur Durchsetzung von Kundeninteressen zu erzwingen. Das heißt, auf dem Weg von der Post-Kundenschutzverordnung zur Post-Universaldienstleistungsverordnung haben Sie Demokratie abgebaut, statt Demokratie zu stärken. ({0}) Um das ein wenig zu vertuschen, fordern Sie nun in Ihrem Entschließungsantrag, in der nächsten Verordnung die Rechte der Kunden zu stärken. Warum denn nicht gleich? ({1}) Die Post baut unterdessen ihre Leistungen ab. Von 1983 bis heute ist die Zahl der Filialen halbiert worden. Von den heute noch vorhandenen 14 000 Filialen sind knapp 7 000 nur Agenturen mit eingeschränktem Leistungsangebot und ohne Fachpersonal. 2 000 von ihnen droht demnächst das Aus. Und nach 2002 wird das große Filialsterben weitergehen, weil die Politik dem nichts entgegensetzt. Der zweite kritische Punkt der sogenannten PUDLV ist das verordnete Ende des Einheitstarifs für Briefsendungen bis 200 Gramm ab dem Jahre 2003, also nach dem Ende der Exklusivlizenz. Die Regierung argumentiert, daß danach die Preise fallen werden. Für einen bestimmten Zeitraum mag das auch so sein, jedenfalls in Ballungsgebieten, wo sich anfangs die verschiedenen Anbieter gegenseitig auf den Füßen stehen werden, um mit geringstem Aufwand und möglichst billigem Personal höchstmögliche Gewinne herauszuschlagen. In dünnbesiedelten ländlichen Gebieten sieht die Sache dann allerdings ganz anders aus. Man darf gespannt sein, wieviel der Brief von der Nordseeinsel ins Alpendorf dann kosten wird. Eines muß man den wechselnden Regierungen in diesem Land bestätigen: Kontinuität. Mit der von der großen Koalition beschlossenen Privatisierung wurde 1994 das Ziel flächendeckender Postversorgung dem Profitprinzip geopfert, ({2}) obwohl die SPD noch 1990 mit dem Versprechen in den Wahlkampf gezogen war, die Postreform I rückgängig zu machen. Alles vergessen, jetzt ist Liberalisierung angesagt, und alle machen mit. Das Problem ist, daß nur wenige in diesem Land etwas davon haben werden und die vielen anderen es bezahlen müssen. Frau Hustedt, vielleicht wäre es gut gewesen, Sie hätten auch ein paar andere Punkte unseres Antrags zitiert. Denn wir wollen - das ist ganz wichtig - mehr Bürgerinteressen und ein wirkungsvolleres Einspruchsund Klagerecht durchsetzen. In dieser Richtung hatten die Bürger bei Ihrem Gesetz bislang kaum eine Chance. Wir finden es ganz wichtig, daß die Exklusivlizenz für die Deutsche Post nicht 2002 ausläuft, sondern weiter gilt. Das würde Sicherheit für Postbeschäftigte und Postkunden bedeuten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Klaus Barthel, SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Universaldienstleistungsverordnung für die Post definiert jetzt endlich, nachdem dies die alte Regierung trotz entsprechender Ankündigungen seit 1997 nicht geschafft hat, welche Dienstleistungen in welcher Qualität zu welchem erschwinglichen Preis - insofern, Herr Jüttemann: die Preise sind nach oben hin gedeckelt, auch bei Briefen von der Hallig auf die Alm - flächendeckend für jede und jeden zukünftig erwartet werden können. Wir bekennen uns in der Tat dazu, daß wir im Sinne einer modernen Dienstleistungsgesellschaft ein umfassenderes und höherwertiges Angebot an Postdiensten für erforderlich halten, als dies die Konservativen und die Liberalen tun. ({0}) Wir wollen zum Beispiel die Flächendeckung und den erschwinglichen Preis auch für die Beförderung von Zeitungen und Zeitschriften sowie für Pakete bis 20 Kilogramm. Wir wollen dauerhaft 12 000 Filialen bundesweit. An dieser Stelle darf ich daran erinnern: Stand unter der alten Regierung waren 10 000 Filialen, bis 2002 begrenzt. Wir öffnen diese Begrenzung nach oben und sichern 20 Prozent mehr Filialen, auch in der Fläche, in jeder Stadt und in jedem Landkreis. ({1}) Wenn dann Herr Müller einwendet, 10 000 Agenturen entsprächen 5 000 posteigenen Filialen, ist doch die Frage: Warum hat die alte Bundesregierung nicht durchgesetzt, daß es 20 000 Postfilialen gibt, was finanziell dann ja überhaupt kein Problem gewesen wäre? ({2}) Wir wollen - es ist bereits gesagt worden - klarere Kriterien für die Aufrechterhaltung von Filialen: Beibehaltung der 2 000-Meter-Regelung und - aus Gründen der Qualitäts- und Beschäftigungssicherung - 5 000 posteigene Filialen bis Ende 2002. Ich darf daran erinnern: Nach von der alten Bundesregierung gebilligten Plänen wollte die Post AG nach 2002 überhaupt keine oder nur noch in ganz wenigen Ballungszentren posteigene Filialen unterhalten. Wir sichern jetzt bis 2002 ein breites Rückgrat von posteigenen Filialen in der Fläche, das diesen Namen auch verdient. Das bedeutet nebenbei auch Perspektiven für über 25 000 Beschäftigte und dient der Zukunftssicherung von Post und Postbank. ({3}) Wir haben endlich eine Grundlage dafür geschaffen, daß die Post AG jetzt ein Filialkonzept vorlegen kann, das sie vertraglich mit dem Sozialpartner vereinbaren kann und das mit den Kommunen und Ländern abgestimmt werden kann. Wie lange haben wir denn darauf gewartet? ({4}) Universaldienstleistung bedeutet Pflichtleistung zu erschwinglichem Preis. Von dieser Pflichtleistung und von dieser Preisgrenze dürfen aber nicht jene profitieren, die meinen, sie müßten Haß und Rassismus unter das Volk streuen. Kein Postunternehmen, weder die Post AG noch irgendwelche anderen, und kein Beschäftigter dieser Unternehmen darf gezwungen werden, Sendungen zu bearbeiten, deren äußere Gestaltung schon erGerhard Jüttemann kennen läßt, daß sie gegen die Prinzipien der Genfer Antirassismuskonvention verstoßen. ({5}) Dort findet sich eine entsprechende klare Regelung, und dieser Konvention ist die Bundesrepublik vor knapp 30 Jahren beigetreten. Wir vollziehen hier also nur das, wozu wir sowieso verpflichtet sind. Die Union hat dies bis heute abgelehnt; für uns ist das eine Selbstverständlichkeit. ({6}) Verbraucherverbände und Bürgerinitiativen haben die rechtlich abgesicherte Überprüfbarkeit der Vorgaben dieser Verordnung gefordert. Wir sind dieser Forderung im neuen § 5 in Form der Möglichkeit einer Bürgereingabe teilweise gefolgt. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß für weitergehende Vorstellungen an dieser Stelle keine Rechtsgrundlage besteht. Die SPD-Fraktion hält die Bürgereingabe für einen unübersehbaren Fortschritt. Wir werden aber auch ganz genau beobachten, ob die Regulierungsbehörde als Kontrollinstanz diese Eingaben sachgerecht behandelt. Wir wollen auch, daß - dann eben auf anderen rechtlichen Wegen - die Rechte der Kundinnen und Kunden in dieser Frage gestützt werden. ({7}) An dieser Stelle möchte ich auf die entsprechende Passage in unserem Entschließungsantrag hinweisen, in dem wir dieses berechtigte Anliegen mit aufgreifen. Jetzt komme ich zu den Äußerungen, die wir heute gehört haben und die schon seit ein paar Tagen in der Presse herumgeistern. Deshalb haben wir auch die Frage der Finanzierung des Universaldienstes und des fairen Wettbewerbs in die Entschließung aufgenommen. Kollege Elmar Müller hat gegenüber der „FAZ“ am 27. Oktober 1999 erklärt, der Post AG sei die Exklusivlizenz beim Brief und die Portoerhöhung zugestanden worden, um sie in die Lage zu versetzen, „die Infrastrukturauflagen zu tragen“. Wir begrüßen, daß sich Elmar Müller in diesem Punkt unserer Auffassung anschließt. Das heißt nämlich, wir haben einen reservierten Bereich in einem bestimmten Preis- und Mengenvolumen zur Finanzierung des Universaldienstes. Damit dies logisch und europatauglich sowie wettbewerbsrechtlich sauber ist, muß beides, der Universaldienst - das liefern wir jetzt nach und der reservierte Bereich, klar definiert sein. Damit machen wir gemeinsam auch gegenüber der EU-Kommission, der Regulierungsbehörde und gegenüber gewissen Gerichten, die offensichtlich anderer Meinung sind, klar, was der Postgesetzgeber an diesem Punkt gemeint hat. Deswegen freue ich mich über das, was Elmar Müller gesagt hat. Wir sagen ganz klar: Der Universaldienstleister Deutsche Post AG braucht zur Erfüllung seiner Pflichten berechenbare Rahmenbedingungen. Dazu gehört der reservierte Bereich mit auf absehbare Zeit stabilen Entgelten, aber dazu gehören auch faire Chancen im internationalen Wettbewerb. Da kann es eben nicht sein, daß sich in der EU die Liberalisierung so vollzieht, daß ausländische Postunternehmen sich frei auf dem deutschen Markt, der zu zwei Dritteln schon im Wettbewerb ist, tummeln können oder ihre Töchter sich dort tummeln lassen, während in den Herkunftsländern dieser Unternehmen quasi monopolistische Verhältnisse herrschen. ({8}) Das ungleiche Niveau der Liberalisierung in Europa aber nicht nur da - hat bekanntlich schon dazu geführt, daß der Ministerrat der EU die bereits für vergangenen Herbst vorgesehene Vereinbarung weiterer Liberalisierungsschritte vertagt hat - mit Recht. Es macht in dieser Situation überhaupt keinen Sinn, sich von einzelnen EU-Staaten im Verbund mit Union und F.D.P. zur Vereinbarung weiterer Liberalisierungsschritte treiben zu lassen oder für Deutschland schon heute über feste Fristen des Auslaufens der Exklusivlizenz zu entscheiden, während in den meisten europäischen Mitgliedstaaten noch nicht einmal die für Anfang vergangenen Jahres vereinbarten Marktöffnungen vollzogen sind. ({9}) Dann möchte ich an dieser Stelle einmal anmerken, daß sich aus meiner Sicht die Anzeichen dafür mehren, daß die derzeitige deutsche Regulierungspraxis bei Telekommunikation und Post die eigenen nationalen Carrier dadurch benachteiligt, daß in deren deutschen Hauptmarkt alle fast alles tun können, während die Deutsche Telekom und die Deutsche Post AG in vielen Ländern mit Hürden zu kämpfen haben. Ich will nur ein Beispiel nennen: Postmarkt Niederlande. Der Delegation unseres Unterausschusses haben sie dort frank und frei, ganz liberal, erklärt, daß im dortigen, ohnehin verspäteten Postgesetz an so etwas wie einen freien Netzzugang überhaupt nicht gedacht sei, den es bei uns seit Jahren in extensiver Form gibt und von dem die niederländischen Postunternehmen in der Bundesrepublik massiven Gebrauch machen. An dieser Stelle wundere ich mich schon über den Kollegen Müller, wenn er in demselben „FAZ“Gespräch beklagt, die Post habe die Mehreinnahmen aus dem reservierten Bereich aber auch für Großeinkäufe von 10 Milliarden DM verwendet. Er leitet daraus die Forderung nach Gebührensenkungen und einem baldigen Ende der Exklusivlizenz ab, um sich dann aber wieder zu beklagen, daß die Post AG Rabatte an Großkunden geben darf. Also was denn jetzt? Wettbewerb ja, Gebührensenkungen ja, Rabatte nein? Wir wissen doch alle, daß 85 Prozent des Postgeschäfts mit Großkunden gemacht werden. Vor diesem Hintergrund laufen die Forderungen von Union und F.D.P. darauf hinaus zu sagen: Die Post AG muß erstens in dem Umfang Universaldienst leisten, den wir heute beschließen, übrigens auch auf Drängen und mit Unterstützung aller unionsgeführten Länder im Klaus Barthel ({10}) Bundesrat. Vielleicht könnte sich die Union hier im Haus mit den Landesregierungen koordinieren. ({11}) Weiter mit den Forderungen der Union und F.D.P.: Die Post AG muß zweitens ihre Tarife senken. Sie darf drittens ihren Großkunden keine Rabatte anbieten und muß viertens ihren reservierten Bereich ganz schnell verlieren. Das heißt, die Post AG muß alle Lasten tragen und ist gleichzeitig im Wettbewerb gefesselt. Das ist für die Konkurrenz eine komfortable Lage. Auf diesem Weg entsteht alles mögliche, aber kein fairer Wettbewerb. Es war immer der Einwand der Liberalisierungsgegner, daß die Großkunden von der Liberalisierung mehr profitieren, egal, ob bei der Telekommunikation, beim Strom oder bei der Post. So kommt es natürlich jetzt. Daß die Krokodilstränen über diese Tatsache jetzt ausgerechnet von den Propagandisten der Liberalisierung kommen, ist doch ein Schmierentheater sondergleichen. ({12}) Wenn ich mich recht erinnere, war es doch die alte Bundesregierung, die die Liberalisierung der Postmärkte mit der internationalen Entwicklung und Globalisierung sowie damit begründet hat, daß die Deutsche Post AG international wettbewerbsfähig gemacht werden müsse. Die Post mußte ja deswegen auch von einer Einrichtung des öffentlichen Dienstes zu einer Aktiengesellschaft werden. Deswegen soll sie auch an die Börse gebracht werden. Dafür braucht sie gesicherte Bedingungen - auch einen reservierten Bereich - für die Übergangszeit. ({13}) Wir wissen doch alle, daß im Zuge der vielstrapazierten Globalisierung auch ein Unternehmen wie die Deutsche Post AG im Wettbewerb nur überleben kann, wenn sie sich international aufstellt. Es waren doch Union und F.D.P., die das für die Postmärkte immer gefordert haben. Jetzt folgt die Deutsche Post AG diesen Vorschlägen der Liberalisierer Union und F.D.P. Wenn sie das tut, schreien dieselben Zeter und Mordio. Da stimmt doch etwas nicht. ({14}) Anstatt gemeinsam mit der Bundesregierung, Elmar Müller, gegenüber den Institutionen der Europäischen Union und gegenüber gewissen überforderten Verwaltungsrichtern deutlich zu machen, daß wir in der Bundesrepublik nicht nur eine der liberalsten Gesetzgebungen, sondern den faktisch am weitesten geöffneten Postmarkt haben, während in anderen Ländern zwar liberalistisch dahergeredet wird, aber monopolistische Fakten bestehen, während andere Länder - übrigens durchaus nicht völlig abwegig - die Postliberalisierung überhaupt für Unfug halten, liefern jetzt die Vertreter von Union und F.D.P. Argumente gegen die Kunden und gegen die Arbeitsplätze in Deutschland, indem sie von Beihilfen, Quersubventionierung und überdimensionalen Einnahmen aus dem reservierten Bereich faseln. ({15}) Sie bauen diese ganze gegen die Marktbedingungen, gegen die Unternehmen und gegen die Arbeitsplätze in Deutschland gerichtete Argumentation mit auf und erklären dann ganz treuherzig, wegen all dieser Widrigkeiten sei nun der Börsengang der Deutschen Post AG gefährdet. Ich darf Sie daran erinnern: Es war doch die von Ihnen getragene Bundesregierung, die den Börsengang geplant und terminiert hat. Da beißt sich doch der Hund selbst in den Schwanz und jault, weil es weh tut. ({16}) Wir warnen an dieser Stelle vor einer populistischen Gebührensenkungsdebatte. Für Entgelte gibt es Verfahren, die außerhalb dieses Gebäudes stattfinden. Wir haben mit der Post-Universaldienstleistungsverordnung mehr Klarheit in die Rechnungs- und Begründungszusammenhänge gebracht, auch hinsichtlich der Gebührenfrage. Wer ohne diese Rechnungen und Erwägungen jetzt zu laut schreit, der setzt sich der Gefahr aus, wegen des billigen Effekts und wegen ein paar Pfennigen Porto erstens die Erbringung des Universaldienstes zu gefährden, zweitens die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Carriers zu beeinträchtigen und drittens Zigtausende von Arbeitsplätzen aufs Spiel zu setzen. Zu deutsch: Was nützt es dem Handwerker, wenn das Briefporto um 10 Pfennig billiger wird, aber wenn er nur noch jeden zweiten Tag die Post zugestellt bekommt und wenn er seine Sendungen am Heimatort nicht mehr aufgeben kann, weil es keinen Universaldienst mehr gibt? Mit den paar Pfennigen Ersparnis kann er den Mehraufwand, den er aufbringen muß, um in die Kreisstadt zu fahren, bestimmt nicht finanzieren. ({17}) Unsere klare Linie ist: Den Universaldienst brauchen die Postkundinnen und -kunden im ganzen Land. Zuverlässige Mindestbedingungen brauchen auch die Unternehmen, vor allen Dingen auch die kleinen und mittleren. Das ist ein Standortfaktor. Die Bundesländer und die Kommunen haben das längst begriffen. Diese Infrastruktur kommt nicht von allein und auch nicht durch den Wettbewerb allein. Das ist eine historische und betriebswirtschaftlich logische Tatsache.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

An sich ist Ihre Redezeit zu Ende, Herr Kollege.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Gesetzgeber war und ist gefordert. An dieser Stelle liegt der zentrale Unterschied zwischen Ihrer und unserer Auffassung von Politik. Wir gehen von den Bedürfnissen der Menschen aus. Uns geht es um Arbeitsplätze. Von daher bestimmen wir die Wettbewerbs- und Marktbedingungen. ({0}) Sie von konservativer und liberaler Seite sehen den schrankenlosen Wettbewerb als Selbstzweck. Sie konstruieren ökonomische Sachzwänge und wollen die Menschen in diese Zwänge hineinpressen. Mit unserer Klaus Barthel ({1}) Post-Universaldienstleistungsverordnung haben wir einen wesentlichen Schritt in Richtung Klarheit auf dem Postmarkt getan. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluß kommen.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Kernbotschaft des heutigen Tages lautet: Unsere neue PUDLV beendet den Filialabbau. Keine Postmoderne ohne moderne Post! ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu der zustimmungsbedürftigen Post-Universaldienstleistungsverordnung, Drucksache 14/1696. Der Ausschuß empfiehlt auf der Drucksache 14/1971, der Verordnung zuzustimmen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ist die Beschlußempfehlung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen, Drucksache 14/1972. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Gegenstimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ist der Entschließungsantrag angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS, Drucksache 14/1973. - Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die PDS-Fraktion. - Wer stimmt dagegen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Hannelore Rönsch ({0}), Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sicherung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/1312 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Tourismus ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Kultur und Medien Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Klaus Brähmig, CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir über den von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebrachten Antrag zur Sicherung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes in der Bundesrepublik Deutschland. Einleitend möchte ich auf die grundsätzliche Bedeutung deutscher Volksfeste für die deutsche Freizeit- und Tourismuswirtschaft und auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des deutschen Schaustellergewerbes eingehen: Zirka 10 000 Volks- und Schützenfeste, Weihnachtsmärkte und Kirmessen tragen zu einer großen Vielfalt des Angebots in der Freizeit- und Tourismuswirtschaft bei und sind somit ein einzigartiger Wirtschaftsfaktor. Mit 67 Prozent der Gesamtbevölkerung als Besucher von Volksfesten und insgesamt über 200 Millionen Besuchern pro Jahr sind die Volksfeste nicht nur der mit Abstand größte Freizeitbereich in Deutschland, sondern sie tragen auch zur Attraktivität des Tourismusstandorts Deutschland und zum Wachstum des Städtetourismus als des nachfragestärksten Segments des Deutschlandtourismus bei. Allerdings wird das Kulturgut Volksfest - im Gegensatz zu anderen Kulturbereichen - nicht durch öffentliche Subventionen unterstützt. Die enorme wirtschaftliche Bedeutung, die die Volksfeste für einzelne Regionen besitzen, wird am Aushängeschild der deutschen Volksfeste, dem Münchener Oktoberfest, schnell deutlich. Die „Wies’n“, mit über 6,5 Millionen Besuchern das größte Volksfest der Welt, erbringt während ihrer 16tägigen Dauer einen Wirtschaftswert von rund 1,4 Milliarden DM. Auf der „Wies’n“ selbst werden dabei zirka 450 Millionen DM umgesetzt. Weitere 380 Millionen DM werden für Einkäufe, Taxifahrten, Verpflegung und Fahrten mit dem Münchener Verkehrsverbund ausgegeben. Annähernd 560 Millionen DM - und damit der Löwenanteil am Gesamtumsatz - resultieren aus Einnahmen aus Übernachtungen der auswärtigen „Wies’n“-Besucher, vor allem auch internationaler Gäste. Neben diesen direkt bezifferbaren Einnahmen darf man allerdings auch nicht den enormen immateriellen Imagegewinn vergessen, den Deutschland als Gastgeber des größten Volksfestes international erzielt. Die sympathischsten Exportschlager Deutschlands sind meines Erachtens die weltweit kopierten Volksfeste wie das Münchener Oktoberfest oder der Nürnberger Christkindlmarkt. Die ganze Welt beneidet uns um unsere Volksfeste. Sie gelten im Ausland als Synonym für deutsche Gemütlichkeit und Geselligkeit, aber auch für Gastfreundschaft und Weltoffenheit. Einen besonderen Beitrag zum Erfolg dieser teilweise Jahrhunderte alten Volksfeste leisten die Schaustellerunternehmen und Marktkaufleute, die sich im DeutKlaus Barthel ({0}) schen Schaustellerbund bzw. im Bundesverband Deutscher Schausteller und Marktkaufleute zu Berufsorganisationen zusammengeschlossen haben. - An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich die Spitzenvertreter des Deutschen Schaustellerbundes, den Ehrenpräsidenten, Herrn Konsul Harry Wollenschläger, den Vizepräsidenten, Herrn Albert Ritter, und den Hauptgeschäftsführer, Herrn Dr. Norbert Weigang, begrüßen, die dieser Debatte beiwohnen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das mittelständisch geprägte Schaustellergewerbe beschäftigt zur Zeit zirka 34 000 Mitarbeiter, einschließlich der mitarbeitenden Familienangehörigen, und erwirtschaftete 1998 einen Gesamtumsatz von zirka 1,3 Milliarden DM. Dies stellt im Vergleich zu 1997 einen Umsatzrückgang von 300 Millionen DM bzw. annähernd 20 Prozent dar. Dieser Einnahmerückgang wird sich durch die zusätzlichen Belastungen, die die neue Bundesregierung durch die Einführung der ersten und zweiten Stufe der Ökosteuer sowie durch die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse in diesem Jahr geschaffen hat, deutlich verschärfen. Schätzungen zufolge ist die Mehrbelastung der Unternehmen des Schaustellergewerbes durch die Ökosteuer 10- bis 20mal höher als die Entlastung durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge. Dies liegt zum einen an den hohen Energiekosten der aufwendigen Fahrgeschäfte sowie an den ständig anfallenden Beförderungskosten von Festplatz zu Festplatz und zum anderen an dem hohen Beschäftigungsanteil von Familienmitgliedern und ausländischen Hilfskräften, für die keine Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden. In Anbetracht der oben genannten Entwicklung sind wir als verantwortlich handelnde Politiker aufgerufen, die Rahmenbedingungen für den Erhalt unserer Volksfeste und des Schaustellergewerbes deutlich zu verbessern. Ein grundsätzlicher Ansatz wäre eine große Steuerreform, die den Namen auch wirklich verdient und zum einen dem Bürger für solche Freizeitvergnügen deutlich mehr Geld in der Tasche läßt und zum anderen den Unternehmen mehr Spielraum für dringend notwendige Zukunftsinvestitionen gibt. Gerade das Schaustellergewerbe muß mit immer neuen Attraktionen für Abwechslung sorgen und sich auf die schnellebigen Trendwechsel im Unterhaltungsbereich einstellen. Neben diesem allgemeinen fiskalischen Lösungsansatz macht die CDU/CSU-Fraktion in ihrem vorliegenden Antrag eine Reihe von Vorschlägen zur spezifischen Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen für die Schaustellerbranche. Exemplarisch möchte ich einige wichtige Lösungsansätze nennen: Im Gaststättengesetz sollte eine standortunabhängige Dauererlaubnis für den Betrieb von reisenden Zeltgaststätten, Imbiß- und Ausschankbetrieben ermöglicht werden. Damit würden Wettbewerbsverzerrungen gegenüber dem konkurrierenden stationären Gewerbe abgebaut. Weiterhin sollte der Bund gerade aus ökologischen Gründen darauf hinwirken, daß für den Bahntransport der Schaustellerbetriebe, zum Beispiel für Achterbahnen und für andere große Fahrgeschäfte, genügend Verladebahnhöfe, Strecken und Transportkapazitäten bereitgestellt werden. Die Bahn darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen. Die Deutsche Zentrale für Tourismus sollte in ihre Marketingaktivitäten im In- und Ausland verstärkt deutsche Volksfeste einbeziehen. Auch hier könnte die DZT mit der von uns immer wieder geforderten Aufstockung der Bundeszuwendung sinnvolle Arbeit leisten. Weiterhin sollte der Bund seinen Einfluß auf Länder, Städte und Gemeinden geltend machen, die Durchführung von Volksfesten nicht zunehmend durch die Anwendung bzw. Erhöhung von Bagatellsteuern, zum Beispiel durch die Erhöhung etwa von Standgebühren, zu erschweren. Das Beispiel Oktoberfest zeigt eindrucksvoll, wie sehr Kommunen von dem Wirtschaftsfaktor Volksfest profitieren. In solchen Fällen liegt es doch im eigenen Interesse, Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe zu nehmen und bei der Erhebung von Steuern und Gebühren Augenmaß zu bewahren. Wir wollen, daß auf dem Volksfest und nicht am Volksfest verdient wird. Es ist schon unglaublich, wenn einem Schausteller vor Ort erklären, daß sie an die Kommunen 50 bis 60 verschiedene Abgaben und Gebühren zu entrichten haben. Nicht mehr Regulierung, sondern Deregulierung heißt das Gebot der Stunde. Ein positives Beispiel für den Interessenausgleich zwischen Kommunen und Schaustellergewerbe ist der Verzicht einiger ostdeutscher Kommunen auf die Gebühren für die Sondernutzung öffentlichen Straßengeländes wie etwa Fußgängerzonen. Dadurch wird das Schaustellergewerbe - im Vergleich zu westdeutschen Kommunen - pro Veranstaltung mit mehreren 10 000 DM entlastet. Um die ökonomische Bedeutung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes für die Volkswirtschaft den Entscheidungsträgern auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu verdeutlichen, benötigen wir schnellstens eine eingehende Studie. Mit einer Fachstudie im Auftrag der Bundesregierung, um deren Unterstützung wir hier ausdrücklich bitten, lieber Kollege Mosdorf, könnten wir den Verantwortlichen auf allen politischen Ebenen eine wichtige Entscheidungshilfe für die sachgerechte Organisation und Durchführung der Volksfeste an die Hand geben. Gleichzeitig bitte ich die Bundesregierung, darauf Einfluß zu nehmen, daß keine wettbewerbsverzerrenden Investitionen mit Rundfunkgebühren - das Zweite Deutsche Fernsehen beabsichtigt dies möglicherweise mit seinem Freizeitpark - getätigt werden. Abschließend möchte ich Sie aufrufen, bei dieser Thematik parteipolitische Erwägungen zugunsten einer sachbezogenen Zusammenarbeit zurückzustellen. Gemeinsam sollten wir uns für die Förderung und den Erhalt deutscher Volksfeste in allen Teilen unseres Vaterlandes einsetzen und das Schaustellergewerbe tatkräftig unterstützen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Ich freue mich, zu diesem Thema zu reden, weil heute Gäste aus dem Schaustellergewerbe unter uns sind. ({0}) Es ist nicht selbstverständlich, daß die Betroffenen selber den Entscheidungsprozeß verfolgen. Dies finde ich sehr angenehm. Ich freue mich sehr, daß Sie hier sind. Ich möchte gleich hinzufügen, daß es der Wunsch des Bundeswirtschaftsministeriums ist, mit Ihnen die Probleme, die es objektiv gibt, in Ruhe und Sachlichkeit zu erörtern. Ich möchte gern den Vorschlag aufgreifen, eine Studie über das Schaustellergewerbe erstellen zu lassen. Auf der Grundlage der in dieser Studie erhobenen Daten können wir gemeinsam versuchen, die Probleme anzugehen. Parteipolitische Polemik lohnt sich in der Tat nicht. Herr Brähmig hat völlig recht. ({1}) Deshalb versage ich es mir auch, Herr Brähmig, darüber zu reden, warum wir nach 16 Jahren so viele Verordnungen, so viele Genehmigungen, so viele Gebühren haben. Wir wollen nach vorne schauen, wollen vernünftige Regelungen hinbekommen, Regelungen, die möglichst unbürokratisch sind. Wir glauben nämlich, daß dies ein mittelständisches Gewerbe ist, von dem man sehr viel Flexibilität verlangt. Und wenn man Flexibilität, Einsatzbereitschaft und auch Selbständigkeit verlangt, dann, finde ich, sollte man das unterstützen und auch mit Flexibilität beantworten. ({2}) Das wäre ein wichtiges Signal an die Branche und an diejenigen, die sich dort engagieren. Ich freue mich sehr darüber, daß wir dieses Thema in diesem Hohen Haus auch einmal unter dem kulturpolitischen Aspekt erörtern. Denn es ist gar keine Frage: Es gibt eine jahrhundertelange Tradition von Kulturfesten, von Volksfesten, auch eine jahrhundertelange Tradition von kulturellen Einrichtungen. Das sind ja meistens Dinge, die jedes Jahr wieder gemacht werden. Städte haben teilweise sogar ihr eigenes Marketingkonzept darauf eingestellt. Viele Familien gehen mit ihren Kindern zu diesen Volksfesten. Ich glaube, es ist wichtig, zu erkennen, daß das eine besondere Tradition ist. Wenn man sich so im angelsächsischen Raum umhört, dann wird schnell klar: Natürlich, die Amerikaner kommen nach Heidelberg. Die Amerikaner kommen auch in andere wichtige Städte. - Heidelberg habe ich jetzt Ihnen zuliebe genannt, Herr Niebel. Heidelberg ist ja auch eine wichtige und stolze Stadt, eine der schönsten Städte in Deutschland. ({3}) - Ja. Wenn man dann bei den Amerikanern noch hinzufügt, daß Deutschland auch für Volksfeste steht, dann wird das bei ihnen sehr genau registriert - übrigens auch bei den Asiaten. Deutsches Brauchtum und deutsche Kultur sind also ein Stück Identität, die hier gepflegt wird. Ich finde es gut, wenn das erhalten bleibt. Deshalb sollten wir alles tun, um die Probleme, die objektiv bestehen, anzugehen. Volksfeste sind auch ein wichtiger Faktor für den Tourismus. Und weil das so ist, sind wir darum bemüht, gerade bei der Deutschen Zentrale für Tourismus um Verständnis dafür zu werben. Sie wissen - auch das will ich hier sagen -, daß sich gerade die Bundesregierung um die Deutsche Zentrale für Tourismus bemüht hat, daß sie sich bemüht hat, die Mittel nicht nur aufzustokken, sondern sie auch stabil zu halten - trotz der Sparmaßnahmen, die anstehen. ({4}) Das ist eine wichtige Sache. Herr Brähmig, wir beide wissen, wovon wir reden, weil wir beide Ihre mittelfristige Finanzplanung kennen. Dort war eine Absenkung vorgesehen. Wir haben das miteinander vermieden, und wir sind uns darin einig, daß das wichtig war. ({5}) - Ja, das ist wichtig, aber das können wir möglicherweise nicht übersehen. Herr Brähmig weiß, wovon er redet. Die Deutsche Zentrale für Tourismus ist eine der wichtigsten Multiplikatoren-Institutionen, die wir im Prozeß der Globalisierung haben. Deshalb haben wir darum gekämpft, daß die Mittel entsprechend ausgestattet werden ({6}) und die Institution erhalten bleibt. Das ist wichtig. Wenn wir dann auch noch etwas für Volksfeste im internationalen Marketing tun können, wäre das, glaube ich, ein wichtiger Fortschritt. Es gibt einen Punkt, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der, glaube ich, besonders wichtig ist und bei dem wir schon einen Fortschritt erzielt haben: Wir haben uns dafür eingesetzt, daß die Schaustellerfahrzeuge nicht mehr schematisch zu einem Termin, der mitten in der Saison liegt, geprüft werden, sondern dies kann, zeitlich passend, außerhalb der betrieblichen Spitzenzeiten erfolgen. Ich weiß, daß das Schaustellergewerbe das sehr begrüßt hat. Wir haben das gemeinsam gemacht. Es ist, glaube ich, ein wichtiger Schritt. Ich will jetzt nicht übertreiben, aber es ist ein wichtiges Zeichen, ein Signal, daß wir pragmatisch an die Lösung dieser Fragen herangehen. Diese Regelung erfolgte im Einvernehmen mit den Schaustellerverbänden und den obersten Landesbehörden. Auch bei den Fahrverboten nach der Straßenverkehrsordnung verfahren die Länder inzwischen mit Ausnahmegenehmigungen für die Schausteller großzügiger. Ich habe die herzliche Bitte, daß Sie sich, wenn es dort Probleme gibt, direkt an uns wenden, damit wir der Sache nachgehen können. Wir wollen nämlich, daß da eine flexible Handhabung stattfindet. Die ebenfalls aufgeworfene Frage, ob wir eine gaststättenrechtliche Dauererlaubnis für reisende Zeltgaststätten und Imbißbetriebe einführen können, wird unser Haus bei der nächsten Sitzung des Bund-LänderAusschusses „Gewerberecht“ erörtern. Wir streben eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Ländern an, um hier eine unbürokratische Lösung zu finden, möglichst viele flexible Formen zu gestatten und damit vielleicht auch eine Form von Regelung zu ermöglichen, die nicht pausenlose Behördengänge verlangt. Das ist, glaube ich, einer der wichtigsten Punkte, um die es überhaupt geht. Wir müssen möglichst bürgernahe Strukturen schaffen. Wir müssen möglichst flexible Einheiten schaffen, damit dieses Gewerbe als wichtiges mittelständisches Gewerbe erfolgreich ist. Wir wollen, daß es Erfolg hat, auch ökonomischen Erfolg, weil das die Voraussetzung dafür ist, daß das Schaustellergewerbe manchmal ein bißchen Licht in den grauen Alltag bringen kann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das ist der Beifall des ganzen Hauses. Nun hat das Wort der Kollege Ernst Burgbacher, F.D.P.-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben es heute tatsächlich mit Produzenten eines ganz besonderen Produkts zu tun, nämlich mit Produzenten der Produkte Freude, Frohsinn und Geselligkeit. ({0}) Kollege Brähmig hat schon auf die wirtschaftliche Bedeutung dieser kleinen und mittelständischen Produzenten hingewiesen. Wir alle haben ihre Produkte sicher in der einen oder anderen Form immer wieder genossen. Diese Produzenten müssen allerdings auf dem äußerst hart umkämpften Markt der Freizeitdienstleistungen arbeiten. Sie kämpfen mit immer verhaltener werdenden Einkommensentwicklungen. Herr Staatssekretär Mosdorf, nachdem Sie es sich versagt haben, gewisse Dinge auszusprechen, will ich es mir nicht versagen, zu sagen, daß dieses Gewerbe natürlich unter dem 630-Mark-Gesetz und unter den beiden Stufen der Ökosteuer leidet. ({1}) Nach allen Informationen, die mir vorliegen, ist das Energiesparpotential weitgehend ausgereizt - es sei denn, die Lichter gehen aus; aber dann gehen wir nicht mehr auf den Jahrmarkt. Nach all meinen Informationen ist es für dieses Gewerbe relativ uninteressant, was an Rentenbeiträgen eingespart wird, weil hier eine andere Beschäftigtenstruktur vorhanden ist. Es gibt ganz andere Probleme, vor denen das Schaustellergewerbe steht. Zum einen beschreiten die Kommunen in ihrer Finanznot, die wir kennen, Wege, die unserer Ansicht nach nicht die richtigen sind. Es werden zum Beispiel Gebühren für verschiedene Dinge erhoben, die die Branche vor große Probleme stellen. Zum anderen gehen die Kommunen mehr und mehr dazu über, solche Fest an private Organisationen zu vergeben. Beides ist sicherlich sehr kritisch zu sehen. Deshalb wird in dem Antrag von der CDU/CSU zu Recht darauf hingewiesen, daß die Gefahr besteht, daß Traditionen verlorengehen und solche Märkte absterben. Ich will darauf hinweisen, wie stark die örtliche Gastronomie und der örtliche Einzelhandel von solchen Volksfesten und Märkten abhängen. Ich komme aus einer Stadt, die einen Markt hat, der über 150 Jahre alt ist. Ich weiß, wie wichtig dieser Markt für die ganze Stadt ist. Für den Einzelhandel ist dieser eine Markttag fast wichtiger als das Weihnachtsgeschäft. Das muß man sehen. Deshalb müssen wir daran interessiert sein, vernünftige Bedingungen zu schaffen. ({2}) Meine Damen und Herren, eines ist ganz klar - und das werden Sie von Liberalen erwarten -: Wir bekennen uns auch hier zur Konkurrenz, zum Wettbewerb. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Es kann nicht sein, daß wir den Schaustellern alle möglichen Auflagen machen und alle möglichen anderen Geschäfte zulassen, die viel weniger belastende arbeitsrechtliche, hygienische und andere Vorschriften beachten müssen. Hier müssen wir angehen und dafür sorgen, daß tatsächlich alle unter den gleichen Voraussetzungen arbeiten. ({3}) Ich sage an dieser Stelle kritisch: Wir haben hier vor zwei, drei Wochen eine Vereinsdebatte geführt. Wir können nicht an einem Donnerstag sagen, jetzt geben wir den Vereinen alle Vergünstigungen, und an einem anderen Donnerstag, heute, die Vereine sollen keine bekommen. Hier müssen wir ein ganzes Stück ehrlicher argumentieren. ({4}) Wir stimmen vielen Punkten in ihrem Antrag zu. Wir werden uns auch in die Ausschußberatungen einklinken und versuchen, zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen. Lassen Sie mich aber zwei Dinge ein wenig kritischer darlegen: Im Antrag wird immer wieder dazu aufgerufen, wir sollten auf die Kommunen einwirken. Das könnte kontraproduktiv sein. Ich halte sehr viel von der kommunalen Selbstverwaltung. Kommunen müssen wissen, was sie tun. Sie müssen in Zusammenarbeit mit den Schaustellern entscheiden. Dafür, daß sie das tun, gibt es genügend gute Beispiele. ({5}) Das zweite: In einigen Bereichen werden neue Regelungen gefordert. Da sage ich: Vorsicht! Ich bin, wie gesagt, dafür, die bestehenden Regelungen auf alle anzuwenden, aber ich bin bei neuen Regelungen skeptisch. Ich fahre bis heute liebend gern Autoscooter, aber ich möchte dabei nicht auch noch die Straßenverkehrsordnung beachten müssen. Damit verschonen Sie uns bitte! ({6}) Noch ein ganz konkreter Punkt: Sie werben für Erleichterungen bei der Vermittlung von ausländischen Arbeitskräften. Ich bitte Sie wirklich herzlich: Überlegen Sie sich einmal, ob nicht der bessere Weg wäre, dem F.D.P.-Antrag auf Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht für legal hier lebende Ausländer zuzustimmen. ({7}) Dann hätten Sie einen großen Teil der Probleme heute schon gelöst. Ich möchte zum Schluß kommen. Ich habe vor einer Stunde, bevor ich hierhergekommen bin, vom DTV eine Broschüre mit einem Gedicht bekommen, das genau zu unserem Thema paßt. Dort heißt es am Schluß: Die Städte sollen‘s Volksfest schätzen, Es lassen auf den alten Plätzen, Gebühren halten stets im Rahmen, Für alle Zeiten, ewig. Amen. ({8}) Lassen Sie mich im Hinblick auf unsere Gäste noch hinzufügen: Wir helfen unseren heutigen Gästen, auch wir woll‘n schließlich weiterfesten. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Sylvia Voß, Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Herr Burgbacher, wir haben ein „Herz für bunte Feste“, könnte man gleich anfügen. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem sich die CDU/CSU vor nicht allzu langer Zeit mit dem bösen Wort vom „Freizeitpark Deutschland“ hervorgetan hat, fällt es mir allerdings ein wenig schwer, heute hier nachzuvollziehen, daß diese hübsche Übersicht über ihre 16jährigen Versäumnisse ein Antrag zur Sicherung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes sein soll. Auf dem parlamentarischen Abend des Schaustellerbundes am 23. Juni dieses Jahres in Bonn hat der Schaustellerbund zu Recht darauf verwiesen, daß er seit Jahren Initiativen ergreife, Volksfeste besser abzusichern. Sehr erfolgreich ist man damit in der vorigen Regierung offensichtlich nicht gewesen. ({0}) Es hätte den christdemokratischen Kolleginnen und Kollegen, die uns heute ihre 17 Forderungen hier präsentieren, ganz gut angestanden, die vom Deutschen Schaustellerbund schriftlich an uns herangetragenen Forderungen nicht einfach abzuschreiben.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin Voß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brähmig?

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ach, Herr Brähmig, wir sehen uns im Ausschuß so oft. Lassen Sie mich jetzt ausreden. Sicherlich ist es erfreulich für den Deutschen Schaustellerbund, daß die CDU/CSU in der Opposition endlich den Mut faßt, der sich in der Regierung partout nicht hatte einstellen wollen. Aber ich denke, wir sollten dabei wirklich gemeinsam vorgehen. Ich möchte allerdings anmerken, daß es in Ihrem vorliegenden Antrag reichlich viel Unverbindlichkeit gibt. Bei vielen Forderungen wird gänzlich darauf verzichtet, Problemlösungen auch nur anzudeuten. Herr Brähmig hat vorhin ein paar genannt. Ich hielte es grundsätzlich für fatal, wenn sich die Opposition dieses Hauses nur als Stichwortgeber der neuen Regierung verstände. Es bleibt beispielsweise völlig im Nebel, welche Vorstellungen Sie mit Ihrer Forderung verbinden, die Bundesregierung möge auf die Kommunen einwirken, Volksfeste in eigener Trägerschaft zu veranstalten. Schweben Ihnen hier Fördermodelle des Bundes oder lediglich gute Worte bei mehr oder weniger passendem Anlaß vor? Dann lesen wir: Der Bund - wohlgemerkt: der Bund möge darauf hinwirken, daß die Vergnügungsteuer und die Schankerlaubnissteuer durch die Gemeinden nicht erhöht werden. - Wie das? Für beide Steuern besitzt der Bund keine Gesetzgebungskompetenz. Die Vergnügungsteuer ist eine örtliche Steuer auf Grundlage eines Landesgesetzes. Die Schankerlaubnissteuer ist es nicht minder. Letztere wird obendrein nur in einer Handvoll Länder überhaupt erhoben. In Rheinland-Pfalz und Hessen liegt die Ertragshoheit der Schankerlaubnissteuer bei den Landkreisen und kreisfreien Städten. Das können und wollen wir auch nicht ändern. Bei einigen Forderungen kann man sich auch nicht des Eindrucks erwehren, daß für die Opposition mit der Erlangung des Status der Opposition eine neue Zeitrechnung begonnen hat. ({0}) Oder wollen Sie dieses Hohe Haus wirklich glauben machen, es hätte bis zum Herbst 1998 den jetzt von Ihnen, Herr Brähmig, konstatierten Regelungsbedarf in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung nicht gegeben? Hat es der von Ihnen jetzt angemahnten besseren Förderung der Schulausbildung von Schaustellerkindern, die völlig richtig ist, unter einer CDU/CSU/F.D.P.-Regierung nicht bedurft? Mit diesen Forderungen stellen Sie sich doch selber ein Armutszeugnis für Ihre Regierungsarbeit aus. Es ist zu hoffen - ich glaube, daß wir das hinbekommen -, daß sich die Antragsteller in den Ausschußberatungen bereitfinden werden, sich den einen oder anderen Gedanken darüber zu machen, wie wir diese berechtigten Forderungen des Schaustellerbundes umsetzen. Bis dahin bleibt Ihr Antrag leider nur ein großes Potpourri schöner Forderungen, das besser zu der Sendung „Wünsch Dir was“ passen würde. Unsere Fraktion nimmt die spezifischen Probleme des Schaustellergewerbes sehr ernst. ({1}) Wir sind bereit, gemeinsam mit den anderen Fraktionen über Problemlösungen zu diskutieren, gefundene Lösungen - unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips durchzusetzen und so wirklich zu Verbesserungen zu gelangen. Immerhin gibt es in Deutschland 10 000 Volksfeste und 5 000 Schaustellerbetriebe, die 1997 einen Umsatz von 1,6 Milliarden DM hatten. 200 Millionen Besucher kamen 1998 auf die Volksfeste. Wir möchten, daß dies so bleibt. Sie sollen tanzen, feiern, fröhlich und zufrieden sein mit dem, was unsere Schausteller bieten. Wir werden alles dafür tun, daß den Schaustellern viele Dinge ermöglicht werden, die sie hier zu Recht einklagen. Aber klar muß auch sein: Es kann keinen besonderen Schutzstatus für das Schaustellergewerbe geben. Das heißt, es wird mit uns keine fragwürdigen Ausnahmeregelungen geben, wie sie von der CDU/CSU beispielsweise für das Bundes-Immissionsschutzgesetz oder die geplante Schwerverkehrsabgabe gefordert werden. Nicht um Ausnahmen soll es uns gehen, sondern darum, offensichtliche Benachteiligungen zu beseitigen, damit wir gemeinsam mit den Schaustellern weiter feiern und fröhlich sein können. Konkurrenz, wie sie beispielsweise von den 20 000 Brauchtums- und Traditionsvereinen ausgehen mag, können und wollen wir nicht eliminieren. Wir wollen ebenso nicht jene Konkurrenz eliminieren, die sich zum Teil aus gravierenden Veränderungen im Freizeitverhalten ergibt, für die Begriffe wie Erlebnisgastronomie, Spaß- und Erlebnismessen, Freizeitparks, Diskotheken, Shopping, Entertainment, Fitneß, Kultur und auch Natur stehen. Abschließend möchte ich meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, daß im Tourismusausschuß offenbar große Übereinstimmung darüber besteht, die Beseitigung der Versäumnisse der früheren Bundesregierung im Hinblick auf das Schaustellergewerbe engagiert anzugehen und zu Verbesserungen zu kommen. ({2}) Hoffen wir alle, daß dann auch in unseren Ausschußberatungen gilt: Der Jahrmarkt raubt uns den Verstand, Für kurze Zeit nur, Gott sei Dank. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort die Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte die Gäste auf der Tribüne, die unsere Debatte heute mitverfolgen, herzlich begrüßen. Ich denke, daß sie viele gute Ideen und sicherlich auch einige Positionen, die hier zum Ausdruck gebracht werden, in ihre Vereine und Verbände mitnehmen werden. Ob es das Volksfest, die Kirmes, Stadt- oder Vereinsfeste sind, sie alle haben eine Signalwirkung, nämlich die, endlich wieder einmal einen Tag der Gemeinsamkeit in Freude und Tanz zu genießen. Wie war und ist es aber um diejenigen bestellt, die dafür Sorge tragen, daß die Feste im wahrsten Sinne des Wortes Volksfeste werden und sich zunehmender Beliebtheit erfreuen? Nicht zum erstenmal artikuliert das Schaustellergewerbe mit Nachdruck seine Wünsche an die Politik. Wenn auch zu begrüßen ist, daß durch den Antrag der CDU/CSU die aktuellen Probleme des Schaustellergewerbes auf die Tagesordnung gesetzt werden, kann ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen - darauf ist heute schon öfter hingewiesen worden -: Ein paar Tage während Ihrer Regierungszeit hätten Sie schon übrig haben sollen, um den Fragen des Schaustellergewerbes entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken. ({0}) Ihr Antrag wäre darüber hinaus vollständiger gewesen, wenn zum Beispiel das europaweit größte Frühlingsfest, der „Sommergewinn“ in Eisenach, erwähnt worden wäre. ({1}) Von Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierung, erhoffe ich mir baldige Lösungen. Herr Mosdorf hat hier ja schon einige Vorschläge gemacht. Ich denke, daß das auch richtige Schritte in die richtige Richtung sind. Aus der Sicht meiner Fraktion ist unter anderem noch für Abhilfe bei der Ungleichbehandlung von Schaustellergewerbe und stationärem Gewerbe zu sorgen. Im einzelnen heißt das: Es sind gesetzliche Regelungen für das Beantragungsverfahren zu schaffen. Herr Burgbacher hat eben schon ein Beispiel bezüglich der Arbeitskräfte gegeben. Weiterhin sind gesetzliche Regelungen im Steuerrecht zu verändern. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, daß Schausteller keine Schwierigkeiten dabei haben, die Kosten für Hotelzimmer abzusetzen, demgegenüber aber die Kosten, die für Übernachtungen im Wohnwagen notwendig sind, nicht abgesetzt werden können. Es wurde auch schon angesprochen, daß es Regelungen bezüglich der Gebührenordnungen geben muß, damit Wettbewerbsverzerrungen von vornherein ausgeschlossen werde. Im Handwerkergewerbe sind zum BeiSylvia Voß spiel die Schutzgesetze in einer Stammrolle festgeschrieben. Warum sollte das für das Schaustellergewerbe nicht möglich sein? Es gilt auch, darüber nachzudenken, ob es Regelungen zum Schutze der Volksfeste geben sollte. In anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in Italien, gibt es solche „Volksfestschutzgesetze“. Wir sollten darüber nachdenken, damit dieses Gewerbe nicht schutzlos der Willkür kommunaler Verwaltungen ausgesetzt ist. Durch fehlende Regelungen bezüglich des Erhalts von Volksfesten wird nämlich der Privatisierung und damit einhergehenden Bebauungsabsichten Tür und Tor geöffnet. Das beste Beispiel liegt eigentlich vor der Tür: Der Weihnachtsmarkt in Berlin findet in diesem Jahr letztmalig auf dem Platz an der Jannowitzbrücke statt. Für diesen Platz ist eine Bebauung geplant. Wie lange will man noch zulassen, daß die Kommunen zentral gelegene Plätze immer weiter zubauen und kulturelle Veranstaltungen aus den Stadtzentren vertrieben werden? In den Herzen der Städte muß Kultur pulsieren. Dazu gehören auch diese Volksfeste. Es sei mir erlaubt, nochmals zu betonen, daß in der heutigen schnellebigen Zeit die sinnvolle Pflege von Traditionen und volkstümlichem Brauchtum, zu denen auch die Volksfeste zählen, außerordentlich wichtig ist. In einer Gesellschaft, die auf der einen Seite immer mobiler wird und andererseits auf Grund von Isolation des einzelnen und gegenseitiger Entfremdung nach neuen Formen des Zusammenkommens sucht, gewinnen zwanglose, gemeinsame Feiern immer mehr Zuspruch. Das zeigen die Statistiken; entsprechende Zahlen wurden ja auch heute schon genannt. Es gäbe sicherlich noch eine Vielzahl von Problemen zu benennen, aber ich möchte nur noch auf eine Frage eingehen: Die CDU/CSU fordert in ihrem Antrag unter anderem die Einrichtung von Stützpunktschulen in den Bundesländern. Diese gibt es eigentlich schon. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, ob es nicht eher an der Zeit ist, über ein modernes bundesweites Schulsystem nachzudenken, um allen Kindern und Jugendlichen gleiche Entwicklungschancen zu ermöglichen. Wenn wir über mehr Effizienz reden, dann müssen wir auch das Bildungswesen einbeziehen. Erleichterungen im Einschulungs- und Umschulungswesen, in der Aus- und Weiterbildung sind längst überfällig.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, noch einen letzten Satz. - Im Hinblick auf einen attraktiven Inlandstourismus halte ich einen Dialog zwischen Kommunen, Kultureinrichtungen und der Tourismusbranche für sehr erstrebenswert. Die Kommunen und die Tourismusinstitutionen vor Ort sollten stärker als bisher die Möglichkeit wahrnehmen, an lokalen Kulturveranstaltungen zu partizipieren. So wächst auch das Verständnis füreinander. Vielen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Jann-Peter Janssen, SPD-Fraktion.

Jann Peter Janssen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002691, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat die Bedeutung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes erkannt. Treffender als unser Bundeskanzler Gerhard Schröder kann man die Leistungen des Schaustellergewerbes nicht darstellen. Er sagte - nachzulesen auf der Internet-Seite des Deutschen Schaustellerbundes -: Die Schausteller in Deutschland leisten einen unschätzbaren Beitrag für ein menschliches Miteinander in unserer Gesellschaft. ({0}) Die großen Volksfeste und die vielen kleinen Dorfund Stadtteilfeste bieten Jung und Alt Woche für Woche unbeschwerte Stunden der Geselligkeit und des Frohsinns. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben dem bedeutsamen sozialen Aspekt der Volksfeste ist aber noch etwas anderes ganz wichtig - der Parlamentarische Staatssekretär hat es schon angedeutet -, nämlich die Wahrung der Tradition und der vielfältigen Kultur in diesem Bereich durch die Schaustellerinnen und Schausteller. Dies hat naturgemäß eine insgesamt nicht zu unterschätzende positive Auswirkung auf den Tourismussektor in Deutschland. Die Bedeutung des Schaustellergewerbes läßt sich unabhängig von den doch eher soziologischen Begriffen „soziales Miteinander“ und „Traditionspflege“ auch in nüchternen Wirtschaftsdaten und Zahlen ausdrücken. Das wirtschaftliche Gewicht des Gewebes wird um so deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, daß in unserem Land etwa 10 000 Volksfeste, Weihnachts- oder andere Jahrmärkte veranstaltet werden, die von 200 Millionen Menschen besucht werden, wie schon mein Kollege Brähmig eingangs ausführte. 1998 wurden 1,3 Milliarden DM Umsatz erwirtschaftet. Im Reisegewerbe insgesamt - um neben dem Schaustellergewerbe auch noch den Markt- und Straßenhandel hinzunehmen sprechen wir nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Schausteller und Marktkaufleute von einem Gesamtumsatz von 22 Milliarden DM. Ich will an dieser Stelle auch einmal die Opposition loben. ({2}) Denn es ist schön, daß sich die CDU/CSU-Fraktion mit ihrem vorliegenden Antrag diesem wichtigen Thema, nämlich der Unterstützung des Schaustellergewerbes und der Sicherung der Volksfeste, annimmt. Wir SozialRosel Neuhäuser demokraten haben auch keine Probleme damit, auf dem Weg der Gemeinsamkeit zum Ziel zu schreiten; denn der Antrag könnte ja in weiten Teilen auch von uns sein. ({3}) Die Union war diesmal schneller. Aber in der Opposition hat man ja auch mehr Zeit als früher. ({4}) Ja, es ändert sich schon einiges, Herr Brähmig, wenn man sich auf einmal in der Opposition befindet; denn der Unterschied von diesem Antrag zu ihren früheren Anträgen in der letzten Wahlperiode ist offensichtlich: Gab es früher nur ein „Weiter so“ für Sie, wollen Sie heute auch Veränderungen erreichen. Wenn es sich um positive Veränderungen für den Fremdenverkehr handelt, können Sie auch auf unsere Mithilfe rechnen. ({5}) Im Schaustellergewerbe existieren Probleme, vor denen man nicht die Augen verschließen darf. Hier müssen wir uns im Rahmen unserer bundespolitischen Möglichkeiten einschalten. Eines dieser Probleme, das mich als Gewerkschafter besonders angeht, ist die Situation der Beschäftigten. Im Schaustellergewerbe allein - einschließlich der mitarbeitenden Familienmitglieder - sind 34 000 Menschen tätig; im Reisegewerbe, wieder inklusive der Betroffenen im Markt- und Straßenhandel, sind es unter Einbeziehung der Familienangehörigen insgesamt 1,2 Millionen Menschen. Diese Arbeitsplätze müssen wir zukunftssicher machen. Der Haken dabei ist: Es handelt sich um keine festen Arbeitsstellen an einem festen Ort, was die Sache nicht leichter macht. Nach mir vorliegenden Informationen wird derzeit im Bundesarbeitsministerium die Problematik des „Wiederkehrrechts“ geprüft. Ziel dabei soll es sein, daß ausländische Arbeitskräfte, die in einem Jahr mehr als sechs Monate beschäftigt waren, auch im Folgejahr wieder beschäftigt werden können. Derzeit ist dieses nicht der Fall. Ein Rückgriff auf erfahrene Mitarbeiter ist somit also kaum möglich. Eine Änderung der entsprechenden Verordnung wäre wünschenswert. ({6}) Herr Burgbacher hat eben die 630-Mark-Jobs angesprochen. Ich möchte hier ganz deutlich für die SPDFraktion und für meinen Ausschuß sagen: Ich freue mich, feststellen zu können, daß die Diskussion um die 630-Mark-Jobs im Schaustellergewerbe sehr an Heftigkeit verloren hat. Auch der hier und heute zur ersten Lesung anstehende Antrag der Union sieht bei der Regelung der geringfügigen Beschäftigung keinen dringenden Handlungsbedarf. Zu einer zukunftssicheren Beschäftigungssituation im Schaustellergewerbe gehört auch ein gut geschulter und ausgebildeter Nachwuchs. Teilweise muß man die schulische Ausbildung für Kinder im Schaustellergewerbe als katastrophal bezeichnen. Deshalb ist die Einführung eines Schulbegleittagebuches für Schaustellerkinder zu begrüßen. Somit kann eine kontinuierliche und damit bessere Unterrichtung der Kinder an unterschiedlichen Schulen gewährleistet werden. Ebenso zu begrüßen ist die Einigung der Kulturministerkonferenz, nach Wiedereinführung des Vollzuges der Berufsschulpflicht für Schaustellerjugendliche die Jugendlichen nicht in die üblichen Berufsschulklassen einzugliedern, sondern in den Wintermonaten Sonderlehrgänge und Blockunterricht vorzusehen. Das haben wir auch des öfteren im Ausschuß diskutiert. ({7}) Ein kleiner und begrüßenswerter Fortschritt - hier sei einmal auf die Initiative meiner Fraktionskollegin Annette Faße hingewiesen - ist auch die Empfehlung der Kultusministerkonferenz vom 30. Juli des Jahres, nach der für Kinder von Binnenschiffern, Schaustellern und Zirkusangehörigen, die in einem Heim untergebracht sind, bundesweit einheitlich 10 DM pro Kind und Tag gezahlt werden soll. ({8}) Zum Abschluß: Sie wissen, daß ich Ostfriese bin. Dem Vorsitzenden unseres Schaustellerverbandes, Herrn Langenscheidt, möchte ich hier auf ostfriesisch sagen: Leev Damen, leev Herren, leev Kolleginnen und Kollegen, lat uns miteinander ahl de Schaustellers helpen und ahl dat doon, wat wi doon können, ohne links und rechts to kieken. In dissem Sinne solln wi´t anpakken. Das heißt auf hochdeutsch: ({9}) - Du hast nämlich gar nichts verstanden, mein lieber Kollege. ({10}) Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das, was wir für das Schaustellergewerbe tun können, auf den Weg bringen, ohne nach links und rechts zu schauen, und zwar gemeinsam. In diesem Sinne: Packen wir es an! Ich danke für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun endlich hat der Kollege Ernst Hinsken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe anscheinend einige Fans. Ich bedanke mich dafür, daß sie noch hier und sich bewußt sind, über was wir heute debattieren. Es handelt sich nämlich nicht nur um eine todernste Debatte. Wir reden auch über etwas Schönes, an dem sich jeder in unserem Lande, sofern ein Fest stattfindet, erfreuen kann. - Der Kollege Götzer hat sogar seinen Sohn mitgebracht, einen Nutzer von Volksfesten, damit er sieht, wie dieses Thema hier behandelt wird. ({0}) Es gab noch nie im Deutschen Bundestag eine Debatte zu diesem Thema. Deshalb begrüße auch ich, daß die führenden Repräsentanten des Schaustellergewerbes heute zugegen sind. ({1}) Meine Damen und Herren, fast jede Gemeinde hat eine Kirchweih, eine Kirmes, einen Markt ({2}) - oder ein Schützenfest. Es ist ein Vergnügen für Jung und Alt zugleich. Volksfeste gehören zu den schönsten Ereignissen des Jahres. ({3}) Es müßte in unser aller Sinn sein, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Volksfestkultur in Gänze so erhalten bleibt, wie wir sie momentan erleben können. Wer kennt sie denn nicht, die großen Feste, die wir haben: das Münchener Oktoberfest, den Wurstmarkt in Bad Dürkheim, den Striezelmarkt in Dresden, den Nürnberger Christkindlmarkt, das Gäuboden-Volksfest in Straubing, Frau Kollegin Irber, oder das Cannstadter Volksfest in Stuttgart? Es ist wert, daß man all diese Feste einmal anspricht. Lassen Sie mich nur das größte Volksfest in Deutschland herausgreifen, nämlich das Oktoberfest in München. Dies allein lockte beim letzten Mal über 6,5 Millionen Besucher an, die für einen Umsatz von 450 Millionen DM sorgten. Darüber hinaus betrug der Wirtschaftswert für die Stadt München, also Übernachtungen, Souvenirs usw. 1,4 Milliarden DM. Diese Zahlen können sich durchaus sehen lassen. Meine Damen und Herren, ein Volksfest ist des Volkes Fest, das Fest des kleinen Mannes, zu dem jeder gehen kann und an dem sich jeder erfreuen kann. Ich bitte, gerade im Goethe-Jahr Goethe zitieren zu dürfen, der einmal schrieb: Hier ist des Volkes wahrer Himmel! Zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein! ({4}) Ich mache denjenigen ein großes Kompliment, die dafür Verantwortung tragen, daß das Schaustellerwesen funktioniert und Volksfeste durchgeführt werden können. ({5}) Die Schausteller haben es nicht leicht, sich gegenüber dem Fernsehen und vielen anderen Angeboten zu behaupten. Aber sie haben es geschafft, weiterhin am Ball zu bleiben und sich so zu geben, wie es erforderlich ist, damit junge und ältere Menschen zu den Volksfesten kommen. Meine Damen und Herren, vielen Menschen in dieser Republik ist nicht bewußt, um welchen bedeutenden Wirtschaftsfaktor es sich hier überhaupt handelt: ({6}) 90 000 Markttage pro Jahr in ganz Deutschland, 10 000 Volksfeste und Jahrmärkte mit über 200 Millionen Besuchern und einem geschätzten Umsatz von rund 25 Milliarden DM. Zählt man die Zulieferer dazu, werden hier Hunderttausende von Arbeitsplätzen vorgehalten. Machen wir uns alle nichts vor: Um wieviel ärmer wäre unser Land ohne Volksfeste! ({7}) Diese Meinung wird von über zwei Dritteln, nämlich 67 Prozent, der Bevölkerung geteilt. ({8}) - Ja, bundesweit, Herr Kollege Müller. Sie gehen nämlich gerne zu den Festen. Damit dies so bleibt, müssen wir, die Politiker, für vernünftige Rahmenbedingungen sorgen. Dazu wurde heute viel gesagt. Herr Mosdorf hat etwas versprochen, der von mir hochgeschätzte Kollege Janssen hat auch der Unterstützung der Schausteller das Wort geredet. Aber wenn es darum geht, was konkret getan wird, dann sieht es nicht so goldig aus, wie es an und für sich sein sollte. ({9}) Meine Damen und Herren, schließlich geht es darum, daß auch bei den Schaustellern gesehen werden muß, daß nur an 120 Tagen im Jahr Geld erwirtschaftet werden kann. Außerdem wird nicht nur von den Fahrgästen Geld eingenommen, sondern es muß auch Geld für neue Fahrgeschäfte ausgegeben werden. Ein Riesenrad oder eine Autoscooteranlage kosten 2 bis 5 Millionen DM. Deshalb ist es erforderlich, vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Schausteller weiterhin existieren können. ({10}) Dabei ist der Kurs der Bundesregierung von entscheidender Bedeutung. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen, was hat denn die Bundesregierung den Schaustellern ebenso wie allen Wählern versprochen? Hat es nicht wie oft auf dem Jahrmarkt geheißen: „Jedes Los ein Treffer“? ({11}) Was haben die Wähler und die Schausteller in der Zwischenzeit gezogen? Nieten, Nieten, Nieten! ({12}) Die erste Niete war die Ökosteuer. Sie macht den Strom um zwei Pfennige pro Kilowatt teurer. Von den Stromkosten hängt natürlich der wirtschaftliche Erfolg eines modernen Fahrbetriebes entscheidend ab. Die zweite Niete war die Mineralölsteuererhöhung. Die Erhöhung um 24 Pfennige in den nächsten vier Jahren plus Mehrwertsteuer macht zusammen fast 30 Pfennige aus. ({13}) Die dritte Niete war das 630-DM-Chaos. Es wurde vom Kollegen Burgbacher und anderen Vorrednern aus unseren Reihen schon angesprochen. Angesichts dessen meine ich für die CDU/CSUFraktion sagen zu dürfen: Wir dürfen es nicht bei Worten bewenden lassen - darum bitte ich Sie alle -, sondern haben dem auch Taten folgen zu lassen. Die Bundesregierung sollte vom Parlament aufgefordert werden - ich nenne dafür zehn Punkte -: erstens in der Gewerbeordnung einen einheitlichen Begriff für Schausteller einzuführen, um einheitliche Regelungen für das gesamte Schaustellergewerbe zu erreichen, ({14}) zweitens beim Lärmschutz auf die Länder und Kommunen einzuwirken, damit die traditionellen Feste nicht durch überzogenen Immissions- und Nachbarschaftsschutz in ihrem Bestand gefährdet werden, ({15}) drittens auf die Kommunen einzuwirken, einen rechtlichen Schutz traditioneller Volksfeste hinsichtlich der Festplätze zu schaffen, viertens die Eigentransporte von Schaustellerbetrieben zu und von Volksfesten nicht mit zusätzlichen Auflagen zu versehen, insbesondere die Schausteller von der geplanten streckenbezogenen Autobahngebühr freizustellen ({16}) - ich setze auf Sie, Herr Schmidt, daß Sie mich unterstützen, wenn ich nächstes Jahr einen diesbezüglichen Antrag einbringe -, ({17}) fünftens die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung so zu ändern, daß Sicherheitsprüfungen zu für die Branche möglichen Terminen durchgeführt werden können, sechstens die Marketingaktivitäten für deutsche Volksfeste durch die Deutsche Zentrale für Tourismus im Inund Ausland zu intensivieren und dabei insbesondere den Bahn- und Bustourismus zu fördern, siebtens wegen der beruflich bedingten hohen Schulausbildungskosten von Schaustellerfamilien eine höhere steuerliche Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten sicherzustellen - Herr Kollege Janssen, da haben Sie mich voll und ganz auf Ihrer Seite -, achtens auf eine Verkürzung der Bearbeitungszeit bei der Vermittlung von Nicht-EUAusländern hinzuwirken, neuntens auf das 630-DMGesetz zu verzichten und es zurückzunehmen - das braucht unser Schaustellergewerbe; ({18}) hier haben sie es geprügelt und geknebelt; das ist eine zusätzliche Belastung vor allen Dingen für den einzelnen Betrieb, der Formulare über Formulare ausfüllen muß; das ist ein Abkassieren von Menschen, die sich ein paar Mark hinzuverdienen wollen - und zehntens

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Sie müssen an Ihre Zeit denken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- auf weitere Erhöhungen der Mineralölsteuer zu verzichten. Frau Präsidentin, ich bedanke mich. Ich möchte aber gern die Frage der Kollegin zulassen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das kommt jetzt. Erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, bitte. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Frau Kollegin.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß bereits sechs von den zehn Forderungen durch die Bundesregierung erfüllt worden sind, und würden Sie überdies zur Kenntnis nehmen, daß es beim Gesetz zur geringfügigen Beschäftigung für das Schaustellergewerbe möglich ist, eine 50-Tage-Regelung in Anspruch zu nehmen?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Irber, wenn das Schaustellergewerbe an über 120 Markttagen unterwegs ist, dann ist ihnen mit einer Regelung für 50 Tage nicht gedient. ({0}) Wenn Sie der Meinung sind, daß bereits sechs von diesen zehn Forderungen erfüllt sind, dann möchte ich entgegnen: Es sind noch nicht einmal viereinhalb. Sie müssen sich anstrengen, wenigstens die sechs zu erreichen. Dann wäre ein vernünftiger Schritt in die richtige Richtung getan. Das Schaustellergewerbe, ein mittelErnst Hinsken ständisches Gewerbe, ein wichtiger Wirtschaftszweig, braucht das. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort die Kollegin Marianne Klappert, SPD-Fraktion. ({0}) - Ihr habt alle den Hamburger Dom nicht erwähnt. Das finde ich nicht in Ordnung. ({1})

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Lieber Ernst Hinsken, ich habe eben während deiner Rede ab und zu Bedenken gehabt, daß du dich so sehr ereifern könntest, daß du deine Gesundheit gefährdest. ({0}) Ich denke, das sollten wir doch bei diesem Thema nicht machen. ({1}) Wir freuen uns alle darüber, daß wir Volksfeste haben, daß wir Kirmesse und Schützenfeste haben, und wir wollen diese alle gemeinsam erhalten. Ich wollte die CDU/CSU-Fraktion heute abend loben, daß sie einen sachlichen Antrag eingebracht hat. ({2}) - Das mache ich auch noch. ({3}) - Ja, es war ein Fehler von dir, daß du mich gelobt hast.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken? ({0})

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jawohl.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Klappert, ich meine, daß Sie sich um meine Gesundheit keine Sorgen zu machen brauchen. ({0}) Vielmehr hätte ich mir gewünscht, daß Sie heute nachmittag bei der Abstimmung über die Gesundheitsreform richtig abgestimmt hätten. Dann wäre vielleicht nicht soviel Blödsinn gemacht worden, wie es dann heute mehrheitlich beschlossen worden ist. Sind Sie bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen? ({1})

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, ich nehme zur Kenntnis, daß ich richtig abgestimmt habe. ({0}) Ich möchte zu unserem eigentlichen Thema zurückkommen. Es geht uns um den Erhalt von Traditionsfesten, von Schützenfesten, von Kirmessen und von großen Volksfesten, die, denke ich, für unsere Städte und Gemeinden von unglaublicher Wichtigkeit sind. Diese Feste sind für die Städte ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Sie sind eine Tourismusattraktion. Ich denke, es hilft ganz besonders auch dem Städtetourismus. ({1}) Es ist nicht nur ein besonderes Museum in München, sondern es ist das Oktoberfest, das die Menschen anzieht. Darauf freut man sich, da geht man gemeinsam hin. Auf unseren großen Volksfesten treffen sich alle Personengruppen - nicht nur der kleine Mann, den Ernst Hinsken eben angesprochen hat. ({2}) Vielmehr treffen sich hier sehr viele unterschiedliche Mentalitäten und viele Volksgruppen. Alle freuen sich, daß wir Gelegenheit haben, dort für einige Stunden unsere Sorgen zu vergessen. Kollege Hinsken hat unter all den vielen Punkten die 630-DM-Regelung angesprochen. Wir müßten es gemeinsam schaffen, daß Langzeitarbeitslose wieder Gelegenheit haben, dort Arbeitsstellen anzunehmen, daß sie wieder mit den Fahrgeschäften unterwegs sind. Dieses muß man verstärken. Ich habe in Ihrem Antrag gelesen, und der Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf hat es eben schon gesagt: Wir haben nicht nur darüber geredet, sondern diese Bundesregierung hat angefangen zu handeln. Das ist eigentlich das Wichtige. ({3}) Kollege Burgbacher, daß sich die Schausteller ab dem 1. Dezember 1999 über die TÜV-Abnahme verständigen können, ist nicht die falsche Richtung, es ist die richtige. ({4}) Wenn in der Bund-Länder-Kommission heute gemeinsam verhandelt wird, daß es im Gaststättengesetz neue Regelungen gibt, daß eine Dauergenehmigung erteilt wird, ist auch das die richtige Richtung. Sie dürfen nicht immer nur sagen, wie Herr Hinsken das gesagt hat, diese Bundesregierung zieht Lose und verspricht dann alles mögliche. Das macht uns die gemeinsame Arbeit ein bißchen schwer. Die Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen und mein Kollege Jann-Peter Janssen sowie der Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf haben deutlich gemacht ich wiederhole es jetzt -, daß wir bei den Ausschußberatungen diese von Ihnen vorgeschlagenen Punkte auch intensiv beraten werden. Wir haben die Hoffnung, nach den Ausschußberatungen einen gemeinsamen Antrag vorlegen zu können. Wir müssen den Schaustellern gemeinsam deutlich machen, wie ernst wir ihre Probleme nehmen. Ich will noch etwas zur Kommunalpolitik sagen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat sich 1998 intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Wir alle wissen aber, daß wir eine kommunale Selbstverwaltung haben. Wir wissen alle, daß in den Räten teilweise die Kämmerer - nach 16 Jahren CDU/CSU- und F.D.P.Regierung - das Sagen haben. Man muß einmal überlegen, was wir aus Sicht des Bundes gemeinsam mit den Kommunen erreichen. Die SPD hat eine Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik. Die CDU hat die Kommunalpolitische Vereinigung. Ich denke, wir sind alle gefordert, mit unseren Kollegen und Kolleginnen vor Ort zu reden. Wir müssen diese Verbindung von oben nach unten in dieser Frage stärker in Anspruch nehmen. Wir müssen die Leute dafür sensibilisieren, daß sich die Kommunen teilweise auch selber durch ständig erhöhte Gebühren und Abgaben Einnahmen wegnehmen. Ich glaube, wir können leisten, in unsere Gremien zu gehen und zu sagen: Wir wollen uns gemeinsam der Probleme annehmen. Wenn wir das schaffen, können wir anschließend gemeinsam einen Antrag formulieren. Ich glaube, damit tun wir den Schaustellern einen viel größeren Gefallen, und es ist viel wichtiger für sie, als wenn hier gegenseitig Polemik gemacht wird. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klaus Brähmig?

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich, Frau Präsidentin.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kollege Brähmig.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Klappert, stimmen Sie mit mir darin überein, daß dieser Antrag keine Polemik enthält, sondern durchaus eine sachliche Grundlage für die Diskussion im Ausschuß bereithält? Ich möchte noch auf die Problematik der 16 Jahre eingehen, die Sie und verschiedene andere Redner angesprochen haben. Es geht hier um ein Problem, das zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gelöst wird. Sie wissen genauso gut wie ich - deswegen habe ich dies sachlich dargestellt -, ({0}) daß natürlich auch in den Ländern und Kommunen verschiedene Regierungsformen vorhanden sind und es überhaupt keinen Sinn macht, daß wir uns hier in der Debatte gegenseitig Vorwürfe machen. Das Problem ist nicht, Herr Kollege Schmidt, ({1}) daß wir in 16 Jahren hier nichts auf die Reihe gebracht hätten, sondern daß der Föderalismus in einzelnen Bereichen bei der Lösung der Probleme durchaus Schwierigkeiten bereitet.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt müssen Sie noch die Kurve zur Frage kriegen. ({0})

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, er hat ja am Anfang gefragt, ob ich ihn unterstützen könnte. Herr Brähmig, alles, was Sie jetzt gesagt haben, ist in Ordnung. Das wollen wir auch. Wir haben das auch vorgeschlagen. Aber es ist unser gutes Recht, auch einmal deutlich zu machen, daß Sie 16 Jahre Regierungsverantwortung hatten ({0}) und daß Sie nicht früher mit einem solch ausführlichen Antrag gekommen sind. Jann-Peter Janssen hat eben gesagt, Sie hätten in der Opposition jetzt mehr Zeit. Nutzen Sie sie! Lassen Sie uns bestimmte Dinge gemeinsam machen! Es ist wichtig, daß deutlich wird, daß das, was die jetzige Bundesregierung schon angestoßen hat, Erleichterungen bringt und daß wir auf dem richtigen Weg sind und nicht nur immer darüber reden, sondern auch handeln. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1312 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir wünschen den Beratungen zu diesem Thema, bei dem es so viel Übereinstimmung gibt, einen guten Verlauf und schnelle Ergebnisse für die Menschen, die in diesen Bereichen beschäftigt sind und uns so viel Freude machen. Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des TäterOpfer-Ausgleichs - Drucksache 14/1928 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({0}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Frau Bundesjustizministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Von den Volksfesten und den Schaustellern zum Strafrecht und Strafprozeßrecht ist es in der Tat ein weiter Bogen. Dennoch: Was wir heute abend in erster Lesung debattieren, ist außerordentlich wichtig. Es bildet den ersten Schritt zur Erweiterung und Veränderung des Sanktionensystems, die wir uns für die kommende Legislaturperiode vorgenommen haben. Sie wissen, meine Damen und Herren, der Schutz der Schwachen durch das Recht ist einer der wesentlichen Schwerpunkte der Rechtspolitik der neuen Bundesregierung. ({0}) Die Koalition hat bereits in ihrer Koalitionsvereinbarung festgelegt - es lohnt sich übrigens wirklich, sie nachzulesen, meine verehrten Herren Zwischenrufer -, daß wir mit einem umfassenden Bündnis gegen Gewalt zum einen die Wurzeln der Gewalt in unserer Gesellschaft bekämpfen und zum anderen die Rechte der Opfer wieder in den Mittelpunkt stellen müssen. ({1}) Das gilt ganz besonders für die Stellung des Opfers einer Straftat -im Strafverfahren gegen den Täter. Wer einmal Opfer einer Straftat und Beteiligter in einem anschließenden Strafverfahren gegen den Täter gewesen ist, weiß sehr gut, daß manchem Opfer im konkreten Ablauf des Strafverfahrens häufig eher eine Nebenrolle zuteil wird. Das kritisieren heute zu Recht immer mehr Betroffene. Es ist richtig - lassen Sie mich das betonen -, daß im Vordergrund eines konkreten Strafprozesses der Beschuldigte steht und stehen muß. Die Definition Radbruchs von der Strafprozeßordnung als der Magna Charta des Beschuldigten, die Diskussion über die schuldangemessene Strafe und die Resozialisierung diese übrigens auch als Opferschutz - sowie über rechtsstaatliche Garantien für den Beschuldigten gegenüber den Strafverfolgern bilden völlig zu Recht in unserem Rechtsstaat Kernelemente des Strafverfahrensrechts. Das darf aber nicht dazu führen, daß sich gleichzeitig das Opfer einer Straftat an den Rand des Verfahrens gerückt fühlt. Deshalb ist für das Bundesministerium der Justiz nach den langen Jahren, in denen man das nicht ernsthaft in Angriff genommen hat, die verstärkte Wahrung der Interessen des Opfers im Strafverfahren von ganz entscheidender Bedeutung. ({2}) Wir unterstreichen das mit unserem Gesetzentwurf über den Täter-Opfer-Ausgleich in vielfacher Weise. Erstens erfüllt er zwei Hauptanliegen der Opfer von Strafverfahren, nämlich ihr Interesse, einen Ausgleich für das erlittene Unrecht zu erhalten, und die Genugtuung, zu erfahren, daß der Täter wirkungsvoll mit seiner Tat konfrontiert wird. Der Täter-Opfer-Ausgleich eröffnet zweitens eine aus kriminalpolitischer Sicht sinnvolle Reaktionsmöglichkeit auf leichtere bis mittelschwere Kriminalität. Drittens - auch das wissen wir - muß sich der Täter mit der Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs den direkten Konsequenzen seines strafbaren Verhaltens stellen. Auch das ist wichtig. Viertens: Gleichzeitig bekommt der Straftäter in besonderer Weise die Möglichkeit, selbst Verantwortung zu übernehmen und Konsequenzen für seinen weiteren Lebensweg in Richtung auf ein straffreies Leben zu ziehen. Fünftens kann die Stärkung des Täter-OpferAusgleichs bei den Opfern von Straftaten zu einer verbesserten Akzeptanz der Arbeit der Justiz beitragen, weil das Opfer in einem Verfahren, in dem es um ihm angetanes Unrecht geht, selbst erlebt, daß die Justiz und damit der Staat, unser Rechtsstaat, darum bemüht ist, Belastungen und Schäden aus einer Straftat unmittelbar zu beheben. Es verwundert aus all diesen Gründen nicht, meine Damen und Herren, daß der Täter-Opfer-Ausgleich, den es gibt, gerade im Jugendgerichtsverfahren in der Praxis großen Erfolg hat. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zieht aber die Konsequenz aus der Tatsache, daß der Täter-Opfer5948 Ausgleich im Erwachsenenstrafrecht in der Praxis eher zögerlich angewandt wird. Bis heute sind sich Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte der Möglichkeiten des Täter-Opfer-Ausgleichs als sinnvoller Alternative zu den bisherigen Sanktionsformen ganz offensichtlich noch nicht hinreichend bewußt. Sie ergreifen die Möglichkeiten zu wenig, die bereits mit der Einführung des § 46 a StGB durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom Oktober 1994 gerade für das Erwachsenenstrafrecht geschaffen wurden. Da runzelt jemand die Stirn, ({3}) aber ich will Ihnen sagen, warum das so ist und daß es so ist. Nicht nur die Wissenschaft weist darauf hin, daß das Potential des Täter-Opfer-Ausgleichs, sehr verehrter Herr Kollege Funke, derzeit bei weitem nicht ausgeschöpft wird, sondern auch die Zahlen belegen dies. Das sind die Zahlen, die Professor Dölling und andere in dem Ihnen ohne Zweifel bekannten, hervorragenden und grundlegenden Gutachten von 1998 zur Bestandsaufnahme und Perspektive des Täter-Opfer-Ausgleichs in Deutschland zusammengetragen haben. Diese sprechen für sich. Danach betrug 1995 der Anteil des Täter-OpferAusgleichs an den Einstellungen und Sanktionsentscheidungen der Staatsanwaltschaften etwa 9 000 von insgesamt möglichen zirka 600 000 Fällen - lassen Sie mich die Zahlen wiederholen, sie überzeugen auch Zweifler: 9 000 von möglichen 600 000 -, also 1,5 Prozent. Das ist zuwenig. ({4}) Dieses Ungleichgewicht wollen wir beseitigen. Unser Entwurf setzt dort an, wo heute Lücken sind, nämlich bei der strafprozessualen Verankerung des Täter-OpferAusgleichs, und schafft das für die breitere Anwendung dieses Instrumentes erforderliche verfahrensrechtliche Gegenstück zu den materiell-rechtlichen Regelungen. Es gibt also zwei Pfeiler, die beide verankert werden. Zu den wichtigsten Punkten gehört einmal § 155 a der Strafprozeßordnung, die Kernnorm dieses Entwurfs, die Staatsanwaltschaften und Gerichte dazu veranlassen soll, in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit zu prüfen und darauf hinzuwirken, einen Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Verletztem zu erreichen. Das stellt auf der einen Seite sicher, daß der Täter-OpferAusgleich im Erwachsenenstrafrecht sehr viel breiter angewandt wird. Auf der anderen Seite können solche Fälle, die sich eben nicht für ein derartiges Verfahren eignen - die gibt es natürlich -, ohne übermäßige Belastungen der Justiz weiter verfolgt werden, und zwar im ganz normalen Strafverfahren. § 155 b StPO räumt die datenschutzrechtlichen Bedenken aus, die bis heute der effizienten Handhabung des Täter-Opfer-Ausgleichs entgegengehalten werden. § 87 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte fördert - ganz pragmatisch, aber vernünftig - die Akzeptanz des Täter-Opfer-Ausgleichs auch in der Anwaltschaft. Ich habe schon darauf hingewiesen: Dieser Gesetzentwurf ist ein Schritt zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems. Diesen Weg werden wir weiterhin verfolgen. Es ist wichtig, die staatlichen Möglichkeiten, in sinnvoller Weise auf Kriminalität zu reagieren, zu erweitern und grundlegend zu verändern. Wir erwarten aus dem hoffentlich Anfang nächsten Jahres vorliegenden Abschlußbericht der noch von meinem Vorgänger eingesetzten Kommission zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems weitere Impulse. Wir begleiten selbstverständlich die Arbeiten dieser Kommission mit unseren eigenen Überlegungen. In all diesen Schritten geht es um rechtsstaatliche und wirksame Sanktionen und Reaktionen auf Straftaten. Lassen Sie mich nochmals betonen und damit den Bogen zum Beginn meiner Ausführungen schließen: Es geht um die Wahrung der Interessen der Opfer von Straftaten. ({5}) Ich bitte Sie deshalb, diesen Gesetzentwurf gerade im Interesse der Opfer und ihrer Belange zügig zu beraten, damit der Täter-Opfer-Ausgleich in der täglichen Praxis endlich aus dem Schatten der Strafjustiz heraustritt. Herzlichen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Götzer, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieser Gesetzentwurf wird zwar nicht im Hauruckverfahren durchgepeitscht, so wie wir es heute vormittag, heute nachmittag und leider auch gestern morgen im Rechtsausschuß bei einem anderen Thema erleben mußten. Das wirft für mich ein bezeichnendes Licht auf das parlamentarische Verständnis dieser Regierungskoalition. Aber auch wenn es bei diesem Entwurf etwas langsamer zugeht, so ist er nicht viel besser und schon gar nicht ausgereift. Der Deutsche Anwaltsverein kommt in einer Stellungnahme zu dem Ergebnis: Es handelt sich um keine verfahrensrechtliche Regelung des Täter-OpferAusgleichs, nicht einmal um eine inhaltlich gesetzessystematische Verankerung im Prozeßrecht. Er spricht von Etikettenschwindel. Ich glaube, wir sind uns alle einig, daß der TäterOpfer-Ausgleich, wenn er richtig praktiziert ist, eine gute Sache ist. Deswegen hat die Bayerische Staatsregierung schon in den 80er Jahren einiges in dieser Richtung erprobt. Auch die Regierung Kohl hat in diesem Bereich wichtige Schritte unternommen. Ich möchte nur die Novelle des Jugendgerichtsgesetzes von 1990 erwähnen. Der heute vorliegende Gesetzentwurf geht davon aus, daß der Täter-Opfer-Ausgleich bislang nur in relativ kleinen Zahlen praktiziert wird. Der Grund hierfür ist freilich nicht eine fehlende strafprozessuale Verankerung; denn ausreichende rechtliche Grundlagen für den Täter-Opfer-Ausgleich gibt es im StGB und in der StPO. Gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt es im Grunde lediglich bezüglich einer Datenübermittlung der Strafjustiz an diejenigen Stellen, die den Täter-OpferAusgleich vermitteln. Der Grund, warum er bisher nicht in gewünschter Zahl praktiziert worden ist, liegt in den fehlenden Ressourcen. Darüber setzt sich der Entwurf großzügig hinweg, indem er die massenhafte Anwendung des Täter-OpferAusgleichs geradezu propagiert. Wenn man nur davon ausgeht, daß ein Sozialarbeiter maximal 100 bis 150 Verfahren im Jahr schaffen kann, dann stellt sich die Frage, woher die dafür erforderlichen bis zu 3 000 neuen Sozialarbeiter kommen sollen und wie sie zu finanzieren sind. Darüber schweigt sich der Entwurf aus. Die Kosten werden ganz einfach den Ländern aufgedrückt. Aber es gibt noch einige andere grundlegende Probleme des Entwurfs. Hier wird eine neue Generalnorm ins Gesetz geschrieben, die vorsieht, daß die Möglichkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs in jedem Verfahren durch Staatsanwaltschaft und Gerichte zu prüfen sind. ({0}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht jedes strafrechtliche Verfahren und nicht jede Straftat eignet sich bekanntlich dazu. ({1}) Ein weiterer Gesichtspunkt. Staatsanwaltschaft und Richter sollen auf die Durchführung des Täter-OpferAusgleichs hinwirken. Wie das zusätzlich zu der ohnehin schon bestehenden Arbeitsbelastung der Staatsanwälte und Richter gehen soll, würde ich gerne erfahren. Vor allem aber ist anzumerken, daß es hier zu einer grundlegenden Verschiebung der Aufgaben der Strafrechtspflege kommt. Die Kernaufgabe der Strafrechtspflege ist die Verfolgung und Ahndung von Straftaten, nicht eine ausgleichende Konfliktschlichtung. ({2}) Ein weiterer Punkt. Der Entwurf verlangt lediglich, daß sich der Beschuldigte um den Täter-OpferAusgleich zu bemühen hat. In § 153 a StPO sind die darin aufgeführten Auflagen und Weisungen bislang alle an den Eintritt eines sicher feststellbaren Erfolgs geknüpft. Jetzt soll es plötzlich genügen, daß man sich bemüht. Ich glaube, daß aus Opfersicht kein Verständnis dafür besteht, wenn der Täter durch das bloße Bemühen die automatische, sanktionslose Beendigung des Strafverfahrens erreichen kann. ({3}) Ich glaube, das Opfer muß sich zur Straflosstellung des Täters instrumentalisiert vorkommen. Der für mich wichtigste Punkt - sozusagen ein Hammer - ist der neue § 155 a StPO, der regelt, unter welchen Voraussetzungen sich ein Strafverfahren für den Täter-Opfer-Ausgleich eignet. Die Formulierung in § 155 a lautet: „Gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten soll die Eignung nicht angenommen werden.“ Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was heißt das? Ein Verletzter muß sich also ausdrücklich gegen den TäterOpfer-Ausgleich wehren, wenn er ihn nicht will. Und selbst wenn er ausdrücklich zu erkennen gibt, daß er ihn nicht will, kann dieser dennoch - gegen seinen ausdrücklichen erklärten Willen - durchgeführt werden. Das halte ich für völlig inakzeptabel. ({4}) Der Täter-Opfer-Ausgleich und seine Akzeptanz in der Rechtsgemeinschaft stehen und fallen mit der Wahrung der Opferbelange. Einen Täter-Opfer-Ausgleich gegen den Willen des Opfers oder an ihm vorbei, kann und darf es nicht geben. ({5}) Ich möchte noch einmal betonen, verehrter Herr Kollege Ströbele: Der Täter-Opfer-Ausgleich ist grundsätzlich zu begrüßen. ({6}) - Nein, nein. Die Gewichte sind hier eindeutig verschoben. Bei einem Täter-Opfer-Ausgleich, Herr Kollege Ströbele, müssen die Interessen des Opfers an der ersten Stelle stehen, und zwar nicht nur verbal, so wie sie die Frau Bundesministerin gerade betont hat, sondern auch tatsächlich. ({7}) Der vorliegende Entwurf trägt dem nicht Rechnung. Im Gegenteil: Seine kriminalpolitische Tendenz geht genau in die andere Richtung. Diese Bundesregierung kümmert sich mehr um die Täter als um die Opfer, und das werden wir nicht mitmachen. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Irgendwie scheint in der Turbulenz des heutigen Nachmittages das richtige Lesen abhanden gekommen zu sein. Ich will dies einmal versuchen, obwohl meine Brille kaputtgegangen ist. ({0}) In § 155 a StPO steht, in geeigneten Fällen solle die Staatsanwaltschaft darauf hinwirken. Nun fragt sich der geneigte Leser: Was sind „geeignete Fälle“? Dort steht dann auch: „Gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten soll die Eignung nicht angenommen werden.“ ({1}) - Na und? ({2}) Das bedeutet für Leute, die des Deutschen mächtig sind, ({3}) daß das Ganze dann nicht angewandt wird, wenn das Opfer dies nicht will. ({4}) - Die Eignung soll nicht angenommen werden. Das beschreibt ja noch eine vorherige Stufe. Die Staatsanwaltschaft muß sich ja erst über den Fall klar werden. Auch hier haben Sie einfach unrecht. Dies wird nicht bei allen Verfahren gemacht. Wir befinden uns hier vielmehr im Bereich der Vergehen. Das ergibt sich aus § 153 a StPO, in dem ausdrücklich steht, daß dies für Vergehenstatbestände, also für etwas leichtere Delikte, vorgesehen ist. Die CDU hat uns heute wieder ein hervorragendes Beispiel gegeben: Es vergeht keine Veranstaltung oder Podiumsdiskussion, auf der die Vertreter der CDU uns nicht mit dem blöden Satz konfrontieren: Bei den Grünen - so heißt es, wenn ich an solchen Veranstaltungen teilnehme - oder bei der SPD - so heißt es, wenn ein Vertreter der SPD teilnimmt - stehen immer nur - dies gilt erst recht für Rechtsanwälte und Verteidiger - die Täter - eigentlich muß man sagen: die Verdächtigten, die Beschuldigten - im Vordergrund. An die Opfer denkt keiner - außer Ihnen natürlich. Nun haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem ausdrücklich - dies steht schon in der Überschrift die Interessen der Opfer berücksichtigt werden. Wir haben in diesem Entwurf berücksichtigt, daß Opfer in einem Strafprozeß in der Tat nur eine Randrolle spielen. Sie sind als Zeugen und manchmal auch - bei geeigneten Delikten - als Nebenkläger bzw. Nebenklägerin am Verfahren beteiligt. Ansonsten haben sie mit dem Verfahren nichts zu tun. Die Opfer stellen häufig fest, daß etwas mit ihnen passiert und daß sie kaum Möglichkeiten haben, Einfluß zu nehmen. Dies wollen wir ändern. In Zukunft soll nach unserer Auffassung das Opfer einer Straftat entsprechend dem, was ihr - meistens ist es eine Frau - oder ihm passiert ist, an dem Verfahren beteiligt werden. Es muß das, was viele in diesem Bereich Tätige wie Richter, Staatsanwälte und vor allen Dingen auch Rechtsanwälte immer wieder von denjenigen, die von einem Vergehen betroffen sind, hören, berücksichtigt und ernst genommen werden. Den Betroffenen geht es gar nicht so sehr darum geht - dies klingt immer wieder in Ihren Reden durch -, Rache zu nehmen und Vergeltung zu üben; vielmehr geht es den Betroffenen darum, den Schaden ersetzt zu bekommen oder zu verstehen, warum gerade sie Opfer einer Straftat wurden. Sie wollen erfahren, wie sie sich in Zukunft verhalten sollen. Sie wollen wissen, wie sie in Zukunft ihre Sicherheit in der Gesellschaft, zum Beispiel auf der Straße und in Parks, wiedergewinnen können. Solche Fragen stehen bei sehr vielen Opfern von Straftaten im Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Deshalb ist es richtig und wichtig, daß man die Täter in irgendeiner Weise dazu veranlaßt, sich mit den Opfern auseinanderzusetzen. Es ist wichtig, daß die Täter mit dem Leid, dem Schaden und der Unsicherheit, die sie häufig bei den Opfern angerichtet haben, konfrontiert werden und daß sie sich damit beschäftigen müssen. Dies ist nicht nur wichtig für die Opfer, sondern auch für die Täter. Sie sollen nicht nur im Rahmen einer Gerichtsverhandlung nach einem abstrakten Gesetz abgeurteilt werden, sondern auch begreifen, was sie in der Gesellschaft angerichtet haben und in welchem Maße sie sich an der entstandenen Unsicherheit in der Gesellschaft schuldig gemacht haben. Nach unserer Ansicht läßt sich dies am besten dadurch erreichen, daß sich der Täter - mehr als das in der Vergangenheit der Fall war - mit dem Opfer beschäftigen muß. Der Täter soll in den geeigneten Fällen an die Opfer herantreten. Wir wollen die Täter dazu veranlassen. Wir wollen den Täter verlocken, dies zu tun. Wir sagen den Tätern: Wenn ihr das macht, dann honorieren wir, der Staat oder die Staatsanwaltschaft, das. Wenn ihr euch mit dem Opfer in Verbindung setzt und zu erkennen gebt, daß es euch nicht gleichgültig läßt, was ihr getan habt, und wenn ihr bereit seid, im Rahmen der Möglichkeiten den entstandenen Schaden zu ersetzen, dann honorieren wir das. So etwas hilft. Wenn Sie, Herr Kollege, in den entsprechenden Verfahren tätig waren, dann wissen Sie, daß dies für jedes Opfer viel mehr bringt, als wenn es nachher im Gerichtssaal oder aus der Zeitung erfährt, daß der Täter eine Geld- oder eine Freiheitsstrafe mit Bewährung erhalten hat, und selber nicht weiß, wie es angesichts des angerichteten Schadens weitergeht. Darum geht es. Diesen Ausgleich wollen wir fördern. Die Veränderung des § 153a StPO und des § 155 StPO und in den weiteren Vorschriften der Strafprozeßordnung ist ein Bemühen, den Täter-Opfer-Ausgleich weiter zu fördern. Dies wird noch nicht das Problem lösen. Wir müssen noch viel mehr tun. Sie haben völlig recht, daß es im wesentlichen Ländersache ist, den Staatsanwaltschaften durch geeignete Hilfen wie Sozialarbeiter und Vereine, die auch heute schon in Bayern, Baden-Württemberg, NordrheinWestfalen und Berlin tätig sind - in Köln gibt es zum Beispiel eine berühmte Einrichtung -, zu ermöglichen, den Täter-Opfer-Ausgleich zu organisieren und zu fördern. Die müssen wir natürlich jetzt fördern. Das muß auf Landesebene geschehen. Wenn Sie sich jetzt hier so ins Zeug legen und fragen, wie sie das finanzieren sollen, heißt das denn, daß Sie in Zukunft den Strafvollzug, die Justiz nicht mehr Sache der Länder sein lassen wollen, sondern daß das Bundesaufgabe werden soll? Dann müßten Sie dazu einen AnHans-Christian Ströbele trag stellen, und dann sollte man sich darüber unterhalten. Bisher war ich davon ausgegangen, daß das Ländersache ist - das hat ja auch seinen guten Grund - und daß es auch Aufgabe der Länder ist, diese Prozesse zu organisieren, Hilfestellung zu leisten, damit das immer mehr in Gang kommt. Wir können auf Bundesebene die gesetzlichen Vorschriften so verändern, daß das im Interesse der Opfer besser ermöglicht wird, vor allen Dingen deswegen, weil wir die Interessen der Opfer ernst nehmen, nicht nur auf den Lippen führen und uns auf der Zunge zergehen lassen, nicht Polemik damit treiben und uns in Boulevardzeitungen damit verbreiten, sondern in kleinen Schritten zu einer konfliktfreieren Gesellschaft kommen wollen oder wenigstens zu einer Gesellschaft, in der die an den Konflikten, an den Straftaten Beteiligten ein besseres Verständnis füreinander bekommen und sich in Zukunft vielleicht auch anders und besser verhalten, in der die Opfer sich wieder sicherer fühlen und die Täter sehen, was sie getan haben, und miterleben, was sie angerichtet haben, und damit vielleicht auch zu einem veränderten Verhalten in der Zukunft kommen. Dem dient dieser Gesetzentwurf, und ich denke, wir werden in den Beratungen im Rechtsausschuß hoffentlich auch den einen oder anderen von Ihnen davon überzeugen, daß das ein wichtiger und richtiger Schritt ist. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion. ({0})

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben meinen Gesichtsausdruck völlig fehlinterpretiert, ({0}) denn wir teilen im Prinzip Ihre mit diesem Gesetz verfolgten Bestrebungen. ({1}) Ich habe aber vielleicht etwas ernster geschaut - die Stirn gerunzelt habe ich wahrscheinlich nicht -, als Sie die Zahlen genannt haben. Wenn Sie sich zum Beispiel die Zahlen Ihres Heimatlandes Baden-Württemberg für das Jahr 1998 ansehen würden, könnten Sie nicht sagen, daß der Täter-Opfer-Ausgleich in Baden-Württemberg nicht erfolgreich sei oder zu gering ausfalle. Denn immerhin sind dort mehr als 1 000 Fälle im Täter-OpferAusgleichsverfahren durchgeführt worden. Das, finde ich, ist ein großer Erfolg der baden-württembergischen Regierung, natürlich auch des liberalen Justizministers, Professor Goll. ({2}) Der Täter-Opfer-Ausgleich, der ja nicht ganz neu ist, sondern ursprünglich im Jugendstrafrecht gegolten hat und seit 1994 auch im Erwachsenenstrafrecht gilt, hat sich in den letzten Jahren durchaus bewährt bei Straftaten wie Beleidigung, Körperverletzung und Nötigung, Straftaten, bei denen sich Täter und Opfer in Konfliktsituationen häufig unmittelbar gegenüberstanden. Wir fordern diesen Täter-Opfer-Ausgleich, weil wir hoffen, so den Rechtsfrieden in der Gesellschaft zu verbessern und zu sichern, aber auch, weil wir glauben, daß durch die erforderlichen Gespräche zwischen Täter und Opfer unter Zuhilfenahme eines Dritten ebenfalls präventive Wirkung erzielt wird. Wir sind uns bewußt, daß der Täter-Opfer-Ausgleich häufig dazu führt, daß eine Verurteilung vermieden oder zumindest die Vollstreckung einer Strafe verhindert werden kann. Fiskalische Gesichtspunkte dürften dabei eigentlich überhaupt keine Rolle spielen. Wir wissen, daß die Aburteilung durch ein Gericht wahrscheinlich viel billiger wäre und viel schneller ginge. Die Durchführung von Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren ist viel aufwendiger, aber sie dient dem Rechtsfrieden. Deswegen wollen wir diese Verfahren gerade auch unter präventiven Gesichtspunkten haben. ({3}) Der Entwurf der Bundesregierung zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs dient meines Erachtens - wenigstens noch - dem Ziel des Rechtsfriedens nur unvollkommen. Wir werden hierüber ja noch intensiv im Rechtsausschuß zu beraten haben. Unklar ist in meinen Augen auch die eigentliche Zielrichtung: Handelt es sich um den Ausbau einer Justizentlastung oder Verfahrensbeschleunigung, oder soll die Stellung des Opfers im Strafverfahren verbessert und die Schaffung von neuen Möglichkeiten konstruktiver Tatverarbeitung für Beschuldigte verbessert werden? ({4}) Ich gehe davon aus, daß das letztere zu gelten hat. Dann sind wir einer Meinung, aber dann muß das auch klar gesagt werden; denn nur das kann dem Rechtsfrieden dienen. Es bedarf einer klareren Regelung der Strafprozeßordnung, unter welchen Voraussetzungen der TäterOpfer-Ausgleich nach § 153a erfolgen soll. Es muß sich meines Erachtens in erster Linie um eine autonome Entscheidung von Beschuldigtem und Verletztem handeln. Lediglich das ernsthafte Bemühen des Täters wird wohl nicht reichen; denn schließlich muß auch das Interesse des Opfers hinreichend berücksichtigt werden, wenn es aus nachvollziehbaren Gründen einen Kontakt mit dem Täter nicht wünscht. Zu Recht hat - das hat der Kollege Dr. Götzer schon angesprochen - der Deutsche Anwaltsverein in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf für ein Gesetz zur strafrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs darauf hingewiesen, daß nur dann eine strafverfahrensrechtliche Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs auch zu einem breiteren Anwendungsbereich führen kann. Es müssen wichtige verfahrensrechtliche Regelungen ausdrücklich vorgenommen werden, wie zum Beispiel über die rechtliche Stellung des Personals der TäterOpfer-Ausgleich-Stelle, das rechtliche Gehör der Betroffenen vor der Einleitung des Täter-Opfer-AusgleichVerfahrens sowie die notwendigen Verfahrensschritte während des Täter-Opfer-Ausgleich-Verfahrens. Ich hoffe sehr, daß es gelingen wird, im Rechtsausschuß zu einer Verbesserung des Entwurfs der Bundesregierung zu gelangen. Das ist die Voraussetzung dafür, daß sich der Täter-Opfer-Ausgleich, den ich gefördert sehen möchte - das will ich ausdrücklich sagen -, in Zukunft weiter durchsetzt und wir unser Ziel, nämlich ein höchstes Maß an Rechtsfrieden in der Gesellschaft zu erlangen, erreichen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Sabine Jünger.

Sabine Jünger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003156, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der gültigen Rechtslage § 46 a des Strafgesetzbuches - kann es nur zu einem Täter-Opfer-Ausgleich kommen, wenn die mögliche Freiheitsstrafe ein Jahr oder die Geldstrafe 360 Tagessätze nicht übersteigt. Herr Götzer, das müßten auch Sie wissen. Der Entwurf der Bundesregierung sieht jetzt vor, § 153 a der Strafprozeßordnung, Einstellung des Verfahrens bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen, um den Täter-Opfer-Ausgleich zu erweitern und die §§ 155 a und b einzuführen. Im allgemeinen Strafrecht stellt der Täter-OpferAusgleich einen Gesichtspunkt der Strafzumessung dar. Er kann im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung angeordnet werden und bei nicht schweren Verfahren zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens führen. Zur Zeit gibt es im Bereich Täter-Opfer-Ausgleich nur geringe Fallzahlen, die allerdings stetig steigen. Wir halten die Verankerung des Täter-OpferAusgleichs in der Strafprozeßordnung für ein rechtspolitisch bedeutsames Vorhaben, das wir nachdrücklich unterstützen. Wir begrüßen es, daß diesem Instrument ein breiter Anwendungsbereich geschaffen werden soll. Gerichte und Staatsanwaltschaften sollen nun ausdrücklich die Möglichkeit eines Ausgleichs prüfen. Ein Ausgleich soll nur zustande kommen, wenn der Geschädigte damit einverstanden ist, und das ist auch richtig so. Fast die Hälfte aller Opfer sind für den TäterOpfer-Ausgleich, und weitere 25 Prozent können sich einen Ausgleich mit dem Täter vorstellen, wenn es zu keinem Ausgleichstreffen kommt. Zwei kritische Momente will ich jedoch nicht verschweigen: Erstens. Der Vorschlag, zunächst die Zustimmung des Gerichts und des Beschuldigten einzuholen, hat aus unserer Sicht den Nachteil, daß sich der Staatsanwalt schon vor dem Verfahren darüber im klaren sein muß, daß er einen Täter-Opfer-Ausgleich mit dem Ziel der Verfahrenseinstellung durchführen will. Das ist meines Erachtens schwer mit dem Ziel vereinbar, daß sich der Täter aus freien Stücken um einen Ausgleich bemühen soll. Zweitens. Diese Vorgabe kann auch bei den Tätern zu einem falschen Rollenspiel führen. Es besteht zudem die Gefahr, daß auf das Opfer Druck ausgeübt wird, sowohl von seiten des Täters als auch von seiten des Konfliktschlichters, nach dem Motto: Nun schließe schon endlich Frieden, sonst bist du für die Anklage verantwortlich! Ich sage es ganz deutlich: Die Interessen der Opfer müssen vordringlich beachtet werden. Wenn wir wirklich wollen, daß der Täter-OpferAusgleich in der Praxis verstärkt angewandt wird - das wollen wir hier wohl alle -, muß für mehr Verständnis und Akzeptanz bei Richtern, Rechts- und Staatsanwälten geworben werden. Aus unserer Sicht ist es deshalb dringend notwendig, diesen Punkt bereits in der juristischen Ausbildung zu beachten. Der Täter-Opfer-Ausgleich zwingt den Täter, über seine Tat und deren Konsequenzen für das Opfer nachzudenken und sich Gedanken über eine mögliche Wiedergutmachung zu machen. Der Resozialisierungs- und Erziehungsgedanke des Strafrechts kommt dadurch meiner Meinung nach besser zum Tragen als durch die von außen bzw. von oben ausgesprochenen Strafen. Durch die Ausweitung wird die Anzahl strafgerichtlicher Hauptverhandlungen und die der Zivilprozesse sinken. Dadurch wird die Justiz entlastet. Auch das spricht aus unserer Sicht für den Täter- Opfer-Ausgleich. Ich hoffe - da schließe ich mich den Worten des Kollegen Funke an -, daß wir vielleicht bei dem einen oder anderen kleinen Punkt noch zu Nachbesserungen kommen. Aber ansonsten stehen wir diesem Konzept sehr aufgeschlossen gegenüber. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt die Kollegin Hedi Wegener.

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Chancen und Grenzen des TäterOpfer-Ausgleichs einschließlich kritischer Betrachtung der berechtigten Anliegen der Opfer in das Strafrecht einzuführen, das ist das Bestreben des Gesetzentwurfes. Im übrigen befinden wir uns international in guter Gesellschaft; denn die 1985 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossene Erklärung über Rechtsprinzipien für Opfer von Kriminalität und Mißbrauch gilt als Erfolg einer kriminalpolitischen Bewegung. ({0}) Allerdings ist das bewußt einseitige Engagement für die Opfer manchmal auch eine Lobby für eine konservative Kriminalpolitik und eine Legitimation für beliebte Forderungen nach Verschärfung des Strafrechts. Das Vorhaben Täter- Opfer-Ausgleich ist jedoch sehr gut geeignet, einen parteiübergreifenden Konsens herzustellen. ({1}) Für einige Feinheiten besteht noch Beratungsbedarf. Wir werden in den Ausschußsitzungen Gelegenheit haben, vielleicht gemeinsam mit einigen Kollegen aus der CDU/CSU, diese zu klären. ({2}) - Herr Geis, bei Ihnen wäre ich mir da allerdings nicht so sicher. ({3}) Es geht in diesem Gesetzentwurf um die Stärkung der Kriminalitätsopfer im Strafverfahren, um die davon ausgehenden kriminalpräventiven Maßnahmen und vor allen Dingen um die Installierung in der Strafprozeßordnung und im StGB. Gute Erfahrungen damit - die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen - gibt es bereits im Jugendstrafrecht. Der Täter- Opfer-Ausgleich für Erwachsene wird heute nach wie vor sehr selten angewandt. Staatsanwälte und Gerichte haben Bedenken. Der neue § 155a StPO macht es den Staatsanwaltschaften und Gerichten ausdrücklich in jedem Stadium des Verfahrens möglich, den Ausgleich zu prüfen. Kommt er zustande, so ist eine endgültige Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO möglich. Dabei muß auch bei einem nicht endgültigen Abschluß oder Zustandekommen ein ernsthaftes Bemühen ({4}) - ernsthaftes - zu erkennen sein. Dies ist eine möglicherweise nicht einfach festzustellende Tatsache, je nachdem, wer sie anstellt: Opfer, Beklagter, oft vielleicht auch Rechtsanwalt oder Gericht. Ich möchte Sie gerne auffordern, mit mir einige Betrachtungen genereller Art über die Dynamik zwischen Täter und Opfer anzustellen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Gesetzentwurf diene ausschließlich dem Täter, und der würde dadurch eine Bevorzugung erhalten. ({5}) Bei näherem Hinsehen würde auch Ihnen die Tragweite des Handelns, der Bemühungen, der Einschränkungen und der Zwänge, die dem Täter in diesem Prozeß, in den er sich einläßt, auferlegt werden, auffallen. Wenn ich im übrigen die ausschließlich männliche Sprachform benutze, dann deshalb, weil die Täter überwiegend männlich sind. Es gibt natürlich auch Täterinnen. Aber die Kriminalität ist männlich und die Gewalt allemal. Das heißt im übrigen im Umkehrschluß nicht, daß die Opfer überwiegend weiblich sind. Wir wissen, daß gerade 15- bis 30jährige junge Männer, die am gefährdetsten sind, zu den Opfern gehören. Bei Körperverletzungen erfolgen die Taten häufig im eigenen Milieu und in der eigenen Altersklasse. Anders stellt es sich in den Opferberatungsstellen dar, die es ja auch jetzt schon gibt. Da Täter häufig Männer sind, Frauen aber eher Beratungsstellen aufsuchen und sich als Opfer Hilfe holen, sind drei Viertel der Ratsuchenden Frauen. Ebenso sind drei Viertel der Ratsuchenden jünger als 40 Jahre. 18 Prozent der Betroffenen sind Angehörige, die sich dort Rat und Hilfe holen. Es kommen auch Opfer, die nicht immer unbedingt einen Strafantrag stellen wollen. Eigentlich müßte der Opferschutz schon vorher beginnen, nämlich im Strafverfahren selbst. Er besteht darin, daß die psychischen Verletzungen während des Verfahrens nicht noch verschlimmert werden. Dies betrifft Anhörungen, Gutachter-, Zeugenbefragungen usw. Bei den Strafverfolgungsbehörden muß sich herumsprechen, daß zum Beispiel Verletzte nicht bloß Auskunftspersonen zur Aufklärung strafrechtlich relevanter Sachverhalte sind. Das bedeutet auch, daß die Interessen der Geschädigten während des Verfahrens ausreichend zur Sprache kommen und die Opfer die Möglichkeit haben, ihre Erlebnisse zu bearbeiten und eine Entschädigung für ihren erlittenen Schaden zu bekommen. Sicher werden Überlegungen angestellt - darüber wurde vorhin schon gesprochen -, welche Delikte bei einem Täter-Opfer-Ausgleich eigentlich eine Rolle spielen können. Denken wir zum Beispiel an Beziehungsdelikte. Dies betrifft Krisen, Ereignisse innerhalb einer Beziehung, die in mehreren Phasen ablaufen, sich zeitlich aufbauen und - oft in einer Körperverletzung eskalieren. Wer Opfer und Täter ist, ({6}) läßt sich im nachhinein manchmal nur noch am Delikt feststellen. Am Prozeß sind alle Konfliktparteien - ob aktiv oder passiv - gleichermaßen beteiligt. Zu den Opfern gehören Männer und Frauen im gleichen Maße. Der Täter- Opfer-Ausgleich ist gut für rivalisierende Gruppen. Ein solcher erfolgt schon heute unter rivalisierenden Jugendgruppen, ist aber auch im Erwachsenenbereich möglich. Kommen wir zu den Gewaltdelikten: Die Opfer verlangen zum einen die Strafe. Sie wollen zum anderen, daß die Tat nicht wiederholt wird, und sie fordern psychische und finanzielle Unterstützung sowie Beratung. Bei Eigentumsdelikten stehen die Schadensersatzforderungen - oftmals auch der Versicherungen - an oberster Stelle. Wie aber kann der Täter, der Staat oder die Gesellschaft das wiedergutmachen, was dem Opfer widerfahren ist? Wiedergutmachung unter Einfluß des Opferinteresses, gibt es das eigentlich? Schadenswiedergutmachung als eigenständige Rechtsfolge ist nicht neu. Im Jugendstrafrecht gibt es das schon. Den entstandenen Schaden mußten die Täter im übrigen schon immer wiedergutmachen. Schauen wir noch einmal auf die Opfer: Die Opfer wollen, daß man sich mit ihren Anliegen beschäftigt. Sie wollen soziale Gerechtigkeit. Sie wollen nicht noch einHedi Wegener mal Opfer werden. Wenn man genauer hinschaut, was bei Opfern eigentlich verletzt worden ist, dann ist festzustellen: Es wurde die Menschenwürde bzw. ihre Seele verletzt. Sie haben gegebenenfalls einen materiellen Schaden gehabt, und ihre Gesundheit ist beschädigt worden. Deshalb wünschen sich die Opfer: Der Täter muß für sein Handeln Verantwortung übernehmen. Er muß die Konsequenzen tragen, und das Opfer muß rehabilitiert werden. Schauen wir auf den Täter: Bei dem Täter besteht die Tendenz, den Opfern negative Eigenschaften zuzuschreiben. Man nennt diese Umbewertung Neutralisierungstechnik. Das heißt, eigenes Verhalten wird gerechtfertigt. Durch den Täter-Opfer-Ausgleich wird der Täter mit der Sichtweise des Opfers konfrontiert, und abweichende Beurteilungen werden offensichtlich. Veränderungen seiner Perspektive sind dabei erwünscht. Perspektivübernahme nennt man das. Erfaßt werden diese im Prozeß des Täter-Opfer-Ausgleichs durch gezielte Fragetechniken. Das ist im übrigen ein schwieriges Unterfangen für Täter. Die Täter bewerten den entstandenen Schaden meistens auch subjektiv. Entweder sagen sich die Täter - das ist oftmals der Fall -, das Opfer kann den Schaden eigentlich verschmerzen oder macht den Schaden höher, als er eigentlich ist, oder sie kommen zu der Erkenntnis, daß der Schaden doch größer als gedacht ist, daß der Geschädigte ja richtige Angaben zu dem Schaden macht oder daß die Folgen der Tat für die Opfer schwerwiegender sind, als sie sich das eigentlich gedacht haben. Eine weitere Möglichkeit des Täters, sich selber zu rechtfertigen, besteht darin, sich selber keine Verantwortung für das Leiden des Opfers zuzuschreiben. Er verdrängt die Tat und sagt, er sei es nicht gewesen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Wegener, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte, Herr Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist, Frau Kollegin, gewiß ein richtiger Gedanke, daß ein Ausgleich zwischen Täter und Opfer stattzufinden hat. Das bejahen wir durchaus. Sehen Sie aber auch - das ist meine Frage - das dritte Opfer, das mit im Spiel ist, nämlich die verletzte Rechtsordnung? Wie kann durch den Täter-OpferAusgleich die Verletzung der Rechtsordnung wiedergutgemacht werden? Sehen Sie dazu eine Möglichkeit? Ich bitte Sie, uns dazu noch etwas zu sagen.

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir stellen die Interessen des Opfers und die Behandlung seiner Verletzungen an die oberste Stelle. Dieser Prozeß zwischen Täter und Opfer, auf den ich gleich noch näher eingehe, befriedigt das Opfer eigentlich schon. Es bleibt natürlich immer noch die Alternative der strafrechtlichen Sanktion oder der Einstellung des Verfahrens, wenn der Täter-OpferAusgleich zu einem Abschluß gekommen ist, dem beide, auch das Opfer, zustimmen. ({0}) - Ja, dann wird eingestellt. ({1}) Wir waren gerade dabei, wie der Täter seine Tat und die Sichtweise des Opfers betrachtet. Wenn er die negativen Konsequenzen der Tat für das Opfer wahrnimmt, kommt es auch beim Täter zu einer Umbewertung der Tat. Nach dem Täter-Opfer-Ausgleich soll diese stattgefunden haben. Dem Täter soll klar sein, daß er gegen das Gesetz verstoßen und eine Person geschädigt hat, daß auf die Tat eine Sanktion folgt und daß er für die Folgen verantwortlich ist. Welche Inhalte hat der Täter-Opfer-Ausgleich? Eine Beratung des Konfliktes, eine Vereinbarung über die Wiedergutmachung, eine Leistung des Täters zur Wiedergutmachung und die Berücksichtigung der Täterbemühungen im Strafprozeß. Im praktischen Ablauf heißt das, daß Konfliktschlichtungsstellen eine Beratung - an der beide Seiten freiwillig teilnehmen müssen - in einem strukturierten Prozeß mit Kommunikationsregeln durchführen. Meine Ausführungen zeigen, daß ein Täter-OpferAusgleich nur im Dialog zwischen Täter, Opfer und einer dritten schlichtenden Person erfolgen kann. Es entwickelt sich also ein Prozeßgeschehen, das begleitet werden muß; das geht aber nur professionell. Den Ländern wird die Durchführung aufgegeben. Die Verantwortung dafür wird sinnvollerweise in erster Linie bei der Justiz selber liegen, aber auch freie Verbände, die schon jetzt in die Bewältigung von justiznahen Aufgaben einbezogen sind, können diese Aufgaben wahrnehmen. Dazu dienen die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen datenschutzrechtlichen Maßnahmen, die ein weiteres Gesetz überflüssig machen. Der Täter-Opfer-Ausgleich unterscheidet sich allerdings noch von dem weitergehenden Prozeß der Konfliktschlichtung. In beiden Fällen ist es ein laufender Prozeß, dem sich die Konfliktparteien unterziehen. Aus diesem Grunde spricht alles dafür, ihn zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens zuzulassen und strafmildernd zu berücksichtigen. Die Gespräche sind in jedem Falle freiwillig und laufen in verschiedenen Phasen ab unter Berücksichtigung der Emotionen, der Annäherung, der Ablehnung und der Unterschiede. Eine gute Sache ist also der Täter-Opfer-Ausgleich, wenn die Länder, die für die Durchführung zuständig sind, und wenn die Richter und Staatsanwälte die Einführung nicht nur als neue gesetzliche Grundlage, sondern als eine dem Frieden dienende Initiative ansehen. Schönen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Wegener, das war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen beglückwünsche ich Sie auf das herzlichste dazu. ({0}) Allerdings muß ich Ihnen sagen, daß ich ansonsten mit der Redezeit nicht so großzügig sein kann. Aber bei der ersten Rede ist das schon einmal möglich. ({1}) Als letzter Redner dieser Debatte hat der Kollege Eckart von Klaeden von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Auch ich darf zunächst der Kollegin Wegener herzlich zu ihrer ersten Rede gratulieren und gleichzeitig ankündigen - das ist sozusagen ein kleines Präsent für ihre erste Rede -, daß ich meine Redezeit nicht voll ausschöpfen werde. Ich möchte mich zunächst entschuldigen und mit einer protokollarischen Richtigstellung beginnen. Ich hatte nämlich bei unserer letzten rechtspolitischen Debatte Herrn Professor Meyer mit einem Zitat der Kollegin Antje Vollmer konfrontiert, mit dem ich ihn widerlegen wollte. Das Zitat stammt zwar aus der Koalition. Aber es bleibt festzustellen, daß das Zitat nicht von ihm stammte. ({0}) - Herr Kollege Ströbele, ich habe sie nicht optisch verwechselt. Da Sie technisch interessiert sind - Sie haben das gezeigt, indem Sie mit Ihrer einbügeligen Brille ganz gut balanciert haben -, will ich Ihnen sagen: Diese Verwechselung ist dadurch geschehen, daß beim Ausdruck der letzten Debatte zu dem Thema im Jahre 1996 der Absatz mit dem neuen Rednerkopf nicht ausgedruckt worden ist. So gingen die beiden Reden ineinander über, und so kam es, daß ich Herrn Professor Meyer mit einem falschen Zitat konfrontiert habe. Zur Sache selber. Ich bin, wie schon die Kollegin Wegener in ihrer ersten Rede, der Ansicht, daß wir genug Anlaß haben, miteinander zu streiten. Wir sollten aber nicht übermäßig über die Punkte streiten, in denen zwischen uns Konsens besteht. Deswegen ist festzuhalten: Einen gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich begrüßen wir alle. Wir freuen uns, wenn sich die Regierungskoalition bemüht - wenn auch nur in wenigen Fällen -, ihre Rechtspolitik in die Tradition der Koalitionspolitik der letzen beiden Legislaturperioden zu stellen. In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen - der Kollege Dr. Götzer und der Kollege Funke haben dies schon getan -, daß wir bereits in den 80er Jahren in der Jugendgerichtsnovelle von 1990 und schließlich im Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 den TäterOpfer-Ausgleich verankert haben. Insofern spricht aus meiner Sicht prinzipiell nichts dagegen, diese rechtspolitische Initiative in der Strafprozeßordnung fortzusetzen. Um deutlich zu machen, wo die Kritik unserer Fraktion insbesondere an dem von Ihnen vorgeschlagenen § 155 a StPO ansetzt, will ich aus dem vom Justizministerium des Landes Baden-Würtemberg und auch von der Bundesjustizministerin zitierten Gutachten vorlesen, in dem der Zweck des Täter-Opfer-Ausgleichs beschrieben wird. Dort heißt es: Der Täter soll Einsicht in die Verwerflichkeit seines Verhaltens nehmen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß der Täter-Opfer-Ausgleich auch eine Belastung für das Opfer darstellen kann. Denn das Opfer muß dem Täter ({1}) gegenübertreten. Es wäre eine Fehlvorstellung und letztlich eine Überforderung des Opfers, wenn man seine Position in dieser alternativen Schlichtungsform per se positiver beurteilen würde als im förmlichen Strafverfahren. Es besteht jetzt die Frage, ob der neue § 155a StPO dieser Interessenlage als Generalnorm ausreichend Rechnung trägt. Ich will in diesem Zusammenhang einmal den Blick nach Österreich wenden. Eine ähnliche Generalnorm wie im geplanten § 155a StPO spielt in § 42 des österreichischen Strafgesetzbuches eine Rolle. Es heißt dann in § 90i der österreichischen Strafprozeßordnung, daß bei solchen Maßnahmen die Interessen des Verletzten zu berücksichtigen und, soweit sie berechtigt sind, im größtmöglichen Umfang zu fördern sind. Unter Beachtung dieser österreichischen Regelung wäre es doch sinnvoll, eine entsprechende Ergänzung in § 155a StPO vorzunehmen. Schon die Debatte im Bundesrat hat gezeigt, daß man bei der Formulierung „Gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten soll die Eignung nicht angenommen werden“, die vom Kollegen Dr. Götzer zu Recht kritisiert wurde, vielleicht erstens den Begriff der Ausdrücklichkeit streichen und zweitens dazu übergehen könnte, zu sagen: „Gegen den Willen des Verletzten darf der Täter-Opfer-Ausgleich nicht durchgeführt werden.“ ({2}) Das könnte durchaus die Möglichkeit mit sich bringen, die auch im Gutachten beschriebene Interessenlage zu berücksichtigen und das, was Sie selber in bezug auf § 155 a und die anderen Regelungen im Rahmen der Strafprozeßordnung vorgegeben haben, zu erreichen, nämlich die Stellung des Opfers zu verbessern. Ich habe zunächst einmal keinen Grund, an Ihrem Willen zu zweifeln. Aber das könnten Sie mit einer solchen Klarstellung in § 155 a StPO besser bewerkstelligen als mit der derzeit vorliegenden Formulierungsempfehlung. Auf die finanziellen Belastungen hat der Kollege Funke schon hingewiesen. Ich will nur noch sagen, daß uns hier immer wieder wie tönend Erz vorgetragen wurde, daß derjenige, der die Musik bestellt, sie auch bezahlen soll. Hier bestellen Sie mit den über 3 000 notwendigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ein ganz prächtiges Orchester im Rahmen unserer Rechtspflege. ({3}) - Ich sage nichts dagegen, ich will nur darauf hinweisen, Herr Ströbele. Ich finde aber schon, daß die Argumente, die Sie als damalige Opposition vorgetragen haben, auch bei dieser Frage eine Rolle spielen sollten. Wenn wir Haushaltspolitik betreiben und feststellen, daß ein nicht unerheblicher Teil des Sparpakets dazu führt, daß eine Menge Kosten auf die Länder und Kommunen verlagert wird, ist es angemessen, hier einmal zu sagen: Ja, wir stehen zu dieser Regelung!, gleichzeitig aber dafür zu sorgen, daß die Länder dafür eine gewisse finanzielle Entlastung erfahren. ({4}) - Herr Kollege Ströbele.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege von Klaeden, Sie gestatten die Zwischenfrage?

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, geben Sie mir Recht, wenn ich sage, daß Sie, wenn Sie zusätzliche Straftatbestände oder zusätzliche Sanktionen ins Strafgesetzbuch aufnehmen, immer auch die Länder belasten, daß jeder, gegen den Sie eine Freiheitsstrafe verhängen, bei den Ländern zusätzliche Kosten verursacht, nämlich mindestens 200 DM pro Haftplatz pro Tag, und daß auch Sie während Ihrer Regierungszeit, wenn Sie Strafverschärfungen vorgenommen haben, nie auf die Idee gekommen sind, zu sagen: „Jetzt müssen die Länder einen finanziellen Ausgleich erhalten, damit sie die Strafgefangenen unterbringen und versorgen können“? Das hängt nun einmal damit zusammen, daß, jedenfalls in aller Regel, die Strafvollstreckung in der Zuständigkeit der Länder angesiedelt ist und deshalb auch den Finanztopf der Länder belastet.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, was Sie gesagt haben, ist mir bekannt. Mich beeindruckt durchaus, daß es auch Ihnen bekannt ist. ({0}) Ich darf doch einmal verlesen, was Sie unter Punkt D in Ihrem Gesetzentwurf geschrieben haben: Durch die verstärkte Inanspruchnahme der mit der Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs betrauten Ausgleichsstellen ist mit bei den Ländern anfallenden Mehrkosten zu rechnen, die sich derzeit nicht quantifizieren lassen. Wenn ich also nur auf das hinweise, was am Anfang Ihres Gesetzentwurfes steht, bedarf es doch keiner Zwischenfrage. Es handelt sich schlicht um eine Tatsache. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, daß dies in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem steht, was Sie zuvor als Opposition immer wieder gefordert haben, obgleich ich Ihnen, Herr Kollege Ströbele, gern zugestehen will, daß die Situation der Länderhaushalte Ihnen vielleicht nicht so sehr am Herzen lag wie anderen Kolleginnen und Kollegen der vormaligen Opposition. ({1}) Meine Damen und Herren, da ich hier nicht nach dem alten Satz vorgehen will, es ist schon alles gesagt, aber noch nicht von allen, schließe ich meine Ausführungen und wünsche allen Rechtspolitikern einen angenehmen Abend. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich danke Ihnen für den Zeitgewinn, Herr Kollege von Klaeden. Ich schließe die Aussprache. Es wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1928 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der F.D.P. Abschreibungs-Tabellen nicht ändern - Drucksachen 14/1887 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({0}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.Fraktion hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung beabsichtigt, die Abschreibungstabellen so zu verändern, daß die Abschreibungszeiten verlängert werden. Das bedeutet faktisch die Einführung einer neuen Investitionssteuer. Eine neue Investitionssteuer ist in der derzeitigen Situation, in der es darum geht, Arbeitsplätze zu schaffen, vermutlich das Verheerendste, was man überhaupt machen kann. ({0}) Deshalb ist es richtig, daß dieser Vorgang hier im Bundestag behandelt wird. Er wird heute in erster Lesung behandelt und im Finanzausschuß weiterbehandelt; denn ich vermute, daß die Bundesregierung heute nicht erklären wird, daß der Antrag zurückgezogen wird, obwohl sie es tun könnte. Sollte sie es nicht tun, werden wir sie bei diesem Thema treiben. Das sage ich hier ganz deutlich, und darauf werde ich noch im einzelnen zu sprechen kommen. Wenn es in der Vergangenheit konjunkturelle Probleme gab und Arbeitsplätze geschaffen werden sollten, haben alle Regierungen möglichst dazu gegriffen, Abschreibungsfristen zu verkürzen. Das haben sogar sozialdemokratische Wirtschaftsminister getan. Wenn hier unter der Ägide des Finanzministers, des Sparministers Eichel die Abschreibungsfristen verlängert werden, bedeutet das für die Betriebe in Deutschland eine Steuererhöhung auf kaltem Wege. Das ist das letzte, was wir gebrauchen können. ({1}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn man Abschreibungsfristen verlängert und die Steuersätze nicht ändert, ist das eine Steuererhöhung und nichts anderes. Ich wäre dankbar, wenn Sie, Frau Staatssekretärin, das für die Bundesregierung hier bestätigen könnten. Dies ist keine reine Verwaltungsvereinbarung. Vielmehr hat das Kabinett vor der Sommerpause beschlossen, daß aus dieser Maßnahme Steuermehreinnahmen in Höhe von 2,2 Milliarden DM im Jahr 2000 entstehen sollen. Daher möchte ich alle Beamten, die daran arbeiten, vor den Äußerungen der Regierung in Schutz nehmen, die besagen, damit habe die Regierung überhaupt nichts zu tun, da es eine reine Verwaltungsgeschichte sei. Das stimmt nicht. Wenn es reines Verwaltungshandeln wäre, hätte das Kabinett dies in der Sitzung vor der Sommerpause nicht beschließen dürfen. ({2}) Das Kabinett hat es aber beschlossen. Wenn es das nicht wollte, hätte es diesen Beschluß förmlich zurückzunehmen. Das bezwecken wir mit unserem Antrag. ({3}) Es ist auch absolut unglaubwürdig, wenn die Regierung in Aussicht stellt, im Rahmen einer Unternehmensteuerreform sollten die Steuerbelastungen für die Unternehmen um 8 Milliarden DM gesenkt werden. Die Regierung hat in diesem Zusammenhang schon viel versprochen. Sie hat schon versprochen, daß es ab dem 1. Januar 2000 eine Unternehmensteuerreform geben soll. ({4}) Jetzt haben Sie gerade einmal beschlossen, am 5. Januar 2000 solle der Referentenentwurf eingebracht werden. Es scheint aber noch Diskussionsbedarf im Hinblick auf Kollegin Scheel zu geben, die in der Öffentlichkeit erklärt hat, dieses Konzept der Regierung trage sie überhaupt nicht mit, obwohl auch dieses Konzept vom Kabinett verabschiedet wurde. Ihm gehört die Frau Kollegin Scheel zwar noch nicht an; aber es gibt ja den einen und anderen grünen Minister, der bereits den Vorstellungen der Regierung zugestimmt hat. Das nur zum Stichwort Glaubwürdigkeit! In diesem Zusammenhang möchte ich Wirtschaftsminister Müller zitieren, der einen Brief an Finanzminister Eichel geschrieben hat - ich zitiere aus der „FAZ“ vom 15. Oktober 1999 -: Müller erinnerte seine Kollegen an den Kabinettsbeschluß vom Februar zur steuerlichen Regelung von Rückstellungen auf der Grundlage einer Vorlage des Bundesfinanzministeriums, der völlig falsch gewesen war und die Wirtschaft erheblich mehr belastet hätte. Damals sei gesagt worden, daß sich solche Fehleinschätzungen nicht wiederholen dürften. Ich finde, Wirtschaftsminister Müller hat an dieser Stelle recht. ({5}) Wenn das Finanzministerium unter Finanzminister Lafontaine nicht rechnen konnte, dann scheint es unter Finanzminister Eichel ebensowenig rechnen zu können. Denn die Belastung, die sich aus dieser Absicht der Bundesregierung ergibt, beträgt pro Jahr 14 bis 20 Milliarden DM - das geht zu Lasten von deutschen Arbeitsplätzen -, und in das Finanztableau wurden nur 2,2 Milliarden eingestellt. ({6}) Ich möchte jetzt aus der Rede des Bundeskanzlers zitieren, die er vor dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels gehalten hat: Denn Sie haben recht, insbesondere was da überlegt worden ist bei den Abschreibungen von ComputerHardware, ist sowas neben der Sache, daß man dies nicht lange erläutern muß. Es ist, wie das gelegentlich so ist, ein Entwurf im Finanzministerium gewesen, fiskalisch begründet, dies müssen die auch, aber nicht alles, was da, ohne daß die Hausspitze es gesehen hat, aufgeschrieben und gedacht wurde, muß gleich Gegenstand öffentlicher kritischer Erörterungen werden. Ist er aber, und ich mache es hier sehr deutlich: Diese Tabellen, die dort versandt worden sind, sind keine Tabellen, die rechtliche Geltung erlangen werden. „Gesetz“ darf ich nicht sagen, weil es, glaube ich, Erlasse sind. Soweit Bundeskanzler Schröder. Deshalb kann ich dieser Regierung nur sagen: Ziehen Sie diese Änderung zurück! ({7}) Denn ich glaube Ihnen nicht, daß diese Abschreibungslisten nicht Quasi-Gesetzeskraft erhalten sollen. Wir werden Sie mit diesem Thema treiben. ({8}) - Das werden wir. Das geschieht jetzt schon. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Thiele, ich muß Sie leider angesichts Ihrer Redezeit auch etwas treiben.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Bläss, ich lasse mich hier auch treiben. Abschließend möchte ich sagen: Die Glaubwürdigkeit von Rotgrün ist sowieso schon dahin. Aber wenn die Neue Mitte Ihre Zielgruppe sein soll, dann machen Sie sie nicht mit diesen Abschreibungsregelungen zur Zielscheibe. Das haben die Unternehmer, die Unternehmen und die Arbeitnehmer in unserem Lande nicht verdient. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium der Finanzen, Barbara Hendricks. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Beurteilung Ihrer Rede, geschätzter Herr Kollege Thiele, fallen mir nur zwei Möglichkeiten ein: Entweder haben Sie keine Ahnung, oder Sie sprechen wider besseres Wissen. Ich nehme das letztere zu Ihren Gunsten an. ({0}) Im übrigen kann ich sogleich erklären, daß die Aussage des Bundeskanzlers, die Sie hier zitiert haben, vollständig mit dem in Einklang steht, was ich Ihnen schon vor mindestens zwei Wochen, als wir uns zum erstenmal darüber im Finanzausschuß unterhalten haben, genau so für die Bundesregierung gesagt habe. Es gibt also keinerlei Dissens zwischen dem Bundesfinanzministerium und dem Bundeskanzler. ({1}) Das könnten Sie sogar dem Protokoll entnehmen, wenn das Protokoll der Sitzung des Finanzausschusses von vor zwei, drei Wochen vorliegt. Der Antrag der F.D.P.-Fraktion zielt ja darauf, die Überarbeitung der AfA-Tabellen einzustellen und es bei den bisherigen AfA-Tabellen zu belassen. ({2}) Diese Forderung haben schon einige Wirtschaftsverbände erhoben. Das ist natürlich auch ihr gutes Recht. Ich will aber eines klar sagen: Dieser Forderung kann die Finanzverwaltung im Hinblick auf das auch Ihnen bekannte Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19. November 1997 zur Ermittlung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer eines Wirtschaftsgutes einfach nicht nachkommen. ({3}) Nach diesem Urteil ist als maßgebliches Kriterium für die Bemessung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer im Sinne des § 7 Einkommensteuergesetz die technische Abnutzung eines Wirtschaftsgutes anzusehen. Eine von der technischen Nutzungsdauer abweichende, kürzere wirtschaftliche Nutzungsdauer ist nach der BFH-Rechtsprechung nur noch in den Fällen zulässig, in denen unter Berücksichtigung der typischen Nutzung im Betrieb des einzelnen Steuerpflichtigen die Möglichkeit einer wirtschaftlich sinnvollen, auch anderweitigen Nutzung oder Verwertung objektiv endgültig entfallen ist.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Hendricks, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Ja. Bitte, Herr Kollege.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin, Sie beziehen sich auf das Urteil des BFH vom 19. November 1997. Ist Ihnen bekannt, daß dieses Urteil des Bundesfinanzhofes einen Einzelfall betrifft, in dem ein Steuerpflichtiger trotz der damals geltenden Nutzungsdauer von vier Jahren bei der Abschreibung von Pkws der Auffassung war, sein Pkw müßte in drei Jahren abgeschrieben sein, und daß der BFH in diesem Einzelfall erklärt hat, daß eine Abschreibung in drei Jahren nicht zulässig sei, sondern daß der Steuerpflichtige die damals geltende Nutzungsdauer von vier Jahren anzuwenden habe? Ich muß jedoch bemerken, inzwischen ist es auf fünf Jahre verlängert. Aber aufgrund dieses Einzelfalls zu Lasten des Steuerpflichtigen sind die AfA-Tabellen nicht geändert worden und läßt sich aus meiner Sicht nicht ein Auftrag an die Finanzverwaltung herleiten. Vielmehr ist es reines Wunschdenken, um einen Auftrag von Dritten zu bekommen, um die Steuer zu erhöhen.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Kollege Thiele, dieses Urteil ist mir bekannt. Ich kenne natürlich auch den Inhalt des Urteils. Zu diesem Urteil hat die alte Bundesregierung keinen Anlaß gesehen, einen Nichtanwendungserlaß zu erlassen. Daraufhin ist das Urteil durch die Verwaltung anzuwenden. Jetzt sind wir verpflichtet, es umzusetzen. Sie hätten zumindest versuchen können, einen Nichtanwendungserlaß herauszugeben. Die Finanzverwaltung hat es damals versäumt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Bisher wurden bei der Aufstellung und bei der Änderung von Abschreibungstabellen auch betriebswirtschaftliche Aspekte berücksichtigt, die in der Regel zum Ansatz einer verkürzten Nutzungsdauer führen. Nach dem BFHUrteil ist dies nicht mehr zulässig, aber, wie erwähnt, natürlich in jedem Einzelfall gleichwohl möglich.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Hendricks, es gibt eine zweite Zwischenfrage. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Bitte schön, Herr Kollege Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin, könnten Sie mir erläutern, wie auf ein Urteil hin, welches keine rechtliche Bindung für den Gesetzgeber erlangt oder auch nur feststellt, ein Nichtanwendungserlaß überhaupt ergehen muß? Denn ein Nichtanwendungserlaß setzt nach meinem Rechtsverständnis voraus, daß der BFH eine strittige Frage so klargestellt hat, daß eine Anwendung erfolgen muß, über den Einzelfall hinaus. Das enthält das Urteil in keiner Form. Insofern bedarf es auch keines Nichtanwendungserlasses.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Kollege Thiele, wir können uns hier jetzt natürlich rechtlich darüber streiten. Es hat jedenfalls diesen Nichtanwendungserlaß nicht gegeben. Nach Auffassung der obersten Finanzbehörden des Bundes und aller Länder enthält dieses BFH-Urteil rechtlich bindende Aussagen. Sie können anderer rechtlicher Auffassung sein. Ich kann nur sagen, es ist zu Zeiten der alten Bundesregierung versäumt worden, einen Nichtanwendungserlaß herauszugeben. Hätte es ihn geben können, hätten wir keine rechtlichen Zweifelsfragen. Sie vertreten da eine andere Position als die obersten Finanzbeörden des Bundes und aller Länder. Wir können uns weiter darüber streiten. Bitte schön, Herr Kollege Fromme.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Sie haben die Regie schon übernommen. Bitte, Herr Kollege Fromme, Ihre Frage.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, können Sie mir vielleicht einmal erklären, wo es eine Rechtsgrundlage gibt, die Sie daran hindert, jetzt einen Nichtanwendungserlaß herauszugeben? ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Kollege Fromme, Sie wissen, daß ich keine Juristin bin. Ich werde Ihnen diese Frage gerne schriftlich beantworten, aber ich bin sicher und davon überzeugt, daß es bestimmte Regeln gibt, innerhalb deren ein solcher Nichtanwendungserlaß ergehen muß. Das ist eben nicht erfolgt. Aber wir können das noch klären. Zum Verfahren: Die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder sind an diese Auslegung des § 7 des Einkommensteuergesetzes durch den BFH gebunden. Sie beschlossen deshalb bereits Anfang 1998, also noch zu Zeiten der alten Bundesregierung, eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag einzusetzen, alle AfA-Tabellen zu überarbeiten. Diese Arbeiten sind noch im Gange. Fertiggestellt ist bislang lediglich ein Arbeitsentwurf der AfA-Tabelle für allgemein verwendbare Anlagegüter; ein Arbeitsentwurf, das darf ich noch einmal betonen. Dieser beruht auf den Ergebnissen aktueller Betriebsprüfungen im gesamten Bundesgebiet, die etwa im Zeitraum von Mitte 1998 bis Mitte 1999 vonstatten gegangen sind. Diese Ergebnisse führen generell zur Verlängerung der Nutzungsdauern unter technischen Aspekten. Die Stellungnahme der Spitzenverbände der Wirtschaft zu diesem Arbeitsentwurf werden Anfang Dezember 1999 durch die Vertreter der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder ausgewertet. Sollte sich dabei herausstellen, daß die von den Fachleuten der Finanzverwaltung unter Beachtung der Rechtsprechung des BFH ermittelten Nutzungsdauern einzelner Wirtschaftsgüter im Arbeitsentwurf zu lang angesetzt wurden, was zu erwarten ist, werden diese Ansätze natürlich korrigiert. Dies entspricht dem üblichen Verfahren bei der Anpassung der AfA-Tabellen. Erst nach Abschluß dieser Arbeiten wird die endgültige Tabelle im Bundessteuerblatt veröffentlicht. Auch die übrigen rund 100 branchenspezifischen AfA-Tabellen werden zur Zeit überarbeitet und voraussichtlich im Laufe des Jahres 2000 als Entwurf ebenfalls den betroffenen Spitzenverbänden zugeleitet. Die AfATabellen sind im übrigen nicht, wie hier und da geäußert, Gegenstand einer Rechtsverordnung. Sie sind eindeutig eine Verwaltungsvorschrift und deshalb für den Steuerpflichtigen unverbindlich. Die Erfahrung zeigt zwar, daß sich die Steuerpflichtigen selber an diesen AfA-Tabellen orientieren, gleichwohl kann aber jeder Unternehmer der Abschreibung für ein Wirtschaftsgut eine kürzere Nutzungsdauer als in der AfA-Tabelle zugrunde legen, wenn dies hinsichtlich der technischen Abnutzung des Wirtschaftsguts in seinem Unternehmen schlüssig begründet ist. Es hat also keine Bindungswirkung für den Steuerpflichtigen. Die Überarbeitung der AfA-Tabellen steht nicht im steuerpolitischen Kontext der Reform der Unternehmensbesteuerung oder anderer zentraler steuerpolitischer Vorhaben der Bundesregierung. ({0}) Es handelt sich, wie ich Ihnen schon sagte, um ein bereits unter der Vorgängerregierung im Einvernehmen mit allen Ländern begonnenes Vorhaben auf Verwaltungsebene. Es geht hier allein um die Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts. Der zeitliche Zusammenhang mit der beabsichtigten Unternehmenssteuerreform ist also zufällig. Die Anpassung der AfA-Tabellen an die geänderte Rechtsprechung hätte auch ohne eine Unternehmensteuerreform vollzogen werden müssen. Es trifft aber zu, daß im Finanztableau für den Kabinettsbeschluß vom 23. Juni 1999 die überarbeiteten AfA-Tabellen im Entstehungsjahr mit Mehreinnahmen von 2,2 Milliarden DM ausgewiesen waren, im Rechnungsjahr 2000 übrigens mit rund 800 Millionen DM anders, als Sie es eben gesagt haben, Herr Kollege Thiele. Diese Schätzung der Bundesregierung erfolgte allerdings vor Kenntnis eines Zwischenergebnisses der Bund/Länder-Arbeitsgruppe und beschränkte sich auf einen vorsichtigen pauschalen Ansatz. Ich denke, daran wird auch deutlich, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt hat, mit der Verlängerung von Abschreibungsfristen zwischen 14 und 20 Milliarden DM im Jahr an zusätzlichem Steueraufkommen zu erzielen. Andererseits konnte natürlich die Bundesregierung auch nicht die Augen davor verschließen, daß diese Arbeiten im Gange waren. Deswegen ist ein vorsichtiger pauschaler Ansatz geschätzt worden. Das muß im Sinne einer seriösen Finanz- und Haushaltsplanung auch so sein. ({1}) Dies ist also mit rund 800 Millionen DM in den Steuereinnahmeansatz des Jahres 2000 eingegangen. Sie sehen an der Differenz zwischen 2,2 Milliarden DM im Entstehungsjahr bzw. rund 800 Millionen DM im ersten Rechnungsjahr und einer geschätzten Mehrbelastung, die auch von Ihnen hier vorgetragen worden ist, zwischen 15 und 20 Milliarden DM, daß wir keinesfalls beabsichtigen, die Verlängerung der Nutzungsdauern in einem Umfang herbeizuführen, daß tatsächlich eine solche steuerliche Mehrbelastung eintreten würde. Danke schön. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Leo Dautzenberg das Wort.

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Fraktion fordert mit ihrem Antrag die Bundesregierung auf, von der „geplanten Verschlechterung“ der AfA-Tabellen Abstand zu nehmen. Die CDU/CSU-Fraktion hatte mit Drucksache 14/1746 vom 6. Oktober dieses Jahres bereits eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung bezüglich der Neufassung der AfA-Tabellen gestellt. Heute nachmittag ist die Antwort eingegangen. Frist für die Beantwortung war der 21. Oktober. Benötigt das Finanzministerium, Frau Staatssekretärin, wirklich so lange, um einfache Fragen zu beantworten? Der Entwurf einer überarbeiteten AfA-Tabelle „AV“ ist vom Finanzministerium den Wirtschaftsverbänden zur Stellungnahme übersandt worden. Hintergrund der geplanten Neufassung der AfA-Tabellen ist ein Urteil des Bundesfinanzhofes vom 17. November 1997. Die Behauptung des Finanzministeriums und auch heute wiederum der Staatssekretärin, daß die Entscheidung des BFH zwangsläufig zu einer grundlegenden Überarbeitung der AfA-Tabellen führen muß, ist schlichtweg falsch. ({0}) Die AfA, Abschreibung für Abnutzung, ist die Verteilung der Anschaffungs- oder Herstellungskosten auf die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer. Die Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern, die der technischen oder wirtschaftlichen Abnutzung unterliegen, ist stets begrenzt. Das Ende der Nutzung wird durch technische und wirtschaftliche Gründe bestimmt. Daran hat sich die Schätzung der betrieblichen Nutzungsdauer zu orientieren. Darauf beruht die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes, die sich auch durch das oben genannte Urteil nicht geändert hat. Der Bundesfinanzhof wendet sich im Ergebnis nur dagegen, die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer noch weiter auf eine sogenannte Behaltefrist im eigenen Betrieb zu reduzieren. Der BFH hat in einem branchenspezifischen Fall der Pkw-Vermietung entschieden, daß eine kürzere als die amtliche AfA-Nutzungsdauer nicht gewährt werden kann - das hat Herr Thiele schon betont -, wenn an Hand der Bilanzen nachgewiesen werden kann, daß der Unternehmer die Wirtschaftsgüter nach Ablauf des Nutzungszeitraums in jedem Fall mit hohem Restwert, nämlich 30 bis 40 Prozent der Anschaffungskosten, veräußert. ({1}) Dieser Einzelfall kann aber nicht zum Anlaß genommen werden, für fast alle anderen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer drastisch zu verlängern. ({2}) Bei Pkws haben wir zudem einen funktionierenden Sekundärmarkt, den wir beim überwiegenden Teil der anderen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens eben nicht haben. Für den typischen Investitionsgütermarkt gibt es keinen etablierten Gebrauchtmarkt. Festzuhalten ist weiterhin, daß die derzeit gültige AfA-Tabelle „AV“ erst zwei Jahre alt ist. Dem Aspekt der längeren technischen Nutzung war bereits bei der Aufstellung dieser Tabelle Rechnung getragen worden. Deshalb ist es eben nicht nachvollziehbar, wenn in dem Entwurf die Nutzungsdauer für Wirtschaftsgüter wie zum Beispiel für EDV-Anlagen, Großrechner, von fünf auf acht Jahre, für PCs von vier auf sechs Jahre, für Peripheriegeräte von vier auf sieben Jahre, für Büromöbel von 10 auf 15 Jahre, für Pkw von fünf auf acht Jahre, für Lkw von sieben auf elf Jahre und für Maschinen des Anlagevermögens teilweise von 10 auf 20 Jahre erhöht wird. Das sind nur wenige Beispiele. Man muß fragen: Welche empirischen Untersuchungen von welchen Behörden liegen den überarbeiteten AfA-Tabellen eigentlich zugrunde? Wir haben mit der neuen AfA-Tabelle somit eine Verlängerung der Nutzungszeiträume mit einer Spannbreite von 50 bis zu 150 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar, meine Damen und Herren. ({3}) Wenn durch die neuen AfA-Tabellen erreicht werden soll, daß die Unternehmen ihre Anlagen länger nutzen und nicht durch neue, auf dem Stand der Technik befindliche Anlagen ersetzen, kann dies als volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Fehlleistung bezeichnet werden. ({4}) Ein Unternehmen kann nur dann mit niedrigen Kosten produzieren, wenn es hierfür die modernsten und leistungsfähigsten Anlagen einsetzt. Verlängert man die AfA-Zeiten, kommt es zu einem staatlich verordneten Desinvestitionsprogramm. Im Ergebnis ist dies ein staatlich verordnetes Investitionsdrosselungsprogramm und damit kontraproduktiv hinsichtlich der Zielsetzung, Arbeitsplätze zu schaffen. ({5}) Gegenüber den Wettbewerbern im Ausland, die wesentlich kürzere AfA-Laufzeiten haben, wäre dies eine weitere Benachteiligung für den Standort Deutschland. Dies hat für in- und ausländische Investoren erhebliche Auswirkungen, da die AfA-Sätze neben den Steuersätzen oft als einzige steuerliche Berechnungsgröße Eingang in betriebswirtschaftliche Investitionsrechnungen finden. Es kommt hinzu, daß im Zuge der beabsichtigten Unternehmensteuerreform die degressive AfA von 30 auf 20 Prozent gesenkt werden soll. Die Verlängerung der Abschreibungsdauer - so die Behauptung der Finanzverwaltung - ist nicht lediglich ein Periodisierungsproblem. Nein, die durch eine Verlängerung der Nutzungsdauer eintretenden geringeren Abschreibungsbeträge können nicht mehr aufgeholt werden. Denn das für Investitionen bedeutsame Innenfinanzierungsvolumen durch Abschreibungen wird über einen Zeitraum vermindert, der in etwa der Verlängerung der jeweiligen Nutzungsdauer entspricht. Halten die Unternehmen an ihrer geplanten Investitionspolitik fest, müssen sie zur Finanzierung neuer Investitionen Kredite in Höhe der verordneten zusätzlichen Steuern aufnehmen. Liquidität und Cash-flow der Unternehmen werden gefährdet. Das Instrument der Selbstfinanzierung gerät damit in Gefahr, und dies, meine Damen und Herren, trifft insbesondere unsere mittelständischen Unternehmen. ({6}) In mittelständischen Unternehmen werden häufig die dünne Eigenkapitaldecke und die unausgewogene Finanzierungsstruktur beklagt. Um so weniger ist es deshalb verständlich und einzusehen, daß der Staat die Innenfinanzierung erschwert. Vielleicht sind noch viel näher liegende Gründe für die vorliegende AfA-Tabelle ausschlaggebend. In einer Kabinettsitzung der rotgrünen Regierung Ende Juni aus ihr wurde schon zitiert - wurde das Steueraufkommen mit der neuen AfA-Tabelle auf rund 2,5 Milliarden DM geschätzt. Die Wirtschaftsverbände beziffern die steuerlichen Mehrbelastungen auf 13 bis 15 Milliarden DM. Bereits das sogenannte Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2001 hat zunächst die Unternehmen mit Änderungen der Bemessungsgrundlagen und mit Hinweis auf eine grundlegende Unternehmensteuerreform mit Milliarden D-Mark mehrbelastet. Mit dem Schritt der neuen AfA-Tabellen wird eine weitere Vorwegfinanzierung einer noch immer unbestimmten Unternehmensteuerreform vollzogen. An Stelle einer in Aussicht genommenen Steuerentlastung führt dies in den betroffenen Unternehmen zu erheblich steigenden Steuerbelastungen mit noch hohen Steuersätzen, da es infolge des sinkenden AfA-Volumens bereits ab dem Jahr 2000 zu deutlichen Erhöhungen der Buchgewinne kommt. Ein weiterer Gesichtspunkt kann für die Aktualität der neuen AfA-Tabelle ausschlaggebend sein. Wenn seitens des Bundesfinanzministeriums erklärt wurde, der vorliegende Entwurf sei mit den Ländern abgestimmt, so trifft dies nur zum Teil zu. Länder wie BadenWürttemberg und Bayern haben sich frühzeitig verabschiedet. Sollten hier die Länder eine mögliche Kompensation für die Belastungen aus dem sogenannten Sparpaket erhalten? ({7}) Die Investitionskraft unserer Volkswirtschaft darf nicht durch solche vordergründigen Ränkespiele gefährdet werden. Die Reaktionen aus den Wirtschaftsverbänden zeigen, daß diese im Interesse der Unternehmen und der Arbeitsplätze nicht bereit sind, die neuen AfA-Tabellen zu akzeptieren. Von seiten des Finanzministeriums wird dann wiederum betont, es handele sich lediglich um einen Referentenentwurf. Finanzminister Eichel läßt ausschließlich aus fiskalischem Interesse die Beamten agieren. Laut „Handelsblatt“ vom 20. Oktober 1999 - Herr Thiele hat es schon zitiert - hat Bundeskanzler Schröder vor dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels erklärt, die neuen Tabellen erhielten keine Geltung. Man muß fragen, welches Verfallsdatum diese Zusagen haben. ({8}) Wir haben zwar keine Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich der AfA-Tabellen. Wir sollten uns aber in einer Anhörung oder in einem Fachgespräch/Expertengespräch mit dieser Sachlage im Finanzausschuß befassen. In der vorliegenden Form kann die AfA-Tabelle aus den dargelegten Gründen nicht akzeptiert werden. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Thiele, wenn Sie die Auffassung vertreten, Sie müßten die Regierung zu diesem Thema treiben, dann kann ich nur sagen: Wir beschäftigen uns mit diesem Thema. Dazu bedarf es nicht der F.D.P. ({0}) Das BFH-Urteil vom 19. November 1997 wurde auf der Verwaltungsebene - bereits zu den Zeiten der alten Koalition - so interpretiert, daß sich im Regelfall die Abschreibungstabellen an den technischen Nutzungsdauern zu orientieren haben. Das heißt, auch nach Auffassung der in den Ministerien jeweils Zuständigen der alten Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. wurde es so formuliert, daß es zwingend notwendig sei, hier eine gewisse Anpassung - ich nenne das bewußt so - vorzunehmen. Daraufhin haben Sie in Ihrer Verantwortung 1998 eine Arbeitsgruppe auf den Weg gebracht, ({1}) die letztendlich diesen Auftrag zu erfüllen hatte. ({2}) - Im Januar 1998. Nach dem Regierungswechsel gab es einen Entwurf, der am 31. August 1999 an die Wirtschaftsverbände zur Stellungnahme weitergegeben wurde. Es ist vollkommen klar, daß unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Wirtschaftsverbände Anpassungen vorgenommen werden, wenn sich Nutzungsdauern als zu lang angesetzt herausstellen. Es ist aber auch klar, daß der jetzt vorliegende Vorschlag in dieser Form absolut nicht akzeptabel ist. Es ist logisch, daß sich Investitionen auf der einen Seite für die Wirtschaft rechnen müssen, daß sich auch die Modernisierungen der Betriebe im Konkurrenzgeschäft eines internationalen Marktes rechnen müssen und daß wir hier nicht etwas tun dürfen, wodurch wir die mittelständische Wirtschaft im Hinblick auf ihre Konkurrenzfähigkeit in die Bredouille bringen. ({3}) Ich nenne noch einmal das Beispiel der Notebooks, weil dies immer wieder angeführt worden ist. Dabei geht es um die Verlängerung des Abschreibungszeitraums von vier auf sechs Jahre. Dies ist wirklich realitätsfremd, und es gibt viele andere Regelungen, die ebenfalls realitätsfremd sind. ({4}) Ich sage es noch einmal deutlich: Niemand hat vor, diese AfA-Tabellen des auf der Verwaltungsebene vorgelegten Vorentwurfes in ihrer ursprünglichen Ausgestaltung Realität werden zu lassen. Das wissen alle in diesem Haus. ({5}) Ich kann an dieser Stelle nur sagen - das gilt für die gestrige Debatte in der Aktuellen Stunde genauso -, daß die F.D.P. versucht, sich mit irgendwelchen ungelegten Eier zu profilieren. Gestern versuchte sie es hinsichtlich der Steuerschätzung, obwohl überhaupt keine Zahlen auf dem Tisch liegen. Heute versucht sie es mit Tabellen, die niemals Realität werden, was sie genau weiß. ({6}) Man versucht also, politisch Profit zu schlagen ({7}) und die Wirtschaft zu verunsichern. ({8}) Letztlich glaubt man, von irgendwelchen Leuten Unterstützung zu bekommen, die dies dementsprechend weiterleiten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thiele?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Scheel, stimmen Sie mir darin zu, daß diese Regierung, anders als jede andere Regierung, erstmalig ein Finanztableau eingestellt hat - in der Größenordnung von 2,195 Milliarden DM im Entstehungsjahr -, was darauf schließen läßt, daß diese Regierung eine finanzielle Mehrbelastung der Unternehmen beabsichtigt, was eine Vorgängerregierung nie getan hat, weil es keine politische Entscheidung dafür gab? ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Thiele, ich glaube, in diesem Punkt liegen Sie vollkommen falsch. ({0}) Sie haben allerdings insofern recht, als in der Schätzung mit einer Summe gerechnet wird, die Sie eben angesprochen haben, nämlich mit etwa 2,1 Milliarden DM. Ich finde es übrigens gut, daß Sie diese Zahl endlich einmal genannt haben. ({1}) Sie sprachen vorhin von 15 bis 17 Milliarden DM. Es hat eine andere Dimension, wenn man versucht, den Eindruck zu erwecken, als würde die Wirtschaft im Jahre 2000 plötzlich in dieser Größenordnung belastet. Sie wissen genau, daß dies so nicht stimmt. Deswegen vielen Dank, was diese Klarstellung angeht. Nun aber zu dem zweiten Teil Ihrer Frage. Sie haben gesagt, die alte Regierung habe niemals eine Zahl in Umlauf gebracht. Das ist schlicht und ergreifend falsch. ({2}) Die alte Regierung ging in der Finanzplanung von 3 Milliarden DM aus. ({3}) Diese Summe wurde in der Finanzplanung immer mit berücksichtigt, weil man wußte, daß man die Arbeitsgruppe mit einem entsprechenden Auftrag versehen hatte. Natürlich hat man auch Schätzungen vorgenommen. Die Schätzung der alten Regierung liegt um fast 1 Milliarde über dem, was die neue Regierung jetzt in ihrer Schätzung vorgelegt hat. Das sind die Fakten. Sonst gar nichts. ({4}) Nun noch ein paar Überlegungen zu den Zahlen und auch zu den finanziellen Wirkungen. Eines habe ich bereits angesprochen: Von den zweistelligen Milliardenbeträgen, die des öfteren genannt werden, kann nicht die Rede sein. Natürlich gibt es auch, was die Liquiditätsüberlegungen angeht, bestimmte Wirkungen. Das heißt, wenn man bestimmte Dinge anpaßt - ich will sie nicht im Detail nennen; das ist die Aufgabe, die diese Arbeitsgruppe zu bewältigen hat -, führt dies zu Mindereinnahmen. Im Ergebnis, wenn verteilt wird, sieht es also für den Bund oder auch für die Länder ganz anders aus, als sie gedacht haben. Das heißt, dies führt im Saldo nicht zu einer Mehrbelastung, sondern es entstehen verlagerte Effekte. ({5}) Ich sage auch ganz deutlich: Es ist ein zeitlicher Zufall, keine versteckte Gegenfinanzierung der geplanten Unternehmensteuerreform, wie das von Ihnen immer dargestellt wird. Wir haben uns vorgenommen, kleine und mittlere Unternehmen zu entlasten. So steht es im Koalitionsvertrag. Dies ist das politische Ziel und der politische Wille, sonst nichts. ({6}) Ich möchte abschließend - meine Redezeit ist leider schon zu Ende - anmerken, daß man bei der Überarbeitung der Tabellen auch über den Anwendungszeitpunkt nachdenken sollte, damit die Opposition nicht wie jetzt versuchen kann, Verbindungen zwischen Zahlen herzustellen. Deswegen werden wir in diesem Zusammenhang eine sehr weise Entscheidung treffen. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Heidemarie Ehlert, Sie haben das Wort für die PDS-Fraktion.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus Sicht der F.D.P.-Fraktion als Vertreterin der Wirtschaftslobby ist der vorliegende Antrag natürlich verständlich. Ich frage nur, warum Sie nicht 1997 - vor der letzten Änderung der AfA-Tabellen - einen solchen Antrag gestellt haben. Herr Waigel plante damals, 2,5 Milliarden DM Steuermehreinnahmen zu kassieren. Offensichtlich waren damals keine Arbeitsplätze gefährdet. Herr Thiele, Sie wissen doch genauso gut wie ich, daß die amtliche AfA-Tabelle für die allgemein verwendbaren Anlagegüter nichts mit der tatsächlichen Gebrauchswertabnutzung zu tun hat. Sie ist - man muß nur auf die letzte Legislaturperiode zurückschauen - ein politisches, zwischen dem Finanzministerium und den Fachverbänden der Wirtschaft ausgehandeltes Ergebnis, um unter Umgehung von Steuererhöhungen mehr Geld in die Staatskassen zu bekommen. Durch eine veränderte Abschreibung sollen diesmal 2 Milliarden DM erzielt werden, mit denen das Sparprogramm mitfinanziert werden soll. Allerdings ist bisher noch nie so deutlich gekungelt worden wie in diesem Jahr. Früher waren die AfA-Tabellen zunächst internes Material des Ministeriums. Aber diesmal wurde die Lobby durch das BMF rechtzeitig informiert und mobilisiert. Wir als Abgeordnete des Bundestages haben allerdings selbst keinen Einfluß auf diese Tabellen, es sei denn, unsere politische Heimat ist einer der Lobbyverbände. Dies scheint bei Ihnen so zu sein. ({0}) Die AfA-Tabelle ist einer der aufkommensbedeutsamsten Bestandteile unseres Steuersystems. Ein Prozentpunkt an degressiver Abschreibung bedeutet steuerliche Mehr- bzw. Mindereinnahmen von zirka 1 Milliarde DM im Jahr. Es lohnt sich also sowohl für die Regierung wie auch für die Wirtschaft, über Abschreibungssätze nachzudenken. Die PDS-Fraktion ist für eine Anpassung der AfATabellen und auch für eine Verlängerung der Nutzungsdauer. Sie muß allerdings wesentlich zielgenauer als bisher sein. Im High-Tech-Bereich ist vor allem der moralische Verschleiß gegenwärtig sehr hoch. Dies wurde zum Beispiel bei der AfA für Computer, Mobiltelefone und andere Elektronikgeräte offensichtlich völlig übersehen. Aber, werte Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., Sie glauben doch wohl selbst nicht daran, daß die Wirtschaft mit den Einnahmen aus den Abschreibungen in erster Linie Arbeitsplätze schafft oder Investitionen tätigt. Wenn dies so wäre, dann hätte es ja in den Jahren vor 1997, also vor der letzten Änderung der AfA-Tabellen, fast ein Überangebot an Arbeitsplätzen geben müssen. ({1}) Eine längere Nutzung der entsprechenden Wirtschaftsgüter muß auch nicht automatisch zum Abbau von Arbeitsplätzen führen. Es kann doch zum Beispiel parallel ein Dienstleistungssektor aufgebaut werden, der Service und Reparaturen anbietet. Neue Arbeitsplätze können in arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichen entstehen. Wir sind außerdem für eine verlängerte, zielgenaue Abschreibung, weil sie einfach ökologischer ist. Der entsprechend der künstlich festgelegten Abschreibung beschleunigte Arbeitsmittelumschlag ist eine gewaltige, vermeidbare Rohstoffvergeudung und eine zusätzliche Umweltbelastung. ({2}) Wie lange wollen und können wir uns das überhaupt noch leisten? ({3}) Auch über die Abschreibungen kann unseres Erachtens ein Einstieg in den ökologischen Umbau erfolgen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Fritz Schösser, SPDFraktion.

Fritz Schösser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003230, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der F.D.P. „Abschreibungstabellen nicht ändern“ vermittelt den Eindruck, als könne er kein Wässerchen trüben. Bei genauerem Hinsehen und vor allem vor dem Hintergrund der aufgeschreckten, aber sehr durchsichtigen Kampagne, die zu diesem Thema bereits öffentlich veranstaltet wurde, kommt man dann aber schnell zu einer anderen Betrachtungsweise. Wie immer, meine Damen und Herren von der F.D.P., schütten Sie das Kind mit dem Bade aus. Denn mit Ihrer Kampagne verunsichern Sie die Wirtschaft und erreichen genau das Gegenteil von dem, was Sie scheinheilig zu wollen vorgeben. ({0}) Ich kann Ihnen nur sagen: Nehmen Sie sich ein Beispiel an der CDU/CSU; die haben, dem Problem angemessen, eine Kleine Anfrage gestellt und nicht einen Antrag eingebracht. Das hat auch seinen Sinn, wie ich später noch darstellen werde. Es hat vielleicht auch seinen Sinn, daß heute niemand von der CSU dabei ist. Aber auch dazu später noch etwas. Es geht für Sie nicht darum, den Investitionsstandort Deutschland wirklich attraktiv zu machen. Nein, Herr Thiele, Sie regen sich künstlich auf, verspritzen verbales Gift, zeigen mit dem Finger auf die Regierung und hoffen darauf, daß schon etwas hängenbleibt. Das ist die Art, von der der Antrag geprägt ist. ({1}) Aus Mücken auf der Verwaltungsebene haben Sie einen regierungsamtlichen Elefanten gemacht. Aber was Sie hier veranstalten, ist nichts anderes als ein Sturm im Wasserglas. Bundeswirtschaftsminister Werner Müller hat sich ja sehr frühzeitig klar und auch differenziert von dem Material der Steuerexperten auf der Beamtenebene von Bund und Ländern distanziert. ({2}) - Er hat sich davon distanziert. - Aber man höre und staune: Herrn Thiele stört das gar nicht. Am nächsten Tag nämlich wirft er dem Wirtschaftsminister vor, begleitet vom Konzert der Wirtschaftsverbände - in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist es nachzulesen -: „Herr Müller weiß regelmäßig nicht, was er beschlossen hat.“ ({3}) Wie kann er auch, Herr Thiele, wenn es noch gar keinen Beschluß über die neuen AfA-Tabellen gibt? ({4}) Herr Thiele, ich kenne Sie ja mittlerweile ein wenig. Wahrscheinlich waren Sie zu früheren Zeiten einmal ein Hubschrauber: Landen, viel Staub aufwirbeln und dann ohne konstruktiven Vorschlag wieder abziehen. ({5}) Ich kann Ihnen nur versichern: Die jetzt vorliegenden Tabellen werden so weder Verwaltungsvorschriften noch Rechtsverordnungen, noch werden sie im Parlament beschlossen. Das vorliegende Material ist auch kein Skandal, schon gar keine beschlossene Neuordnung der AfA-Tabellen, sondern das ist schlicht und einfach das Ergebnis einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Beamtenebene, an der sich auch Baden-Württemberg und Bayern beteiligt haben. Baden-Württemberg hat sich seit September, habe ich mir sagen lassen, zurückgezogen. Bis dahin hat man aber jede Zahl mit unterschrieben. ({6}) Es ist doch völlig selbstverständlich und unumstritten: Nach Auswertung der Verbandsstellungnahmen aus dem Wirtschaftsbereich werden die von Fachleuten der Finanzverwaltung unter Beachtung der Rechtsprechung ermittelten Nutzungsdauern überprüft und - dessen bin ich sicher - in den einschneidenden Fällen auch wieder korrigiert. Deshalb haben die Beamten ihre Ausarbeitung ja auch an die Verbände gesandt; sonst hätten sie das ja gar nicht tun müssen. Nun zu dem, was getan werden muß. Es ist klar erläutert worden: Es gibt eine Vorgabe des Bundesfinanzhofes, und - was noch sehr viel deutlicher ist - es gibt natürlich auch einen klaren Auftrag, der von Finanzminister Theo Waigel erteilt wurde. Das vergessen einige in dieser Runde. Es ist mehrmals richtig gesagt worden, daß die alte Regierung diesen Betrag bereits eingestellt hat. Aber auch das, Herr Thiele, macht Sie gar nicht unsicher. Man vergißt halt relativ schnell. Nun zu der Frage, warum die CSU heute nicht da ist. Überrascht bin ich schon über die Kleine Anfrage vom 5. Oktober 1999 und über die Tatsache, daß jetzt niemand hier ist. Vielleicht kann sich die CSU nicht so recht an das erinnern, was Kurt Faltlhauser als Finanzminister vorgelegt hat. Das war vor wenigen Wochen. Es geht da um die „Steuerinitiative Bayern 2001“. Sie können da auf der Seite 17 gern nachlesen, wie beispielsweise die erste Stufe 2001 teilfinanziert werden soll. In dieser Teilfinanzierung der ersten Stufe steht ein Titel, der folgendermaßen lautet: „Anpassung der Abschreibungsdauer auf bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens an die tatsächliche Nutzungsdauer“. ({7}) Man höre und staune: 3 Milliarden DM, also exakt 805 Millionen DM mehr, als im Tableau der Bundesregierung steht. Ist das vielleicht der Grund dafür, daß Sie von der CDU heute so einsam hier sitzen und von der CSU verlassen sind? ({8}) Ich frage mich, meine Herren von der CDU/CSU, warum Sie Ihre Anfrage nicht an Herrn Faltlhauser gerichtet haben, der anscheinend ganz genau Bescheid weiß, wie die AfA-Tabelle aussehen soll. Er hat es konkret in sein Programm hineingeschrieben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Fritz Schösser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003230, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber bitte.

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schösser, wären Sie so freundlich, der Vollständigkeit halber anzugeben, wie hoch die Steuersätze sowohl bei der Eingangs- als auch bei der Spitzenbesteuerung in diesem Finanzkonzept sind?

Fritz Schösser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003230, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich Ihnen sagen. In der Stufe eins auf der Ebene des Jahres 2001 liegt der Einkommensteuersatz bei 20 Prozent im unteren Bereich und bei 42 Prozent im oberen Bereich und die Körperschaftsteuer bei den thesaurierten Gewinnen bei 35 Prozent. ({0}) - Ich sehe da nicht die großen Unterschiede zu anderen Konzepten, die ausgearbeitet werden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die zweite Zwischenfrage bitte.

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schösser, wenn Sie die Kollegen von der CSU nicht kennen, wie wollen Sie dann die Steuersätze der CSU kennen?

Fritz Schösser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003230, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hören Sie mal, die sind nachzulesen. Aber ich sehe Sie so selten, daß man Sie tatsächlich einmal übersehen kann. ({0}) Die Steuersätze habe ich dabei. Sie mögen sich dafür schämen. Ich habe nichts dagegen. ({1}) Sie können sie auch zurückziehen; das würde uns auch helfen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Fritz Schösser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003230, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe viel Zeit.

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schösser, ich bin deshalb ins Plenum gekommen, weil ich mich als neuer Bundestagsabgeordneter über die Abschreibungstabellen informiere; denn Ihr Kollege aus der Oberpfalz, Ludwig Stiegler, hat gerade bei uns in der nördlichen Oberpfalz viel Falsches verbreitet. Heute könnte er hier sein und sich über diese Dinge informieren.

Fritz Schösser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003230, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das machen Sie mal morgen früh mit Ludwig Stiegler selber aus. Ich stelle noch einmal die Frage: Warum haben Sie Ihre Anfrage nicht an Herrn Faltlhauser gerichtet? Er weiß anscheinend sehr genau, wie die 3 Milliarden DM für das Jahr 2001 zustande kommen sollen. Sie sehen also, meine Damen und Herren, im Vergleich mit dem Steuerkonzept der CSU nimmt sich die erwartete Steuereinnahme im Finanztableau der Bundesregierung für das Entstehungsjahr mit knapp 2,2 Milliarden DM eher bescheiden aus. Meine Damen und Herren, Unternehmen investieren nicht deshalb, weil sie günstig abschreiben können. Ich habe das bisher in keinem Aufsichtsrat erlebt. ({0}) Der entscheidende Punkt ist, ob der Markt, die Qualifikation der Arbeitnehmer, das Produkt, der Absatz und die Absatzerwartung stimmen. Das sind die entscheiFritz Schösser denden Faktoren. Die Abschreibungsfrage steht sehr im Hintergrund. ({1}) Ich sage Ihnen: Sie führen im Grunde eine Auseinandersetzung gegen das Windmühlenrad. Selbst wenn in einzelnen Bereichen die Abschreibungsjahre sozusagen gestreckt werden, heißt das doch nicht, daß das für ein Unternehmen eine Steuererhöhung bedeuten muß. ({2}) Das Unternehmen, das sich der Steuerzahlung ehrlich stellt, wird natürlich früher oder später Steuern bezahlen müssen. Das verschweigen Sie leider. Wenn ich die Jahre sozusagen strecke, ist das zum großen Teil nur eine vorgezogene Steuereinnahme und keine dauerhafte, wie die relativ hohen Kosten im Entstehungsjahr schon zeigen. Das heißt, einen Zusammenhang mit der Unternehmensteuer herzustellen und zu sagen, wir nehmen den Unternehmern weg, was wir ihnen geben, ist so nicht haltbar. ({3}) Ich glaube, bei aller Unterschiedlichkeit im Parlament ist eines sehr wichtig: Wir sollten nichts tun, was die Wirtschaft verunsichert. ({4}) Herr Thiele, bei allem Geplänkel zwischen Parteien sage ich Ihnen: Wenn man die Wirtschaft verunsichert - das tun Sie -, glaubt man am Ende vielleicht sogar, dieser Standort sei schlecht. Das ist aber nicht so. Die Fakten und Daten für das nächste Jahr weisen deutlich darauf hin, daß die Wirtschaft mit einem Aufschwung rechnet und dieser Aufschwung auch von mehr Arbeitsplätzen getragen sein wird. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1887 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einbürgerungsverfahren human gestalten Einbürgerungshindernisse beseitigen - Drucksache 14/1757 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Meinrad Belle, CDU/CSU-Fraktion, Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion, Cem Özdemir, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Ulla Jelpke, PDS-Fraktion, geben ihre Reden zu Proto- koll.*) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Fraktion der SPD die Kollegin Lilo Friedrich.

Lilo Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In acht Wochen tritt das neue Staatsbürgerschaftsrecht in Kraft. Mit dieser Reform wird endlich ein deutliches Zeichen für die Weltoffenheit und Modernität unseres Landes gesetzt, ein Land, das der Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger einen hohen Stellenwert einräumt. Die Kernpunkte sind hinlänglich bekannt: Die Einbürgerungsfristen werden verkürzt, und für Härtefälle wird eine verbesserte Ausnahmeregelung bei der Hinnahme von Mehrstaatigkeit geschaffen. Dies hat zum Ziel, daß sich zwischen der in Deutschland lebenden ausländischen Bevölkerung und dem deutschen Staatsvolk nicht eine immer größer werdende Lücke bildet. Will man ein Haus bauen, so muß man mit dem Fundament beginnen. Baustein für Baustein wird das Haus danach vollendet. Der vorliegende Antrag ist ein weiterer Baustein. Nach vielen politischen Auseinandersetzungen hat der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes beschlossen. Nun gilt es, diese gesetzlichen Vorgaben in eine praxiserleichternde Einbürgerung umzusetzen. Aufgabe hierbei ist es, die Richtlinien für den Verwaltungsvollzug so zu gestalten, daß das neue Gesetz seiner Aufgabe und Zielsetzung, insbesondere der Integration, gerecht werden kann. Wichtig ist uns hinsichtlich der Verwaltungsvorschriften - sozusagen der Gebrauchsanweisung für das Gesetzeswerk selbst -, daß das Einbürgerungsverfahren human gestaltet und Einbürgerungshindernisse beseitigt werden. ({0}) Deshalb bitten wir die Bundesregierung und die Bundesländer, im Zuge des Erlasses der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Staatsangehörigkeitsrecht den Schwierigkeiten ausländischer Staatsangehöriger, insbesondere aus dem Iran und der Bundesrepublik Jugoslawien, im Entlassungsverfahren gezielt Rechnung zu tragen. ({1}) Zur Begründung: Mit dem neuen Staatsbürgerschafts- recht wird die Einbürgerung vieler Antragsteller er- ------------ *) Anlage 5 leichtert, die Probleme mit den ausländischen Behörden bei ihren Entlassungsbemühungen erfahren. Für die deutschen Einbürgerungsbehörden ist jedoch die Beurteilung der Einbürgerungsvoraussetzungen, die eine Hinnahme von Mehrstaatigkeit ermöglichen, in manchen Fällen besonders schwierig. So ist die Verwaltungspraxis einiger ausländischer Staaten, zum Beispiel Iran oder Bundesrepublik Jugoslawien, nicht immer nachvollziehbar. Hierzu ein Beispiel. Die Einbürgerung iranischer Staatsbürger geschieht noch heute auf der Grundlage des deutsch-iranischen Niederlassungsabkommens aus dem Jahre 1929. In Abschnitt II des Schlußprotokolls haben sich die Vertragspartner verpflichtet, keinen Angehörigen des anderen Staates ohne vorherige Zustimmung seiner Regierung einzubürgern. Dieses Schlußprotokoll hat in der Vergangenheit manche Einbürgerung von Iranern verzögert oder blockiert, weil die iranische Seite ihre Zustimmung zur Einbürgerung versagt bzw. Entlassungsanträge abschlägig beschieden oder nicht bearbeitet hat. Mit der von uns eingeleiteten Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts wird die Bedeutung des Schlußprotokolls für die Einbürgerung von Iranern weiter abnehmen. Denn die Zeit des Inlandsaufenthaltes, die für einen Einbürgerungsantrag erforderlich ist, unterliegt laut mehreren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes nicht dem Schlußprotokoll. Sie wird durch das neue Staatsbürgerschaftsrecht nahezu halbiert werden, das heißt auf künftig acht Jahre. - Das ist die eine bedeutende Verbesserung. Die zweite besteht darin, daß das neue Staatsbürgerschaftsrecht hinsichtlich des Grundsatzes der Vermeidung von Mehrstaatigkeit eine erhebliche Erweiterung des Ausnahmekatalogs vorsieht. ({2}) Das Festhalten am Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit bewirkt zwar weiterhin, daß der Ablauf der Einbürgerungsverfahren ausländischer Staatsangehöriger in hohem Maße vom Recht und der Behördenpraxis des jeweiligen Herkunftsstaates abhängt. Hier können jedoch zahlreiche Schwierigkeiten auftreten: zum Beispiel die faktische Unmöglichkeit, das Ausscheiden aus der ausländischen Staatsangehörigkeit herbeizuführen, willkürhafte oder unangemessene Anforderungen des Herkunftsstaates im Entlassungsverfahren, eine vorangegangene diskriminierende oder entwürdigende Behandlung des Einbürgerungsbewerbers, eine überlange Verfahrensdauer, überhöhte Entlassungsgebühren, erhebliche Nachteile als Folge des Ausscheidens aus der ausländischen Staatsbürgerschaft oder eine vorangegangene politische Verfolgung. Die Entscheidung über eine Einbürgerung muß sich meines Erachtens vorrangig an den Gesichtspunkten orientieren, die zwischen dem Einbürgerungsbewerber und der Bundesrepublik Deutschland als dem aufnehmenden Staat von Bedeutung sind. Daher ist es bei auftretenden Schwierigkeiten ausländsicher Staatsangehöriger insbesondere aus dem Iran und der Bundesrepublik Jugoslawien im Entlassungsverfahren geboten, den Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit zurückzustellen, wenn diese Schwierigkeiten das im Einzelfall zumutbare Maß überschreiten. Somit kommt dem § 87 des neuen Ausländergesetzes, der die Ausnahmefälle regelt, in denen Mehrstaatigkeit hingenommen wird, entscheidende Bedeutung zu. Die Erleichterungen für iranische Einbürgerungsbewerber sollen künftig in folgender Hinsicht berücksichtigt werden: Diejenigen, die im Sinne von § 51 des Ausländergesetzes als politisch Verfolgte anerkannt sind, müssen keine vorherigen Bemühungen um eine Entlassung aus der ausländischen Staatsangehörigkeit nachweisen. ({3}) Außerdem wird die Einbürgerungsbehörde künftig erstmals in die Lage versetzt, besondere Schwierigkeiten bei älteren Einbürgerungsbewerbern zu berücksichtigen. Des weiteren kann ein Einbürgerungsanspruch festgestellt werden, wenn dem Ausländer bei der Aufgabe der ausländischen Staatsangehörigkeit erhebliche Nachteile - zum Beispiel vermögens- oder erbrechtlicher Art entstehen. Ferner wird Mehrstaatigkeit hingenommen, wenn „der ausländische Staat die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit aus Gründen versagt hat, die der Ausländer nicht zu vertreten hat“. Dies ist häufig bei Ärzten oder sonstigen Fachkräften der Fall. Bei jugoslawischen Einbürgerungsbewerbern treten besondere Schwierigkeiten bei Staatsangehörigen der Bundesrepublik Jugoslawien, das heißt bei solchen aus Serbien und Montenegro, auf. Vielfach erfolgt die Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit, weil die Entlassungsgebühren unzumutbar hoch sind. Daneben gibt es auch hier Fallgruppen, in denen weitere Entlassungsbemühungen als unzumutbar anzusehen sind und Mehrstaatigkeit hingenommen werden sollte. Dies gilt unter anderem bei Einbürgerungsbewerbern, die bereits vor den Kriegsereignissen einen vollständigen und formgerechten Antrag auf Entlassung aus der jugoslawischen Staatsangehörigkeit gestellt haben und deren Entlassungsantrag aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen nach zweijährigen Entlassungsbemühungen nicht weiter bearbeitet wird, sowie in solchen Fällen, in denen bereits die Entgegennahme des vollständigen und formgerechten Entlassungsantrags durch den ausländischen Staat trotz mehrfacher ernsthafter und nachhaltiger Bemühungen des Einbürgerungsbewerbers über einen Zeitraum von sechs Monaten hinweg nicht erfolgt ist. Allerdings nicht jeder Fall wird detailliert im Rahmen der allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Staatsangehörigkeitsrecht geregelt werden können. Wir bitten jedoch darum, daß Bundesregierung und Bundesländer bei der Umsetzung des neuen Staatsbürgerschaftsrechts die genannten Entlassungsschwierigkeiten bestimmter ausländischer Staatsangehöriger - insbesondere aus dem Iran und der Bundesrepublik Jugoslawien - in den Verwaltungsvorschriften stärker berücksichtigen. Nur so können das Einbürgerungsverfahren human gestaltet und die Einbürgerungshindernisse wirkungsvoll beseitigt werden. Lilo Friedrich ({4}) Die Opposition hat in der Vergangenheit die Probleme zwar erkannt, aber den Handlungsspielraum, den die deutschen Regelungen und Verfahrensabsprachen bieten, nicht für eine wirkliche Erleichterung bei den genannten Fallgruppen genutzt. Mit dem von uns eingebrachten Antrag soll jetzt endlich die Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger auch in praktischer Hinsicht umgesetzt und erleichtert werden. Ich danke Ihnen. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Friedrich, das war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller hier anwesenden Kolleginnen und Kollegen gratuliere ich Ihnen ganz herzlich dazu. ({0}) Obendrein bekommen Sie gleich noch ein präsidiales Kompliment, denn Sie haben Ihre Redezeit, auch wenn sie sehr üppig bemessen war, nicht voll ausgeschöpft. Kompliment dafür! Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 14/1757 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den letzten Tagesordnungspunkt, den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Sabine Jünger, Gerhard Jüttemann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur abschließenden Regelung offener Vermögensfragen in Bezug auf Wohngrundstücke im Beitrittsgebiet ({1}) - Drucksache 14/1693 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS fünf Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Wider- spruch. Dann ist das so beschlossen. Die Kolleginnen und Kollegen Hans-Joachim Hacker, SPD, Andrea Voßhoff, CDU/CSU1), Rainer Fornahl, SPD und Hans-Christian Ströbele, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN2), haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Ich eröffne die Aussprache. Für die PDS-Fraktion hat das Wort die Kollegin Christine Ostrowski. ------------ 1) Anlage 6 2) Redebeiträge lagen bei Redaktionsschluß noch nicht vor.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Hiergebliebenen! Es ist nun einmal so, daß wir immer an der letzten Stelle stehen. Vielleicht sorgen Sie mit dafür, daß PDS-Anträge in Zukunft auch einmal etwas eher in der Tagesordnung abgehandelt werden. Dann müssen wir uns dies zu so später Stunde nicht mehr antun. ({0}) Es ist ja etwas aberwitzig, daß wir den zehnten Jahrestag des Mauerfalls feiern, vor der Jahrtausendwende stehen und nächstes Jahr schon zehn Jahre deutsche Einheit feiern können, aber gleichzeitig noch immer Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten für redliche Erwerber von Wohngrundstücken im Osten nicht beseitigt sind. Man hatte ja die Hoffnung, daß sich dabei etwas nach den Bundestagswahlen ändert. Die Kollegen Sozialdemokraten haben ja in der Opposition ganz mächtig dafür gekämpft. Es ist schade, daß Herr Hacker heute nicht hier ist. Wenn ich nämlich seine Aussagen aus der damaligen Zeit heute noch einmal zitiere, läuft mir jetzt noch ein wohliger Schauer über den Rücken. Noch im Juni 1998 hat er gesagt: Seit über acht Jahren hat sich die SPDBundestagsfraktion mit einer Vielzahl parlamentarischer Initiativen dafür eingesetzt, ({1}) die offenen Vermögensfragen in den neuen Ländern sozialverträglich zu lösen und die von der Regierungskoalition zugelassenen Regelungsdefizite zu beseitigen. Insbesondere traten und treten wir Sozialdemokraten dafür ein, die über Jahre gewachsenen Lebensrealitäten in den neuen Ländern zu berücksichtigen und die berechtigten Interessen der redlichen Nutzer und Erwerber zu schützen. Das ist wirklich ein wunderbares Zitat. Die Sache verhält sich nur so: Die Sozialdemokraten regieren schon ein ganzes Jahr. Wo aber sind die parlamentarischen Initiativen geblieben? ({2}) Sie sind nicht zu sehen. Es herrscht Funkstille. Wie Sie damit klarkommen, ist natürlich nicht unsere Sorge. Wir jedenfalls halten unser Wahlversprechen und legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor. ({3}) - Wir haben durchaus auch etwas versprochen; zum Beispiel, daß wir ein solches Gesetz einbringen. Das tun wir jetzt auch. ({4}) Dieses Gesetz wird, wenn Sie es denn annehmen und vielleicht sogar noch verbessern, für Nutzer und Erwerber ostdeutscher Grundstücke mehr Rechtssicherheit und Gerechtigkeit schaffen. Lilo Friedrich ({5}) Es handelt sich dabei um ein Artikelgesetz. In Art. 1 geht es um die Stichtagsregelung nach den sogenannten Modrow-Käufen. Sie wissen ja, daß der 18. Oktober 1989 als Stichtag festgesetzt wurde und alle nach diesem Tag geschlossenen Kaufverträge für unwirksam erklärt wurden. ({6}) - Mit einigen wenigen Ausnahmen. - Der Aberwitz der Geschichte ist, daß der Gesetzgeber durch die Stichtagsregelung gerade Erich Honecker in einer Art und Weise ein Denkmal setzt, die schon wirklich sehr merkwürdig ist. Das hat er wirklich nicht verdient; denn Verträge „unter ihm“ sind wirksam und Verträge „nach ihm“ sind unwirksam. ({7}) Die vorgeschlagene Regelung will die willkürliche Stichtagsregelung beseitigen und eine Gleichstellung von vollzogenen und angebahnten Verkäufen erreichen. Wenn Sie sich die Realität in Ostdeutschland ansehen, dann werden Sie feststellen, daß dies kein Zustand ist. Es gab Fälle, da konnte jemand vom Nutzer zum Eigentümer werden, sein linker Nachbar durfte wenigstens nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz kaufen, sein rechter Nachbar durfte nur noch Mieter sein und der übernächste Nachbar mußte vielleicht Haus und Hof verlassen. ({8}) Daß solche Zufälligkeiten zutiefst ungerecht sind, ist auch deshalb einsichtig, weil den Kaufverträgen das formell und materiell korrekt zustande gekommene Verkaufsgesetz vom 7. März 1990, das sogenannte Modrow-Gesetz, zugrunde lag. Die frei gewählte Volkskammer der DDR hat dieses Gesetz nicht aufgehoben im Gegenteil. Die von ihr gewählte Regierung erließ dazu noch im Juli und im August 1990 Verordnungen und Ausführungsbestimmungen. Nein, die Stichtagsregelung gehört aufgehoben. ({9}) Art. 2 unseres Gesetzentwurfes will eine weitere Absurdität beseitigen. Hier geht es um die Überlassungsverträge, die das bundesdeutsche Recht gar nicht kannte, wohl aber das Recht der DDR. Wenn zum Beispiel ein Grundstückseigentümer die DDR verließ, wurde das Grundstück zunächst von der kommunalen Wohnungswirtschaft verwaltet, die wiederum das Grundstück samt Haus oft einem anderen Nutzer überließ. Dieser Nutzer mußte alle Lasten des Grundstückes tragen und war für die Instandhaltung, soweit dies unter DDR-Bedingungen eben ging, verantwortlich. Viele Nutzer handelten über Jahrzehnte wie Eigentümer. Sie hielten Grundstück und Gebäude instand, besserten den Wert auf, kümmerten und sorgten sich. Was das bedeutete, weiß eigentlich nur der, der in der DDR gelebt hat. Da gab es nämlich keine Baumärkte, in die man einmal schnell fahren könnte, um Dachziegel oder Zement zu holen. Da brauchte es lange Wartezeiten, manchmal die sprichwörtlich „blauen Fliesen“, Einfallsreichtum, Nerven und Erfindergeist, um das Häuschen instand zu halten. Nach geltendem Recht werden Nutzer mit Überlassungsverträgen jetzt aber in der Regel wieder wie Mieter behandelt. Sie können das von ihnen unter Umständen seit Jahrzehnten bewohnte und instand gehaltene Haus nur in den seltensten Fällen nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz kaufen. Wir wollen, daß dieser Zustand beendet wird und daß Überlassungsverträge in das Sachenrechtsbereinigungsgesetz aufgenommen werden. In Art. 3 geht es uns schließlich um die nochmalige Verlängerung der Fristen zum Eigentumserwerb. Hierbei geht es um Fälle, in denen private Eigentümer, aber auch öffentliche Wohnungsunternehmen und Genossenschaften in den neuen Ländern Ansprüche auf Erwerb eines Grundstückes gestellt haben, das ihnen noch nicht gehört, auf dem sie aber Wohngebäude errichtet haben. Wenn nach geltendem Recht nicht bis zum Ende dieses Jahres eine Grundbucheintragung erfolgt ist, besteht die Gefahr, daß die Besitzrechte an diesen Häusern und die Nutzungsrechte an diesen Grundstücken verlorengehen. Die Frist, um die es hier geht, wurde schon einmal verlängert. In der Praxis hat sich gezeigt, daß diese Verlängerung einfach nicht reicht. Wir schlagen deshalb vor, die Frist bis zum Ende des Jahres 2004 zu verlängern. Unsere drei Artikel könnten die Ungerechtigkeiten und die Rechtsunsicherheiten beseitigen. Da die SPD noch nicht aktiv wurde, obwohl sie es versprochen hatte, gehe ich einfach davon aus, daß Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen. Sollten Sie mit dem einen oder anderen Punkt nicht einverstanden sein, stehen wir jedem Änderungsantrag, der unseren Entwurf verbessert, sehr aufgeschlossen gegenüber. Ich bedanke mich. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache und möchte noch darauf hinweisen, daß auch der Kollege Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion seine Rede zu Protokoll gibt.*) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz- entwurfs auf Drucksache 14/1693 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kollegen, die bis zum Schluß ausgeharrt haben. ------------ *) Anlage 6 Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 5. November 1999, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.