Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, meine
Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung mache ich einige
Mitteilungen: Der Abgeordnete Peter Jacoby hat am
19. Oktober 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Albrecht Feibel am 29. Oktober 1999 die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich
begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich.
({0})
Sodann müssen einige Änderungen bei der Besetzung
von Gremien vorgenommen werden. Die Fraktion der
SPD teilt mit, daß der Kollege Dr. Christoph Zöpel aus
dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes als stellvertretendes Mitglied ausscheidet. Als
Nachfolger wird der Kollege Gert Weisskirchen
({1}) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Weisskirchen als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes
bestimmt.
Der Kollege Hans Martin Bury scheidet als Mitglied
aus dem Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank
aus. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger den
Kollegen Dr. Ditmar Staffelt vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist
der Kollege Dr. Staffelt als Mitglied im Verwaltungsrat
der Deutschen Ausgleichsbank entsandt.
Die Fraktion der PDS teilt mit, daß der Kollege
Dr. Uwe-Jens Rössel sein Amt als Schriftführer niedergelegt hat. Als Nachfolger wird der Kollege GustavAdolf Schur vorgeschlagen.
({2})
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Schur als Schriftführer
gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in einer
Zusatzpunktliste vorliegen, zu erweitern:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.:
Steuermehreinnahmen zu größeren Steuersenkungen für
die Bürger nutzen ({3})
2. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({4}): Erste Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Änderungsgesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte
- Drucksache 14/1958 3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung der Bundesregierung zu den jüngsten Kritiken hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des Bundes
4. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN: Klimaschutz durch ökologische Modernisierung und Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit - Drucksache 14/1956 Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich sehe, das ist
der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 ({5})
- Drucksachen 14/1245, 14/1721 ({6})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({7})
- Drucksache 14/1977
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch
Wolfgang Lohmann ({8})
Dr. Dieter Thomae
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. und der Fraktion der PDS vor. Nach der Aussprache werden wir über den Gesetzentwurf und den Entschließungsantrag der F.D.P. namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
({9})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Gesundheit, Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den letzten Monaten ist fast nichts ungesagt geblieben, was man
an polemischen Äußerungen zur Gesundheitspolitik machen kann.
({0})
Die Debatte ist in den letzten Wochen und Monaten
immer stärker eskaliert. Ich möchte deshalb an alle appellieren, eine weitere Eskalation zu verhindern, da wir
es hier mit einem sehr sensiblen Feld zu tun haben, auf
dem die Menschen schnell zu verunsichern sind. Selbst
wenn man der Auffassung ist, daß das, was wir vorschlagen, nicht richtig ist, kann man darüber auch kritisch debattieren, ohne die Menschen in Angst und
Schrecken zu versetzen. Das sollte für uns alle das Gebot der Stunde sein.
({1})
Wir haben - das ist unbestritten - ein gutes Gesundheitssystem und eine gute Gesundheitsversorgung. Unsere Aufgabe ist es, sie immer wieder für die Zukunft zu
stabilisieren und fit zu machen. Wir stehen vor großen
Herausforderungen: Der demographische Wandel, der
medizinische Fortschritt, aber auch eine andere Haltung
der Menschen zum Gesundheitssystem verlangen von
uns, daß wir Reformen durchführen.
({2})
Außerdem geht ein gewisser Druck davon aus, daß
trotz aller Kostendämpfungsmaßnahmen, die in den
letzten Jahren vorgenommen worden sind, die Beiträge
immer wieder gestiegen sind. 1991 lag der durchschnittliche Beitragsatz der Krankenversicherung noch bei
12,2 Prozent; bis 1998 ist er auf 13,6 Prozent gestiegen.
Insgesamt gesehen, kann man nicht davon sprechen, daß
wir geordnete finanzielle Verhältnisse vorgefunden haben.
({3})
Die Situation in Ostdeutschland ist schon seit Jahren bekannt gewesen; das Problem der Verschuldung der Ostkassen ist in den letzten Jahren zumindest nicht weitreichend genug angegangen worden.
({4})
Mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz haben wir dafür gesorgt, daß wir 1999 ein ausgeglichenes Ergebnis
haben werden - und das trotz der Ausgabenzuwächse im
Arzneimittelbereich, der beschlossenen Leistungsverbesserungen und der Absenkung der Zuzahlungen.
({5})
Wir können jetzt zwar von einem ausgeglichenen Ergebnis ausgehen. Wenn wir die Zustimmung der Versicherten und Patienten zu diesem System auf Dauer erhalten wollen, dann kommen wir um Reformen nicht
herum, die zwei Anforderungen miteinander vereinbaren, nämlich einerseits die Beitragsstabilität, das heißt
die Kostenentwicklung, immer wieder im Blick zu behalten und andererseits eine Modernisierung der inneren
Verhältnisse des Gesundheitswesens anzustreben.
({6})
Das ist der Grund, warum wir auf strukturelle Reformen setzen, die die Effizienz steigern und neue Versorgungsformen ermöglichen sollen. Ich bin mir sicher:
Auch heute wird jemand - viele unserer Gegner haben
das immer wieder getan - sagen, wir brauchen einen
längeren Diskussionsprozeß. Auch was das Verfahren
anlangt, werden Sie dieses Argument vermutlich wieder
anbringen. Ich will nur noch einmal sagen: Wir haben
hier ein fast einjähriges geordnetes Gesetzgebungsverfahren hinter uns.
({7})
Das heißt, es gibt überhaupt keine Veranlassung, so zu
tun, als müsse man noch einmal von vorn anfangen.
({8})
Ich meine grundsätzlich, daß sich niemand auf das Terrain von formalen Einwänden begeben sollte, wenn es in
Wirklichkeit um politische Differenzen geht.
({9})
Uns ist immer wieder, auch jetzt, vorgeworfen worden, wir würden nur Kostensenkung oder Kostendämpfung machen. Ich meine, daß dieser Vorwurf auf seine
Urheber zurückfällt.
({10})
Denn in diesem Gesetz geht es wie bei noch keinem zuvor darum, inhaltliche Verbesserungen zu machen. Die
Stichworte dazu sind: mehr Patientennähe, mehr Qualität, mehr Kooperation zwischen den Leistungserbringern. Das sind die Zukunftsthemen der Gesundheitspolitik. Wer mit uns darüber nicht redet, muß sich fragen
lassen, warum er über diese inhaltlichen, strukturellen
Veränderungen nicht spricht, sondern immer nur ausschließlich über die Frage: Was ist der gesamte finanzielle Rahmen für das Gesundheitssystem?
({11})
Deswegen will ich jetzt noch einmal die wichtigsten
Punkte festhalten und Argumente dafür bringen, warum
wir sie gemacht haben.
Die mangelnde Kooperation zwischen ambulantem
und stationärem Bereich wird seit langem beklagt - und
zwar auch von denjenigen, die dort arbeiten, nicht nur
von den Beobachtern des Systems und den Patientinnen
und Patienten. Das wirkt kostentreibend und führt zu
Präsident Wolfgang Thierse
einer schlechteren Versorgung, wovon insbesondere
auch chronisch Kranke zu berichten wissen. Das ist der
Grund, warum wir sagen: Wir wollen die integrierte
Versorgung, mit der wir in den letzten Jahren gute Erfahrung gemacht haben, zu einem Bestandteil der Regelversorgung machen. Wir wollen die Rolle des Hausarztes als Lotsen durch dieses immer komplexer werdende System stärken. Ferner haben wir ein weiteres
Bündel von Maßnahmen zur besseren Verzahnung der
beiden Bereiche vorgesehen.
Ich meine, daß diese konkreten Vorschläge auch eine
konkrete Debatte verdienen und nicht in dieser allgemeinen Aufgeregtheit untergehen sollten. Ich finde sie
wirklich bemerkenswert. Wir haben dort ja Sachen aufgegriffen, die seit langem in der Debatte sind und seit
langem gefordert werden.
Deshalb frage ich die Opposition im Parlament heute:
Unterstützen Sie das nicht? Wollen Sie nicht, daß wir
neue Versorgungsformen einführen und möglich machen?
Wollen Sie tatsächlich, daß in diesem Bereich alles beim
alten bleibt, daß Patienten und Patientinnen hin und her
geschoben werden und das Problem von Doppel- und
Mehrfachuntersuchungen nicht angegangen wird?
({12})
Ein weiterer Punkt: mehr Qualität in der Versorgung
durch die Orientierung an anerkannten Leitlinien und die
Einführung verbindlicher Verfahren des Qualitätsmanagements. Auch hier hat das deutsche Gesundheitswesen erheblichen Nachholbedarf.
({13})
Aber: Nur eine qualitätsgesicherte Versorgung ist auch
eine wirtschaftliche Versorgung. Alle reden gern über die
verschiedenen ökonomischen Instrumente, die uns zur
Steuerung im Gesundheitswesen zur Verfügung stehen.
Dabei gerät aber meines Erachtens völlig aus dem Blick,
welche große Bedeutung Qualitätssicherung auch als ein
Steuerungsinstrument in der Gesundheitspolitik hat.
Zu dieser besseren Steuerung gehört auch eine Verbesserung der Daten. Um das direkt vorwegzunehmen: Wir
haben im Laufe der Beratung mit den Datenschützern
aus Bund und Ländern eine Verständigung über die Veränderungen, die wir vornehmen, erreicht. Von Datenschützerseite wird die Auffassung vertreten, daß die Regelungen zum Patienten- und Datenschutz, die wir jetzt
vereinbart haben, besser sind als das, was vorher galt.
({14})
Gleichwohl bieten sie uns verbesserte Datentransparenz,
die wir brauchen, wenn wir wissen wollen, was im Gesundheitswesen los ist.
({15})
Auch die größere Patientenorientierung ist im deutschen Gesundheitswesen seit langem überfällig. In der
Praxis ist das paternalistische Verhältnis zwischen Arzt
und Patient ohnehin Vergangenheit. Die Menschen engagieren sich für ihre Gesundheit. Sie wollen einbezogen werden. Sie wollen informiert werden. Sie wollen
wissen, was warum geschieht. Dem, was sich in der
Praxis vollzieht, müssen die Strukturen des Gesundheitswesens Rechnung tragen.
Dazu gehört auch, daß wir der Eigenverantwortung
der Gesundheitspolitik eine andere Rolle zuweisen. Das
ist einer der Gründe dafür, warum wir die Prävention
und die Gesundheitsförderung in diesem Gesetz gestärkt
haben.
({16})
Wir wollen mit diesem Gesetz dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ zum Durchbruch verhelfen. Zudem
wollen wir die Kosten für den Klinikbereich begrenzen.
Die Maßnahmen dazu sind: Änderungen bei der Krankenhausplanung und Einführung eines neuen Preissystems im Krankenhausbereich sowie eines Stufenplans
für eine monistische Krankenhausfinanzierung.
Letzteres ist einer der umstrittensten Punkte. Ich habe in
diesem Zusammenhang mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß der Bundesrat mit sehr großer Mehrheit
beschlossen hat, daß das Verfahren der monistischen Finanzierung, wie es in unserem Gesetzentwurf vorgesehen ist, auch auf die Hochschulkliniken anzuwenden ist.
Offenkundig ist die Skepsis gegenüber der Monistik
doch nicht ganz so groß, wie es manche öffentliche Debatte erscheinen ließ. In diesem Sinne bin ich wirklich
sehr gespannt auf die Diskussion mit den Ländern über
diesen Bereich.
In dieser ganzen Debatte gerät die geplante Veränderung des Preissystems häufig aus dem Blick. Ich halte
das für einen Fehler, weil ich glaube, daß wir in diesem
Punkt an der richtigen Stelle ansetzen, um die Wirtschaftlichkeit der Krankenhäuser zu fördern. Wir haben
auch in den Diskussionen gemerkt, daß die Krankenhausseite diesen Teil durchaus begrüßt. Ich kann mir
nicht vorstellen, daß es im Sinne der CDU-Opposition
hier im Haus und der CDU-geführten Länder ist, die
Krankenhausentwicklung nicht zu steuern und der zunehmenden Verschiebung der Kosten hin in den Krankenhausbereich der letzten Jahre einfach zuzusehen. Ich
denke, daß es gute Gründe gibt, gemeinsam nach einem
Weg zu suchen.
({17})
Ein Thema, das in den letzten Wochen eine eigene
Dynamik entwickelt hat, betrifft die Sozialmauer zwischen Ost und West im Gesundheitsbereich. In den
letzten Jahren ist zum Abbau dieser Mauer zu wenig
getan worden. Wir als neue Bundesregierung haben mit
dem Solidaritätsstärkungsgesetz schon einen wichtigen
Schritt getan.
In den letzten Monaten hat sich die Problematik
noch einmal deutlich verschärft. Die Schulden der betroffenen Kassen sind weiter gestiegen, und gleichzeitig hat es deutliche Mitgliederwanderungen gegeben,
die bei ihnen noch einmal zu einer Verschlechterung
der Mitgliederstruktur und damit der Finanzsituation
geführt haben. Wir haben seit Monaten in einer Vielzahl von Gesprächen - es handelt sich hier um einen
langen Prozeß - nach einer einvernehmlichen Lösung
gesucht.
({18})
Dabei hat sich gezeigt, daß die sehr unterschiedlichen
Interessen der Beteiligten einer Lösung nicht ganz zuträglich waren.
Ich weiß, daß der Vorschlag, den wir jetzt gemacht
haben, umstritten ist. Aber ich vertrete ihn mit voller
Überzeugung. Wir haben für die kurzfristig unerläßliche
Entschuldung Bedingungen gestellt, die dazu führen,
daß wirklich nur die Kassen, die nicht auf Grund eigenen Versagens, sondern auf Grund der Besonderheiten
Ostdeutschlands in den zehn Jahren seit der Vereinigung
Schulden aufgehäuft haben, in den Genuß der Entschuldung kommen - und dies auch nur teilweise - und das
System immer noch dazu verpflichtet ist, sich intern
auszuhelfen. Wir haben außerdem dafür gesorgt, daß
diese Mittel wirklich nur zur Entlastung bei den Altschulden herangezogen werden und nicht dazu verwendet werden dürfen, sich damit ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Ich halte das Vorgehen
unter diesen Bedingungen für vertretbar.
Wir haben darüber hinaus dieses kurzfristige Programm mit einer langfristigen Perspektive verknüpft. Ich
finde, daß die Beschwerden aus Ostdeutschland berechtigt sind, daß es nach 10 Jahren deutscher Einheit wirklich höchste Zeit ist, zu einer Angleichung der Regelkreise zu kommen. Wir haben deswegen die Schritte
dorthin aufgezeigt. Wir wissen, daß das ein schwieriger
Prozeß ist, aber ich glaube, daß wir alle miteinander gute
Gründe haben, diesen Prozeß endlich anzugehen.
({19})
Eines möchte ich hier ganz deutlich sagen: Ich weise
entschieden den Vorwurf zurück, es handele sich hier
um irgendeine Art von Trick, mit dem wir Zustimmung
erkaufen oder gar erpressen wollten.
({20})
Wir haben das in die laufende Gesetzgebung einbezogen, weil die Zeit für die betroffenen ostdeutschen Kassen wirklich drängt.
({21})
Sie sind hier gefordert. Sie müssen sich der Frage stellen, ob Sie wirklich zuschauen wollen, wie in Ostdeutschland einige Kassen in den Ruin getrieben werden. Das wird weitreichende Folgen haben, weit über
die betroffenen Kassen hinaus, auch für das Vertrauen
der Menschen in unser Sozialversicherungssystem.
Deswegen sage ich noch einmal: Ich finde, auch Sie
haben eine Verpflichtung als Opposition, daß wir hier
einen gemeinsamen Weg finden. Ich meine, daß es keine
Veranlassung gibt, diese Frage in die polemische Auseinandersetzung so einzubeziehen, wie Sie es tun.
({22})
Kollegin Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thomae?
Nein, ich würde gerne fortfahren.
({0})
In den vergangenen Monaten wurde kein Bestandteil
des Gesetzes so engagiert diskutiert wie die Maßgabe,
daß Beitragssatzstabilität auch in Zukunft das Maß der
Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung bilden soll.
Mich hat gestern jemand gefragt, wer eigentlich das
Gebot der Beitragssatzstabilität erfunden habe. Das ist
eine gute Frage, auf die es eine einfache Antwort gibt:
Es sind die Versicherten, die der Meinung sind, daß ihre
Belastung mit den Sozialversicherungsbeiträgen in den
vergangenen Jahren ein Maß erreicht hat, das sie überstrapaziert hat und überfordert hat. Ganz zu schweigen
von den sonstigen Auswirkungen. Ich will uns aber alle
ökonomischen Diskurse über die Bedeutung der Lohnnebenkosten für die Arbeitsmarktentwicklung ersparen.
Ich meine, daß Beitragssatzstabilität ein wichtiges
Gebot ist, bei dem wir darauf achten müssen, daß wir
diese starke Forderung der Mitglieder dieses Sozialsystems auch erfüllen.
({1})
Deswegen bin ich der Auffassung, daß die Debatten, die
wir darüber in den letzten Monaten zu führen hatten,
häufig wirklich an dem Problem vorbeigingen und auch
an der politischen Aufgabe vorbeigingen, daß man solidarische Systeme nicht überstrapazieren darf, weil
einem sonst die Menschen einfach die Gefolgschaft aufkündigen.
Wir erleben es jetzt schon, daß zum Wechseltermin
bei den Krankenkassen eine wachsende Anzahl der jungen Gesunden sich die billigsten Kassen sucht. Es handelt sich dabei um so etwas wie eine Abstimmung mit
den Füßen.
({2})
Wenn wir das vermeiden wollen, müssen wir die Beitragssatzstabilität für das gesamte System zu einem
wichtigen Leitpunkt für die Gesundheitspolitik machen.
({3})
Ich habe von der Union immer gehört, daß sie das im
Grund auch nicht in Frage stellen will.
({4})
Aber so richtig hat sich mir das alles noch nicht erschlossen.
({5})
Ich kann bisher nur erkennen, daß man gegen unsere
Vorschläge zur Steigerung von Qualität und Effizienz
ist. Dagegen zu sein ist ja nicht so schwer, aber selbst
meine aufmerksame Lektüre aller einschlägigen Reden
und Vorschläge hat meine Verwirrung eher gesteigert,
als daß sie zur Klarheit geführt hat. Einmal ist da die
Rede von 20 DM pro Arztbesuch.
({6})
Dann wird eine Erhöhung von Zuzahlungen allgemein
ins Spiel gebracht. Dann geht es darum, einen Selbstbehalt von 300 DM pro Versichertem oder auch Wahltarife
für angebliche zusätzliche Leistungen einzuführen, worunter sogar Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation fallen.
Wenn ich die vielen Vorschläge, die ich gelesen und
gehört habe, richtig verstehe,
({7})
läuft alles darauf hinaus, daß von seiten der Union die
Beitragssatzstabilität dadurch gesichert werden soll, daß
zu Lasten von Versicherten und Patienten mehr Geld ins
System kommt. Dies ist Voraussetzung.
({8})
Das Argument dafür, daß man mehr Geld braucht, lautet: Das, was wir haben, reicht nicht aus, und auch die
vorgesehenen Steigerungen sind nicht ausreichend.
Nach Maßgabe des Gesetzentwurfes, der heute hier
zur Debatte und Abstimmung steht, würde eine Steigerung der Grundlohnsumme um 2 Prozent bedeuten, daß
im kommenden Jahr 5 Milliarden DM mehr ins System
fließen. Jetzt stellt sich die Frage: Reicht das nicht? Was
braucht man mehr? Sie sagen, wir könnten die Zuzahlungsabsenkung vom letzten Jahr zurücknehmen. Dies
würde 1 Milliarde DM bringen. Reicht das dann, um den
medizinischen Fortschritt zu finanzieren? Oder meinen
Sie, es muß eine erheblich größere Summe sein? Dann
müßten Sie schon richtig zulangen. Jetzt haben wir Zuzahlungen der Patienten für diverse Leistungen in Höhe
von rund 12 Milliarden DM. Wenn Sie mehr Geld in
einer nennenswerten Größenordnung in das System fließen lassen wollen, müssen Sie vermutlich die bestehenden Zuzahlungen verdoppeln. Sie müßten schon sagen,
um welche Größenordnung und um welche Mittel es Ihnen geht. Dann sollten Sie darüber die Auseinandersetzung mit Patientinnen, Patienten und Versicherten suchen.
Teil des Problems der Union 1998 war auch - wenn
ich die Debatte richtig verfolgt habe -, daß die Menschen den Eindruck hatten, ihre Belastung durch Zuzahlungen sei definitiv an eine Grenze gekommen.
({9})
Ich glaube, daß man dem Problem nicht ausweichen
kann, indem man irgendeine neue Geldquelle auftut.
Man muß sich wirklich den strukturellen Reformen
stellen und sehen, was man innerhalb dieses Systems
ändern muß. Ich finde, deswegen sind Sie in der Pflicht,
sich mit den strukturellen Vorschlägen stärker auseinanderzusetzen, als das bislang geschehen ist.
({10})
Es ist völlig klar, daß in einem solidarischen Versicherungssystem nicht alles, was man sich vorstellt, finanziert werden kann, sondern eben - das ist eine schon
lange bestehende Regel - nur das, was notwendig und
zweckmäßig ist. Die Entscheidung darüber ist nicht einfach. Sie mußte immer schon getroffen werden und wird
auch in Zukunft zu treffen sein. Die Mittel werden immer begrenzt sein. Das ist völlig klar. Deswegen müssen
auch wir als Politiker uns dazu bekennen, daß dieses System Grenzen bezüglich dessen hat, was es finanzieren
kann.
Aber - das ist der Punkt, wo ich behaupte, daß meine
Gegner eine bewußte polemische Zuspitzung vornehmen, die mit der Sache nichts zu tun hat ({11})
diese Erklärung hat mit Rationierung nichts zu tun.
({12})
Denn Rationierung würde bedeuten, daß den Menschen
das Notwendige vorenthalten wird. Das wird und soll es
nicht geben. Deswegen machen wir genau diese Reform.
({13})
Für die schwierige Entscheidung darüber, welche Kosten die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt
und welche nicht, brauchen wir rationale Kriterien, die
sich an der medizinischen Notwendigkeit orientieren.
Deswegen schreiben wir in dieses Gesetz Maßnahmen
zur Qualitätssicherung. Diese, eine unabhängige Technologiebewertung und auch die Positivliste sollen genau dazu dienen. Auch im Wissen darum, wie schwierig
diese Entscheidung ist - übrigens auch als Konsequenz
aus einer Debatte, die in den letzten Monaten geführt
wurde, in deren Rahmen viele Behauptungen in die Welt
gesetzt wurden -, erscheint es uns sinnvoll, daß wir den
Sachverständigenrat mit einem regelmäßigen Bericht
zum notwendigen Bedarf und den finanziellen Mitteln
beauftragen. Vielleicht können wir dann eine gemeinsame Gesprächsgrundlage darüber, was in unserem System notwendig ist, finden und diese Debatte mehr auf
den Punkt bringen.
Kollegin Fischer, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Thomae?
({0})
Nein, ich möchte immer noch meine Ausführungen zu
Ende bringen.
Wer der Meinung ist, daß das, was wir hier in diesem
Gesetzentwurf vorgelegt haben, so nicht richtig ist, der
muß wirklich Alternativen auf den Tisch legen. Wir diskutieren jetzt seit fast einem Jahr über den Gesetzentwurf und haben von Ihnen keine wirklichen Alternativen
gehört.
({0})
Wir wissen ganz genau, daß wir für diesen Gesetzentwurf die Zustimmung der Länder brauchen. Ich werbe für diese Zustimmung, weil ich glaube, daß dieser
Gesetzentwurf sie verdient hat. Verständigung zwischen
Bund und Ländern setzt Kompromiß- und Veränderungsbereitschaft voraus. Ich glaube, daß wir das immer
deutlich gemacht haben.
Die Union muß sich entscheiden. Wenn Sie Ihre Behauptung ernst meinen, daß eine Blockadepolitik das
Schlechteste ist, was diesem Land passieren kann, dann
blockieren Sie diesen Gesetzentwurf nicht einfach nur,
sondern diskutieren Sie mit uns über Veränderungen!
({1})
- Trotz der Art und Weise, wie Sie mich hier anbrüllen,
({2})
werde ich mich nicht davon abbringen lassen, Sie zu
einem Gespräch über mögliche Gemeinsamkeiten einzuladen. Ich lade für den kommenden Donnerstag die
Oppositionsfraktion der CDU/CSU, die B-Länder und
die A-Länder zu einem Gespräch bei mir ein. Zusammen
mit den Koalitionsfraktionen können wir über Ihre Änderungsvorschläge reden.
({3})
- Herr Zöller, wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt,
der in einem ausführlichen Beratungsverfahren - das ist
die Geschäftsgrundlage für Gespräche - zustande gekommen ist. Ohne ein solches Beratungsverfahren würden Sie uns wahrscheinlich den Vorwurf machen - da
bin ich sicher -, wir wüßten nicht, was wir wollten. Von
daher glaube ich, daß wir über den dann verabschiedeten
Gesetzentwurf miteinander reden können.
({4})
Meines Erachtens können wir aber nicht so tun, als
könnten wir jetzt „zurück auf Los“. Die Lage duldet
keinen Aufschub. Wenn wir die Dinge jetzt auf die lange Bank schieben,
({5})
dann ergeben sich zwei, wie ich finde, durchaus unerquickliche Alternativen, die ich deutlich machen will:
Die eine Alternative wäre eine unkontrollierte Ausgabenentwicklung. Diese Befürchtung hat auch der
Bundesrat in seiner Stellungnahme geäußert, weswegen
er diese Alternative nicht will.
({6})
Wir hätten Defizite und Beitragssatzerhöhungen. Das
kann keiner wollen. Die andere Alternative wäre, daß
wir zu neuen Zwischenlösungen gezwungen wären. Ich
glaube, auch das ist keine gute Alternative. Beide Alternativen wären keine Lösung der vor uns stehenden Probleme.
Gerade vor dem Hintergrund, mit welcher Emphase
Sie in den letzten Monaten die Auffassung vertreten haben, daß die Menschen ein anderes Gesundheitswesen
verdient haben, haben Sie wirklich die Verantwortung,
Ihre Position und unsere Position zu einer gemeinsamen
zu machen und die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs nicht einfach zu blockieren.
({7})
Die Menschen sind durch die Debatten in den letzten
Monaten gründlich verunsichert. Sowohl die Patientinnen und Patienten als auch die im Gesundheitswesen
Beschäftigten haben es verdient, daß wir zu einem gemeinsamen Weg finden und aus dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf, den der Bundestag
heute mit Mehrheit verabschieden wird, eine erfolgreiche Reform machen. Wir befinden uns in einem demokratischen Vorgang. - Ich wundere mich darüber, welche Aufregung er bei Ihnen hervorruft. - Das zu akzeptieren ist die Grundlage für gemeinsame Gespräche. Sie
sollten Ihrer Verantwortung gerecht werden!
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Lohmann, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie merken: Ich
bin verschnupft.
({0})
Deswegen komme ich auch gleich auf das Verfahren zu
sprechen.
Frau Ministerin, Sie hielten es gerade für richtig, den
Ablauf dieser sogenannten Gesundheitsreform als ein
geordnetes Verfahren zu bezeichnen.
({1})
Wenn Sie das behaupten, muß ich sagen, dann wissen
Sie nicht mehr, was überhaupt in dem Gesetz steht.
({2})
Darauf, was uns hier zugemutet wird, komme ich
noch zu sprechen. Vorweg nur noch eines: Verbesserung
der Patientenrechte. Na, bravo! Großartig! Daß man den
Patienten künftig Leistungen vorenthält, an die sie gewöhnt waren, das sind die Verbesserungen der Patientenrechte. - Aber ich will, weil ich auch Berichterstatter
bin, in der Chronologie bleiben.
Meine Damen und Herren, Ihre löblichen Zielvorstellungen, die Überschriften haben wir heute wieder gehört.
Aber man kann sagen: Durch die Änderungsanträge ist
außer diesen Zielvorstellungen und Überschriften nichts
in diesem Gesetzentwurf unverändert geblieben.
({3})
Dabei müssen wir einmal auf das sogenannte Solidaritätsstärkungs- oder Vorschaltgesetz zurückblenden, Herr
Dreßler. Damals hieß es, dies sei dringend notwendig, um
die ständigen Beitragssatzsteigerungen zu vermeiden und
um die Ruhe zu gewinnen, eine wirkliche Gesundheitsreform zu konzipieren und zu entwickeln. Bei dieser Gelegenheit haben Sie, Frau Schaich-Walch, und andere sich
- nicht nur privat, sondern auch öffentlich; deshalb sage
ich es hier auch - bei uns bedankt und sich teilweise wegen dieses weiß Gott chaotischen Verfahrens sogar entschuldigt. - Sie nicken. Ich danke Ihnen dafür.
Ich wäre danach jede Wette eingegangen, daß Sie etwas auch nur annähernd Ähnliches nicht wieder tun
würden. Aber weit gefehlt, meine Damen und Herren.
Wir lasen im ersten Halbjahr dieses Jahres in den Zeitungen zunächst von Streit in der Koalition: Dreßler gegen Fischer; der Kanzler unterstützt wiederum Frau Fischer. Er hat mit Sicherheit diesen späteren Entwurf
nicht gelesen; aber hierbei geht es ja auch um andere
Dinge. Dann hörte man, es liege nunmehr ein Referentenentwurf vor. Aber dieser durfte bei der Veröffentlichung nur „Arbeitsentwurf“ genannt werden, weil die
SPD - und vor allen Dingen Herr Dreßler - noch erhebliche Bedenken hatte.
({4})
Schließlich fand am 30. Juni die erste Lesung hier im
Hause statt, und ab 8. September dieses Jahres wurde
der Gesetzentwurf beraten.
Eine Anhörung mußte stattfinden. An vier Tagen, und
zwar am 9. und 10. September und am 21. und 22. September, fand diese statt. Natürlich können die Protokolle
nicht fertig sein. Uns wurde zugesagt, wir würden die
Protokolle über diese viertägige Anhörung am 18. Oktober erhalten. Nichts geschah. Inzwischen liegen die
Protokolle von zwei Tagen bzw. seit gestern von drei
Tagen vor, nicht aber vom vierten Tag.
({5})
Aber das ist noch längst nicht alles. - Ich lasse jetzt
einige Zwischenstationen weg. - Nachdem Sie uns bis
einschließlich gestern mit insgesamt 345 Seiten Änderungsanträgen - ({6})
- Insgesamt 345 Seiten Änderungsanträge,
({7})
davon alleine rund 60 Seiten am letzten Beratungstag, an
dem die Entscheidung fallen sollte. Was daran seriös
sein soll, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
({8})
Nun haben Sie ja in letzter Minute, in einer Sondersitzung am 29. des vergangenen Monats, noch erkannt,
daß die Frage der Ostkassen, vor allem die der AOK,
dringend einer Lösung bedarf.
({9})
Wir haben monatelang auf eine Vorlage in Form eines
eigenen Gesetzes gewartet. Wir haben es bedauert, daß
Sie als eine der ersten Amtshandlungen den Auftrag, den
der Sachverständigenrat vom früheren Gesundheitsminister Seehofer bekommen hatte, nämlich genau zu dieser Frage Stellung zu nehmen und eine seriöse Beratungsgrundlage zu erarbeiten, zurückgenommen haben.
- Als erste Amtshandlung haben Sie übrigens den Sachverständigenrat entlassen. - Und nun wird, wie Sie sagen, in monatelanger Diskussion - ich füge hinzu: hinter
verschlossenen Türen -, mit wem auch immer, darüber
gesprochen, und dann kommt, wie gesagt, in der Sondersitzung eine Vorlage, die dringend der Anknüpfung
an dieses Gesetz bedarf.
({10})
Ich gehöre zu denjenigen - Sie werden das bestätigen
-, die bisher immer gesagt haben: Ich spekuliere nicht,
was der Hintergrund dessen ist, obwohl es in allen Zeitungen stand. Aber wenn Sie jetzt die Stirn haben, zu
behaupten, daß das Ganze nichts mit dem Versuch zu
tun hat, die Ostländer zur Zustimmung zu bewegen
({11})
- nein, im Moment nicht, Dieter Thomae; ich weiß
schon, was ich sagen möchte -,
({12})
dann muß ich - leider - Sie selber unmittelbar ins Visier
nehmen.
Mir liegt ein Aktenvermerk vor, in dem es heißt: Das
Entschuldungsprogramm sollte allerdings nicht, wie von
Ihnen - vom Ministerium - intendiert, in einem speziellen Gesetz, Finanzhilfegesetz, geregelt werden. - Dieser
Meinung waren wir auch. - Es drängt sich angesichts
der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat vielmehr geradezu auf, diese Materie in der Gesundheitsreform 2000
zu behandeln, um den Bundesländern Thüringen und
Sachsen Sachgründe an die Hand zu geben, dem Gesamtpaket zuzustimmen.
({13})
Soviel dazu. Ich möchte daraus nicht weiter zitieren.
Ich möchte nur auf die heutigen Überschriften „Metamorphose einer Gesundheitsreform“, „Die Frau mit
den leeren Händen“ aus der „Süddeutschen Zeitung“
sowie „Fischers Gesundheitsreform ist nicht zu retten“,
„Gesundheitsreform vor dem Aus“ und „Auch Ersatzkassen fordern Neuanfang“ hinweisen. Nein, Ihr Beratungsverfahren war nicht seriös.
Ein Letztes zu der gestrigen Sitzung: Wir haben den
Antrag gestellt, das Problem mit den Ostkassen abzutrennen und möglichst - wenn Sie es wollen - sofort
wieder in einem eigenen Gesetz einzubringen, über das
wir reden können. Dies haben Sie abgelehnt. Nachdem
die Anhörung über die Änderungsanträge - 345 Seiten
umfassend - endlich beendet war, haben wir gefragt:
Wie soll jetzt seriös weiterberaten werden? Kein
Mensch - auch Sie nicht - blickt noch durch, was mit
dem Gesetz im einzelnen geschehen soll. Auf unsere
Frage hin wurde uns von Herrn Dreßler gestern gnädigerweise zugestanden, man könne ja noch zwei Stunden
darüber reden. Nachdem wir bereits zig Stunden
({14})
- zwei Stunden - beraten hatten, sollte noch weiter über
den Gesetzentwurf geredet werden, um dann erklären zu
können: Sieh doch, Öffentlichkeit! Wir haben doch seriös
beraten. - Aber wir wären in zwei Stunden möglicherweise erst bis Antrag C gekommen; denn die Zeit war
kurz, weil bis gestern 24.00 Uhr die Beschlußvorlage des
Ausschusses in den Fächern sein mußte. Wenn man dies
nicht geschafft hätte, dann wäre der Zeitplan zum Teufel
gewesen. Nein, dies war keine seriöse Beratung.
Nun möchte ich noch einige Bemerkungen zu dem
Reformentwurf selbst machen, damit Sie nicht sagen
können, wir wüßten nicht, worum es eigentlich geht. Einige von uns wissen tatsächlich nicht, worum es geht. In
der gestrigen Beratung hat unser Kollege Zöller - ich
sage gelegentlich: „Z“ in Zöller steht für Zahlen und
Zähne - Ihnen nachgewiesen, daß allein 30 Seiten in den
Änderungsanträgen doppelt waren. Diese Seiten mußten
wieder herausgenommen werden. Es war also chaotisch.
({15})
Danach wurden neue Anträge gestellt. Wir haben darauf
hingewiesen - dies ist eines der wenigen Minderheitenrechte, die wir noch haben -, daß darüber beraten werden muß. Daraufhin gab es eine Unterbrechung. Einige
riefen: Wir setzen das aus! Andere riefen: Nein, wir setzen das ab. Wir haben abgewartet. Als wir in den Ausschuß zurückkehrten, hieß es: Wir ziehen den Antrag zurück. So lief die gestrige Sitzung ab.
Zur Bewertung. Diese sogenannte Gesundheitsreform richtet sich nach unserer Auffassung in ihrer Wirkung gegen die Kranken, gegen die Versicherten, gegen
die Arbeitnehmer,
({16})
gegen die Gesundheitsberufe und letztlich auch gegen
die Länder.
({17})
Mit diesem Entwurf werden dem Gesundheitswesen erforderliche Mittel entzogen und wird die Entscheidungsfreiheit der Patientinnen und Patienten, der Ärztinnen
und der Ärzte sowie der Beschäftigten in anderen Gesundheitsberufen beeinträchtigt. Durch ihn wird in zunehmendem Maße die Entwicklung hin zu einem Kassenstaat vorangetrieben. Der Gesetzentwurf hat ein
Übermaß an Bürokratie zur Folge. Durch ihn werden die
bedarfsorientierten Plankontingente durch Bürokratie ersetzt. Durch ihn werden Selbständigkeit und Neugründungen erschwert und Beschäftigungschancen verhindert. Die Selbstverwaltung und die Tarifautonomie im
Gesundheitswesen werden nicht beachtet. Sie enthalten
den Versicherten, die sich keine private Vorsorge leisten
können, eine optimale medizinische Versorgung vor,
obwohl Sie eben erklärt haben, Sie wollten die Rechte
der Patienten verbessern.
Mit dem Globalbudget wird der Weg zur Rationierung der Gesundheitsleistungen bereitet. Dies ist unbestreitbar.
({18})
Im Grunde genommen bestätigt jeder: Ein Globalbudget
mit einem Unterbau sektoraler Budgets, das ganz unabhängig von der medizinisch-technischen Entwicklung,
von der Überalterung der Bevölkerung und von dem
notwendigen Bedarf in den einzelnen Bereichen ist, muß
dazu führen, daß den Menschen Leistungen vorenthalten
werden. Das wird nicht mehr bestritten. Wir lehnen jede
Budgetierung ab,
({19})
weil wir, Herr Dreßler, dazugelernt haben.
({20})
- Das ist gar keine Frage.
Wahrscheinlich werden Sie sich ja noch an Lahnstein
und Ihre Sternstunden erinnern. Seitdem ist viel Zeit
vergangen, und wir haben gemeinsam dazugelernt, daß
die frühere Politik der immer weitergehenden Kostendämpfung nicht fortgesetzt werden kann. Das ist in den
Reformgesetzen der letzten Legislaturperiode schon
überdeutlich geworden. Es fehlt in diesem Gesetz jede
Auseinandersetzung mit der nicht ausreichenden EinWolfgang Lohmann ({21})
nahmeentwicklung der Krankenkassen auf Grund der
anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, auf Grund unstetiger
Beschäftigungsverhältnisse und der dadurch sinkenden
Lohnquote.
Herr Dreßler, da ja jetzt, wie gesagt, über Einnahmen
nicht gesprochen wird, versucht die Frau Ministerin irgendwelche Unterstellungen. Wenn ich alles zitieren
würde, wer von Ihnen bei verschiedenen Gelegenheiten
mit welchen Vorschlägen gekommen ist, dann würde ja
der Rest von Durchsicht verlorengehen. Diese oder jene
Bemerkung von diesem oder jenem Kollegen ist doch
kein Vorschlag, ist doch kein Antrag, sondern es kommt
auf das an, was Sie hier vorgelegt haben. Herr Dreßler,
ich zitiere einmal, weil auch Sie ja nicht über Einnahmen sprechen wollen:
Die gesetzliche Krankenversicherung braucht mehr
Einnahmen. Dies war das Fazit eines von der kassenärztlichen Bundesvereinigung veranstalteten
Symposiums.
Da heißt es wörtlich:
Das Gesundheitssystem braucht mehr Einnahmen.
Die finanziellen Probleme lassen sich langfristig
nicht durch Einsparungen lösen. Denn Kürzungen
führen zu einem Kellertreppeneffekt. Stufe um Stufe gerät man auf ein niedrigeres Leistungsniveau,
bis es nicht mehr weitergeht, weil man unten angekommen ist. Eine dauerhafte Lösung sieht der Sozialdemokrat nur in einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
Dieser „Sozialdemokrat“ war aber nicht irgendwer, sondern es war Rudolf Dreßler. Die Einnahmen also sind
problematisch, und die Ausübung von Druck über budgetierte Ausgaben führt zum Kellertreppeneffekt. Darin
stimmen wir mit Ihnen voll überein.
({22})
Der Entwurf gibt auch keine Antwort auf die Herausforderungen der demographischen Entwicklung - ich
sagte es bereits: von Eigenverantwortung der Versicherten kann natürlich nicht mehr geredet werden -,
sondern er ist im Gegenteil getragen von einem tiefen
Mißtrauen gegenüber den Leistungserbringern und den
Versicherten. Er ignoriert völlig die Frage, ob der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung angesichts der veränderten Rahmenbedingungen noch
zeitgemäß ist, ob er mit den vorhandenen, begrenzten
Mitteln weiter finanziert werden kann. Alles das findet
nicht statt. Und dann kommt dieses Gesetzeswerk, bürdet der Selbstverwaltung unlösbare Aufgaben auf. Sie ist
schlicht überfordert. Der Vertreter der Ersatzkassen hat
ja nicht zu dem Ostkassenproblem, sondern gerade zu
diesem Problem in der öffentlichen Anhörung gesagt,
das sei schlicht nicht umsetzbar.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um von vornherein der Legendenbildung vorzubeugen. Sie tun jetzt
so, als wäre wegen der Ablehnung dieses Gesetzentwurfs - ich tue mich immer wieder schwer, dazu „Gesetzentwurf“ zu sagen - gleichzeitig die Verantwortung
für Beitragssatzerhöhungen spätestens ab Mitte nächsten Jahres bei uns abzuladen. Meine Damen und Herren, seit Monaten sagen diejenigen, denen Sie immer
große Glaubwürdigkeit beimessen, nämlich die Krankenkassen, daß völlig unabhängig von diesem Gesetz
erhebliche Beitragssatzsteigerungen kommen werden,
weil Sie durch Ihr Vorschaltgesetz ja nicht nur auf Zuzahlungen verzichtet haben, nicht nur auf die Finanzierung im Krankenhausbereich, das sogenannte Notopfer,
verzichtet haben. Nein, Sie haben ja auch Leistungen
ausgeweitet und die entsprechende Gegenfinanzierung
dafür nicht erbracht.
({23})
Man spricht allein in diesem Bereich - die einen sagen: 1 Milliarde DM, die anderen: 3,5 Milliarden DM;
nehmen wir die Mitte - von 2 Milliarden DM Unterfinanzierung dieses alten Gesetzes. Das haben wir für unnötig gehalten, daran darf man erinnern. Damals haben
wir gesagt, das müßte zur Abbremsung der ständigen
Beitragssatzerhöhung stattfinden. Wir hatten sechs Jahre
lang Beitragssatzstabilität; denn kleine Schwankungen
zwischen 13,4 Prozent und 13,5 Prozent kann man ja
wohl als Stabilität bezeichnen. Wir hatten 1997 und
1998 erfreulicherweise erstmals einen Überschuß in der
gesetzlichen Krankenversicherung.
Sie selbst sagen jetzt sogar, daß das Defizit aus dem
ersten Halbjahr dieses Jahres möglicherweise bis zum
Ende dieses Jahres noch ausgeglichen werden kann.
Diese Möglichkeiten sind die Folgen unserer Gesetzgebung,
({24})
so daß man sagen kann: Trotz dieses unmöglichen Vorschaltgesetzes, trotz der damit verbundenen erhöhten
Kosten und trotz der mangelnden Gegenfinanzierung
haben Sie möglicherweise das Glück, auf der Basis unserer Gesetze wenigstens dieses Jahr ohne Beitragssatzerhöhungen zu bestehen. Dafür hätte man vielleicht
einmal ein Wort des Dankes erwarten können.
({25})
Jetzt möchte ich noch etwas zu den Hauptpunkten sagen, weil das für viele die einzigen Punkte sind, die unverrückbar bleiben und zu denen man bemerken kann,
daß Sie davon auf keinen Fall abrücken werden. Das
Globalbudget habe ich genannt. Der zweite Punkt ist die
Positivliste, sie führt dazu, daß den Menschen Arzneimittel vorenthalten werden.
({26})
- Ach, Frau Schmidt-Zadel, „umstritten“. Wissen Sie
nicht, daß in Deutschland ein Arzneimittel als umstritten
gilt, wenn zwei Professoren unterschiedlicher Meinung
über seine Wirksamkeit sind? Wissen Sie, was alles umstritten ist? Sie können Gutachten von Professoren zu
jeder Frage so bekommen, wie Sie sie erwarten. Insofern
ist das doch kein Kriterium.
Wolfgang Lohmann ({27})
Patienten und Ärzte haben keine Therapiefreiheit und
Therapievielfalt mehr. Wenn ein Arzneimittel trotzdem
verordnet werden soll, dann muß der Patient das zu 100
Prozent selbst bezahlen. Ist das noch Solidarität?
({28})
Sie nicken. Gut. Ich hoffe, die Patienten erkennen, was
damit wirklich gemeint ist.
({29})
- Frau Schmidt-Zadel hat unter anderem genickt.
({30})
Dieser Gesetzentwurf, der durch ein chaotisches und
durch nichts mehr zu übertreffendes sogenanntes Bera-
tungsverfahren bis zur Unkenntlichkeit verschlimmbes-
sert oder sogar zerstört worden ist, kann nur mit klarer
Haltung abgelehnt werden.
[Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So ist es! - Horst
Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Wo ist die
Alternative?)
Es wäre vernünftiger gewesen, wenn Sie Ihr Gesprächsangebot gemacht hätten, bevor dies alles zu Papier gebracht und anschließend dreimal geändert worden ist.
Ich bin ganz sicher, daß dieser Gesetzentwurf im
Bundesrat nicht das Licht der Welt erblicken wird; denn
die Mehrheit im Bundesrat wird wissen, was man dem
deutschen Gesundheitswesen noch zumuten kann, was
man den Patienten noch zumuten darf und was man an
Arbeitsplatzzerstörung damit bewirken wird. Er wird Ihnen eine klare Antwort zu diesem Gesetz geben.
Ich bedanke mich.
({31})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Rudolf Dreßler, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir einleitend eine Bemerkung zur Verdrängung von parlamentarischen Abläufen, und zwar von parlamentarischen Abläufen während der Regierungszeit von CDU/CSU und F.D.P.
Selbst 1992, als mit meiner Fraktion eine Gesundheitsstrukturreform auf den Weg gebracht werden sollte, also
eine breite parlamentarische Basis für dieses Gesetz bestand, waren die Verhandlungen für die Abgeordneten in
den federführenden Ausschüssen und im Plenum des
Deutschen Bundestages, um es höflich zu sagen, brutal.
Es hat, so weit ich zurückblicken kann - und das sind
schon einige Jahre -, keinen Entstehungsprozeß von
maßgebenden Gesetzen gegeben, bei denen nicht den
Abgeordneten in den Ausschüssen und im Plenum des
Bundestages Erhebliches zugemutet wurde. Das war in
diesem Fall zweifellos genauso. Daraus aber zu konstruieren, man habe in 16 Jahren Regierung Kohl nur
einwandfreie und seriöse Parlamentsabläufe, die den
Abgeordneten dienlich waren, organisiert, ist geradezu
absurd.
({0})
Herr Lohmann, die einzige These, die richtig wäre
und die ich auch unterstreichen könnte, ist die: Egal, wer
regiert, den Abgeordneten wird immer sehr viel zugemutet. Das ist die Wahrheit.
({1})
- Sehen Sie, das ist der Punkt. Sie haben den Abgeordneten im Einvernehmen etwas zugemutet, und jetzt
haben die SPD und Bündnis 90/Die Grünen ohne Einvernehmen mit der CDU/CSU uns allen etwas zugemutet.
({2})
In der Substanz bleibt das gleich: Egal, wer regiert, den
Abgeordneten wird immer brutal viel zugemutet. Das
nun zum Dollpunkt zu erklären, Herr Lohmann, wird
den Tatbeständen, die Sie 16 Jahre mit zu verantworten
haben, nicht gerecht.
[Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Gesundheitspolitische Entscheidungen berühren die
Menschen unmittelbar und existentiell. Nicht zuletzt
deshalb rangiert die Gesundheitspolitik im Bewußtsein
der Bürgerinnen und Bürger im Gesamtkomplex der Gesellschaftspolitik stets vornan. Die Sicherung einer leistungsfähigen und bezahlbaren Gesundheitsversorgung
in hoher Qualität gehört daher zu den politischen Aufgaben ersten Ranges.
Diese drei Attribute - Leistungsfähigkeit, Bezahlbarkeit und Qualität - muten manchmal wie die Quadratur
des Kreises an. Daß es gleichwohl möglich ist, dies alles
zu gewährleisten, soll der heute zur Verabschiedung anstehende Reformentwurf für die nächsten Jahre beinhalten.
Die akuten Finanznöte der unterschiedlichsten Gesundheitssysteme in den Industriestaaten sind auch an
Deutschland nicht vorbeigegangen. Allerdings enthält
der heute zur Verabschiedung anstehende Gesetzentwurf
- im Unterschied zu allen Gesundheitsgesetzen der
letzten 20 Jahre - keine einzige Zuzahlungserhöhung,
keine einzige Leistungskürzung und auch sonst keine
einzige Belastung für die Versicherten oder die Kranken. Das ist die Wirklichkeit.
({3})
Wolfgang Lohmann ({4})
Unser Ziel ist klar: Es geht nicht zuallererst darum,
mehr Geld ins System zu pumpen, sondern es geht darum, mit dem vorhandenen Geld wirtschaftlicher und effektiver umzugehen. Es geht nicht darum, Leistungen
des Systems zu streichen oder auszudünnen und in die
private Zusatzfinanzierung zu verlagern, sondern es geht
darum, die Leistungsdichte beizubehalten.
Der Gesetzentwurf stellt unter Beweis: Diese Regierung geht den exakt gegenteiligen Weg der Regierung
Kohl. Eine Privatisierung gesundheitlicher Risiken findet mit uns nicht statt. Wir rationieren nicht, wir rationalisieren.
({5})
Der vorliegende Gesetzentwurf hat ein vielfältiges
Echo gefunden.
({6})
Auch mit Kritik ist wahrlich nicht gespart worden. Dazu ist unter Berücksichtigung aller vorangegangenen
Gesundheitsgesetze zunächst einmal festzuhalten: Das
war immer so, das war nie anders.
({7})
Kritik geübt hat sogar die Opposition in diesem Haus.
Das ist nicht nur deren Recht, sondern das ist sogar deren parlamentarische Pflicht. Aber die Opposition hat
noch eine andere Pflicht: ihrer Kritik an der Politik der
Regierung die Alternative der Opposition anzufügen.
({8})
Von einer Alternative der Opposition ist nichts, aber
auch gar nichts zu sehen. Es gibt keinen einzigen noch
so klitzekleinen Alternativantrag der CDU/CSU, weder
im Gesundheitsausschuß noch hier im Plenum.
({9})
Konzeptionell kommt diese Opposition nicht vor.
CDU/CSU und F.D.P. sind gesundheitspolitisch nicht
existent.
({10})
Nur wer zwischen den Zeilen liest, was die heimliche
Alternative der Opposition wäre, der kommt vielleicht
zu einem Ergebnis: Sie will an der Zuzahlungsschraube
drehen und den Leistungskatalog ausdünnen. Kurz gesagt, die Opposition will eine höhere Selbstbeteiligung
der Patienten, und sie will Leistungskürzungen. Aber sie
traut sich nicht, das laut zu sagen.
({11})
Die Menschen in Deutschland sollten deshalb wissen:
Der Begrenzung der Einkommenssteigerungen bei Ärzten und Pharmaindustrie setzen CDU und CSU neue
Selbstbeteiligungen der Patienten gegenüber.
({12})
Dem Abbau von überflüssigen Kapazitäten im Krankenhaus und bei Arzneimitteln setzen CDU und CSU Leistungskürzungen für Kranke gegenüber.
({13})
Das alles ist nicht verfassungswidrig. Das kann man
politisch wollen. Aber wer das verheimlicht, weil es ihm
unangenehm ist, der führt die Menschen hinters Licht
und täuscht.
({14})
Ich fordere Sie deshalb auf: Hören Sie mit Ihrer
Heimlichtuerei auf! Hören Sie mit Ihrer Täuschung auf!
({15})
Sagen Sie endlich offen, was Sie vorhaben, wenn man
Sie denn ließe oder Sie durchsetzen könnten, was Sie
wollen. Sagen Sie, was Sie anders machen würden. Wir
haben das Recht, das von Ihnen zu verlangen.
({16})
Im Zentrum der Kritik der Interessengruppen sowie
außerhalb des Parlaments und der Opposition steht die
Absicht der Koalition, die Steigerung der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen zukünftig an der Steigerung der Gesamteinnahmen zu orientieren. Kurz gesagt, wir wollen, daß zukünftig nicht mehr ausgegeben
wird, als eingenommen wurde. Globalbudget nennen
wir das. Über den Namen kann man streiten, über das
Instrument nicht. Was soll eigentlich unvernünftig daran sein, sich beim Geldausgeben an den Einkünften zu
orientieren?
({17})
Wer diesen Grundsatz nicht beherzigen will, wer in
Kauf nehmen will, daß mehr ausgegeben als eingenommen wird, der hat nur zwei Möglichkeiten, auf andere
Weise für ausgeglichene Konten bei den Krankenkassen
zu sorgen:
({18})
Möglichkeit eins, Herr Zöller, wäre, den Kranken Leistungen zu streichen, damit sie sie zukünftig selbst bezahlen. Möglichkeit zwei, Herr Lohmann, wäre, die
Krankenversicherungsbeiträge zu erhöhen. Etwas anderes gibt es nicht.
({19})
- Lottospielen, das können Sie tun. Nur, damit retten Sie
die deutsche Krankenversicherung bzw. das deutsche
Gesundheitswesen nicht. - Wir wollen weder das eine
noch das andere.
({20})
Ebenso wollen wir nicht, daß versteckt der Patient
bzw. der Kranke wiederum derjenige ist, der Defizite zu
begleichen hat. Wir wollen ein vernünftiges Leistungsangebot bei stabilen Beitragssätzen. All denjenigen, die
behaupten, mit der als Globalbudget bezeichneten Obergrenze würden im Gesundheitswesen die Ausgaben für
Leistungen zusammengestrichen, muß entgegengehalten
werden, daß sie die Unwahrheit behaupten. Wir streichen nicht; wir begrenzen die Zuwächse. Wenn die
Krankenkassen in diesem Jahr - Herr Lohmann, ein
kleiner Ausflug in das kleine Einmaleins; das große will
ich Ihnen heute morgen noch nicht zumuten ({21})
260 Milliarden DM für Gesundheit ausgeben werden,
dann dürfen sie im Jahre 2000, also nächstes Jahr, eine
Steigerung der Grundlohnsumme um 2 Prozent vorausgesetzt, 265 Milliarden DM ausgeben und im Jahre 2001
unter den gleichen Bedingungen 271 Milliarden DM.
Wo wird da zusammengestrichen? Jahr für Jahr kann
mehr ausgegeben werden, und zwar so viel mehr, wie
auch mehr eingenommen wurde.
({22})
Ich vermute, daß in den Unternehmen, in denen Sie tätig
waren oder sind, das gleiche Prinzip gilt. Denn andernfalls würde der Amtsrichter kommen. Wir wollen den
Anteil der Gesundheitsausgaben am Volkseinkommen
stabil halten. Das heißt, daß der Grundsatz gilt: Wächst
das Volkseinkommen, kann man auch mehr für Gesundheit ausgeben.
Ich gebe ja zu, daß während der Vorgängerregierung
das alles anders gelaufen ist. Da wurden Leistungen gestrichen, was bei der gesetzlichen Krankenversicherung
zu Milliardeneinsparungen geführt hat. Das haben Sie
dann gefeiert. Sie feiern dies ja heute noch. Daß gleichzeitig die Versicherten die gestrichenen Leistungen
selbst bezahlten oder außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung abdeckten, in der Gesamtrechnung also
nicht gespart wurde, das haben Sie den Menschen verschwiegen. Solche Buchhaltertricks hat sich die jetzige
Koalition nicht einfallen lassen.
({23})
Wir sichern diese Ausgabenobergrenze zusätzlich
strukturell ab: In dem vorliegenden Gesetzentwurf begrenzen wir die Zahl der Neuniederlassungen von Vertragsärzten. Wir führen über das Mitbestimmungsrecht
der Kassen bei der Krankenhausbedarfsplanung die Zahl
der Krankenhausbetten zurück, und wir bereinigen über
die Positivliste die Zahl der abrechnungsfähigen Arzneimittel. Alles das sind zusätzliche Instrumente, um das
Globalbudget einzuhalten.
({24})
Nun höre ich von seiten der Medizingerätehersteller,
von Siemens bis General Electric, und von seiten der
Pharmaindustrie, von Hoechst bis Novartis, heftige
Proteste gegen die von uns vorgesehene Ausgabenobergrenze. Ich finde das gelinde gesagt eigentümlich. Kann
man einerseits als Elektrokonzern stabile Lohnnebenkosten einfordern und andererseits zulassen, daß die eigene
Medizingerätetochter alles dagegen tut, daß dieses Ziel
tatsächlich erreicht wird?
({25})
Kann man einerseits als Chemiekonzern stabile Krankenversicherungsbeiträge fordern und andererseits die
eigene Pharmatochter eine Geschäftspolitik betreiben
lassen, die diese Beiträge steigen läßt? Wie sieht es da
mit der Glaubwürdigkeit aus, meine Damen und Herren?
({26})
Es ist richtig, daß der Gesundheitsbereich ein Wachstumsmarkt ist. Wer aber dieses Wachstum reklamiert,
der muß auch ehrlich sein: Wachstum nur auf der Ausgabenseite, dem nicht ein entsprechendes Wachstum auf
der Einnahmenseite, sprich der Beitragsseite, gegenübersteht, darf es nicht geben. Das führt im Gesundheitswesen wie anderswo auf direktem Wege zum Konkursrichter. Wer keine Ausgabenobergrenze für die Krankenversicherung will, der sollte sicherheitshalber den
Begriff „stabile Lohnnebenkosten“ nicht mehr in den
Mund nehmen.
({27})
Einige Kritiker halten uns vor, mit ökonomisch orientierten Ausgabefonds sei der medizinische Fortschritt
nicht zu finanzieren. Dem halte ich entgegen, daß nicht
jede fortschrittliche Weiterentwicklung so gewaltig und
finanziell so schwerwiegend ist, als daß sie nicht durch
die Mehreinnahmen im Rahmen des üblichen Wachstums abgedeckt werden könnte.
({28})
Sollte es Entwicklungen geben, Herr Lohmann, wie zum
Beispiel eine bahnbrechende und kostspielige Neuorientierung bei der Krebsbekämpfung, dann muß diese eingeführt werden können, und zwar außerhalb des vorgesehenen Budgets. Aber das wird die Politik von Fall zu
Fall zu entscheiden haben.
({29})
Auch der Gesetzentwurf sieht diese Sonderfälle vor. Der
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion wird
dazu regelmäßig dem Deutschen Bundestag und damit
der Öffentlichkeit verläßliche Vorschläge unterbreiten.
Auch das ist geklärt.
Meine Damen und Herren von der Opposition ohne
eigenen Lösungsvorschlag, was bleibt jetzt noch an substantieller Kritik an der Ausgabenbeschränkung?
({30})
Nichts, gar nichts bleibt!
({31})
- Es bleibt nichts, Herr Lohmann. Sonst müßten Sie
einmal substantielle Kritik im Deutschen Bundestag artikulieren.
({32})
Wenden wir uns einem zweiten Kritikpunkt der Opposition ohne eigenen Lösungsvorschlag zu. Er richtet
sich gegen die von der Koalition in der Arzneimittelversorgung vorgesehene „Liste verordnungsfähiger Arzneimittel“; so heißt es im Gesetzestext, wir nennen das
„Positivliste“. Die Kritik von CDU/CSU und F.D.P. an
der Positivliste ist zunächst einmal schon vom politischen Ansatz her unglaubwürdig.
({33})
Was führen Sie in diesem Zusammenhang nicht alles
für Vokabeln im Mund? „Fortschrittsfeindlichkeit“,
„Reglementierungswut“ und anderes, was Ihnen dazu
eingefallen ist. Um Ihr Gedächtnis etwas aufzuhellen:
Die Positivliste ist exakt jenes Instrument, das
CDU/CSU, SPD und F.D.P. für so wirksam zur vernünftigen Neuordnung des Arzneimittelmarktes gehalten
haben, daß wir deren Einführung 1992 gemeinsam ins
Gesetzblatt geschrieben haben.
({34})
Sie wollten diese Positivliste bis zu jenem Zeitpunkt, als
man Ihnen höheren Ortes verbot, sie länger zu wollen.
Das ist aber auch alles.
Die Koalition will sie heute noch.
Wir wollen ein qualitätsorientiertes Instrument zur Sicherung einer ebenso hochwertigen wie preisgünstigen
Arzneimittelversorgung der Versicherten. Wir brauchen
therapeutisch sinnvolle, wirksame und über jeden qualitativen Zweifel erhabene Arzneimittel. Was wir in den
Arzneimittelschränken der Krankenversicherten nicht
brauchen, sind therapeutischer Schrott und Mittel von
therapeutischer Zweifelhaftigkeit.
({35})
Genau jene zweifelhaften Mittel und jenen Schrott wird
die Positivliste aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen entfernen.
({36})
Im übrigen wollen, Herr Lohmann, die Krankenkassen
und die Vertragsärzte die Liste; die Krankenhäuser haben bereits eine je nach Haus individuelle Liste. Das
zeigt, daß das Gemosere der Opposition ohne eigenen
Lösungsvorschlag abwegig ist.
({37})
CDU/CSU und F.D.P. müßten es eigentlich besser
wissen. In einer Antwort auf eine entsprechende Kleine
Anfrage nach Positivlisten in anderen EU-Staaten in der
zweiten Hälfte dieses Jahres - nicht vor 20 Jahren, meine Damen und Herren -, also vor wenigen Wochen,
wurde Ihnen von der Bundesregierung mitgeteilt, auf
wie viele Präparate die zugelassenen Arzneimittel in den
EU-Staaten begrenzt sind. Ich will das noch einmal festhalten: Belgien 4 900, Dänemark 4 000, Frankreich
7 700, Griechenland 5 800, Italien 9 100, Niederlande
9 900, Österreich 10 900, Portugal 4 500, Schweden
3 500 und Spanien 8 000. In der Regel gehen diese Positivlisten in den EU-Staaten mit einer Staffelung der Erstattungsfähigkeit einher. Damit wird in diesen Ländern
ein flächendeckendes therapeutisches Angebot zur Verfügung gestellt.
Die Gegner der Positivliste wollen uns aber einreden,
es müsse alles so bleiben, wie es ist, und es müsse also
weiterhin - je nach Zählweise - zwischen 28 000 und
53 000 Arzneimittel geben, um das gleiche Ziel in
Deutschland zu erreichen.
({38})
Wer den Menschen das einredet, ist nichts anderes als
ein politischer Scharlatan, dem es nur um Interessen und
nicht um das Wohl der Menschen geht.
({39})
Fortschrittsfeindlich und innovationshemmend soll
die Liste sein. Daß ich nicht lache: Das Gegenteil ist
richtig; denn auch für Arzneimittel stehen nur begrenzte
finanzielle Mittel zur Verfügung. Wenn aber innerhalb
des begrenzten finanziellen Arzneimittelrahmens therapeutische Zweifelhaftigkeiten mit therapeutisch Hochwertigem um Marktanteile konkurrieren, dann ist das
von Nachteil für Fortschritt und Innovation.
({40})
- Das stimmt doch wohl! Es ist von Nachteil in diesem
Wettbewerb.
({41})
Nur wo Fortschritt und Innovation vor derart zweifelhafter Konkurrenz geschützt sind, lohnen sich neue Forschung und Innovation. Genau dieses pharma- und
standortpolitische Ziel lohnt sich zusätzlich anzustreben,
um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Genau
das tut diese Koalition. Sie setzt nämlich mit der Positivliste auf beide Ziele: Die Positivliste schadet nicht
dem Pharmastandort Deutschland; sie nützt und fördert
ihn, weil sie auf Innovation setzt, statt Zweifelhaftes zu
begünstigen.
({42})
Der dritte Schwerpunkt unserer Reformvorhaben liegt
im Bereich der Krankenhausversorgung. Wir alle wissen: Das ist der politisch schwierigste Teil jeder Gesundheitsreform.
({43})
Die Koalitionsfraktionen haben - jedenfalls da, wo sie
über politischen Einfluß verfügen - von Anfang an großen Wert darauf gelegt, daß der Krankenhausteil des
Gesetzentwurfes besonders intensiv mit den Bundesländern abgesprochen wird. Bei der ersten Lesung des Gesetzes habe ich darauf hingewiesen, daß unsere Reformbemühungen im Gesundheitswesen ein Torso blieben,
würde es abermals nicht zu durchgreifenden Veränderungen in der Krankenhausversorgung reichen. Das
bleibt aus meiner Sicht unverändert.
Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs steht die Einführung einer zukünftig gemeinsam von Krankenkassen
und Bundesländern durchgeführten und verantworteten
Krankenhausbedarfsplanung. Wir wollen, daß in der
Krankenhausversorgung endlich das Platz greift, was in
jedem Wirtschaftsbetrieb existentiell für dessen Leistungsfähigkeit ist. Die Verantwortung für die Investitionsplanung einerseits und die Verantwortung für die finanziellen Folgen dieser Investitionsplanung andererseits sollen zusammengeführt werden. Das hat mit der
verfassungsgrechtlich garantierten Planungshoheit der
Länder nichts zu tun; sie bleibt selbstverständlich unberührt. Es darf nicht länger so bleiben, daß die eine Seite
Investitionen planen kann, ohne die finanziellen Langzeitfolgen dieser Planung zu berücksichtigen, weil sie
diese sozusagen an der Garderobe anderer politisch abgeben kann. Deshalb gilt: Die Krankenkassen gehören in
die Mitentscheidung für die Krankenhausbedarfsplanung.
Es ist kein Zufall, daß die Bettendichte und übrigens
auch die Krankenhausverweildauer in Deutschland bedeutend höher sind als in allen vergleichbaren europäischen Ländern. Über die Neuordnung der Planungsverantwortung wollen wir den Bettenüberhang in Deutschland abbauen helfen. Mit einiger Verwunderung muß ich
dabei zur Kenntnis nehmen, daß die Deutsche Krankenhausgesellschaft dadurch die Krankenhausversorgung
gefährdet sieht. Mit Verlaub: Das ist absurd. Die Krankenhausversorgung gefährdet nicht der, der die Zahl der
Krankenhausbetten auf ein normales und vertretbares
Maß zurückführt, sondern der, der an überflüssigen Kapazitäten festhält und so über kurz oder lang den Finanzinfarkt des Gesamtsystems heraufbeschwört.
({44})
Wenn die Deutsche Krankenhausgesellschaft darauf
hinweist, schon in vergangenen Jahren seien fast
100 000 Betten abgebaut worden, dann antworte ich:
Mag sein, aber auch diese 100 000 Betten sind gegen
den Willen der Deutschen Krankenhausgesellschaft abgebaut worden, die damals ebenfalls den Zusammenbruch der Krankenhausversorgung prophezeit hat.
Nichts davon ist eingetreten.
Das im Zusammenhang mit dem Bettenabbau geäußerte Arbeitsplatzargument nehme ich hingegen ernst,
sehr ernst sogar. Dieses Argument gilt übrigens nicht
nur für den Krankenhausbereich, sondern überall da, wo
Kapazitäten abgebaut werden.
Wir beklagen in Deutschland überhöhte Lohnnebenkosten. Wir wollen das Niveau zunächst stabilisieren
und dann zurückführen. Es entspricht der ökonomischen
Logik, daß überhöhte Lohnnebenkosten zu Arbeitsplatzverlusten führen. Überhöhte Kapazitäten, die zu überhöhten Lohnnebenkosten führen, mögen kurzfristig zur
Aufrechterhaltung von Arbeitsplätzen beitragen, an anderer Stelle unserer Volkswirtschaft aber führen sie zu
Arbeitsplatzverlusten. Kurzfristig handelt es sich arbeitsplatzpolitisch also um ein Nullsummenspiel; längerfristig wird sogar eine Negativbilanz daraus. Längerfristig bezahlen wir gesamtwirtschaftlich durch Arbeitsplatzverluste, heraufbeschworen durch die sinkende
Wettbewerbsfähigkeit. Das Arbeitsplatzargument gegen
dieses Gesetz führt also in die Irre. Wir bleiben bei der
Neuordnung der Planungsverantwortung für die Krankenhäuser.
Die Investitionskosten, die durch die Krankenkassen
zu übernehmen sind, betragen fast 7 Milliarden DM.
Diese Summe - sie entspräche fast einem halben Beitragspunkt - kann nicht auf einem Schlag aufgebracht
werden, zumindest nicht unter Beachtung des Gebots
der Beitragssatzstabilität. Deshalb muß die Überführung
der Finanzlast der Krankenhausinvestitionen auf die
Krankenkassen zeitlich gestreckt werden und schrittweise erfolgen.
Wir wollen letztlich echte Preise im Krankenhausbereich erreichen. Sie werden unabhängig von der Dauer
des Krankenhausaufenthalts nur auf den jeweiligen Fall
und die jeweilige Diagnose bezogen sein. Das schafft
Kostentransparenz und macht unwirtschaftliches Verhalten bei den einzelnen Krankenhäusern sichtbar. Ich
bin mir ganz sicher: Die Neuordnung der Krankenhausentgelte, die mancher Wirtschaftsabteilung in den Krankenhäusern als Revolution erscheinen mag, wird weitreichende Folgen für das Erreichen von mehr Effizienz
haben, und zwar ohne daß die Qualität der medizinischen Versorgung beeinträchtigt wird.
Bleibt abschließend zu fragen: Wie hält es die Opposition in diesem Hause mit dem Reformteil „Krankenhaus“ im heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf? Sie
bleibt eine Opposition ohne eigenen Lösungsvorschlag.
Es gibt nicht den Hauch einer eigenen Konzeption. Es
ist schon bemerkenswert: Die zweitgrößte Fraktion im
Parlament legt sich bei einer der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben dieser Wahlperiode einfach
auf Grund und spielt U-Boot.
({45})
Vom Kartell der politischen Schweiger konnte man
mehrfach erfahren, man lehne die Gesundheitsstrukturreform ab.
({46})
Meine Güte, habe ich gedacht, wie originell, wie aufregend ist das! - Sie von der CDU/CSU müssen sagen,
was Sie an die Stelle des von Ihnen Abgelehnten setzen
wollen. Sie wollen kein Globalbudget, also keine Ausgabenbeschränkung. Was wollen Sie statt dessen? Wollen Sie einfach alles laufen lassen, höhere Zuzahlungen
oder Leistungskürzungen?
({47})
Sie wollen keine Positivliste. Das bedeutet: Sie wollen
keine Qualitätsverbesserung, keine Neuordnung auf dem
Arzneimittelmarkt. Was aber wollen Sie statt dessen?
Was setzen Sie an deren Stelle? Sie wollen keine Krankenhausreform, keine monistische Finanzierung, keine
Neuordnung der Krankenhausvergütungen. Was will die
CDU/CSU? Es bleibt uns allen ein Rätsel.
({48})
Sie werden die Stunde der Wahrheit auf sich zukommen sehen. Sie werden dem Konzept der Koalition etwas entgegensetzen müssen.
({49})
U-Boot-Spielen kann man immer nur eine begrenzte
Zeit. Irgendwann - das wissen wir - muß jedes U-Boot
auftauchen. Wir sind gespannt, was für ein Bötchen aus
dem Meer des politischen Schweigens auftauchen wird.
({50})
- Herr Lohmann, ich will Ihnen an dieser Stelle sagen:
Abgetakelte Fregatten können manchmal zwar noch
schwimmen, aber als Fortbewegungsmittel sind sie ungeeignet.
({51})
Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen
SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die für unser Gesundheitswesen Verantwortung Tragenden, können und werden nicht auf die CDU/CSU warten. Wir setzen uns
heute für die notwendigen Strukturveränderungen ein,
damit unser Gesundheitswesen seine Qualität auch
weltweit sichern kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
({52})
Ich erteile nun dem
Kollegen Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ihre Philosophie ist,
man könne das Gesundheitswesen über Globalbudgets
organisieren. Auch wir haben 1992 mit Ihnen zusammen
geglaubt, wir könnten es so organisieren. Leider hat sich
in den Folgejahren gezeigt, daß das ein absoluter Fehlschlag war; denn es waren bereits 1994 Rationierungstendenzen im Lande zu erkennen.
({0})
Ich frage Sie: Wenn wir diese praktischen Erfahrungen
mit Globalbudgets in Deutschland gemacht haben und
noch mehr praktische Erfahrungen dieser Art in England
und Schweden gemacht worden sind, warum gehen Sie
dann diesen Weg? Warum sorgen Sie dafür, daß die Patienten Probleme bekommen?
Im Vorschaltgesetz haben Sie die Zuzahlungen zwar
abgesenkt; aber Sie haben dabei verschwiegen, daß Sie
gleichzeitig das Budget reduziert haben. Meine Damen
und Herren, was bedeutet das für den Patienten? Er muß
in der Tat weniger zuzahlen, aber der Arzt kann ihm
wegen des Budgets die Arzneimittel und Heilmittel nicht
mehr verschreiben. Das hat zur Folge, daß der Patient
diese Mittel hundertprozentig selbst bezahlen muß. Ist
das Ihre Sozialpolitik?
({1})
Wie sieht das heute in der Praxis aus? Als Beispiel
nehme ich die Physiotherapie: Patienten brauchen
dringend Behandlungen, der Arzt verschreibt heute jedoch nur noch zwei Behandlungen, auch wenn der Patient dringend mehr Behandlungen braucht. Es gibt zwar
keine Zuzahlungserhöhung, aber eine nennenswerte Leistungsreduzierung.
({2})
Das ist der Betrug am Patienten, der von Ihrer Seite ganz
bewußt betrieben wird.
({3})
Meine Damen und Herren, das Problem besteht nicht
nur darin, daß lediglich zwei Behandlungen verschrieben
werden. Weil der Patient weitere Behandlungen dringend
benötigt, wechselt er den Arzt. Er geht zu mehreren Ärzten, und jeder Arzt schreibt ein oder zwei weitere Rezepte
aus. Damit sind Kostensteigerungen vorprogrammiert,
und eine vernünftige therapeutische Behandlung ist bei
diesen Arztwechseln natürlich nicht gegeben.
({4})
Ich nenne Ihnen ein zweites praktisches Beispiel: In
den neuen Bundesländern sind die Budgets auf Grund
des Vorschaltgesetzes schon weitgehend erschöpft. Nun
ist Ihr neues Paket keinen Deut besser, sondern verstärkt
diese Tendenz noch. Gehen Sie einmal zu Rheumapatienten gerade in den neuen Bundesländern! Ein Arzt
fragte mich, was er angesichts der Tatsache tun solle,
daß sein Budget erschöpft sei. Er erzählte, daß er zumeist Arzneimittel verschreibe, die mehr als 100 DM
kosteten, und solche hochinnovativen Arzneimittel verschreiben müsse, da es wenig Zweck habe, auf Generikaprodukte auszuweichen.
Was soll er tun? Er hat drei Möglichkeiten: Er verschreibt wie bisher, dann wird er in Regreß genommen
und muß selber zahlen. Die zweite Möglichkeit: Er reduziert seine Verschreibungen und nutzt Generika; aber
dann sind die Therapieerfolge erheblich reduziert. Die
letzte Möglichkeit ist, daß er den Patienten an ein Krankenhaus überweist. Das ist Ihre Gesundheitspolitik, von
der Sie behaupten, es werde nichts reduziert. In der Praxis wird massiv reduziert. Der Patient merkt es manchmal heute schon, und er wird es in den nächsten Wochen
noch mehr merken.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie müssen doch ehrlich
bekennen, daß Budgets zu Lasten der Patienten und der
Leistungserbringer gehen. Ihr Parteikollege Professor
Hankel hat das im „Handelsblatt“ eindeutig definiert.
Die Patienten erfahren indirekt eine Leistungskürzung.
Auf der anderen Seite werden die Leistungserbringer im
Honorarteil schlechtergestellt. Was bedeutet das? Unser
freiberufliches Gesundheitswesen wird angegriffen. Die
Ärzte werden auf Dauer nicht mehr in der Lage sein, in
ihre Praxen zu investieren, weil ihre Honorare heruntergehen. Sie wissen doch, wie es in den neuen Bundesländern im freiberuflichen ärztlichen Bereich aussieht.
Sprechen Sie mit diesen Ärzten, dann erkennen Sie die
Situation der Freiberufer in den neuen Bundesländern!
Gehen Sie darüber einfach hinweg? Sie sollten Ihre Politik wirklich überdenken!
({6})
Dann fallen Ihnen noch weitere Schlagworte ein. Man
muß sich ja fragen, wie Sie darauf kommen. Ich nenne
hier das „Globalbudget“. Ja, wie soll das denn mit zehn
sektoralen Budgets organisiert werden? Das kann Ihnen
keiner sagen. Kein Vertreter einer gesetzlichen Krankenkasse kann Ihnen sagen, wie dies in der Praxis organisiert
werden soll. Das wird ein Chaos, sage ich Ihnen. Die
Bürger und die Patienten werden es ertragen müssen.
Daneben fallen Stichworte aus der Industrie wie
„Benchmarking“. Man sagt, man solle sich an der Region orientieren, die die niedrigsten Arzneimittelausgaben
hat. Aber dabei werden beispielsweise überhaupt nicht
die Pro-Kopf-Ausgaben in der Region, die Befreiungsquoten, die Härtefallregelung, die Fälle der chronisch
Kranken und auch nicht die Morbiditätsentwicklung in
der betreffenden Region berücksichtigt. Ich verweise
jetzt noch einmal auf die neuen Bundesländer. Da ist die
Situation völlig anders. Sie wollen eine Politik für die
neuen Bundesländer machen? Ich sage Ihnen: Sie machen genau das Gegenteil, und darum sind die Wahlergebnisse so, wie sie sind; verdammt noch mal!
({7})
- Ich würde nicht so spucken.
({8})
Ihre Wahlergebnisse in den neuen Bundesländern können sich auch nicht sehen lassen.
({9})
Zweites Stichwort: Positivliste. Herr Dreßler bejubelt
die Positivliste, und dabei weiß er, daß er nur die Hälfte
der Wahrheit gesagt hat.
({10})
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland 42 000
Arzneimittel. Wir haben auch eine besondere Zählweise.
Denn jede Darreichungsform wird extra gerechnet.
({11})
Es gibt fünf Darreichungsformen. Wenn wir die von mir
genannte Zahl durch fünf dividieren, dann kommt man
zu dem Ergebnis, daß wir im europäischen Durchschnitt
liegen. Das muß man wissen. Was Sie behaupten, ist
völlig falsch.
({12})
Jetzt, Herr Dreßler, zu Ihrer großen Innovation Positivliste. Sie glauben doch wohl nicht, daß Unternehmen in
der Bundesrepublik Deutschland zunächst forschen, dafür
den Antrag beim zuständigen Institut für Arzneimittel und
Medizinprodukte stellen und dann einen zweiten Antrag
bei dem neu zu gründenden Institut stellen werden. Glauben Sie, das wäre ein sinnvoller Weg?
({13})
Ferner behindert die Positivliste die Therapiefreiheit und
die Erfüllung von Patientenwünschen. Sie haben es doch
eingesehen. Warum hätten Sie denn sonst einen Anhang
zugestanden? Sie vernichten mit diesem Vorhaben die
gesamte Therapie im Bereich der Naturheilmittel, und
dies wollen wir nicht.
({14})
Sie, Frau Ministerin, bejubeln die integrierte Versorgung. Über integrierte Versorgung kann man wirklich reden. Aber man kann es nicht so machen wie Sie,
nämlich sofort als Pflicht. Sie bringen ein ganz neues
Modell auf den Weg. Sie behaupten, daß die integrierte
Versorgung in der Stadt und auf dem Land gleich zu organisieren ist. Eine solche Verantwortung, wie Sie sie
jetzt im Gesetz pauschal formulieren, kann man nicht
übernehmen.
({15})
Dies kann man nur machen, wenn es vorher entsprechende Modellversuche gegeben hat. Wir haben in der
Vergangenheit ausgesprochen interessante und gute
Konzepte im Rahmen von Modellversuchen auf den
Weg gebracht. Ich will Ihnen das einmal an einem Beispiel aufzeigen. Das soll Ihnen klar machen, daß Sie so
etwas nicht mit Budgetierung und pauschal machen
können. Vielmehr müssen Sie es mit intelligenten Lösungen vor Ort organisieren. Ich nenne einmal die Diabetiker-Betreuung. Wir haben in meiner Region ein Modell auf den Weg gebracht: Niedergelassene Ärzte sollen
Zuckerkranke betreuen. Wenn dies nicht mehr möglich
ist, sollen sie in eine spezielle Rehabilitationsklinik und
nicht in das Krankenhaus. Es ist nämlich medizinisch
günstiger, das so zu organisieren. Die betreffende Krankenkasse hat bundesweit 840 Millionen DM durch vernünftige organisatorische und medizinische Maßnahmen
eingespart.
({16})
Wenn Sie glauben, Sie könnten so etwas bundesweit
zentral organisieren, dann sage ich Ihnen: Das geht
daneben.
({17})
Nur durch intelligente Lösungen können Sie das machen.
({18})
Als weiteren Punkt nenne ich die Krankenhausfinanzierung. Auch wir sind für die monistische Finanzierung; auch wir sind dafür, daß die laufenden Betriebskosten und die Investitionskosten monistisch finanziert werden. Aber sich das Leben so einfach machen
zu wollen, wie Sie es vorhaben, geht nicht: Glauben Sie
nicht, Sie bekämen die Zustimmung der Bundesländer
dafür, im Krankenhausbereich über Einsparungen 7 bis
9 Milliarden DM herauszupressen, um diese Investitionen zu tätigen! Das ist der völlig falsche Weg
({19})
und zerstört die guten Ansätze der Neuorganisation der
Krankenhauslandschaft, die wir in den letzten Jahren
durchgesetzt haben. Man muß hier ehrlich sagen, Herr
Dreßler: Wir haben im Krankenhausbereich in den letzten Jahren sehr viel verändert. Die Zuwachsraten im
Krankenhausbereich sind in den letzten Jahren gleich
Null gewesen. Das war schon ein großer Erfolg.
Ich will nicht auf den europäischen Kontext eingehen
- ein großes Thema, das die Bundesregierung völlig aus
dem Blick läßt. Europa wächst immer enger zusammen,
und sicherlich werden auch die Gesundheitsleistungen in
Zukunft stärker grenzüberschreitend in Anspruch genommen.
Wir stellen heute einen Entschließungsantrag zur
Abstimmung. Die Positionen der F.D.P. sind genau formuliert und eindeutig festgelegt. Die wichtigsten möchte
ich hier nennen: Die Finanzierung ist so zu gestalten,
daß keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigungslage ausgehen.
({20})
- Moment, ich sage es Ihnen. - Wie kann man das machen? Wir sind der Auffassung, daß der heutige Leistungskatalog, verglichen mit anderen Staaten dieser
Welt, sehr umfangreich ist. Das ist sicherlich mehr als
eine Grundversorgung. Wir möchten jetzt den Arbeitgeberbeitrag festschreiben.
({21})
Wenn der Leistungskatalog erweitert wird - was nicht
sein muß -, soll der Arbeitnehmer die entstehenden
Beitragserhöhungen tragen.
({22})
- Hören Sie genau zu! - Das geht nur im Zusammenhang mit einer Steuerreform, die den Bürgern mehr
Geld in der Tasche beläßt, damit sie sich das leisten
können.
({23})
- Daß eine Steuerreform Auswirkungen auch auf diesen
Bereich haben kann, ist Ihnen wohl fremd. ({24})
Wir werden also auch die Thematik Leistungskatalog
besprechen müssen.
Ein weiterer Punkt wird in Ihrem System überhaupt
nicht organisiert. Wir denken, daß dann, wenn Anreize
sowohl für die Patienten als auch für die Leistungserbringer geschaffen werden, mehr Wettbewerb in das
System hineinkommt. Beitragsrückgewähr, Bonusregelungen, Selbstbehalt, Wahlmöglichkeiten - all dies sind
für uns wichtige Überlegungen.
({25})
- Das schadet gar nichts.
Wir wollen auch weg vom Sachleistungssystem. Dieses alte Prinzip wird in der Bundesrepublik nicht zu
halten sein. Die europäische Ebene wird auf das Sachleistungssystem einen solchen Druck ausüben, daß Sie sich
schon heute Gedanken machen sollten, wie man unser
Gesundheitswesen über die Kostenerstattung organisieren kann.
({26})
Wenn Sie Versicherten und Leistungserbringern mehr
Freiheit geben würden, dann würden Sie manche planwirtschaftlichen Elemente, die Budgetierung, manch falsche Organisation - Detlef Parr wird noch auf den Medizinischen Dienst zu sprechen kommen - und manche
Superbehörde nicht benötigen.
Ich sage sehr deutlich: Die sozial Schwachen müssen
über eine vernünftige Härtefallregelung und über eine
Überforderungsregelung geschützt werden. Eine solch
gute Härtefallregelung und Überforderungsregelung, wie
wir sie gemeinsam mit der CDU/CSU in der letzten
Wahlperiode verabschiedet haben, können Sie lange suchen.
({27})
Wenn bei der Budgetierung das Budget erschöpft ist,
dann bekommt der sozial Schwache nichts mehr, dann
muß er alles selbst bezahlen. Das aber kann er nicht. Das
ist der Betrug am Bürger, am Patienten.
({28})
Das Wort hat nun
Kollegin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit zwei
Vorbemerkungen beginnen. Werte Frau Ministerin Fischer, es ist richtig, daß die Polemik zu dieser Gesundheitsreform in der letzten Zeit wirklich unerträglich war.
Aber Sie vergessen, daß durch die Art und Weise Ihres
Vorgehens, nämlich daß diese Gesundheitsreform nicht
von einem ordentlichen Verfahren begleitet wurde, Ihr
Eigenanteil an dieser Entwicklung nicht ganz unwesentlich ist.
({0})
Aus meiner Sicht war es ein Chaos, und da interessiert
es mich überhaupt nicht, ob in der Zeit vorher, als ich
noch nicht dabei war, das genauso gelaufen ist. Ich habe
es als schlimm empfunden. Was ich ganz schlimm finde,
ist: Das Öffentlichkeitsimage dieser Reform, die gute
Ansätze hat, wurde im Prinzip beschädigt, und die Patienten wurden verunsichert.
Lieber Herr Dreßler - ich weiß gar nicht, ob ich „Lieber“ sagen darf -,
({1})
daß für Sie die Opposition nur aus der CDU/CSU besteht, kann ich nachvollziehen, denn mit ihr müssen Sie
sich im Bundesrat auseinandersetzen. Aber ob es Ihnen
paßt oder nicht: Es liegen außerdem Entschließungsanträge von der F.D.P. und von uns vor. Bei der F.D.P.
passen mir die Inhalte nicht, und unsere Anträge mögen
Ihnen nicht passen.
({2})
- Eben. Sie haben „die Opposition“ gesagt, aber damit
immer nur die CDU/CSU gemeint. Ich finde, das ist
nicht gerecht.
Kollegin Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
Ja, wenn es nicht von der
Zeit abgeht.
Das wissen Sie doch.
Frau Kollegin Fuchs, ich lege wegen des parlamentarischen Ablaufs auf folgendes
sehr großen Wert: Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, daß ich immer von der „Opposition ohne eigenen Lösungsvorschlag“ gesprochen habe?
({0})
Ich nehme an, daß Sie sich deshalb auch nicht angesprochen fühlen dürfen.
Herr Dreßler, ich heiße
Fuchs, aber Sie sind ein Fuchs!
({0})
Ich akzeptiere das.
Nun zum Thema. Was das Reformvorhaben selbst
betrifft, so unterstützen wir ausdrücklich, daß dabei an
einer solidarischen Absicherung des Krankheitsrisikos festgehalten werden soll. Damit besteht die Aussicht, daß die entscheidenden Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Fähigkeit zum Solidarausgleich erhalten bleiben.
Natürlich begrüßen wir die Absicht der Koalition, den
Weg der Zuzahlungserhöhungen nicht weiter zu beschreiten, obwohl ich ehrlich sagen muß: Ich hatte erwartet, daß Sie Ihr Wahlversprechen einlösen und hier
mehr zurücknehmen.
Das mit dem Gesetz verfolgte Ziel, bestehende Unwirtschaftlichkeiten durch Strukturreformen zu beseitigen, wird von uns grundsätzlich befürwortet. Es kann
kein ernsthafter Streitpunkt sein, daß es im Gesundheitswesen gravierende Strukturfehler gibt. Man denke
nur an die vielfältige Aufteilung der medizinischen Versorgung in voneinander getrennte Einzelbereiche oder
an die schwache Stellung der Hausärzte.
Bekannt ist auch, daß falsche Stimuli, noch dazu vor
dem Hintergrund einer fast unkontrollierten Machtstellung und einer kaum gebremsten Profitorientierung der
Medizinindustrie, das ärztliche Handeln teilweise in eine
medizinisch nicht begründete Mengen- und Ausgabendynamik treiben. Deshalb sind echte Strukturreformen
im Gesundheitswesen dringend erforderlich.
Aber lassen Sie mich auch folgendes sagen: Entscheidend ist die richtige Ausgestaltung solcher Absichten im Sinne überzeugender Lösungen, und zwar
solcher Lösungen, die sich in der Praxis auch als funktionstüchtig erweisen. In dieser Hinsicht lassen die im
Gesetz enthaltenen Vorstellungen nach wie vor viele
Fragen offen. Natürlich ist zum Beispiel eine Positivliste wirksamer und unverzichtbarer Arzneimittel ein
sinnvolles Einzelelement, vor allem wenn man zu einer
qualitativ besseren und rationelleren Arzneimittelversorgung kommen will.
Aber davon allein sind die notwendigen Veränderungen kaum zu erwarten. Eine rationelle Arzneimittelversorgung verlangt auch die Zurückdrängung der gegenwärtigen Abhängigkeit des Verordnungsverhaltens der
Ärztinnen und Ärzte von den Herstellern. Es verlangt
außerdem die Gewährleistung einer gezielten und vor
allem industrieunabhängigen fachlichen Information und
Fortbildung der Leistungserbringer und letztendlich den
Vorrang definierter Versorgungsaufgaben vor den Profitinteressen der Pharmaindustrie.
({1})
Doch der entscheidende Fehler dieser Gesundheitsreform besteht nach unserer Auffassung darin, daß die
elementare Tatsache ignoriert wird, daß auch in der gesetzlichen Krankenversicherung die allein lohnbezogene Beitragsfinanzierung an ihre Grenzen gestoßen ist.
Damit wird das wichtigste Problem des Gesundheitswesens in der vorgelegten Reform völlig ausgeblendet.
Aber Tatsachen halten sich hartnäckig: Das Gesundheitswesen hat nicht nur ein Ausgabenproblem, sondern
auch ein zunehmendes Einnahmenproblem. Die Finanzierungsschwierigkeiten in der gesetzlichen Krankenversicherung sind keineswegs in einer vermeintlichen
Kostenexplosion begründet. Sie gehen in erster Linie auf
die relativ zurückbleibenden Einnahmen in Folge der einschneidenden Veränderungen im Erwerbsleben zurück.
Die bekannten Verschiebebahnhöfe zugunsten des Bundeshaushaltes haben diese Situation zusätzlich verschärft.
Andererseits darf man die Augen nicht davor verschließen, daß die demographische Entwicklung und
der medizinische Fortschritt den Bedarf nach gesundheitlicher Versorgung objektiv weiter erhöhen. Damit
bleibt unabweisbar, daß sowohl die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen als auch die finanziellen
Aufwendungen für diesen Bereich weiter zunehmen
müssen. Reformansätze in der GKV und im Gesundheitswesen, die sich dieser Ausgangssituation nicht
stellen, laufen Gefahr, in der Praxis zu scheitern.
Will man dem begegnen, sind sowohl Strukturreformen als auch eine systematische Konsolidierung der Finanzgrundlagen unabdingbar. Allerdings sind wir - im
Gegensatz zu bekannten gesundheitspolitischen Grundphilosophien von CDU/CSU und F.D.P. - nicht der
Meinung, man solle die Einnahmenprobleme durch
ständig steigende Belastungen der Patientinnen und Patienten lösen.
({2})
Im Gegenteil: Wir halten eine Stärkung und Erneuerung des Solidargedankens für notwendig und möglich,
die auch unter den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen den Grundsätzen solidarischer Gerechtigkeit klar verpflichtet bleiben.
({3})
Dabei ist es erforderlich, dem Gesundheitswesen
Entwicklungsspielräume im Rahmen der Steigerung des
Bruttoinlandprodukts zu ermöglichen. Beitragssatzstabilität ist auch unter solchen Bedingungen zu gewährleisten. Notwendig ist nur der politische Wille - und der
scheint zu fehlen -, die Möglichkeiten des bestehenden
lohnbezogenen Finanzierungssystems voll auszuschöpfen. So ist es beispielsweise immer weniger vertretbar,
daß sich ausgerechnet der besserverdienende Teil der
Bevölkerung aus der solidarischen Übernahme von Gemeinschaftslasten verabschieden kann.
({4})
Wir halten es nach wie vor für richtig - was übrigens
vor der Bundestagswahl auch von SPD und Grünen
noch zu hören war -, die Versicherungspflichtgrenze
in der gesetzlichen Krankenversicherung auf das Niveau
der Rentenversicherung zu heben. Auch die Auffassung,
weitere Bevölkerungsschichten auf der Grundlage einer
allgemeinen Versicherungspflicht in die gesetzliche
Krankenversicherung einzubeziehen, finden wir richtig.
Nach unserer Überzeugung gilt für das Gesundheitswesen und die gesetzliche Krankenversicherung ebenso
wie für die anderen Sozialversicherungssysteme: Wer
ihren solidarischen Charakter bewahren will, muß auch
die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen.
({5})
Darüber hinaus muß man in diesem Zusammenhang
eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums einfordern. Mittel- und längerfristig halten wir es
für notwendig, daß auf der Grundlage einer anderen
Steuer- und Finanzpolitik Bund, Länder und Gemeinden
in die Lage versetzt werden, gesundheitliche Leistungen
stärker als bisher aus Steuermitteln mitzufinanzieren.
Darüber hinaus sollte bedacht werden, künftig den Arbeitgeberanteil der Unternehmen nach ihrer Leistungsfähigkeit zu berechnen, das heißt, nach ihrer Bruttowertschöpfung, die - im Unterschied zu den entsprechenden Lohnkosten - regelmäßig durchschnittlich
steigt. Genau dies würde mehr Verteilungsgerechtigkeit
bedeuten.
({6})
Die Tatsache, daß die Regierung eine Erweiterung
der Finanzierungsbasis der GKV ausschließt - daran
kann auch die kleine Veränderung, die Sie dort inzwischen bezüglich der Einnahmen von geringfügig Beschäftigten vorgenommen haben, nichts ändern -, wird
schwerwiegende Folgen haben. In der zentralen Frage
der Reform zwingt dies zum Abschied von der Realität.
Denn nichts anderes ist es, wenn die Regierungskoalition an die Strukturveränderungen die Erwartung knüpft,
sofort mit geringstmöglichen Finanzzuwächsen auszukommen, oder glaubt, Mittel direkt freisetzen zu können.
Aber weder durch die Stärkung der Hausärzte noch
durch Formen der integrierten Versorgung, noch durch
die Positivliste können kurzfristig entsprechende Einsparungen erwartet werden; denn bei solchen Strukturveränderungen handelt es sich um tief in bestehende Denkund Handlungsmuster eingreifende soziale Lernprozesse. Das benötigt Zeit und muß von den Betroffenen mitgetragen und vor allen Dingen auch mitgestaltet werden.
Hinzu kommt, daß das Gesundheitswesen nicht nur
Überkapazitäten und Wirtschaftlichkeitsreserven besitzt.
Es hat auch große Felder mit Unterversorgung und
Nachholbedarf.
Erfreulicherweise hat das inzwischen auch die Regierung zur Kenntnis genommen. Dennoch zieht sie es vor,
nur das Ausgabenproblem des Gesundheitswesens
wahrzunehmen und ab sofort ein hart begrenztes Globalbudget zu verordnen. Damit dient das richtige Ziel,
Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen, nicht primär
der Verbesserung in der medizinischen Versorgung. Es
muß letztendlich als Begründung für eine rigorose Sparpolitik herhalten. Eine Gesundheitspolitik, die den
Wachstumsbereich Gesundheitswesen von der Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungskraft abkoppelt,
kann nur als Teil eines neoliberalen Gesamtkonzeptes
verstanden werden.
({7})
Darüber hinaus wird deutlich, daß diese Reform primär von wirtschaftspolitisch determinierten Vorgaben
und nicht von den eigentlichen gesundheitspolitischen
Notwendigkeiten geprägt ist. Ein solcher Sparkurs kann
nicht ohne Auswirkungen auf die Patientenversorgung
bleiben. Auch wenn man annimmt, daß von einer Stärkung der hausärztlichen Tätigkeit oder von Formen der
integrierten Versorgung günstige Wirkungen ausgehen
können, bleibt die Gefahr für die medizinische Arbeit
vorherrschend.
Ihnen allen ist bekannt, daß ein bloßer Einspardruck
nicht nur fragwürdige, sondern in gleichem Maße auch
medizinisch notwendige Leistungen verhindert. Hinzu
kommt: Die Verlierer solcher Art von Reformen sind die
sozial Schwächeren und insgesamt all jene, die sich am
wenigsten wehren können. Soziale Gerechtigkeit und
Chancengleichheit in der gesundheitlichen Versorgung
werden auch auf solche Weise in Frage gestellt.
({8})
Es kann deshalb kaum verwundern, wenn ein so wenig durchdachtes Herangehen an Reformen von den
Ärztinnen und Ärzten und den anderen im Gesundheitswesen Beschäftigten als Druck in Richtung Qualitätsminderung und Rationierung empfunden wird. Darüber
hinaus weiß man, daß Anbieter medizinischer Leistungen, die bei prospektiven Preissystemen im wirtschaftlichen Wettbewerb stehen, tendenziell zu Unterversorgung stimuliert werden.
({9})
Unter anderem deshalb halten wir es für eine grundsätzlich falsche Weichenstellung, daß die Bundesregierung gewillt ist, ökonomischen Wettbewerb jetzt auch
auf Krankenhäuser und andere Leistungserbringer im
Gesundheitswesen auszudehnen.
({10})
Ob man es wahrhaben will oder nicht: Marktprinzipien
und wirtschaftlicher Wettbewerb haben in der gesundheitlichen Versorgung höchst verhängnisvolle Wirkungen. Sie machen chronisch Kranke und damit aufwendige Patienten zu unerwünschten Risiken, und sie
diskriminieren die sozial Schwächsten.
Im übrigen sind die negativen Folgen der Sparpolitik
der Regierung schon im laufenden Jahr sichtbar geworden. Vor allem in Ostdeutschland ist es als Folge von
grundlohnorientierten Budgetierungen bereits zu massiven Androhungen von Personalabbau, zu Abstrichen bei
der medizinischen Leistungsfähigkeit sowie zu verschlechterten Arbeitsbedingungen gekommen. Es ist äußerst dringlich, die besonderen Finanzierungsprobleme
in Ostdeutschland aufzugreifen und den Transfer zwischen West und Ost neu zu regeln.
Deshalb wird es von uns außerordentlich begrüßt, daß
sich die Regierung jetzt zu konkreten Maßnahmen entschlossen hat, um die Finanzsituation verschuldeter Kassen in den neuen Bundesländern substantiell zu verbessern. Die vorgesehene Kombination von Soforthilfen für
eine weitgehende Entschuldung mit einem stufenweisen
Übergang zum gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich bietet eine tragfähige Lösung. Allerdings hätte
die erforderliche Hilfe für unverschuldet in Not geratene
ostdeutsche Krankenkassen schon früher eine eigene gesetzliche Regelung gerechtfertigt.
({11})
- Ja, Herr Professor Pfaff, keine Frage: schon bei der
vorigen Regierung. Die entsprechenden Herrschaften
müssen sich das an den eigenen Hut stecken. Der größte
Fehler war, daß man diese Kreditaufnahme überhaupt
garantiert hat.
Ich sage trotzdem: besser später als gar nicht. Ich
vermute und befürchte, daß Sie durch die Verknüpfung
dieses Problems mit der Gesundheitsstrukturreform versuchen - in Ihren Reden tun Sie es laufend -, die CDUregierten Länder ins Boot zu bekommen. Ich sage Ihnen
im Interesse des eigentlich parteiübergreifend zu klärenden Problems ganz ehrlich und offen: Ich befürchte, daß
das der Sache leider nicht dienen wird und daß es weitaus später zu einer Lösung kommen wird.
({12})
- Das ist nicht zum Klatschen, lieber Herr Kollege Zöller. Das ist traurig!
Dieses Problem muß unbedingt gelöst werden. Ich
glaube zwar nicht an Wunder, aber wir wollen einmal
sehen, Frau Ministerin, was Ihr Treffen bringen wird
und was es bringen wird, wenn Sie versuchen, Ihren
Charme auszuspielen und die Herrschaften noch umzustimmen.
Abschließend möchte ich aus unserer Sicht sagen:
Die gegenwärtige Gesundheitsreform unterscheidet sich
im Hinblick auf den Erhalt des Solidarsystems durchaus
positiv von den Reformansätzen der Vorgängerregierung, aber insgesamt stellt auch sie keine adäquate Antwort auf die entscheidenden gesundheitspolitischen Herausforderungen dar.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich Ihnen mitteilen, daß die Fraktion der PDS um eine Sitzungsunterbrechung von 30 Minuten nach der Aussprache und vor
der Abstimmung gebeten hat.
Nun erteile ich der Kollegin Gudrun Schaich-Walch,
SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben von Herrn Thomae erfahren, welche Freiheiten er sich für die Versicherten vorstellt,
({0})
nämlich daß sie die Zeche zu bezahlen haben, weil Sie
nicht den Willen und die Kraft haben, im System das zu
verändern, was notwendig ist.
({1})
Sie wollen die Beitragssätze der Arbeitgeber festschreiben, obwohl Sie die Kosten explodieren lassen
wollen. Zu zahlen hat der Versicherte, indem er zum
einen die Beitragssätze bezahlen muß. Zum anderen
rufen Sie ihn mit Ihrer sogenannten Selbstbeteiligung
oder unter dem Stichwort Eigenverantwortung dazu auf,
den Rest über den Bereich zu tragen, den man Zuzahlung nennt. Das heißt, Sie greifen den Leuten letztendlich zweimal in die Tasche.
({2})
Sie, Herr Thomae, haben allerdings - das muß man
sagen - einen Sachverhalt ordentlich beschrieben, nämlich die Tatsache, daß unser System in den letzten 20
Jahren von Debatten über Kostenexplosion, Kostendämpfung und Kostensenkung geprägt war und daß wir
einen Verteilungskampf unter den Leistungserbringern
in diesem Gesundheitssystem haben, der letztendlich
immer auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten
ausgetragen wird. Das erleben wir in der Praxis derzeit
wiederum.
({3})
Insoweit haben Sie die Situation trefflich beschrieben.
Aber was passiert jedesmal, wenn die Politik sagt:
Wir wollen Hand an die finanziellen Besitzstände der
Leistungserbringer legen, wir wollen sehen, daß die
Mittel ordentlich eingesetzt werden? - Dann werden die
Patientinnen und Patienten gegen die Politik in Stellung
gebracht. Das ist zwar in bezug auf die Besitzstände derer, die dort arbeiten, verständlich, aber meiner Meinung
nach absolut schädlich für das Allgemeinwohl.
({4})
Bei all diesen Auseinandersetzungen, die wir in den
letzten Jahren und auch in diesem Jahr erlebt haben,
bleibt meiner Meinung nach eine ganz zentrale Frage
des Gesundheitswesens auf der Strecke, nämlich die
nach seiner Wirksamkeit, seiner Qualität und nach der
Notwendigkeit der erbrachten Leistungen. Wir wissen
zwar, was unser Gesundheitssystem kostet, wir wissen
aber letztendlich nicht, was es leistet.
({5})
Es wird allerhöchste Zeit, daß wir diese Frage stellen,
und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit, sondern insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der Qualität.
Wir wissen inzwischen von unserem Gesundheitssystem, daß das Problem massiver Über-, Unter- und
Fehlversorgung besteht. Das wollen Sie unter dem
Oberbegriff der Therapiefreiheit festschreiben. Ich
möchte Ihnen an einigen Beispielen deutlich machen,
um welche Brisanz es sich dabei handelt.
Untersuchungen im Bereich der Fehlversorgung haben ergeben, daß jede fünfte Behandlung, die im Krankenhaus durchgeführt wird, ebensogut - bei gleicher
Qualität - auch ambulant durchzuführen wäre. Ich frage
Sie: Wer geht schon gerne ins Krankenhaus?
Dies ist allerdings noch die harmlose Form. Katastrophal wird es, wenn in einem noch von Minister Seehofer
in Auftrag gegebenen Bericht festgestellt werden muß,
daß 25 Prozent aller Eileiterentfernungen und 50 Prozent
aller Gebärmutteroperationen unnötig waren. Damit
müssen wir uns auseinandersetzen. Angesichts dieser
Zahlen müssen doch auch Sie zu der Erkenntnis gelangen: Den Schaden hat der Patient; den Nutzen hatte allein derjenige, der die Leistung erbracht hat. Dies müssen wir beenden.
({6})
Auch die Überversorgung ist ein Problem. In der
Bundesrepublik werden jährlich 5,5 Milliarden DM für
Ultraschalluntersuchungen ausgegeben. Aber in Gesamteuropa werden lediglich 4,5 Milliarden ausgegeben!
({7})
Man könnte sagen: Vielleicht ist unsere Bevölkerung
deshalb total gesund. Aber das Gegenteil ist der Fall:
Wir geben in Europa das meiste Geld für die medizinische Versorgung aus. Trotzdem sind wir hinsichtlich der
Qualität der Versorgung nicht die Nummer eins.
({8})
Ich möchte Ihnen auch Stück für Stück die Bereiche
auflisten, in denen Unterversorgung herrscht. Es gibt
im Bereich der chronischen Erkrankungen Unterversorgungen. Diese führen oftmals nicht nur zu einer Verlängerung des Leidens, sondern auch zu gravierenden gesundheitlichen Schäden, wie zum Beispiel zu Amputationen, die bei schlecht versorgten Diabetikern durch geführt werden müssen, die aber letztlich durch eine qualitativ gute Versorgung hätten vermieden werden können.
Wir müssen uns noch mit einem weiteren Bereich des
Gesundheitswesens beschäftigen; denn wir müssen auch
zur Kenntnis nehmen, daß schlecht versorgte Kranke
weitere Kosten produzieren und daß schlecht versorgte
Patienten vermeidbare Einbußen ihrer Lebensqualität in
unserem Land hinnehmen müssen. Sie persönlich müssen den Preis dafür bezahlen, daß sie nicht so wirksam
behandelt werden, wie es möglich wäre. Diesem wollen
wir endlich und endgültig mit dem Gesetz einen Riegel
vorschieben.
Wir werden Maßnahmen ergreifen, auf deren Grundlage die Akteure des Gesundheitswesens gemeinsam
vereinbaren können, nach welchen Qualitätskriterien
und nach welchen Standards in der Bundesrepublik behandelt werden soll. Es ist selbstverständlich, daß dazu
eine gewisse Bandbreite notwendig ist. Aber es kann
nicht sein, daß das, was qualitativ gut gemacht werden
könnte, den Menschen letztendlich vorenthalten wird.
Auf diese Weise kann auch nicht das geleistet werden,
was notwendigerweise in unserem Gesundheitssystem
geleistet werden muß. Wir müssen endlich dafür sorgen,
daß das Geld dorthin gelangt, wo es gebraucht wird, daß
der Patient dann behandelt wird, wenn es notwendig ist,
und daß der Patient dort behandelt wird, wo es sinnvoll
ist.
({9})
Das alles beklagen Sie, Herr Thomae, unter dem Gesichtspunkt „Einbuße an Therapiefreiheit“. Ich sage Ihnen: Auch die Freiheit der Therapie muß dort Grenzen
haben, wo sie sich auf Patientinnen und Patienten negativ auswirkt und etwas nicht so positiv durchgeführt
wird, wie es möglich wäre.
({10})
Wir haben die anstehenden Aufgaben einem Koordinierungsausschuß übertragen,
({11})
an dem Ärzte und Patienten im Rahmen des Bundesausschusses beteiligt sind.
({12})
Sie sollen zusammen mit den Fachleuten der einzelnen
Arztgruppen und mit den anderen am Gesundheitswesen
Beteiligten Leitlinien entwickeln und Standards festlegen. Wir haben uns auch deshalb für diesen Weg entschieden, weil wir glauben, daß es in diesem Ausschuß
ganz persönliche wirtschaftliche Interessenskonflikte
nicht geben wird und deshalb sachgerechtere Entscheidungen über die Qualitätssicherung getroffen werden.
Vor dem von mir beschriebenen Hintergrund der
Zielsetzung des Gesetzes, mehr Qualität zu vernünftigen
Bedingungen durchzusetzen, muß ich ehrlich zugeben,
daß ich die Opposition nicht verstehen kann. Ich kann
nicht nachvollziehen, wo Sie Probleme sehen.
Die Regelungen für den Qualitätsstandard zielen
vor allen Dingen darauf ab, daß jeder weiterhin das bekommt, was er braucht, um seine Krankheit zu heilen,
oder daß dem Patienten, wenn seine Krankheit nicht
mehr heilbar ist, das zur Verfügung gestellt wird, was
notwendig ist, um die Auswirkungen dieser Krankheit
möglichst gering zu halten.
({13})
Ich bin der festen Überzeugung, das ist zu erreichen nicht, indem man mehr Geld durch Zuzahlungen in das
System pumpt. Das ist nicht eine Frage des Geldes, die
wir hiermit zu entscheiden haben. Geld ist meiner Meinung nach genügend im System. Es muß an der richtigen Stelle eingesetzt werden. Solange in unserem Gesundheitswesen zu viel und unnötig geröntgt, operiert
wird und solange immer noch Medikamente verschrieben werden, deren Wirkung nicht nachgewiesen ist, die
aber ihrerseits durchaus Gesundheitsschäden verursachen können, solange in unseren Krankenhäusern aus
Gründen der Kapazitätsauslastung Patienten untergebracht werden, obwohl sie ebensogut ambulant operiert
und behandelt werden können, so lange ist in unserem
Gesundheitssystem etwas nicht in Ordnung und so lange
müssen wir unser Hauptaugenmerk darauf richten, die
Mittel, die wir haben, vernünftig einzusetzen
({14})
und das durch vernünftige Verwendung eingesparte
Geld dorthin zu lenken, wo es gebraucht wird und zur
Verbesserung der Versorgung beitragen kann.
({15})
Diesen Weg sollten wir gehen, nicht den Weg: Einfrierung der Arbeitgeberbeiträge, Erhöhung für die Arbeitnehmer. Bei guter Qualität auf die Kosten zu achten
sind wir meiner Überzeugung nach denjenigen schuldig,
die jeden Monat mit vielen hundert Mark ihren Beitrag
für das Gesundheitssystem leisten.
({16})
Diese Menschen sorgen auch dafür, daß im nächsten
Jahr 5 Milliarden DM mehr für die Versorgung der
kranken Menschen in diesem Lande zur Verfügung stehen. Sie aber stellen sich regelmäßig hier hin und tun so,
als gäbe es immer weniger.
({17})
Es gibt aber beständig immer mehr Geld: 5 Milliarden DM
mehr aus den Beiträgen, und wir werden zirka 1 Milliarde DM mehr allein aus den 630-DM-Arbeitsverhältnissen zur Verfügung haben, die endlich sozialversicherungspflichtig geworden sind.
({18})
Ich frage Sie auch noch einmal: Wie sieht es denn mit
Ihren Alternativen aus? Sie sagen uns, wir sollten zu den
Regelungen der Vorgängerregierung zurückkehren, die
die Patientinnen und Patienten in Milliardenhöhe belastet haben,
({19})
die im Bereich Kuren und Rehabilitation eine Tabularasa-Politik betrieben haben, an der alle Bundesländer,
auch Bayern, immer noch leiden.
({20})
Frau Fuchs, es wäre schön gewesen, wir hätten mehr
Zuzahlungen zurücknehmen können. Aber auch für uns
gilt in diesem Bereich: Wir können nicht mehr ausgeben, als wir in der gesetzlichen Krankenversicherung
einnehmen.
({21})
- Wir haben vor den Wahlen Beitragssatzstabilität versprochen
({22})
und in diesem Rahmen Rücknahme von Zuzahlungen.
Das haben wir auch durchgeführt, Herr Thomae.
({23})
Das, was Sie uns hier im Augenblick vorschlagen, ist
nichts anderes als eine zusätzliche Belastung von Patientinnen und Patienten in Milliardenhöhe.
({24})
Das führt zur Zweiklassenmedizin. Sie wollen damit
das erreichen, was Sie beim Zahnersatz schon vor einem
Jahr erreicht haben: daß die Menschen es sich nicht
mehr leisten können, die ärztliche Versorgung in Anspruch zu nehmen. Das werden Sie mit uns nicht
hinkriegen.
Wir sind an einem Kompromiß mit Ihnen im Bundesrat interessiert.
({25})
Aber wenn Sie bei der Haltung bleiben, die Sie seit Monaten haben, nämlich sich zu verweigern und keinen
einzigen inhaltlichen Vorschlag auf den Tisch zu legen,
dann werden wir prüfen, was alles zustimmungsfrei
möglich ist.
({26})
Nun erteile ich dem
Kollegen Wolfgang Schäuble, Vorsitzender der CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen
Gesundheitspolitiker, die Fachleute in diesem Haus,
mögen mir verzeihen, wenn ich als Nichtexperte die
Empfindung äußere, daß in dieser Debatte, in der es um
sehr viele komplizierte technische Fragen geht, ein bißchen zu viel von Leistungserbringern und Kosten und all
diesen Dingen die Rede ist. Deswegen lautet mein erster
Satz: Aus der Sicht der Patienten haben wir in erster Linie immer wieder daran zu erinnern, daß wir in
Deutschland ein gutes System und ein hohes Niveau gesundheitlicher Versorgung haben.
({0})
Ich glaube, gerade wenn man über so schwierige Fragen redet und sie regeln muß, ist es richtig, in der Debatte ein Wort des Dankes an die sogenannten Leistungserbringer, also an die Ärzte, an die Krankenschwestern und Krankenpfleger, an die Physiotherapeuten, an die Krankengymnasten und an alle medizinischen Hilfsberufe zu richten.
({1})
Wir sollten darauf achten, daß die Debatte nicht so
verstanden wird, als würden wir eine Art Kriminalitätsbekämpfungsgesetz beraten. Nein, es geht darum, das
hohe Niveau gesundheitlicher Versorgung in Deutschland zu erhalten und für die Zukunft zu sichern,
({2})
und das unter sich verändernden Rahmenbedingungen.
Es gibt Veränderungen im Altersaufbau und beim medizinischen Fortschritt, der ungeheuerlich ist - ein Segen
für die Menschen -, ein stärker werdendes Bewußtsein
der Menschen für die Notwendigkeit der Gesundheit und
dergleichen mehr. Deswegen ist es überhaupt keine Frage, daß unser System der gesetzlichen Krankenversicherung reformbedürftig ist. Das ist völlig außer Streit,
deswegen sage ich das als zweiten Satz.
({3})
Als dritten Satz will ich ausführen, Frau Minister Fischer, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen: Das Gesetz, das Sie heute verabschieden
wollen, ist keine Grundlage für eine verantwortbare Reform unserer gesetzlichen Krankenversicherung.
({4})
Der Kollege Lohmann hat das Verfahren ganz ruhig
und nüchtern, wie er ist, geschildert. Es hat doch wirklich keinen Sinn, das Verfahren zu behindern. Das haben
wir auch nicht getan, sondern zugestimmt, daß heute die
zweite und dritte Lesung stattfinden kann, obwohl es
von den Fristen her nicht möglich wäre. Wir hatten dabei aber nicht im Traum die Vorstellung, daß Sie in den
letzten Tagen der Ausschußberatungen 345 Seiten ÄnGudrun Schaich-Walch
derungsanträge einbringen würden, davon gestern, wie
ich gehört habe, noch einmal an die 50 Seiten.
({5})
- Ich will Ihnen sagen: Ich höre im Moment von den
Kollegen, daß in der Beschlußempfehlung des Ausschusses ein Punkt zur Beschlußfassung vorgeschlagen
ist - ich kann das gar nicht prüfen, kein Mensch kann
das im einzelnen übersehen ({6})
den Sie gestern als Antrag eingebracht und dann wieder
zurückgezogen haben, weil Sie ein neues Anhörungsverfahren ausgelöst hätten.
({7})
Jetzt liegt er wieder der Beschlußempfehlung zugrunde.
Nun mag es sein, daß das ein Versehen ist.
({8})
Man muß aber ein wenig darauf achten, denn der Verdacht liegt nahe, daß Sie sagen: Probieren wir es so,
wenn es anders nicht geht. Ich will das aber nicht unterstellen.
({9})
Die Rückfrage, die ein Fraktionsvorsitzender an seine
Kollegen im Ausschuß stellen muß, lautet: Könnt Ihr
denn garantieren, daß ansonsten alles dem entspricht,
was der Ausschuß beschlossen hat? Die Antwort ist:
Kein Mensch kann das garantieren. Wie wollen wir als
Gesetzgeber verantworten, daß wir etwas beschließen,
Frau Minister, obwohl im Zweifel nicht einmal Sie wissen, was in der Beschlußempfehlung genau steht?
({10})
Ich mache eine weitere Bemerkung. Der Bundesrat
muß diesem Gesetz zustimmen, sonst kommt es nicht
zustande. Gibt es nicht von vornherein eine Übereinstimmung, kann es zu einem Vermittlungsverfahren
kommen. Das ist alles geregelt. Es ist unvorstellbar, daß
man ein solches Gesetz, das im Bundestag mit so wenig
Sorgfalt beraten worden ist, nun im Vermittlungsausschuß in irgendwelchen Arbeitsgruppen - die Vermittlungsausschußmitglieder sind an keine Weisung gebunden - quasi vollständig neu beraten muß, wobei die
Rolle der Regierung nur eine beratende ist. Der Vermittlungsausschuß ist ein Organ, mit Hilfe dessen am
Schluß eines Gesetzgebungsverfahrens bestehende Differenzen zwischen Bundestag und Bundesrat aus der
Welt geschaffen und vielleicht eine Einigung gefunden
werden soll. Aber es soll nicht dazu dienen, ein Gesetz
von Anfang an neu zu beraten. Das wäre eine Perversion
des Vermittlungsverfahrens.
({11})
Frau Minister Fischer, es war für Menschen, die nicht
jeden Tag mit den Auseinandersetzungen zu tun haben,
schon ein bißchen bezeichnend, daß Sie anläßlich der
zweiten und dritten Lesung des Gesetzes, also anläßlich
der Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag, die
Fraktionen des Bundestages zu einem Gespräch in der
nächsten Woche einladen, bei dem darüber diskutiert
werden soll, wie man das Gesetz gemeinsam verabschieden kann. Das ist schon ein bißchen absurd.
({12})
Es ist auch ziemlich peinlich, wenn Sie die Lösung
der Probleme der ostdeutschen Krankenkassen - ohne
jede Not und ohne jede sachliche Begründung - in diesem Gesetz regeln wollen, nach dem Motto: Wollen wir
einmal schauen, ob sich nicht der eine oder andere auf
diesem Wege für die Zustimmung zu diesem Gesetz, das
er eigentlich ablehnen möchte, gewinnen oder - wie ich
salopp sagen möchte - kaufen läßt. Sie lassen sich nicht
kaufen.
({13})
Wenn schon der brandenburgische Ministerpräsident
Stolpe, der nicht der CDU/CSU angehört,
({14})
gestern nach einer Konferenz der ostdeutschen Ministerpräsidenten gesagt hat, dieses Junktim werde von
den ostdeutschen Ländern nicht unterstützt, sollten Sie
doch merken: Solche Versuche sollten Sie bleiben lassen, wenn es Ihnen darum geht, eine verantwortungsvolle Reform zu machen.
({15})
Wenn das Gesundheitswesen, etwa das Krankenhauswesen und die gesetzliche Krankenversicherung,
gesetzlich reformiert werden muß, dann muß man sich
klarmachen: Die veränderten Rahmenbedingungen, die
ich angedeutet habe - ich will keine lange Rede zur Sache halten -, sprechen wohl dafür, daß wir einen wachsenden Bedarf an Leistungen unseres Gesundheitssystems haben. Ich glaube nicht, Herr Dreßler - darüber
werden wir beide uns wahrscheinlich nie verständigen -,
daß man einen dynamisch wachsenden Bedarf - Bedarf
heißt auch wachsende Nachfrage der Menschen - mit
bürokratischen Systemen regeln kann. Das ist ein grundsätzlich falscher Ansatz.
({16})
Deswegen wird der Ansatz der Budgetierung nicht tragen.
Im übrigen, Herr Dreßler, sollten Sie uns nicht vorwerfen, wir würden mehr Geld ausgeben. Sie haben beschlossene und in Kraft gesetzte Maßnahmen, die Sie im
Wahlkampf bekämpft haben - das ist ja in Ordnung; wir
haben das Wahlergebnis akzeptiert -, in diesem Jahr zurückgenommen, damit der gesetzlichen Krankenversicherung Einnahmen entzogen und zugleich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeweitet.
({17})
Die Methode „Haltet den Dieb“ funktioniert also nicht.
({18})
Sie können jetzt ganz spitzfindig sagen, Zuzahlungen
seien keine Einnahmen für die Krankenkassen. Aber angesichts des wachsenden Bedarfs an gesundheitlichen
Leistungen haben Sie die Einnahmen verringert.
Deswegen will ich Ihnen sagen: Wenn Sie diesen dynamisch wachsenden Bedarf - die Bevölkerung will ja
mehr an Gesundheitsleistungen haben; sie will die Segnungen behalten - deckeln wollen, wird es besser sein,
daß wir uns darüber verständigen, was solidarisch und
sozial an Grundsicherung gewährleistet werden muß,
inwieweit die Eigenbeteiligung von Versicherten und
Patienten möglich sind und welche Steuerungselemente
sich daraus ergeben.
Bei der Debatte um die Budgetierung hat man das
Gefühl, daß Sie ein furchtbares Mißtrauen gegen Ärzte
und Patienten haben, Frau Ministerin. Ich finde, Sie
sollten das nicht haben, sondern den Menschen mehr
zutrauen.
({19})
Nützen Sie die Elemente der Wahlfreiheit bei Leistungserbringern - so lautet ja der technische Begriff und Versicherten sowie die eines verstärkten Wettbewerbs und einer größeren Transparenz. Mit diesen vier
Elementen werden wir - wenn Sie wollen, gemeinsam eine verantwortliche und dem Interesse der Menschen
dienende Reform unserer gesetzlichen Krankenversicherung zustande bringen. Dies kann aber nicht auf der Basis des vorliegenden Gesetzentwurfes erfolgen. Wenn
Sie ihn zurücknehmen und nächste Woche mit Gesprächen beginnen wollen, sind wir dazu bereit.
({20})
Ich gebe das Wort
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollegin
Katrin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle diejenigen, mit denen wir im vergangenen Jahr über
das Gesundheitssystem gesprochen haben, sind sich darüber einig - auch Herr Schäuble hat das soeben betont -:
Wir haben zum einen trotz Unterversorgung in einigen
Bereichen eines der besten Gesundheitssysteme der
Welt. Dieses Gesundheitssystem - auch das haben Sie
soeben zugestanden - ist zum anderen dringend reformbedürftig, damit es überhaupt erhalten werden und
überleben kann.
Herr Kollege Schäuble, jetzt zu sagen, dieses System
sei zwar reformbedürftig, aber da, wo Sie die Verantwortung für die Patientinnen und Patienten mittragen,
nämlich in den Ländern, sei man nicht zu Gesprächen
bereit, das halte ich für eine Form der Auseinandersetzung, für die wir nicht zur Verfügung stehen. Das verunsichert die Menschen draußen nach all den Kampagnen
der letzten Wochen und Monate noch mehr. Ich glaube,
Sie nehmen hier Ihre Verantwortung nicht wahr, sondern betreiben weiterhin Verunsicherung auf eine Weise, die zu Lasten gerade der Schwachen in unserer Gesellschaft geht. Dafür stehen wir nicht zur Verfügung.
({0})
Natürlich wissen wir, daß jede Reform im Gesundheitsbereich von großer Aufregung begleitet wird. Herr
Seehofer weiß das. Manche im Haus erinnern sich noch
daran, daß Herr Blüm - Spaßvogel, der er nun einmal ist
- irgendwann einmal Sozialhilfeanträge an demonstrierende Ärzte verteilt hat. Ich sage das ohne Häme, aber
auch ohne Leichtfertigkeit nach dem Motto: „Kritik interessiert uns nicht“. Im Gegenteil: Sie interessiert uns.
Ein derart offener Umgang mit Kritik, aber auch mit Bestärkung, wie er dieses Gesetzesvorhaben begleitet hat,
hat es noch in keiner Regierung bei keiner Gesundheitsreform gegeben. Deswegen kann man hier nach einem
derartig offenen Prozeß die über Monate hinweg gemachten Vorwürfe, was das Verfahren im Parlament angeht, mit aller Deutlichkeit zurückweisen. Das tue ich
hier für meine Fraktion.
({1})
Warum ist dieses Thema so sensibel? Auf der einen
Seite geht es um Besitzstände, die sicherlich keiner gerne aufgibt. Auf der anderen Seite geht es um das Intimste, was man sich vorstellen kann, nämlich um die eigene Gesundheit, um den eigenen Körper, im Zweifel um
Leben und Tod. Deswegen ist es unzulässig, die Ängste
der Menschen zu instrumentalisieren, wie das in den
letzten Wochen geschehen ist und wie Sie es heute auf
die Spitze getrieben haben. Ich habe keine Lust darauf,
daß, wenn wir im Bundesrat über die Umsetzung des
vorliegenden Gesetzentwurfes sprechen und darüber
diskutieren, welche Möglichkeiten am besten zu dem
Ziel führen, das bestehende System zu erhalten, dies auf
Kosten derjenigen ausgetragen wird, die sowieso schon
verängstigt sind.
Wenn Sie unsere Vorschläge rundweg ablehnen, dann
gibt es einige Fragen, die Sie den Patientinnen und Patienten sowie den Versicherten zu beantworten haben.
Alle Welt beklagt sich über die Sektorierung im Gesundheitswesen: hier die niedergelassenen Ärzte, dort
die Krankenhäuser, die Reha-Einrichtungen und die
physiotherapeutische Praxis.
({2})
Wenn ein Mensch all diese Sektoren durchläuft, ist nicht
sichergestellt, daß irgendeiner derjenigen, der an der
einen Stelle behandelt, etwas von dem anderen weiß, der
auch schon behandelt hat.
Wenn Sie meinen, daß es weiter verantwortbar ist,
innovative Elemente wie Modernität und Teamarbeit im
Gesundheitswesen außen vor zu lassen und den Patienten nicht zu gewähren, statt dessen aber ein System, bei
dem die eine Abteilung dieses und die andere jenes
macht, ohne daß je darüber geredet würde, und das in
jedem Wirtschaftsunternehmen nicht mehr tragbar wäre,
zu befürworten, dann lehnen Sie diesen Gesetzentwurf
ab. Diese Haltung müssen Sie den Patientinnen und Patienten dann aber auch erklären.
Zweitens. Man könnte wahrscheinlich - wir alle haben vermutlich nicht genügend Zeit dafür - jeden Abend
auf einem anderen Sender im Fernsehen einen Film sehen, der von einem Landarzt handelt, der die Kinder und
die Eltern kennt, von den Großeltern und vom Liebeskummer weiß und im Zweifelsfall auch eine warme
Suppe bereithält. Natürlich geht es bei der Stärkung des
Hausarztsystems nicht um diese Umsetzung eines solchen Klischees von einer heilen Welt. Es geht aber
schon um das Gute daran: Es soll nämlich derjenige gestärkt werden, der im Sinne der Patientinnen und Patienten den ganzen Menschen in seinem Umfeld, in seiner
Geschichte und im konkreten Leben im Auge hat. Es
sollen Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden,
damit er diese Arbeit gut leisten kann.
({3})
Wir haben dazu ganz konkrete Vorschläge gemacht;
über die wurde ja heute auch geredet. Durch dieses Gesetz soll die Rolle der Hausärzte in der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung gestärkt und die sprechende Medizin
aufgewertet werden. All das wird dazu führen, daß
Hausärztinnen und Hausärzte ihre eigentliche Aufgabe
wahrnehmen und kompetente Partnerinnen und Partner
für die Patientinnen und Patienten werden können.
Wenn Sie verhindern wollen, daß Patientinnen und Patienten solche Partner zur Verfügung stehen, dann müssen
Sie gegen dieses Gesetz stimmen.
Drittens. Alle hier wissen, daß Vorbeugung immer
die beste Medizin ist. Das Gesetz sieht vor, daß an Hand
von klaren Kriterien und mit einem sich jährlich dynamisierenden Betrag Prävention und qualitativ hochwertige Vorsorgemaßnahmen zum Standardprogramm
werden.
({4})
Vorsorgemaßnahmen setzen beispielsweise im zahnärztlichen Bereich bei denen an, die sie tatsächlich brauchen, nämlich bei besonders gefährdeten Kindern und
Jugendlichen. Das ist eine ganz konkrete Antwort auf
die von Ihnen eingeführte Streichung von Zahnersatzleistungen für nach 1978 Geborene, die wir bereits zurückgenommen haben.
({5})
Wenn Sie dahin zurückwollen, müssen Sie es sagen und
gegen das Gesetz stimmen.
Viertens. Sie wissen, daß es die beste Möglichkeit für
den Umgang mit einer Krankheit ist und auch der Gesundungsprozeß am besten dadurch unterstützt wird,
wenn Patientinnen und Patienten selbst einbezogen werden und ihre Kompetenz einbringen können. Die Selbsthilfebewegung in Deutschland leistet in Verbänden, in
kleinen und großen Gruppen hier richtige, gute und unverzichtbare Arbeit. Selbsthilfe braucht aber auch Unterstützung. Deswegen geben wir das klare Signal, daß
Selbsthilfeeinrichtungen künftig auch finanziell von den
Krankenkassen unterstützt werden.
({6})
Das wird natürlich auch Rückwirkungen auf das Gesundheitssystem haben. Wenn nämlich solche Kompetenz klarer organisiert ist, kann sie auch in die weitere
Entwicklung des Systems zurückfließen. Wenn Sie dagegen sind, müssen Sie eben gegen dieses Gesetz stimmen.
Fünftens. Jede Illustrierte macht heute Patientenberatung. Ärztinnen und Ärzte beklagen zu Recht, daß
derart „aufgeklärte“ Patienten mit teilweise schwierigen
eigenen Vorstellungen zu ihnen kommen. Weil wir das
Vertrauensverhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten auf
der einen und Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite stärken wollen, sehen wir in Form von Modellversuchen unabhängige Patientenberatung, die
kompetent beraten kann, in unserem Gesetz vor. Auch
davon erwarten wir uns natürlich Rückwirkungen auf
die weitere Entwicklung des Systems. Patientenberatung
dient zur Stärkung von Eigenverantwortung und von
Selbstbestimmung.
Sechstens. Es bestreitet niemand, daß angesichts von
mehr als 40 000 Arzneimitteln eine große Unübersichtlichkeit auf dem Markt herrscht und es notwendig ist,
neben der Zulassung auch noch für Qualitätssicherung
zu sorgen. Patientinnen und Patienten wollen genau wissen, daß ein Medikament für ihren Fall wirksam ist. Zur
Qualitätssicherung und nicht auf Grund irgendwelcher
Einsparmaßnahmen wollen wir eine Positivliste für die
Schulmedizin auf der einen und für Medikamente mit
besonderen Therapierichtungen auf der anderen Seite
einführen. Wenn Sie dieses Gesetz ablehnen, werden Sie
begründen müssen, warum Sie nicht für eine solche zusätzliche Qualitätsprüfung im Sinne der Patientinnen
und Patienten sind.
({7})
Über die Situation in Ostdeutschland ist heute schon
viel gesagt worden. Wenn Sie die Regelung bezüglich
der Krankenkassen in Ostdeutschland nur als strategisches Element hinstellen wollen, dann verkennen Sie gerade die Lage derjenigen, die in den Allgemeinen Ortskrankenkassen in Ostdeutschland versichert sind. Dazu
gehören nämlich diejenigen, die nicht zu den Gewinnerinnen und Gewinnern der deutschen Einheit gehören,
sondern diejenigen, die unsere Unterstützung und das
ganz klare Signal brauchen, daß die beiden getrennten
Rechtskreise, die wir im Gesundheitswesen in Ost und
West immer noch haben, endlich aufgehoben werden.
Diese Maßnahme ist nicht strategisch, sondern längst
überfällig. Wir packen sie mit diesem Gesetzentwurf an.
Darum werbe ich an dieser Stelle eindringlich um Ihre
Zustimmung.
({8})
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß.
Ich möchte am Ende meiner Rede auf Ihre Alternativen verweisen.
({0})
Was bei uns Prävention, Selbsthilfe, Eigenkompetenz
und Selbstbestimmung heißt, heißt bei Ihnen neue Zuzahlungen. Was bei uns Stärkung der hausärztlichen
Versorgung und integrierte Versorgung heißt, heißt bei
einem Teil von Ihnen, Eintrittsgeld beim Arzt zu bezahlen.
({1})
Man kann nur feststellen, daß Sie keine weiteren Angebote haben. Darüber haben wir heute nichts gehört.
Wir haben von Ihnen nur gehört, daß Sie nicht darüber
reden wollen, wie das Gesundheitswesen gesichert werden kann und wie wir für die Patientinnen und Patienten
mehr Vertrauen, mehr Sicherheit und mehr Selbstbestimmung schaffen können. Ich finde diese Haltung sehr
schade und fordere Sie auf, diese Haltung zu überdenken.
Vielen Dank.
({2})
Ich gebe nunmehr
der Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit des Freistaates Bayern,
Barbara Stamm, das Wort.
Barbara Stamm, Staatsministerin ({0}) ({1}): Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wenn man sich die heutige Debatte vergegenwärtigt und
wenn man Ihre Argumente, Frau Bundesgesundheitsministerin Fischer, und die der Kolleginnen und Kollegen
der Regierungsfraktionen hört, in denen immer wieder
Ihre Kritik gegenüber der Opposition in diesem Hause
und gegenüber der Union im Bundesrat - wir seien konzeptlos - zum Ausdruck kommt, dann kann ich nur feststellen: Sie waren es doch - das kann man Ihnen gar
nicht oft genug sagen -, die mit dem hohen Anspruch
die Regierungsverantwortung übernommen haben: Wir
machen nicht alles anders, aber wir machen alles besser.
({2})
Alle waren begeistert von dem, was Sie besser machen
wollten. Aber nun können Sie es nicht besser machen;
Sie bessern nur nach. Sie sind wirklich die Nachbesserungsregierung: Was heute morgen gilt, ist am Abend
schon nicht mehr gültig.
({3})
Jetzt beschweren Sie sich bei der Opposition in diesem Hohen Hause und demnächst bei den von der Union
regierten Ländern im Bundesrat, daß wir nicht bereit
sind, Konzepte zu liefern und den Dialog mit Ihnen zu
führen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich
kann Ihnen dazu schlicht und einfach sagen: Sie hätten
kein sogenanntes Solidaritätsstärkungsgesetz zum 1.
Januar 1999 in Angriff nehmen müssen. Sie hatten geordnete Verhältnisse in der gesetzlichen Krankenversicherung, Frau Bundesgesundheitsministerin.
({4})
- Natürlich hatten Sie geordnete Verhältnisse.
({5})
Es gab einen Überschuß von 1 Milliarde DM im Jahre
1998.
Was ist aber dann passiert? Mit Ihrem sogenannten
Solidaritätsstärkungsgesetz haben Sie diesen Überschuß
im Grunde genommen für die Zukunft aufgebraucht.
({6})
Wir haben mittlerweile ein Defizit von 3,3 Milliarden
DM, was Sie zu verantworten haben.
({7})
Frau Bundesgesundheitsministerin, ich habe wirklich
gedacht, mir verschlägt es den Atem, als Sie gesagt haben, Sie wollten geordnete Verhältnisse schaffen. Sie
hatten geordnete Verhältnisse in der gesetzlichen Krankenversicherung.
({8})
Ein weiterer Punkt. Frau Bundesgesundheitsministerin, es muß endlich einmal mit den Märchenstunden
Schluß sein. Sie sagen, daß wir den Dialog verweigern.
Was haben Sie denn in den zurückliegenden Monaten
mit den von der Union regierten Länder gemacht? Wie
oft haben wir - auch ich persönlich - Sie gebeten, vor
Ihrem ersten Arbeitsentwurf Gespräche nicht nur mit
den A-Ländern, sondern auch mit den B-Ländern aufzunehmen. Sie aber haben gesagt: Das nimmt nun alles
seinen Lauf, wir machen das schon. Dabei haben Sie
immer die Verhältnisse im Bundesrat im Auge gehabt.
Sie haben uns doch nicht gebraucht, Frau Bundesgesundheitsministerin.
({9})
Nun aber stehen Sie vor der Tatsache, daß es Ihnen
mißglückt ist, bestimmte Ostländer einzukaufen, und
zwar wegen der Krankenkassenhilfe Ost.
({10})
Ich muß schon sagen: Dies geschah auf unappetitliche
Art und Weise. Ihr Staatssekretär Jordan ist doch in den
vergangenen Wochen auf Reisen gegangen, um sein
Einkaufsmodell, betreffend bestimmte von der Union
regierte Länder, im Osten auf den Weg zu bringen.
({11})
Nein, so können wir nicht miteinander reden.
({12})
Frau Bundesgesundheitsministerin, es sind noch einige Wochen bis zur Bundesratssitzung. Ich kann Ihnen
heute sagen: Es wird Ihnen nicht gelingen, die Unionsseite in diesem Punkt auseinanderzubringen.
({13})
Es wird Ihnen auch nicht gelingen, im Vorfeld mit uns
Konzepte zu erarbeiten. Wir sind nur dann bereit, mit
Ihnen ein Konzept zu entwickeln, das den Namen Gesundheitsreform 2000 auch wirklich verdient,
({14})
wenn Sie Ihr Gesetz in Gänze zurücknehmen und mit
uns gemeinsam die Weichen neu stellen.
({15})
Wir haben in den Ländern noch so viel Verantwortung
und Selbstbewußtsein, daß wir die Gesundheitspolitik
auch in Zukunft mitgestalten wollen.
Herr Kollege Dreßler, nicht nur Sie erinnern sich an
Lahnstein. Es gibt noch andere Kolleginnen und Kollegen, die dort waren. Was geschah denn in Lahnstein?
Was wollten Sie damals mit dem Kompromiß erreichen,
Herr Kollege Dreßler? Sie wollten das Globalbudget;
das war im Jahre 1992.
({16})
Herr Dreßler ist stehengeblieben; er hat sich nicht weiterentwickelt. Er fordert noch immer das Globalbudget.
({17})
Dabei hatten wir mittlerweile ganz andere Herausforderungen im Gesundheitswesen zu bewältigen.
({18})
Was wollten Sie noch? Sie wollten die Monistik.
Lieber Herr Kollege Dreßler, mich wundert es schon:
Anscheinend haben bayerische Kolleginnen und Kollegen aus der SPD in diesem Hohen Haus und auch in der
Regierung überhaupt nichts mehr zu sagen. Im Bayerischen Landtag nämlich gibt es diesbezüglich einen Antrag nach dem anderen. Wo immer Kolleginnen und
Kollegen aus der SPD bei Krankenhauseinweihungen
zugegen sind, sagen sie: Wir sind gegen die Monistik.
Wir wollen die Letztverantwortung bei der Krankenhausplanung haben.
({19})
Sie sprechen hier doch nicht mit einer Stimme. Für was
sind Sie denn nun?
({20})
Wer sich an Lahnstein erinnert, der weiß: Herr Dreßler forderte das Globalbudget, die Monistik - damit kam
er aber nicht durch - und die Positivliste.
({21})
Wir alle wissen: Mitten in der Nacht und in den frühen
Morgenstunden kam es nach mehreren Auftritten - es
wurde gerufen: wir sind dagegen, wir machen nicht
mit! - zu Sitzungsunterbrechungen. Zu sehr später Stunde, fast in letzter Minute haben wir uns auf die Positivliste geeinigt, um einen Kompromiß zu erzielen.
Verehrter, lieber Herr Kollege Dreßler, ich persönlich
und die Union stehen dazu: Wir haben in Lahnstein gemeinsam - mit Seehofer - zu dem Kompromiß „Positivliste“ gefunden; das ist richtig. Es war aber nicht die
Idee der Union, auch nicht die der F.D.P. Sie wollten die
Positivliste, und im Kompromiß haben Sie sich durchgesetzt.
Wir haben aus guten, vertretbaren Gründen von dieser Positivliste Abschied genommen,
({22})
und zwar deshalb, weil wir uns weiterentwickelt haben.
Wir haben gesehen, daß die Therapiefreiheit des Arztes
mit einer Positivliste nicht mehr gegeben ist. Verehrter
Herr Kollege Dreßler, wenn Sie sich mit SPDMinisterpräsidenten unterhalten, werden Sie sehr schnell
feststellen, daß auch einige von denen
({23})
die Positivliste, was den Pharmastandort Bundesrepublik
Deutschland anbelangt, als sehr negativ ansehen.
({24})
Das war letztlich der Grund, warum wir davon Abschied
genommen haben.
Frau Staatsministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Irber?
Barbara Stamm, Staatsministerin ({0}): Nein,
ich muß mich leider an die Zeit halten. Ich habe ein sehr
strenges Zeitbudget.
({1})
Herr Kollege Dreßler, eines hat mich heute sehr erschüttert,
({2})
aber das wird wohl Ihre Botschaft an viele alte, chronisch kranke Menschen sein. Sie haben gesagt, Sie seien
Staatsministerin Barbara Stamm ({3})
deshalb für die Positivliste, weil sie von therapeutischem Schrott bereinigt werden müsse.
({4})
Das ist Ihre Botschaft an viele Kranke und Ältere, vor
allen Dingen an chronisch Kranke, die in Zukunft Arzneimittel nicht mehr durch die gesetzliche Krankenversicherung finanziert bekommen, weil die von der Liste
gestrichen worden sind.
({5})
Angesichts dessen werfen wir Ihnen die soziale Kälte
und die soziale Ungerechtigkeit vor, die Sie uns bei der
Zuzahlung unterstellt haben.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, daß man
sich mit einer so angelegten, in Bürokratismus verstrickten Reform ins Jahr 2000 aufmacht, ist völlig unverständlich.
({7})
Man muß sich nur einmal vorstellen, was allein der Medizinische Dienst regeln soll,
({8})
was nicht mehr in die Verantwortung des einzelnen
Arztes und der einzelnen Krankenhäuser gehören soll!
Lassen Sie mich noch einmal kurz auf die Krankenhäuser zu sprechen kommen. Herr Kollege Dreßler, wir
nehmen für uns als Länder und vor allen Dingen für uns
in Bayern in Anspruch, daß wir unsere Hausaufgaben in
der Krankenhauspolitik immer gemacht haben. 1,2 Milliarden DM gibt der Freistaat Bayern jährlich für die
Förderung seiner Kliniken aus. Sie führen eine Monistik
ein, sind aber nicht bereit, die Gegenfinanzierung zu liefern, Frau Kollegin Fischer.
({9})
Im Jahre 2008 wird es 4 Milliarden DM weniger an Investitionsmitteln für unsere Krankenhäuser in Deutschland geben. Das ist Ihre Antwort.
({10})
Wie wollen Sie denn den kranken Menschen gerecht
werden? Wenn in der heutigen Debatte gesagt wird, Sie
nähmen den Menschen nichts weg, dann frage ich Sie,
wo Sie leben.
({11})
Wir brauchen ja gar nicht mehr die Frage zu stellen, ob
wir schon eine Zweiklassenmedizin haben. Wir haben
sie schon, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({12})
- Ja, durch das Vorschaltgesetz und die Budgetierungen
in diesem Jahr.
Dann sagen Sie hier, es gebe keine Wartelisten in
Krankenhäusern.
({13})
Es gibt sie, und sie führen dazu, daß ältere Menschen
auf notwendige Operationen warten müssen,
({14})
obwohl es für sie medizinisch wichtig wäre, umgehend
operiert zu werden. Gehen Sie doch einmal in Sozialstationen und unterhalten sich dort mit den Menschen.
Dann werden Sie erfahren, daß heute bei schwerstpflegebedürftigen Menschen, die zu Hause leben, die Krankenversicherung nicht mehr für Leistungen eintritt, die
noch im vergangenen Jahr selbstverständlich gewesen
sind.
({15})
Schon heute werden in Arztpraxen keine neuen Patienten aufgenommen, weil das Budget ausgeschöpft ist.
({16})
Wissen Sie denn überhaupt, wohin Ihr Gesetz mit diesem Globalbudget führen wird?
({17})
Im übrigen frage ich mich, wo es in Deutschland
überhaupt noch eine Krankenkasse gibt, die mit diesem
Globalbudget zurechtkommt. Die Krankenkassen haben
Sie doch verlassen. Sie brauchen nur einmal nachzulesen, was Herr Rebscher vor einigen Tagen von sich gegeben hat, und Sie brauchen nur die Protokolle der
Sachverständigenanhörung nachzulesen. Dann werden
Sie feststellen, daß selbst der Koalition nahestehende
Wissenschaftler ganz deutlich gemacht haben, daß das
Globalbudget mit dem medizinischen Fortschritt einfach
nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, wenn Sie es so
eng an die Grundlohnsumme binden.
Nun sagen Sie, Sie hätten es gelockert, und es komme
nun ein bißchen mehr Geld in das System hinein. Dazu
verweise ich ganz schlicht und einfach darauf, daß Sie
das, was Sie an Lockerungen im Budget vorgenommen
haben, in Ihrem Gesetzentwurf zum Teil schon wieder
verfrühstückt haben.
({18})
Insofern glaube ich schon - es ist hier die Polemik
bedauert worden -, es war nicht gut, wie in den zurückliegenden Wochen und Monaten auch Ärzte in die Kritik
gekommen sind.
({19})
- Natürlich! - Ich lege Wert auf die Feststellung, daß in
einem modernen Gesundheitswesen, das vor allen Dingen auch unseren älteren Menschen gerecht werden soll,
der Leistung auch das Geld folgen muß.
({20})
Staatsministerin Barbara Stamm ({21})
Das muß auch in dieser Debatte deutlich werden. Ich
stehe auch dafür, daß in das Gesundheitswesen in
Deutschland mehr Markt hineinkommen muß,
({22})
mehr Wettbewerb hineinkommen muß. Ich will hier
aber nicht ausschließlich dem Markt das Wort reden.
({23})
Im Gegensatz zu dem von Ihnen vorgesehenen Bürokratismus mit dem Medizinischen Dienst und dem Globalbudget müssen der Markt, der Wettbewerb und die Verantwortung derjenigen, die in der Selbstverwaltung sind,
gestärkt werden.
({24})
Wir verstehen Selbstverwaltung nicht so, daß es dabei
um ein Diktat der Krankenkassen geht.
({25})
Für mich war ja interessant, daß Sie, Frau Kollegin
Schaich-Walch, gesagt haben - ich formuliere das jetzt
einmal vom Standpunkt der Länderseite -: Entweder
machen Sie jetzt mit,
({26})
oder wir werden das Gesetz sozusagen auseinandernehmen und werden das Paket trennen in das, was zustimmungspflichtig ist, und das, was zustimmungsfrei ist.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei. Machen Sie es! Frau
Kollegin Fischer, gehen Sie es an! Machen Sie das Gesetz zustimmungsfrei; Sie werden dann schon sehen,
was dabei übrigbleibt. Zu Strukturveränderungen werden Sie so nicht kommen. Aber wir haben dann keine
Verantwortung dafür.
({27})
Vielen Dank.
({28})
Für die F.D.P.Fraktion spricht der Kollege Detlef Parr.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Mit dieser Debatte sind wir am vorläufigen
Ende einer Odyssee angelangt, einer Irrfahrt, die mit der
Verweigerung eines ehrlichen Dialogs mit den Betroffenen begann - Terminanfragen, Frau Ministerin, sind offensichtlich bei Ihnen auf dem Stapel mit den Glückwünschen zum Amtsantritt gelandet -, die sich nach den Anhörungen mit der verpaßten Chance von grundlegenden
Änderungen und grundlegenden Korrekturen fortsetzte
und die im Wirrwarr der Änderungsanträge im Ausschuß
endete. Für mich ist das eine Politik nach Gutsherrenart.
({0})
Jüngstes und eklatantestes Beispiel ist die handstreichartige Einführung eines bundesweiten Risikostrukturausgleiches, gekrönt von einer kräftigen Finanzspritze für die überschuldeten Ortskrankenkassen in
den neuen Ländern. Wer die überaus komplizierten Fragen des Ausgleichs der unterschiedlichen Risikostrukturen der Kassen, die schon zahlreichen Experten seit Jahren Kopfzerbrechen bereiten, im Vorbeigehen erledigen
will, ist an Verantwortungslosigkeit nicht zu übertreffen.
({1})
Ihr Herz mag links schlagen; mit der linken Hand lösen
können Sie solche Probleme nicht.
({2})
Die alte Koalition war sich der Komplexität des Themas völlig bewußt; sie hatte ein Gutachten des Sachverständigenrates angefordert. Das würde in Kürze vorliegen,
wenn Sie, Frau Ministerin, als eine Ihrer ersten Amtshandlungen nicht diesen Auftrag storniert hätten.
({3})
In der Anhörung war das Echo der von Ihrer Entschuldungsaktion betroffenen Krankenkassen erwartungsgemäß verheerend, natürlich mit der Ausnahme der AOK,
die gegen das großzügige Geschenk der Ministerin
nichts einzuwenden hatte. Aber der Chef der Barmer Ersatzkasse, Ekkehard Fiedler, hat Ihren Raubzug bei den
gut wirtschaftenden Kassen im Westen völlig zu Recht
als - ich zitiere - schallende Ohrfeige für all jene, die
schon seit langem Solidarität üben, bezeichnet. Mit ihren
bundeseinheitlichen Beitragssätzen, mit den kasseninternen Transfers haben sich die Betriebs-, Ersatz- und
Innungskrankenkassen dem Problem längst gestellt. Sie
haben gute Ergebnisse erzielt. Sie wollen sie jetzt dafür
bestrafen.
({4})
Sicherlich ist es richtig, daß die Allgemeinen Ortskrankenkassen im Osten nach der deutschen Einheit
schlechte Ausgangsbedingungen hatten und ihre Mitgliederstruktur nach wie vor problematischer ist als die
im Westen. Aber - auch das darf nicht verschwiegen
werden - diese Faktoren wurden weitestgehend ausgeglichen bzw., wenn man den Zahlen Glauben schenken
darf, teilweise sogar überkompensiert.
Herr Kollege Parr,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Wenn Sie mich als Neuling nett
fragen, Herr Kirschner, gerne.
({0})
- Herzlichen Dank, Herr Kirschner.
Staatsministerin Barbara Stamm ({1})
Es gibt zudem hausgemachte Probleme bei den
AOKs im Osten, und es wird zum Teil ineffizient gewirtschaftet. Deshalb löst diese einseitige und willkürliche Finanzspritze das Problem nur oberflächlich und
kurzfristig. Was wir brauchen, ist eine Strukturanalyse
als Grundlage eines schlüssigen Gesamtkonzeptes für
die ostdeutsche Kassenlandschaft. Wir wollen vermeiden, daß die nächste Notlage kommt, die wieder auf Kosten der Versicherten mit Beitragssatzerhöhungen abgewendet werden muß. Die Bereitschaft, Solidarität zu
üben - das hat auch Frau Ministerin Fischer heute in ihrer Eingangsrede gesagt -, ist eben nicht unendlich und
darf nicht überstrapaziert werden.
Festzustellen bleibt: Ein gesamtdeutscher Risikostrukturausgleich ist zehn Jahre nach Öffnung der Grenzen grundsätzlich richtig. Aber solange es unterschiedliche Tarife in Ost und West gibt, kann er nicht vollständig sein. Zudem muß man die besonderen Strukturen in
Ost und West insgesamt auf den Prüfstand stellen, um
beurteilen zu können, wie schnell und umfassend die
Angleichung sein muß.
({2})
Die Verwerfungen in der bundesdeutschen Kassenlandschaft werden sich mit rein dirigistischen Eingriffen
nicht glätten lassen. Willkürliche Beschränkungen des
Wettbewerbs und der Konkurrenz unter den gesetzlichen
Krankenkassen verkleistern lediglich das Problem.
Jetzt komme ich zu dem Errichtungs- und Öffnungsverbot gegen BKK und IKK. Dieses Verbot
zeigt, wie Sie dem Wettbewerb gegenüber eingestellt
sind. Es richtet sich gegen den Wunsch der deutlichen
Mehrheit der Verbraucher, die kein Kasseneinerlei wollen, sondern die Wettbewerb und Wahlmöglichkeiten
wollen.
({3})
Es ist erfreulich, daß Sie kurz vor Toresschluß das Öffnungsmoratorium wieder zurückgenommen haben und
damit wenigstens in diesem Teilbereich unseren Forderungen nachgekommen sind. Aber heute morgen haben
Sie, Frau Ministerin, von einem „geordneten Verfahren“
gesprochen. Wir haben heute um 10 Uhr zufällig festgestellt - hier habe ich die 512 Seiten der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses zum Gesetzentwurf -, daß der § 8 der Überleitungsvorschriften im
Gesetzentwurf immer noch überschrieben ist mit: „Moratorium für die Errichtung und Öffnung von Betriebsund Innungskrankenkassen“. Gestern dagegen ist der
Antrag zum Öffnungsverbot zurückgezogen worden. Ich
stelle mir die Frage: Ist das Chaos oder eine bewußte Irreführung?
({4})
Herr Dreßler ist nicht mehr da. Ich hätte ihn jetzt gefragt, ob man mit uns Abgeordneten jemals so in diesem
Hause umgegangen ist.
Ich möchte noch ein paar Bemerkungen im Hinblick
auf den Datenschutz machen. Der vielstimmige Protest
gegen die geplante Erweiterung der Befugnisse der
Krankenkassen, persönliche Daten zu erheben und zu
sammeln, hat Sie in Teilen umgestimmt, und das ist gut
so. Was ich aber schlimm finde, ist, daß es überhaupt
der nachdrücklichen Proteste der F.D.P. und der Datenschutzbeauftragten gegen die von Ihnen geplante Überwachung und Beschnüffelung von Patienten und Ärzten
bedurfte. Diese Änderungsvorschläge hätten überhaupt
nicht Eingang in diesen Entwurf finden dürfen.
({5})
Das ist ein weiterer Beweis dafür, wie weit sich die
Grünen von ihren Prinzipien entfernt haben. Sie vertrauen eben dem Staat und den Institutionen mehr als dem
Individuum. Uns trennen hier Welten. Wir wissen jetzt:
Wir müssen gerade im Bereich des Datenschutzes weiter
unser Wächteramt erfüllen.
({6})
Auch die weitgehenden Eingriffe in die ärztliche und
zahnärztliche Selbstverwaltung und der Ausbau des
Medizinischen Dienstes zu einem gewaltigen Kontrollorgan
({7})
zeugen von Ihrem Glauben an die Allzuständigkeit des
Staates. Für uns bedeutet das Wort „Selbstverwaltung“,
daß Ärzte und Zahnärzte ihre Angelegenheiten so weit
wie möglich selbst regeln. Das hat sich in Jahrzehnten
bewährt
({8})
und viel zur Kreativität und Leistungsfähigkeit des
Gesundheitssystems beigetragen. Bei Ihnen liegt die
Betonung offenbar auf dem Wort „Verwaltung“, nämlich im Sinne von Behörde. Denn bei dem, was Sie
mit den Gremien der Ärzte und Zahnärzte vorhaben,
haben offenbar behördenähnliche Strukturen Pate gestanden.
({9})
Es ist keine Frage, daß es auch in den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen so manchen Wildwuchs gibt, der behoben werden muß, aber
wir möchten das im Konsens mit den Betroffenen tun
und nicht gegen sie. Nur so macht das Prinzip der
Freiberuflichkeit Sinn. Ansonsten könnten wir auch
gleich alle Ärzte zu Angestellten der Krankenkassen
machen.
({10})
Ich komme zum Schluß. Nach Wilhelm Röpke, einem der großen Liberalen und Väter der Sozialen
Marktwirtschaft, ruht diese auf drei Säulen: Freiheit,
Verantwortung und sozialer Ausgleich. Diese Werte
sollen nach unserer Ansicht auch für das Gesundheitswesen gelten. Daran richten sich unsere Vorstellungen
in dem Entschließungsantrag, der Ihnen heute vorliegt,
aus.
Wir brauchen Freiheit im Sinne von Wahlmöglichkeiten für die Versicherten, Sicherung der Freiberuflichkeit, freie Arztwahl, Therapiefreiheit; Verantwortung
auch als Verantwortung für die eigene Gesundheit, bei
der sich die Inanspruchnahme der Krankenkassen auf
das gesundheitlich Notwendige beschränkt; sozialer
Ausgleich, der sich unter anderem in Härtefallregelungen und Überforderungsklauseln ausdrückt. In diese
Richtung muß die Gesundheitsreform gehen.
({11})
Wir werden im Bundesrat diesem Gesetzentwurf negativ gegenüberstehen, ihn in aller Konsequenz ablehnen und hoffen auf neue Gespräche und einen neuen
Dialog, der offen und ehrlich geführt wird und ein besseres Ergebnis zeitigen muß als das, was auf diesen 512
Seiten vorliegt.
Ich danke Ihnen.
({12})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Kirschner, SPDFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Nachdem gerade Kollege
Parr und vorher Kollege Lohmann das Verfahren im
Ausschuß als einmalig oder chaotisch bezeichnet haben,
möchte ich darauf hinweisen, daß bei der Beratung des
2. GKV-Neuordnungsgesetzes, das bekanntermaßen von
der damaligen Koalition und Bundesregierung eingebracht wurde, ein Verfahren mit folgendem Zeitablauf
im Ausschuß stattgefunden hat: Am 12. März 1997 wurden Änderungsanträge eingebracht. Am 14. März 1997
wurde um 13.30 Uhr eine Anhörung zu diesen Änderungsanträgen durchgeführt. Dann fand am 17. März
1997, also drei Tage später, eine Sondersitzung statt.
Abgeschlossen wurden die Beratungen im Ausschuß am
19. März, und die zweite und dritte Lesung fand am 20.
März 1997 statt.
({0})
Ein solches Verfahren gab es also nicht zum ersten Mal
bei diesem Gesetz.
Ich will daran erinnern, daß in der letzten Ausschußsitzungswoche der 13. Legislaturperiode am 17. Juni
1998 im Ausschuß Änderungsanträge beraten wurden,
mit denen Regelungen an das Erste Medizinprodukteänderungsgesetz angehängt wurden, die völlig andere Bereiche betrafen, nämlich das Beitragsrecht des Sozialgesetzbuchs V, das Bundessozialhilfegesetz und das SGB
X. In der gleichen Sitzung wurden die Ausschußberatungen abgeschlossen. Am nächsten Tag fand die zweite
und dritte Lesung im Plenum statt.
Dies wollte ich der Korrektheit halber darstellen. Man
kann hier also nicht so tun, als ob wir im Gesundheitsausschuß zum ersten Mal unter diesem Zeitdruck gearbeitet hätten.
({1})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Martin Pfaff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele der Vorrednerinnen und
Vorredner, vor allem aber Herr Dr. Schäuble und Frau
Staatsministerin Stamm, haben hier vieles gesagt,
({0})
aber ehrlich in der Konsequenz waren sie nicht.
({1})
Denn wir wissen, daß es eigentlich nur drei Wege gibt,
steigenden Ausgaben zu begegnen. Entweder müssen
die Beiträge steigen, oder es müssen die Zuzahlungen
steigen, oder man muß rationalisieren.
({2})
Dann sagen Sie doch offen, verehrte Frau Stamm, daß
Sie die Beiträge anheben wollen,
({3})
oder sagen Sie offen, daß Sie die Zuzahlungen in noch
weitere Höhen, als es Ihnen in Ihrer Verantwortungszeit
gelungen ist, anheben wollen. Das haben Sie nicht gesagt, aber die deutschen Bürgerinnen und Bürger haben
ein Recht, dies zu erfahren.
({4})
Sie haben sich außerdem gebrüstet, Sie hätten geordnete Verhältnisse hinterlassen, weil Sie noch 1 Milliarde
DM in den Kassen - ({5})
- Ja, aber Sie haben nicht gesagt, daß die Zuzahlungen
vorher um mehrere Milliarden angehoben wurden.
({6})
Die Ausgaben über immer mehr Zuzahlungen zu
finanzieren ist die Kunst der Primitiven. Das kann jeder.
Sie haben keine Einsparungen realisiert. Wir haben es
getan.
({7})
- Budgetierung, das ist das nächste Stichwort. Es ist
eigenartig, liebe Kolleginnen und Kollegen, von wie
vielen sektoralen Budgets wir von der anderen Regierung hören mußten. Das Landeskrankenhausbudget war
Teil Ihres Konzepts. Jetzt, wo diese Regierung das
macht und es auch im Rahmen des Globalbudgets noch
flexibler macht, soll das Teufelszeug sein. Wer mit so
gespaltener Zunge spricht, kann die deutsche Öffentlichkeit sicher nicht davon überzeugen, daß er ein besseres Konzept hat als wir.
({8})
Zur Positivliste: Wollen Sie wirklich, daß die
Zwangsbeiträge der Versicherten verwendet werden, um
Arzneimittelramsch zu finanzieren? Können Sie das
wirklich sagen?
({9})
Wollen Sie wirklich, daß die Zwangsbeiträge der Versicherten oder die Zuzahlungen verwendet werden, damit
Überkapazitäten - auch im Krankenhaus - finanziert
werden? Nein, die knappen Mittel müssen für das verwendet werden, was wirklich notwendig ist. Nichts anderes will dieser Gesetzentwurf, den wir heute zu verabschieden haben.
({10})
Es geht nicht an, zu sagen, man wolle Einsparungen
auch im Krankenhausbereich, ohne zu sagen, wie das
geschehen soll. Die Monistik ist nur ein Instrument unter
vielen. Daß Investitionskosten und laufende Kosten zusammengehören, hat selbst die F.D.P. heute wieder bekräftigt.
Frau Staatsministerin Stamm, Sie haben Lahnstein
erwähnt. Ich frage mich wirklich, mit welchem Maß Sie
die jetzige Regierungskoalition messen. Wir haben uns
in Lahnstein nicht verweigert. Wir haben uns beim
GKV-Finanzstärkungsgesetz nicht verweigert. Jetzt, wo
Sie verantwortungsvolle Oppositionsarbeit machen sollen, sagt Herr Dr. Schäuble oder deutet es zumindest an,
daß selbst ein Vermittlungsausschußergebnis nicht
denkbar ist. Dann frage ich Sie: Wie können Sie dies
den deutschen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber vertreten? Wir würden uns schämen, mit solchen Positionen
vor die deutsche Öffentlichkeit zu treten.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
können Sie wirklich dagegen sein, daß die Position der
Hausärzte gestärkt wird, daß die integrierte Versorgung,
also die Kooperation, verbessert wird?
({12})
Können Sie wirklich bestreiten, daß wir die Krankenhausfinanzierung reformieren müssen, daß wir die Patientenrechte stärken müssen und vieles mehr?
({13})
- Sie sagen: Ja, das wollen wir. Aber Sie zeigen nicht
auf, wie Sie es anders oder besser als das machen könnten, was wir Ihnen vorgelegt haben. Auch das ist nicht
konsequent. Diese Art der Opposition ist billig und wird
auch nicht die Zustimmung der Deutschen finden können.
({14})
Davon sind wir fest überzeugt.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Punkt, der besonders angesprochen wird und den auch ich ansprechen
will, ist der: Es geht noch immer eine Sozialmauer im
Gesundheitswesen quer durch Deutschland. Es gibt noch
immer getrennte Rechtskreise: West und Ost.
({16})
Es sind große Breschen geschlagen worden, aber die Reste der Mauer stehen noch.
({17})
Es ist höchste Zeit, daß die Reste der Mauer auch im
Gesundheitswesen systematisch abgetragen werden. Es
ist Zeit für einen gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich, denn die Probleme der Ostkassen gehen nicht nur
die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands,
sondern uns alle an.
Es geht nicht nur um Geld, sondern es geht um viel
mehr. Wir wollen nicht irgendwann in der Zukunft ein
Volk von gleichen Brüdern und Schwestern in Ost und
West sein.
({18})
Wir müssen etwas dafür tun. Wie es in einem Land keine Regionen unterschiedlicher Freiheit ohne Schaden für
das Ganze geben kann, können wir auf Dauer keine Regionen unterschiedlicher Solidarität akzeptieren.
({19})
Wie die Freiheit ist die Solidarität in einem Gemeinwesen unteilbar. Das müßte eigentlich auch für alle hier
gelten.
({20})
Herr Kollege Pfaff,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jederzeit.
Herr Kollege Professor
Pfaff, können Sie sich daran erinnern, daß ich Anfang
Mai dieses Jahres einen Antrag zum West-OstAusgleich eingebracht habe und daß von Mai bis jetzt in
der Regierungskoalition nichts passiert ist, bis vor zwei
Tagen Ihr Konzept auf den Tisch kam?
({0})
Halten Sie das für verantwortungsvoll gegenüber den
neuen Bundesländern, die das besonders betrifft? Ich
finde das unverantwortlich.
({1})
Herr Kollege Dr. Thomae,
natürlich erinnere ich mich an Ihren Schaufenster- und
Trostpflästerchenantrag.
({0})
Er hätte die Probleme der neuen Länder in keiner Weise
geändert.
({1})
Seit Mai dieses Jahres und noch länger arbeiten wir an
Konzepten, um die strukturellen Verwerfungen, die zu
den Finanzproblemen geführt haben, zu beseitigen. Das
ist die Antwort auf Ihre Frage. Auch das, lieber geschätzter Herr Dr. Thomae, sollten Sie wissen.
Wir brauchen einen gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich. Wir brauchen aber noch viel mehr. Wir
wissen, daß wir ihn nur schrittweise einführen können.
Wir müssen auch die Altschulden beseitigen; so
schwierig dies ist. Wir wissen, daß dies Schulden sind,
die weder von den ostdeutschen Ländern selbst zu verantworten sind noch mit eigener Kraft abgebaut werden können.
({2})
Diese Schulden laufen seit 1994 an.
Frau Staatsministerin, ich muß leider sagen: Es waren
Bayern und Baden-Württemberg, die sich selbst dem
damaligen Gesundheitsminister Seehofer verweigert haben, als wir die Probleme in den neuen Bundesländern
anders angehen wollten.
({3})
- Ja, natürlich. - Es war die SPD, die sich bei der Lösung der Probleme beteiligt hat: die hohe Arbeitslosigkeit, der hohe Rentneranteil, die steigenden Kosten im
Osten - die Schere zwischen Osten und Westen geht
weiter auseinander.
Ich darf daran erinnern, daß wir in Lahnstein die
Aufhebung der Trennung der Rechtskreise gemeinsam
beschlossen haben. Nur die Bedingungen - 90 Prozent
der Lebens- und Einkommensverhältnisse - sind nicht
realisiert worden. Zwar öffnet sich die Schere weiter,
aber die politische Absicht sollten Sie eigentlich nicht in
Frage stellen.
Wir wissen, daß bestimmte Kassenarten besonders
betroffen sind. Die Beiträge im Osten sind sehr viel höher als im Westen.
({4})
Die jüngeren AKV-Versicherten gehen von diesen Kassen weg, und immer mehr Schulden werden auf immer
weniger und schwächere Schultern verlagert. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wollen
wir diese Probleme im Osten dadurch lösen, daß die
Schwachen die Schwächeren finanzieren? Oder sind die
Stärkeren in Gesamtdeutschland ebenfalls gefordert?
Wir meinen: Solidarität ist eine Veranstaltung, die nicht
nur unter den Schwachen stattfindet; Solidarität ist vielmehr eine Veranstaltung, die uns alle angeht.
({5})
Dafür haben wir in diesem Gesetzentwurf Vorkehrungen
getroffen.
({6})
Zur Entschuldung von 1,3 Milliarden DM sage ich
ganz offen: Dies ist eine sehr schwierige Frage. Wir
wissen, daß die Situation nicht voll unverschuldet ist.
Die Entschuldung erfolgt ja auch nicht vollständig; aber
sie erfolgt so, daß zum Beispiel die AOKen im Westen
an dieser Finanzierung in großem Umfang beteiligt sind,
nachdem sie 400 Millionen DM von 3 Milliarden DM in
den Osten transferiert haben.
({7})
Wir wissen, daß diese Beteiligung schwierig ist.
Wir müssen die Kriterien so legen, daß das Geld auch
wirklich dort ankommt, wo es gebraucht wird.
Polemik und Streit gehören in ein Parlament.
({8})
Die schönsten Stunden des Parlaments, die ich erleben
durfte, waren aber solche, in denen die Gemeinsamkeit
der Demokraten gefordert und auch praktiziert wurde.
Die Probleme der ostdeutschen Kassen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind keine Spielwiese für parteipolitische Auseinandersetzungen.
({9})
Die Probleme gehen uns alle an, ob wir es wollen
oder nicht. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem
Lande dürfen erwarten, daß Sie - jetzt spreche ich die
Opposition an - nicht weniger Verantwortung für das
Ganze zeigen, als wir in Lahnstein oder beim Finanzstärkungsgesetz gezeigt haben. Damals haben wir parteipolitische Bedenken zurückgestellt. Wir haben Herrn
Seehofer unterstützt, weil es der Sache und den Menschen diente. Nicht weniger, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, erwarten wir von Ihnen
am besten heute oder spätestens, wenn es gar nicht anders geht, im Vermittlungsausschuß.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich gebe dem Kollegen Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen,
Herr Kollege Pfaff: Zu behaupten, Ministerin Stamm
und Minister Seehofer hätten nicht gemeinsam an einem
Ost-West-Problemfall gearbeitet, ist einfach unwahr.
Beide haben sogar einen Auftrag an den Sachverständigenrat erteilt, bis zum Dezember dieses Jahres diese diffizile Aufgabe ordnungsgemäß zu erledigen und uns
Vorschläge zu unterbreiten. Die Ministerin hatte nichts
anderes zu tun, als diesen Sachverständigenrat zu entlassen und das Gutachten zu streichen. Vor diesem Hintergrund kann man sich nicht hier hinstellen und behaupten: Da ist nichts passiert. - Das ist unredlich.
({0})
Es ist ebenfalls unredlich, sich hier hinzustellen und
zu sagen: Unser Gesetz ist erstmals ein Gesetz, das die
Versicherten nicht zusätzlich belastet.
Herr Kollege Zöller,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Pfaff?
Selbstverständlich. Entschuldigung, hier läuft die Uhr weiter. Ich bitte, daß
sie angehalten wird. - Danke.
Ihre Uhr wird auch noch
ablaufen, Herr Kollege Zöller, keine Sorge.
Herr Kollege Zöller, denken wir doch zurück an die
Situation, die zu diesem Gesetz geführt hat. Sie konnten
sich in Ihrer eigenen Regierungskoalition nicht mit Bayern und Baden-Württemberg einigen. Die Bayern und
die Baden-Württemberger wollten den Wettbewerbsföderalismus, das heißt, sie wollten die Solidarität unter
den Starken einer Region, aber nicht insgesamt. Sie haben dann einen Kompromiß gefunden, um Zeit zu gewinnen. Stichwort: Laßt doch den Sachverständigenrat
diese Frage beantworten. Ich sage: Die wesentlichen
Punkte, um die es kurz- und mittelfristig geht, sind hinlänglich bekannt. Langfristig muß natürlich der Risikostrukturausgleich auf seine Kriterien hin überprüft werden. - Das ist die Wahrheit, und die sollten Sie bitte zur
Kenntnis nehmen.
Herr Professor Pfaff,
Sie werden sich wundern: Ich war bei diesen Gesprächen im Bundeskanzleramt anwesend und kann mich
daran recht gut erinnern. Damals ist diskutiert worden,
wie jemandem, dessen Krankenkassenbeitrag 13,9 Prozent beträgt, zu erklären ist, daß er zusätzlich eine Krankenkasse, die ihren Beitrag künstlich auf 12,2 Prozent
gesenkt hat, subventionieren soll. Mir konnte niemand
erklären, was daran logisch ist. Deshalb sollte in dem
Gutachten auch geklärt werden, wie man dies gerecht
verteilen kann.
Herr Kollege Dreßler, Sie haben vorhin gesagt, die
Leute bekämen mehr, und haben versucht, dem Kollegen Lohmann das kleine Einmaleins zu erklären. Tut mir
leid: Bei einer Grundlohnsummensteigerung von 1,66
Prozent bei gleichzeitigen Ausgabensteigerungen im Tarifbereich von 3,1 Prozent bleibt für die Versicherten
weniger und nicht mehr übrig. Um dies zu begreifen,
reicht schon die Mengenlehre aus.
({0})
Ich sage Ihnen: Mit Ihrem Gesetzentwurf wird der Patient die Zeche bezahlen.
Auch bin ich verwundert, wie Sie die Patienten verunsichern. Ich darf zitieren, was die Staatssekretärin
letzte Woche von diesem Pult aus zur Entlastung chronisch Kranker gesagt hat - ich zitiere wortwörtlich: Das ist für alle Alten und Kranken, die nur eine
kleine Rente haben, eine ganz erhebliche Verbesserung.
Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle: Beifall beim
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der
PDS. - Entschuldigung, Sie sagen die Unwahrheit!
Leute mit kleiner Rente waren bei unserer Regelung von
der Zuzahlung ganz befreit. Sie haben die Leute verunsichert und so getan, als müßten sie Zuzahlungen leisten.
({1})
Nur zu Ihrer Information: Ein Rentner oder eine Rentnerin mit einem monatlichen Einkommen von 1 764 DM
ist von der Zuzahlung ganz befreit. Eine Familie mit
zwei Kindern und einem Einkommen von 3 307 DM
monatlich ist ebenfalls von der Zuzahlung ganz befreit.
({2})
Mit Ihrer Teilrücknahme der Zuzahlung haben Sie die
Besserverdienenden und nicht die Kleinen entlastet.
Denn die Kleinen haben bisher nichts bezahlt.
({3})
Leider sind Sie nicht bereit, die verschiedenen sozialen Schieflagen in Ihrem Gesetz zu korrigieren oder - in
Ihrem Jargon - nachzubessern. Sonst hätten Sie längst
unsere Anregung aus der ersten Lesung aufgreifen müssen. Nach Ihrem Gesetzentwurf müssen nämlich Familien mit chronisch Kranken künftig das Doppelte dessen
bezahlen, was sie nach unserer Regelung zu zahlen hatten.
({4})
Wenn Sie das Entlastung für chronisch Kranke nennen,
tut es mir leid. Das kann ich nicht nachvollziehen. Wenn
Ihr Gesetz nicht in Kraft tritt und Ihr befristetes sogenanntes Solidaritätsstärkungsgesetz außer Kraft ist, wird
das für chronisch Kranke sogar besser sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im übrigen werden
chronisch Kranke von der Positivliste in negativer Weise besonders betroffen, da sie künftig die benötigten
schwachwirksamen Arzneimittel zu 100 Prozent selbst
zahlen müssen.
({5})
Hier von medizinischem Ramsch zu sprechen, ist völlig
unangebracht.
({6})
Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ärzte ihren Patienten
Ramsch verschreiben. Für so unverantwortlich halte ich
unsere Ärzte nicht.
({7})
Wenn sie den Versicherten jetzt nur hochwirksame Arzneimittel zukommen lassen, wird folgendes passieren:
Diese hochwirksamen Arzneimittel wird die gesetzliche
Krankenversicherung bezahlen
({8})
- ja, wesentlich teurer -, und die Nebenwirkungen der
Arzneimittel werden wesentlich größer sein. Dies ist
medizinisch nicht notwendig und zum Nachteil für die
Patienten.
Nun zum nächsten Punkt, mit dem Sie die Patienten
benachteiligen. Ob Sie es wollen oder nicht: Behandlung
nach Kassenlage führt zu Rationierung und zu Wartelisten für Kassenpatienten.
({9})
Ihre Krankenhausplanung ist ein weiteres Beispiel
für eine Benachteiligung der Patienten. Nach rein fiskalischen Gesichtspunkten wird eine flächendeckende
Versorgung durch Krankenhäuser auf dem Lande verhindert. Sie muten Patienten zu, daß sie nicht 15 Kilometer, sondern 30, 50 oder mehr Kilometer zur nächsten
stationären Versorgungseinheit fahren müssen. Wenn
Sie dies wollen, dann sagen Sie dies dem Patienten und
schreiben Sie nicht über Ihr Gesetz „patientenfreundliche Regelung“.
({10})
Ein weiterer Punkt: Wir haben dem Patienten die
Möglichkeit eingeräumt, seine privatärztliche Versorgung selber zu wählen. Des weiteren haben wir dem
Kassenpatienten endlich das Recht auf eine Rechnung
für ärztliche Leistung gegeben. Beide Regelungen haben
Sie ersatzlos gestrichen. Es wäre wirklich eine Stärkung
der Patientrechte gewesen, endlich eine Rechnung einfordern zu können.
Durch Ihren neuen Gesetzentwurf wird zum Teil auch
die freie Arztwahl eingeschränkt und die Therapiefreiheit entscheidend beschnitten. Die Auswirkungen Ihres
sogenannten Aktionsprogramms gehen ebenfalls zu Lasten der Patienten. Wenn am Ende des Quartals das
Budget ausgeschöpft ist, dann wird kein Arzt mehr eine
Großpackung verordnen. Das Ergebnis ist: Der Patient
bezahlt für eine Kleinpackung sowohl am Ende des
Quartals als auch für eine Kleinpackung am Anfang des
nächsten Quartals. Er zahlt also zweimal 8 DM zu statt
einmal 9 DM für eine Großpackung. Nach Ihrer Regelung wird dem Patienten fast doppelt soviel abgezockt
wie nach unserer Regelung.
({11})
Lassen Sie mich noch eines sagen: Ihre überzogene
Überwachungs- und Reglementierungswut führt zu
deutlich höheren Verwaltungskosten.
({12})
Wo soll das Geld dafür hergenommen werden? Das
Geld, das für Verwaltungskosten ausgegeben werden
soll, wird dort gespart, wo es für die Patienten medizinisch notwendig wäre.
({13})
Das Schlimmste an dem Gesetz ist für mich: Sie blähen
die Bürokratie auf. Dadurch fehlen uns die Mittel dort,
wo sie für die Patienten benötigt werden. Deshalb kann
man nur zu dem Schluß kommen: Wer für die Patienten
ist, muß gegen dieses Gesetz sein.
({14})
Ich gebe das Wort
der Bundesministerin für Gesundheit, Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Natürlich reizt
es mich, auf etliches, was hier gesagt worden ist, inhaltlich einzugehen. Aber dies ist nicht der Punkt. Es geht
vielmehr darum, wie der Vorsitzende der CDU/CSUFraktion mit dem Gesprächsangebot umgegangen ist,
das ich heute gemacht habe. Ich halte es für ein eigenwilliges Demokratieverständnis, wenn Sie mir sagen, ich
solle den Gesetzentwurf, über den der Bundestag heute
befinden wird, zurücknehmen. So funktionieren die Gesetzgebungsverfahren in unserer Demokratie nicht, daß
Minister hier handstreicherartig vorgehen und dem Bundestag vorschreiben könnten: Beendet jetzt eure Beratungen! Entscheidet euch in meinem Sinne!
({0})
Auch etwas anderes ist nicht richtig: Mit dem Hinweis auf Verfahrensfragen sagen Sie, man könne über
den vorliegenden Gesetzentwurf nicht sprechen. Zwar
ist heute schon einiges klargestellt worden, ich möchte
aber darauf hinweisen, daß nicht alle Änderungsanträge
erst seit gestern im Ausschuß vorgelegen haben. Dies
haben Sie falsch dargestellt. Unabhängig davon, wie es
tatsächlich gewesen ist, möchte ich darauf aufmerksam
machen, daß der Bundestag dieses Gesetz verabschieden
wird. Erst dann stellt sich die Frage, wie das weitere
Verfahren aussehen wird.
({1})
Es ist das Recht des Deutschen Bundestages, Gesetze zu
verabschieden. Es ist falsch, wenn Sie das Gesetzgebungsverfahren zwischen Länderkammer und Bundestag
mißbrauchen wollen, um eine Totalopposition aufrechterhalten zu können.
({2})
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Ramsauer?
Nein, ich möchte meinen Gedanken fortsetzen.
({0})
Der Gesetzentwurf ist die Geschäftsgrundlage für die
weiteren Beratungen. Mit Verlaub, wir brauchen für unsere Beratungen auch eine Grundlage; denn von Ihrer
Seite gibt es nichts, über das wir reden könnten, außer
Zeitungsinterviews und Äußerungen, die Sie irgendwo
gemacht haben.
({1})
Ich will noch etwas dazu sagen, daß die Kollegin
Stamm gesagt hat, wir würden erst jetzt zu den Ländern
kommen, weil wir sie erst jetzt bräuchten. Liebe Kollegin Stamm, das ist einfach die Unwahrheit. Wir haben
auf der Gesundheitsministerkonferenz, die meiner Erinnerung nach im Mai oder Juni in Trier gewesen ist, darüber gesprochen, daß es Sinn machen würde, wenn es
zwischen den A- und B-Ländern und der Bundesseite
Gespräche gäbe. Dazu hat es sogar eine Verabredung
gegeben. Sie ist von Bayern aufgekündigt worden
({2})
mit dem Argument, daß sich die Verhältnisse im Bundesrat, was die Mehrheiten anbelangt, vermutlich ändern
würden, und deswegen sei es sinnlos, im Spätsommer zu diesem Zeitpunkt waren wir eigentlich verabredet miteinander zu sprechen. Ich finde es ungeheuerlich,
wenn Sie heute behaupten, wir hätten diese Gespräche
verweigert.
Ich weise auch entschieden zurück, daß Sie hier die
Gespräche meines Staatssekretärs mit den Staatssekretären der B-Länder als Einkaufstouren denunzieren.
({3})
Er ist nur deswegen bei diesen Gesprächen gewesen,
weil er den Kontakt und das Gespräch mit den
B-Ländern gesucht hat. Das war seine Aufgabe, damit
hatte ich ihn beauftragt. Es ging um die Vorbereitung
solcher Gespräche.
({4})
Und jetzt reden wir doch einmal über den Sinn des
Vermittlungsverfahrens:
({5})
Der Vermittlungsausschuß hat einen verfassungsrechtlichen Auftrag.
({6})
- Wir können jetzt noch eine Weile ausprobieren, wer
von uns lauter brüllen kann, aber ich glaube nicht, daß
es dadurch besser wird.
({7})
Sollten Sie damit weitermachen, würde ich den Präsidenten bitten, mir Unterstützung zu geben, damit ich zu
diesem Punkt etwas sagen kann.
Was ist der Sinn eines Vermittlungsverfahrens?
({8})
Es geht darum, Länderinteressen mit Bundespolitik in
Einklang zu bringen. Das ist der verfassungsrechtliche
Auftrag des Vermittlungsausschusses. Es ist nicht seine
Aufgabe, parteipolitisch instrumentalisiert zu werden.
({9})
Sie sagen, daß Sie ein Interesse an konstruktiver Mitarbeit haben. Sie haben auch gesagt, Sie wollten keine
Blockadepolitik machen. Dann aber ist es der Sache
überhaupt nicht dienlich, wenn hier mit Vorbedingungen
gearbeitet wird, die sozusagen das Verfahren als solches
bereits unmöglich machen - übrigens auch mit einer falschen Unterstellung. Denn es ist allen Seiten bekannt,
daß Vermittlungsverfahren auch auf Fachebene vorbereitet werden. Das wird jedoch nur funktionieren, wenn
sozusagen - und dafür plädiere ich - abgerüstet wird,
wenn man ohne Vorbedingungen in die Gespräche geht
und respektiert, daß der Deutsche Bundestag eine Entscheidung trifft, die Gesprächsgrundlage ist, auf der
dann über die drängenden Probleme geredet werden
kann.
Hier ist heute sowohl von mir persönlich als auch von
seiten der Koalitionsfraktionen deutlich erkennbar geworden, daß wir gesprächs- und auch kompromißbereit
sind. Wenn Sie dieses Angebot ausschlagen, dann
spricht das nicht für Ihr Verantwortungsbewußtsein und
auch nicht für Ihre Bereitschaft, wirklich zum Wohle der
Gesundheitspolitik zu wirken. Jetzt sind Sie am Zug!
({10})
Wie darf ich das
verstehen, Herr Kollege Hirche? Möchten Sie eine
Kurzintervention machen? Dann bitte ich darum, das
rechtzeitig anzumelden. - Sie haben das Wort zu einer
Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mit meiner Wortmeldung
gewartet, weil ich dachte, die Frau Ministerin geht noch
auf den - von mir jetzt anzusprechenden - Sachverhalt
ein. Deswegen kann ich das erst jetzt machen.
Es ist in der Debatte von mehreren Rednern angesprochen worden, daß die Seite 394 der Drucksache einen Text enthält, der gestern im Ausschuß ausdrücklich
anders beschlossen worden ist. Heute aber wird uns der
Text so vorgelegt, wie er im Ministerium erarbeitet worden ist. Ich möchte von der Ministerin wissen - ich
glaube, daß sie, da das im Ministerium miterarbeitet
worden ist, der richtige Ansprechpartner ist; ansonsten
richte ich diese Frage an den Präsidenten -, ob wir jetzt
über die Ausschußvorlage - die hier nicht vorliegt - abstimmen sollen oder ob wir eine Korrektur dieser Seite
bekommen, damit über den Text abgestimmt wird, der
im Ausschuß beschlossen worden ist. Handelt es sich
hier um eine falsche Drucksache, ja oder nein? Ist das
Ministerium bereit, heute offiziell von seiner gestrigen
Stellungnahme abzurücken?
({0})
Da es dazu keine
Wortmeldung gibt, fahren wir in der Aussprache fort.
({0})
- Ich kann es nicht ändern. Aber der Kollege Hirche hat
eine Frage gestellt, die natürlich zu klären ist. Möglicherweise kann sie in der Unterbrechung, die heute mittag vor der Abstimmung stattfinden wird - darauf hat
Präsident Thierse ja schon hingewiesen -, geklärt werden. - Eine Kurzintervention, eine Antwort des Kollegen Kirschner.
Herr Präsident! Ich will auf
die relativ späte Verabschiedung eingehen, Herr Hirche.
({0})
- Ich brauche nicht zu wiederholen, was ich schon gesagt habe.
({1})
- Wenn Sie mich ausreden lassen, glaube ich, bekommen wir alles hin.
Es ist völlig klar, daß es nicht korrekt übermittelt
worden ist. Es handelt sich um einen Übermittlungsfehler. Ich erkläre hiermit, daß der Ausschußbericht geändert werden muß. Auf Seite 152 steht in Art. 1 Nr. 82
({2}):
({3})
Soweit die Verträge die vertragsärztliche Versorgung einschließen, müssen sie Vorkehrungen dazu
treffen, daß der Anteil der an der integrierten Versorgung teilnehmenden Versicherten höchstens 70
vom Hundert der Zahl der von dem einzelnen Vertragsarzt versorgten Versicherten umfaßt.
Dieses ist zu streichen, weil dieser Antrag zurückgezogen wurde.
Auf den Seiten 394 und 395 - Sie sehen, wir passen
auf, Sie haben es noch nicht einmal bemerkt - sind in
Art. 23 § 8 in der Überschrift die Worte „und Öffnung“ zu
streichen. Darüber hinaus ist § 8 Abs. 2 einschließlich
Inkrafttretungsvorschrift zu streichen. Das heißt, die Seite
18 der Ausschußdrucksache 14/274 ist zurückgezogen
worden. Dies will ich der Korrektheit wegen sagen.
Ich stelle hiermit den Antrag, daß diese Ausschußdrucksache so geändert wird, daß sie die vom Ausschuß
beschlossene Fassung enthält.
Zu einer weiteren
Kurzintervention, zu einer Erwiderung der Kollege Zöller.
Herr Präsident, ich
habe jetzt ein ganz großes Problem. Bisher haben wir
nur von der Änderung, die nicht in diesen Entwurf aufgenommen wurde - von der Betriebskrankenkassenregelung -, gesprochen. Daher verwundert es mich, daß
jetzt noch eine Änderung kommt. Ich muß also davon
ausgehen, daß man diesen Bericht erst einmal durchlesen muß, um zu prüfen, ob in ihm das steht, was wir gestern beschlossen haben. Es kann ja nicht angehen, daß
wir im Ausschuß etwas beschließen und heute während
der Beratung ständig Änderungen kommen.
({0})
Wenn Ihre Wortmeldung, Herr Kollege Ramsauer, eine Wortmeldung
zur Geschäftsordnung ist, dann haben Sie das Wort.
Herr Präsident!
Nach dem, was uns jetzt hier von fachlicher Seite vorgetragen worden ist, bitte ich Sie für die CDU/CSUBundestagsfraktion
({0})
- ich höre gerade, daß ich das auch für die Fraktion der
F.D.P. tun kann -, zu prüfen, ob vor diesem Hintergrund
im Einklang mit der Geschäftsordnung unseres Hauses
eine Fortführung der Beratung dieses Gesetzes überhaupt möglich ist.
({1})
Im Hinblick auf diese Prüfung beantrage ich vorsorglich
für meine Fraktion - ich nehme an, auch für die F.D.P.Fraktion - eine sofortige Unterbrechung der Sitzung.
({2})
Ich habe diese
Wortmeldung so verstanden, daß die Fraktionen von
CDU/CSU und F.D.P. die sofortige Unterbrechung der
Beratung erbitten. Können wir darüber eine Verständigung unter den Fraktionen erzielen?
Herr Präsident! Unabhängig
von der Tatsache, daß es das Recht jeder Fraktion ist,
eine Unterbrechung der Sitzung zu verlangen - das versteht sich von selbst -, kommt es mir auf folgendes an:
Der Ausschußvorsitzende, der Abgeordnete Kirschner,
hat gerade den Sachverhalt vor dem Deutschen Bundestag dargestellt. Er hat dargestellt, daß auf Antrag der
CDU/CSU und der F.D.P. die Koalitionsfraktionen gestern im Ausschuß die beiden Anträge, die er gerade zitiert hat, zurückgezogen haben.
({0})
Das Wort hat der
Kollege Dreßler!
Herr Präsident, ich darf in
eigener Sache feststellen, daß die Empörung bei der
CDU/CSU nicht meiner Intervention gilt.
Nun hat der Abgeordnete Kirschner in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Gesundheitsausschusses dem
Hause mitgeteilt, daß diese beiden Anträge - aus einem
Grunde, den ich nicht kenne - gleichwohl auf merkwürdige Weise in der Ausschußdrucksache aufgetaucht sind.
({0})
Das heißt, bei der Beschlußfassung des Ausschusses
waren diese beiden Anträge nicht mehr existent. Damit
kann auch hier nicht über Inhalte gestritten werden, denn
diese beiden Passagen sind vom Ausschuß nicht beschlossen worden. Ich lege Wert darauf, daß zur Kenntnis genommen wird: Es geht nicht um strittige Texte,
sondern nur darum, daß ein Antrag, der gar nicht zur
Abstimmung stand, in diese Ausschußdrucksache eingefügt worden ist - auf welche Art und Weise auch immer.
({1})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir sind nun in einer etwas eigenartigen
Situation. Es wurde der Geschäftsordnungsantrag auf
Unterbrechung der Sitzung gestellt. Aber da der Kollege
Dreßler, nachdem ich ihm das Wort erteilt habe, den
Sachverhalt aus seiner Sicht dargestellt hat, möchte ich
diese Möglichkeit nun auch den beiden Kollegen der
Oppositionsfraktionen geben. Ich bitte Sie, sich kurz zu
fassen. Dann werde ich die Sitzung unterbrechen.
Ich habe den Eindruck, Herr Präsident, auch der Kollege
Dreßler hat jetzt den Überblick verloren. Es war nicht
so, wie Sie sagen, daß die Anträge auf Antrag der
CDU/CSU und der F.D.P. zurückgezogen worden sind.
Wir haben bei der Erläuterung der Anträge festgestellt,
daß mit diesen Anträgen neue Tatbestände ins Verfahren
eingeführt werden. Deshalb - das ist ein Minderheitenrecht - haben wir gesagt: Da muß wohl eine öffentliche
Anhörung stattfinden. Daraufhin wurden diese Anträge
zunächst beiseite geschoben und ausgesetzt. Dann gab
es eine Sitzungsunterbrechung. Als wir in die Sitzung
zurückkehrten - ohne jeden Antrag -, hatten die Antragsteller ihre Anträge zurückgezogen.
({0})
- Sie haben eben von unseren Anträgen gesprochen,
aber wir haben überhaupt keine Anträge dazu gestellt,
und zwar deswegen nicht, weil man befürchtet hat, daß
durch eine öffentliche Anhörung der zeitliche Ablauf
behindert werden würde.
Noch ein Satz: Herr Kollege Kirschner, die Worte
„und Öffnung“ sagen Sie so leicht dahin. Es ging bei
den Worten „und Öffnung“ darum, daß Sie den bestehenden Betriebskrankenkassen untersagen wollten, sich
im Rahmen der Wahlfreiheit für alle Versicherten zu
öffnen, die den Wunsch haben, diesen Betriebskrankenkassen beizutreten.
({1})
Darum ging es!
({2})
Herr Kollege, bitte
schön.
Es war in der Tat so,
wie Herr Lohmann es geschildert hat. Aber ich denke,
nachdem wir jetzt in Windeseile diese zwei Tatbestände
gefunden haben, wäre es sehr sinnvoll, wenn wir Zeit
bekämen, das Paket insgesamt daraufhin durchzusehen,
ob hier nicht noch weitere Fehler vorhanden sind. Daher
beantrage ich Sitzungsunterbrechung.
({0})
Wir haben in diesem
Hause klare Regeln. - Jetzt kommt der Antrag des Kollegen Ramsauer. Darüber werde ich dann entscheiden.
Herr Präsident!
Ich möchte meinen Geschäftsordnungsantrag von vorhin
wie folgt ergänzen: Da die Verfahrenslage immer verworrener wird und von seiten der Koalitionsfraktionen
nicht für Aufklärung gesorgt werden kann, sehe ich die
einzig gangbare Möglichkeit darin, daß der Ältestenrat
zusammentritt
({0})
und die weiteren Möglichkeiten des Verfahrens prüft.
Ich beantrage deswegen die sofortige Unterbrechung der
Sitzung, verbunden mit der Bitte, daß der Ältestenrat sofort zusammentreten möge.
({1})
Verehrte Kolleginnen
und Kollegen, nach diesem Antrag der CDU/CSUFraktion und der F.D.P.-Fraktion wird die Sitzung unterbrochen. Die Sitzung des Ältestenrates wird in Abstimmung mit dem Präsidenten einberufen. Dieser Zeitpunkt
und der Zeitpunkt, wann die Sitzung des Deutschen Bundestages fortgesetzt wird, werden noch bekanntgegeben.
Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder Platz zu
nehmen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich weise noch einmal darauf hin, daß der Ältestenrat beschlossen hat, daß wir jetzt mit der Beratung der
weiteren Tagesordnungspunkte fortfahren und die Entscheidung des Ältestenrates und des Gesundheitsausschusses bezüglich des Gesundheitsreformgesetzes abwarten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Erwin
Marschewski, Wolfgang Zeitlmann, Wolfgang
Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das
Ausländerzentralregister und zur Einrichtung
einer Warndatei
- Drucksache 14/1662 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als ersten Redner rufe
ich den Kollegen Erwin Marschewski von der
CDU/CSU-Fraktion auf.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das
Schleusertum ist ein menschenverachtendes Geschäft
und ein schweres Verbrechen. Schlepper, Schleuser und
Menschenhändler versprechen den Menschen den Himmel auf Erden - natürlich gegen Geld. Eine einzige
Schleusung kann bis zu 40 000 DM kosten. Der illegale
Zutritt ins gelobte Land in der Mitte Europas mit seinem
attraktiven Sozialsystem wird aus blanker Profitgier angeboten. So kommen der Taxifahrer aus Sri Lanka, die
junge Thailänderin oder der frustrierte, gefährdete junge
Mann aus dem Balkan sehr oft illegal nach Deutschland.
Diese Menschen finden wir dann leider allzuoft in erzwungener Prostitution und in Kriminalität wieder, denn
sie müssen ja weitere Raten für ihre Schlepper zahlen.
Im übrigen machen sie dann politische Verfolgung geltend. Das haben ihnen die Schlepper so beigebracht. Da
die meisten aber keine Asylgründe haben, müssen sie
am Ende in ihre Heimat zurückkehren. Sie sind dann
entwurzelt und gesellschaftlich wie wirtschaftlich ruiniert, denn für den Schleuserlohn haben sie sehr oft alles
Hab und Gut veräußern müssen.
Allein im vorletzten Jahr hat der Bundesgrenzschutz
12 000 Geschleuste festgestellt. Dies ist die offizielle
Zahl. Die Zahl ist im Steigen begriffen. Die Dunkelziffer - meine Kolleginnen und Kollegen Fachleute wissen
dies - ist natürlich um ein Vielfaches höher.
All dies macht deutlich: Die eingeschleusten Menschen sind Opfer ihrer Schlepper. Aber auch die deutsche Gesellschaft wird durch das verbrecherische Tun
dieser Gangster geschädigt. Sie hat nämlich letzten Endes die finanziellen Aufwendungen für die Opfer der
Schleuser zu tragen.
Daher gilt, meine Damen und Herren: Die Bekämpfung der illegalen Einwanderung und insbesondere der
Schleuserkriminalität muß wieder zum Schwerpunkt
deutscher Innenpolitik werden. Nur einfach zu sagen,
Herr Mini ster Schily, die Grenze der Belastbarkeit sei
überschritten, ohne hieraus die nötigen Konsequenzen
zu ziehen, das reicht einfach nicht. Es ist dringend vonnöten, diesen richtigen Worten endlich Taten folgen zu
lassen, Herr Innenminister.
({0})
Wir wissen, meine Damen und Herren, daß die
Schlepper, wenn sie mit ihren Opfern erst einmal die
Grenze überschritten haben, gewonnen haben und unser
Land den Kampf gegen diese Verbrecher verloren hat.
Deswegen wollen wir im Vorfeld eingreifen, was durch
unseren Gesetzentwurf ermöglicht wird.
Wir erfassen bereits - das wissen Sie - gewisse Daten
im Ausländerzentralregister. Doch hier sind Verbesserungen nötig:
Erstens. Man muß nicht nur wissen, ob ein Ausländer
einen Visumsantrag gestellt hat, man muß auch wissen,
wie über diesen Antrag entschieden worden ist; denn nur
so läßt es sich leichter feststellen, ob ein Ausländer versucht, mit einem gefälschten Visum seine Einreise nach
Deutschland zu erreichen.
Zweitens. Es reicht nicht aus, daß nur das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter Zugriff auf
die Daten des Ausländerzentralregisters haben. Die
Kontrollen sind meines Erachtens nur dann effektiv,
wenn auch sonstige Polizeivollzugsbehörden Zugriff erhalten.
Drittens. Wenn sich jemand verpflichtet - das ist
nach dem Ausländerrecht möglich -, die Kosten des
Aufenthaltes eines Ausländers in Deutschland zu übernehmen, diese Verpflichtung aber nicht einhält, so geht
dies zu Lasten der Solidargemeinschaft. Diese Situation
darf nicht so bleiben. Die Träger von Sozialhilfe und
von Asylbewerberleistungsgeld müssen die fälligen Erstattungsansprüche, so meinen wir, auch durchsetzen
können.
Last, not least. Mit der Warndatei, die wir ebenfalls
vorschlagen, wollen wir Visabetrügereien verhindern. Es
kann nicht sein, daß zum Beispiel ein in Bombay konsulatsbekannter Visabetrüger nach Neu-Delhi geht, dort
ein Visum verlangt und dieses Visum bekommt, weil er
dort nicht bekannt ist. Deswegen sollten alle Auslandsvertretungen und alle Grenzbehörden in die Lage versetzt werden, auf diese Warndatei zuzugreifen und Auskunft aus ihr zu erhalten.
Dies sind einige der Folgerungen, die zumindest wir
aus fünf Jahren Erfahrung mit dem novellierten Gesetz
über das Ausländerzentralregister gezogen haben. Mit
dem Gesetzentwurf schaffen wir die Voraussetzungen
dafür, daß eben die Schleuserkriminalität besser bekämpft wird, daß Visaerschleichungen besser verfolgt
werden und daß Leistungsbetrug begrenzt wird.
Der Vorsitzende des Innenausschusses, der SPDKollege Penner, hat dies bereits begrüßt. Er hat jedenfalls gesagt, so habe ich gelesen, ihm seien alle Gesetzentwürfe willkommen, die beklagenswerte Mißbräuche
bekämpfen. Das haben auch andere SPD-Kollegen auf
Informationsbesuchen neulich in Ghana und im Senegal
gesagt. Ich werte dies als Aufforderung und als Signal,
daß wir im Ausschuß eine offene Debatte über unseren
Gesetzentwurf führen können.
Was nun die Bundesregierung anbelangt, Herr Bundesinnenminister, habe ich den Eindruck, daß Sie das
Problem erst erkannt haben, nachdem wir unseren Gesetzentwurf vorgelegt haben. In der letzten Woche gab
es ein Symposium des Bundesnachrichtendienstes. Frau
Kollegin Staatssekretärin, dort haben Sie gesagt, Sie
wollten ein sogenanntes Frühwarnsystem einrichten. Sie
haben außerdem gesagt, der gesetzliche Spielraum sei
noch nicht ausgeschöpft. Herr Minister Schily, wenn
man wie Sie in der Regierung ist, dann darf man ruhig
ein wenig konkreter sein.
({1})
Sie haben jetzt den Auftrag zum Regieren, der zum
Handeln verpflichtet. Dieser Auftrag heißt, Herr Kollege
Stiegler: Nicht mehr Zuwanderung, sondern Zuwanderungsbegrenzung und vor allen Dingen eine wirksame
Bekämpfung von Schleppern und Schleusern sind das
Gebot der Stunde.
({2})
Herr
Kollege Marschewski, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum
Schluß.
Beschränken Sie sich nicht darauf, Herr Bundesinnenminister, uns wie in Tampere ein wortreiches SollteMüßte-Dürfte vorzuschlagen! Nehmen Sie mit uns gemeinsam den Kampf gegen das organisierte Schleppertum auf! Ich verspreche Ihnen: Wenn es im Bundestag
wegen der Grünen etwas schwieriger werden sollte,
dann werden wir dies, so glaube ich, gemeinsam im
Vermittlungsausschuß schon richten.
Herzlichen Dank.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Eckhardt Barthel von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Nach dem Beitrag von Herrn
Marschewski habe ich ein bißchen Angst bekommen: In
welchem Land lebe ich denn? Wodurch bin ich bedroht?
Es macht mir Sorge, wenn ich eine solch einseitige Beschreibung der Situation höre. Ich frage mich: Hat die
Verbreitung von Angst Methode? Was ist das Ziel? All
das, was Sie angeführt haben, in Verbindung mit dem
AZR zu bringen, halte ich für ein wenig übertrieben.
({0})
Natürlich sieht man sich ein Gesetz, das bereits seit
fünf Jahren in Kraft ist, auf Verbesserungs- und Veränderungsbedarf hin an. Das gilt allgemein und nicht nur
für dieses Gesetz. Ich wundere mich aber manchmal,
daß, wenn von der CDU/CSU eine Änderung in Sachen
Ausländerrecht gewünscht wird, dies immer mit Verschärfung einhergeht. Vielleicht sollte man einmal in
eine andere Richtung sehen.
({1})
- Nein, nicht „nur so“.
Meine Damen und Herren, wenn man Änderungen
will - das schlagen Sie hier vor -, so genügt es meines
Erachtens nicht, nur zu sagen, was man ändern will und
welches Ziel man damit verfolgt. Ich glaube, es ist notwendig, vor einer Gesetzesänderung, vor allem in einem
so sensiblen Bereich, zu fragen, ob die bisherigen Instrumente wirklich nicht ausreichen. Man sollte erst
einmal überprüfen: Was liegt vor? Wird es genutzt?
Reicht es aus, oder ist eine Ergänzung - in welcher
Form auch immer - notwendig? Erst dann läßt sich meiner Ansicht nach eine Gesetzesänderung begründen.
Ich sagte, daß es hier um einen sensiblen Bereich
geht. Man darf ihn nicht so leicht zur Seite schieben. Ihr
Vorschlag bedeutet eine Einschränkung des Rechts auf
informationelle Selbstbestimmung von Ausländern, die
in Deutschland leben. Gerade hier ist es notwendig, ganz
stark den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
({2})
Eine Frage, die sich anschließt, auch angesichts der
Tatsache, daß Sie viele durch Ihr Gesetzeswerk möglicherweise zu lösende Probleme angeführt haben, ist: Besteht Handlungsbedarf? Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf - das wurde durch Ihre Rede sehr deutlich - den
Mißbrauch und das Schlepperwesen bekämpfen. Wer
will dies nicht? Ich glaube, da besteht überhaupt kein
Dissens; das ist Ziel aller in diesem Haus vertretenen
Parteien. Das Traurige aber ist, daß es Mißbrauch leider
Gottes überall und fast immer gibt.
Wenn man diesen Mißbrauch aber bekämpfen will,
dann muß man über Einzelfälle hinaus darlegen und den
Beweis dafür erbringen, daß das bisherige Instrumentarium dafür nicht ausreicht. Zudem muß klar sein, ob
durch die Vorschläge zur Beseitigung des Mißbrauchs Herr Marschewski, das meine ich sehr ernst - auch negative Folgen erzeugt werden können.
Wenn ich überhaupt Handlungsbedarf sehe, dann
nur auf Grund der notwendigen Anpassung, die sich aus
EU-Datenschutz-Richtlinien ergibt. Deutschland ist
verpflichtet, diese Richtlinien umzusetzen. Zudem müssen wir zur Erfüllung der Verpflichtungen aus dem
Dubliner Übereinkommen eine einwandfreie Rechtsgrundlage schaffen.
Meine Damen und Herren, beim Sammeln, Speichern
und Weitergeben von Daten einer Minderheitengruppe, also der Ausländer, besteht immer die Gefahr der Diskriminierung. Schon deshalb kann man meines Erachtens
nicht locker der Datensucht frönen, wie Sie es mit Ihrem
Antrag tun. Es muß auch die Frage gestattet sein, welche
Wirkung das, was wir hier tun und worüber wir reden - vor
allem, wie wir darüber reden -, auf die Betroffenen und
diejenigen, die sich betroffen fühlen, hat. Werden so leicht
eine Verpflichtungserklärung und der Besuch eines Verwandten unterbunden? Wird er aus Angst, erfaßt zu werden, darauf verzichten? Diese Angst mag unbegründet sein
- vielleicht ist sie es auch -, aber sie ist da. Das Gefühl
vieler Ausländer in dieser Gesellschaft, als Problem, als
Gefährdung definiert zu werden, ist vorhanden. Unsere
Aufgabe muß es sein, dem entgegenzuwirken. Nur, mit Ihrem Gesetzentwurf verstärken Sie die Angst und diese
Selbstdefinition von vielen in unserem Lande.
({3})
Ich glaube auch, daß Zurückhaltung geboten ist, weil
beim Bundesverfassungsgericht zwei Klagen in diesem
Bereich anhängig sind. Darin geht es unter anderem darum, ob das bestehende Ausländerzentralregistergesetz
gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Schon deshalb bitte ich um etwas Zurückhaltung. Wir sollten auf
jeden Fall im Auge behalten, welches Urteil gefällt wird.
Eines ist sicher: Liberaler wird das AZR-Gesetz
durch Ihren Vorschlag bestimmt nicht.
({4})
- Sie sagen selbst, daß es das auch nicht werden soll.
Zumindest besteht jetzt also Klarheit über die bei Ihnen
vorhandene Zielsetzung.
Ich betone noch einmal: Es geht auch uns um die Bekämpfung des Mißbrauchs und des Schlepperwesens. Da
sind wir uns sicherlich einig. Allerdings ist das Instrument, das Sie einsetzen wollen, zu überprüfen.
({5})
Meine Damen und Herren, wir sehen in dem von Ihnen eingebrachten Gesetzentwurf eine Verschärfung des
derzeitigen AZR-Gesetzes in einer Form, die wir nicht
akzeptieren können. Das gilt besonders für den zweiten
Teil des Gesetzentwurfes, die Einrichtung einer Warndatei. Ich habe bisher noch keinen Beleg dafür bekommen, daß die Notwendigkeit zur Errichtung einer solchen Warndatei gegeben sei. Auch hier geht es wieder
um die psychologische Wirkung, die mit einer Warndatei verbunden wäre. Worauf läuft das denn hinaus?
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß es auf
Bürger zweiter Klasse hinausläuft. Bei diesen Bürgern
aber handelt es sich zum großen Teil um Menschen, die
wir als Arbeitnehmer hierhergeholt hatten. Jetzt dürfen
wir mit ihnen so nicht umgehen.
({6})
- Ob das Blödsinn ist, bezweifle ich. Sie sollten sich
einmal fragen, welche Wirkung auf die Gesamtgesellschaft und das Zusammenleben von Mehrheiten und
Minderheiten von Ihren Gesetzentwürfen und Beiträgen
ausgeht. Das vermisse ich bei Ihnen sehr.
({7})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, mit
dieser Politik betreiben Sie Populismus. Sie engagieren
sich vorgeblich für die innere Sicherheit, tun es aber auf
Kosten von Menschen, die zu unserer Gesellschaft gehören. Das darf nicht sein.
Auch im ersten Teil Ihres Gesetzentwurfes sind Forderungen enthalten, die wir nicht übernehmen können.
Herr
Kollege Barthel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Marschewski?
Ja.
Eckhardt Barthel ({0})
Bitte
schön, Herr Marschewski.
Herr Kollege
Barthel, wenn Sie das „Populismus“ nennen, wie beurteilen Sie dann die Aussage des Bundesinnenministers,
die ich zitiert habe und in der es heißt, die Grenze der
Belastbarkeit sei überschritten, und wie beurteilen Sie
seinen neuerlichen Vorschlag, sogar das subjektive
Asylrecht abzuschaffen?
Aus Ihrer Zwischenfrage wird mir deutlich, daß Sie über ganz andere
Dinge als das reden, was Sie uns hier vorlegen.
({0})
In Ihrem Antrag finde ich nichts, was mit dem Asylrecht
zu tun hätte. Ich empfehle Ihnen, daß Sie einmal Ihren
eigenen Entwurf lesen. Dann kämen Sie vielleicht zu
dem Ergebnis, daß wir hier über ganz andere Dinge reden.
({1})
Wie immer man diese Aussage bewertet, es gibt keine
Verbindung mit dem, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf
vorhaben und was Sie vorhin hier selbst vorgetragen haben.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole, auch im
ersten Teil Ihres Gesetzentwurfs sind noch einige Regelungen vorgesehen, die nicht den Vorstellungen der
Sozialdemokraten entsprechen.
Lassen Sie mich abschließend eines sagen: Ich bin
neu in diesem Hause und habe deshalb nachgeguckt,
was in der vorigen Legislaturperiode war.
({2})
In der vorigen Legislaturperiode haben Sie dasselbe
schon einmal versucht, wenn ich richtig informiert bin.
Damals hatten Sie mit der F.D.P. jedoch einen Koalitionspartner
({3})
- und eine Ausländerbeauftragte; sie gehörte ja auch der
F.D.P. an -, der verhindert hat, daß Sie Ihr Vorhaben
umsetzen konnten. Dazu beglückwünsche ich die F.D.P.
noch nachträglich.
({4})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, glauben Sie doch nicht, daß Sie das, was Sie mit der F.D.P.
nicht durchbekommen haben, mit den Sozialdemokraten
durchbekämen. Das wäre ein Irrglaube.
Ich bedanke mich.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Max Stadler von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es heute in
der Tat mit einem Fall von Gesetzesrecycling zu tun.
Genauer gesagt, betreibt die CDU/CSU-Fraktion die
Wiederverwertung eines Gesetzentwurfes, mit dem sie
in der letzten Legislaturperiode am Widerstand der
F.D.P. und insbesondere am Veto der Ausländerbeauftragten Cornelia Schmalz-Jacobsen gescheitert ist. Sie
war eine wirkungsvolle Ausländerbeauftragte, wie sich
an diesem Beispiel zeigt.
({0})
Einen solchen Gesetzentwurf erneut einzubringen ist
freilich das gute Recht der Union. Es ist im Interesse der
Klarheit der politischen Positionen sogar zu begrüßen.
Uns gibt es Gelegenheit, daran zu erinnern, daß die
F.D.P. ihre traditionelle Rolle als Hüterin der Rechtsstaatlichkeit und der inneren Liberalität
({1})
in der alten Politik sehr wohl wirkungsvoll wahrgenommen hat.
({2})
Man darf aber aus Anlaß der Einbringung dieses Gesetzentwurfs vorweg noch eine weitere Feststellung treffen: Jeder weiß ja, daß es in der früheren Koalition Meinungsunterschiede im Bereich der Innenpolitik gegeben
hat. In der neuen rotgrünen Koalition erscheinen mir allerdings die Meinungsunterschiede gerade in Fragen des
Ausländer- und Asylrechts eher noch gravierender. Das,
was Otto Schily im Interview in der „Zeit“ zur Asylpolitik gesagt hat, läßt sich doch nicht mit Ihren Vorstellungen, Frau Beck, als Ausländerbeauftragte vereinbaren.
({3})
Kein Wunder, daß allenthalben Stillstand in der rotgrünen Innenpolitik festzustellen ist.
Bemerkenswert ist aber vor allem auch die Art der
Auseinandersetzung in der neuen Koalition. Bündnis
90/Die Grünen haben in letzter Zeit so viele Demütigungen und Provokationen hingenommen, daß an der
Basis die Mitglieder reihenweise austreten, wie zum
Beispiel kürzlich, Herr Uhl, die grüne Stadträtin Angelika Lex aus München, die noch vor einem halben Jahr als
Oberbürgermeisterkandidatin der Grünen im Gespräch
war.
({4})
Demgegenüber - das will ich durchaus konzedieren kann man im Rückblick zur Arbeit der alten Koalition
sagen, daß die Minister Kanther und Schmidt-Jortzig
und die Innen- und Rechtspolitiker der alten Koalition
immerhin fair und respektvoll miteinander umgegangen
sind.
({5})
Das ändert nichts daran, daß die F.D.P. den Vorschlägen
zur Veränderung des Ausländerzentralregisters und zur
Einführung einer Warndatei seinerzeit eine klare Absage
erteilt hat. Die dafür maßgeblichen drei Gründe gelten
heute noch unverändert fort.
Erstens. Wer eine Gesetzesänderung vorschlägt, trägt
die Beweislast dafür, daß die Neuregelung wirklich
notwendig ist. Dieser Nachweis kann von den Initiatoren
des Gesetzentwurfes nicht geführt werden.
Klar ist zunächst nur - das ist aber ein Nebenpunkt,
wie ich ausdrücklich betonen möchte -: Ein solches Gesetz würde hohe Ausführungskosten verursachen. Experten veranschlagen allein die Beträge für notwendige
Software-Änderungen auf zirka 6 Millionen DM und die
Zusatzkosten bei den Auslandsvertretungen auf 10 Millionen DM. Zudem würde bei der Realisierung der
Warndatei ein erheblicher Personalaufwand notwendig
sein.
Zweitens. Das alles wäre aber hinnehmbar, wenn die
Neuregelung wirklich erforderlich wäre. Was wollen Sie
denn? Sie wollen umfangreiche Datenspeicherungen
vornehmen, und das ist ein erheblicher Eingriff in das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schreibt
vor, daß in einem solchen Fall besonders sorgfältig geprüft und dargelegt werden muß, daß solche Eingriffe
zwingend notwendig sind. Die Praxis kommt aber doch
mit der geltenden Rechtslage durchaus zurecht.
Es war die Rede davon, daß es Mitteilungspflichten
geben soll, so daß man Sozialbetrug verhindern kann.
Solche Unterrichtungsverpflichtungen gegenüber den
Ausländerbehörden kennt auch das geltende Ausländerrecht zur Durchsetzung von Erstattungsansprüchen. Eine
Änderung ist hier gar nicht notwendig.
Drittens - das ist der gewichtigste, weil politische
Einwand -: Dieser Gesetzentwurf enthält eine allgemeine Tendenz zur Erschwerung von Auslandskontakten.
Es ist ja so, daß in bestimmten Fällen bei der Einladung
von Ausländern die Verpflichtung übernommen werden
muß, für sämtliche Folgekosten aufzukommen. Das ist
geltendes Recht. Nach dem Gesetzentwurf der Union
sollen nun Daten von Privatpersonen, aber auch Organisationen wie Firmen und Vereinen zum Beispiel dann in
der Warndatei gespeichert werden, wenn sie eine solche
Verpflichtungserklärung abgegeben haben und der Gast
etwa später einen Asylantrag stellt. Das halten wir für
äußerst bedenklich. Sie werden dann in einer Warndatei
gespeichert - der Name spricht ja für sich -, das heißt,
derjenige, dessen Daten dort gespeichert werden, wird
mit dem Makel versehen, daß er unzuverlässig sei oder
etwas Gefährliches mache. Diese Speicherung wollen
Sie vorsehen, obwohl derjenige, der die Einladung ausgesprochen hat, mit dem Verhalten des Eingeladenen
gar nichts zu tun hat, also auch nichts damit, daß dieser
vielleicht einen Asylantrag stellt. Jedenfalls verlangen
Sie nicht, daß etwa nachgewiesen werden müßte, daß es
hier ein rechtswidriges Zusammenwirken zwischen dem
Einladenden und dem späteren Asylbewerber gebe. Ich
kann nicht akzeptieren, daß auf diese Weise Privatpersonen, aber auch Unternehmen der deutschen Wirtschaft
diskriminiert werden, Herr Kollege Barthel, indem ihre
Daten wegen eines Verhaltens in einer Warndatei gespeichert werden, zu dem sie gesetzlich verpflichtet
sind. Sie müssen nämlich solche Folgekosten übernehmen. Mit den eventuellen Weiterungen, die sich daraus
ergeben könnten, haben sie aber nichts zu tun.
Im Zeitalter der Globalisierung und im Zuge vielfältiger internationaler wirtschaftlicher, wissenschaftlicher
und kultureller Kontakte erscheint uns Liberalen die
Warndatei für ein weltoffenes Land wie die Bundesrepublik Deutschland als ein falsches politisches Signal.
Die Speicherung des Umstandes, daß eine Verpflichtungserklärung vorliegt, die Speicherung der Daten von
Personen, die solche Kostenübernahmen erklären, würden doch - das ist der erklärte Zweck - von der Abgabe
von Verpflichtungserklärungen abschrecken. Will man
wirklich die damit verbundene Konsequenz, nämlich
weniger Besuchs- und Auslandskontakte? Das kann
doch nicht richtig sein.
({6})
Zu den Einzelheiten könnte man noch zahlreiche
Anmerkungen machen. Dies ist in erster Lesung im Plenum nicht erforderlich. Das können wir in den Ausschußberatungen nachholen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion jedenfalls wird aus den dargelegten grundsätzlichen Erwägungen die Linie von Cornelia SchmalzJacobsen weiterverfolgen und den Gesetzentwurf in dieser Form nicht unterstützen.
({7})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marieluise
Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Stadler, ich muß feststellen, daß ich Ihnen in jedem Punkt zustimme. Insofern gibt es Kontinuität in der Politik.
In der Tat handelt es sich um einen Gesetzentwurf,
der in der letzten Legislaturperiode im Hause Kanther
verfaßt worden ist. Ihnen, meine Damen und Herren von
der Union, ist es nicht gelungen, damit zu Ende zu
kommen,
({0})
weil innerhalb der Koalition doch schwerwiegende Differenzen in dieser Frage bestanden haben. Die Gegenargumente sind überwiegend aus dem Bundesjustizministerium, vom Bundesdatenschutzbeauftragten
({1})
und von meiner Amtsvorgängerin vorgetragen worden.
Nun also versuchen Sie es ein zweites Mal; das sei
Ihnen zugestanden. Allerdings werden wir einer Veränderung des AZR in dieser Form nicht zustimmen, weil
wir ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken haben.
Allein die Tatsache, daß schon gegen das bestehende
Gesetz mehrere Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe
anhängig sind, verpflichtet den Gesetzgeber, weil diese
Verfahren noch laufen, zu außerordentlicher Zurückhaltung. Das AZR greift bereits jetzt massiv in das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1983 in seinem
grundlegenden Urteil zum Recht auf informationelle
Selbstbestimmung folgendes ausgeführt - ich zitiere mit
Erlaubnis des Präsidenten -:
Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und
Weitergabe seiner persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes
umfaßt.
Weiter sagt das Bundesverfassungsgericht, daß der
Gesetzgeber den Verwendungszweck von Daten bereichsspezifisch und präzise bestimmen muß und daß, so
wörtlich, „die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf
Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren
Zwecken“ nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
({2})
Deshalb möchte ich bereits den ersten Satz der Begründung Ihres Gesetzentwurfs in Frage stellen. Daß das
Ausländerzentralregister den Anforderungen des Datenschutzes genügt, ist für uns in der Tat zweifelhaft.
({3})
Dieses Register dient nämlich nicht nur ausländerrechtlichen Zwecken. Bereits jetzt kann eine Vielzahl von Behörden - vom Zollkriminalamt über die Bundesanstalt für
Arbeit bis zum Bundesnachrichtendienst - auf diese Daten
zugreifen. Ist das noch die bereichsspezifische und präzise
Regelung, die das Bundesverfassungsgericht fordert? Ich
glaube, das kann man mit Recht in Zweifel ziehen.
Vieles spricht aus meiner Sicht für das, was die SPDFraktion im ursprünglichen Gesetzgebungsverfahren
zum AZR-Gesetz zu Protokoll gegeben hat - ich zitiere
noch einmal -:
Mit der vorgesehenen Vernetzung der polizei- und
nachrichtendienstlichen Informationssysteme via
AZR werden Ausländer anders behandelt als Deutsche.
({4})
Aus dem Fehlen einer sachlichen Rechtfertigung
für diese Sonderbehandlung dürfte sich eine verfassungsrechtliche Diskriminierung ergeben. Es sei
denn, dieses Modell sollte Vorreiter für eine entsprechende Kontrolle auch von Inländern sein.
({5})
Diese grundsätzlichen Zweifel am AZR machen aus
meiner Sicht den Versuch, eine Erweiterung des Registers vorzunehmen - und das, bevor das Bundesverfassungsgericht über die anhängige Verfassungsbeschwerde entschieden hat -, mehr als fragwürdig. Wir sollten
uns da tatsächlich in Zurückhaltung üben.
Aber selbst wenn es die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das AZR nicht gäbe, würden wir Ihrem
Gesetzentwurf kaum zustimmen, was Sie nicht verwundern wird.
({6})
Denn ich würde davon ausgehen, daß viele der von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen einfach nicht erforderlich sind. Sie berufen sich auf den massiven Mißbrauch von Sozialleistungen durch Ausländer. Aber
bisher ist, obwohl es immer wieder behauptet wird, der
Nachweis über das Ausmaß dieses Mißbrauchs nicht geführt worden. Auch eine Umfrage über den Deutschen
Städtetag bei verschiedenen Großstädten konnte die von
Ihnen behaupteten „massenhaften Mißbrauchsfälle“
nicht belegen. Da plädiere ich für große Zurückhaltung.
({7})
Zudem hat man mir bis heute auch nicht verständlich
machen können, weshalb das bestehende rechtliche Instrumentarium nicht ausreicht, um Mißbrauchsfälle aufzudecken.
Es gibt noch weitere Kritikpunkte an dem Gesetzentwurf. Zu den Kosten - auch das hat Kollege Stadler
eben angeführt - sagt Ihr Entwurf, vermutlich aus guten
Gründen, so gut wie nichts. Wir als Gesetzgeber sind
aber verpflichtet, auch über die Kosten eines Gesetzes
nachzudenken. In der letzten Legislaturperiode wurden
allein die Kosten für neue Software beim Bundesverwaltungsamt auf etwa 5,8 Millionen DM geschätzt. Dazu kommen Kosten bei den Auslandsvertretungen allein
für zwei Jahre in Höhe von etwa 10 Millionen DM.
Schließlich wäre da noch ein erheblicher Stellen- und
Personalbedarf beim Bundesverwaltungsamt - alles in
allem also durchaus ein teurer Spaß.
Die von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen sind aber
nicht nur teuer, sondern sie sind auch weitgehend überflüssig. Warum sollte die Abgabe einer Verpflichtungserklärung, mit der sich ein Deutscher verpflichtet, für
den Lebensunterhalt eines Ausländers aufzukommen,
der ihn in Deutschland besuchen möchte, in einer zentralen Datei gespeichert werden?
({8})
Marieluise Beck ({9})
Wer gelegentlich ins Ausländergesetz schaut, weiß, daß
die Ausländerbehörde das Sozialamt ohnehin über das
Vorliegen von Verpflichtungserklärungen informieren
muß. Eines zentralen Registers bedarf es da nicht. Es ist
gerade eine der positiven Erfahrungen mit dem deutschen Föderalismus, daß vieles vor Ort besser angegangen werden kann als durch ein zentralisiertes System.
Zum dritten wollen Sie, meine Damen und Herren
von der Union, nun auch die wenigen positiven Regelungen, die das AZR-Gesetz enthält, noch beseitigen. So
hatte meine Amtsvorgängerin durchgesetzt, daß das Instrument der Gruppenauskunft nicht auf Ausländer angewandt werden darf, die schon lange und dauerhaft in
Deutschland leben. Denn bei diesen Menschen gibt es
keinerlei Rechtfertigung für den Einsatz besonderer
Fahndungsinstrumente. Das interessiert Sie aber nicht.
Was Sie wollen, ist die Nutzung vorhandener Daten für
eine polizeistaatlich orientierte Überwachung von Menschen in unserem Land, die mit dazugehören und
gleichberechtigt sind.
({10})
Aber damit nicht genug. Sie wollen das Register mit
der sogenannten Warndatei - nomen est omen - nunmehr auch auf deutsche Staatsangehörige ausdehnen.
Gespeichert werden sollen auch diejenigen, die eine
Verpflichtungserklärung für einen Ausländer abgegeben
haben, wenn der im Visumsverfahren etwa falsche Dokumente vorlegt oder nach der Einreise einen Asylantrag
stellt.
Daß ein Gastgeber vielleicht in gutem Glauben gehandelt haben könnte, ist für Sie offensichtlich belanglos. Die Unschuldsvermutung soll hier einfach außer
Kraft gesetzt werden, und das wäre in der Tat einmalig
in der deutschen Rechtsordnung.
({11})
Eine solche Datei, meine Damen und Herren, würde
die Bereitschaft deutscher Staatsangehöriger, Bekannte
aus dem Ausland einzuladen, sicherlich nicht erhöhen,
({12})
und das wäre schade in einer Zeit, in der nationale Grenzen immer unwichtiger werden, immer mehr Menschen
Bindungen und Kontakte ins Ausland haben und über
die Grenzen hinweg zueinander Verbindung aufnehmen.
Dabei gilt schon jetzt, daß die deutschen Auslandsvertretungen im Visumsverfahren überaus gründlich auf
potentielle Asylbewerber hin prüfen. In diesen Fällen
wird kein Visum erteilt, wovon Sie sich in jedem Konsulat vor Ort überzeugen können.
Schon Herrn Kanther ist es nie gelungen, einen zahlenmäßig wirklich relevanten Mißbrauch des Visumsverfahrens in bezug zu gestellten Asylanträgen nachzuweisen. Gleichwohl und immer wieder fordern Sie weitere zentrale Dateien. Sie wollen immer mehr Menschen
erfassen und überwachen. Offenbar haben Sie keine
Sorge, daß wir zu einem Staat von zunehmend starker
Kontrolle gegenüber dem Bürger werden. Dies ist nicht
das Bild, das ich mir von dieser Gesellschaft mache. Es
entspricht mit Sicherheit auch nicht dem Menschenbild
unseres Grundgesetzes.
Schönen Dank.
({13})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Marschewski, ich habe mich schon gefragt, was für ein unverfrorenes Bild von der Wirklichkeit Sie hier zu malen versuchen. Ich stimme der Kritik,
die bisher an Ihrem Antrag geübt worden ist, voll zu.
Sehen wir uns Ihren Antrag einmal sachlich an. Ich
zitiere:
Illegale Einreise und Schleuserkriminalität stellen
zunehmend eine Bedrohung für die innere Sicherheit Deutschlands dar.
Das haben Sie auch heute wieder als einen Schwerpunkt
hier in den Raum gestellt. Wer sich die Fakten ansieht,
wird sich fragen, wie Sie eigentlich zu so einer Einschätzung kommen.
Ich habe mir die Daten des Bundesinnenministeriums
des vergangenen Jahres dazu einmal genauer angesehen.
Das Bundesinnenministerium hat im vergangenen Jahr
drei Tage lang bei einer internationalen Aktion von
Polizei- und Grenzschutzeinheiten aller SchengenStaaten gegen illegale Zuwanderung und Schleuserbanden mitgewirkt. Daran waren laut BMI alle Schengener
Vertragsstaaten entlang der Hauptschleusungsrouten
beteiligt. Es gab koordinierte Grenz- und Inlandskontrollen an sogenannten Luft-, See- und Landrouten. Auf
deutscher Seite waren das Bundeskriminalamt, der Bundesgrenzschutz und die Polizeien der Länder beteiligt.
Ergebnis: Ganze 706 Personen ohne Aufenthaltspapiere
wurden bei dieser großangelegten Aktion gefunden,
ganze 26 Schleuser festgenommen. Die meisten der
Festgenommenen waren - man höre und staune - Kosovo-Albaner, rumänische Flüchtlinge und Flüchtlinge aus
Afghanistan. Ich sage Ihnen hier: Vorsicht, es handelt
sich hierbei um Menschen, die aus krisengeschüttelten
Staaten kommen.
Ein weiteres Beispiel. Das Bundeskriminalamt zeigt
in seiner polizeilichen Kriminalstatistik in der Tat einen
Anstieg der Schleuserkriminalität auf. Aber, Herr Marschewski, auch Sie haben heute wieder falsche Daten
genannt. Es gab nicht allein im vergangenen Jahr
12 000, sondern in den vergangenen drei Jahren zusamMarieluise Beck ({0})
men - ohne das verharmlosen zu wollen - 14 400 Fälle
von Schleuserkriminalität. Gleichzeitig - ich denke, das
sollte man wirklich einmal gemeinsam diskutieren - registrierte das BKA allein für das Jahr 1998 rund 15 100
Fälle von Betrug und Untreue im Zusammenhang mit
Beteiligungen und Kapitalanlagen und rund 18 500 Fälle
von Wirtschaftskriminalität im Anlage- und Finanzierungsbereich. Dies sind die Zahlen für ein Jahr. Mit anderen Worten: Die Zahl der Straftaten in diesen Bereichen der Wirtschaftskriminalität ist mehr als dreimal
so hoch wie die bei der Schleuserkriminalität. Trotzdem
werden von den Unionsparteien nur für Flüchtlinge
Ausländerzentralregister bzw. weitere Dateien gefordert.
Somit werden Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko und
potentielle Kriminelle - wie wir heute schon gehört haben - diffamiert.
Ich will mit der BKA-Statistik fortfahren, denn diese
Statistik nennt auch Schadenssummen zum Beispiel im
Bereich der von Ihnen als Begründung genannten Erschleichung von Sozialhilfe sowie in den obengenannten
anderen Bereichen von Wirtschaftskriminalität. Im einzelnen nennt das BKA für 1998 Schäden in Höhe von
2,5 Milliarden DM auf Grund von Betrugsdelikten,
Schäden in Höhe von 2,9 Milliarden DM durch Konkursbetrug und Schäden in Höhe von 1,1 Milliarden DM
durch Betrug bei Kapitalanlagen.
Delikte im Bereich der Erschleichung von Sozialhilfe
sind verglichen damit so unbedeutend, daß sie beim
BKA nur als Untergruppe in der Rubrik „Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen“ erfaßt werden. Für diese gesamte Schadensgruppe,
die also auch andere Kriminalitätsformen erfaßt, nennt
das BKA allein für 1998 Schäden in Höhe von 191 Millionen DM.
Mit anderen Worten: Die finanziellen Schäden, die
jedes Jahr durch Betrug entstehen, sind 13mal so groß
wie alle Schäden durch Erschleichung von Sozialhilfe.
Die finanziellen Schäden durch Konkursbetrug sind
15mal so groß, und die Schäden durch Kapitalanlagebetrug sind sechsmal so groß. Und Sie erzählen uns hier
diese Gruselgeschichten über illegale Einreise und über
Sozialhilfebetrug!
Um nicht falsch verstanden zu werden - ich habe es
eben schon einmal gesagt -: Kriminalitätsbekämpfung
und Verhinderung von Leistungsmißbrauch bei der
Sozialhilfe sind selbstverständlich legitim. Aber vor diesem Hintergrund und mit dieser Zielsetzung werden
immer mehr Überwachungsmechanismen eingerichtet meine Kollegin Beck hat es eben vorgetragen -, die in
keinem Verhältnis zu dem angestrebten Zweck stehen.
Opfer sind immer die Bevölkerungsgruppen, die über
keine oder nur über eine schwache Lobby verfügen:
Arme, Ausländer und andere Minderheiten. Das muß
man Ihnen einfach einmal ins Stammbuch schreiben.
({1})
Kein anderes Thema in diesem Land wurde in den
vergangenen Jahren von der CDU/CSU so hochgespielt
wie die sogenannte Ausländerkriminalität. Allein die Art
und Weise, wie Sie dieses Thema anpacken, ist ausländerfeindlich und rassismusfördernd.
Frau
Kollegin Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluß.
Im Grunde genommen habe ich
damit alles gesagt. Wir werden diesem Gesetzentwurf
auf gar keinen Fall zustimmen.
({0})
Als
nächster Redner hat der Bundesinnenminister Otto
Schily das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich gar
nicht vor, mich in dieser Debatte zu Wort zu melden;
denn heute findet erst die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs statt, und er wird noch im Ausschuß beraten
werden.
Wenn es darum geht, Schleuserkriminalität und Sozialhilfemißbrauch zu bekämpfen, dann gibt es niemanden
in diesem Plenarsaal, der diesen Zielen widerspricht.
({0})
Entscheidend ist die Frage nach dem richtigen Instrument. Sie müssen die Einwände, die von dem Kollegen
Barthel, von der Kollegin Beck und von dem Kollegen
Stadler vorgetragen worden sind, ernsthaft diskutieren.
({1})
Das heißt nicht, daß man nicht über andere Informationsmöglichkeiten für die Polizei oder für die Sozialhilfeämter nachdenken darf. Auch das muß man vorurteilsfrei diskutieren dürfen. Wir handeln nicht richtig, wenn
wir alle diese Fragen mit Denkverboten belegen; vielmehr sollten wir an die Probleme vorurteilsfrei herangehen. Wenn das geschieht, dann werden wir entdecken,
was die beste Lösung sein könnte.
Ich habe mich wegen eines einzigen Satzes des
Kollegen Marschewski zu Wort gemeldet. Er hat wieder die These aufgestellt, in Tampere sei außer schönen Wortgirlanden nichts passiert. Herr Marschewski,
obwohl es nach den Usancen nicht möglich ist, hätte
ich Sie gern einmal als Zuhörer zur Luxemburger Konferenz der EU-Innen- und -Justizminister eingeladen.
Dort haben die Justiz- und die Innenminister aller EUMitgliedstaaten - alle - gesagt, daß das Ergebnis von
Tampere sehr gut ist und daß es in wichtige Handlungsfelder hineinführt.
({2})
Wir haben von der Kommission einen Kalender, einen
sogenannten „score board“, in dem wir sehen, nach welchen Abläufen und unter welcher Verantwortung etwas
auf der Grundlage von Tampere in Gang kommt. Herr
Marschewski, ich kann nur sagen: Sie sind europapolitisch total vereinsamt.
({3})
Es tut mir um Sie herzlich leid. Ich bin so fair, anzuerkennen, daß die CDU/CSU früher durchaus eine beachtliche europapolitische Kompetenz hatte. Seit Sie
aber in der Opposition sind, haben Sie sie im Handumdrehen abgegeben. Das ist traurig. Dieser Trauer wollte
ich Ausdruck verleihen.
Vielen Dank meine Damen und Herren.
({4})
Herr
Marschewski, möchten Sie das Wort zu einer Kurzintervention?
({0})
- Bitte sehr.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ganz so einsam bin ich nun doch nicht, wie Sie an der Reaktion
meiner werten Kolleginnen und Kollegen festgestellt
haben dürften.
Herr Minister, für mich war Tampere zum Beispiel
hinsichtlich der Asylgesetzgebung kein Erfolg. Inwieweit ist denn bei sicheren Herkunftsstaaten, bei Drittstaaten eine Angleichung erfolgt, Herr Minister Schily?
({0})
Was haben Sie in bezug auf Burden-sharing erreicht?
- Nichts. Oder was haben Sie in der ganz wichtigen Frage der Angleichung der Asylbewerbergelder erreicht?
Die Leute kommen doch zu uns, weil ein Nord-SüdGefälle besteht.
Ich weiß, daß das alles sehr schwierig ist, und bedanke mich dafür, daß Sie gesagt haben, daß die Kompetenz
für Europa bei der Union liegt; keine Frage.
({1})
Nur, in diesen Fragen haben Sie, Herr Kollege Schily,
nichts erreicht. Gleiches gilt für die Verbrechensbekämpfung. Europol haben Sie in Kraft gesetzt. Wir haben die Vorleistung dazu erbracht.
({2})
Aber wie sieht es im Bereich der Angleichung des materiellen Rechts, im Bereich der europäischen Staatsanwaltschaften, im Bereich gemeinsamer Visapolitik, um
nur einiges zu nennen, aus? Tampere war für die Innenpolitik und für die Sicherheitspolitik ein schwarzes, kein
gutes Europa. Das darf ich Ihnen sagen.
({3})
Herr
Bundesminister, wollen Sie erwidern?
({0})
- Bitte schön.
Lieber
Kollege Marschewski, ich kann Ihnen nur zugute halten,
daß Sie es einfach nicht besser wissen. Das kann ja einmal passieren.
({0})
Aber Sie können noch nicht einmal anerkennen, daß
es eine große Leistung der deutschen EU-Präsidentschaft war, Europol arbeitsfähig gemacht zu haben, die
von allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union hochgelobt und anerkannt worden ist. Sie haben
vier Jahre Zeit gehabt, und es ist Ihnen nicht gelungen.
Ich kann die Vorarbeiten durchaus würdigen; aber ich
finde, wir haben den großen Erfolg, den Durchbruch errungen.
Sie haben über Schleuserkriminalität geredet. Wir
haben Eurodac zu Ende geführt.
({1})
Ich glaube, Herr Marschewski, Sie sollten ein wenig
mehr Sachlichkeit in die Debatte bringen, damit Sie Ihre
europapolitische Kompetenz vielleicht zurückgewinnen.
Das würde Ihnen guttun. Deshalb empfehle ich Ihnen
auch, einmal die Bilanz zu lesen.
Ich kann Ihnen übrigens auch etwas über die Zusammenarbeit sagen, soweit es die Flüchtlinge angeht.
Auch dort haben wir eine Lastenteilung erreicht, im Gegensatz zu Ihnen, die Sie dies hinsichtlich der bosnischen Flüchtlinge nicht erreicht haben. Seinerzeit hatten
wir 320 000 Flüchtlinge im Lande. Jetzt beträgt das
Verhältnis alles in allem 15 000 : 94 000.
Sie müssen sich wirklich daran gewöhnen, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Sie sollten sich nicht in
ideologischen Gefängnissen aufhalten. Das führt in der
Politik nicht weiter.
Vielen Dank.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Zeitlmann
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
- Ich habe bislang nicht gewußt, daß der Redner das
Mikrophon selbst einschalten muß.
({1})
- Herr Özdemir, die Vorstellung, Sie kämen einmal in
der Lederhose, genieße ich allerdings.
({2})
- Ich habe Ihnen gar nichts versprochen!
({3})
Aber jetzt komme ich zum AZR. Wer die bisherige
Debatte in diesem Hause mitbekommen hat - ich habe
sie von Anfang an verfolgt -, der stellt sich die Frage,
Herr Minister - darüber kann man streiten -, ob im
Rahmen einer solchen Debatte auf Europa eingegangen
werden muß und ob man sich durch einen Nebensatz des
Kollegen Marschewski veranlaßt sehen muß, am Thema
vorbeizudiskutieren. Der Schwerpunkt Ihres Redebeitrags hat das Thema verfehlt. Aber ich konzediere Ihnen
sofort: Sie haben zumindest - im Gegensatz zu den Vorrednern Ihrer Koalition - klar betont, daß Sie auch für
die Verhinderung von Mißbrauch eintreten. Darin bin
ich mit Ihnen d'accord. Ich habe zumindest erwartet, daß
jemand in dieser Debatte eine Prüfung des vorgelegten
Gesetzes unter diesem Gesichtspunkt im Ausschuß vorschlägt.
({4})
- Nein, ich habe gehört, wie jemand von polizeistaatlichen Methoden gesprochen hat, und zwar jemand, der
einen Text abgelesen hat, den ihm andere anscheinend
aufgeschrieben haben. Dies ist alles in Ordnung; dagegen habe ich nichts. Aber denjenigen, der den Begriff
„polizeistaatliche Regelung“ im Zusammenhang mit unserem freien Land verwendet, schnappe ich mir und mache ihn darauf aufmerksam, welche Denkweise dieser
Begriff offenbart.
({5})
- Nein, Sie waren es nicht. Frau Beck hat davon gesprochen. Ich bitte darum, deutlich zu machen - gerade auch
mit Rücksicht auf diejenigen, die draußen ihren Dienst
tun -, was polizeistaatlich ist und was nicht. Es ist eine
Dummheit, von so etwas in diesem Haus zu sprechen.
({6})
Ich sage Ihnen dies, auch wenn Sie ein Amt haben.
Ich gehe jetzt auf den Kern des AZR-Entwurfs ein.
Dieser Entwurf ist auf der Grundlage einer großen Umfrage entstanden, die der damalige Innenminister Kanther
unter Fachleuten, Profis vor Ort und Leitern der Ausländerbehörden - es war jede politische Couleur vertreten durchführen ließ. Es wurde gefragt: Was stört euch? Wo
drückt der Schuh? Wo läßt sich etwas verbessern? Was
wird in der Praxis benötigt? Auf diese Fragen hin wurden genau die Vorschläge unterbreitet, die in unserem
jetzigen Antrag enthalten sind. Man kann über diese
Vorschläge streiten.
Sie können dem deutschen Volk lautstark erklären,
daß die Einhaltung des Datenschutzes wichtiger ist als
die Strafverfolgung desjenigen, der zu uns kommt und
sich Leistungen erschleicht. Sie können auch erklären,
daß solche Leute Priorität genießen, weil man auf Grund
von Verfassungsbeschwerden, über die Sie sich bis jetzt
inhaltlich gar nicht geäußert haben, nichts gegen sie tun
könne.
Ich sitze jetzt ein Jahr auf der Oppositionsbank und
habe erlebt, daß dieser Innenminister außer dem Staatsangehörigkeitsrecht keine anderen Gesetzesinitiativen
auf den Weg gebracht hat. Wer es besser weiß, der möge
sich jetzt melden.
({7})
- Richtig, das Wahlstatistikgesetz; Entschuldigung, Herr
Minister. Dieses Gesetz - das muß ich fairerweise einräumen - war notwendig, weil sich die F.D.P. damals
quergelegt hat.
({8})
Aber Sie müssen sich jetzt auch mit einem Koalitionspartner auseinandersetzen, der im Zusammenhang mit
unserem freien Land unsinnigerweise von „Polizeistaat“
redet.
Die Zahl der illegal Zugewanderten ist im ersten
Halbjahr 1999 gestiegen. Sie hat etwa um die Hälfte zugenommen. Die Zahl der aufgegriffenen unerlaubt eingereisten Ausländer ist auf 18 754 gestiegen. Im ersten
Halbjahr gab es mehr als 1 500 Einschleusungen. Ich
habe leider nicht mehr die Zahl in Erinnerung - Herr
Kanther hatte sie immer parat -, wie viele Visa eine
durchschnittlich große Botschaft normalerweise erteilt.
Wer davon redet, daß die Zahl der illegal Zugewanderten überhaupt kein Thema sei und daß der Mißbrauch
von uns belegt werden müsse, dem muß ich entgegnen:
Entschuldigung, Sie sind weit weg von der Realität. Sie
müssen vielleicht innerhalb des nächsten Jahres selber
eine Praktikerkonferenz einberufen und diejenigen fragen, die draußen die Arbeit machen. Der Landrat in
meinem Wahlkreis berichtet mir, daß er keine Mitarbeiter mehr für das Ausländeramt bekommt, weil niemand
die dort anfallende Dreckarbeit machen möchte.
Erkundigen auch Sie sich einmal bei den Praktikern!
Sehr viele - ich möchte nicht generalisieren; es sind bestimmt nicht alle - betreiben Mißbrauch. Sie können
zwar hier die Augen davor verschließen, aber draußen
kennt man die Realität. Machen Sie nur so weiter wie
bisher und sagen Sie: Der Datenschutz ist ganz wichtig!
Behaupten Sie ruhig, wir würden die Ausländer diskriminieren.
In meiner Familie gibt es Ausländer, ich habe viele
Gäste aus dem Ausland. Ich habe mich auch schon verpflichtet, zu zahlen, wenn der Gast nicht zurückkehrt.
Aber sagen Sie diesen Leuten einmal, daß es schlimm
ist, wenn sie registriert werden! Ich habe überhaupt
nichts dagegen. Wenn ich morgen Herrn X einlade, dann
habe ich gar nichts dagegen, wenn das registriert wird,
weil ich weiß, daß es auch Schleuser gibt, die in Serie
Verpflichtungserklärungen abgeben, daß es aber auch
praktische Fälle gibt, daß jemand auf Grund einer solchen Verpflichtungserklärung einreist, aber ganz woanders hingeht und dort dann Anträge stellt.
Herr
Kollege Zeitlmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wiefelspütz?
Bei Wiefelspütz
immer.
Herr Kollege Zeitlmann,
weil ich Sie für einen prinzipiell anständigen Kollegen
halte, Wolfgang Zeitlmann ({0}): Wenn Sie einen
solchen Vorspann machen, ist Gefahr im Verzug.
- würde ich Sie herzlich
bitten, sich das Wort „Drecksarbeit“ im Zusammenhang
mit der Tätigkeit in Ausländerbehörden noch einmal zu
überlegen.
({0})
Ich will jetzt eine Frage an Sie richten: Ich habe ja ein
gewisses kollegiales Verständnis dafür, daß es Ihnen
Probleme bereitet, daß der Bundesinnenminister Ihnen
so wenig Angriffsfläche bietet. Sind Sie denn wirklich
ernstlich der Auffassung, daß die Leistung eines Bundesinnenministers daran zu messen ist, wie viele Gesetze er auftürmt?
Herr Wiefelspütz, zum einen: Ich habe mit dem Begriff „Drecksarbeit“ natürlich nur den Teil der Arbeit gemeint, bei
dem die Mitarbeiter in Ausländerbehörden pausenlos
belogen werden, pausenlos Mißbrauch erleben.
(Marieluise Beck ({0}) ({1}): Pausenlos? Er macht es nur
noch schlimmer! Es wird immer schlimmer,
was Sie sagen! - Gegenruf von der CDU/CSU:
Nein, nein, gehen Sie einmal da hin!)
- Gehen Sie doch einmal vor Ort und fragen Sie, ob das
eine schöne Tätigkeit ist, das zu erleben, was diese Herrschaften erleben. Das ist zu erheblichen Teilen eine
ganz, ganz schwierige Tätigkeit.
Natürlich, wenn Herr Wiefelspütz einen ausländischen Gast einlädt oder eine Verpflichtungserklärung
abgibt, ist das mit Sicherheit eine höchst unterhaltsame
Beschäftigung, weil er sich mit diesen Menschen
freundlich befassen kann. Sie wissen genau, was ich
meine. Wir muten den Ausländerbehörden eine schwierige Arbeit zu, die kaum ein anderer zu erbringen bereit
ist. Und das ist für einen solchen Mitarbeiter im Verhältnis zu dem, der soziale Leistungen austeilt, eine
Drecksarbeit. Damit meine ich doch nicht die Menschen,
die etwas beantragen. Ich habe viel Verständnis, auch
für den, der wegen einer drohenden Abschiebung vielleicht falsche Angaben macht. Verständnis habe ich dafür durchaus. Aber ich muß auch sehen, daß der Praktiker vor Ort vor der pausenlosen Inanspruchnahme dieses
Staates geschützt werden muß, daß der, der diese Tätigkeit zu erbringen hat, auch einen gewissen Anspruch
darauf hat, daß dieser Staat für ihn einsteht.
({2})
Herr Wiefelspütz, ich habe den Minister nicht an der
Zahl der eingereichten Gesetze gemessen, sondern ich
habe nur gesagt: In diesem einen Jahr habe ich außer
dem Staatsangehörigkeitsrecht - ich weiß gar nicht, wie
viele Entwürfe es waren - nichts gesehen. Ich bin dann
durch den Hinweis auf die Wahlstatistik verbessert worden. Aber abgesehen davon haben Sie nichts Wesentliches gebracht. Der Minister hätte in diesem einen Jahr
Zeit gehabt, seine Praktiker zu befragen, ob es nicht
doch ein Defizit gibt. Dann wäre er vermutlich zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie ich.
Meine Damen und Herren, eines möchte ich noch erwähnen. Herr Kollege Barthel, Sie haben hier erklärt,
die Union würde immer nur Gesetzentwürfe einreichen,
die zu einer - wie haben Sie es ausgedrückt? - Verschärfung des Ausländerrechts oder der Situation der
Ausländer führten. Ich habe Ihnen gerade die Zahl der
illegalen Zuwanderer genannt. Dieses Ihr Argument,
man müsse endlich etwas zur Erleichterung tun, müssen
Sie draußen einmal vorbringen!
({3})
- Doch, Sie haben wörtlich gesagt, man sollte jetzt eher
umgekehrt in Richtung Erleichterung gehen. Das müssen Sie auch mit Ihrem Innenminister absprechen. Er
war ja hier, und ich habe ihn gelobt. Er hat ja ganz offen
zugegeben, daß auch er Mißbrauch bekämpfen will.
Natürlich muß man sich in Ruhe anschauen, ob damit
womöglich eine Verbesserung der Bekämpfung von
Mißbrauch verbunden ist.
Meine Damen und Herren, nur einen Satz möchte ich
bitte noch sagen dürfen, damit wir klar sehen, um was es
geht. Schauen Sie, wir wollen mit dieser Möglichkeit des
AZR den Kreis der Nutzer eines Registers erweitern. Erstens soll künftig die Sozialbehörde, die eine Leistung
gewährt, direkt und nicht über Umwege hineinschauen
können. Wir meinen zweitens, daß die visaerteilenden
Stellen - sprich Ausländervertretungen - durchaus Überprüfungen vornehmen sollten, wenn einer zehnmal einlädt
und zehn Asylbewerber die Folge sind. Drittens. Wenn
die Polizei Identitätsprüfungen vor Ort vornimmt und
die Menschen keine Pässe, keine Ausweise oder Paßersatzpapiere dabei haben müssen, dann kann doch niemand
etwas dagegen haben, wenn der Polizeibeamte effektiver
und schneller zu der Feststellung kommen kann, daß der
Überprüfte legal hier ist und alles seine Ordnung hat.
Nach jetzigem Recht erschweren wir den vor Ort arbeitenden Polizeibeamten die Tätigkeit.
Nicht mehr und nicht weniger ist das, was wir vorschlagen. Demjenigen, der sich dagegen so heftig und
mit solchen Argumenten wehrt, als würde sich der Staat
in Richtung Polizeistaat verändern, kann ich nur sagen:
Gute Nacht, Deutschland! Aber diese Diskussion setzen
wir im Innenausschuß fort.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Der Herr
Kollege Veit wollte eine Zwischenfrage stellen. Ich habe
das nicht erkannt. Ich bitte diejenigen, die eine Zwischenfrage stellen wollen, aufzustehen, damit man sie
deutlich sieht. Jetzt ist das mit der Zwischenfrage etwas
schwierig, aber Sie können noch eine Kurzintervention
machen.
Ich mache eine wirkliche
Kurzintervention. Ich wollte als Praktiker, der zwölf
Jahre lang in der Sache engagiert einer Ausländerbehörde als Landrat vorgestanden hat, der, wenn auch nur für
sieben Jahre, die Verantwortung für die Abschiebebehörde in ganz Mittelhessen hatte, sagen: Ihre Qualifizierung der Arbeit von in der Ausländerbehörde tätigen
Menschen ist genauso unwürdig wie die Qualifizierung
von deren „Kundschaft“. Ich will Ihnen auch sagen,
worin ein wirkliches Problem unserer Mitarbeiter dort
bestand und immer noch besteht: Das sind zum Teil
schlechte und zu stringente Gesetze und im übrigen
Verwaltungsvorschriften auf Hunderten von Seiten, die
kein Mensch mehr übersieht. Deswegen kann dort ein
Beamter kaum noch seine Arbeit erledigen. Dafür tragen
in erster Linie Sie die Verantwortung.
({0})
Herr
Kollege Zeitlmann, wollen Sie erwidern? - Bitte schön.
Lieber Kollege
({0})
- „lieb“ nicht, sagt mir gerade ein Zwischenrufer, aber
ich wollte es höflich machen -,
({1})
ich konzediere Ihnen sofort, daß es viele Verwaltungsvorschriften gibt. Das ist sicher ein Übel. Die Tatsache,
daß Sie hier so tun, als wäre dies das alleinige Übel für
die Beamten und Angestellten in den Ausländerbehörden, beweist mir, daß Sie zwar Vorgesetzter waren, aber
keine Ahnung haben.
({2})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Joachim Stünker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Bis vor einem Jahr,
bevor ich die Ehre hatte, als Bundestagsabgeordneter in
dieses Hohe Haus gewählt zu werden, war ich Richter in
diesem Land, und zwar fast drei Jahrzehnte lang. Ich
muß Ihnen sagen: Mich erschreckt es langsam, mit welchen Platitüden umfangreiche Gesetzesänderungen und
neue Gesetze begründet werden,
({0})
wie mit Fremdenhaß und Fremdenfeindlichkeit und mit
Vokabeln wie Drecksarbeit, die die Beamten vor Ort
machen, argumentiert wird. Das beweist im Grunde nur
eines: Sie schüren Angst, aber Sie beschäftigen sich
nicht im Detail mit den Dingen, die es zu regeln gilt.
Das ist eigentlich nicht die Aufgabe dieses Hohen Hauses.
({1})
- Nein, ich bin nicht der einzige Gescheite hier,
({2})
aber ich bin offensichtlich der einzige - zumindest habe
ich nach dem, was von Ihrer Seite bisher dazu gesagt
worden ist, den Eindruck -, der sich mit dem Gesetz beschäftigt hat. Dazu habe ich von Ihrer Seite in den bisherigen Redebeiträgen so gut wie nichts gehört.
({3})
Lassen Sie mich von daher eines einleitend sagen:
Für uns Sozialdemokraten war schon immer Grundüberzeugung, den einzelnen vor Verbrechen zu schützen. Das ist eine Kernaufgabe des Staates, zu der wir
uns bekennen. Freiheit und Sicherheit sind eine untrennbare Einheit; daran geht in der Demokratie kein
Weg vorbei. Für uns Sozialdemokraten ist es selbstverständlich, daß der Rechtsstaat die Freiheitsrechte seiner
Bürger achtet. Aber wir sehen auch, daß heute in Demokratien nicht in erster Linie die Gefahr einer Übermacht des Staates, sondern eher die einer Ohnmacht
des Staates droht und dem entgegengewirkt werden
muß. Das ist keine Frage. Deshalb sind wir auch bereit,
mit Ihnen zu diskutieren und dort Lösungen zu finden,
wo es in der Tat beklagenswerte Mißbräuche gibt. Solche Mißbräuche müssen jedoch auch rechtstatsächlich
verifizierbar sein.
Von daher machen Sie sich vielleicht am Ende dieser
Debatte noch für ein paar Minuten die Mühe, mit mir
gemeinsam in das geltende Ausländerzentralregister hineinzusehen und zu schauen, was dort gegenwärtig geregelt ist.
Dieses Ausländerzentralregister hat drei Funktionen:
Erstens: die Identifizierungsfunktion. Das heißt, es
ermöglicht die Identifizierung von Ausländern an Hand
der gespeicherten Daten.
Zweitens: die Nachweisfunktion. Es weist Behörden
nach, die zu bestimmten Sachverhalten über nähere Informationen über Ausländer verfügen.
Drittens: die Substitutionsfunktion. Es hält selbst
wichtige Informationen über Ausländer bereit, die bei
Entscheidungen zugrunde gelegt werden können, wenn
eine Anfrage bei der aktenführenden Behörde zu lange
Zeit in Anspruch nehmen würde.
Somit deckt das Register die Informationsbedürfnisse
verschiedener öffentlicher Stellen ab und dient letztlich
einer Vielzahl von Zwecken. Es dient der Zusammenarbeit und der Aufgabenerfüllung von Behörden im Bereich des Ausländer- und Asylrechts, der polizeilichen
Gefahrenabwehr, der Strafverfolgung, der Bekämpfung
der illegalen Beschäftigung, des Verfassungsschutzes,
der Nachrichtendienste sowie der Staatsangehörigkeitsund Vertriebenenbehörden.
Für die Aufgabenerfüllung werden in dem Register
die zu unterschiedlichen Zwecken gesammelten Daten
verknüpft, die dann einem sehr weit gefaßten Kreis von
Nutzern und Anwendern, zum Teil im On-lineVerfahren, zur Verfügung gestellt werden. Das ist geltendes Recht. Damit stehen die Aufgaben dieses Ausländerzentralregisters wie bei jedem Register, das Personendaten sammelt, immer zugleich auch im Spannungsverhältnis zu dem Grundrecht auf Datenschutz.
Lassen Sie mich hierzu noch einmal die vier Essentials - Frau Beck hat es vorhin teilweise bereits getan -,
die das Bundesverfassungsgericht in seinem grundlegenden Urteil zu dem Grundrecht auf Datenschutz bereits im Jahre 1983 festgestellt hat, nennen. Wir können
hier doch nicht so tun, als würden wir in einem Raum
außerhalb unserer Verfassung argumentieren.
({4})
Das Bundesverfassungsgericht stellt erstens fest: Das
allgemeine Persönlichkeitsrecht beinhaltet unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung auch den
Schutz des einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung,
Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten.
Zweitens. In dieses Recht darf nur im überwiegenden
Allgemeininteresse eingegriffen werden.
Drittens. Hierzu ist eine gesetzliche Grundlage erforderlich, aus der sich Art und Umfang des Rechtseingriffs
normenklar ergeben müssen.
Viertens. Bereits der Gesetzgeber hat organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen,
welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken.
Zu diesen klassischen vier Grundsätzen steht in Ihrem
Entwurf nicht ein Wort.
Da das Grundrecht auf Datenschutz aus dem Schutz
des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Verbindung mit
dem Schutz der Menschenwürde abgeleitet wird, kann es
jedermann, ob er Deutscher oder Ausländer ist, in Anspruch nehmen. Das ist dabei zu berücksichtigen. Wir
werden deshalb in der jetzt beginnenden Ausschußberatung Teile der Vorschläge, die Sie zum AZR hier gemacht
haben, genau unter Berücksichtigung dieses genannten
Spannungsverhältnisses beraten. Wir werden uns die
rechtstatsächlichen Voraussetzungen und Untersuchungen
dazu ansehen. Danach werden wir gemeinsam zu prüfen
haben, wo tatsächliche Mißbrauchsbereiche gegeben sind
und letzten Endes Änderungsbedarf besteht. Wir treten
somit mit Ihnen in eine sachliche Diskussion ein, jedoch
nicht auf dem Niveau, auf dem sie heute nachmittag von
Ihnen teilweise begonnen worden ist.
({5})
Ein letzter Satz - ich hoffe, ich habe die Zeit dazu
noch, weil mir dieser Punkt wichtig ist - zu Ihrem Vorschlag der Einrichtung einer Warndatei. Dazu werden
Sie uns im Ergebnis nicht bewegen können; denn mit
diesem Vorschlag ist beabsichtigt, die vorhin von mir
genannten Funktionen zur Identifizierung, zum Nachweis und zur Substitution des Ausländerregisters zu erweitern, hin zu Mitteln zur Abwehr und zur Bekämpfung von Ausländern. Ein sachlicher Grund zur Einrichtung einer derartigen Warndatei besteht nicht und
wird auch in Ihrem Entwurf nicht genannt. Es ist nicht
ersichtlich und auch nicht näher begründet, aus welchen
Gründen die Sammlung derartiger Daten im Hinblick
auf die Bekämpfung von illegaler Einreise oder Schleuserkriminalität notwendig wäre. Letztendlich macht die
Wortwahl „Warndatei“ die programmatische Zielsetzung deutlich: Es soll vor denjenigen gewarnt werden,
deren Daten in dieser Kartei verzeichnet sind. Damit
wird der fatale Eindruck erweckt, als ob es sich hierbei
um Schwerverbrecher oder, allgemein bezeichnet, um
Kriminelle handele.
Betrachtet man Ihren Vorschlag genauer, ist festzustellen, daß Daten von Ausländern und übrigens auch
Deutschen gesammelt und zugänglich gemacht werden
sollen auf Grund von Handlungen und Verhaltensweisen, die lediglich einen Anfangsverdacht, also keinen
gerichtlich festgestellten Schuldnachweis, begründen.
Bei einem Anfangsverdacht also sollen Daten gesammelt werden, die über einen gewissen Zeitraum dokumentiert bleiben und auf die ein freier Zugriff der von
mir genannten Nutzer möglich ist.
Teilweise ist nicht einmal ein derartiger Anfangsverdacht Voraussetzung für die Eintragung. Vielmehr sollen quasi in Verantwortung für ein möglicherweise strafrechtlich relevantes Verhalten Dritter Daten von Personen registriert werden. Als zehn Jahre lang tätig gewesener Strafrichter kann ich nur sagen: Dies ist ein absurder Vorschlag.
({6})
Im Ergebnis wird im vorliegenden Gesetzentwurf die
Sammlung von Verdachtstaten gefordert. Das ist rechtsJoachim Stünker
staatlich unmöglich und nicht hinnehmbar. Von daher
kann Ihr Entwurf zur Schaffung einer Warndatei auch
nach den nun anstehenden Beratungen mit Sicherheit
nicht unsere Zustimmung finden.
Schönen Dank.
({7})
Nach der Rede des
Kollegen Stünker schließe ich die Aussprache. Weitere
Wortmeldungen liegen nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/1662 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 l und
Zusatzpunkt 2 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Union zur Änderung der Bilanz- und der
Konzernbilanzrichtlinie hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs ({0}), zur Verbesserung der Offenlegung von Jahresabschlüssen und
zur Änderung anderer handelsrechtlicher Bestimmungen ({1})
- Drucksache 14/1806 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. Mai 1998 über Partnerschaft
und Zusammenarbeit zur Gründung einer
Partnerschaft zwischen den Europäischen
Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Turkmenistan andererseits
- Drucksache 14/1787 ({3}) Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({4})
Finanzausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 11. Dezember 1997 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik El Salvador über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/1840 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({5})
Auswärtiger Ausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 28. August 1997 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Turkmenistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/1842 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({6})
Auswärtiger Ausschuß
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. September 1996 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der mazedonischen Regierung über
die Förderung und den gegenseitigen Schutz
von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/1843 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuß
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 21. März 1997 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kroatien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/1844 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({8})
Auswärtiger Ausschuß
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Meliorationsanlagengesetzes
({9})
- Drucksache 14/1832 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({10})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung humanitärer Auslandseinsätze ({11})
- Drucksache 14/628 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Verwaltungskostengesetzes
- Drucksache 14/639 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({13})
Rechtsausschuß
j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Apothekengesetzes
- Drucksache 14/756 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({14})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Bekämpfung der sinkenden Zahlungsmoral
durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes
({15})
- Drucksache 14/1878 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({16})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi
und der Fraktion der PDS
Überzählige Diesellokomotiven der DB AG
nicht verschrotten, sondern weiterverwenden
- Drucksache 14/1930 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Änderungsgesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte
und der Patentanwälte
- Drucksache 14/1958 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({17})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Antrag der PDS zum Umsatzsteuerrecht
auf Drucksache 14/1878 soll zusätzlich an den Ausschuß
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 l auf.
Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 17 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Änderung währungsrechtlicher Vorschriften infolge der Einführung des EuroBargeldes ({18})
- Drucksache 14/1673 ({19})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({20})
- Drucksache 14/1962 Berichterstattung:
Abgeordneter Otto Bernhardt
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei
Enthaltung der PDS-Fraktion ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Umwandlung der Deutschen Siedlungs- und Landesrentenbank in eine Aktiengesellschaft ({21})
- Drucksache 14/1672 ({22})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({23})
- Drucksache 14/1953 Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Bernhardt
Klaus Lennartz
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der PDS ist der Entwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die
Stimmen der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 17 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung insolvenzrechtlicher und kreditwesenrechtlicher Vorschriften
- Drucksachen 14/1539, 14/1931 ({24})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({25})
- Drucksache 14/1987 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Rainer Funke
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei
Enthaltung der PDS ist der Gesetzentwurf damit in
zweiter Beratung angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der Fraktion der PDS ist der Gesetzentwurf angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 d:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
9. September 1998 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der
Französischen Republik, der Regierung der Italienischen Republik und der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zur Gründung der Gemeinsamen Organisation für Rüstungskooperation ({26}) OCCAR ({27})
- Drucksache 14/1709 ({28})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({29})
- Drucksache 14/1943 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Opel
Kurt J. Rossmanith
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({30}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/1945 Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Volker Kröning
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Wir kommen zur
zweiten Beratung
und Schlußabstimmung. Der Verteidigungsausschuß
empfiehlt auf Drucksache 14/1943, den Gesetzentwurf
unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer dagegen ist, möge sich jetzt erheben. - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Ablehnung durch die
PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verleihung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit an die Internationale Kommission
zum Schutze des Rheins ({31})
- Drucksache 14/1017 ({32})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({33})
- Drucksache 14/1823 Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Kurt-Dieter Grill
Winfried Hermann
Ulrike Flach
Eva-Maria Bulling-Schröter
Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/1823, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenproben und Enthaltungen sehe ich keine. Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 f:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
5. November 1998 zwischen der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland und der
Regierung der Arabischen Republik Ägypten
über ihre gegenseitigen Seeschiffahrtsbeziehungen
- Drucksache 14/1090 ({34})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({35})
- Drucksache 14/1845 Berichterstattung:
Abgeordneter Konrad Kunick
Wir kommen zur
zweiten Beratung
und Schlußabstimmung. Der Ausschuß für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache
14/1845, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Ich sehe keine Enthaltungen
und Gegenstimmen. Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Tagesordnungspunkt 17 g:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({36}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1999
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02
Titel 683 06 - Zuweisung nach dem Gesetz
über die Verbilligung von Gasöl durch Betriebe der Landwirtschaft ({37}) - Drucksachen 14/1345, 14/1577 Nr. 5, 14/1783 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Rössel
Iris Hoffmann ({38})
Josef Hollerith
Matthias Berninger
Dr. Günter Rexrodt
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1783,
von der Unterrichtung Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt
für diese Beschlußempfehlung?
({39})
- Sie können ja die Kenntnisnahme verweigern, Herr
Kollege. - Alle stimmen dafür. Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 h:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({40}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1999
Überplanmäßige Ausgabe im Einzelplan 23 Kapitel 23 02 Titel 836 03 - Beteiligung der
Bundesrepublik Deutschland am Kapital der
Asiatischen Entwicklungsbank, am Asiatischen Entwicklungsfonds sowie am Sonderfonds für Technische Hilfe
- Drucksachen 14/1431, 14/1616 Nr. 1.7,
14/1785 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Hermenau
Dr. Emil Schnell
Michael von Schmude
Jürgen Koppelin
Dr. Barbara Höll
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1785, von
der Unterrichtung Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für
diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen nun zu Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses. Als erstes rufe ich Tagesordnungspunkt 17 i auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({41})
Sammelübersicht 88 zu Petitionen
- Drucksache 14/1862 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei Stimmenthaltung der Fraktion der
PDS ist die Sammelübersicht 88 angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 j:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({42})
Sammelübersicht 89 zu Petitionen
- Drucksache 14/1863 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei Enthaltung der Fraktion der PDS ist
die Sammelübersicht 89 angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 k:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({43})
Sammelübersicht 90 zu Petitionen
- Drucksache 14/1864 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? Einige Mitglieder der PDS-Fraktion haben sich enthalten.
({44})
- Die PDS hat also zugestimmt. - Gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. ist die Sammelübersicht 90
damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 l:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({45})
Sammelübersicht 91 zu Petitionen
- Drucksache 14/1865 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS-Fraktion ist die
Sammelübersicht 91 angenommen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
OSZE-Gipfel in Istanbul - für eine Stärkung
der Handlungsfähigkeit der OSZE
- Drucksache 14/1959 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({46})
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Neue europäische Sicherheitsarchitektur
- Drucksache 14/1771 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({47})
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine gute Tradition,
daß wir vor diesen Gipfeln gemeinsam beschließen, welche politische Botschaft das Parlament an den Gipfel senden möchte. Insbesondere in dem Bereich Abrüstung und
Rüstungskontrolle haben wir es immer geschafft, daß
ein gemeinsamer Antrag bei allen Fraktionen eine breite
Zustimmung gefunden hat. Dies zeigt, wie sehr wir die
Arbeit der OSZE schätzen, wie sehr wir sie gemeinsam
unterstützen wollen und wie wichtig sie uns ist.
Die OSZE ist uns deshalb wichtig, weil sie eine Organisation ist, die für Demokratie, für Menschenrechte
und Rechtsstaatlichkeit, für Minderheitenschutz sowie
für Abrüstung und Vertrauensbildung in Gesamteuropa
- in dem Raum, in dem wir gemeinsam leben - eintritt.
({0})
Die OSZE ist eine Organisation gemeinsamer Sicherheit, die sich über den Raum von Vancouver bis Wladiwostok erstreckt. Wie wichtig gemeinsame Sicherheit
ist, wissen wir ganz besonders in unserer Zeit zu schätzen, in der wir immer wieder mit Krisen konfrontiert
werden, von denen wir eigentlich gedacht hatten, daß es
sie nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation in Europa nicht mehr geben würde.
Dieser Gipfel hat eine besondere Bedeutung, weil er
in den Bereichen Abrüstung, Rüstungskontrolle, Transparenz- und Vertrauensbildung - die Krisenprävention
ist in unserer Zeit ganz wichtig geworden - sowie der
Stärkung der OSZE hinsichtlich ihrer Missionen zur
Friedenserhaltung wichtige Beschlüsse zu fassen hat.
Wir wollen alle gemeinsam die OSZE stärken. Ich
möchte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern,
daß wir mit unserer Delegation bei der OSZEParlamentarierversammlung in diesem Jahr einen Antrag
eingebracht haben, der eine sehr breite Akzeptanz gefunden hat. In diesem Antrag haben wir die verschiedenen Maßnahmen aufgezählt, die wir uns zur Stärkung
der OSZE wünschen. Es sieht aber nicht so aus, als
wenn der Gipfel in Istanbul all unsere Wünsche erfüllen
würde. Aber wenn er ein Erfolg wird - was wir uns alle
wünschen -, wird er uns ein gutes Stück weiterbringen.
({1})
Wir wollen auf der Grundlage der Erfahrungen aus
dem Bosnien- und dem Kosovo-Konflikt die OSZE in
ihrer Handlungsfähigkeit stärken. Wir wollen auch, daß
sie auf Krisen schneller reagiert, damit sie eingreifen
kann, bevor Blut geflossen ist, und damit sie in die Lage
versetzt wird, Konflikte zu verhindern.
Der Erfolg des Gipfels liegt also in unser aller Interesse. Ein ganz wichtiger Punkt auf der Agenda ist eine
Neufassung des KSE-Vertrages, die beschlossen werden
soll. Weitere wichtige Punkte sind das Wiener Dokument - ich komme gleich darauf zurück - und eine neue
Sicherheitscharta für Europa, die festlegen soll, unter
welchen Bedingungen gemeinsame Sicherheit in Europa
fortgeschrieben werden kann, und die die gemeinsame
Sicherheitsarchitektur stärken soll, die wir uns wünschen. Die Rahmenbedingungen dafür sollen in dieser
Charta niedergelegt werden.
Meine Damen und Herren, es zeichnet sich ab, daß
dieser OSZE-Gipfel ganz wichtig ist und daß uns allen an
einem Fortschritt gelegen sein muß. Ein Scheitern hätte
für uns unter Umständen ganz fatale Folgen. Das wäre
nämlich ein fatales Signal für die Rüstungskontrolle nicht
nur in Europa, sondern weltweit. Nach dem, was wir
letzte Woche diskutiert haben, nämlich die Nichtratifikation des Atomteststopabkommens durch die USA, wäre
dies ein weiteres Signal dafür, daß Abrüstung, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung nicht mehr gefragt sind
und wir zu einer Politik zurückkehren, die wir überwunden zu haben glaubten. Deshalb, so glaube ich, liegt uns
allen am Herzen, daß dieser Gipfel ein Erfolg wird.
({2})
Nach all dem, was im OSZE-Raum aktuell abläuft und
bisher abgelaufen ist, wissen wir, daß dies gar nicht so
einfach sein wird. Mein Kollege Weisskirchen wird
nachher noch auf das Thema Tschetschenien eingehen.
Der neue KSE-Vertrag ist deshalb so wichtig, weil er
den KSE-Vertrag ablöst, der noch ganz deutlich das Signum der Blockkonfrontation trägt, und weil durch ihn
die Stabilität in Europa gefestigt werden kann, dies insbesondere in einer Situation, in der die Kooperation mit
Rußland nach der NATO-Osterweiterung schwieriger
geworden ist. Wir alle sehen dies im täglichen politischen
Geschehen. Die Kooperation mit Rußland kann durch
diesen neuen KSE-Vertrag wesentlich verbessert werden.
Rußland kann in das System der Vertrauensbildung, Abrüstung und Zusammenarbeit eingebunden werden. Die
sicherheitspolitische Zusammenarbeit wird daher auch in
Zukunft eine der wesentlichen Leistungen der OSZE sein.
Ein weiteres Instrument, über das auf der Konferenz
in Istanbul gesprochen werden wird, ist das Wiener Dokument. Dies ist ein zentrales Dokument, um im militärischen Bereich Vertrauen zu bilden und Transparenz zu
schaffen. Ich denke, wir wissen, wie wichtig das ist.
Auch die Sicherheitscharta - diese Charta ist neu;
sie wurde 1994 in Budapest gemeinsam verabredet soll auf dem Gipfel in Istanbul beschlossen werden. Dies
ist zwar kein völkerrechtlich bindender Vertrag, aber ein
politisch bindendes Dokument. Dieses Dokument soll
sozusagen die Plazierung der OSZE im Verhältnis zu
den anderen Sicherheitsorganisationen, also der NATO,
der WEU, der UNO usw. genau beschreiben. Es soll
aber auch die Möglichkeiten der OSZE verbessern auch dies wieder unter dem Gesichtspunkt der NATOOsterweiterung und der gegenwärtigen Konflikte -, weil
Vizepräsidentin Anke Fuchs
die sicherheitspolitischen Interessen aller beteiligten
Staaten berücksichtigt werden.
Wir alle sind angesichts der Erfahrungen aus den
Konflikten in Bosnien und dem Kosovo zu dem Ergebnis gekommen, daß es dringend notwendig ist, die
Handlungsfähigkeit der OSZE zu stärken. Thema auf
dieser Konferenz wird daher auch sein: Wie stärken wir
die Handlungsfähigkeit der OSZE insbesondere in Krisensituationen? Natürlich wünschen wir uns mehr, als
auf dem Gipfel beschlossen werden kann. Die OSZE
wird aber zu einer Organisation werden, die in der Tat
all die Konflikte, die anstehen, bewältigen kann. Gerade
die momentanen Ereignisse in Tschetschenien sind ein
wichtiger Hinweis darauf, daß wir in diesem Bereich
dringend eine Stärkung brauchen.
({3})
Es ist aber von zentraler Wichtigkeit, die Instrumente
der Krisenprävention zu stärken, um auch so die Handlungsfähigkeit der OSZE zu verbessern. Die Vorgänge
in Bosnien und im Kosovo haben das gezeigt. Wir versuchen, aus dem zu lernen, was dort möglicherweise
schiefgelaufen ist oder mühsam war. Ich erinnere nur
daran, wie schwierig es war, das große Kontingent der
Kosovo Verification Mission aufzustellen, und wie gut
es gewesen wäre, wenn wir uns sehr viel früher darangemacht hätten, für so etwas Vorsorge zu treffen.
Dies ist jetzt geschehen. Ein Bestandteil dessen ist
das, was die Bundesrepublik eingeleitet hat: eine Ausbildung für solche Emissionäre, für Fachleute - ich mag
das Wort „Friedensfachkräfte“ nicht; aber es wird in
diesem Fall angewandt -, die dann für das schon gerüstet sind, was sie in einer Konfliktsituation erwartet.
Man kann die Menschen ja nicht einfach unvorbereitet
in solche Situationen schicken. Deshalb ist es ganz
wichtig, einen großen Personenkreis auszubilden und
auf solche Missionen vorzubereiten, der schnell einsetzbar ist, wenn es „zu brennen“ beginnt.
Möglicherweise wird dieser Gipfel auch einen Schritt
hin zu sogenannten zivilen Stand-by-Forces - das ist
auch kein sonderlich schöner Ausdruck, weil er so militärisch klingt - machen. Ein wichtiger Ansatz ist dabei
der Vorschlag der USA, eine REACT-Truppe, also Rapid Expert Assistant and Cooperation Teams, als Standby-Truppe vorzuhalten, die mit Konflikten umgehen und
sehr schnell dorthin geschickt werden kann.
Darüber hinaus muß uns auch klar sein, daß wir im
Bereich der Polizei mehr tun müssen, als bisher geplant
und angedacht worden ist.
({4})
Ein Schwerpunkt der nächsten Jahre muß sein, zu regeln, daß Polizeikräfte sehr schnell in Krisengebiete entsandt werden können. Wir müssen ja nicht immer Soldaten schicken, sondern es geht auch auf einer zivilen
Ebene. Aber es muß eben ein Ordnungsfaktor sein.
({5})
Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich
noch einmal darauf zurückkommen, wie wichtig es sein
wird, daß diese Konferenz Erfolg hat; denn sie wird
auch Auswirkungen darauf haben, ob der Stabilitätspakt,
wie wir ihn jetzt geplant haben und angegangen sind, zu
einem Erfolg geführt werden kann. Scheitert dieser Pakt
ausgerechnet in der Organisation, die eigentlich dafür
geschaffen ist, solche Projekte durchzuführen, hätte dies
erhebliche Auswirkungen zum Beispiel auf den Sicherheitstisch des Stabilitätspaktes, der ja nach dem Muster
der bisherigen OSZE-Vorschläge zur Abrüstung, zur
Rüstungskontrolle und zur regionalen Vertrauensbildung
enthalten soll. Auch von daher haben wir ein großes Interesse daran, daß dieser Gipfel ein Erfolg wird.
Er stellt aber keinen Endpunkt dar. Vielmehr geht es
um den Start in eine neue Dimension. Am Ende steht
das Ziel, daß auch von der OSZE Krisenbewältigung
ausgeht. Statt immer auf militärische Organisation zurückzugreifen, sollten wir den zivilen Teil der Konfliktprävention stärken. Das ist uns allen enorm wichtig.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der OSZEGipfel in Istanbul dient dem Ziel, die Handlungsfähigkeit der OSZE zu stärken, eine europäische Sicherheitscharta zu verabschieden, das Konzept eines gesamteuropäischen Sicherheitsraumes ohne neue Trennlinien zu
bekräftigen und die Verpflichtung aller Teilnehmerstaaten zur Förderung von Menschenrechten, Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit hervorzuheben.
Der brutale Krieg in Tschetschenien steht im Widerspruch zu jeder dieser Zielvorgaben und gefährdet den
OSZE-Gipfel insgesamt.
Deshalb richte ich für die CDU/CSU-Fraktion zuerst einen eindringlichen Appell an die russische Regierung,
den unangemessenen und unverhältnismäßigen Krieg
gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung unverzüglich zu beenden.
({0})
Wir als CDU/CSU-Fraktion können das in dieser
Deutlichkeit sagen, weil wir nicht im Verdacht stehen,
allein eine antirussische Politik zu verfolgen. Im Gegenteil, die heutigen Regierungsfraktionen haben uns
in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen, der
russischen Regierung zu weit entgegenzukommen und
falsche Rücksichten auf die russische Innenpolitik zu
nehmen.
Wir haben den schwierigen Weg der Russischen
Föderation zu Demokratie, Rechtstaatlichkeit und
Marktwirtschaft immer sehr realistisch und kritisch verfolgt. Wir haben nüchtern abgewägt, wie wir diese Entwicklung fördern können, soweit wir von außen überhaupt Einfluß haben. Unsere Haltung ist klar und gilt
unverändert: Wir wollen, daß Rußland zu Europa gehört.
Aber solange die russische Regierung die Menschenrechte ihrer eigenen Bevölkerung so massiv verletzt,
steht sie außerhalb des Fundamentes, auf dem das Haus
Europa gebaut wird.
({1})
Der Krieg in Tschetschenien schadet den eigenen russischen Interessen. Er macht die innere Entwicklung
nicht stabiler, sondern im Gegenteil unkalkulierbar.
Selbstverständlich hat jeder Staat das Recht, sich gegen
Terroranschläge zur Wehr zu setzen. Die russische
Kriegführung in Tschetschenien aber ist völlig unangemessen. Sie geht rücksichtslos gegen die Bewohner vor
und nimmt hohe Verluste bei der Zivilbevölkerung in
Kauf. Das ist ein krasser Verstoß gegen den OSZEVerhaltenskodex, der verlangt, daß im Falle eines Streitkräfteeinsatzes innerhalb eines Mitgliedstaates keine unverhältnismäßige Gewalt angewendet werden darf und
Beeinträchtigungen von Zivilpersonen zu vermeiden
sind. Gerade Rußland hat immer darauf gedrängt, eine
gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur auf der OSZE
aufzubauen, damit Rußland und die neuen Staaten im
Kaukasus und in Ost- und Südosteuropa eingebunden
sind. Mit dem Krieg in Tschetschenien zerstört Rußland
die Autorität der Organisation, von der es sich selbst
mehr Einfluß auf die Sicherheitspolitik in Europa erhofft.
Es ist bezeichnend, daß wir als Opposition im Deutschen Bundestag diesen Appell an die russische Regierung richten müssen. Von der Bundesregierung haben
wir dazu bisher leider kein öffentliches Wort gehört.
({2})
Das steht im Gegensatz zu der überzogenen außenpolitischen Rhetorik, die die Koalition ansonsten untereinander und in der Öffentlichkeit pflegt.
({3})
Dabei haben doch Sozialdemokraten und Sie von der
grünen Fraktion in der Vergangenheit immer soviel
Wert auf die Krisenbewältigung im Rahmen der OSZE
gelegt, weil Sie der NATO mißtraut haben. Sie, Herr
Staatsminister, waren einer der Wortführer gegen die
NATO-Osterweiterung. Sie haben sie als Militarisierung
der Außenpolitik diffamiert.
({4})
Ferner haben Sie behauptet, wir könnten die Sicherheit
in Europa besser gewährleisten, wenn wir ausschließlich
auf die OSZE setzen.
({5})
Wir, die CDU/CSU, waren immer realistischer. Wir
setzen uns für die Stärkung der OSZE ein, weil sie die
einzige Sicherheitsinstitution in Europa ist, die alle
NATO-Mitglieder und alle europäischen und zentralasiatischen Staaten, die nicht der NATO angehören, umfaßt. Wir unterstützen die Forderung, daß die OSZE
direkt den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anrufen
kann, notfalls auch ohne Zustimmung der an einem
Konflikt beteiligten Staaten. Wir sind ja auch für den
Vorschlag, der OSZE eigene friedenserhaltende Maßnahmen zu ermöglichen, darunter auch den Einsatz von
Streitkräften. Aber wir haben berechtigte Zweifel daran,
ob die OSZE ohne die NATO und deren Instrumente im
Ernstfall wirklich handlungsfähig ist. Das gilt hinsichtlich der Krisenprävention wie hinsichtlich der Krisenreaktion.
Leider haben sich unsere Zweifel einmal mehr bestätigt, weil der Krieg in Tschetschenien die OSZE und ihre Prinzipien desavouiert. Welchen Wert hat ein Vertrag,
dessen Bestimmungen schon bei der Unterschrift nicht
eingehalten werden? Auf dem Istanbuler Gipfel soll der
KSE-Vertrag an die neuen Sicherheitsgegebenheiten in
Europa angepaßt werden. Aber die Truppenstärke der
russischen Streitkräfte im Kaukasus liegt schon heute
erheblich über den vertraglich festgelegten Werten.
Glauben Sie im Ernst, daß es etwa in Armenien, wo
nach dem Terroranschlag im Parlament die Armee die
politische Kontrolle übernommen hat, eine Zustimmung
für eine Reduzierung der konventionellen Streitkräfte
geben wird?
Die Vorstellung von der OSZE, die der Außenminister und seine Partei während der Debatte um die
NATO-Osterweiterung vertreten haben, war Wunschdenken. Wir empfinden darüber keine Schadenfreude,
im Gegenteil: Wir alle haben Anlaß zu großer Sorge.
Wenn Sie Ihre Haltung jetzt an die Realitäten anpassen,
ist dagegen nichts einzuwenden. Aber die Bundesregierung kann zum Krieg in Tschetschenien nicht einfach
schweigen. Das ist falsch gegenüber unserem Partner
Rußland, und das ist falsch gegenüber der OSZE. Wenn
während des Gipfels in Istanbul die Ziele, die sich die
OSZE dort setzt und die wir gemeinsam unterstützen,
durch einen unverhältnismäßigen Krieg und durch massive Menschenrechtsverletzungen ad absurdum geführt
werden, ist die Erfolglosigkeit des Gipfels vorprogrammiert.
Der Herr Außenminister hält es nicht für nötig, dazu
vor dem Parlament Stellung zu nehmen. Er hat zunehmend ein Problem mit seiner moralisierenden Rhetorik,
die ethische Grundsätze der deutschen Außenpolitik je
nach Opportunität für die eigene Position in Sachfragen
in Anspruch nimmt oder nicht. Keiner von denen, die
sich in der vergangenen Woche in der öffentlichen Debatte um die Lieferung eines Testpanzers an die Türkei
beinahe inflationär auf die Menschenrechte berufen haDr. Andreas Schockenhoff
ben - der Außenminister, seine Partei, viele Sozialdemokraten -, hat sich bisher in auch nur annähernd vergleichbarer Weise zu den eklatanten Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien geäußert.
({6})
- Das paßt nicht zusammen, Herr Lippelt. Ihr Wertrelativismus ist unglaubwürdig. Moral ist nicht beliebig.
Richten Sie das bitte dem Herrn Außenminister aus!
({7})
Während des Kosovo-Krieges hat Joschka Fischer
zum Vorgehen der Serben gegen die Kosovo-Albaner
gesagt, Auschwitz dürfe sich nicht wiederholen. Das hat
er natürlich getan, um die Pazifisten in Ihren Reihen zu
ködern, weil er sich der Zustimmung seiner Fraktion für
die Politik der Bundesregierung nicht sicher sein konnte.
Wir fanden diese Rhetorik unangemessen. Im Kosovo
sind schreckliche Verbrechen passiert, aber Auschwitz
ist einzigartig und darf durch keinen Vergleich relativiert werden.
({8})
Zum Krieg in Tschetschenien hat sich der Außenminister öffentlich überhaupt nicht geäußert. Totschweigen
ist das andere Extrem. Auch das finden wir unangemessen.
({9})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Lippelt?
Bitte.
Bitte sehr.
Herr Kollege, mit Respekt: Sind Ihnen etwa zwei Presseerklärungen, die der Außenminister selber gemacht
hat, und darüber hinaus eine Erklärung, die er zusammen mit dem italienischen und dem französischen
Außenminister abgegeben hat, völlig entgangen?
Herr Lippelt, angesichts der moralisierenden Töne und der starken Sprüche, die vom Bundesaußenminister in der letzten Woche im Zusammenhang mit der Türkeifrage zu
hören waren, ist ein Kommuniqué des Außenministeriums in dieser Frage zu wenig. Das ist genau der Relativismus, den ich Ihnen vorwerfe.
({0})
- Nein, der Außenminister hat sich öffentlich nicht erklärt. Es gab lediglich ein Kommuniqué, das schriftlich
verbreitet wurde. Ich sage es noch einmal: Im Verhältnis
zu dem Auftreten, was er sonst pflegt, ist das der massiven Verletzung von Menschenrechten in Tschetschenien
nicht angemessen.
Eine verläßliche, berechenbare Außen- und Sicherheitspolitik verträgt diesen Wertrelativismus nicht. Deshalb sagt die CDU/CSU in aller Klarheit: Die Raketen
auf dem Marktplatz von Sarajevo waren ein Verbrechen
gegen die Menschlichkeit. Die Raketen auf dem Marktplatz von Grosny waren ebenfalls ein Verbrechen gegen
die Menschlichkeit.
({1})
Es wird höchste Zeit, daß jemand von der Bundesregierung dazu in derselben Klarheit Stellung bezieht.
Vielen Dank.
({2})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
richtig - wie Herr Schockenhoff gesagt hat -, daß die
Ereignisse in Tschetschenien den OSZE-Gipfel in
Istanbul überschatten. Das Vorhaben, nach dem kalten
Krieg eine substantielle europäische Sicherheitscharta
zu verabschieden, ist gefährdet. Dieses Vorhaben allein
ist schon schwierig genug; denn es ist keine einfache
Aufgabe, die künftige Rolle der OSZE zwischen Vereinten Nationen, NATO, WEU und Europäischer Union zu gestalten. Ähnlich wie die UN ist die OSZE eine
Organisation von höchst heterogenen Staaten. Die Einhaltung der Menschenrechte - das ist die aktuelle Erfahrung und die traurige Wahrheit - kann leider nicht
vorausgesetzt werden.
Dennoch haben KSZE und OSZE ganz entscheidend
dazu beigetragen, die Prinzipien von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Frieden populär zu machen.
({0})
Meilensteine auf diesem weiten Weg waren die Schlußakte in Helsinki, die Charta von Paris und die Erklärung
von Lissabon. Trotzdem - das ist richtig - müssen wir
realistisch sein. Das Hauptverdienst der OSZE lag bisher
in ihrer dialogischen Struktur, ihrer Hilfe für junge Demokratien, Wahlbeobachtung und Wahlbegleitung. Es
bleibt eine Herkulesaufgabe, die Rolle der OSZE im
Prozeß hin zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu definieren und zu stärken.
Aber die OSZE hat eine hervorragende Rolle bei der
Bewältigung des Transformationsprozesses nach Beendigung der Blockkonfrontation gespielt. Sie hat nicht
nur Wahlen organisiert und sich bei der Wahlbeobachtung Verdienste erworben. Sie hat auch in sehr schwieDr. Andreas Schockenhoff
rigen Konflikten vermittelt. Ich erinnere hier nur an
Moldawien und Georgien.
({1})
Durch die Mitgliedschaft sämtlicher Nachfolgestaaten
der UdSSR in der OSZE ist sie eine transatlantischeurasische Veranstaltung mit höchst unterschiedlichem
Entwicklungsstand in den demokratischen Standards.
Auch wenn sich alle verpflichtet haben, die Menschen-,
Minderheiten- und demokratischen Rechte zu wahren,
ist es sehr schwer, dies einheitlich hinzubekommen.
In Istanbul erwartet die Teilnehmer wirklich kein
Feiertagsprogramm - Herr Schockenhoff, das haben Sie
ganz richtig gesehen -, sondern eine schwierige Mission. Vor allem sind wir tief besorgt über die Entwicklung
in Tschetschenien. Auf dem OSZE-Gipfel muß nach
Lösungen gesucht werden, wie der grausame Krieg dort
beendet werden kann.
({2})
Im ersten Tschetschenien-Krieg hat die OSZE eine
wichtige Vermittlerrolle innegehabt, und es ist offen, ob
es jetzt zu einer politischen Lösung kommen kann.
Rußland hat in Tschetschenien, wie Sie richtig bemerkt haben, den OSZE-Verhaltenskodex massiv verletzt. Der Krieg ist offensichtlich ein Krieg gegen die
Zivilbevölkerung. Minister Fischer hat das in einem
Brief an Iwanow auch entsprechend zum Ausdruck gebracht.
Selbstverständlich hat jeder Staat das Recht, gegen
Terroristen vorzugehen, und wir wissen, daß es auch auf
tschetschenischer Seite Geiselnahmen gab. Doch dies ist
keine militärische, sondern eine polizeiliche Aufgabe.
Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung dürfen
selbstverständlich nicht die Lebensgrundlagen eines
ganzen Volkes zerstört werden.
({3})
Rußland hat als Mitglied der OSZE alle Möglichkeiten, die Organisation um Vermittlung anzurufen. Die
Zulassung einer OSZE-Beobachtermission ist ein allererster Schritt in diese Richtung. Er genügt aber natürlich
nicht. Wir erwarten von Rußland auch, daß eine öffentliche und objektive Berichterstattung aus Tschetschenien
wieder möglich wird. Mit der Abschottung muß Schluß
sein. Wir brauchen mehr Transparenz.
({4})
Auch Rußland hat die Einsetzung des OSZEMedienbeauftragten unterstützt. Ihn jetzt ins Land zu
lassen wäre eine richtige Geste. Daß Hilfsorganisationen
wie dem Internationalen Roten Kreuz und Cap Anamur
endlich die Einreise gestattet wird, ist wichtig, aber angesichts der humanitären Katastrophe längst nicht ausreichend.
Wir dürfen bei dieser Debatte auch nicht außen vor
lassen, liebe Kollegen und Kolleginnen, daß dieser
Krieg in Rußland bis jetzt auf breite Zustimmung stößt.
Auch das ist ein Grund, warum eine schnelle Lösung
nicht in Sicht ist. Es ist gut, wenn es jetzt in Moskau
zumindest einzelne Stimmen gibt, die für Verhandlungen plädieren. Wir ermutigen alle Kräfte, die sich gegen
diesen Krieg einsetzen.
({5})
Lassen Sie mich zum Gipfel zurückkommen: Die
Unterzeichnung des KSE-Änderungsvertrags in Istanbul
soll ein neues Kapitel der konventionellen Abrüstung
in Europa eröffnen. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu
einer europäischen Sicherheitsarchitektur.
Herr Schockenhoff, natürlich kann man sich fragen:
Was ist ein Vertrag mit Vertragspartnern wert, die das
Papier mit Füßen treten? Wir wissen auch, daß Papier
geduldig ist. Aber der mühsame Aushandlungsprozeß
zeigt doch auch, wie bedeutend völkerrechtliche Verträge sind, wie notwendig die Einbeziehung aller Akteure
ist und welche Verpflichtung für alle daraus erwächst,
für ihre Einhaltung zu sorgen. Die Menschen sind darauf
angewiesen, daß dies so ist. Haben Sie denn dazu eine
Alternative?
({6})
Wir müssen alles tun, um die Bemühungen für Abrüstung und Rüstungskontrolle voranzubringen. Sie wissen
genau, daß der Außenminister deswegen jetzt auch in
den USA ist, denn all das ist nach der Weigerung des
Senats, den Atomteststoppvertrag zu ratifizieren, nicht
einfacher geworden.
Meine Damen und Herren, die Rahmenbedingungen
des Istanbuler Gipfels sind ungleich schwieriger, als
wir das bei der Vorbereitung erwartet haben. Es gibt
aber keinerlei Anlaß, danach zu fragen, was die OSZE
überhaupt noch machen kann. Ihre Erfolge sind oft
nicht spektakulär, aber gerade ihr zähes Wirken ist
notwendig. Die Ankündigung des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko, in seinem Land endlich freie
Wahlen durchführen zu lassen, und die Freilassungen
von Oppositionellen sind Erfolge des beharrlichen
Wirkens vor Ort, weil sich die OSZE-Vertreter nicht
haben beirren lassen.
({7})
Der Gipfel in Istanbul kann nicht business as usual
sein. Noch gibt es Chancen, im Rahmen der OSZE auf
Rußland einzuwirken. Jede Einflußmöglichkeit muß genutzt werden, um den grausamen Krieg gegen die Bevölkerung in Tschetschenien zu beenden und die Abrüstung voranzubringen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Werner Hoyer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Grießhaber
hat zu Recht auf die langfristigen Entwicklungslinien
der internationalen Politik und der Außenpolitik hingewiesen. Der zehnte Jahrestag des Falls der Mauer, den
wir in der nächsten Woche feiern - ein überaus glückliches Ereignis in der deutschen Geschichte -, hat natürlich etwas mit dem Gegenstand unserer heutigen Debatte
zu tun, nämlich mit dem Prozeß, der, von Walter Scheel
und Willy Brandt angelegt, in Helsinki seinen ersten
großen Höhepunkt fand und der heute einer Fortentwicklung der Organisation, in die dieser Prozeß mittlerweile eingebettet ist, bedarf.
Deshalb ist es schon bedrückend, daß dieser Gipfel in
Istanbul offensichtlich unter einem eher ungünstigen
Stern steht, und zwar aus zwei Gründen: Erstens lastet
die Katastrophe in Tschetschenien wie Blei auf den
Vorbereitungen dieser Tagung. Auch die - wie ich
fand - eindrucksvollen und bedrückenden Erörterungen
gestern im Auswärtigen Ausschuß haben uns, was die
Einschätzung der Vorgänge im Kaukasus angeht, letztendlich nicht entscheidend weitergebracht. Ich bin allenfalls noch vorsichtiger in der Bewertung und der Analyse der Vorgänge dort geworden.
Zweitens haben wir nach Meinung der Freien Demokraten die notwendige kritische Bilanz des KosovoKrieges noch längst nicht gezogen.
({0})
Die Erleichterung darüber, daß wir - wenn man das so
sagen darf - wohl noch mit einem blauen Auge davongekommen sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen,
daß gerade im Hinblick auf die Interdependenz zwischen den großen internationalen Organisationen die
erforderlichen Schlußfolgerungen noch nicht gezogen
sind.
Im übrigen muß klar sein, daß im Kosovo noch gewaltige Herausforderungen zu bewältigen sind, wenn
denn alles einen Sinn gehabt haben soll. Bei diesen Herausforderungen dürfen wir diejenigen, die nach dem
Ende des Krieges mit der Bewältigung des Friedens
fertig werden müssen, nicht allein lassen. Das sind zum
großen Teil wieder deutsche Soldaten und Polizeibeamte - qualitativ und quantitativ in ganz herausragender Form - sowie viele internationale und nationale
Hilfsorganisationen.
Für die Rolle, die UNO und OSZE in diesem Kontext
in Zukunft spielen können und müssen, und für die
Rolle, die sich die NATO aufbürden kann, wird die
Bilanz, die wir noch ziehen müssen, von Bedeutung
sein.
Unser wichtiger Partner Rußland ist gegenwärtig
natürlich in einer ganz besonders heiklen Lage. Denn
während in Istanbul in feierlichen Erklärungen OSZEPrinzipien abgefeiert werden, muß sich Rußland im
Hinblick auf Tschetschenien bereits an diesen Prinzipien
messen lassen. Es kann dann auch wohl nicht wahr sein,
daß auf Grund ausdrücklichen russischen Wunsches in
Istanbul keine freie Debatte, sondern nur ein Herunterbeten abgestimmter und austarierter Statements stattfinden soll. Hierauf sollte sich die Bundesregierung nicht
einlassen.
({1})
In den letzten Tagen hat es interessante Bewegungen
gegeben. Es ist anzuerkennen, daß Ministerpräsident
Putin nunmehr anbietet, der Entsendung einer OSZEBeobachtermission zuzustimmen und auch Hilfsorganisationen ins Land zu lassen. Das wird auch allerhöchste
Zeit. Daß das jetzt geschieht, zeigt, wie sehr Rußland an
Istanbul und dem OSZE-Prozeß sowie daran interessiert
ist, daß der OSZE mehr Verantwortung übertragen wird.
Das sollte die Bundesregierung nutzen, um Rußland zu
Bewegung zu veranlassen.
Erstens. Rußland sollte seine Blockadehaltung beim
Konsens-minus-eins-Prinzip aufgeben. Wer wie Rußland die Übertragung von mehr Verantwortung auf die
OSZE wünscht, wird unglaubwürdig, wenn er am Einstimmigkeitsprinzip festhält.
({2})
Die Zukunftsfähigkeit der OSZE wird weitgehend
davon abhängen, ob es in einer konkreten Situation
einem Völkerrechtsbrecher oder einem Menschenrechtsverletzer möglich sein wird, durch schlichten
Verweis auf nationale Souveränitätsrechte das Tätigwerden der Völkergemeinschaft zu verhindern. Spätestens seit Kosovo müßte dieses Denken eigentlich überwunden sein.
Die aktuelle Debatte in der UNO-Generalversammlung zeigt, daß erheblich mehr Dynamik in die Diskussion gekommen ist. Das sollte die OSZE-Partner ermutigen. Das Völkerrecht ist eben nicht statisch, sondern
bedarf im historischen Prozeß der behutsamen, aber
mutigen Fortentwicklung. Der Mensch rückt in den
Mittelpunkt des Völkerrechts. Für Liberale ist das ein
ganz gewaltiger Fortschritt.
({3})
Die humanitäre Intervention zum Schutz der Opfer
und das Statut von Rom zur Verfolgung der Täter markieren einen Epochenwandel, der nach unserer Auffassung ein Fortschritt im Sinne der Menschlichkeit ist. In
Zukunft wird das alte Völkerrechtsverständnis mit seiner
starken Betonung staatlicher Souveränität nicht mehr als
Schutzschild für großformatige und systematische Menschenrechtsverletzungen herhalten können, und das ist
gut so.
({4})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen im Saal, ich bitte darum, zuzuhören und
Gesprächsbedarf außerhalb des Raumes zu befriedigen.
({0})
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Ich bedanke mich, Frau
Präsidentin.
In diesen Kontext gehört die überfällige Reform der
Vereinten Nationen ebenso wie die beherzte Weiterentwicklung der OSZE. Rußland sollte dabei aktiver Partner und nicht Bremser sein. Aber es muß eben auch
glaubwürdig sein.
Zweitens. Die Bundesregierung sollte Rußland ermutigen, seine Haltung zum Verhältnis von NATO und
OSZE endlich über Bord zu werfen. Es war von vornherein ein fundamentales Mißverständnis oder eine Versuchung, der man offensichtlich nicht widerstehen
konnte, der OSZE die Rolle eines NATO-Nachfolgers
anzudichten. Diesem Irrtum war nicht nur Rußland aufgesessen, auf dieses Glatteis wollten uns nicht nur frühere Kreml-Chefs ziehen; vielmehr konnte auch mancher,
der heute auf der Regierungsbank sitzt oder einer der
jetzigen Regierungsfraktionen angehört, in den letzten
Jahren der Versuchung nicht widerstehen, entsprechende
Wege aufzuzeigen.
({0})
Es wird Zeit, daß wir Ordnung in unser Denken bringen, einerseits im Hinblick auf die Systeme kooperativer
Sicherheit, wie UNO und OSZE, und andererseits im
Hinblick auf Systeme kollektiver Verteidigung, wie
NATO und WEU. Erst dann wird die überaus wertvolle
Rolle deutlich, die vor allem die NATO als System kollektiver Verteidigung spielen kann, wenn sie sich mit ihrem Potential in den Dienst der Völkergemeinschaft und
in den Dienst der Systeme kooperativer Sicherheit stellt.
Deshalb müssen wir beides tun: NATO und UNO/OSZE
weiterentwickeln und den regionalen Charakter der
OSZE im System der Vereinten Nationen besser herausarbeiten.
({1})
Wenn schon die UNO-Reform dieses Jahr keinen
Millimeter vorankommt, so könnte immerhin die OSZE
in Istanbul einen wichtigen Schritt nach vorne machen.
Mancher Beobachter hat natürlich recht, wenn er davor
warnt, daß vor dem Hintergrund der TschetschenienKatastrophe und angesichts massiver Verletzungen von
OSZE-Prinzipien und, wie ich befürchte, auch von KSEVereinbarungen der Gipfel über die europäische Sicherheitscharta zur Farce werden könnte und besser verschoben werden sollte. Aber vielleicht steckt in dieser
bedrückenden Szenerie ja auch so etwas wie die Gunst
einer schwierigen Stunde.
Wenn auch zum Teil aus sehr unterschiedlichen Motiven: Alle - Amerikaner wie Russen, EU- wie NichtEU-Länder, Türken wie Deutsche - haben ein enormes
Interesse daran, den KSE-Vertrag neu zu fassen und die
OSZE voranzubringen. Wir Freien Demokraten fordern
die Bundesregierung auf, ihren Beitrag zum Gelingen zu
leisten.
({2})
Nun hat der Kollege
Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu, daß es einem
schwerfällt, über europäische Sicherheitsarchitektur
nachzudenken und reden zu wollen, während in Tschetschenien Krieg tobt, Bomben fallen, Menschen leiden
und wir tagtäglich das Drama von Tod, Flucht, Hunger
und Elend betrachten müssen.
Ich will, wie ich dies bereits während des KosovoKrieges getan habe, heute deutlich sagen: Für mich gibt
es nur ein kategorisches Nein zum Krieg, mit welchen
Begründungen er auch immer geführt wird, und zu
Bomben und Raketen, mit welcher Begründung sie auch
immer abgeworfen werden.
({0})
Es gibt kein Recht zum Krieg und auch keinen Krieg
aus politischer Vernunft. Das sage ich zu Rußland ebenso, wie ich es zur NATO gesagt habe. Politische Lösungen sind nötig, auch in Tschetschenien. Mit Krieg löst
man keine Probleme. Mit Bomben bekämpft man keinen
Terrorismus, und mit Bomben erreicht man keine Menschenrechte.
({1})
Ich habe mich im Kosovo-Krieg immer gegen das
Argument gewandt, daß die Bomben nicht auf das serbische Volk, sondern nur auf die serbische Führung gerichtet seien, und ich wende mich ebenso gegen das Argument, daß Rußland in Tschetschenien Krieg gegen die
Terroristen führt und nicht gegen das tschetschenische
Volk. Am Ende leidet immer das einfache Volk. Damit
muß man endlich Schluß machen. Deswegen braucht
man eine andere Politik.
({2})
Gerade weil ich möchte, daß sich Rußland auf die
Solidarität und Hilfe Europas beziehen kann, weil ich
immer vor der Demütigung Rußlands gewarnt habe,
weil ich glaube, daß Sicherheit in Europa Rußland nicht
ausschließen darf, sondern einschließen muß, nehme ich
mir auch das Recht, Kritik und Mahnung an die Adresse
Rußlands offen auszusprechen. Solidarität hat etwas mit
Partnerschaft zu tun, weder mit Bevormundung noch mit
Unterordnung; und Partnerschaft brauchen wir gegenüber Rußland ebenso wie gegenüber den USA.
Aus meiner Sicht zeigt sich - deshalb sind die Töne
der Regierungskoalition hier gedämpfter als in anderen
Konflikten -: Wer gegenüber den USA Unterordnung
akzeptiert, ist nicht souverän im Umgang mit der ande5892
ren Weltmacht. Wer wie die Bundesregierung im Kosovo auf Bomben und Raketen gesetzt hat, ist wenig
glaubwürdig, wenn er ein Ende des Bombenkrieges in
Tschetschenien einfordert. Das ist das eigentliche Problem, und ich finde, dies zeigt sich im Agieren der Bundesregierung.
Diese Regierung schwankt nach meinem Geschmack
zu oft zwischen lautstarken, oft peinlichen Erklärungen
in der Öffentlichkeit, wo Selbstbeschränkung und stillere Töne angebracht wären, und einem Abtauchen, wo
Position und Handeln gefordert sind.
Die Töne des Bundeskanzlers zu Tschetschenien waren sehr verhalten. Da mußte man schon sehr genau hinhören, um sie überhaupt wahrnehmen zu können. Statt
dessen forderte er in Japan einen Sitz für Deutschland
im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Ich finde es
nicht hilfreich, dies gerade jetzt einzufordern. Ich finde,
das sind Weltmachtallüren. Ein sinnvoller deutscher
Beitrag für die UNO ist es nicht, eine deutsche Führungsrolle einzufordern. Sinnvoll ist es vielmehr, die
UNO handlungsfähiger zu machen und zivile Strukturen
zu stärken. Dafür kann man einen Beitrag in Europa
durch die Stärkung der OSZE leisten.
({3})
Der Gipfel der OSZE in Istanbul kann ein Erfolg
werden. Die OSZE leistet, wie ich mich in den letzten
Tagen in Wien überzeugen konnte, selbst Erhebliches
dafür. Es besteht die Chance, eine europäische Sicherheitscharta zu verabschieden, den KSE-Vertrag
an die neuen sicherheitspolitischen Bedingungen anzupassen und damit nationale wie territoriale Obergrenzen der konventionellen Rüstung in Europa zu vereinbaren.
Entscheidend sind jedoch nicht hehre Deklarationen,
sondern konkrete Schritte. Ich muß wiederum sagen:
Liebe Kolleginnen und Kollegen aller anderen Parteien,
- dies muß ich wiederum so sagen, da sich die anderen
Parteien entschlossen haben, ihren Antrag separat und
ohne PDS zu gestalten - ich finde, in dem Antrag ist zuviel Folklore, zuviel Lyrik und zuwenig verbindliche
Festlegung von Inhalten. Deutschland sollte klarmachen,
daß für uns nicht gilt: NATO first. Zumindest für mich
heißt es - hierin liegt die Differenz -: OSZE first. Ich
sehe in der OSZE eine reale Alternative zu den militärischen Blöcken. Das heißt, daß kooperative Sicherheit
in einem europäischen Sicherheitssystem unter Einschluß Rußlands und der transatlantischen Komponente
so gut gewährleistet sein könnte, daß die NATO als Militärbündnis gegen potentielle Gegner überflüssig würde
und sich die Debatte um die WEU und ihre Integration
in die Europäische Union von selbst erledigte. Dazu bedarf es einer Stärkung der zivilen Strukturen, der auch
eine Chance zum Abbau der militärischen Potentiale innewohnt.
Für viele hier im Hause buchstabiert sich Sicherheit
noch immer militärisch. Das, finde ich, ist Steinzeitdenken. Die OSZE bietet die Chance, einen zivilen Sicherheitsbegriff zu verankern. Diesen Prozeß sollten wir vorantreiben und auch gegenüber unserer Bevölkerung
deutlich machen.
Deutschland hätte die Chance - damit komme ich
zum Schluß -, auf dem Gipfel im Sinne guter Beispiele
eigene Akzente zu setzen. Deutschland sollte deutlich
machen, daß wir die Sicherheitscharta für unser Land als
rechtsverbindlich akzeptieren wollen. Eine solche Erklärung kann dazu beitragen, daß sich auch andere Länder
auf diesen Weg begeben. Wir sollten erklären, daß wir
die Obergrenze für konventionelle Rüstung im KSEVertrag nicht durch eine qualitative Umrüstung konterkarieren wollen. Wir sollten dafür eintreten, daß der
OSZE mehr Geld und Personal zur Verfügung gestellt
werden. Wichtig wären auch weitere Abrüstungsschritte,
auch wenn sie vorerst einseitig von unserem Land ausgehen.
Für mich war das gemeinsame Haus Europa immer
eine große Vision. Ich gebe zu, daß es schwer ist, über
das gemeinsame Haus nachzudenken, während in Europa Krieg geführt wird. Aber das gemeinsame Haus Europa ist die einzige Chance, die die europäischen Völker
sinnvollerweise miteinander gestalten können. Ich bin
hinsichtlich des OSZE-Gipfels in Istanbul gar nicht so
pessimistisch, wenn dieses Parlament eindeutige Signale
im Vorfeld des Gipfels setzt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Jetzt hat das Wort
der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Boris Jelzin
hat in einem Artikel, der am 17. Februar 1995 in der
„Rossiskaja gazeta“ erschienen ist, mit Blick auf das,
was damals in Tschetschenien geschah, geschrieben:
In den jüngsten Ereignissen in Tschetschenien
spiegelten sich alle Probleme des heutigen Rußlands wider.
Im Herbst 1999 wiederholt sich genau diese Einschätzung. Alle Probleme des heutigen Rußlands spiegeln
sich in Tschetschenien wider: die tiefsitzende Angst vor
dem Terrorismus, die Furcht vor der Rückkehr des Krieges und die Sorge vor dem Zerfall des Landes. Aber
warum - diese Frage sollten wir uns alle stellen; hoffentlich stellt sich diese Frage auch die russische Elite sind die Jahre nach dem ersten Tschetschenien-Krieg,
der ja - in welcher Form auch immer - entkrampft und
politisch auf eine andere Ebene gehoben worden war,
nicht genutzt worden? Warum hat Moskau die Chance
vertan, mit Aslan Maschadow eine enge Kooperation
einzugehen? Maschadow ist immerhin der gewählte
tschetschenische Präsident, der - wenn Sie so wollen von der OSZE bestätigt wurde und dessen Legitimation
durch die Wahl anerkannt wurde. Er wurde übrigens
auch von der russischen Elite anerkannt. Schließlich
wurden mit ihm sogar Verträge abgeschlossen, die darauf hinauslaufen, daß im Jahr 2001 endgültig geklärt
wird, in welcher Form Tschetschenien innerhalb der
Russischen Föderation verbleibt. Warum hat die Russische Föderation diese Chance also nicht genutzt? Man
muß auch die russischen Kolleginnen und Kollegen aus
der Duma fragen, was sie in dieser Zeit getan haben.
Ich bin der Meinung, Rußland ist die Verträge aus
gutem Grund eingegangen. Alexander Lebed hat
schließlich mit Maschadow kooperiert und die Verträge
vorangetrieben. Der russische Präsident, die russische
Regierung und die Mehrheit der Staatsduma haben
Tschetschenien in dieser Zeit allerdings vollständig allein gelassen. Man hat das Gefühl, daß diese Chance
nicht genutzt worden ist, weil man Tschetschenien sich
selbst überlassen wollte und weil man keine wirklichen
Kooperationsbeziehungen eingehen wollte. Wenn Sie
den Artikel von Sergej Kowalew in der heutigen Ausgabe der „Welt“ lesen, dann können Sie sich die Fragen,
die ich gestellt habe, selbst beantworten. Manchmal
drängt sich mir der Eindruck auf, daß die russische Elite
nur darauf gewartet hat, bis sich terroristische Gruppierungen innerhalb Tschetscheniens durchgesetzt haben.
Lieber Kollege Schockenhoff, wir sollten darüber
nachdenken, was wir tun können, damit die russische
Demokratie die Kraft aufbringt, sich auf der einen Seite
mit dem Terrorismus nach den Regeln der OSZE auseinanderzusetzen und auf der anderen Seite dafür zu
sorgen, daß die Russische Föderation ein integrales Angebot an alle noch so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen macht.
({0})
Das ist die zentrale Frage, die wir uns selbst stellen müssen, und ich bitte darum, lieber Kollege Schockenhoff,
daß wir nicht innenpolitische Auseinandersetzungen mit
dieser ungeheuer schwierigen Frage verbinden. Denn
der Bundesaußenminister - das wissen Sie sehr wohl;
wir waren ja gestern im Ausschuß zusammen - hat gegenüber der russischen Elite eine klare Sprache gesprochen, und ich bin dankbar dafür, daß der Außenminister
dies auch in Istanbul tun wird.
({1})
Nichts hat er gesagt! - Geschwiegen hat er doch! Er
ist doch ein Schweiger!
Damit ich nicht mißverstanden werde: Der Kampf
gegen den Terrorismus, der sich gegen die zivilen, gegen die demokratischen Strukturen des Rechtsstaates
richtet, ist gerechtfertigt. Das sagt ja übrigens auch die
OSZE selbst, die Budapester Erklärung. Ich will nur
Punkt 5 der Erklärung zitieren:
Wir erkennen, daß die Gesellschaften in der OSZERegion immer stärker durch den Terrorismus bedroht sind. Wir bekräftigen unsere uneingeschränkte Verurteilung aller Arten und Praktiken
des Terrorismus, die unter keinen Umständen zu
rechtfertigen sind. …
Im Code of Conduct schließlich, in Punkt 36, wird
sehr klar hinzugefügt - und das ist vorhin ja auch schon
angesprochen worden -: „In Fällen, in denen zur Erfüllung von Aufgaben der inneren Sicherheit ein Rückgriff
auf Gewalt“ geschieht, muß dieser Rückgriff auf Gewalt
„den Erfordernissen der Durchsetzung angemessen
sein“. Und weiter:
Die Streitkräfte werden es sorgsam vermeiden, Zivilpersonen zu beeinträchtigen oder deren Hab und
Gut zu beschädigen.
Kaum hatte Boris Jelzin diesen Satz in Budapest unterschrieben, ihn politisch als verbindlich für sich und
sein Land erklärt, begann der erste Krieg gegen Tschetschenien. Die Brutalität der russischen Armee hatte
1996 eine harte Kritik bei den russischen Demokraten
hervorgerufen. Im Moment, so muß man leider sagen,
sind die russischen Demokraten sehr stumm. Das ist
vielleicht mit dem Blick auf die Wahlen zur Duma zu
erklären, die im Dezember bevorstehen. Aber ich denke,
wir sollten unseren Kolleginnen und Kollegen in der
Staatsduma deutlich machen: Bitte seien Sie genauso
wie in den Jahren 1995/96 hart in der Kritik an der Brutalität der russischen Armee! Diese darf von uns in Europa gemeinsam von keinem der Abgeordnetenfreunde
in frei gewählten Parlamenten akzeptiert werden. Das ist
die Bitte, die wir an die Staatsduma richten.
({2})
Die terroristischen Bombenanschläge - man muß sie
sich einmal in der Fernsehlandschaft Rußlands genau
ansehen - haben vieles verändert, auch die psychische
Stimmung innerhalb des Landes selbst. Eine Konstante
großrussischen Denkens taucht hier wieder auf: Sind
nicht die Terroristen von heute die schwarzen - wie sie
dort genannt werden - Kaukasier des 19. Jahrhunderts,
gegen die das imperiale Reich 30 Jahre lang Krieg geführt hat? Tausende von Menschen sind jetzt, rechtsstaatlich fragwürdig, kurzerhand festgesetzt worden.
Medien zeigen Bilder zerfetzter Bombenopfer und gehen dann einfach zum Krieg gegen Tschetschenien über.
Was soll damit suggeriert werden? - Dies sei gerechtfertigt.
Mit einem Krieg allerdings - das haben wir gestern
im Ausschuß selber erkennen können -, mit militärischen Mitteln, ist dieser Konflikt nicht zu lösen. Man
kann ihn nur mit zivilen Mitteln lösen. Die OSZE bietet
dafür eine Plattform. Diejenigen, die den Krieg befürworten, müssen sich doch wohl selber die Frage stellen:
Kann denn der politische Wille Tschetscheniens, nach
Rußland zurückkehren zu wollen, ein integraler Bestandteil Rußlands zu bleiben, mit Bomben zurückgeholt
werden? Das kann doch wohl nicht der Fall sein.
Noch ist die Chance gegeben, daß das Treffen der
Staats- und Regierungschefs in Istanbul helfen wird, die
Probleme zu lösen, vor denen wir alle stehen. Allerdings
setzt dies voraus, daß die politische Elite in Moskau diese Lösung selbst will, daß sie dazu bereit ist. Wir alle jedenfalls wollen, daß gemeinsam mit Rußland ein Europa
gebaut wird, das allen Platz bietet, die sich verpflichtet
haben, Freiheit und Demokratie zu sichern und die
Menschenrechte zu achten. Wir alle wollen, daß eine
Charta verabschiedet wird, die den Menschen in allen
Mitgliedstaaten der OSZE Sicherheit bietet, damit sie in
Frieden miteinander leben können, die den anderen - in
Gert Weisskirchen ({3})
Respekt voreinander - in seiner Unverwechselbarkeit
anerkennt. Immerhin hat Moskau jetzt den ersten Schritt
getan, so daß eine humanitäre Mission in Tschetschenien tätig werden kann.
Moskau sollte den politischen Dialog mit Aslan Maschadow neu aufnehmen. Das hat der Bundesaußenminister im Gleichklang mit seinem italienischen und französischen Kollegen gefordert. Wir unterstützen den Außenminister ausdrücklich darin, daß Moskau zum politischen Dialog mit Maschadow zurückkehren muß.
({4})
Es gibt noch ein anderes Zerrbild, das sich an diesem
Punkt deutlich zeigt. Ich habe mir die Presse in Rußland
genau angesehen und will den ehemaligen Verteidigungsminister des Jahres 1996 erwähnen, der behauptet,
hinter den Auseinandersetzungen stünden „Rußlands
strategische Feinde, um es zu spalten, einen Teil seines
Territoriums zu besetzen und vom Zugang zum Kaspischen und Schwarzen Meer abzuschneiden“.
Was sind das für Einkreisungsängste? Was sind das
für Verschwörungstheorien? Es kommt darauf an,
Rußland deutlich zu machen, daß es einen Platz in Europa hat. Wir wollen mit Rußland friedlich kooperieren.
Rußland muß aber auch die Ängste, die es hat, und die
Besorgnisse, die sich in diesem Konflikt zeigen, selbst
abbauen. Nur die inneren Kräfte der Demokratie werden
es möglich machen, daß Rußland bei einem solchen
Verständnis seinen Platz in Europa findet - genauso wie
alle anderen Europäer.
Istanbul kann eine Chance für ein neues Denken innerhalb der russischen Elite werden. Ich wünschte mir,
daß die Staatsduma das, worüber wir heute debattiert
haben, aufnimmt und die russische politische Elite darum bittet, von diesem furchtbaren Krieg Abstand zu
nehmen und in die europäische Gemeinsamkeit zurückzukehren. Frieden ist das, was wir in Europa gemeinsam
wollen. Dazu brauchen wir ein Rußland, das demokratisch ist und den Tschetschenen die Chance gibt, integraler Bestandteil Rußlands zu bleiben.
({5})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Es ist begrüßenswert,
daß Tschetschenien heute in so großer Ausführlichkeit
behandelt wird und wir uns in den Grundlinien alle einig
sind. Ich sage das vor dem Hintergrund einer Presseerklärung, die heute in Rußland erschienen ist. Dort wird
vermeldet: Der Westen will uns bestrafen, weil wir uns
ihm nicht beugen. Damit macht er sich nur lächerlich.
Wir hätten es begrüßt - da gebe ich dem Kollegen
Schockenhoff vollkommen recht -, wenn die Einwände
und Bedenken dieser Bundesregierung ein bißchen lauter zu hören gewesen wären. Ich darf daran erinnern, wie
Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel früher
wegen einer angeblich zu laxen Haltung in der damaligen Situation in diesem Hause, damals noch in Bonn,
von der damaligen Opposition vorgeführt worden sind.
Aber nun!
Ich glaube, es hat keinen Sinn, wenn wir hier lediglich mit beschwörenden Formeln agieren. Wir müssen
statt dessen sagen: Wenn sich Rußland hier nicht verändert und nicht politische Lösungen angestrebt werden,
dann muß der Westen reagieren. Es kann nicht sein, daß
wir ständig mit Geldbeträgen in Milliardenhöhe aus
selbstverschuldeten Notlagen heraushelfen, ohne daß
dort Reformen in Gang kommen. Noch weniger kann es
sein, daß gleichzeitig 2 Milliarden US-Dollar pro Monat
für diesen unsinnigen Krieg ausgegeben werden. Auch
hier ist die Politik gefordert, entsprechend zu handeln.
Lassen Sie mich aber mit Blick auf Istanbul noch ein
paar andere Dinge sagen. Es ist aus meiner Sicht
schlimm - Kritik daran ist berechtigt -, daß die USA
den CTBT nicht ratifiziert haben. Ich sage ganz ungeschminkt: Unsere amerikanischen Freunde müssen es
sich gefallen lassen, daß ihnen offen und ehrlich gesagt
wird, daß der, der auf vielen Feldern vordenken will, zuerst nachdenken muß, was er mit seiner Haltung in diesen Bereichen anrichten kann.
Ein weiterer Punkt betrifft die Türkei. Deswegen ist
es gut, daß Istanbul der Ort des nächsten Gipfels ist.
Wenn die Türkei ständig daran erinnert, daß sie auf dem
Wege nach Europa sei, dann muß sie die Chance wahrnehmen, in Istanbul ihre Position bezüglich Menschenrechten, Minderheitenschutz und Rechtsstaatlichkeit
darzulegen. Sie muß auch eine Zeitachse aufzeigen, auf
der ihre wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Vorstellungen diesem Ziel näher gebracht werden können.
Wir sollten den Türken ganz deutlich sagen, daß es an
ihnen liegt und daß sie ihren Reden nun Taten folgen
lassen müssen; sie bestimmen in einem gewissen Umfange Inhalt und Tempo dieses Fahrplanes.
Wir begrüßen den Gipfel in Istanbul; wir treten für
eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der OSZE ein.
Wir begrüßen die Unterzeichnung der Sicherheitscharta, die eine Standortbestimmung der gesamteuropäisch
ausgerichteten OSZE vornimmt. Ich unterstreiche alles,
was hier in diesem Zusammenhang gesagt worden ist.
Sie dient der Verbesserung der Handlungsfähigkeit, insbesondere bei der Konfliktprävention und dem Krisenmanagement, und sie führt natürlich zu einer verbesserten Zusammenarbeit der Sicherheitsorganisationen allgemein. Dieses Vertragswerk ist ein überschaubares,
politisch verbindliches Dokument; auf die Völkerrechtsproblematik wurde hingewiesen. Es beinhaltet klare
Aussagen. Es sollte alles darangesetzt werden, daß diese
Grundsätze tatsächlich eingehalten und umgesetzt werden.
Wir begrüßen auch die Unterzeichnung des neu verhandelten KSE-Vertrages, durch den die konventionelle Rüstungskontrolle auf eine neue - auch hier betone
ich: von allen zu beachtende - Grundlage gestellt und
die Stabilität im gesamten Sicherheitsraum gestärkt
wird. Ergänzend hoffen wir - wie Frau Zapf es ausgeGert Weisskirchen ({0})
führt hat -, daß auch das sogenannte Wiener Dokument
als ein Kerndokument vertrauensbildender Maßnahmen
aktualisiert und gestärkt werden kann.
Ich glaube, daß diese Dokumente eine gute Grundlage für ein Zukunftsmodell unserer gemeinsamen Sicherheit sein können. Sie wissen alle: Wenn wir in der OSZE
von „Security“ sprechen, ist das sehr umfassend gemeint. Dazu gehören wirtschaftliche Entwicklungen,
Umweltthemen, Pressefreiheit, Verhinderung von ethnischen Säuberungen, ein gemeinsames Wertesystem auf
der Basis von Freiheit und Demokratie sowie Menschenrechtsfragen und Menschenrechtsprobleme.
Ebenfalls abgedeckt werden die Rüstungskontrolle,
die Bekämpfung des illegalen Waffenhandels und die
Verringerung der atomaren Bedrohung. Die legitimen
Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten werden mit
Hilfe der festgelegten Obergrenzen bei Bewaffnung und
Personal in den Streitkräften der jeweiligen Mitgliedsländer definiert. Das Ziel, das dabei über allem steht, ist
eben nicht nur regionale, sondern globale Sicherheit.
Nach meiner Auffassung - hier mag es vielleicht etwas divergierende Meinungen geben - soll und kann die
OSZE die NATO als militärisches Instrument nicht ersetzen.
({1})
Aber sie kann sie ergänzen, wie man aktuell auf dem
Balkan sehen kann. Bei einer engen Zusammenarbeit
zwischen OSZE und NATO bräuchten die Länder, die
heute auf einen Beitritt zur NATO hoffen, keine Bedenken zu haben, daß die Mitgliedschaft in der OSZE allein
keinen wirklichen Schutz und letzten Endes keine Sicherheit garantieren könne.
({2})
Wie effektiv dieses Wechselspiel, diese Zusammenarbeit zwischen NATO und OSZE sein könnte, hängt
maßgeblich vom politischen Willen der beteiligten
Staaten und davon ab, welche Handlungsinstrumente sie
letztlich zwischen EU, WEU, NATO und OSZE schaffen. Wir befinden uns da auf einem guten Wege. Ich begrüße das, was hier ausgeführt worden ist. Aber wir haben diese Ziele noch nicht erreicht und mit den entsprechenden Handlungsinstrumenten unsere gemeinsamen
Interessen noch nicht durchgesetzt.
Drei Grundkriterien muß man bei der Entwicklung
einer zukünftigen Sicherheitsstruktur Europas für
jedes Modell immer vor Augen haben: Erstens. Die
legitimen Sicherheitsinteressen aller Staaten sind absolut gleichwertig und gleichberechtigt. Zweitens. Die
Anbindung Europas an die USA ist überlebenswichtig.
Drittens. Ohne eine angemessene Einbeziehung Rußlands und der Ukraine gibt es keine europäische Sicherheit.
({3})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch über
Geld sprechen. Das ist genauso wichtig. Die Bundesregierung ist beim NATO-Jubiläumsgipfel im April dieses
Jahres und beim Kölner EU-Ratstreffen im Juni dieses
Jahres verteidigungspolitische Verpflichtungen im Hinblick auf die EU, die NATO, die WEU und die OSZE
eingegangen. Desgleichen verpflichten uns die Aufgabenerfüllung und die Neugestaltung der Bundeswehr.
Alle diese Maßnahmen erfordern eine Aufstockung und
keinesfalls eine Schrumpfung des Wehretats. Die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung im Hinblick auf den Verteidigungsetat steht zu diesen Verpflichtungen im offenen Widerspruch. An die Adresse
von Regierung und Koalition muß ebenso gerichtet werden, daß die notwendigen Mittel zeitgerecht zur Verfügung gestellt werden müssen. Ich bin gespannt, wie dies
mit Ihrer mittelfristigen Finanzplanung in Einklang zu
bringen ist.
Meine Damen und Herren, unsere Diplomaten haben
den Inhalt und die Gestaltung der Dokumente hervorragend mit vorbereitet. Ich möchte den im Auswärtigen
Amt Beschäftigten - weniger der politischen Führung meinen herzlichen Dank dafür aussprechen.
({4})
Unsere Aufgabe ist es, durch Parlamentsdiplomatie, wie
wir sie auch in der IPU pflegen, den OSZE-Gipfel in
Istanbul zu unterstützen. Mit dem vorliegenden gemeinsamen Antrag - ich betone noch einmal, daß wir uns alle
in den Zielsetzungen einig sind - leisten wir die notwendigen Schrittmacherdienste. Wir alle hoffen, daß
dieser Gipfel uns weiterbringt und ein Erfolg wird.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt erteile ich das
Wort Staatsminister Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie
kann die OSZE ein Gipfeltreffen vorbereiten, auf dem es
unter anderem um eine europäische Sicherheitscharta
und Menschenrechte geht, wenn gleichzeitig in Tschetschenien ein Krieg geführt wird, der zahlreiche Opfer
unter der Zivilbevölkerung fordert? Diese Frage wurde
in den letzten Tagen immer wieder gestellt, sie ist auch
in dieser Debatte ein zentraler Punkt.
In der Tat überschattet der Tschetschenien-Konflikt
den Gipfel von Istanbul. Militärisch ist dieser Krieg für
keine Seite gewinnbar. Rußland verliert rapide an internationalem Ansehen, und die entsprechenden Berichte
deuten auf eine weitere Verschärfung der Lage der
Flüchtlinge hin.
Die Bundesregierung hat von Anfang an klare Worte
an die russische Seite gerichtet. Dabei wurde nicht der
öffentliche Weg gewählt, weil die Gefahr bestand - das
habe ich gestern im zuständigen Ausschuß dargestellt;
niemand hat mir widersprochen -, daß während des russischen Vorwahlkampfes eine politische Intervention
von den Wahlkämpfern als westliche Einmischung
funktionalisiert und dazu genutzt werden könnte, die
nationalistische Karte zu spielen und damit die Fixierung auf die Kriegsführung weiter zu verschärfen.
({0})
Deshalb hat der Bundesaußenminister in mehreren
Telefonaten mit seinem russischen Kollegen Iwanow
und im Konzert mit den europäischen Partnern vier Forderungen an die russische Seite gerichtet: erstens den
Konflikt sofort zu deeskalieren, zweitens den Dialog mit
den verständigungsbereiten Kräften in Tschetschenien
zu pflegen, drittens rasch ausreichende humanitäre Hilfe
zu leisten und internationale Hilfe zuzulassen sowie
viertens in den Informationen über die Lage vor Ort
Transparenz durch die Zulassung von objektiven Berichterstattern zu gewährleisten.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Schockenhoff?
Ich möchte im Zusammenhang vortragen. Selbstverständlich erkennt die Bundesregierung dabei
die territoriale Integrität Rußlands und auch das in der
OSZE-Charta verbriefte Recht an, mit geeigneten Mitteln Terroristen entgegentreten zu dürfen.
Ich appelliere an dieser Stelle erneut eindringlich an
die russische Führung: Stellen Sie den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt ein, der das Leben so vieler
unschuldiger und unbeteiligter Zivilisten fordert und
militärisch und politisch in die Sackgasse führt, und
nehmen Sie den politischen Dialog wieder auf.
({0})
Der politische Dialog mit den gemäßigten und legal gewählten Kräften in Tschetschenien ist Voraussetzung
dafür, die terroristischen Kräfte isolieren zu können. Nur
so kann eine dauerhafte Lösung für den Regionalkonflikt gefunden werden.
Die OSZE ist bereit, ihr Potential hier einzubringen,
kurzfristig zur Erleichterung humanitärer Hilfe und zur
Beendigung der Gewalt, langfristig auch zum Aufbau
demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen beizutragen. Die Tatsache, daß Mitte nächster Woche eine Beobachterdelegation der OSZE in die Region reisen kann,
könnte ein erster Schritt zur Krisenbewältigung sein.
Die Bundesregierung wird auch weiterhin in Zusammenarbeit mit ihren Partnern alles tun, um zu einer Beilegung des Konfliktes in Tschetschenien zu kommen.
Außenminister Fischer weilt zur Zeit bei der UNO in
New York, um mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern über das Vorgehen im Vorfeld des
Istanbuler Gipfels zu beraten, damit dieser Gipfel zu einem Erfolg werden kann. Die russische Regierung muß
wissen, daß die Staats- und Regierungschefs der in der
OSZE vertretenen Länder in Istanbul mit ihrer Autorität
nicht Rechte und Prinzipien bekräftigen können, die zur
gleichen Zeit im OSZE-Gebiet massiv verletzt werden.
({1})
Die Gebote, in einem Konflikt keine übermäßige Gewalt
anzuwenden, humanitäre Hilfe zu erleichtern und alles
für eine friedliche Lösung zu tun, gehören zum Kernbestand der Verpflichtungen, die Rußland im Rahmen des
Beitritts zur OSZE eingegangen ist. Daran wird Rußland
gemessen werden.
({2})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, der Tschetschenienkonflikt zeigt erneut, wie
wichtig die OSZE für Sicherheit und Zusammenarbeit
im gesamten Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok ist. Welche andere Organisation könnte sonst in einer so komplexen Lage als Ansprechpartner dienen, der
das Vertrauen aller Beteiligten hat? Nun kann man bedauern, daß die OSZE noch zu schwach ist. Das tun wir
auch. Hier wird es aber gefährlich für Sie, Herr Schokkenhoff. Ich verstehe ja, daß Sie in Ihrer Rede auch Oppositionsrhetorik anwenden mußten; dabei beklagten Sie
- zu Recht - die Schwäche der OSZE. Aber was haben
Sie in den letzten zehn Jahren der Regierungszeit Ihrer
Partei gemacht? Sie hatten damals die Chance, die
OSZE zu stärken, haben das aber nicht getan.
({3})
Teile der ehemaligen Regierung haben eine Stärkung der
OSZE sogar hintertrieben.
({4})
Ganz und gar gefährlich wird es, Herr Schockenhoff,
wenn Sie in diesem Zusammenhang nun plötzlich die
NATO ins Spiel bringen. Man kann ja über die NATOOsterweiterung diskutieren. Sie ist ein gegebenes Faktum und für den Westen der Ausgangspunkt weitergehenderer Sicherheitspolitik. Aber durch die NATOOsterweiterung kann der Kaukasus-Konflikt nicht gelöst
werden. Ich möchte dringend davor warnen, die Begriffe
NATO und Kaukasus in einem Atemzug zu nennen bzw.
in einem Satz in den Mund zu nehmen.
({5})
Wenn man das zu Ende denkt, kommt man zu ganz und
gar gruseligen Vorstellungen. Ich kann nur hoffen, daß
Sie sich lediglich rhetorisch vergaloppiert haben.
Über dem Tschetschenien-Konflikt dürfen wir aber
auch nicht das Engagement der OSZE in anderen Regionen vergessen. Ich nenne als Beispiele nur das Gebiet
des ehemaligen Jugoslawien und den Konflikt um Nagornyj Karabach.
Für uns gilt es darüber hinaus, den Gesamtzusammenhang von Stabilität und Sicherheit in Europa im
Auge zu behalten. Wir wollen konkrete Fortschritte im
Bereich von Rüstungskontrolle und Abrüstung erzielen.
Unser Ziel sind ein erfolgreicher Abschluß der Verhandlungen zur Anpassung des Wiener Dokuments über
Vertrauensbildende Maßnahmen und die Anpassung des
KSE-Vertrages. Rußland überschreitet derzeit die zukünftig vorgesehenen KSE-Flankenobergrenzen.
Die Bundesregierung hat deshalb ein großes Interesse
daran, daß der Istanbuler Gipfel ein Erfolg wird; denn
für die europäische Sicherheit insgesamt und für das internationale Rüstungskontrollsystem steht vieles auf
dem Spiel. Sollte der KSE-Vertrag in der vorgesehenen
Form verabschiedet werden, gibt er uns sogar neue
Möglichkeiten, die russische Politik im Kaukasus und
die militärischen Operationen zu beobachten, zu beurteilen und völkerrechtlich zu bemessen. Deshalb haben
wir ein großes Interesse an einem Erfolg dieses Gipfels.
Ohne die Unterzeichnung des KSE-Änderungsvertrages in Istanbul, der die zukünftigen Flankenobergrenzen bestätigt, hätten wir nach der Ablehnung des
Vertrages über den Atomwaffenteststopp durch den USSenat einen weiteren Rückschlag in den weltweiten Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle zu verzeichnen. Wir hoffen nicht, daß das passiert.
({6})
Der neue KSE-Vertrag dagegen wird die konventionelle Stabilität in ganz Europa durch eine historisch beispiellose Begrenzungssystematik und durch erhöhte
Transparenz erheblich stärken. Ich möchte mich hier
dem Dank an die Beamten des Auswärtigen Amtes anschließen; denn es ist nicht zuletzt auf ihre Initiative und
ihre Kenntnis zurückzuführen, daß wir zu dieser neuen
Systematik im KSE-Bereich gefunden haben. Sie ist ein
gutes Beispiel dafür, wie sich die Bundesrepublik in der
Rüstungskontrolle nützlich gemacht hat.
({7})
Wir wollen auf Krisen aber nicht nur reagieren, sondern Konflikten so frühzeitig begegnen, daß es nicht zu
einem gewalttätigen Ausbruch kommt. Für die Bundesregierung steht diesbezüglich die OSZE im Zentrum der
multilateralen Bemühungen um Konfliktprävention, Krisenmanagement und um die Wiederherstellung demokratischer und ziviler Institutionen.
Die in Istanbul zu verabschiedende Sicherheitscharta
soll diese für uns zentrale Ortsbestimmung der OSZE innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur zu einem
gemeinsamen Anliegen machen. Die Bundesregierung hat
hier bereits einen deutlichen Akzent gesetzt. Unser Programm zur Ausbildung von zivilem Friedenspersonal soll
eine Personalreserve schaffen, die der OSZE für ihre
Maßnahmen zur Krisenreaktion auf Mandatsbasis zur
Verfügung gestellt werden kann. Ich sehe mit großem Interesse, daß andere Länder ebenfalls in diese Richtung
gehen. Dieser Ansatz, der im übrigen von der deutschen
Parlamentarierdelegation bei der OSZE-Versammlung
1997 zum erstenmal zur Debatte gestellt wurde, wird nun
auf dem Istanbuler Gipfel offiziell behandelt.
({8})
Allgemein gilt es, die OSZE organisatorisch dazu instand zu setzen, daß sie fähig ist, schnell die Lage zu
analysieren und auf geeignetes Personal zurückzugreifen. Frühwarnsysteme existieren bereits. Nun kommt es
darauf an, die Kapazitäten für frühes Handeln zu stärken. Wir haben seit dem Ende des kalten Krieges in dieser Hinsicht bereits viel erreicht. Aber der Tschetschenien-Konflikt zeigt uns mit aller Deutlichkeit, daß wir
noch einen langen Weg vor uns haben. Trotz der Rhetorik, die in dieser Diskussion eine Rolle spielte, nehme
ich mit Befriedigung zur Kenntnis, daß die Fraktionen
des Deutschen Bundestages hier in den wesentlichen
Punkten an einem Strang ziehen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Schockenhoff das
Wort.
Herr
Staatsminister, mit Ihrem letzten Satz haben Sie das zurückgenommen, was Sie vorher gesagt haben. Wir haben
in der Tat eine gemeinsame Position, die sich in einem
gemeinsamen Antrag ausdrückt. Ich habe in meinem
Beitrag überhaupt keinen Gegensatz zwischen der
OSZE und der NATO hergestellt. Im Gegenteil: Wir
begrüßen die Stärkung der OSZE und auch die im Antrag ausformulierte Forderung, der OSZE eigenständige
Maßnahmen zur Krisenbewältigung und zur Friedenssicherung auch mit Hilfe des Einsatzes von Streitkräften
zu ermöglichen. Ich habe ergänzt: Wir haben aber berechtigte Zweifel, ob die OSZE heute dazu ohne die
NATO und ohne den Rückgriff auf Instrumente der
NATO in der Lage ist. Leider bestätigen dies die Ereignisse.
Zur früheren Bundesregierung haben Sie gesagt, sie
habe die OSZE sogar hintertrieben. Das ist absurd und
muß hier in aller Deutlichkeit zurückgewiesen werden.
({0})
Wer hat denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dafür gesorgt, daß die Staaten in Zentralasien, im
Kaukasus, auf dem Balkan von der OSZE aufgenommen
wurden. Sie ernten doch nur, was der frühere Außenminister gesät hat.
({1})
Ich bestätige Ihnen gerne, Herr Staatsminister, daß
Sie uns im Auswärtigen Ausschuß berichtet haben, der
Außenminister habe in einem Brief an die russische Regierung auf den Konflikt in Tschetschenien reagiert.
Meine Position dazu ist - ich wiederhole sie hier -: Sie
haben dem NATO-Partner Türkei vor laufenden Kameras, also öffentlich, Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Zu dem Morden in Tschetschenien haben Sie
in einem Brief Stellung genommen - ohne sich öffentStaatsminister Dr. Ludger Volmer
lich zu äußern. Außenpolitisches Gespür hätte Ihnen den
anderen Weg nahegelegt: Sie hätten besser unserem
NATO-Partner Türkei einen Brief geschrieben und zu
den schrecklichen Kriegshandlungen in Tschetschenien
nicht geschwiegen.
({2})
Herr Staatsminister,
möchten Sie antworten? - Bitte sehr.
Herr Schockenhoff, ich denke, daß die Äußerungen
des Bundesministers des Auswärtigen gegenüber der russischen Seite an Klarheit nichts zu wünschen übriglassen.
({0})
Er tut im Moment genau das, was er auch zu Zeiten des
Kosovo-Konfliktes getan hat: Er betreibt eine Diplomatie, die die reale Chance beinhaltet, zu einer Konfliktlösung zu kommen. Das ist mehr, als sich nur öffentlicher
Rhetorik zu befleißigen.
({1})
Nun komme ich auf das Verhältnis zwischen OSZE
und NATO zurück: Es gibt eine seit vielen Jahren andauernde Diskussion darüber, in welchem Verhältnis die
Großorganisationen zueinander stehen. Man hat dafür
den pragmatischen Begriff - es gibt leider nur einen
englischen Ausdruck dafür - „interlocking institutions“
gefunden: Zusammenarbeit miteinander verschränkter
Organisationen, die ihre jeweiligen komparativen Vorteile nutzen. Dieses Modell an sich stellt heute niemand
mehr in Frage.
Sie haben in Ihrer Kurzintervention genauso wie in
Ihrer Rede angemerkt, daß die OSZE, bezogen auf den
Kaukasus-Konflikt, nicht durchschlagskräftig genug sei.
Sie haben gerade noch einmal betont, die OSZE sei gar
nicht richtig handlungsfähig ohne die Rückendeckung
der NATO. Ich frage Sie noch einmal: Was soll die
NATO im Zusammenhang mit dem Kaukasus-Konflikt?
Daß die NATO, daß die Osterweiterung der NATO
einen Sinn hat, ist doch überhaupt nicht umstritten. Im
Kaukasus-Konflikt kann aber, wenn überhaupt eine
Großorganisation eine Rolle spielen kann, nur die OSZE
die Probleme lösen helfen. Wenn wir Europäer und wir
Deutschen die Möglichkeit haben wollen, uns friedenspolitisch an der Lösung der Konflikte innerhalb des
Raumes, der früher zur Sowjetunion gehörte, zu beteiligen, dann können wir das nicht über die NATO, sondern
nur über die OSZE. Jenseits aller Diskussionen, was in
Zukunft mit der NATO passieren soll, müssen wir unser
Augenmerk darauf richten, wie wir die OSZE so stärken
können, daß sie in der Lage ist, Regionalkonflikte wie
die im Kaukasus bewältigen zu helfen.
({2})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/1959 zur federführenden Beratung an
den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den
Verteidigungsausschuß und an den Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu überweisen. Der
Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1771
soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu den jüngsten
Kritiken hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des Bundes
Ich weise darauf hin, daß in einer Aktuellen Stunde
die Redezeit für die Mitglieder des Parlaments fünf Minuten beträgt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wohnungsmarkt sei entspannt, Wohnraum genügend vorhanden, Deutschland
ein wahres Mieterparadies. Mit fachlich so oberflächlichen Aussagen - es ist so, als hätten Sie den Begriff
„Schweinezyklus“ noch niemals gehört - begründen Sie
Ihren Rückzug aus der Wohnungsbauförderung.
Es ist um die langfristige Wohnungspolitik unter
Rotgrün schlecht bestellt. Man hat nämlich den Eindruck, daß Sie nicht zuerst fragen, wie man das existentielle Gut Wohnen für alle sichern kann, und hinterher
überlegen, wie man das am sparsamsten und effizientesten tun kann. Nein, Sie drehen den Spieß um. Ihr Ziel
in der Wohnungspolitik heißt Sparen, Sparen, Sparen.
Dann reden Sie den verbliebenen schmalen Rest auch
noch schön. Beispielsweise geht der neue Bauminister,
der sich im übrigen mit dem Bußgeld für Fußgänger und
Radfahrer einen Namen gemacht hat, mit folgendem
Begriff in die Öffentlichkeit: Er sagt, Sie stellten in der
Wohnungspolitik „zukunftsfähige Weichen“. Dabei
weiß er ganz genau, daß der soziale Wohnungsbau halbiert wird. Ein anderes Beispiel: Sie sagen, das Modernisierungsprogramm werde mit 10 Milliarden DM fortgesetzt. Die Wahrheit ist, daß der Bund 300 Millionen
DM an Zinszuschüssen unter der Voraussetzung gibt,
daß sich die Länder beteiligen. Schließlich sagen Sie,
die Abwälzung des Pauschalwohngeldes in Höhe von 2
Milliarden DM gehe nicht zu Lasten der Kommunen.
Das ist ungefähr das Schärfste, was ich in letzter Zeit
gehört habe.
Meine Damen und Herren, die Direktförderung erfährt einen Absturz sondergleichen. Die Förderung des
Sozialwohnungsbaus sinkt von 1,1 Milliarden DM auf
600 Millionen DM im nächsten Jahr und auf 450 Millionen DM im übernächsten Jahr. Zur Erinnerung: Es waDr. Andreas Schockenhoff
ren einmal 4 Milliarden DM. Einst hatten wir vier Millionen Sozialwohnungen bei zwei Millionen Arbeitslosen. Heute haben wir vier Millionen Arbeitslose und
zwei Millionen Sozialwohnungen. Jährlich fallen
100 000 Wohnungen aus der Bindung. Der Verkauf
öffentlicher Wohnungen schreitet fort. Dabei geht die
Bundesregierung - siehe Bahnwohnungen - voran.
Reden wir nicht schön, reden wir Klartext: Sie beerdigen den Sozialwohnungsbau. Sein Aus können Sie
auch nicht mit dem Programm „Soziale Stadt“ kaschieren. Was nützt das wunderbarste Programm - das Programm ist ja wirklich gut -, wenn Sie kein Geld dafür
zur Verfügung stellen?
Doch das Problem liegt in Wirklichkeit noch tiefer,
meine Damen und Herren. Sie köpfen ja nicht nur die direkte Förderung. Mit dem Steuerentlastungsgesetz ist die
zweite, umfangreichere Fördersäule bereits geschrumpft.
Damit wir uns nicht mißverstehen: Wir sind immer dafür eingetreten, Steuervergünstigungen abzuschaffen.
Aber wir wollen auch, daß die Mittel zielgerichteter in
der direkten Förderung eingesetzt werden. Wenn mich
nicht alles täuscht, waren das auch Ihre Überlegungen,
als Sie noch in der Opposition waren.
({0})
Das Streichen steuerlicher Vergünstigungen im
Wohnungswesen bringt allein 1999 und 2000 dem
Bund Mehreinnahmen in Höhe von 6 Milliarden DM.
Wer hoffte, daß diese Mehreinnahmen der Wohnungsförderung effizienter zugute kommen, der irrt. Der
satte Betrag löst sich beim Stopfen allgemeiner Haushaltslöcher in Wohlgefallen auf. Man wird doch aber
einmal fragen dürfen, warum Sie davon nicht das Pauschalwohngeld finanzieren, warum Sie nichts gegen
den strukturellen Leerstand in Ostdeutschland tun,
warum Sie keine weitere Mark für den Sozialwohnungsbau erübrigen, sondern ihn statt dessen in den
Keller fahren, und warum Sie die Städtebauförderung
nicht aufstocken.
Es nützt alles nichts, auch unter Rotgrün muß eine
Wohnung nach 50, spätestens nach 100 Jahren reproduziert werden. Das ist ganz parteienunabhängig. Glauben
Sie mir, daß ich weiß, wovon ich rede. Ich komme nämlich aus der DDR. Um den steten Wohnungsbau, der
nicht nur wegen der einfachen Reproduktion, sondern
auch wegen einer Fülle anderer Faktoren sein muß, die
ich jetzt nicht alle aufzählen kann, kann man sich nicht
drücken.
Bauen kostet Geld, jährlich dreistellige Milliardensummen. Gab bisher der Staat 1 DM aus, so gaben Wirtschaft und Private 2 DM dafür aus. Mit Ihrem Totalrückzug aus der steuerlichen wie der direkten Wohnungsbauförderung kürzen Sie, um in diesem Bilde zu
bleiben, diese 1 DM auf 50 Pfennig. Sie gefährden den
notwendigen Wohnungsbau damit aufs schärfste. Sie
leiten die nächste Wohnungskrise ein. Sie sind nicht bereit, die Mehreinnahmen aus der Streichung der Steuersubventionen zur Reform der Förderung einzusetzen. Sie
haben im Grunde nichts mehr, was Sie reformieren können.
Meine Damen und Herren, Wohnen ist ein soziales
und ein wirtschaftliches Gut. Es ist immer wieder aufs
neue die Balance zwischen beiden notwendig. Versuche,
eine der beiden Seiten über- oder unterzubetonen, gingen stets fehl
({1})
und mußten im nachhinein ausgebessert werden. Daß
aber beide Seiten zugleich gefährdet sind, das ist nun
wirklich einmalig. Sie bedrohen die soziale und damit
auch die wirtschaftliche Seite des Wohnens. Sie setzen
die wirtschaftliche und damit auch die soziale aufs Spiel.
Sie ernten folgerichtig die Kritiken, die sowohl auf seiten der Wohnungswirtschaft als auch der Mieter im
Kern übereinstimmen.
Daß dieser Schritt von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung gemacht wird, einer Bundesregierung, die versprochen hat, zu prüfen, wie der Bestand
an Sozialwohnungen für die Sicherung der sozialen
Wohnungswirtschaft gewährleistet werden kann, das ist
leider kein schlechter Witz, sondern es ist traurige
Wahrheit. Glauben Sie mir: Wenn ich als PDSPolitikerin, die im Wahlkampf 1998 ihr Möglichstes
heftig und engagiert getan hat, damit die Regierung
Kohl abgewählt wurde, heute manchmal in Versuchung
bin, zu sagen: „Mein Gott, das wäre vielleicht unter
Helmut Kohl nicht passiert“, dann stimmt hier etwas
nicht.
({2})
Aber es ist nicht so, daß etwa mit mir etwas nicht
stimmt; vielmehr stimmt etwas nicht mit Ihrer Politik,
mit Ihrer Wohnungspolitik.
({3})
Nun erteile ich das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim
Großmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! - Ich habe
acht Minuten Redezeit; die Uhr ist falsch eingestellt. So, danke schön.
Sie haben acht Minuten Redezeit; das werden wir sofort richtig einstellen.
Wunderbar. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die alte Bundesregierung hat uns vor zwölf Monaten einen dramatischen Reformstau im Wohnungs- und
Städtebaubereich hinterlassen.
({0})
Parallel dazu haben CDU/CSU und F.D.P. die Staatsfinanzen so ruiniert, daß wir nur mit großen Anstrengungen die Handlungsfähigkeit des Staates zurückgewinnen
können.
({1})
Schauen wir uns doch die Eröffnungsbilanz einmal an.
Seit zehn Jahren ist das Wohngeld nicht angepaßt worden. In einem Jahr verlieren die Wohngeldbezieher in
den neuen Ländern 30 Prozent ihres Wohngeldes, wenn
wir nicht handeln. Der soziale Wohnungsbau hat bei
CDU/CSU und F.D.P. seine frühere Funktion völlig
verloren. Die Zahl der sozial gebundenen Wohnungen
ist von über 4 Millionen auf unter 2 Millionen Wohnungen mehr als halbiert worden. Die finanziellen Mittel
sind unter der alten Regierung von zirka 4 Milliarden
DM auf etwas mehr als 1 Milliarde DM, also um 75
Prozent, heruntergesetzt worden. Die Reform des sozialen Wohnungsbaus haben Sie völlig vergeigt. Allen Experten war klar: Der neue soziale Wohnungsbau muß
anders aussehen als in der Vergangenheit; es muß vor
allen Dingen eine Wohngeldreform geben.
({2})
Die haben Sie mit vier Bauministern nicht geschafft.
Bei den Problemen der überforderten Nachbarschaften, der Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf,
der Großsiedlungen und der anderen Stadtteile haben Sie
statt Lösungen nur Konzeptlosigkeit hinterlassen.
({3})
Vor den Problemen des Altschuldenhilfe-Gesetzes haben Sie die Augen verschlossen. Die Baulandfrage haben Sie bei der Reform des Baugesetzbuchs außen vor
gelassen. Beim Mietrecht haben Sie sich gegenseitig
blockiert. Bei den steuerlichen Abschreibungen haben
Sie hingenommen, daß größtenteils nur noch in Steuersparmodelle investiert wurde
({4})
und nicht in nachhaltigen Mietwohnungsbau mit langfristiger wirtschaftlicher Ertragskraft. Die Energieeinsparverordnung haben Sie in die Schublade gelegt und
verstauben lassen. Nur in der Eigentumspolitik gab es
einen Fortschritt, aber erst nachdem Sie zehn Jahre lang
die guten Vorschläge der SPD blockiert haben.
Die Liste Ihrer Sünden und Fehler ließe sich fortsetzen. Aber wichtiger ist mir, die finanzielle Katastrophe, die Sie uns hinterlassen haben, mit Beispielen aus
der Wohnungs- und Städtebaupolitik zu verdeutlichen.
Wir zahlen täglich 220 Millionen DM Zinsen an die
Banken. In nur drei Tagen liefert der Finanzminister
das Geld bei den Banken ab, das wir 1999 für den
Städtebau zur Verfügung haben. In nur fünf Tagen liefert der Finanzminister das Geld für Zinsen bei den
Banken ab, das wir im Jahr 1999 für den sozialen
Wohnungsbau zur Verfügung haben.
({5})
Das ist die dramatische Ausgangsposition für die Wohnungs- und Städtebaupolitik dieser Regierung. Diese Eröffnungsbilanz müssen Sie hören; dieser Eröffnungsbilanz müssen Sie sich stellen.
({6})
Nach nur einem Jahr legen wir nun eine erste Erfolgsbilanz vor. In dem engen finanziellen Rahmen setzen wir neue Prioritäten, starten neue Konzepte und arbeiten Schritt für Schritt den Reformstau ab.
Erstens. Mit dem Programm „Soziale Stadt“ starten
wir eine neue Förderphilosophie. Wir bündeln verschiedene Fachpolitiken, statt nur einseitig Ressortpolitik zu
machen. Wir wählen erstmals einen integrierten, vernetzten Politikansatz.
({7})
Der finanzielle Einsatz wird dadurch effektiver,
({8})
und zusätzlich mobilisieren wir das unersetzliche Engagement der Bewohnerinnen und Bewohner. Die Konzepte werden vor Ort, also von den Bewohnerinnen und
Bewohnern und von den Kommunen, entwickelt.
({9})
In fünf Jahren stehen mit den Mitteln der Länder und
Kommunen 1,5 Milliarden DM zur Verfügung; hinzu
kommen die Mittel der EU und die Mittel aus Programmen anderer Ressorts.
Zweitens. Wir haben eine gesamtdeutsche Wohngeldnovelle vorgelegt. Damit heben wir das Tabellenwohngeld in den alten Ländern an. In den neuen Ländern verhindern wir den Absturz um 30 Prozent.
({10})
All denen, die wegen der stark reduzierten Bestände von
sozial gebundenen Wohnungen keine Chance auf eine
Sozialwohnung haben, schaffen wir damit eine bessere
Wohnkaufkraft. Das ist ein riesiger Schritt hin zu Gerechtigkeit unter den Mieterinnen und Mietern.
({11})
Drittens. Beim Altschuldenhilfe-Gesetz haben wir mit
untergesetzlichen Regelungen dazu beigetragen, daß von
den etwas mehr als 2 000 Unternehmen inzwischen etwa
1 000 den Schlußbescheid erhalten haben, davon die
weitaus meisten nach dem Regierungswechsel, bedingt
durch unsere Entscheidungen. Derzeit bereiten wir eine
Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes vor, die weitere
Fehler dieses Gesetzes behebt.
({12})
Inzwischen hat das auch die CDU gemerkt, die gestern
so etwas ähnliches beschlossen hat. Nachdem wir jetzt
monatelang darüber geredet haben, wie das aussehen
soll, hat auch sie es zu Papier bringen können.
Viertens. Unsere Eckwerte für die Reform des sozialen Wohnungsbaus sind fertig.
({13})
Wir hoffen, daß sich die Länder auf der Bauministerkonferenz Anfang Dezember für eine Reform aussprechen.
Dann werden wir die Eckwerte zu dem Gesetzentwurf
entwickeln. Wir wissen alle: Die finanzielle Ausstattung
des sozialen Wohnungsbaus in der Zukunft hängt davon
ab, ob wir die Reform des sozialen Wohnungsbaus
schaffen. Das ist Fakt, und deshalb müssen wir das als
erstes abarbeiten.
({14})
Fünftens. Die Auswüchse der Steuersparmodelle
beim freifinanzierten Mietwohnungsbau haben wir gestoppt, die degressive Abschreibung aber erhalten. Mehr
Effizienz und mehr Gewicht auf nachhaltige, von guten
Marktaussichten unterfütterte Investitionen mit kostenbewußterer Planung sind die Folge.
Sechstens. Das KfW-Programm für die Modernisierung und Instandsetzung von Wohnungen und Häusern
in den neuen Bundesländern haben wir von 70 auf 89
Milliarden DM aufgestockt.
({15})
Siebtens. Das KfW-Programm „Eigentum für junge
Familien“ und das KfW-Programm „CO2-Minderungsprogramm“ wurden ebenfalls aufgestockt.
Achtens. Wir forcieren die Energieeinsparverordnung. Wir sind im Gespräch mit den Ländern und den
Verbänden und werden bald einen überarbeiteten Entwurf vorlegen. Zur Erinnerung: Die alte Regierung hat
über Monate hinweg die Energieeinsparverordnung einfach liegengelassen, weil sie sich gescheut hat, diese
schwierigen Gespräche zu führen.
Neuntens. Zum Mietrecht wird die Regierung unter
Federführung des Bundesjustizministeriums - die Bundesjustizministerin hat dazu ja schon öffentlich Stellung
genommen - einen eigenständigen und ausgewogenen
Gesetzentwurf vorlegen. Die Abstimmungsgespräche
zwischen Justiz- und Bauministerium sind in großer
Übereinstimmung abgeschlossen worden.
({16})
Zehntens. Mit einem Programm „Bauforschung und
Bautechnik“ - Federführung beim BMBF - unterstützen
wir innovative Ideen und Konzepte bei Baugewerbe und
Bauindustrie, um die Betriebe fit zu machen für den
Wettbewerb in Europa und darüber hinaus.
Elftens. Auch in die Bauland- und Bodenpolitik ist
Bewegung gekommen. Eine Kommission des Deutschen
Verbandes - damals eingesetzt nach einer Intervention
im Vermittlungsausschuß von Rotgrün zum Baugesetzbuch ({17})
hat Vorschläge unterbreitet, die dazu beitragen können,
daß wieder mehr baureifes Land an den Markt kommt
und das Bodenmanagement besser funktioniert.
Zwölftens. Schließlich arbeiten wir verstärkt im europäischen und internationalen Kontext. In Europa tauschen wir uns aus über Programme der „Sozialen Stadt“,
um letztlich auch europäische Entscheidungen stärker
beeinflussen zu können. Mit der hochrangigen Konferenz „Urban 21“ im Juli 2000 in Berlin geben wir der
internationalen Diskussion über die Stadtentwicklung
der Zukunft neue Impulse.
All das ist die Bilanz von nur zwölf Monaten. Wir
haben schon vieles erreicht, aber wir haben noch vieles
vor.
({18})
Wir werden gezielt, solide, ohne Hast, aber zügig die
Wohnungs- und Städtebaupolitik in diesem Land weiterentwickeln: zu mehr Innovation, zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Treffsicherheit und zu mehr Effizienz.
Im Mittelpunkt stehen die Menschen, die ausreichend
Wohnraum brauchen - in Stadträumen und Städten, die
alltagsgerecht und zukunftsfähig zugleich sind und in
denen man sich wohl und zu Hause fühlt.
Vielen Dank.
({19})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Dr. Kansy, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Staatssekretär Großmann, ich sage gleich noch etwas zu
Ihrer grandiosen Geschichtsklitterung der letzten Legislaturperiode. Manches von dem, was Frau Kollegin
Ostrowski gesagt hat, mag richtig sein. Nur, warum das
in einer Aktuellen Stunde diskutiert werden soll, ist mir
nicht ganz klar. Das wird ein Dauerbrenner sein, solange
es diese Bundesregierung gibt.
({0})
Meine Damen und Herren, ich hätte dem neuen Minister gerne noch ein paar Wochen Zeit gegeben, damit
er hier ein bißchen Profil zeigen kann, aber eines ist
doch wohl richtig: Vom Mieterbund bis zum Gesamtverband der Wohnungswirtschaft, vom Bundesrat bis zu
den kommunalen Spitzenverbänden, von Fachzeitungen
bis zu Tageszeitungen ist das Urteil einmütig. Die
„Frankfurter Rundschau“, nicht gerade unionsnah, hat
dies bei dem Wechsel des Ministers Müntefering zu Minister Klimmt wie folgt betitelt: „Traurige Bilanz - ein
Konzept ist nicht zu erkennen.“ Das ist genau das, worüber wir heute reden.
Herr Kollege Großmann - inzwischen Herr Staatssekretär -, wir waren weiter. Wir hatten eine völlig durchformulierte Reform des sozialen Wohnungsbaus.
({1})
Die haben Sie im Rahmen der Lafontaineschen Blockadepolitik mit Ihren Mehrheiten im Bundesrat zynisch
scheitern lassen.
({2})
Der vorherige Bauminister Oswald hat zwar im Bereich Wohngeld auch keine finanziellen Wunder vollbringen können, aber es war immerhin eine Novelle von
etlichen Millionen DM drin.
({3})
Sie haben 1,5 Milliarden DM versprochen, und statt dessen erscheint Wohngeld jetzt auf der Kürzungsliste dieser Regierung,
({4})
indem Sie 2,5 Milliarden DM zu den Ländern und Gemeinden schieben wollen. Meine Damen und Herren,
das ist die eigentliche Tragik beim Wohngeld. Ich sage
das, damit Sie sich nicht wieder einmal blamieren.
({5})
Das ist der Super-GAU für diese virtuelle Wohngeldnovelle, weil das natürlich im Bundesrat nicht durchgeht. Deswegen hat sie Eichel aus dem Paket herausgenommen. Entweder fehlen jetzt 2,5 Milliarden DM im
Bundeshaushalt, oder Sie sind ein ganzes Stück zurück
hinter dem, was Minister Oswald Ihnen noch vor zwei
Jahren vorgeschlagen hat. Dann hätten wir schon eine
Wohngeldreform in diesem Land gehabt.
({6})
Dasselbe gilt für den sozialen Wohnungsbau. Herr
Staatssekretär, Sie haben früher gesagt, Herr Kohl macht
zu wenig, aber Sie haben die Mittel noch einmal halbiert. Im frei finanzierten Wohnungsbau basteln Sie so
viel am Steuerrecht herum, daß er einbricht. Die Eigenheimförderung, die Sie so gelobt haben und bei der Sie
in Bundestag und Bundesrat zugestimmt haben, knabbern Sie an allen Ecken an: vorne, was den Vorkostenabzug betrifft, hinten, was die Eigentumsgrenzen betrifft. Jetzt wird im Haus sogar schon diskutiert, ob man
nicht eine Rückzahlungspflicht der Eigenheimzulage ab
einem bestimmten Einkommen einführen sollte. Wer
soll denn mit dieser politischen Grundlage in diesem
Land überhaupt noch Wohnungen bauen, meine Damen
und Herren?
({7})
Ich möchte auch in Richtung des Ministers sehr
ernsthaft sagen - daß er heute nicht dasein kann, akzeptieren wir; der Terminkalender ist sehr ausgefüllt -: Sie
werden alle anstehenden Reformvorhaben - sei es beim
sozialen Wohnungsbau, sei es das angesprochene Altschuldenhilfe-Gesetz, sei es eine seriöse Wohngeldnovelle - nicht mehr in der arroganten Art machen können,
in der Sie hier vor Jahr und Tag angetreten sind und gesagt haben: Was wollen Sie eigentlich? Wir brauchen
Sie nicht mehr. Sie brauchen uns dringender denn je, erstens, weil Sie keine Mehrheiten mehr haben, und
zweitens, damit Sie unsere Gedanken und unseren Fachverstand endlich bitte wieder in Anspruch nehmen. Dazu
stehen wir bereit. Aber bisher ist Ihre Bilanz null.
({8})
Nun hat die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die PDS beantragt ohne Anlaß eine Aktuelle
Stunde, hinter der mal wieder eine der üblichen PDSForderungen steht: Mehr Geld, mehr Geld, mehr Geld.
So war auch Ihre Rede, Frau Kollegin Ostrowski. Auch
zehn Jahre nach dem Mauerfall hat die PDS immer noch
nicht begriffen, daß Geld ein begrenztes Gut ist und daß
verantwortliche Politik auch mit den Leistungsgrenzen
staatlicher Finanzen umzugehen hat.
({0})
Das Ärgerliche daran ist - das möchte ich schon einmal deutlich sagen -: Ein wesentlicher Teil der Staatsverschuldung der letzten Jahre und der aktuellen Sparzwänge ist nolens volens auch das Ergebnis des dramatischen Herunterwirtschaftens der Städte, Wohnungen
und Infrastruktur und der primitiven Bautechnik, die Sie
40 Jahre lang in der DDR betrieben haben.
({1})
- Doch, das muß zehn Jahre nach dem Mauerfall noch
mal deutlich gesagt werden.
({2})
Wir kritisieren die Politik und auch die Vereinigungspolitik der alten Kohl-Regierung in den letzten
zehn Jahren. Dabei wurden viele Schulden gemacht, die
nicht nötig gewesen wären. Ich erinnere nur an die beleuchteten Äcker im Osten und an die vielen Bürobauten, die jetzt leer herumstehen.
Daher sollten wir die Fehler der Nachvereinigungspolitik der letzten zehn Jahre und die Fehler der 40 Jahre
vorher, für die Sie stehen müssen, nicht einfach in einen
Topf werfen. Sie können sich hier nicht unschuldig reden und so tun, als könnte unsere Gesellschaft praktisch
ständig Geld drucken und alles locker bezahlen. Hier
stehen auch Sie mit in der Pflicht.
({3})
Es ist wahr, und wir haben keine Probleme, das zuzugeben, daß wir einen starken Rückgang des sozialen
Wohnungsbaus haben. Das ist der Kern Ihrer Kritik. Der
Verpflichtungsrahmen in Höhe von 3,4 Milliarden DM
für 1994 ist stark auf 1,3 Milliarden DM für 1998 - also
bereits unter dieser Regierung - gesunken. Und Sie haben recht: Es gibt noch einen weiteren Abbau.
Aber auf der anderen Seite - das hat Staatssekretär
Großmann eben sehr deutlich dargelegt - sind die Bestandspflege und die Bestandserhaltung sehr wohl von
allen Sparmaßnahmen ausgenommen worden. Das Programm „Soziale Stadt“ ist neu initiiert worden. Die
Städtebauförderung ist erhalten geblieben. Die KfWKredite Ost sind wieder neu aufgelegt worden. Die CO2Minderung ist erhalten geblieben, und wir haben - das
geht in Richtung des Kollegen Kansy - die Wohngeldreform geschafft, die Sie trotz Ihrer verbalen Forderungen
auf Grund der finanziellen Situation nicht auf die Reihe
bekommen haben. Ich erinnere Sie nur an Ihren Antrag
und die fehlenden 250 Millionen DM, von denen Oswald seinerzeit behauptet hat, er hätte sie. Er hat nie eine
Novelle auf den Tisch legen können. Das sollten Sie
endlich einmal zugeben. Daher appelliere ich gerade an
Ihre Verantwortung. Ich habe das hier schon mehrfach
getan. Ich finde es hochinteressant, daß Sie hier und
auch neulich im Ausschuß deutlich ausgesprochen haben, daß Sie die Wohngeldnovelle boykottieren wollen.
Das müssen Sie vor der deutschen Bevölkerung und vor
allen Wohngeldempfängern verantworten. Das ist Ihre
Aufgabe. Wir werden noch sehen, wie Sie sich im Vermittlungsausschuß verhalten.
({4})
Ich möchte eines sagen. Wir brauchen im sozialen
Wohnungsbau nicht mehr so viel Geld wie früher, weil
es nicht um Neubau geht. Wir brauchen aber sehr wohl darum bemühen sich auch beide Koalitionsfraktionen
sehr intensiv - eine Reform des sozialen Wohnungsbaus. Wir brauchen dafür auch ein bestimmtes Mittelkontingent als Basis. Aber die Aufgaben haben sich verändert: Wir brauchen eine Bestandserneuerung. Wir
brauchen die Sicherung von Belegrechten, wir brauchen
die Stabilisierung von Siedlungen und Stadtteilen, und
wir brauchen mehr Wohnumfeldverbesserungen.
Ich warne vor einer Wohnungspolitik, die - so, wie
Sie und die PDS das immer wieder sagen, was angesichts des Wohnungsleerstandes im Osten schon fast
witzig ist - immer nur auf mehr Bauen setzt, als ob die
Neubauzahlen etwas über die Qualität der Wohnungspolitik aussagen würden.
({5})
Daher geht es um veränderte Ziele. Dafür stehen wir
auch in dieser Koalition.
Lassen Sie mich ein Letztes kritisch sagen: Wir Baupolitiker von beiden Fraktionen der Koalition wissen
sehr wohl, daß die Kürzungen im Baubereich sehr viel
größer waren als im Verkehrsbereich. Wir engagieren
uns sehr, dieser Entwicklung ein Stück weit gegenzusteuern. Ich erwarte von der Koalition und auch von der
Regierung, daß sie dieses Bemühen unterstützt, denn
ohne eine wenigstens teilweise Stabilisierung der Mittel
wird es uns nicht gelingen, die dringend notwendige Reform im sozialen Wohnungsbau auf den Weg zu bringen. Dafür stehen wir gemeinsam in der Pflicht.
({6})
Das Wort hat der
Kollege Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!
Ein Wort vorweg zu Herrn Staatssekretär Großmann: Er
hat von einer Eröffnungsbilanz mit einer gigantischen
Schuldenlast gesprochen. Ich glaube, es ist mittlerweile
unstrittig von allen verantwortlichen Institutionen festgestellt worden, daß rund 80 Prozent dieser Schulden
ausschließlich Ergebnis der Finanzierung der deutschen
Einheit sind. Ich finde es geradezu bezeichnend, daß
Herr Großmann kurz vor dem zehnten Jahrestag des
Falls der Mauer genau diese Tatsache mit Tränen in den
Augen beklagt. Ich glaube, das wirft ein richtiges Bild
auf diese Regierung.
({0})
Zum Thema: Diese Bundesregierung hat in ihrer bisherigen einjährigen Amtszeit durchgehend Entscheidungen ausschließlich zu Lasten der Wohnungspolitik getroffen und weitere abschreckende Entscheidungen angekündigt.
({1})
Wenn Herr Großmann jetzt sagt, er würde das weitermachen, kann ich nur sagen: Um Gottes willen! Dies gilt
vor allen Dingen für die Steuerpolitik. Stichworte hierzu
sind die Beschränkungen bei der Verlustverrechnung
zwischen verschiedenen Einkunftsarten oder die Streichung des Vorkostenabzugs. Dies ist geradezu tödlich
für den Bestandskauf.
({2})
Zusätzlich verunsichert die permanente Diskussion
über Vermögensteuer, Vermögensabgabe oder Erbschaftsteuererhöhung potentielle Investoren in den
Wohnungsbau aufs schärfste. Ich will nur hinzufügen:
Die Erhöhung der Erbschaftsteuer im Rahmen der Streichung der Vermögensteuer hat diese Streichung mehr
als überkompensiert. Der Wohnungsbau kann nicht andauernd der Steinbruch der Ausgleichsüberlegungen des
Finanzministers sein. Um den Wahlbetrug komplett zu
machen, wird die Wohngeldreform dadurch finanziert,
daß man die Lasten auf die Kommunen verschiebt.
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, gerade Sie waren
diejenige, die vor diesem Entschluß im Ausschuß und
öffentlich getönt hat, Sie würden einer Verschiebung nur
dann zustimmen, wenn Ihnen eine seriöse Gegenfinanzierung präsentiert würde. Die seriöse Gegenfinanzierung besteht darin, daß man flapsig sagt: Die Kommunen mögen sich an der Differenz bedienen, die durch die
geringere Steigerung der Beamtengehälter in den Kommunen aufgerechnet wird. Das war wahrscheinlich der
größte Bauchklatscher in Ihrer Geschichte. Das ist eine
Lachnummer.
({3})
Damit zusätzlich zum privaten Wohnungsbau der öffentlich geförderte Wohnungsbau einbricht, kürzt diese
angeblich so soziale Regierung die Mittel für den sozialen Wohnungsbau von 1,2 Milliarden DM auf 600 Millionen DM.
({4})
Mich würde einmal interessieren, wie die Präsidentin
des Deutschen Mieterbundes öffentlich reagiert hätte,
wenn wir das in unserer Regierungszeit gemacht hätten
- eine tolle Sache!
({5})
Es bleibt dabei: Die Bundesregierung Rotgrün arbeitet aktiv an der zukünftigen Wohnungsnot. Die Probleme werden uns sehr bald auf die Füße fallen. Rotgrün
hat weder ein Konzept noch eine politische Zielvorstellung - es sei denn, man möchte, auf lange Sicht gesehen,
Eigentumsbildung in Deutschland verhindern und alle
Maßnahmen, die das fördern, beschließen.
Wir brauchen in Deutschland eine neue Wohneigentumsoffensive. Das eigentlich Entscheidende, auch im
Hinblick auf die Rentendiskussion, ist doch eine Stärkung des Wohneigentums und des Gedankens daran.
({6})
Sie machen mit allen Ihren Beschlüssen genau das
Gegenteil. Niemand traut sich mehr, etwas zu entscheiden, weil zum Beispiel dieser berühmte § 2b, den Sie
intelligenterweise beratungsresistent gegen allen Sachverstand in Ihre Gesetzeswerke aufgenommen haben,
jede Möglichkeit der Deutung offenläßt. Man kann vorher wahrscheinlich nicht die eigentlich richtige Entscheidung schriftlich bestätigt bekommen. Das führt
dann genau dazu, daß gar nichts entschieden und nicht
investiert wird. Das, liebe Frau Kollegin EichstädtBohlig, ist das Schlimmste, was uns passieren kann.
({7})
Noch ein Wort zur PDS. Ich kann die Krokodilstränen im Zusammenhang mit der Altschuldenhilfe verstehen. Aber so ganz ohne Verantwortung sind Sie dafür
nicht. Ein Großteil der Wohnungsbaugenossenschaften
hat nämlich deswegen Probleme, weil jetzt auf Grund
der verfehlten Industrie- und Siedlungspolitik der ehemaligen DDR die Probleme massenhaften Leerstandes
auf uns zukommen. Gegen jede Vernunft sind Unmengen von Wohnungen geschaffen worden, die jetzt überhaupt nicht mehr notwendig sind.
({8})
- Damals waren sie zwangsweise notwendig, weil man
die ganze DDR auf einige wenige Punkte konzentriert
hat.
Das ganze Thema ist in der Aktuellen Stunde vielleicht nicht richtig angesiedelt. Aber die wohnungspolitische Katastrophenbilanz des vergangenen Jahres ist
immer aktuell; deswegen kann man sie auch im Rahmen
einer Aktuellen Stunde diskutieren.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat die
Kollegin Gabriele Iwersen, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das Thema dieser Aktuellen Stunde
lautet „Haltung der Bundesregierung zu den jüngsten
Kritiken hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des
Bundes“. Das heißt, es geht nicht allgemein um Wohnungsbaupolitik, sondern ganz speziell um die öffentlich
geäußerte Kritik an der Wohnungsbauförderung.
Wohnungsbauförderung muß in jeder Periode anders
betrachtet werden. Sie hat andere Schwerpunkte, weil
andere Probleme diese Gesellschaft belasten und bedrücken. In Zeiten großen Wohnraummangels hat die
Schaffung neuer Wohnungen eindeutig oberste Priorität.
Zum Beispiel wird dem Kauf aus dem Bestand keine
große Förderung zuteil, weil es zu keiner Schaffung
neuer Wohneinheiten führt.
({0})
Dem steht manchmal ein Vorrang der Mieterprivatisierung gegenüber, um zu verhindern, daß Mieter aus
ehemalig gemeinnützigen oder kommunalen Wohnungsbeständen plötzlich in die Abhängigkeit von Spekulanten geraten.
Auch der Gedanke der Altersvorsorge spielt durchaus
eine Rolle. Das heißt, es gilt, ständig aufs neue abzuwägen, wo Schwerpunkte zu setzen sind.
An erster Stelle steht aber nach wie vor die Versorgung
derjenigen, die sich aus eigener Kraft am Markt nicht versorgen können. In den meisten Fällen sind das junge Familien, die nicht nur finanzielle Probleme haben, sondern
auch noch mit der sehr gering ausgeprägten Kinderfreundlichkeit bzw. der Intoleranz gegenüber Kindern zu
Horst Friedrich ({1})
kämpfen haben. Deshalb stehen die Familien mit Kindern
im wahren Kindesalter in vorderster Reihe. Das wird
wahrscheinlich auch immer so bleiben, ganz gleich, wie
unsere Gesellschaft finanziell ausgestattet ist.
Es geht aber nicht darum, denjenigen, die eine schöne, ausreichend große Wohnung haben, nach dem Motto
„Schöner Wohnen, und das immer wieder neu“ durch
öffentliche Förderung zu noch schönerem Wohnraum
oder zu zusätzlicher Vermögensbildung zu verhelfen.
Das ist zwar auch ein wichtiges Ziel und wünschenswert, aber dies muß nicht unbedingt die Aufgabe der
Wohnungsbaupolitik und kann nicht die Aufgabe eines
hochverschuldeten Staates sein.
Da hat die Wohngeldnovelle einen wesentlich höheren Stellenwert. Denn die Stadtbevölkerung wird auch in
Zukunft zum großen Teil in Mietwohnungen leben, und
sei es nur, um ihre Mobilität und Flexibilität zu bewahren; denn das wird von Arbeitgebern heutzutage mehr
und mehr gefordert. Gerade wer in strukturschwachen
Regionen lebt, macht häufig die Erfahrung, daß Wohneigentum ein wahrer Klotz am Bein sein kann. Da nutzt
auch die ideologische Untermauerung der Forderung
nach mehr Wohneigentum nichts.
({2})
Die immer wieder geforderte Mobilität der Arbeitnehmer steht dieser quasi erzwungenen Seßhaftigkeit, die
im wesentlichen durch Bausparkassen, aber auch durch
politische Aussagen immer wieder untermauert wird,
entgegen. Ich halte mich deshalb ganz stark zurück,
wenn es um das allgemeine Lob steigender Eigentumsquoten geht. Denn auch diese Medaille hat zwei Seiten.
({3})
Der Bundesverband Freier Wohnungsunternehmen
zweifelt die Begründung aus dem Haushaltssanierungsgesetz an, wonach - ich zitiere - Haushalte, die auch
ohne staatliche Förderung in der Lage sind, ihr Wohneigentum zu finanzieren, auch weiterhin Wohneigentum
erwerben werden.
({4})
- Die zitierte Bemerkung stammt aus der Begründung
des Haushaltssanierungsgesetzes. Der Zweifel kommt
vom Bundesverband.
({5})
Die Konsolidierung des Bundeshaushaltes wird von
allen gutgeheißen, quer durch die Bevölkerung, quer
durch alle Schichten. Aber keiner kommt auf die Idee,
zu überlegen, wer dazu einen Beitrag leisten könnte.
Wo, bitte schön, soll denn gespart werden? Zu überlegen
ist, daß es doch viele Haushalte gibt, die gute, ausreichend ausgestattete Wohnungen, Auto, Urlaubsreisen,
zwei- bis dreimal im Jahr, und dergleichen finanzieren
können. Das kann in Zeiten einer sehr angespannten
Haushaltslage nicht unbedingt die Zielgruppe der Wohnungsbauförderung sein.
({6})
Der Staat muß zunächst da helfen, Herr Friedrich, wo
die fehlende Leistungsfähigkeit gleichzeitig zu verminderten Chancen für die zukünftige Generation führt.
Aber die kennen Sie ja gar nicht; denn F.D.P.-Wähler
haben ohnehin keine Kinder.
({7})
- Wenn Sie noch mehr Bemerkungen machen wollen,
können Sie sich ja zu Wort melden. Es reicht langsam.
({8})
In den sozialen Brennpunkten unserer Städte muß die
Hilfe ansetzen. Deshalb ist das Programm „Soziale
Stadt“ weitaus wichtiger als der Ausbau oder die Beibehaltung der Wohneigentumsförderung in vollem Umfange. Es war gut, daß man sie zeitweise hat leisten
können. Zur Zeit können wir dies leider nicht. Die Länder arbeiten jetzt an den detaillierten Programmen zur
„Sozialen Stadt“, und wir haben nun die Aufgabe, eine
stabile Finanzierung und ein gutes Instrument zu schaffen, um in den Brennpunkten unserer Städte Hilfe zu leisten, wo Menschen sonst versacken.
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluß kommen. Dies ist eine Aktuelle Stunde.
Ich habe noch eine Minute
gut, weil hauptsächlich Herr Friedrich gesprochen hat.
So etwas gibt es hier
leider nicht. Sie müssen sich schon wie alle anderen an
die Spielregeln halten.
Zum Schluß noch eine
einzige Bemerkung: Wenn ich mir anschaue, welche
Zielgruppen Kritik geäußert haben - die einen sagen, der
Zweipersonenhaushalt, vermutlich ohne Kinder, werde
jetzt nicht mehr gefördert; dies sei ganz schrecklich;
„Haus und Grund“ hat sogar die ledigen und geschiedenen Facharbeiter als die Geplagten und Geprellten ausgemacht -, dann habe ich den starken Verdacht, daß sich
die Kritik hauptsächlich auf die Interessen der Interessenvertreter und nicht auf die Probleme derjenigen bezieht, die gefördert werden sollen.
Schönen Dank.
({0})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Gert Willner.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Erstens. Sozialer Wohnungsbau
wird zur Mangelware. Die SPD bricht ihre Versprechen bezüglich des sozialen Wohnungsbaus: Im ersten
Schröder-Jahr gab es 250 Millionen DM weniger Bundesfördermittel. Im zweiten Schröder-Jahr gab es 750
Millionen DM weniger. Im dritten Schröder-Jahr gab
es 900 Millionen DM weniger. Die SPD kürzt binnen
zweier Haushaltsjahre die Mittel radikal um 60 Prozent, obwohl Wohnungsbau ein Investitionsschwerpunkt ist. Gleichzeitig schrumpft der Bestand an Wohnungen. Damit stehe der Wohnungsbau vor dem Aus,
so Mieterbunddirektor Franz-Georg Rips, der weiter
gesagt hat: Preiswerte und bezahlbare Mietwohnungen
werden in den nächsten Jahren Mangelware sein.
Zweitens. Rotgrün vernichtet Arbeitsplätze.
({0})
Der Bau von 10 000 neuen Wohnungen erzeugt Beschäftigungseffekte von 20 000 Arbeitsplätzen je Wohnungsbauprogramm. Durch Ihre Wohnungsbaupolitik
verhindern Sie jeden Monat den Bau Tausender neuer
Wohnungen. Sie schließen die Augen vor der Tatsache,
daß allein der Erneuerungsbedarf auf 350 000 bis
400 000 Wohnungen geschätzt wird. Sie hatten vor der
Wahl noch vollmundig erklärt, in rotgrüner Verantwortung den Bau von Sozialwohnungen zu stärken. Die
überzogenen Einschnitte in den Wohnungsbau sind zu
mißbilligen. Sie stellen eine Schwächung der Investitionskraft dar. Die Politik darf die Augen vor dem alarmierenden Auftragsrückgang im Hochbau nicht verschließen.
({1})
Wer den Rückgang der Arbeitslosigkeit zu seinem
Hauptziel erklärt, kann dies nur mit dem arbeitsintensiven Baugewerbe und nicht gegen das Baugewerbe
schaffen.
({2})
Wir brauchen eine Verstetigung in der Bauwirtschaft
und keinen Zickzackkurs. Ihre Wohnungsbaupolitik im
sozialen Wohnungsbau führt in die Sackgasse.
Drittens. Die Begrenzung der Verlustverrechnung ist
ebenfalls der falsche Weg. Dies ist der falsche Ansatz in der Wohnungsbaupolitik und führt zur Verunsicherung über die Behandlung von Investitionen im
Mietwohnungsbau. Die Begrenzung der Verrechenbarkeit von Verlusten aus Vermietung und Verpachtung wird zu einem breiten Ausstieg aus dem frei finanzierten Wohnungsbau führen. Aber es ist wichtig,
daß auch weiterhin privates Kapital für den Wohnungsbau mobilisiert wird. Der Mietwohnungsbau wird
schließlich zu rund zwei Dritteln frei finanziert und
stellt bisher eine zentrale Stütze der Wohnungsversorgung dar.
Viertens. Es war unsinnig, den Vorkostenabzug für
Erhaltungsaufwendungen zu streichen. Auch hier gehen
Sie den falschen Weg. Damit ist auch die Mieterprivatisierung - darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen benachteiligt worden.
Fünftens. Wir benötigen eine Einigung über die Reform der rechtlichen Grundlagen des sozialen Wohnungsbaus. Dies ist überfällig. Wir brauchen eine Bestandsförderung gleichrangig neben der Neubauförderung. Wir brauchen mehr vereinbarte Förderung. Wir
brauchen mehr kommunale Entscheidungsfreiheit. Wir
brauchen eine stärkere Durchmischung der Bestände.
Aber dies setzt eine angemessene Bereitstellung von
Mitteln für den sozialen Wohnungsbau voraus. Der jetzige Verpflichtungsrahmen ist dafür keine geeignete
Grundlage.
({3})
Sechstens. Rotgrün erhöht die Wohnnebenkosten.
Dies ist ebenfalls der falsche Weg. Wir alle wissen, daß
sich inzwischen die Wohnnebenkosten praktisch zu einer zweiten Miete entwickelt haben. Die privaten Haushalte - Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger werden in besonderer Weise durch die Ökosteuer belastet. Dieser Personenkreis hat keine Chance, sich Entlastung zu verschaffen. Dies ist der falsche Weg.
Es drohen Kürzungen der Bauinvestitionen bei den
kommunalen Wohnungsunternehmen. Wenn die von
Rotgrün geplante Nachversteuerung der abschreibungsbedingten Verluste als verdeckte Gewinnausschüttung
Wirklichkeit wird, dann führt dies zu Steuernachforderungen in dreistelliger Millionenhöhe. Die betroffenen
Unternehmen werden vor unlösbare Probleme gestellt.
Es drohen Investitionskürzungen bei der Modernisierung, der Instandhaltung und dem Neubau. Das können
Sie doch nicht wollen. Auch hier gehen Sie den falschen
Weg.
Achtens. Eine Nullquote des Bundes bei der Mitfinanzierung der Wohngeldnovelle ist inakzeptabel. Das,
was Sie mit der Wohngeldreform vorhaben, ist eine
plumpe Verschiebung auf Länder und Gemeinden. Das
ist schon diskutiert worden.
Neuntens. Sozialhilfeempfänger können die Verlierer
der Wohngeldreform sein. Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß die Gemeinden faktisch gezwungen sind,
die Sozialhilfeempfänger in für die Gemeinden dann finanzierbarem Wohnraum unterzubringen - und das
heißt doch: möglichst einfach, möglichst billig und meistens schlecht -, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß
dann auch neue Containerbauten oder Wohnheime entstehen. Auch dies kann doch, bitte sehr, nicht Ihr Ziel
sein.
({4})
Meine Damen und Herren, ein letztes Wort: Eigenheimförderung ist Altersvorsorge. Die private Altersvorsorge muß künftig einen höheren Stellenwert einnehmen. Wer an der Eigenheimförderung herumschnippelt,
leistet einen schlechten Dienst für die Konjunktur und
für die private Altersvorsorge. Dem selbstgenutzten
Wohnungseigentum kommt eine herausragende Bedeutung zu.
({5})
Wohnungseigentum stellt neben der Rentenversicherung
die zweite Säule der Versorgung dar. Wir müssen Eigenheimförderung konsequent erhöhen und dürfen sie
nicht abbauen.
Meine Damen und Herren, all dies zeigt: Sie sind
nicht auf dem richtigen, sondern auf dem falschen Weg.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Helmut Wilhelm.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Anlaß dieser Aktuellen Stunde zur
jüngsten Kritik hinsichtlich der Wohnungsbauförderung
des Bundes ist geeignet, die überaus wichtigen Fragen
und Erfordernisse einer modernen und sozialen Wohnungsmarktwirtschaft nochmals für die Öffentlichkeit zu
debattieren. Allerdings meine ich, aus dieser Debatte
werden weder die PDS noch die Oppositionsparteien
Kapital schlagen können, wie sie es sich sicherlich erhofft haben. Denn wir alle wissen doch ganz genau, daß
es nicht verantwortet werden kann, die öffentliche Hand
in eine Verschuldung zu treiben und damit strukturell
handlungsunfähig zu machen, seien die Motive auch
noch so edel.
({0})
„Der von der Bundesregierung eingeschlagene Weg
der Haushaltskonsolidierung ist vom Prinzip her richtig“, sagt auch der GdW-Bundesverband deutscher
Wohnungsunternehmen. Darum stehen bei Rotgrün die
Staatsverschuldung und die damit verbundene Reduzierung der Kreditaufnahme und der Zinslast ganz oben
auf der politischen Tagesordnung. Neue Mittel locker
zu machen ist nicht möglich. Wer dies fordert, handelt
ohne politisches Verantwortungsgefühl, rein populistisch, und weckt in der Öffentlichkeit falsche Hoffnungen, die aus den bekannten Gründen unerfüllbar
bleiben müssen.
({1})
Damit wird aber die Wohnungspolitik vor ganz neue
Herausforderungen gestellt.
Wachsende Aufgaben müssen mit sinkenden Etats
bewältigt werden. Das heißt, wir müssen die vorhandenen Mittel auf vordringliche Aufgaben konzentrieren.
Wohnungspolitik und Wohnungsbauförderung nach dem
Gießkannenprinzip sind nicht mehr bezahlbar. Wer unter
diesen Umständen aber den Mut zu Reformen nicht aufbringt, statt dessen aus populistischen Gründen lediglich
Forderungskataloge einreicht und prompte Erfüllung
verlangt, verspielt den sozialen Auftrag der Wohnungspolitik.
„Mehr Staat ist in der Regel nicht gleichbedeutend
mit mehr Gerechtigkeit oder sozialer Kompetenz“, wird
zu Recht auch vom GdW bemerkt. Statt dessen müssen
die eigenverantwortlichen Handlungsspielräume der
beteiligten Akteure gestärkt werden. Darum hat die
Bundesregierung das Programm „Soziale Stadt“ aufgelegt, ein Programm mit „konzeptioneller Vorbildfunktion“, wie ebenfalls der GdW urteilt.
Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf sollen
durch eine Kombination des Einsatzes investiver Bundesmittel und nichtinvestiver Landes- und Gemeindemittel vor dem Umkippen bewahrt werden. 100 Millionen DM jährlich, 300 Millionen DM insgesamt werden
dafür vom Bund bereitgestellt. Daneben werden das
CO2-Minderungsprogramm sowie das Wohnungsbaumodernisierungsprogramm in vollem Umfang weitergeführt. Ebenso wird die Städtebauförderung auf dem bisherigen Niveau fortgesetzt. Die Schaffung eines neuen
Mietrechts ist in die Wege geleitet. Dies, meine Damen
und Herren, ist angesichts der Haushaltsproblematik ein
großer Erfolg. Das ist verantwortliche Wohnungspolitik,
({2})
nicht aber, Wohnungseigentumsförderung ohne Einkommensobergrenze - sprich: für Millionäre - zu fordern, wie das die F.D.P. in der letzten Ausschußsitzung
getan hat.
({3})
Wir können und werden uns jetzt natürlich nicht zufrieden zurücklehnen und die Probleme als gelöst betrachten. Wir alle in diesem Haus müssen stärker als
bisher lernen, die soziale und räumliche Dimension der
Wohnungspolitik zu verstehen, um geeignete Steuerungsinstrumente zu entwickeln. Das Programm „Soziale Stadt“ war nur der Anfang; darum engagieren wir
Grüne uns besonders für Konzepte zum Abbau von
Leerständen, insbesondere im östlichen Teil Deutschlands.
Bestandserneuerung und Stabilisierung von Nachbarschaften und Quartieren sind Ziele unserer Wohnungspolitik.
({4})
Wir brauchen Wohnungsbaugesellschaften und Träger,
die nicht nur auf den Neubau spezialisiert sind, sondern
auch auf die Stabilisierung und Verbesserung von Nachbarschaften. Diese Aufgaben brauchen einen rechtlichen
Rahmen und werden diesen auch erhalten. Konstruktive
Beiträge der Opposition werden dabei gern aufgenommen.
Ich meine, die Wohnungsbauförderung der Bundesregierung befindet sich auf einem guten Weg.
({5})
Das Wort hat der
Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wohnungsbaupolitik
der Bundesregierung, besonders die, die Ostdeutschland
betrifft, gleicht der Situation auf der Kommandobrücke
der Titanic. Aus lauter Freude und Eitelkeit über das
schmucke Aussehen des Dampfers werden gefährliche
Eisberge ringsum zuhauf kaum zur Kenntnis genommen.
({0})
Auf der Regierungsbank, Herr Staatssekretär Großmann, herrscht offenbar viel Zufriedenheit. Aber die von
Kollegin Ostrowski aufgeworfenen Fragen aus dem Leben der Bürgerinnen und Bürger haben Sie leider nicht
oder nur unzureichend beantwortet. Derweil aber sind
ostdeutsche Wohnungsunternehmen an vielen Standorten kurz vor dem Absaufen mit Auswirkungen auf Mieterinnen und Mieter. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die PDS nicht hinnehmen.
({1})
Allein in Sachsen-Anhalt stehen - um ein Problem
herauszugreifen - derzeit 150 000 Wohnungen leer. Das
sind etwa 15 Prozent aller verfügbaren Wohnungen. In
der Berg- und Rosenstadt Sangerhausen, in Wolfen im
Chemiedreieck oder in Stendal in der Altmark liegt die
Leerstandsquote bei annähernd 25 Prozent. Im Rathaus
der Großstadt Halle an der Saale sind derzeit von insgesamt 150 000 Wohnungen 17 000 als leerstehend bekannt. Die Leerstandsquote in Ostdeutschland wächst
und wächst.
({2})
Kollege Staatssekretär Großmann, dazu haben Sie leider
wenig ausgeführt.
Der Hauptgrund für den Leerstand in vielen Städten
ist der Wegbruch von Arbeitsplätzen und die daraus resultierende massenhafte Bevölkerungsabwanderung.
Ganze Ballungsgebiete wurden plattgemacht. Ein Beispiel: Mit der Schließung der Schächte im Mansfelder
Revier in Sachsen-Anhalt sind 1990 mit einem Schlag
18 000 Menschen arbeitslos geworden. Das hatte natürlich Auswirkungen auf die Bevölkerungsbewegung.
Wohnungsmarktbedingte Abwanderung ins Umland
verschärft dieses Problem noch. Wer über ein sicheres
Einkommen oder ein entsprechendes Guthaben verfügt,
zieht oft aus der Stadt ins Grüne. Ein anderer Teil wiederum, der zunehmend wächst, muß aber dableiben,
kann seine Miete, vor allem die ausufernden Betriebskosten, kaum noch oder bereits nicht mehr bezahlen.
Mit fehlenden Mieteinnahmen wegen Leerstands in
Millionenhöhe und Millionenverlusten wegen Mietschulden aber kann kein Wohnungsunternehmen bestehen, vor allem dann nicht, wenn es zusätzlich noch von
irrationalen Privatisierungsauflagen - ich wiederhole: irrationalen Privatisierungsauflagen - aus dem Altschuldenhilfe-Gesetz geknechtet wird.
({3})
Wohnungsunternehmen in Sachsen-Anhalt sind von diesem Zustand ganz besonders betroffen.
Es wird für die Bundesregierung allerhöchste Zeit,
endlich einen auf die Veränderung der Lage abzielenden Kurs einzuschlagen. Notwendig sind sofort koordinierte Maßnahmen von Bund und ostdeutschen Ländern, für die die PDS konkrete Vorschläge und Finanzierungsalternativen unterbreitet hat. Ich nenne die
wichtigsten:
Erstens. Notwendig ist die sofortige Streichung der
Altschulden nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz.
({4})
Wir erwarten, Herr Staatssekretär, daß Sie Ihren vielen
Ankündigungen nunmehr Taten folgen lassen. Auch
heute gab es wieder nur vage Ankündigungen. Noch in
diesem Jahr gehört ein Gesetzentwurf auf den Tisch des
Berliner Reichstages.
Zweitens. Dringend geboten ist die Mitfinanzierung
des Bundes bei städtebaulichen und infrastrukturellen
Maßnahmen in den betreffenden Neubaugebieten, einschließlich dem Rückbau vorhandener Wohngebäude.
Drittens. Rasch erforderlich ist die Bereitstellung von
Bundes- und von Landesbürgschaften für Wohnungsunternehmen, die wegen Leerstand in Not geraten sind.
Darüber sollte noch während der laufenden Beratungen
zum Bundeshaushalt 2000 entschieden werden.
Viertens. Notwendig ist die Verankerung einer Modellstadtinitiative für betreffende Neubaugebiete im
Bundeshaushalt, analog dem Programm zur Sanierung
ostdeutscher Innenstädte.
Und auch die Finanzierung dieser und weiterer
Maßnahmen im Bundeshaushalt kann gesichert werden. Es ist nicht so, daß das Geld nicht vorhanden
wäre. Ein ganz wichtiger Weg zur Mobilisierung
der Finanzen ist: Die Bundesregierung soll endlich
nachweisbar und anhaltend auf die Finanzierung der
verkehrspolitisch fragwürdigen Magnetschwebebahn
Transrapid verzichten.
({5})
Allein mit diesem Projekt soll im nächsten Jahr rund
1 Milliarde DM sprichwörtlich in den märkischen Sand
gesetzt werden - und dies in einer Situation, in der
gleichzeitig die Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland vielerorts vor dem Zusammenbruch stehen.
Herr Staatssekretär Großmann, es gibt viel zu tun.
Packen Sie es in der Bundesregierung endlich an, und
steuern Sie einen neuen, einen bürgerfreundlichen Kurs
auch in der Wohnungsbaupolitik an! Das Geld hierfür ist
Helmut Wilhelm ({6})
da. Sie müssen aber politische Entscheidungen dazu
treffen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der
Kollege Dieter Maaß, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine der Oppositionsparteien in
diesem Hause, die PDS, fordert eine Aktuelle Stunde
unter dem Titel „Haltung der Bundesregierung zu den
jüngsten Kritiken hinsichtlich der Wohnungsbauförderung des Bundes“.
Man müßte noch hinzufügen, daß einiges dieser Kritik ursprünglich von einem Verband geäußert wurde und
nun im Bundestag diskutiert werden soll. So etwas
bringt der antragstellenden Partei natürlich Aufmerksamkeit, ohne daß sie selbst ihre Position eindeutig formulieren muß.
Gleichwohl enthält die Entschließung auf dem Verbandstag des Gesamtverbandes deutscher Wohnungsunternehmen, GdW, positive und kritische Bewertungsmerkmale unserer Wohnungspolitik. Ich möchte einige
dieser Bewertungen aufgreifen.
Ebenso wie wir ist der GdW der Meinung, daß der
soziale Wohnungsbau beibehalten werden muß. Er ist
ein wichtiger Bestandteil einer sozial gerechten Gesellschaft, und er ist eine ständige Aufgabe jeder verantwortlichen Bundesregierung.
({0})
Zustimmung bekommen wir vom GdW auch zu unserem Projekt „Soziale Stadt“. Stadtteile mit besonderem
Entwicklungsbedarf vor dem Umkippen zu bewahren,
nennt auch der Gesamtverband deutscher Wohnungsunternehmen zukunftsweisend.
Eine weitere Forderung des GdW-Verbandstages,
nämlich die Vereinheitlichung und Erhöhung des Tabellenwohngeldes, haben wir bereits im Ausschuß für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen beschlossen.
Die von uns getragene Bundesregierung steht vor der
großen Aufgabe, den Bundeshaushalt zu sanieren. 1 500
Milliarden DM Schulden müssen wir abbauen, weil die
Handlungsfähigkeit des Staates wiederzugewinnen und
zu erhalten ist. 81 Milliarden DM Zinsleistungen pro
Jahr können nicht hingenommen werden. Unter dieser
Prämisse sind die aktuellen wohnungspolitischen Probleme aufzugreifen und zu lösen.
Darum ist eine Reform des sozialen Wohnungsbaus
notwendig. Ziel dieser Reform muß es sein, die vorhandenen Mittel effizient und zielgerichtet für bedürftige
Haushalte und in Gebieten mit besonderen sozialen Problemen einzusetzen. Angesichts auslaufender Belegbindungen muß die Förderung verstärkt zum Erhalt von
Bindungen, zur Bestandserneuerung und zur Stabilisierung der vorhandenen Wohnquartiere eingesetzt werden.
({1})
Ich füge hinzu: Wir müssen für Frauen und Männer,
die eine Familie gründen wollen, die Wohnberechtigung
im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus neu gestalten.
Auf Grund der geltenden Einkommensgrenzen haben sie
praktisch keinen Zugang zum sozialen Wohnungsbau.
Wie in Zukunft die Fehlbelegerabgabe angewandt wird,
hängt natürlich davon ab, ob sie den Erhalt von durchmischten Wohngebieten steuern kann. Zustimmung erhalten wir auch zu der Fortsetzung des KfWModernisierungsprogramms. Im Haushalt 2000 tragen
wir dem Rechnung.
Überlegenswert finde ich auch die Anregung, eine
Neufassung der Genossenschaftsförderung vorzunehmen. Als damalige Opposition mußten wir im Eigenheimzulagengesetz die Einschränkung auf neu gegründete, einkommensorientierte Genossenschaften akzeptieren, um überhaupt eine steuerliche Förderung für Genossenschaftsmitglieder durchzusetzen. Eine entsprechende Neuregelung bleibt einer Reform des sozialen
Wohnungsbaus vorbehalten.
({2})
In seiner Entschließung macht der Gesamtverband
deutscher Wohnungsunternehmen weitere Vorschläge
zu dieser notwendigen Reform. Beispiele sind die Teilmarktorientierung der Förderpolitik und die Vergleichsmiete an Stelle der Kostenmiete. Selbst der
größte Kritiker unserer Politik wird nicht erwarten, daß
wir nach einem Jahr Regierungsverantwortung auch diese Reform schon auf den Weg gebracht haben. Wenn
wir diese Reform einleiten, wird es Gespräche und Anhörungen geben. Was von den in diesem Zusammenhang gemachten Vorschlägen sinnvoll und machbar ist,
wird dann Berücksichtigung finden. Für eine wirkliche
Reform des sozialen Wohnungsbaus müßten allerdings
die in der Finanzplanung des Bundes für diesen Zweck
vorgesehenen Mittel angehoben werden.
Meine Schlußfolgerungen zu diesem Thema lauten:
Insgesamt gesehen können wir mit der Kritik, wie sie
der Gesamtverband deutscher Wohnungsunternehmen
vorbringt, gut leben. Denn auch der GdW bescheinigt
der Bundesregierung, mit dem eingeschlagenen Weg vom Prinzip her - richtig zu liegen. Die SPD-geführte
Bundesregierung hat angesichts der vorgefundenen
Haushaltssituation die Weichen richtig gestellt, einen
undifferenzierten Kahlschlag im sozialen Wohnungsbau
vermieden und die notwendigen Reformen auf den Weg
gebracht.
({3})
Natürlich sind wir noch nicht am Ziel; aber die
Richtung stimmt. Das noch einmal vor dem Bundestag
erklären zu können, hat diese Aktuelle Stunde immerhin
ermöglicht.
Vielen Dank.
({4})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Norbert Otto.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Mitglieder der Regierungsfraktionen, mit wachsender Verwunderung können
wir beobachten, wie Sie es seit einem Jahr kontinuierlich
schaffen, sozialdemokratische Grundsätze über Bord zu
werfen. Daß Sie dabei ein großes Stück Ihrer Identität
aufgeben und eine große Masse von Stammwählern verprellen und verlieren, kann uns als CDU/CSU nur recht
sein. Relativ egal könnte uns auch sein, daß Sie mit Ihrer
Politik schamlos die eigenen Wahlzusagen brechen. Bedauerlich und vor allen Dingen ärgerlich ist es aber, daß
Sie mit Ihrer Wohnungspolitik einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung und vor allem der deutschen
Wirtschaft massiv schaden.
({0})
Die jüngst beschlossenen Kürzungen im Bereich des
sozialen Wohnungsbaus sind ein gutes Beispiel dafür.
Einst stand doch der soziale Wohnungsbau im Mittelpunkt Ihrer Wohnungspolitik. Die Fakten sehen inzwischen so aus: Kürzungen um 250 Millionen DM im
ersten rotgrünen Jahr, 750 Millionen DM weniger im
zweiten Jahr und im dritten rotgrünen Jahr sogar
900 Millionen DM weniger Fördermittel, sofern Sie dieses Jahr als Koalition überhaupt noch erreichen. Summa
summarum kürzen Sie die Mittel für den sozialen Wohnungsbau also innerhalb von drei Jahren um knapp
2 Milliarden DM. Statt der versprochenen Erhöhung der
Mittel bedeutet dies eine Halbierung der Mittel gegenüber dem letzten Haushaltsplan der Regierung Kohl. Sie
würgen mit diesen Kürzungen ebenso wie mit der Reduzierung der Eigenheimförderung nicht nur die Baukonjunktur ab, Sie verringern damit langfristig auch den Bestand an bezahlbarem Wohnraum für einkommensschwache Personen und Familien. Ist das sozialdemokratische Politik?
Sie wissen genauso gut wie wir, daß die aktuellen
wohnungspolitischen Probleme in den Wohnungsbeständen und im Auftreten sozialer Erosion in den Wohnsiedlungen liegen. Durch das Auslaufen der Bindungsfristen sinkt der Bestand an Sozialwohnungen jährlich
um 100 000 Einheiten. Preiswerte und bezahlbare Mietwohnungen werden in den nächsten Jahren Mangelware.
Weil das so ist, ist Ihr Instrument der drastischen Fördermittelkürzung insbesondere in den neuen Bundesländern ein vollkommen falscher Ansatz.
({1})
Hören Sie doch auf die Stimmen der Experten der Bauund Wohnungsbranche. Der GdW, der heute schon
mehrfach angesprochen wurde, hat vor wenigen Tagen
mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet, in
der die Bundesregierung dringend davor gewarnt wird,
den sozialen Wohnungsbau Schritt für Schritt zurückzufahren oder gar ganz auf ihn zu verzichten. Der Direktor
des Deutschen Mieterbundes spricht angesichts Ihrer
Pläne sogar von einem Aus des sozialen Wohnungsbaus.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in den nächsten
Tagen werden wir, die CDU/CSU-Fraktion, einen Antrag zur Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
einbringen. Staatssekretär Großmann hat schon darauf
hingewiesen, daß wir mit diesem Antrag eine Entlastung
der Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern erreichen wollen. Die verhaltene Wirtschaftsentwicklung und
ein teilweise spürbarer Bevölkerungsrückgang haben
dazu geführt, daß insbesondere in strukturschwachen
Regionen ein erheblicher Wohnungsleerstand zu verzeichnen ist. Leerstandsquoten von deutlich über
10 Prozent sind inzwischen keine Seltenheit. In nicht
wenigen Fällen stehen sogar 20 Prozent des Wohnungsbestandes leer. Viele der betroffenen Unternehmen haben daher große Probleme, ihre Altschulden zu bedienen. Das bedeutet auch, daß die Unternehmen im Moment noch auf zum Teil dringende Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen verzichten müssen. Anstatt
diese schwierige Umorientierungsphase durch weitere
Kürzung der Fördermittel unnötig zu verlängern, erwarten wir von der Bundesregierung, daß den Unternehmen
eine weiterer Teilerlaß bei den Altschulden gewährt
wird. Dadurch wird sowohl den Unternehmen als auch
den potentiellen Wohnungskäufern geholfen.
({2})
Natürlich wollen wir keine Rückabwicklung des Altschuldenhilfe-Gesetzes, wie von der PDS schon vor einiger Zeit und jetzt wieder in einem zweiten Antrag etwas moderater gefordert wurde. Nein, das geht nicht,
das würden unsere Wohnungsunternehmen in dieser Art
auch gar nicht wollen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, Mitglieder der Bundesregierung haben wiederholt die Umsetzung entsprechender Zusagen in der
Koalitionsvereinbarung in Aussicht gestellt.
Kollege Otto, auch
Sie müssen zum Schluß kommen.
Ja, ich komme
zum Schluß. - Geschehen ist bisher noch nicht viel. Statt
mit der Axt zu einem Kahlschlag bei der Wohnungsbauförderung anzusetzen, sollte die Bundesregierung lieber
die vorhandenen Mittel zielgerichteter und sinnvoller
einsetzen.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Spanier.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich
zum einen bei der PDS für die Beantragung der heutigen
Aktuellen Stunde, zum anderen aber auch bei dem gemischten Chor der Kritiker unserer Wohnungspolitik von Herrn Dr. Kansy bis zu Frau Ostrowski - bedanken,
weil ich die Gelegenheit habe, im Deutschen Bundestag
öffentlich darauf aufmerksam zu machen, daß wir im
Bereich der sozialen Wohnungspolitik in diesen Tagen
einen ganz entscheidenden Reformschritt nach vorne
machen. Der GdW hat nämlich recht, wenn er sagt: Das
Wohngeld ist und bleibt das zentrale Steuerungsinstrument in der sozialen Wohnungsmarktwirtschaft. - Genau an diesem Punkt setzen wir an; genau dieses Instrument wollen wir wieder treffsicher und wirksam machen.
({0})
Wir haben eine Wohngeldnovelle vorgelegt, die nicht
nur mehr Geld, nämlich 1,4 Milliarden DM, bereitstellt,
was in diesen Zeiten - das ist allen in diesem Parlament
klar - ein finanzieller Kraftakt ist. Daß dies der PDS
zuwenig ist, ist völlig klar. Sie verfahren ja grundsätzlich nach dem Prinzip: Wir wollen alles und von allem
noch ein bißchen mehr. Diesen Weg können wir natürlich nicht gehen.
({1})
Wir haben, wie gesagt, nicht nur mehr Geld bereitgestellt, sondern wir haben auch die qualitativen Reformschritte endlich durchgesetzt, die wir gemeinsam - über
alle Fraktionsgrenzen hinweg - seit Jahren gefordert haben. Wir haben jetzt endlich ein einheitliches Wohngeld.
Wir haben die Einkommensgrenzen und die Miethöchstbeträge angehoben. Wir haben eine deutlich stärkere Familienkomponente eingeführt. Wir haben es sogar geschafft, eventuelle Minderungen des Wohngeldes
in den neuen Bundesländern - dort gab es im Vergleich
zu den alten Bundesländern bislang ein deutlich höheres
Wohngeld - durch eine Härtefallregelung auszugleichen.
({2})
Dies müßte geradezu das Entzücken der F.D.P. hervorrufen: Wir haben es endlich geschafft, das Wohngeldgesetz deutlich zu vereinfachen. Wir haben die teilweise Gleichstellung von Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften mit Familien erreicht. Folgender Punkt
findet neben vielen anderen Punkten die Zustimmung
des GdW: Wir haben nämlich das pauschalierte Wohngeld den Ländern und Kommunen zugeordnet. Der
GdW sagt dazu - ich möchte ihn ausdrücklich zitieren -:
„Dies ist ordnungspolitisch vom System her wünschenswert.“
({3})
Wichtig ist natürlich der finanzielle Ausgleich. Ich
bitte Sie, schlicht und einfach in unser Haushaltskonsolidierungsgesetz hineinzuschauen. Gerade Sie von der
CDU/CSU und der F.D.P. haben hier eine große politische Mitverantwortung im Bundesrat, auf die Sie der
GdW hinweist. Auf Ihre Unterstützung kommt es an,
daß nach 1991 endlich wieder eine Wohngeldnovelle
wirksam wird.
({4})
Sie sollten sich in diesem Zusammenhang einmal gefälligst an Ihre Wahlversprechen erinnern.
({5})
Sie haben es gerade den einkommensschwachen Mieterinnen und Mietern klar in die Hand versprochen, daß es
eine Wohngeldverbesserung geben wird. Inhaltlich liegen wir also überhaupt nicht auseinander. Ich habe in
der Ausschußberatung von Ihrer Seite kein entsprechendes Gegenargument gehört.
({6})
Ich sage nun: Butter bei die Fische und im Bundesrat
keine Blockade und keinen Boykott, sondern ein gemeinsames Auf-den-Weg-Bringen dieser Wohngeldreform!
({7})
Sie ist nämlich auch im Hinblick auf die Sozialleistungen ein ganz wichtiger Schritt. Es wird oft kritisiert, daß
Sozialleistungen nicht treffsicher, nicht zielgerichtet seien. Beim Wohngeld gibt es wohl keine Zweifel.
({8})
Damit können wir denjenigen helfen, und zwar treffsicher, die es am nötigsten haben.
Heute war von der Wohnungsbauförderung die Rede.
Hier sollten Sie die Objektförderung und die Subjektförderung - das ist doch sonst Ihr Steckenpferd - in einem
Zusammenhang sehen. Man kann diese beiden Dinge
nicht voneinander trennen. Es handelt sich hier um einen
wirklichen Fortschritt, und ich bitte Sie ganz dringend,
diesen Fortschritt nicht zu behindern.
({9})
Ich will Ihnen an Beispielen deutlich machen, was
Sie den Mieterinnen und Mietern vorenthalten würden.
Der Rentner oder die Rentnerin, alleinstehend, mit
1 400 DM Rente und 518 DM Mietbelastung, Mietstufe 3 - ich will keine weitere Einzelheiten ansprechen hat in den alten Bundesländern bisher ein Wohngeld
Herr Kollege Spanier, auch Sie muß ich an die Redezeit erinnern.
- sofort - von 19 Mark
bekommen. Dies steigt nun auf 80 DM an. Eine Familie
mit zwei Kindern und einem Alleinverdiener mit rund
4 000 DM Bruttoeinkommen und 1 055 DM Mietbelastung bekam in den neuen Bundesländern bisher ein
Wohngeld von 41 DM. Nach dieser Novelle bekommt
sie ein Wohngeld von 166,25 DM. Wenn Sie dies den
Mieterinnen und Mietern vorenthalten wollen, dann
wünsche ich Ihnen auf Ihrem Weg kein Glück. Sie werden aber sicherlich die Konsequenzen zu spüren bekommen.
({0})
Herr Kollege Dr.
Michael Meister, Sie haben das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst
einmal möchte ich feststellen, daß wir heute über den
richtigen Weg in der Wohnungspolitik streiten können.
Das war in den 40 Jahren ehemaliger DDR nicht möglich. Es ist ein Riesenvorteil, heute die Möglichkeit zu
haben, über den richtigen Weg zu diskutieren.
({0})
Die größte Herausforderung für die Wohnungspolitiker der Gegenwart ist die Überwindung der 40 Jahre sozialistischer Mißwirtschaft, die Sie als Antragsteller dieser Aktuellen Stunde zu verantworten haben. Sie stellen
uns vor diese großen Herausforderungen. Deshalb streiten wir heute über die Frage, was wir leisten können und
was nicht.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Großmann, Sie
haben hier gesagt, das Thema Energieeinsparverordnung stünde ganz oben auf Ihrer Agenda und Sie würden dies voranbringen. Ich möchte Ihnen hier entgegenhalten, daß das, was Sie hier leisten, der Offenbarungseid rotgrüner Umweltpolitik ist. Seit zwölf
Monaten gibt es nichts als Ankündigungen und keinerlei Vorlage. Von einer rotgrünen Bundesregierung
hätten wir in diesem zentralen Feld der Umweltpolitik
endlich Aktivitäten und Handlungen erwartet, nicht nur
Ankündigungen.
({1})
Es war schon entlarvend, hier die Sprecher der SPD,
Herrn Großmann, Herrn Maaß und Herrn Spanier, gehört zu haben. Diese haben sich nämlich nicht mit den
Inhalten der Wohnungsbaupolitik auseinandergesetzt,
sondern nur über allgemeine haushaltspolitische Zielvorgaben diskutiert. Zukunftsweisende, gestalterische
Elemente blieben Mangelware. Seit einem Jahr warten
wir auf die Reformen, die Herr Wilhelm von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert hat. Keine Reformmaßnahme ist in dieser Zeit von Ihnen auf den
Tisch gelegt worden. Das ist ein Offenbarungseid Ihrer
Wohnungsbaupolitik.
({2})
Wir hören immer: Wir müssen sparen. Selbstverständlich müssen wir sparen. Aber man muß sich natürlich die Frage stellen, wie. Herr Wilhelm hat zu Recht
darauf hingewiesen, daß nicht mit dem Rasenmäher gespart werden solle. Sie aber gehen leider nicht die Konsumausgaben an, sondern die Investitionen. Deshalb erreichen Sie möglicherweise unter rein fiskalpolitischen
Kriterien Erfolge. Sie werden aber einen riesigen Schaden in unserem Land anrichten, und zwar für die Bauwirtschaft und die Volkswirtschaft insgesamt. Die Wirtschaft verlangt nämlich nicht nur niedrige Zinsen und
gute Rahmenbedingungen, die noch auf unsere Verdienste in der Wirtschaftspolitik zurückgehen, sondern auch
eine verläßliche Politik und verläßliche Rahmenbedingungen. Wenn man Ihr Treiben in den letzten zwölf
Monaten beobachtet hat, dann kann man von vielem reden, aber mit Sicherheit nicht von verläßlichen Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft. Deshalb
ist Ihnen vorzuhalten, daß Sie Attentismus in der Bauwirtschaft erzeugt haben.
({3})
Sie haben sich in der Koalitionsvereinbarung dafür
ausgesprochen, das dritte Standbein, die private Altersvorsorge, stärken zu wollen. Was haben Sie im Frühjahr
getan? Sie haben den Vorkostenabzug aus dem Steuergesetz gestrichen. Jetzt haben Sie vor, die Einkommensgrenzen für die Eigenheimzulage abzusenken. Was Sie
damit tun, ist das genaue Gegenteil: Sie schwächen die
private Altersvorsorge.
({4})
Entlarvend ist auch das, was von Frau Ostrowski
nicht gesagt worden ist. Es geht hier auch um die Wohnungsbauförderung. Von ihr fiel kein Wort zur Eigenheimzulage. Was bedeutet das? Das zeigt uns ihr Verständnis von Wohneigentum. Auch das sollten wir den
Menschen in diesem Land sagen: Sie wollen kein
Wohneigentum in diesem Land. Das sollten Sie dann
aber auch offen sagen.
({5})
- Nein, das ist doch Ihre klare Aussage.
({6})
Eine zweite Aussage möchte ich machen: Ich fand es
sehr interessant, was Frau Kollegin Iwersen hier vorgetragen hat. Als Herr Großmann noch Sprecher der SPD
im Bauausschuß war, war ich immer davon ausgegangen, daß auch die SPD-Fraktion diese Form der Eigentumsförderung und damit die Erhöhung der Wohneigentumsquote anstrebt. Die Rede der Frau Kollegin
Iwersen stellte aber eine Distanzierung von diesem Ziel
dar; es war eine Abkehr von dem, was Sie in den vergangenen Wahlperioden mitgetragen haben. Vielleicht
sollten Sie das einmal in Ihren eigenen Reihen ausdiskutieren. Sie sollten Ihr Verhältnis zur Förderung privaten Wohneigentums wieder in Ordnung bringen.
({7})
In das Ganze paßt auch hinein, was Sie aktuell diskutieren. Bei Ihnen wird über eine Vermögensabgabe, eine
Erbschaftsteuererhöhung und eine Vermögensteuer diskutiert. Ihr Fraktionsvorsitzender, Kollege Struck, sagt,
man müsse die Erbschaftsteuer erhöhen. Aus derselben
Fraktion kommt von Herrn von Larcher der Vorschlag,
die Freigrenze für privates Wohneigentum bei
300 000 DM zu ziehen. Meine Damen und Herren, machen Sie sich einmal klar, was das bedeutet! Wen wollen
Sie damit eigentlich noch dazu bekommen, privates
Wohneigentum zu bilden?
Dann kommt in diesem wunderbaren Zusammenhang
der weitere Vorschlag, darüber nachzudenken, ob man
nicht die Eigenheimzulage in einigen Jahren zurückzahlen solle. Meine Damen und Herren, wen wollen Sie
mit solchen Aussagen dazu ermutigen, Wohneigentum
zu bilden? Wer soll unter solchen Umständen noch Geld
in die Hand nehmen und investieren? Das habe ich mit
Attentismus gemeint. Sie sollten endlich begreifen, was
Sie hier anrichten, und Schaden von diesem Land abwenden.
Danke sehr.
({8})
Letzte Rednerin in
dieser Aktuellen Stunde ist die Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Es ist schon sehr erstaunlich, daß
PDS, CDU/CSU und F.D.P. hier gemeinsam als Robin
Hood verkleidet auftreten. Alle drei Parteien haben in den
letzten Jahren - jede auf ihre Weise - Verantwortung getragen. Es wäre letztlich ehrlicher, hier nicht als Robin
Hood, sondern Sheriff von Nottingham aufzutreten.
({0})
Ich möchte zur Einordnung die Frage aufwerfen, wer
warum kritisiert. Ich habe mir nämlich angewöhnt, Kritik danach zu beurteilen, ob sie sich erstens im Bereich
der Weltuntergangsszenarien bewegt. Ein Szenario ist,
daß Hunderttausende von Arbeitsplätzen gefährdet sind.
Rechnet man einmal zusammen, welche Zahlen uns
beim Steuerentlastungsgesetz 1999 begleitet haben,
dann müßten wir uns heute in einem Zustand kurz nach
dem Untergang der „Titanic“ befinden. Das Gegenteil
ist aber der Fall. Die Prognosen für das nächste Jahr sind
übereinstimmend gut, und in diesem Jahr war es so
schlecht auch nicht. Mit unserem Mix aus Angebotsund Nachfragepolitik sind wir auf dem richtigen Weg.
({1})
Eine zweite Variante der Kritik ist, daß man als Verbandsvertreter oder Lobbyist die Aufgabe hat und in der
Regel auch dafür bezahlt wird, möglichst viele der eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Je nach Temperament, Muskeln und eigenem Status kann man das als
angenehm oder weniger angenehm empfinden. Damit
haben wir in 50 Jahren Bundesrepublik umzugehen gelernt.
Drittens stelle ich die Frage, ob partikular kritisiert
wird oder ob der Kritiker bzw. die Kritikerin bereit ist,
auch andere Bereiche als nur den eigenen einzubeziehen. Eine Kritik, die gleichzeitig die gesellschaftlichen
und finanziellen Verhältnisse berücksichtigt, nehme ich
sehr wohl ernst. Die Gesellschaft differenziert sich immer mehr; man könnte vielleicht auch sagen, daß sie
immer ausdifferenzierter wird. Dieser Zustand bringt
uns nicht nur Probleme, sondern auch eine Menge an
Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Als Politiker und
Politikerinnen müssen wir, wenn wir wollen, daß die
Menschen in dieser Gesellschaft miteinander und nicht
gegeneinander leben, die Ausdifferenzierungen aufnehmen, nicht aber die Partikularinteressen. Um das umzusetzen, müssen wir Konzepte für die verschiedenen Problemlagen anbieten. Das letzte Jahr hat mir jedenfalls
gezeigt, daß es bei den geäußerten Kritiken und neuen
Forderungen ratsam ist, eine Art Diskrepanzanalyse vorzunehmen.
Wir haben einige Grundsatzentscheidungen getroffen,
die wir für richtig halten, weil sie gesellschaftspolitisch
wichtig sind und die Verteilung von unten nach oben
korrigieren. Wir haben zum Beispiel die Spekulationsfristen verlängert, weil es nicht vertretbar ist, de facto
keine Besteuerung realisierter Wertzuwächse im Privatvermögen vorzunehmen.
({2})
Wir haben die vollständige Verrechnung von Einkünften
aus Vermietung und Verpachung mit den Einkünften
anderer Art beschnitten, weil es nicht gerechtfertigt ist,
in dieser Höhe alle Steuerzahler an der Vermögensbildung einzelner zu beteiligen. Und wer hätte das gedacht:
Die Welt ist nicht untergegangen. Der Rückgang beim
Wohnungsbau hat sehr, sehr wenig mit dem Steuerentlastungsgesetz, aber sehr viel mit der Marktlage und mit
der individuellen Kaufkraft zu tun.
({3})
Wohnungspolitik muß im übrigen in erster Linie der
Versorgung in quantitativer und qualitativer Hinsicht
dienen, nicht aber der individuellen Vermögensbildung.
Was die individuelle Vermögensbildung angeht, so ist es
durchaus vertretbar, selbstgenutztem Eigentum Vorrang
vor dem Immobilieneigentum zu geben. Der Anteil des
Immobilieneigentums liegt im übrigen sehr viel höher
als der Anteil des selbstgenutzten Eigentums, nämlich
bei ungefähr 53 Prozent im Westen und bei immerhin
36 Prozent im Osten.
Es ist vielfach auf den Entschließungsantrag des
GdW Bezug genommen worden, der anläßlich des Verbandstages am 27. Oktober in München verabschiedet
worden ist. Ich möchte zum Schluß an Hand des Antrages durchgehen, was dieser Verband eigentlich fordert.
Er fordert eine Anpassung und eine Reform in fast allen
gesellschaftlichen Bereichen. Da kann ich nur sagen:
D'accord; da sind wir auf dem Weg. Er sagt: Subventionsabbau ist kein Selbstzweck. - Auch wir sagen das.
Aber wir sind übrigens auch nicht diejenige Partei, die
sagt: Nur eine nicht vorhandene Subvention ist eine gute
Subvention. - Ferner fordert er, überforderte Nachbarschaften als Herausforderung für Wohnungsunternehmen und die Wohnungspolitik zu begreifen. Wir sind
mit dem Programm „Soziale Stadt“ auf dem richtigen
Weg.
({4})
Wir verfolgen dabei einen neuen Politikansatz, der integrativ ist und der uns in diesem Bereich auch wirklich
weiterbringt. Er fordert außerdem, daß die soziale Stadt
mit Priorität weiter ausgebaut werden soll. Das können
wir demnächst alle gemeinsam beschließen. Dann fordert er eine Wohngelderhöhung. Wir sagen dazu: Das ist
zwingend erforderlich.
Ich will Ihnen, Dr. Kansy, einmal etwas sagen: Ich
glaube, Ihre Verbitterung kommt daher, daß Sie das in
zehn Jahren nicht geschafft haben. Ich habe Ihr Verhalten
im Ausschuß mitbekommen. Es war auch ein bißchen
schwierig für Sie. Sie haben sich jedesmal die Zähne ausgebissen, und dann kommen drei Mädels, Gleicke, Eichstädt-Bohlig, Mertens, und machen zusammen mit Großmann, Heyer, Mittler und mit Vesper eine Wohngeldreform. Das muß bitter für Sie sein. Aber ich denke, die Regelungen beim Tabellenwohngeld, die wir jetzt hinbekommen haben, können auch Sie unterstützen.
({5})
Frau Kollegin Mertens, Sie müssen zum Schluß kommen.
Gut.
Wir könnten jetzt auch die weiteren Punkte durchgehen. 95 Prozent sind es vielleicht nicht, aber 90 Prozent
dessen, was der GdW fordert, können auch wir fordern.
Die PDS sollte mit ihren Forderungen nach mehr
Geld aufhören. Geld allein macht nicht glücklich; das
erzählen Sie uns ebenfalls immer. Ich erwarte von Ihnen
auch mehr Konzepte, soweit Sie das bei Ihrer Scheuklappenpolitik überhaupt leisten können.
Vielen Dank.
({0})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zu der heute morgen unterbrochenen Beratung des Entwurfs des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 zurück. Es ist ein
Antrag der Fraktionen der F.D.P. und der CDU/CSU auf
Vertagung der Beratung auf morgen angekündigt worden.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Jörg
van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir haben vorhin im Ältestenrat
den Antrag gestellt, heute abend nicht wieder in die Debatte zur Krankenversicherung einzutreten
({0})
und statt dessen morgen früh zu Beginn der Tagesordnung die namentliche Abstimmung durchzuführen.
({1})
Warum haben wir diesen Vorschlag gemacht, der leider von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden ist?
({2})
Sie haben heute morgen mitbekommen, daß sich im
Laufe der Beratung herausgestellt hat, daß in der Beratungsunterlage Fehler sind.
({3})
Wir haben deshalb auch die Sondersitzung des Ältestenrates gehabt. In dieser Sitzung habe ich vorgeschlagen,
daß die Vorlage noch einmal durchgegangen wird,
({4})
weil es nämlich Indizien dafür gab, daß sich noch weitere Fehler finden würden. Wir alle kennen die Gründe,
nämlich die schnelle Beratung, die ständigen Änderungsanträge, die in die Ausschüsse gegangen sind.
Wie berechtigt dieser Verdacht war, hat sich gezeigt,
als auf Vorschlag des Bundestagspräsidenten eine Sondersitzung des Gesundheitsausschusses stattfand, in der
ein weiterer Fehler, nämlich betreffend die Knappschafts- und Seeschiffahrtsversicherung, entdeckt wurde, der beseitigt werden kann.
Nachdem schon bei dieser kursorischen Beratung ein
weiterer Fehler festgestellt wurde, haben wir das Gefühl,
daß es Sinn macht, daß das Ausschußsekretariat in Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des Gesundheitsministeriums - denn immerhin handelt es sich um einen
Gesetzesvorschlag der Bundesregierung - noch heute
abend sorgfältig prüft, ob weitere Fehler vorliegen.
({5})
So hätte der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses
morgen früh die Möglichkeit, auf die redaktionellen
Fehler hinzuweisen. Wir sind durchaus offen dafür, daß
Sie, Herr Kirschner, diese Gelegenheit ergreifen. Das
macht deutlich, daß wir nicht Tricks anwenden,
({6})
daß uns nicht an einer Verzögerung gelegen ist, sondern
daran, daß wir eine klare und eindeutige Beratungsgrundlage haben.
({7})
Ich bedauere sehr, daß die Koalitionsfraktionen diesem vernünftigen Kompromißvorschlag nicht folgen.
Wenn Sie dagegen stimmen, hat das im übrigen eine
klare Konsequenz: Sie tragen die Verantwortung, daß
die Beratungsgrundlage, über die wir abstimmen, tatsächlich in Ordnung ist. Wir werden Sie da in die Verantwortung nehmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Kollege Wilhelm
Schmidt, Sie haben das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mir gerade das Protokoll der Debatte von heute morgen geben lassen und will noch einmal auf folgendes
hinweisen: Der Ausschußvorsitzende Herr Kirschner hat
vor diesem Hause vorgetragen, daß sich die Fehler auf
den Seiten 152 sowie 394/395 - einschließlich der Inkrafttretensvorschrift - der Beschlußempfehlung als
Fehler der Übermittlung zwischen Ausschußsekretariat
und Druck darstellen.
({0})
Die Fehler sind - das hat sich heute nachmittag in der
Sondersitzung des Gesundheitsausschusses eindeutig
gezeigt - nur technischer und redaktioneller Art. Sie ändern am Charakter, am Inhalt des Gesetzes nicht im entferntesten etwas.
({1})
Darum ist all das, was die Opposition hier gerade versucht, nur als Geschäftsordnungstrick zu bezeichnen.
({2})
Wir werden uns das nicht bieten lassen.
({3})
Wenn Herr van Essen, der sich als Handlanger für die
ganze Geschichte hergegeben hat
({4})
- wir können das genauso wie Sie -, so tut, als habe er
Verantwortung für dieses Gesetz zu übernehmen,
({5})
dann ist das heuchlerisch. Das hat die F.D.P. niemals
vorgehabt.
({6})
Wir haben heute nachmittag in der Sondersitzung des
Gesundheitsausschusses und in der Sitzung des Ältestenrates - das kann ich ganz leidenschaftslos berichten
- festgehalten, daß nicht eine einzige Vorschrift der Geschäftsordnung eine Grundlage dafür bieten würde, den
Gesetzgebungsgang aufzuhalten.
({7})
Weder § 122 unserer Geschäftsordnung noch § 86 unserer Geschäftsordnung können herangezogen werden,
weil es sich eben nur um einen redaktionellen, einen
technischen Fehler handelt
({8})
und weil wir nicht im entferntesten Gefahr laufen, dem
Willen, den die Ausschußmehrheit im Gesundheitsausschuß zum Ausdruck gebracht hat - und der ansonsten
eindeutig aus der Beschlußempfehlung, die hier vorliegt,
hervorgeht -, nicht zu entsprechen.
({9})
Es ist klar, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß, wie Herr Kirschner heute morgen gesagt hat, in der Ausschußberatung zwei Anträge
zurückgezogen worden sind.
({10})
- Nein, nein, das andere ist die Inkrafttretensvorschrift.
Sie gehört zum zweiten Punkt. Sie müßten eben wissen,
worum es geht. Dann können Sie sich auch Ihre Zwischenrufe sparen.
({11})
Insofern ist klar gewesen, daß diese Vorschriften herausgenommen werden sollten. Wir wollten damit übrigens allen am Verfahren Beteiligten, auch Ihnen, einen
Schritt entgegenkommen. So ist auch klar, daß damit der
Wille zumindest der Mehrheit des Hauses dargestellt
worden ist.
Daher sehen wir überhaupt keine Möglichkeit, in dieser Frage heute noch einmal den von Ihnen, wie ich finde,
vordergründig vorgetragenen Argumenten Rechnung zu
tragen. Wir wollen auch nach außen hin überhaupt nicht
den Eindruck entstehen lassen, wie Sie ihn offensichtlich
zu erwecken versuchen, als sei hier schlampig gearbeitet
worden. Hier ist nicht schlampig gearbeitet worden.
({12})
Dabei bleibt es. Das ist festgestellt worden. Darum
wollen wir, daß noch heute abend namentlich abgestimmt wird.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der
Kollege Hans-Peter Repnik, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind auf
dem besten Weg, uns als Parlament bis auf die Knochen
zu blamieren.
({0})
Noch hat die Koalition es in der Hand, dies zu verhindern. Wir haben dazu ein Angebot gemacht.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
mein Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble hat
heute früh in seiner Rede deutlich gemacht, daß es sich
Wilhelm Schmidt ({2})
bei diesem Thema um ein außerordentlich sensibles
Thema handelt.
({3})
Wo, wenn nicht bei der Gesundheit, sind die Menschen
ganz unmittelbar, existentiell berührt? Weil dem so ist,
hat jeder, der politische Verantwortung trägt, dafür zu
sorgen, daß gerade auf diesem Gebiet mit allergrößter
Sorgfalt gearbeitet wird. An dieser Sorgfalt mangelt es.
({4})
Verehrter Kollege Schmidt, Sie haben soeben gesagt,
wir wollten nur den Gang des Verfahrens aufhalten.
({5})
Wir haben im Laufe dieser Woche, obgleich es uns sehr
schwergefallen ist, erklärt, daß wir auf eine Fristeinrede
verzichten, damit heute dieses Gesetz gelesen werden
kann, weil dies Ihr Wunsch war.
({6})
Wir haben also niemandem Steine in den Weg gelegt.
({7})
Aber was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist,
({8})
daß wir seit letzter Woche bis zum gestrigen Tag - gestern noch einmal 60 Seiten Änderungsanträge - 510
Seiten Änderungsanträge zu diesem Gesetz bekommen
haben, die der Beratung zugeführt werden mußten. Darüber hinaus haben wir eine Beschlußempfehlung und
den Bericht von zusammen immerhin auch über
500 Seiten bekommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, der Bericht und die Beschlußempfehlung sind
heute früh den Berichterstattern der CDU/CSU- und der
F.D.P.-Fraktion zugestellt worden. Kollege Kirschner hat
im Ältestenrat selbst eingeräumt, daß auch er sehr kurzfristig, nämlich erst heute, diesen Bericht bekommen habe.
({9})
- Das ist bis heute von den beiden Berichterstattern
nicht unterschrieben worden.
Während der Beratung heute vormittag haben Kollegen aus meiner Fraktion und aus der F.D.P.-Fraktion
zwei Fehler festgestellt. Wir haben mit Ihnen darüber
gesprochen. Wir wären sogar bereit gewesen, diese
Fehler zu heilen. Dazu gibt es geschäftsordnungsmäßige
Möglichkeiten. Plötzlich haben wir aber gemerkt, daß es
in diesem Zusammenhang noch andere Unsicherheiten
gibt. Deshalb haben wir dann den Ältestenrat angerufen.
({10})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben
im Ältestenrat auf Vorschlag des Herrn Bundestagspräsidenten, weil wir alle der Meinung waren, daß es hier
Klärungsbedarf gebe, beschlossen, diesen Bericht noch
einmal an den Gesundheitsausschuß zurückzuverweisen,
um mögliche Unstimmigkeiten, Ungereimtheiten auszumerzen.
Der Sachverhalt war wie folgt: Als unsere Kollegen
im Gesundheitsausschuß in die Diskussion eintreten und
im Auftrag des Ältestenrates eine kursorische Durchsicht vornehmen wollten, kam ein Geschäftsordnungsantrag der SPD, der lautete: Schluß der Debatte.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
damit nicht nur dem Vorschlag des Bundestagspräsidenten, sondern auch dem Vorschlag und der Bitte des
Ältestenrates eklatant widersprochen.
({12})
Im Laufe des Verfahrens sind zwei weitere Mängel
offenkundig geworden, die ebenfalls noch nicht ausgeräumt sind. Verehrte Frau Präsidentin, bei einem so
wichtigen Thema muß das Hohe Haus doch wissen,
worüber es abstimmt! Hier haben wir Klärungsbedarf.
({13})
Wir haben deshalb ein weiteres Angebot gemacht.
Das lege ich jetzt auch hier auf den Tisch, um keinerlei
Legendenbildung zuzulassen.
({14})
Der Präsident war der Meinung, wir sollten die Beratung
in der nächsten Woche fortführen. Das war der Vorschlag des Präsidenten.
({15})
Mein Vorschlag war: Wir nehmen trotz bestimmter
Bedenken § 122 der Geschäftsordnung zur Hand und
sorgen noch heute abend für eine Klärung, indem sich
der Ausschußvorsitzende, Vertreter des Ministeriums
und unsere Obleute noch einmal zusammensetzen und
für Rechtsklarheit sorgen. Dann sind wir bereit, morgen
die zweite und dritte Lesung durchzuführen. Dies entspräche einer Heilung gemäß § 122 der Geschäftsordnung.
({16})
Herr Kollege Repnik,
ich muß Sie leider an Ihre Redezeit erinnern.
Nach einigen wenigen Anmerkungen, Frau Präsidentin, bin ich am
Schluß.
({0})
Meine Damen und Herren, der eigentliche Grund,
weshalb heute abgestimmt werden muß und nicht morgen abgestimmt werden soll, ist der, daß Sie sich morgen Ihrer Mehrheit nicht sicher sind. Deshalb zwingen
Sie uns in dieses Verfahren.
({1})
Abschließend möchte ich nur sagen: Sie haben mit
einer unglaublichen Arroganz der Mehrheit einmal mehr
versucht, Ihre Unfähigkeit zu vertuschen.
({2})
Sie reihen dieses Gesundheitsgesetz in eine Fülle von
Peinlichkeiten ein: 630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigkeit, Renten- und Steuerreform.
({3})
Herr Kollege Repnik!
Dazu kommt jetzt
noch die Gesundheitsreform.
({0})
Herr Kollege Repnik,
das ist eine Geschäftsordnungsdebatte, in der - das wissen Sie am besten - die Redezeit fünf Minuten beträgt.
Wir unterstützen
den Antrag und bitten Sie darum,
({0})
unser Angebot anzunehmen,
({1})
morgen zu beraten und abzustimmen. Wir stehen zu diesem Wort.
({2})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Parlamentarische Geschäftsführerin, Frau Kollegin Kristin Heyne.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege
Repnik, lieber Kollege van Essen, ich bin sehr beruhigt,
feststellen zu können, daß Sie die Geschäftsordnung genauso auslegen wie wir, daß Sie beide bestätigen, daß
das Verfahren, das hier stattfindet, in keiner Weise gegen die Geschäftsordnung verstößt. Darüber bin ich sehr
beruhigt.
({0})
Es hat in diesem Bericht einige kleine Übertragungsfehler gegeben. Alle diese Übertragungsfehler haben mit
wenigen Änderungen zu tun, die gestern im Ausschuß
vorgenommen wurden. Übrigens ist es ein Zeichen für
die Ernsthaftigkeit des Verfahrens, daß wir diskutieren
und auch ändern. Diese Fehler haben alle mit diesem
kleinen engen Bereich der Änderungen von gestern zu
tun. Das heißt, es gibt jetzt überhaupt keinen Anlaß, alle
Seiten zu wälzen und zu hoffen und zu glauben, es möge
sich noch ein weiterer Fehler finden. Das ist Ihnen seit
heute morgen nicht gelungen.
({1})
Bitte, seien Sie doch nicht so vergeßlich. Sie kennen
das Regierungsgeschäft. Denken Sie an das Verkehrswegeplanungsgesetz in der letzten Legislaturperiode.
Wie viele Änderungen daran haben Sie hier noch mündlich vorgetragen!
Es ist ein ganz normaler Prozeß: Es gibt bei 500 Seiten starken Berichten Übertragungsfehler. Die Geschäftsordnung sieht vor, wie man damit umgeht und
wie man das korrigiert. Das ist ein völlig normales Verfahren. Wir hätten, so wie es in der Geschäftsordnung
vorgesehen ist, die Änderungen ganz normal vortragen
lassen können, und wir hätten beschließen können. Daß
Sie den Ältestenrat an so einer Stelle einberufen, ist, wie
wenn man mit Kanonen auf Spatzen schießt.
({2})
Kollege Repnik, Sie haben gut und eindrücklich vorgeführt, worum es Ihnen geht, wenn Sie über die Bedeutung dieses Gesetzes sprechen. Es ist richtig: Dieses
Gesetz ist wichtig. Aber hier ging es um eine rein technische Frage, um keine politische und um keine inhaltliche. Die Inszenierung, die wir heute erlebt haben, dient
dazu, zu verunsichern und den Eindruck zu erwecken,
daß mit diesem Gesetz irgend etwas problematisch ist.
Das ist nicht der Fall. Das wissen Sie ganz genau.
({3})
Wir haben in der Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer sehr einvernehmlich beschlossen, daß wir
gerne morgen hochaktuell - daran sind die Opposition
und wir interessiert - über die Klimakonferenz diskutieren werden. Uns wird ein ganz aktueller Bericht über
die dortigen Geschehnisse vorgetragen. Deswegen waren wir gemeinsam der Meinung, daß es gut ist, nicht
morgen bis in den späten Abend zu tagen, sondern die
Themen aufzuteilen und morgen über die Klimakonferenz, die erst heute beendet wird, zu diskutieren. Ich
finde es gut, daß wir uns in dieser Runde einigen
konnten. Ich denke, das sollten wir auch weiterhin so
handhaben.
({4})
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
kann Ihnen einen Verdacht nicht ersparen: Wenn Sie soviel Wert auf die Geschäftsordnung legen, dann soll das
doch nur überdecken, daß Sie in der ganzen Debatte
heute keinerlei Alternativen zu diesem Gesetzentwurf
aufgezeigt haben.
({5})
Wir haben heute einen guten Gesetzentwurf vorgelegt,
({6})
der durch Integration und durch Vorsorge das Angebot
verbessert. Dieses Gesetz wird es ermöglichen - das ist
auch Ihr erklärtes Ziel -, die Kostensteigerungen zu begrenzen.
({7})
Frau Kollegin Heyne, das ist eine Geschäftsordnungsdebatte.
Ich
werde Ihnen klarmachen, warum ich das sagen muß.
Schließlich - das ist das Wichtigste -: Dieses Gesetz
stärkt die Patienten. Deswegen empfehle ich Ihnen: Lassen Sie uns jetzt abstimmen! Stimmen Sie diesem Gesetz zu! Es ist ein gutes Gesetz.
({0})
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat der Kollege Roland Claus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie alle Fraktionen hat es sich auch
unsere Fraktion bei dieser Entscheidung nicht leichtgemacht. Sie werden bei der Abstimmung merken, daß wir
nicht den für uns leichtesten Weg gehen wollen. Insofern ist es schwierig, daß jetzt noch eine solche Verfahrenskomplizierung eintritt.
Ich will Ihnen eines sagen: Aus unserer Sicht handelt
es sich nicht um ein Zeitproblem. Die Frage ist nicht
mehr, ob man diesen Gesetzentwurf heute abend oder nach einiger Einsicht - morgen früh abschließend behandelt. Es schmerzt mich ein wenig, sagen zu müssen:
Das eigentliche Problem besteht im mangelnden Grundvertrauen in den Umgang miteinander. Zu diesem Problem haben insbesondere die großen Fraktionen einiges
beigetragen.
({0})
Ich will deutlich sagen: Nicht nur die Opposition,
sondern auch die Koalition und die Bundesregierung haben uns in dieser Debatte wirklich einiges zugemutet.
Sie, die Mitglieder von Koalition und Bundesregierung,
haben sich auch selbst einiges zugemutet. Ich meine, Sie
wissen das auch. Sie müssen nicht mit den Muskeln und
mit den Mehrheiten spielen.
({1})
Wenn Ihnen die CDU/CSU vorwirft, Sie kämen mit
solchen Paketen immer so kurzfristig, dann sagen Sie
ständig: Das haben Sie früher auch so gemacht! Sie denken, Sie haben damit ein Argument. Ich finde, das macht
es aber nicht besser. Sie kritisieren doch, daß das früher
so gemacht wurde.
({2})
Über die Situation ist hier schon geredet worden.
Man hätte einen Korrekturversuch unternehmen können.
Die Koalition hat sich jetzt einer Interpretation zugewandt, die besagt: Wir gehen über § 122 der Geschäftsordnung. Ich finde, das ist ein ziemlich dünnes Eis; denn
dieser Paragraph ist eindeutig mit „Übersendung beschlossener Gesetze“ überschrieben und verweist darauf,
daß Druckfehler oder offenbare Unrichtigkeiten korrigiert werden können. Wenn ich mir anschaue, worum es
hierbei geht, ist es nicht so offensichtlich, daß er zutrifft.
Ich hatte im Ältestenrat einen anderen Weg vorgeschlagen, nämlich den Weg über § 84 der Geschäftsordnung. Wenn sich im Ausschuß alle darüber einig sind,
daß es sich nur um einen Übermittlungsfehler handelt,
stellt man eben einen Änderungsantrag, so wie dies üblich ist. Daraufhin sagt mir natürlich die Koalition: Aber
dann haben wir ein Problem, weil unsere Geschäftsordnung vorsieht, daß die dritte Lesung erst zwei Tage danach stattfinden kann.
({3})
Auch dafür bietet die Geschäftsordnung eine Lösung.
Wir können mit Zweidrittelmehrheit beschließen, daß
dies ausgesetzt wird. Ich fand, es gab Signale aus der
Opposition, daß wir so verfahren können.
({4})
Aber Sie haben natürlich auch einiges dafür getan, dieses Grundvertrauen gegenüber der Opposition zu stören.
Und die Interpretation der Geschäftsordnung, die Kollege Schmidt vorhin gegeben hat, finde ich in der Tat
abenteuerlich.
({5})
Sie gehen immer von dem hohen Gut der Geschäftsordnung aus - das ist völlig in Ordnung - und betonen
das Recht. Aber wenn Ihnen Recht und Geschäftsordnung einmal im Wege stehen, dann qualifizieren Sie
Einwände als formalrechtlich ab. Das finde ich ausdrücklich nicht in Ordnung.
({6})
Auch bei uns sind Zweifel geblieben, ob sich weitere
Fehler in der Vorlage verstecken. Dennoch sehen wir
keinen Sinn mehr darin, zu fragen, ob wir jetzt oder
morgen darüber abstimmen sollen. Wir werden uns deshalb bei dieser Geschäftsordnungsabstimmung enthalten. Sie müssen es dann verantworten, mit dem Ergebnis
umzugehen.
({7})
Wir kommen jetzt
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
F.D.P. sowie der CDU/CSU auf Vertagung der Beratung
auf morgen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Vertagungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.- und CDU/CSUFraktion bei Enthaltung - ({0})
- Der Vertagungsantrag ist gegen die Stimmen der
F.D.P.- und der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der
PDS-Fraktion abgelehnt.
({1})
- Wenn es Zweifel an diesem Ergebnis gibt, müssen
dies die Schriftführerinnen und Schriftführer signalisieren. - Aus unserer Sicht ist das Mehrheitsverhältnis eindeutig.
({2})
Aber wir können die Abstimmung gerne wiederholen.
({3})
- Alles klar. Ich entschuldige mich. Ich habe angesichts
des Abstimmungsmarathons, der uns bevorsteht, den
Text verwechselt.
({4})
Da die Abstimmung eindeutig war, wiederhole ich
das Ergebnis in aller Ruhe: Der Vertagungsantrag ist
abgelehnt worden.
({5})
- Natürlich stimmt das. Es gab den Antrag, die jetzige
Abstimmung zu vertagen. Dieser Antrag ist abgelehnt
worden.
({6})
Für den Antrag, die Abstimmung zu vertagen, haben lediglich die Fraktionen der F.D.P. und der CDU/CSU gestimmt, und die PDS-Fraktion hat sich enthalten. Ich
glaube, wir haben es alle verstanden.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vereinbart
worden, die heute morgen kurz vor ihrem Ende unterbrochene Aussprache zur Gesundheitsreform nicht fortzusetzen, sondern die Abstimmungen gleich fortzuführen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
({8})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der gesetzlichen
Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 auf den Drucksachen 14/1245 und 14/1977.
({9})
- Darf ich bitte wenigstens einen Satz zu Ende reden?
Dies ist das Recht einer Bundestagspräsidentin. Ich bitte
Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen.
({10})
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Hans-Peter
Repnik zur Geschäftsordnung.
In Respekt vor Ihrem Amt, Frau Präsidentin: Ich hatte gar nicht die Absicht, Sie zu unterbrechen. Ich habe mich nur zu Wort
gemeldet. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß
es im Hinblick auf die Beendigung der Debatte keine
interfraktionelle Vereinbarung gibt. Die Mehrheit hat
bestimmt, daß die Debatte beendet wird. Dies müssen
wir hinnehmen. Das heißt, es muß darüber abgestimmt
werden.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich lasse der Form halber über das Ende
der Debatte abstimmen.
({0})
Ich bin im Präsidium darüber in Kenntnis gesetzt worden, daß es eine interfraktionelle Vereinbarung gebe.
({1})
- Wenn ich weiterhin solche Töne aus den Reihen der
Geschäftsführung der Fraktionen höre, dann unterbreche
ich die Sitzung.
({2})
Ich bitte Sie deshalb, den Anweisungen des Präsidiums
zu folgen.
Ich stelle jetzt den Antrag zur Abstimmung, nach
dem die Debatte des heutigen Vormittags nicht fortgeRoland Claus
führt werden soll und nach dem sofort über den vorgelegten Gesetzentwurf abgestimmt werden soll. Wer für
diesen Antrag stimmen möchte, den bitte ich jetzt um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und
der F.D.P.-Fraktion ist bestätigt worden, daß die Debatte
nicht fortgeführt wird.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschußfassung - ich füge bewußt hinzu: mit der
heute morgen vom Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses, dem Kollegen Klaus Kirschner, vorgetragenen
Berichtigung; wir wissen also worüber abgestimmt wird
- zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der PDS-Fraktion
und gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der
F.D.P.-Fraktion angenommen worden.
({3})
- Mir ist bisher offiziell nicht mitgeteilt worden, daß es
ein abweichendes Abstimmungsverhalten innerhalb der
Fraktionen gibt.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Es ist namentliche Abstimmung
verlangt und auch interfraktionell vereinbart worden. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-
sehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt?
- Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie dar-
auf aufmerksam machen, daß es im Anschluß an diese
namentliche Abstimmung eine weitere über den Ent-
schließungsantrag der F.D.P.-Fraktion geben wird.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist offensicht-
lich nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekanntgegeben.1)
Wir setzen jetzt die Beratungen fort. Ich möchte zu
Protokoll geben, daß von der Kollegin Sylvia Voß2) sowie von den Kollegen Lothar Binding ({4}),
Monika Heubaum, Hans-Ulrich Klose und Lothar
Mark3) jeweils eine Erklärung gemäß § 31 der Ge-
schäftsordnung zu Protokoll gegeben wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1978. Die Frak-
tion der F.D.P. verlangt namentliche Abstimmung. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer erneut, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen
besetzt? - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich
------------
1) Seite 5921 D
2) Anlage 2
3) Anlage 3
nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekanntgegeben. 4)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre
Plätze wieder einzunehmen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, daß die Reden
derjenigen, die sie heute vormittag nicht mehr halten
konnten, zu Protokoll gegeben werden.5) Ich setze das
Einverständnis des Hauses voraus.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/1979. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt gegen den Antrag der PDS? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion abgelehnt.
Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/1977 außerdem,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Gesundheitsreform auf Drucksache 14/1721 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der PDS-Fraktion bei einer Enthaltung aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Zustimmungsbedürftige Post-Universaldienstleistungsverordnung ({6})
- Drucksachen 14/1696, 14/1775 Nr. 2.1,
14/1971 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel ({7})
Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich hö-
re keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär im Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verände-
rung, die wir im Bereich der Telekommunikation erle-
ben, ist ein fundamentaler Strukturwandel, der die Frage
aufwirft, wie wir in der Informations- und Kommunika-
tionsgesellschaft von morgen eine Art von Grundver-
sorgung, eine Art Grundsicherung für alle Menschen si-
------------
4) Seite 5924 C
5) Anlage 4
Vizepräsidentin Petra Bläss
cherstellen können, damit wir nicht eine neue Spaltung
der Gesellschaft zwischen denjenigen bekommen, die
die neuen Techniken nutzen können, und denjenigen, die
sie nicht nutzen können. Deshalb ist es sehr wichtig, daß
wir heute mit der Post-Universaldienstleistungsverordnung, auch gemeinsam mit den Länderrn, einen wichtigen rechtlichen Rahmen für eine flächendeckende und
für jedermann erschwingliche Versorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen schaffen.
({0})
Die Verordnung setzt damit eines der wesentlichen
Ziele des im Januar 1998 in Kraft getretenen Postgesetzes um. Wir schaffen damit einen bundesweiten Universaldienst und stellen sicher, daß auch diejenigen, die in
strukturschwachen Gebieten leben und arbeiten, und
diejenigen, die es sich nicht leisten können, online verbunden zu sein, eine flächendeckende Versorgung haben. Deswegen ist das auch eine gesellschaftspolitisch
wichtige Verordnung.
Regelungsgegenstand der Verordnung sind die einzelnen als unabdingbare Grundversorgung vorgesehenen
Universaldienstleistungen, deren Umfang, Mindestqualitätsmerkmale und Preis in der Verordnung festgelegt
werden. Die infrastrukturelle Sicherung einer bundesweiten postalischen Grundversorgung hat für die Bundesregierung herausragende Bedeutung. Die Bundesregierung hat sich daher bei der Ausgestaltung der Verordnung im Interesse der Verbraucher nachdrücklich
für eine qualitativ und quantitativ ausgewogene Verordnung eingesetzt. So konnte die Verordnung auch im
Vergleich zum ursprünglichen Entwurf deutlich verbessert werden,
({1})
und zwar auch gemeinsam mit den Ländern.
Zu den Universaldienstleistungen zählen nunmehr
die Beförderung von Briefsendungen bis 2 000 Gramm
einschließlich der Infopost, von Paketen bis 20 Kilogramm und von Zeitungen und Zeitschriften. Zusätzlich
wird in der Verordnung festgeschrieben, daß mindestens
12 000 stationäre Einrichtungen vorzuhalten sind, von
denen bis 2002 mindestens 5 000 Einrichtungen mit unternehmenseigenem Personal betrieben werden müssen.
Dabei muß in jeder Gemeinde der Bundesrepublik mit
mindestens 4 000 Einwohnern eine stationäre Einrichtung vorhanden sein. Die Regelentfernung bis zur nächsten Filiale beträgt in zusammenhängend bebauten Gebieten 2 000 Meter. Der nächste Briefkasten soll grundsätzlich nach höchstens 1 000 Metern erreicht werden
können. Auch das ist eine wichtige Frage der Grundversorgung.
Zugleich enthält die Verordnung Vorgaben für die
Laufzeiten der beförderten Sendungen, legt die Leerungszeiten von Briefkästen fest und schreibt eine mindestens einmal werktäglich zu erfolgende Zustellung
vor.
Die Einbeziehung der Presseerzeugnisse in den Katalog der postalischen Pflichtleistungen ist eine besondere Entscheidung. Darum haben wir gekämpft, weil wir
wollten, daß die Presse- und Meinungsvielfalt in
Deutschland gesichert wird.
({2})
Das kann man nur erreichen, wenn man diese in die
Pflichtversorgung einbezieht. Das ist in dieser neuen
Verordnung gelungen.
Hervorgehoben wurde auch das Beschwerderecht
eines jeden Bürgers. Wir haben mit der Einführung des
Beschwerderechts eine bürgernahe Regelung gefunden.
Im Falle des Auftretens einer Versorgungslücke können entsprechende Maßnahmen direkt ergriffen werden, und bei der Regulierungsbehörde können Anregungen und Beschwerden zur Beseitigung der Versorgungslücke eingereicht werden. Das ist ein neuer
bürgernaher Ansatz, den wir mit dieser Verordnung
suchen.
Des weiteren wurde sichergestellt, daß für Postdienstleistungen, für die nach dem Postgesetz eine Exklusivlizenz besteht, ein Einheitstarif anzuwenden ist,
um so eine gleichwertige Versorgung in Stadt und Land
zu gewähren.
Mit der PUDL-Verordnung ist es nach schwierigen
Abstimmungsgesprächen gelungen, die unterschiedliche Interessenlage der für die Versorgung zuständigen Unternehmen sowie der Kunden und Nachfrager, das heißt der Verbraucher, in angemessener Weise zu berücksichtigen und damit eine Dienstleistung
sicherzustellen. Auch die Anliegen der Länder konnten umgesetzt werden, so daß der Bundesrat am
24. September seine Zustimmung zur Verordnung
erteilt hat.
Deshalb - das kann man rückblickend sagen, auch
hinsichtlich der Liberalisierungspolitik der letzten Jahre
- ist dies eine wichtige flankierende Maßnahme. Denn
wir wollen, daß auch in einer liberalisierten Telekommunikationswirtschaft, die leistungsfähig und wettbewerbsfähig ist, der Zusammenhalt der Gesellschaft gesichert wird. Deshalb ist eine solche Universalverordnung
notwendig geworden.
Wir bitten Sie um Zustimmung zu dieser Verordnung.
({3})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich dem Kollegen Elmar Müller
das Wort erteile, möchte ich Ihnen das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen bekanntgeben - es handelt sich um den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen
Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 auf Drucksache 14/1245 -: Abgegebene Stimmen 592. Mit Ja
haben gestimmt 325, mit Nein haben gestimmt 241. Es
gab 26 Enthaltungen.
Parl. Staatssekretär Sigmar Mosdorf
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 591;
davon:
ja: 324
nein: 241
enthalten: 26
ungültig: 0
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({2})
Bernhard Brinkmann
({3})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({4})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({5})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Peter Friedrich ({6})
Lilo Friedrich ({7})
Harald Friese
Anke Fuchs ({8})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({9})
Angelika Graf ({10})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Wolfgang Grotthaus
Karl Hermann Haack
({11})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Reinhold Hiller ({12})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({13})
Walter Hoffmann
({14})
Iris Hoffmann ({15})
Frank Hofmann ({16})
Ingrid Holzhüter
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({17})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({18})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({19})
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({20})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Dr. Jürgen Meyer ({21})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({22})
Jutta Müller ({23})
Christian Müller ({24})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({25})
Gerhard Neumann ({26})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({27})
Birgit Roth ({28})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({29})
Ulla Schmidt ({30})
Silvia Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Wilhelm Schmidt ({33})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({34})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({35})
Brigitte Schulte ({36})
Reinhard Schultz
({37})
Volkmar Schultz ({38})
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({39})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({40})
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Simone Violka
Ute Vogt ({41})
Hans Georg Wagner
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({42})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({43})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({44})
Jürgen Wieczorek ({45})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Heino Wiese ({46})
Brigitte Wimmer ({47})
Engelbert Clemens Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({48})
Waltraud Wolff ({49})
Heidemarie Wright
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({50})
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({53})
Katrin Dagmar GöringEckardt
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Klaus Wolfgang Müller
({54})
Kerstin Müller ({55})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({56})
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({57})
Werner Schulz ({58})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm ({59})
Margareta Wolf ({60})
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({61})
Dr. Wolfgang Bötsch
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({62})
Dankward Buwitt
Manfred Carstens ({63})
Peter H. Carstensen
({64})
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Axel Fischer ({65})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({66})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({67})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({68})
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({69})
Hansgeorg Hauser
({70})
Klaus-Jürgen Hedrich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Steffen Kampeter
Dr. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Ulrich Klinkert
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({71})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({72})
Eduard Lintner
Dr. Manfred Lischewski
({73})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({74})
Dr. Martin Mayer
({75})
Wolfgang Meckelburg
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({76})
Elmar Müller ({77})
Bernd Neumann ({78})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Norbert Otto ({79})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({80})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({81})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth ({82})
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Dr. Jürgen Rüttgers
Anita Schäfer
Hartmut Schauerte
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({83})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({84})
Andreas Schmidt ({85})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({86})
Michael Stübgen
Dr. Rita Süssmuth
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Vizepräsidentin Petra Bläss
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({87})
Gerald Weiß ({88})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({89})
Hans-Otto Wilhelm ({90})
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({91})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({92})
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Gisela Frick
Horst Friedrich ({93})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Dr. Heinrich Fink
Carsten Hübner
Angela Marquardt
Christina Schenk
Enthalten
SPD
Lothar Binding ({94})
Monika Heubaum
Hans-Ulrich Klose
Lothar Mark
PDS
Monika Balt
Roland Claus
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke-Reymann
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidemarie Lüth
Manfred Müller ({95})
Kersten Naumann
Christine Ostrowski
Petra Pau
Dr. Ilja Seifert
Dr. Winfried Wolf
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({96})
Bühler ({97}), Klaus, CDU/CSU Freitag, Dagmar, SPD Dr. Hornhues, Karl-Heinz, CDU/CSU
Dr. Leonhard, Elke, SPD Zierer, Benno, CDU/CSU
Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
({98})
Ich gebe Ihnen jetzt auch das von den Schriftführern
und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zu dem Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung
ab dem Jahr 2000, Drucksachen 14/1245, 14/1977 und
14/1978 bekannt: Abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben gestimmt 34. Mit Nein haben gestimmt 355. Enthaltungen 202.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 590;
davon:
ja: 34
nein: 355
enthalten: 201
Ja
CDU/CSU
Otto Bernhardt
Julius Louven
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({99})
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Gisela Frick
({100})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Dr. Karlheinz
Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günter Friedrich Nolting
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard SchmidtJortzig
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
({101})
({102})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius
Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding
({103})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann
({104})
Bernhard Brinkmann
({105})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner
({106})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael
Catenhusen
Dr. Peter Wilhelm
Danckert
Dr. Herta DäublerGmelin
Christel Deichmann
Vizepräsidentin Petra Bläss
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer
({107})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Peter Friedrich
({108})
({109})
Harald Friese
Anke Fuchs ({110})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({111})
Angelika Graf
({112})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Wolfgang Grotthaus
Karl Hermann Haack
({113})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller
({114})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann
({115})
Walter Hoffmann
({116})
Iris Hoffmann ({117})
Frank Hofmann
({118})
Ingrid Holzhüter
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung
({119})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika KrügerLeißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange
({120})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({121})
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({122})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Dr. Jürgen Meyer ({123})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller
({124})
Jutta Müller
({125})
Christian Müller ({126})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann
({127})
Gerhard Neumann
({128})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter
Rossmann
Michael Roth ({129})
Birgit Roth ({130})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({131})
Ulla Schmidt ({132})
Silvia Schmidt
({133})
Dagmar Schmidt
({134})
({135})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({136})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({137})
Brigitte Schulte
({138})
Reinhard Schultz
({139})
Volkmar Schultz ({140})
Ilse Schumann
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz
({141})
Dr. Angelica SchwallDüren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid SkarpelisSperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl
({142})
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Simone Violka
Ute Vogt ({143})
Hans Georg Wagner
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({144})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({145})
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({146})
Jürgen Wieczorek
({147})
Heidemarie WieczorekZeul
Heino Wiese ({148})
Brigitte Wimmer
({149})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({150})
Waltraud Wolff ({151})
Heidemarie Wright
Vizepräsidentin Petra Bläss
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({152})
Axel Fischer ({153})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({154})
({155})
Volker Beck ({156})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska EichstädtBohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({157})
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Dr. Angelika KösterLoßack
Steffi Lemke
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Klaus Wolfgang Müller
({158})
Kerstin Müller ({159})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth
({160})
Irmingard ScheweGerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt
({161})
Werner Schulz ({162})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm
({163})
Margareta Wolf
({164})
PDS
Monika Balt
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang GehrckeReymann
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Sabine Jünger
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({165})
Kersten Naumann
Christine Ostrowski
Petra Pau
Christina Schenk
Dr. Ilja Seifert
Dr. Winfried Wolf
Enthalten
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine BergmannPohl
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor
Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Dr. Wolfgang Bötsch
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({166})
Dankward Buwitt
Manfred Carstens
({167})
Peter H. Carstensen
({168})
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({169})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({170})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther
({171})
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({172})
Hansgeorg Hauser
({173})
Klaus-Jürgen Hedrich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Steffen Kampeter
Dr. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Ulrich Klinkert
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({174})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({175})
Eduard Lintner
Dr. Manfred Lischewski
({176})
Dr. Michael Luther
Erich Maaß
({177})
Dr. Martin Mayer
({178})
Wolfgang Meckelburg
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({179})
({180})
Bernd Neumann
({181})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Norbert Otto ({182})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard
({183})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({184})
Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth ({185})
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Dr. Jürgen Rüttgers
Anita Schäfer
Hartmut Schauerte
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
({186})
Dr.-Ing. Joachim
Schmidt ({187})
Andreas Schmidt
({188})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Vizepräsidentin Petra Bläss
Dr. Andreas
Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
({189})
Michael Stübgen
Dr. Rita Süssmuth
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß
({190})
Gerald Weiß ({191})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({192})
Hans-Otto Wilhelm
({193})
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({194})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zöller
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO; der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({195})
Bühler ({196}), Klaus, CDU/CSU Freitag, Dagmar, SPD Dr. Hornhues, Karl-Heinz, CDU/CSU
Dr. Leonhard, Elke, SPD Zierer, Benno, CDU/CSU
Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Ich erteile jetzt für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Elmar Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Eine offensichtlich unvermeidliche - wenn auch
zweifelhafte - Tradition haben wir von Bonn nach Berlin
gerettet. Es ist jene Tradition, die der frühere Postminister, unser Kollege Wolfgang Bötsch, einmal so bezeichnet hat: Die Postdebatten werden generell im
Schutze der Dunkelheit im Deutschen Bundestag geführt. Diese Tradition führen wir heute fort. Bei allem
Verständnis, Herr Kollege Barthel, hoffe ich, daß Sie
anläßlich weiterer Debatten zu diesem Bereich trotzdem
versuchen, irgendwann einmal einen Tagestermin zu erhalten.
({0})
Die PUDLV, die Post-Universaldienstleistungsverordnung, hat eine lange Geschichte. Mit ihr wird eine
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates umgesetzt. Die Umsetzungsfrist ist bereits im Februar dieses Jahres abgelaufen. Die Bundesregierung hat sich ein ganzes Jahr für die Umsetzung Zeit
genommen. Die in diesem Zusammenhang erforderlichen Gespräche waren sicherlich nicht einfach, Herr
Staatssekretär Mosdorf. Allerdings muß auch gesagt
werden: Der Vorgang, der zu dieser Verzögerung geführt
hat, spricht in dieser Hinsicht Bände.
Die Bundesregierung hat sich mit dieser Umsetzung
deshalb so schwer getan und so viel Zeit gebraucht, weil
sie geglaubt hatte, sie könne die Post AG zwingen, mit
der Postgewerkschaft vorweg einen Vertrag abzuschließen, der die Zahl der eigenbetriebenen Postfilialen in
einer möglichst hohen Zahl festschreibt. Die Post hat
verständlicherweise zu diesen Forderungen und dem
diesbezüglichen Druck seitens der Regierung nein gesagt. Deshalb hat die Regierung in dieser Verordnung
eine bestimmte Filialzahl festgelegt. Da Postgesetz und
EU-Richtlinie lediglich Vorgaben zu Mindestqualitätsmerkmalen einschließlich Beförderungsbedingungen
sowie die Festlegung des erschwinglichen Preises verlangen, die Zahl der Postfilialen also mit der PUDLV
überhaupt nichts zu tun hat, kann es sich nur um die
Einlösung eines Versprechens gegenüber der Postgewerkschaft handeln, die offensichtlich für ihre Leistung
während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr eine
Gegenleistung erwartet.
({1})
Das Schlimme ist nun aber, daß die Bundesregierung
mit dieser Auflage zum einen die Börsenfähigkeit der
Post erheblich schwächt und daß sie dies zum anderen
auf Kosten der Verbraucherpreise tut. Denn 5 000
eigenbetriebene Postfilialen sind so teuer wie 10 000
Postagenturen. Hier sind Gewerkschaftsforderungen in
eine Rechtsverordnung geschrieben worden, die darin
überhaupt nichts zu suchen haben. Der Verbraucher zahlt
nun die Zeche in Form von Posttarifen, die höher sind,
als sie sein müßten.
Für wie dumm hält eigentlich die Bundesregierung
die Öffentlichkeit, wenn sie in der Begründung dieser
Rechtsverordnung schreibt, sie erwarte positive Auswirkungen auf das Verbraucherpreisniveau, gleichzeitig
aber Post AG und der Wirtschaftsminister erklären, daß
das Briefporto in den kommenden Jahren stabil bleibe?
In der Begründung der PUDLV wird sogar von möglichen Tarifsenkungen durch den eintretenden Wettbewerb gesprochenen. Meine Damen und Herren, das ist
genau die Formel, nach der diese Bundesregierung seit
einem Jahr die Bürger abzockt. Wenn die Regierung
sagt, der Bürger soll entlastet werden, dann weiß der
Bürger inzwischen, sie will ihn um sein Geld erleichtern.
({2})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Die Wahrheit ist doch: Der Post wurde im September
1997 durch den damaligen Regulierer, den Postminister,
eine 10prozentige Erhöhung des Portos für Briefe,
Postkarten und adressierte Briefsendungen, die über
5,50 DM liegen, genehmigt, weil sie, wie sie damals
sagte, unter anderem zur Aufrechterhaltung ihres Filialnetzes 2 Milliarden DM wegen Abmangel aus den Monopoleinnahmen zuschießen müsse. Sie hatte nach ihren
eigenen Angaben auch deswegen diesen Abmangel, weil
die Postbank am Schalter mehr Kosten verursache, als
sie der Post für ihre Leistungen abgelte.
Die Portoerhöhung für Briefe ab September 1997 das war eine gute Entscheidung - ist vom damaligen
Postminister bis zum 31. August nächsten Jahres begrenzt worden. Danach, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, erwarten wir von Ihnen, daß
Sie uns dabei unterstützen, daß die Kunden endlich an
den Produktionsfortschritten der Post - etwa durch den
Aufbau der 83 Briefzentren - in Form von Portosenkungen beteiligt werden, wir also nach diesem Termin für
eine Portosenkung sorgen.
({3})
Der Abbau von mehr als 60 000 Arbeitsplätzen, den
die Post inzwischen vollzogen hat, wurde doch immer
mit Produktionsfortschritten begründet und nicht damit,
daß man milliardenschwere Unternehmenszukäufe
finanzieren wolle. Die Rechtslage stellt sich folgendermaßen dar: Wenn die Post an der heutigen Höhe des
Portos für Standardbriefe festhalten will, muß sie einen
neuen Antrag bei der Regulierungsbehörde stellen.
({4})
Wenn nichts geschieht, wird das Porto im reservierten
Bereich ab September 2000 gesenkt.
Anstatt aber die Interessen der Endverbraucher zu
vertreten, setzt Rotgrün noch eins drauf, indem das zarte
Pflänzlein des Wettbewerbs durch § 6 dieser PUDLV
gefährdet wird. Man tritt zwar für einen Einheitstarif
ein, aber gleichzeitig will man individuelle Preisabsprachen mit Großkunden zulassen. Den Monopolisten, der fünf Jahre nach der Privatisierung immer noch
mehr als 99 Prozent Marktanteil im reservierten Bereich
hat, jetzt auch noch zu ermächtigen, Preisabsprachen im
Rahmen der Exklusivlizenz treffen zu dürfen, führt zur
unerträglichen Ungleichbehandlung der Kunden, die auf
Leistungen der Post AG angewiesen sind. Der Privatkunde hat eben keine Ausweichmöglichkeit.
({5})
Preisliche Sondervereinbarungen sind heute bereits Gegenstand von Beschwerden bei der Regulierungsbehörde
und haben offensichtlich nur das Ziel, den Kunden langfristig an den Monopolisten zu binden. Der Wettbewerb, der
laut Begründung durch die PUDLV herbeigeführt werden
soll, wird in Wirklichkeit vielmehr unterbunden. Man muß
sich einmal konkrete Fälle der Praxis vorstellen: So finanziert Tante Frieda mit dem von ihr zu bezahlenden überhöhten Briefporto den Großkundenrabatt von Beate Uhse.
Das ist moralisch zumindest zweifelhaft.
({6})
Im Zusammenhang mit der überfälligen Portosenkung, die Sie vermutlich mit der Annahme dieser zustimmungspflichtigen Rechtsverordnung verhindern
wollen, möchte ich Ihren Blick noch auf einen besonderen Vorgang richten, der im Amtsblatt der EU vor wenigen Tagen - am 23. Oktober 1999 - veröffentlicht wurde. Wie Sie wissen, gibt es ein Verfahren vor der Kommission gegen die Post wegen des Vorwurfs der Quersubvention vom Monopol- in den Wettbewerbsbereich.
In diesem Amtsblatt nimmt die Kommission wie folgt
Stellung - ich zitiere -:
Tatsächlich sind sie
- die Einnahmen im reservierten Bereich höher, als es für diesen Zweck notwendig ist.
Jede Überkompensierung des Universaldienstes ist
jedoch weder durch die Postrichtlinie noch durch
Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag zu rechtfertigen, da sie
nicht dazu dient, Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichen Interesse sicherzustellen.
Herr Staatssekretär, meine verehrten Kollegen von
der Koalition, ich denke, daß dieses Signal von Ihnen
vernommen wurde. Deshalb gehe ich davon aus, daß Sie
mit uns gemeinsam im nächsten Jahr für die Senkung
des Portos im reservierten Bereich eintreten werden.
({7})
Mir fehlt die Zeit, um auf die leidvollen Erfahrungen
der Kommunen bei der Schließung von Postfilialen
einzugehen. Jeder Kollege hat in seinem Wahlkreis ausreichend Erfahrungen mit der Post und ihrem Vorgehen
gemacht.
({8})
Im übrigen lief das in der Vergangenheit immer so ab,
Herr Kollege Barthel: Wenn irgendwo eine Postfiliale
geschlossen werden sollte, dann sind Postgewerkschaft
und SPD vor Ort in eine Kampagne mit der Behauptung
eingetreten, die Regierung Kohl nimmt euch eure Postfiliale weg.
({9})
Mit Annahme der PUDLV beginnt aber ab sofort eine
Welle von mehr als 2 000 ersatzlosen Filialschließungen. Damit es da keinen Zweifel gibt, meine Damen und
Herren von Rotgrün: Weil Sie bis zur Bundestagswahl
behauptet haben, das seien unsere Schließungen - also
Schließungen der CDU/CSU -, will ich sagen: Die mehr
als 2 000 Filialschließungen, die ab morgen über das
Land rollen werden, sind Ihre Filialschließungen.
({10})
Die Regelung in § 2 der Verordnung, wonach bei
Veränderung stationärer Einrichtungen das Benehmen
mit den zuständigen Gemeinden mindestens 10 Wochen
vorher herzustellen ist, entspricht der jetzigen freiwilligen Vereinbarung. Wir hoffen, daß sich die Post mehr
als in der Vergangenheit an diese Zehnwochenfrist hält.
Elmar Müller ({11})
Eine Bemerkung zur Pressepost. Herr Staatssekretär,
es ist richtig, daß wir in der früheren Koalition insoweit
einen Dissens hatten. Es war der Wunsch sowohl des
früheren Postministers als auch der Fraktion, daß wir
diesen Teil mit aufnehmen. Die SPD hat mit gutem
Recht eine andere Position vertreten; mit gutem Recht
deshalb, weil bis heute die Pressepost ohne Zweifel von
jedermann bestellt und von jedermann empfangen werden kann, ohne daß es dazu eine Universaldienstverpflichtung gibt. Dieses Universaldienstgebot in der
PUDLV wird im übrigen insofern keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen, als der Bund für eine eventuelle
Subventionierung einer solchen Pressepost - das wäre
allerdings ein anderer Fall - keinerlei Ansprüche gegen
sich akzeptiert.
Als letzten Punkt will ich das Beförderungsverbot
von Briefsendungen mit rassendiskriminierendem Gedankengut auf der Außenseite ansprechen. Solche
rassendiskriminierenden Sendungen waren bisher schon,
durch das Strafgesetzbuch gestützt, von der Beförderung
zurückzuweisen. Es bestand also überhaupt keine Notwendigkeit, dies jetzt in die Post-Universaldienstleistungsverordnung aufzunehmen.
Jetzt verlagern Sie nämlich die Entscheidung darüber
auf die Briefträger. Weil Sie selbst offensichtlich nicht
in der Lage sind, eine entsprechende Definition vorzulegen, erwarten Sie, daß die Post dazu eine betriebsinterne
Richtlinie für ihre Briefträger erläßt. Das ist genau die
Bürokratie und die handwerkliche Schludrigkeit, mit der
Sie Gesetze machen. Wir haben es ja erst heute wieder
erlebt.
({12})
Als braver Erfüllungsgehilfe von Gewerkschaftsbeschlüssen, deren Folgen man in diesem Fall wirklich nur
vermuten kann und die Sie noch gar nicht übersehen
können, schieben Sie die Verantwortung auf die Briefträger ab. Sie werden dadurch das Vertrauen der Postkunden in die Post nicht fördern. Ganz im Gegenteil: Sie
werden das Vertrauen beschädigen. Wenn Sie nämlich
die Briefträger als Briefschnüffler verpflichten, dann
wird das den Postkunden nicht gefallen.
({13})
Abschließend, meine Damen und Herren: Der Bundestag kann bei einer Rechtsverordnung, die von der
Bundesregierung formuliert worden ist, keinerlei Änderungen beschließen, sondern darf nur ja oder nein sagen.
Unserer Meinung nach überwiegt trotz einiger unterstützenswerter Passagen - das darf gesagt werden - das Mangelhafte an dieser PUDLV. Wir lehnen sie deshalb ab.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat die
Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich
wollte ich sagen, daß ich froh bin, daß sich nach den
Turbulenzen dieses Tages endlich wieder eine sachliche
Debatte einstellt. Ich muß aber leider sagen, daß ich das
nach dem Beitrag von Elmar Müller nicht mehr sagen
kann. Er hat doch sehr polemisch und vor allen Dingen
am Thema vorbei geredet.
({0})
Ich möchte mich dennoch an die Vorgabe halten, hier
sachlich über die PUDLV zu sprechen. Dies ist im übrigen ein ungeheuer symphatischer Name.
Auch im Postbereich bekommen wir nun Schritt für
Schritt wie im Strom- und Telekommunikationsbereich
Wettbewerb. Das bedeutet eine große Transformation,
die politisch auch gewollt ist. Eines aber muß verhindert
werden - daran sollten wir gemeinsam arbeiten -: Die
Unternehmen einschließlich der Deutschen Post AG
sollten sich nicht nur die Rosinen herauspicken. Das
würde nämlich in der Konsequenz dazu führen, daß bestimmte Kundengruppen insbesondere im ländlichen
Raum keinen ausreichenden Zugang mehr zu Postdienstleistungen haben.
({1})
Das ist nicht, wie Sie gesagt haben, Herr Müller, eine
Interessenvertretung der Gewerkschaften, sondern in der
Tat eine Interessenvertretung des Endverbrauchers.
({2})
Es liegt nämlich im Interesse des Endverbrauchers, daß
jeder Zugang zu Postdienstleistungen hat.
({3})
Diese Verordnung ist richtig, wichtig und überfällig.
Sie setzt Mindeststandards, die künftig im Postbereich
gelten sollen. Beispielsweise garantiert sie ein ausreichendes Netz von Postfilialen im ganzen Land - das
finde ich sehr wichtig -, mindestens 12 000. Sie ermöglicht der Deutschen Post AG aber gleichzeitig - das
halte ich für ausgewogen - ein ausreichendes Maß an
Flexibilität bei der Umsetzung dieser Vorgabe. So wurde in der Verordnung geregelt, daß die Poststellen auch
als Postagenturen betrieben werden können. Das macht
Sinn; denn das Postamt ist nicht in jedem Ort tatsächlich
voll ausgelastet. Es ist deswegen richtig, die Post entscheiden zu lassen, in kleinen Ortschaften nicht einen
däumchendrehenden Postbeamten zu finanzieren, sondern in diesem Fall beispielsweise den Tante-EmmaLaden um die Ecke diese Zusatzdienste übernehmen zu
lassen - natürlich nach entsprechender Schulung der
Mitarbeiter.
({4})
- Ich habe nicht dagegen protestiert.
({5})
Elmar Müller ({6})
Zum Verkauf von Briefmarken und zur Entgegennahme von Päckchen bedarf es nicht immer der Postangestellten. Hinzu kommt, daß der Tante-Emma-Laden
meist länger geöffnet hat als das Postamt und sich die
Kunden außerdem einen Weg sparen.
({7})
Die Garantie, daß jeder Zugang zur Post hat, ist durch
die der Post gegebene Möglichkeit der flexiblen Gestaltung in der PUDLV gut umgesetzt.
Daneben ist in der Verordnung geregelt, daß es mindestens 5 000 Poststellen gibt, die von posteigenem Personal betrieben werden. Auch dies erfolgt in abgewogener Weise: Einerseits besteht ein flächendeckendes Netz,
andererseits werden nicht unnötig Arbeitsplätze bei der
Deutschen Post AG abgebaut.
Die Verordnung regelt darüber hinaus, daß grundsätzlich in zusammenhängend bebauten Gebieten für
alle in maximal 2 000 Metern ein Postamt erreichbar
ist. Dieses Recht ist natürlich nicht individuell einklagbar, zum einen aus verfassungsrechtlichen Gründen das wissen Sie -, zum anderen, weil eine solche Regelung einen sehr starren Charakter hätte. Als Ziel aber ist
dies in der Verordnung formuliert.
Wir wissen von einigen Fällen - dies wurde schon
angesprochen -, daß Postämter von der Deutschen Post
AG geschlossen wurden, obwohl eine rege Nachfrage
der Postkunden bestand. In Waldheim beispielsweise
geschah dies 1993. Seitdem betreibt eine Bürgerinitiative ein Bürgerpostbüro. Die Post wird dort gesammelt
und von freiwilligen Helfern zur nächsten Postfiliale gebracht. Das Engagement der Waldheimer in allen Ehren,
ich frage mich aber doch, warum die Deutsche Post AG
in diesem Fall bei ihrer Haltung bleibt und nicht wenigstens eine Postagentur in Waldheim eröffnet.
Ich fordere deswegen die Post AG auf, die Spielräume, die wir ihr mit dieser Verordnung gegeben haben,
zu nutzen, zugleich aber so kundenfreundlich zu bleiben,
daß tatsächlich das Ziel erreicht wird, jedem den Zugang
zu den Dienstleistungen der Post zu ermöglichen.
({8})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
sich mit der vorliegenden Verordnung bemüht, eine ausgewogene Regelung unter Abwägung der wirtschaftlichen Interessen der Post auf der einen Seite und der
Kunden- und Infrastrukturinteressen auf der anderen
Seite zu finden. Die PUDLV schafft endlich Klarheit bei
der Ausgestaltung des Postgesetzes, was ja auch notwendig ist.
Man kann sich im Blick auf den Antrag der PDS nun
darüber streiten, ob ein Briefkasten alle 1 000 Meter
oder alle 500 Meter vorgeschrieben wird. Ich zweifele
aber daran, ob der Sachverstand der PDS in diesem Fall
größer als der des Wirtschaftsministeriums ist.
({9})
Man muß nämlich folgendes sehen: Wenn man zu viele
Briefkästen vorschreibt, dann erhöht man dadurch den
finanziellen Aufwand der Post. Dies erhöht wiederum
die Kosten, die an den Bürger weitergegeben werden
müssen. Erhöhte Portokosten sind aber nicht im Sinne
der sozialen Gerechtigkeit. Deswegen muß man zwischen zwei Bedingungen abwägen: Die Briefkästen
müssen möglichst jedem zugänglich sein; die räumlichen Anforderungen dürfen zugleich nicht zu hoch sein.
Ich glaube, daß das in dieser Verordnung gut gelungen
ist. Darüber hinaus steht es dem Unternehmen Post AG
frei, bei Bedarf mehr Briefkästen aufzustellen; denn hier
werden lediglich Mindeststandards formuliert.
Die Post ist gut beraten, ihren Standortvorteil, daß sie
im Gegensatz zu allen Alternativanbietern in der Fläche
präsent ist, in Zukunft auf keinen Fall aus der Hand zu
geben. Wenn nun Wettbewerb kommt, kann man einem
Unternehmen die Entscheidung nicht komplett per Verordnung abnehmen. Insofern handelt es sich hier um
einen ausgewogenen Entwurf, in dem beides berücksichtigt wird.
Danke.
({10})
Das Wort hat der
Kollege Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Post-Universaldienstleistungsverordnung ist nicht nur ein Wortungetüm. Der Entwurf
atmet auch inhaltlich den Mief der alten Postbürokratie
und des Dirigismus.
({0})
Beides sollte eigentlich mit der Öffnung des Postmarktes für Wettbewerb der Vergangenheit angehören. Gerade beim Postgesetz haben wir uns - auch im Vermittlungsausschuß, im übrigen zusammen mit der SPD große Mühe gegeben. Wir alle - auch die SPD, damals
durch Herrn Bury vertreten - wollten damals die Universaldienstleistung für den Zeitungsdienst und die InfoPost nicht.
({1})
Bürger und Wirtschaft haben ein großes Interesse an
Postdienstleistungen, die besser auf ihre Bedürfnisse
eingehen und die preisgünstig und innovativ sind. Nur
im Wettbewerb mit vielen Anbietern ist dieses Ziel erreichbar. Dies sieht man am mutig liberalisierten Telekommunikationsmarkt. Wir haben heute Hunderte von
Anbietern, und das dient dem Verbraucher.
({2})
Die Bundesregierung vertraut jedoch im Postbereich
nicht auf den Markt. Dies wird aus der PostUniversaldienstleistungsverordnung einmal mehr deutlich. Nicht umsonst hat die Bundesregierung fast ein
Jahr gebraucht, um diese Verordnung vorzulegen, galt es
doch, die unterschiedlichen Interessen der Post AG, der
Gewerkschaften und der Verbraucher möglichst unter
einen Hut zu bringen. Dies ist, Herr Staatssekretär, erkennbar nicht gelungen. Vielmehr haben sich die Interessen der Besitzstandswahrer von der Post AG und vor
allen Dingen der Gewerkschaften durchgesetzt. Die
Verbraucher, die an preiswerten und qualitiativ guten
Dienstleistungen interessiert sind, sind vollends unter
die Räder gekommen.
Nun mag man argumentieren, daß die Post AG für
den Börsengang gerüstet und deswegen vor Wettbewerbern geschützt werden müsse. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte sie möglichst viel Geld vereinnahmen und
eine schöne Gewinn- und Verlustrechnung vorlegen
können. Die Monopolrente soll also dem Anleger die
Zeichnung der Aktien versüßen, so scheinen Sie zu denken. Dabei unterschätzen Gewerkschaften und auch die
Bundesregierung die Weitsicht der Kapitalanleger und
verkennen letztlich auch die Interessenlage der Post AG.
({3})
Nachhaltigen Erfolg an der Börse haben aber nur Unternehmen, die sich dem Wettbewerb stellen, modern
strukturiert sind, effizient arbeiten und dabei von mancher liebgewonnenen Gewohnheit Abschied nehmen,
die im Monopol einfach entstanden ist.
({4})
In diesem Sinne regelt die Post-Universaldienstleistungsverordnung einfach zuviel. Schon nach dem
damaligen Willen aller Beteiligten sind - das habe ich
ausgeführt - der Post-Zeitungsdienst und die Info-Post
nicht in den Universaldienst mit aufzunehmen, weil das
ja überhaupt keinen Sinn macht. Denn auf diesen Gebieten soll ja Wettbewerb herrschen. Ob es zweckmäßig
ist, der Post AG im einzelnen vorzuschreiben, wie viele
stationäre Einrichtungen - und zwar Poststellen und
Tante-Emma-Läden - vorhanden sein müssen, kann
tunlichst bezweifelt werden.
Die Verfasser der Universaldienstleistungsverordnung, die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben offensichtlich wenig Vertrauen in den
Markt. Bei der Telekommunikation können Sie sehen,
wie der Markt funktioniert. Damals haben Sie uns ja davor gewarnt. Ich kann nur sagen: Diese Warnung haben
wir in den Wind geschlagen; auch Sie sollten jetzt den
Markt für Post-Dienstleistungen öffnen.
({5})
Nachdem die Post AG und die Bundesregierung erklärt haben, daß sie noch spätestens im Jahr 2000 den
Börsengang wagen wollen, hätte man erwarten können,
daß man sich für eine Marktöffnung ausgesprochen hätte
- denn Börsengang und Marktregulierung widersprechen einander -, also auch kleineren Wettbewerbern die
Möglichkeit gegeben hätte, Post-Dienstleistungen zu
erbringen, und nicht versucht hätte, diese PostDienstleister mit Prozessen vom Markt wegzubeißen,
wie das zur Zeit von der Post AG gemacht wird.
Ich halte es auch für höchst problematisch, daß die
Post AG ihr überhöhtes Briefporto von 1,10 DM über
den August nächsten Jahres hinaus aufrechterhalten will.
Dies dient nur der Quersubventionierung des Paketdienstes, wodurch kleineren Wettbewerbern der Einstieg in
den Paketdienst erschwert wird. Im Bereich der Briefpost stehen auch nach der Verordnung zahlreiche Hintertüren für die Post offen, so daß sie den Wettbewerb
aushebeln kann. Auch das verurteilen wir.
({6})
Durch die dirigistischen Vorschriften werden die
Preise insgesamt - das hat der Kollege Müller ja richtig
ausgeführt - für die Verbraucher höher sein, als das bei
Marktkonditionen der Fall wäre. Wir lehnen daher dieses Ungetüm von Verordnung ab. Weniger Regulierung,
Herr Kollege Mosdorf, wäre mehr gewesen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es vorweg zu
sagen: Die PDS wird der vorliegenden Post-Universaldienstleistungsverordnung nicht zustimmen. Dabei wollen wir nicht verkennen, daß gegenüber den vorhergehenden Entwürfen vor allem dank der beharrlichen Bemühungen der Deutschen Postgewerkschaft eine Reihe
von Verbesserungen erstritten worden sind. Wir halten
dies dennoch nicht für ausreichend.
Wofür wird die Verordnung benötigt? Laut Postgesetz soll sie Inhalt und Umfang der Universaldienste, also der allgemein als unabdingbar angesehenen postalischen Dienstleistungen, festlegen - Dienstleistungen, die
nicht für die Regierung erbracht werden, sondern für die
Kunden. Und da sind wir beim ersten großen Ärgernis
dieser Verordnung: Die Kunden, in deren Interesse es
die Post überhaupt gibt, in deren Interesse das Grundgesetz den Bund verpflichtet, angemessene und ausreichende Post-Dienstleistungen zu gewährleisten, haben
keine Möglichkeit, ihre im Gesetz und in der Verordnung festgelegten Rechte tatsächlich durchzusetzen. Das
ist ein eindeutiger und durch nichts zu rechtfertigender
Rückschritt gegenüber der alten Post-Kundenschutzverordnung, die immerhin die Möglichkeit eröffnete,
eine öffentliche mündliche Verhandlung zur Durchsetzung von Kundeninteressen zu erzwingen. Das heißt, auf
dem Weg von der Post-Kundenschutzverordnung zur
Post-Universaldienstleistungsverordnung haben Sie
Demokratie abgebaut, statt Demokratie zu stärken.
({0})
Um das ein wenig zu vertuschen, fordern Sie nun in Ihrem Entschließungsantrag, in der nächsten Verordnung
die Rechte der Kunden zu stärken. Warum denn nicht
gleich?
({1})
Die Post baut unterdessen ihre Leistungen ab. Von
1983 bis heute ist die Zahl der Filialen halbiert worden.
Von den heute noch vorhandenen 14 000 Filialen sind
knapp 7 000 nur Agenturen mit eingeschränktem Leistungsangebot und ohne Fachpersonal. 2 000 von ihnen
droht demnächst das Aus. Und nach 2002 wird das große Filialsterben weitergehen, weil die Politik dem nichts
entgegensetzt.
Der zweite kritische Punkt der sogenannten PUDLV
ist das verordnete Ende des Einheitstarifs für Briefsendungen bis 200 Gramm ab dem Jahre 2003, also
nach dem Ende der Exklusivlizenz. Die Regierung argumentiert, daß danach die Preise fallen werden. Für einen bestimmten Zeitraum mag das auch so sein, jedenfalls in Ballungsgebieten, wo sich anfangs die verschiedenen Anbieter gegenseitig auf den Füßen stehen werden, um mit geringstem Aufwand und möglichst billigem Personal höchstmögliche Gewinne herauszuschlagen. In dünnbesiedelten ländlichen Gebieten sieht die
Sache dann allerdings ganz anders aus. Man darf gespannt sein, wieviel der Brief von der Nordseeinsel ins
Alpendorf dann kosten wird.
Eines muß man den wechselnden Regierungen in diesem Land bestätigen: Kontinuität. Mit der von der großen Koalition beschlossenen Privatisierung wurde 1994
das Ziel flächendeckender Postversorgung dem Profitprinzip geopfert,
({2})
obwohl die SPD noch 1990 mit dem Versprechen in den
Wahlkampf gezogen war, die Postreform I rückgängig
zu machen. Alles vergessen, jetzt ist Liberalisierung angesagt, und alle machen mit. Das Problem ist, daß nur
wenige in diesem Land etwas davon haben werden und
die vielen anderen es bezahlen müssen.
Frau Hustedt, vielleicht wäre es gut gewesen, Sie
hätten auch ein paar andere Punkte unseres Antrags zitiert. Denn wir wollen - das ist ganz wichtig - mehr
Bürgerinteressen und ein wirkungsvolleres Einspruchsund Klagerecht durchsetzen. In dieser Richtung hatten
die Bürger bei Ihrem Gesetz bislang kaum eine Chance.
Wir finden es ganz wichtig, daß die Exklusivlizenz für
die Deutsche Post nicht 2002 ausläuft, sondern weiter
gilt. Das würde Sicherheit für Postbeschäftigte und
Postkunden bedeuten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Jetzt hat das Wort
der Kollege Klaus Barthel, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Universaldienstleistungsverordnung für die Post definiert jetzt
endlich, nachdem dies die alte Regierung trotz entsprechender Ankündigungen seit 1997 nicht geschafft hat,
welche Dienstleistungen in welcher Qualität zu welchem
erschwinglichen Preis - insofern, Herr Jüttemann: die
Preise sind nach oben hin gedeckelt, auch bei Briefen
von der Hallig auf die Alm - flächendeckend für jede
und jeden zukünftig erwartet werden können.
Wir bekennen uns in der Tat dazu, daß wir im Sinne
einer modernen Dienstleistungsgesellschaft ein umfassenderes und höherwertiges Angebot an Postdiensten für
erforderlich halten, als dies die Konservativen und die
Liberalen tun.
({0})
Wir wollen zum Beispiel die Flächendeckung und den
erschwinglichen Preis auch für die Beförderung von
Zeitungen und Zeitschriften sowie für Pakete bis
20 Kilogramm. Wir wollen dauerhaft 12 000 Filialen
bundesweit. An dieser Stelle darf ich daran erinnern:
Stand unter der alten Regierung waren 10 000 Filialen,
bis 2002 begrenzt. Wir öffnen diese Begrenzung nach
oben und sichern 20 Prozent mehr Filialen, auch in der
Fläche, in jeder Stadt und in jedem Landkreis.
({1})
Wenn dann Herr Müller einwendet, 10 000 Agenturen
entsprächen 5 000 posteigenen Filialen, ist doch die Frage: Warum hat die alte Bundesregierung nicht durchgesetzt, daß es 20 000 Postfilialen gibt, was finanziell dann
ja überhaupt kein Problem gewesen wäre?
({2})
Wir wollen - es ist bereits gesagt worden - klarere
Kriterien für die Aufrechterhaltung von Filialen: Beibehaltung der 2 000-Meter-Regelung und - aus Gründen
der Qualitäts- und Beschäftigungssicherung - 5 000
posteigene Filialen bis Ende 2002. Ich darf daran erinnern: Nach von der alten Bundesregierung gebilligten
Plänen wollte die Post AG nach 2002 überhaupt keine
oder nur noch in ganz wenigen Ballungszentren posteigene Filialen unterhalten. Wir sichern jetzt bis 2002 ein
breites Rückgrat von posteigenen Filialen in der Fläche,
das diesen Namen auch verdient. Das bedeutet nebenbei
auch Perspektiven für über 25 000 Beschäftigte und
dient der Zukunftssicherung von Post und Postbank.
({3})
Wir haben endlich eine Grundlage dafür geschaffen,
daß die Post AG jetzt ein Filialkonzept vorlegen kann,
das sie vertraglich mit dem Sozialpartner vereinbaren
kann und das mit den Kommunen und Ländern abgestimmt werden kann. Wie lange haben wir denn darauf
gewartet?
({4})
Universaldienstleistung bedeutet Pflichtleistung zu
erschwinglichem Preis. Von dieser Pflichtleistung und
von dieser Preisgrenze dürfen aber nicht jene profitieren,
die meinen, sie müßten Haß und Rassismus unter das
Volk streuen. Kein Postunternehmen, weder die Post
AG noch irgendwelche anderen, und kein Beschäftigter
dieser Unternehmen darf gezwungen werden, Sendungen zu bearbeiten, deren äußere Gestaltung schon erGerhard Jüttemann
kennen läßt, daß sie gegen die Prinzipien der Genfer
Antirassismuskonvention verstoßen.
({5})
Dort findet sich eine entsprechende klare Regelung, und
dieser Konvention ist die Bundesrepublik vor knapp
30 Jahren beigetreten. Wir vollziehen hier also nur das, wozu wir sowieso verpflichtet sind. Die Union hat dies bis
heute abgelehnt; für uns ist das eine Selbstverständlichkeit.
({6})
Verbraucherverbände und Bürgerinitiativen haben die
rechtlich abgesicherte Überprüfbarkeit der Vorgaben
dieser Verordnung gefordert. Wir sind dieser Forderung
im neuen § 5 in Form der Möglichkeit einer Bürgereingabe teilweise gefolgt. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß für weitergehende Vorstellungen an dieser
Stelle keine Rechtsgrundlage besteht.
Die SPD-Fraktion hält die Bürgereingabe für einen
unübersehbaren Fortschritt. Wir werden aber auch ganz
genau beobachten, ob die Regulierungsbehörde als
Kontrollinstanz diese Eingaben sachgerecht behandelt.
Wir wollen auch, daß - dann eben auf anderen rechtlichen Wegen - die Rechte der Kundinnen und Kunden in
dieser Frage gestützt werden.
({7})
An dieser Stelle möchte ich auf die entsprechende Passage in unserem Entschließungsantrag hinweisen, in
dem wir dieses berechtigte Anliegen mit aufgreifen.
Jetzt komme ich zu den Äußerungen, die wir heute
gehört haben und die schon seit ein paar Tagen in der
Presse herumgeistern. Deshalb haben wir auch die Frage
der Finanzierung des Universaldienstes und des fairen
Wettbewerbs in die Entschließung aufgenommen. Kollege Elmar Müller hat gegenüber der „FAZ“ am 27.
Oktober 1999 erklärt, der Post AG sei die Exklusivlizenz beim Brief und die Portoerhöhung zugestanden
worden, um sie in die Lage zu versetzen, „die Infrastrukturauflagen zu tragen“.
Wir begrüßen, daß sich Elmar Müller in diesem
Punkt unserer Auffassung anschließt. Das heißt nämlich,
wir haben einen reservierten Bereich in einem bestimmten Preis- und Mengenvolumen zur Finanzierung
des Universaldienstes. Damit dies logisch und europatauglich sowie wettbewerbsrechtlich sauber ist, muß
beides, der Universaldienst - das liefern wir jetzt nach und der reservierte Bereich, klar definiert sein.
Damit machen wir gemeinsam auch gegenüber der
EU-Kommission, der Regulierungsbehörde und gegenüber gewissen Gerichten, die offensichtlich anderer
Meinung sind, klar, was der Postgesetzgeber an diesem
Punkt gemeint hat. Deswegen freue ich mich über das,
was Elmar Müller gesagt hat.
Wir sagen ganz klar: Der Universaldienstleister Deutsche Post AG braucht zur Erfüllung seiner Pflichten berechenbare Rahmenbedingungen. Dazu gehört der reservierte Bereich mit auf absehbare Zeit stabilen Entgelten,
aber dazu gehören auch faire Chancen im internationalen Wettbewerb.
Da kann es eben nicht sein, daß sich in der EU die
Liberalisierung so vollzieht, daß ausländische Postunternehmen sich frei auf dem deutschen Markt, der zu
zwei Dritteln schon im Wettbewerb ist, tummeln können
oder ihre Töchter sich dort tummeln lassen, während in
den Herkunftsländern dieser Unternehmen quasi monopolistische Verhältnisse herrschen.
({8})
Das ungleiche Niveau der Liberalisierung in Europa aber nicht nur da - hat bekanntlich schon dazu geführt,
daß der Ministerrat der EU die bereits für vergangenen
Herbst vorgesehene Vereinbarung weiterer Liberalisierungsschritte vertagt hat - mit Recht.
Es macht in dieser Situation überhaupt keinen Sinn, sich
von einzelnen EU-Staaten im Verbund mit Union und
F.D.P. zur Vereinbarung weiterer Liberalisierungsschritte
treiben zu lassen oder für Deutschland schon heute über
feste Fristen des Auslaufens der Exklusivlizenz zu entscheiden, während in den meisten europäischen Mitgliedstaaten noch nicht einmal die für Anfang vergangenen Jahres vereinbarten Marktöffnungen vollzogen sind.
({9})
Dann möchte ich an dieser Stelle einmal anmerken,
daß sich aus meiner Sicht die Anzeichen dafür mehren,
daß die derzeitige deutsche Regulierungspraxis bei
Telekommunikation und Post die eigenen nationalen
Carrier dadurch benachteiligt, daß in deren deutschen
Hauptmarkt alle fast alles tun können, während die
Deutsche Telekom und die Deutsche Post AG in vielen
Ländern mit Hürden zu kämpfen haben. Ich will nur ein
Beispiel nennen: Postmarkt Niederlande. Der Delegation
unseres Unterausschusses haben sie dort frank und frei,
ganz liberal, erklärt, daß im dortigen, ohnehin verspäteten Postgesetz an so etwas wie einen freien Netzzugang
überhaupt nicht gedacht sei, den es bei uns seit Jahren in
extensiver Form gibt und von dem die niederländischen
Postunternehmen in der Bundesrepublik massiven Gebrauch machen.
An dieser Stelle wundere ich mich schon über den
Kollegen Müller, wenn er in demselben „FAZ“Gespräch beklagt,
die Post habe die Mehreinnahmen aus dem reservierten Bereich aber auch für Großeinkäufe von
10 Milliarden DM verwendet.
Er leitet daraus die Forderung nach Gebührensenkungen
und einem baldigen Ende der Exklusivlizenz ab, um sich
dann aber wieder zu beklagen, daß die Post AG Rabatte
an Großkunden geben darf. Also was denn jetzt? Wettbewerb ja, Gebührensenkungen ja, Rabatte nein? Wir
wissen doch alle, daß 85 Prozent des Postgeschäfts mit
Großkunden gemacht werden.
Vor diesem Hintergrund laufen die Forderungen von
Union und F.D.P. darauf hinaus zu sagen: Die Post AG
muß erstens in dem Umfang Universaldienst leisten, den
wir heute beschließen, übrigens auch auf Drängen und
mit Unterstützung aller unionsgeführten Länder im
Klaus Barthel ({10})
Bundesrat. Vielleicht könnte sich die Union hier im
Haus mit den Landesregierungen koordinieren.
({11})
Weiter mit den Forderungen der Union und F.D.P.: Die
Post AG muß zweitens ihre Tarife senken. Sie darf drittens ihren Großkunden keine Rabatte anbieten und muß
viertens ihren reservierten Bereich ganz schnell verlieren. Das heißt, die Post AG muß alle Lasten tragen und
ist gleichzeitig im Wettbewerb gefesselt. Das ist für die
Konkurrenz eine komfortable Lage. Auf diesem Weg
entsteht alles mögliche, aber kein fairer Wettbewerb.
Es war immer der Einwand der Liberalisierungsgegner, daß die Großkunden von der Liberalisierung mehr
profitieren, egal, ob bei der Telekommunikation, beim
Strom oder bei der Post. So kommt es natürlich jetzt.
Daß die Krokodilstränen über diese Tatsache jetzt ausgerechnet von den Propagandisten der Liberalisierung
kommen, ist doch ein Schmierentheater sondergleichen.
({12})
Wenn ich mich recht erinnere, war es doch die alte
Bundesregierung, die die Liberalisierung der Postmärkte
mit der internationalen Entwicklung und Globalisierung
sowie damit begründet hat, daß die Deutsche Post AG
international wettbewerbsfähig gemacht werden müsse.
Die Post mußte ja deswegen auch von einer Einrichtung
des öffentlichen Dienstes zu einer Aktiengesellschaft
werden. Deswegen soll sie auch an die Börse gebracht
werden. Dafür braucht sie gesicherte Bedingungen
- auch einen reservierten Bereich - für die Übergangszeit.
({13})
Wir wissen doch alle, daß im Zuge der vielstrapazierten Globalisierung auch ein Unternehmen wie die
Deutsche Post AG im Wettbewerb nur überleben kann,
wenn sie sich international aufstellt. Es waren doch Union und F.D.P., die das für die Postmärkte immer gefordert haben. Jetzt folgt die Deutsche Post AG diesen Vorschlägen der Liberalisierer Union und F.D.P. Wenn sie
das tut, schreien dieselben Zeter und Mordio. Da stimmt
doch etwas nicht.
({14})
Anstatt gemeinsam mit der Bundesregierung, Elmar
Müller, gegenüber den Institutionen der Europäischen
Union und gegenüber gewissen überforderten Verwaltungsrichtern deutlich zu machen, daß wir in der Bundesrepublik nicht nur eine der liberalsten Gesetzgebungen,
sondern den faktisch am weitesten geöffneten Postmarkt
haben, während in anderen Ländern zwar liberalistisch
dahergeredet wird, aber monopolistische Fakten bestehen,
während andere Länder - übrigens durchaus nicht völlig
abwegig - die Postliberalisierung überhaupt für Unfug
halten, liefern jetzt die Vertreter von Union und F.D.P.
Argumente gegen die Kunden und gegen die Arbeitsplätze in Deutschland, indem sie von Beihilfen, Quersubventionierung und überdimensionalen Einnahmen aus dem
reservierten Bereich faseln.
({15})
Sie bauen diese ganze gegen die Marktbedingungen,
gegen die Unternehmen und gegen die Arbeitsplätze in
Deutschland gerichtete Argumentation mit auf und erklären dann ganz treuherzig, wegen all dieser Widrigkeiten sei nun der Börsengang der Deutschen Post AG
gefährdet. Ich darf Sie daran erinnern: Es war doch die
von Ihnen getragene Bundesregierung, die den Börsengang geplant und terminiert hat. Da beißt sich doch der
Hund selbst in den Schwanz und jault, weil es weh tut.
({16})
Wir warnen an dieser Stelle vor einer populistischen
Gebührensenkungsdebatte. Für Entgelte gibt es Verfahren, die außerhalb dieses Gebäudes stattfinden. Wir haben mit der Post-Universaldienstleistungsverordnung
mehr Klarheit in die Rechnungs- und Begründungszusammenhänge gebracht, auch hinsichtlich der Gebührenfrage. Wer ohne diese Rechnungen und Erwägungen
jetzt zu laut schreit, der setzt sich der Gefahr aus, wegen
des billigen Effekts und wegen ein paar Pfennigen Porto
erstens die Erbringung des Universaldienstes zu gefährden, zweitens die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen
Carriers zu beeinträchtigen und drittens Zigtausende von
Arbeitsplätzen aufs Spiel zu setzen.
Zu deutsch: Was nützt es dem Handwerker, wenn das
Briefporto um 10 Pfennig billiger wird, aber wenn er nur
noch jeden zweiten Tag die Post zugestellt bekommt
und wenn er seine Sendungen am Heimatort nicht mehr
aufgeben kann, weil es keinen Universaldienst mehr
gibt? Mit den paar Pfennigen Ersparnis kann er den
Mehraufwand, den er aufbringen muß, um in die Kreisstadt zu fahren, bestimmt nicht finanzieren.
({17})
Unsere klare Linie ist: Den Universaldienst brauchen
die Postkundinnen und -kunden im ganzen Land. Zuverlässige Mindestbedingungen brauchen auch die Unternehmen, vor allen Dingen auch die kleinen und mittleren. Das ist ein Standortfaktor. Die Bundesländer und
die Kommunen haben das längst begriffen. Diese Infrastruktur kommt nicht von allein und auch nicht durch
den Wettbewerb allein. Das ist eine historische und betriebswirtschaftlich logische Tatsache.
An sich ist Ihre Redezeit zu Ende, Herr Kollege.
Der Gesetzgeber
war und ist gefordert. An dieser Stelle liegt der zentrale
Unterschied zwischen Ihrer und unserer Auffassung von
Politik. Wir gehen von den Bedürfnissen der Menschen
aus. Uns geht es um Arbeitsplätze. Von daher bestimmen wir die Wettbewerbs- und Marktbedingungen.
({0})
Sie von konservativer und liberaler Seite sehen den
schrankenlosen Wettbewerb als Selbstzweck. Sie konstruieren ökonomische Sachzwänge und wollen die
Menschen in diese Zwänge hineinpressen. Mit unserer
Klaus Barthel ({1})
Post-Universaldienstleistungsverordnung haben wir
einen wesentlichen Schritt in Richtung Klarheit auf dem
Postmarkt getan.
({2})
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluß kommen.
Die Kernbotschaft
des heutigen Tages lautet: Unsere neue PUDLV beendet
den Filialabbau. Keine Postmoderne ohne moderne Post!
({0})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu der zustimmungsbedürftigen Post-Universaldienstleistungsverordnung, Drucksache 14/1696. Der
Ausschuß empfiehlt auf der Drucksache 14/1971, der
Verordnung zuzustimmen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und
PDS ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, Drucksache 14/1972. Wer stimmt diesem
Entschließungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei Gegenstimmen von CDU/CSU, F.D.P.
und PDS ist der Entschließungsantrag angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS, Drucksache 14/1973.
- Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die
PDS-Fraktion. - Wer stimmt dagegen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Hannelore Rönsch ({0}), Ernst
Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Sicherung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 14/1312 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Tourismus ({1})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Brähmig, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir über den von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebrachten Antrag zur Sicherung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes in der Bundesrepublik Deutschland.
Einleitend möchte ich auf die grundsätzliche Bedeutung deutscher Volksfeste für die deutsche Freizeit- und
Tourismuswirtschaft und auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des deutschen Schaustellergewerbes
eingehen: Zirka 10 000 Volks- und Schützenfeste,
Weihnachtsmärkte und Kirmessen tragen zu einer großen Vielfalt des Angebots in der Freizeit- und Tourismuswirtschaft bei und sind somit ein einzigartiger Wirtschaftsfaktor. Mit 67 Prozent der Gesamtbevölkerung
als Besucher von Volksfesten und insgesamt über
200 Millionen Besuchern pro Jahr sind die Volksfeste
nicht nur der mit Abstand größte Freizeitbereich in
Deutschland, sondern sie tragen auch zur Attraktivität
des Tourismusstandorts Deutschland und zum Wachstum des Städtetourismus als des nachfragestärksten
Segments des Deutschlandtourismus bei. Allerdings
wird das Kulturgut Volksfest - im Gegensatz zu anderen
Kulturbereichen - nicht durch öffentliche Subventionen
unterstützt.
Die enorme wirtschaftliche Bedeutung, die die Volksfeste für einzelne Regionen besitzen, wird am Aushängeschild der deutschen Volksfeste, dem Münchener
Oktoberfest, schnell deutlich. Die „Wies’n“, mit über
6,5 Millionen Besuchern das größte Volksfest der Welt,
erbringt während ihrer 16tägigen Dauer einen Wirtschaftswert von rund 1,4 Milliarden DM. Auf der
„Wies’n“ selbst werden dabei zirka 450 Millionen DM
umgesetzt. Weitere 380 Millionen DM werden für Einkäufe, Taxifahrten, Verpflegung und Fahrten mit dem
Münchener Verkehrsverbund ausgegeben. Annähernd
560 Millionen DM - und damit der Löwenanteil am Gesamtumsatz - resultieren aus Einnahmen aus Übernachtungen der auswärtigen „Wies’n“-Besucher, vor
allem auch internationaler Gäste. Neben diesen direkt
bezifferbaren Einnahmen darf man allerdings auch nicht
den enormen immateriellen Imagegewinn vergessen,
den Deutschland als Gastgeber des größten Volksfestes
international erzielt.
Die sympathischsten Exportschlager Deutschlands
sind meines Erachtens die weltweit kopierten Volksfeste
wie das Münchener Oktoberfest oder der Nürnberger
Christkindlmarkt. Die ganze Welt beneidet uns um unsere Volksfeste. Sie gelten im Ausland als Synonym für
deutsche Gemütlichkeit und Geselligkeit, aber auch für
Gastfreundschaft und Weltoffenheit.
Einen besonderen Beitrag zum Erfolg dieser teilweise
Jahrhunderte alten Volksfeste leisten die Schaustellerunternehmen und Marktkaufleute, die sich im DeutKlaus Barthel ({0})
schen Schaustellerbund bzw. im Bundesverband Deutscher Schausteller und Marktkaufleute zu Berufsorganisationen zusammengeschlossen haben. - An dieser
Stelle möchte ich ganz herzlich die Spitzenvertreter des
Deutschen Schaustellerbundes, den Ehrenpräsidenten,
Herrn Konsul Harry Wollenschläger, den Vizepräsidenten, Herrn Albert Ritter, und den Hauptgeschäftsführer,
Herrn Dr. Norbert Weigang, begrüßen, die dieser Debatte beiwohnen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das mittelständisch
geprägte Schaustellergewerbe beschäftigt zur Zeit zirka
34 000 Mitarbeiter, einschließlich der mitarbeitenden
Familienangehörigen, und erwirtschaftete 1998 einen
Gesamtumsatz von zirka 1,3 Milliarden DM. Dies stellt
im Vergleich zu 1997 einen Umsatzrückgang von
300 Millionen DM bzw. annähernd 20 Prozent dar. Dieser Einnahmerückgang wird sich durch die zusätzlichen
Belastungen, die die neue Bundesregierung durch die
Einführung der ersten und zweiten Stufe der Ökosteuer
sowie durch die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse in diesem Jahr geschaffen hat,
deutlich verschärfen. Schätzungen zufolge ist die Mehrbelastung der Unternehmen des Schaustellergewerbes
durch die Ökosteuer 10- bis 20mal höher als die Entlastung durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge. Dies liegt zum einen an den hohen Energiekosten
der aufwendigen Fahrgeschäfte sowie an den ständig anfallenden Beförderungskosten von Festplatz zu Festplatz
und zum anderen an dem hohen Beschäftigungsanteil
von Familienmitgliedern und ausländischen Hilfskräften, für die keine Rentenversicherungsbeiträge gezahlt
werden.
In Anbetracht der oben genannten Entwicklung sind
wir als verantwortlich handelnde Politiker aufgerufen,
die Rahmenbedingungen für den Erhalt unserer Volksfeste und des Schaustellergewerbes deutlich zu verbessern.
Ein grundsätzlicher Ansatz wäre eine große Steuerreform, die den Namen auch wirklich verdient und zum
einen dem Bürger für solche Freizeitvergnügen deutlich
mehr Geld in der Tasche läßt und zum anderen den Unternehmen mehr Spielraum für dringend notwendige
Zukunftsinvestitionen gibt. Gerade das Schaustellergewerbe muß mit immer neuen Attraktionen für Abwechslung sorgen und sich auf die schnellebigen
Trendwechsel im Unterhaltungsbereich einstellen.
Neben diesem allgemeinen fiskalischen Lösungsansatz macht die CDU/CSU-Fraktion in ihrem vorliegenden Antrag eine Reihe von Vorschlägen zur spezifischen
Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen für die
Schaustellerbranche. Exemplarisch möchte ich einige
wichtige Lösungsansätze nennen: Im Gaststättengesetz
sollte eine standortunabhängige Dauererlaubnis für den
Betrieb von reisenden Zeltgaststätten, Imbiß- und Ausschankbetrieben ermöglicht werden. Damit würden
Wettbewerbsverzerrungen gegenüber dem konkurrierenden stationären Gewerbe abgebaut.
Weiterhin sollte der Bund gerade aus ökologischen
Gründen darauf hinwirken, daß für den Bahntransport
der Schaustellerbetriebe, zum Beispiel für Achterbahnen
und für andere große Fahrgeschäfte, genügend Verladebahnhöfe, Strecken und Transportkapazitäten bereitgestellt werden. Die Bahn darf sich nicht aus der Fläche
zurückziehen.
Die Deutsche Zentrale für Tourismus sollte in ihre
Marketingaktivitäten im In- und Ausland verstärkt deutsche Volksfeste einbeziehen. Auch hier könnte die DZT
mit der von uns immer wieder geforderten Aufstockung
der Bundeszuwendung sinnvolle Arbeit leisten.
Weiterhin sollte der Bund seinen Einfluß auf Länder,
Städte und Gemeinden geltend machen, die Durchführung von Volksfesten nicht zunehmend durch die Anwendung bzw. Erhöhung von Bagatellsteuern, zum Beispiel durch die Erhöhung etwa von Standgebühren, zu
erschweren. Das Beispiel Oktoberfest zeigt eindrucksvoll, wie sehr Kommunen von dem Wirtschaftsfaktor
Volksfest profitieren. In solchen Fällen liegt es doch im
eigenen Interesse, Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe zu nehmen und bei der Erhebung von Steuern und Gebühren Augenmaß zu bewahren. Wir wollen, daß auf dem Volksfest und nicht
am Volksfest verdient wird.
Es ist schon unglaublich, wenn einem Schausteller
vor Ort erklären, daß sie an die Kommunen 50 bis 60
verschiedene Abgaben und Gebühren zu entrichten haben. Nicht mehr Regulierung, sondern Deregulierung
heißt das Gebot der Stunde. Ein positives Beispiel für
den Interessenausgleich zwischen Kommunen und
Schaustellergewerbe ist der Verzicht einiger ostdeutscher Kommunen auf die Gebühren für die Sondernutzung öffentlichen Straßengeländes wie etwa Fußgängerzonen. Dadurch wird das Schaustellergewerbe - im
Vergleich zu westdeutschen Kommunen - pro Veranstaltung mit mehreren 10 000 DM entlastet.
Um die ökonomische Bedeutung der Volksfeste und
des Schaustellergewerbes für die Volkswirtschaft den
Entscheidungsträgern auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu verdeutlichen, benötigen wir schnellstens
eine eingehende Studie. Mit einer Fachstudie im Auftrag
der Bundesregierung, um deren Unterstützung wir hier
ausdrücklich bitten, lieber Kollege Mosdorf, könnten wir
den Verantwortlichen auf allen politischen Ebenen eine
wichtige Entscheidungshilfe für die sachgerechte Organisation und Durchführung der Volksfeste an die Hand geben. Gleichzeitig bitte ich die Bundesregierung, darauf
Einfluß zu nehmen, daß keine wettbewerbsverzerrenden
Investitionen mit Rundfunkgebühren - das Zweite Deutsche Fernsehen beabsichtigt dies möglicherweise mit seinem Freizeitpark - getätigt werden.
Abschließend möchte ich Sie aufrufen, bei dieser
Thematik parteipolitische Erwägungen zugunsten einer
sachbezogenen Zusammenarbeit zurückzustellen. Gemeinsam sollten wir uns für die Förderung und den Erhalt deutscher Volksfeste in allen Teilen unseres Vaterlandes einsetzen und das Schaustellergewerbe tatkräftig
unterstützen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.
Frau Präsidentin! Ich freue mich, zu diesem Thema zu reden, weil
heute Gäste aus dem Schaustellergewerbe unter uns
sind.
({0})
Es ist nicht selbstverständlich, daß die Betroffenen selber den Entscheidungsprozeß verfolgen. Dies finde ich
sehr angenehm. Ich freue mich sehr, daß Sie hier sind.
Ich möchte gleich hinzufügen, daß es der Wunsch des
Bundeswirtschaftsministeriums ist, mit Ihnen die Probleme, die es objektiv gibt, in Ruhe und Sachlichkeit zu
erörtern. Ich möchte gern den Vorschlag aufgreifen, eine
Studie über das Schaustellergewerbe erstellen zu lassen.
Auf der Grundlage der in dieser Studie erhobenen Daten
können wir gemeinsam versuchen, die Probleme anzugehen. Parteipolitische Polemik lohnt sich in der Tat
nicht. Herr Brähmig hat völlig recht.
({1})
Deshalb versage ich es mir auch, Herr Brähmig, darüber
zu reden, warum wir nach 16 Jahren so viele Verordnungen, so viele Genehmigungen, so viele Gebühren
haben. Wir wollen nach vorne schauen, wollen vernünftige Regelungen hinbekommen, Regelungen, die möglichst unbürokratisch sind. Wir glauben nämlich, daß
dies ein mittelständisches Gewerbe ist, von dem man
sehr viel Flexibilität verlangt. Und wenn man Flexibilität, Einsatzbereitschaft und auch Selbständigkeit verlangt, dann, finde ich, sollte man das unterstützen und
auch mit Flexibilität beantworten.
({2})
Das wäre ein wichtiges Signal an die Branche und an
diejenigen, die sich dort engagieren.
Ich freue mich sehr darüber, daß wir dieses Thema in
diesem Hohen Haus auch einmal unter dem kulturpolitischen Aspekt erörtern. Denn es ist gar keine Frage: Es
gibt eine jahrhundertelange Tradition von Kulturfesten,
von Volksfesten, auch eine jahrhundertelange Tradition
von kulturellen Einrichtungen. Das sind ja meistens
Dinge, die jedes Jahr wieder gemacht werden. Städte
haben teilweise sogar ihr eigenes Marketingkonzept darauf eingestellt. Viele Familien gehen mit ihren Kindern
zu diesen Volksfesten. Ich glaube, es ist wichtig, zu erkennen, daß das eine besondere Tradition ist. Wenn man
sich so im angelsächsischen Raum umhört, dann wird
schnell klar: Natürlich, die Amerikaner kommen nach
Heidelberg. Die Amerikaner kommen auch in andere
wichtige Städte. - Heidelberg habe ich jetzt Ihnen zuliebe genannt, Herr Niebel. Heidelberg ist ja auch eine
wichtige und stolze Stadt, eine der schönsten Städte in
Deutschland.
({3})
- Ja.
Wenn man dann bei den Amerikanern noch hinzufügt, daß Deutschland auch für Volksfeste steht, dann
wird das bei ihnen sehr genau registriert - übrigens auch
bei den Asiaten. Deutsches Brauchtum und deutsche
Kultur sind also ein Stück Identität, die hier gepflegt
wird. Ich finde es gut, wenn das erhalten bleibt. Deshalb
sollten wir alles tun, um die Probleme, die objektiv bestehen, anzugehen.
Volksfeste sind auch ein wichtiger Faktor für den
Tourismus. Und weil das so ist, sind wir darum bemüht,
gerade bei der Deutschen Zentrale für Tourismus um
Verständnis dafür zu werben. Sie wissen - auch das will
ich hier sagen -, daß sich gerade die Bundesregierung
um die Deutsche Zentrale für Tourismus bemüht hat,
daß sie sich bemüht hat, die Mittel nicht nur aufzustokken, sondern sie auch stabil zu halten - trotz der Sparmaßnahmen, die anstehen.
({4})
Das ist eine wichtige Sache.
Herr Brähmig, wir beide wissen, wovon wir reden,
weil wir beide Ihre mittelfristige Finanzplanung kennen.
Dort war eine Absenkung vorgesehen. Wir haben das
miteinander vermieden, und wir sind uns darin einig,
daß das wichtig war.
({5})
- Ja, das ist wichtig, aber das können wir möglicherweise nicht übersehen. Herr Brähmig weiß, wovon er redet.
Die Deutsche Zentrale für Tourismus ist eine der wichtigsten Multiplikatoren-Institutionen, die wir im Prozeß
der Globalisierung haben. Deshalb haben wir darum gekämpft, daß die Mittel entsprechend ausgestattet werden
({6})
und die Institution erhalten bleibt. Das ist wichtig. Wenn
wir dann auch noch etwas für Volksfeste im internationalen Marketing tun können, wäre das, glaube ich, ein
wichtiger Fortschritt.
Es gibt einen Punkt, meine Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, der, glaube ich, besonders
wichtig ist und bei dem wir schon einen Fortschritt erzielt haben: Wir haben uns dafür eingesetzt, daß die
Schaustellerfahrzeuge nicht mehr schematisch zu einem Termin, der mitten in der Saison liegt, geprüft werden, sondern dies kann, zeitlich passend, außerhalb der
betrieblichen Spitzenzeiten erfolgen. Ich weiß, daß das
Schaustellergewerbe das sehr begrüßt hat. Wir haben
das gemeinsam gemacht. Es ist, glaube ich, ein wichtiger Schritt. Ich will jetzt nicht übertreiben, aber es ist ein
wichtiges Zeichen, ein Signal, daß wir pragmatisch an
die Lösung dieser Fragen herangehen. Diese Regelung
erfolgte im Einvernehmen mit den Schaustellerverbänden und den obersten Landesbehörden.
Auch bei den Fahrverboten nach der Straßenverkehrsordnung verfahren die Länder inzwischen mit
Ausnahmegenehmigungen für die Schausteller großzügiger. Ich habe die herzliche Bitte, daß Sie sich, wenn es
dort Probleme gibt, direkt an uns wenden, damit wir der
Sache nachgehen können. Wir wollen nämlich, daß da
eine flexible Handhabung stattfindet.
Die ebenfalls aufgeworfene Frage, ob wir eine gaststättenrechtliche Dauererlaubnis für reisende Zeltgaststätten und Imbißbetriebe einführen können, wird
unser Haus bei der nächsten Sitzung des Bund-LänderAusschusses „Gewerberecht“ erörtern. Wir streben eine
konstruktive Zusammenarbeit mit den Ländern an, um
hier eine unbürokratische Lösung zu finden, möglichst
viele flexible Formen zu gestatten und damit vielleicht
auch eine Form von Regelung zu ermöglichen, die nicht
pausenlose Behördengänge verlangt. Das ist, glaube ich,
einer der wichtigsten Punkte, um die es überhaupt geht.
Wir müssen möglichst bürgernahe Strukturen schaffen.
Wir müssen möglichst flexible Einheiten schaffen, damit
dieses Gewerbe als wichtiges mittelständisches Gewerbe
erfolgreich ist. Wir wollen, daß es Erfolg hat, auch ökonomischen Erfolg, weil das die Voraussetzung dafür ist,
daß das Schaustellergewerbe manchmal ein bißchen
Licht in den grauen Alltag bringen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das ist der Beifall
des ganzen Hauses. Nun hat das Wort der Kollege Ernst
Burgbacher, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben es heute
tatsächlich mit Produzenten eines ganz besonderen Produkts zu tun, nämlich mit Produzenten der Produkte
Freude, Frohsinn und Geselligkeit.
({0})
Kollege Brähmig hat schon auf die wirtschaftliche Bedeutung dieser kleinen und mittelständischen Produzenten hingewiesen. Wir alle haben ihre Produkte sicher in
der einen oder anderen Form immer wieder genossen.
Diese Produzenten müssen allerdings auf dem äußerst
hart umkämpften Markt der Freizeitdienstleistungen arbeiten. Sie kämpfen mit immer verhaltener werdenden
Einkommensentwicklungen.
Herr Staatssekretär Mosdorf, nachdem Sie es sich
versagt haben, gewisse Dinge auszusprechen, will ich es
mir nicht versagen, zu sagen, daß dieses Gewerbe natürlich unter dem 630-Mark-Gesetz und unter den beiden
Stufen der Ökosteuer leidet.
({1})
Nach allen Informationen, die mir vorliegen, ist das
Energiesparpotential weitgehend ausgereizt - es sei
denn, die Lichter gehen aus; aber dann gehen wir nicht
mehr auf den Jahrmarkt. Nach all meinen Informationen
ist es für dieses Gewerbe relativ uninteressant, was an
Rentenbeiträgen eingespart wird, weil hier eine andere
Beschäftigtenstruktur vorhanden ist.
Es gibt ganz andere Probleme, vor denen das Schaustellergewerbe steht. Zum einen beschreiten die Kommunen in ihrer Finanznot, die wir kennen, Wege, die unserer Ansicht nach nicht die richtigen sind. Es werden
zum Beispiel Gebühren für verschiedene Dinge erhoben,
die die Branche vor große Probleme stellen. Zum anderen gehen die Kommunen mehr und mehr dazu über,
solche Fest an private Organisationen zu vergeben. Beides ist sicherlich sehr kritisch zu sehen. Deshalb wird in
dem Antrag von der CDU/CSU zu Recht darauf hingewiesen, daß die Gefahr besteht, daß Traditionen verlorengehen und solche Märkte absterben. Ich will darauf
hinweisen, wie stark die örtliche Gastronomie und der
örtliche Einzelhandel von solchen Volksfesten und
Märkten abhängen.
Ich komme aus einer Stadt, die einen Markt hat, der
über 150 Jahre alt ist. Ich weiß, wie wichtig dieser
Markt für die ganze Stadt ist. Für den Einzelhandel ist
dieser eine Markttag fast wichtiger als das Weihnachtsgeschäft. Das muß man sehen. Deshalb müssen wir daran interessiert sein, vernünftige Bedingungen zu schaffen.
({2})
Meine Damen und Herren, eines ist ganz klar - und
das werden Sie von Liberalen erwarten -: Wir bekennen
uns auch hier zur Konkurrenz, zum Wettbewerb. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Es
kann nicht sein, daß wir den Schaustellern alle möglichen Auflagen machen und alle möglichen anderen Geschäfte zulassen, die viel weniger belastende arbeitsrechtliche, hygienische und andere Vorschriften beachten müssen. Hier müssen wir angehen und dafür sorgen,
daß tatsächlich alle unter den gleichen Voraussetzungen
arbeiten.
({3})
Ich sage an dieser Stelle kritisch: Wir haben hier vor
zwei, drei Wochen eine Vereinsdebatte geführt. Wir
können nicht an einem Donnerstag sagen, jetzt geben
wir den Vereinen alle Vergünstigungen, und an einem
anderen Donnerstag, heute, die Vereine sollen keine bekommen. Hier müssen wir ein ganzes Stück ehrlicher
argumentieren.
({4})
Wir stimmen vielen Punkten in ihrem Antrag zu. Wir
werden uns auch in die Ausschußberatungen einklinken
und versuchen, zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen. Lassen Sie mich aber zwei Dinge ein wenig kritischer darlegen: Im Antrag wird immer wieder dazu aufgerufen, wir sollten auf die Kommunen einwirken. Das
könnte kontraproduktiv sein. Ich halte sehr viel von der
kommunalen Selbstverwaltung. Kommunen müssen
wissen, was sie tun. Sie müssen in Zusammenarbeit mit
den Schaustellern entscheiden. Dafür, daß sie das tun,
gibt es genügend gute Beispiele.
({5})
Das zweite: In einigen Bereichen werden neue Regelungen gefordert. Da sage ich: Vorsicht! Ich bin, wie
gesagt, dafür, die bestehenden Regelungen auf alle anzuwenden, aber ich bin bei neuen Regelungen skeptisch.
Ich fahre bis heute liebend gern Autoscooter, aber ich
möchte dabei nicht auch noch die Straßenverkehrsordnung beachten müssen. Damit verschonen Sie uns bitte!
({6})
Noch ein ganz konkreter Punkt: Sie werben für Erleichterungen bei der Vermittlung von ausländischen
Arbeitskräften. Ich bitte Sie wirklich herzlich: Überlegen Sie sich einmal, ob nicht der bessere Weg wäre,
dem F.D.P.-Antrag auf Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht für legal hier lebende Ausländer zuzustimmen.
({7})
Dann hätten Sie einen großen Teil der Probleme heute
schon gelöst.
Ich möchte zum Schluß kommen. Ich habe vor einer
Stunde, bevor ich hierhergekommen bin, vom DTV eine
Broschüre mit einem Gedicht bekommen, das genau zu
unserem Thema paßt. Dort heißt es am Schluß:
Die Städte sollen‘s Volksfest schätzen,
Es lassen auf den alten Plätzen,
Gebühren halten stets im Rahmen,
Für alle Zeiten, ewig. Amen.
({8})
Lassen Sie mich im Hinblick auf unsere Gäste noch
hinzufügen: Wir helfen unseren heutigen Gästen, auch
wir woll‘n schließlich weiterfesten.
({9})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Sylvia Voß, Bündnis 90/Die Grünen.
Ja, Herr
Burgbacher, wir haben ein „Herz für bunte Feste“,
könnte man gleich anfügen. - Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nachdem sich die CDU/CSU vor
nicht allzu langer Zeit mit dem bösen Wort vom „Freizeitpark Deutschland“ hervorgetan hat, fällt es mir allerdings ein wenig schwer, heute hier nachzuvollziehen,
daß diese hübsche Übersicht über ihre 16jährigen Versäumnisse ein Antrag zur Sicherung der Volksfeste und
des Schaustellergewerbes sein soll. Auf dem parlamentarischen Abend des Schaustellerbundes am 23. Juni
dieses Jahres in Bonn hat der Schaustellerbund zu Recht
darauf verwiesen, daß er seit Jahren Initiativen ergreife,
Volksfeste besser abzusichern. Sehr erfolgreich ist man
damit in der vorigen Regierung offensichtlich nicht gewesen.
({0})
Es hätte den christdemokratischen Kolleginnen und
Kollegen, die uns heute ihre 17 Forderungen hier präsentieren, ganz gut angestanden, die vom Deutschen
Schaustellerbund schriftlich an uns herangetragenen
Forderungen nicht einfach abzuschreiben.
Frau Kollegin Voß,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brähmig?
Ach,
Herr Brähmig, wir sehen uns im Ausschuß so oft. Lassen Sie mich jetzt ausreden.
Sicherlich ist es erfreulich für den Deutschen Schaustellerbund, daß die CDU/CSU in der Opposition endlich den Mut faßt, der sich in der Regierung partout
nicht hatte einstellen wollen. Aber ich denke, wir sollten
dabei wirklich gemeinsam vorgehen.
Ich möchte allerdings anmerken, daß es in Ihrem
vorliegenden Antrag reichlich viel Unverbindlichkeit
gibt. Bei vielen Forderungen wird gänzlich darauf verzichtet, Problemlösungen auch nur anzudeuten. Herr
Brähmig hat vorhin ein paar genannt. Ich hielte es
grundsätzlich für fatal, wenn sich die Opposition dieses
Hauses nur als Stichwortgeber der neuen Regierung verstände.
Es bleibt beispielsweise völlig im Nebel, welche Vorstellungen Sie mit Ihrer Forderung verbinden, die Bundesregierung möge auf die Kommunen einwirken,
Volksfeste in eigener Trägerschaft zu veranstalten.
Schweben Ihnen hier Fördermodelle des Bundes oder
lediglich gute Worte bei mehr oder weniger passendem
Anlaß vor?
Dann lesen wir: Der Bund - wohlgemerkt: der Bund möge darauf hinwirken, daß die Vergnügungsteuer und
die Schankerlaubnissteuer durch die Gemeinden nicht
erhöht werden. - Wie das? Für beide Steuern besitzt der
Bund keine Gesetzgebungskompetenz. Die Vergnügungsteuer ist eine örtliche Steuer auf Grundlage eines
Landesgesetzes. Die Schankerlaubnissteuer ist es nicht
minder. Letztere wird obendrein nur in einer Handvoll
Länder überhaupt erhoben. In Rheinland-Pfalz und Hessen liegt die Ertragshoheit der Schankerlaubnissteuer bei
den Landkreisen und kreisfreien Städten. Das können
und wollen wir auch nicht ändern.
Bei einigen Forderungen kann man sich auch nicht
des Eindrucks erwehren, daß für die Opposition mit der
Erlangung des Status der Opposition eine neue Zeitrechnung begonnen hat.
({0})
Oder wollen Sie dieses Hohe Haus wirklich glauben
machen, es hätte bis zum Herbst 1998 den jetzt von Ihnen, Herr Brähmig, konstatierten Regelungsbedarf in der
Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung nicht gegeben? Hat es der von Ihnen jetzt angemahnten besseren
Förderung der Schulausbildung von Schaustellerkindern, die völlig richtig ist, unter einer
CDU/CSU/F.D.P.-Regierung nicht bedurft?
Mit diesen Forderungen stellen Sie sich doch selber
ein Armutszeugnis für Ihre Regierungsarbeit aus. Es ist
zu hoffen - ich glaube, daß wir das hinbekommen -, daß
sich die Antragsteller in den Ausschußberatungen bereitfinden werden, sich den einen oder anderen Gedanken
darüber zu machen, wie wir diese berechtigten Forderungen des Schaustellerbundes umsetzen. Bis dahin
bleibt Ihr Antrag leider nur ein großes Potpourri schöner
Forderungen, das besser zu der Sendung „Wünsch Dir
was“ passen würde.
Unsere Fraktion nimmt die spezifischen Probleme des
Schaustellergewerbes sehr ernst.
({1})
Wir sind bereit, gemeinsam mit den anderen Fraktionen
über Problemlösungen zu diskutieren, gefundene Lösungen - unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips durchzusetzen und so wirklich zu Verbesserungen zu
gelangen. Immerhin gibt es in Deutschland 10 000
Volksfeste und 5 000 Schaustellerbetriebe, die 1997 einen Umsatz von 1,6 Milliarden DM hatten. 200 Millionen Besucher kamen 1998 auf die Volksfeste. Wir
möchten, daß dies so bleibt. Sie sollen tanzen, feiern,
fröhlich und zufrieden sein mit dem, was unsere Schausteller bieten. Wir werden alles dafür tun, daß den
Schaustellern viele Dinge ermöglicht werden, die sie
hier zu Recht einklagen.
Aber klar muß auch sein: Es kann keinen besonderen
Schutzstatus für das Schaustellergewerbe geben. Das
heißt, es wird mit uns keine fragwürdigen Ausnahmeregelungen geben, wie sie von der CDU/CSU beispielsweise für das Bundes-Immissionsschutzgesetz oder die
geplante Schwerverkehrsabgabe gefordert werden. Nicht
um Ausnahmen soll es uns gehen, sondern darum, offensichtliche Benachteiligungen zu beseitigen, damit wir
gemeinsam mit den Schaustellern weiter feiern und
fröhlich sein können.
Konkurrenz, wie sie beispielsweise von den 20 000
Brauchtums- und Traditionsvereinen ausgehen mag,
können und wollen wir nicht eliminieren. Wir wollen
ebenso nicht jene Konkurrenz eliminieren, die sich zum
Teil aus gravierenden Veränderungen im Freizeitverhalten ergibt, für die Begriffe wie Erlebnisgastronomie,
Spaß- und Erlebnismessen, Freizeitparks, Diskotheken,
Shopping, Entertainment, Fitneß, Kultur und auch Natur
stehen.
Abschließend möchte ich meine Freude darüber zum
Ausdruck bringen, daß im Tourismusausschuß offenbar
große Übereinstimmung darüber besteht, die Beseitigung der Versäumnisse der früheren Bundesregierung
im Hinblick auf das Schaustellergewerbe engagiert anzugehen und zu Verbesserungen zu kommen.
({2})
Hoffen wir alle, daß dann auch in unseren Ausschußberatungen gilt:
Der Jahrmarkt raubt uns den Verstand,
Für kurze Zeit nur, Gott sei Dank.
({3})
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Auch ich möchte die Gäste auf der
Tribüne, die unsere Debatte heute mitverfolgen, herzlich
begrüßen. Ich denke, daß sie viele gute Ideen und sicherlich auch einige Positionen, die hier zum Ausdruck
gebracht werden, in ihre Vereine und Verbände mitnehmen werden.
Ob es das Volksfest, die Kirmes, Stadt- oder Vereinsfeste sind, sie alle haben eine Signalwirkung, nämlich
die, endlich wieder einmal einen Tag der Gemeinsamkeit in Freude und Tanz zu genießen. Wie war und ist es
aber um diejenigen bestellt, die dafür Sorge tragen, daß
die Feste im wahrsten Sinne des Wortes Volksfeste werden und sich zunehmender Beliebtheit erfreuen? Nicht
zum erstenmal artikuliert das Schaustellergewerbe mit
Nachdruck seine Wünsche an die Politik.
Wenn auch zu begrüßen ist, daß durch den Antrag der
CDU/CSU die aktuellen Probleme des Schaustellergewerbes auf die Tagesordnung gesetzt werden, kann ich
mir eine Bemerkung nicht verkneifen - darauf ist heute
schon öfter hingewiesen worden -: Ein paar Tage während Ihrer Regierungszeit hätten Sie schon übrig haben
sollen, um den Fragen des Schaustellergewerbes entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken.
({0})
Ihr Antrag wäre darüber hinaus vollständiger gewesen,
wenn zum Beispiel das europaweit größte Frühlingsfest,
der „Sommergewinn“ in Eisenach, erwähnt worden wäre.
({1})
Von Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierung, erhoffe ich mir baldige Lösungen. Herr Mosdorf
hat hier ja schon einige Vorschläge gemacht. Ich denke,
daß das auch richtige Schritte in die richtige Richtung
sind.
Aus der Sicht meiner Fraktion ist unter anderem noch
für Abhilfe bei der Ungleichbehandlung von Schaustellergewerbe und stationärem Gewerbe zu sorgen. Im einzelnen heißt das:
Es sind gesetzliche Regelungen für das Beantragungsverfahren zu schaffen. Herr Burgbacher hat eben
schon ein Beispiel bezüglich der Arbeitskräfte gegeben.
Weiterhin sind gesetzliche Regelungen im Steuerrecht zu verändern. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, daß Schausteller keine Schwierigkeiten dabei haben, die Kosten für Hotelzimmer abzusetzen, demgegenüber aber die Kosten, die für Übernachtungen im
Wohnwagen notwendig sind, nicht abgesetzt werden
können.
Es wurde auch schon angesprochen, daß es Regelungen bezüglich der Gebührenordnungen geben muß,
damit Wettbewerbsverzerrungen von vornherein ausgeschlossen werde. Im Handwerkergewerbe sind zum BeiSylvia Voß
spiel die Schutzgesetze in einer Stammrolle festgeschrieben. Warum sollte das für das Schaustellergewerbe nicht möglich sein?
Es gilt auch, darüber nachzudenken, ob es Regelungen zum Schutze der Volksfeste geben sollte. In anderen
europäischen Ländern, zum Beispiel in Italien, gibt es
solche „Volksfestschutzgesetze“. Wir sollten darüber
nachdenken, damit dieses Gewerbe nicht schutzlos der
Willkür kommunaler Verwaltungen ausgesetzt ist.
Durch fehlende Regelungen bezüglich des Erhalts von
Volksfesten wird nämlich der Privatisierung und damit
einhergehenden Bebauungsabsichten Tür und Tor geöffnet. Das beste Beispiel liegt eigentlich vor der Tür: Der
Weihnachtsmarkt in Berlin findet in diesem Jahr letztmalig auf dem Platz an der Jannowitzbrücke statt. Für
diesen Platz ist eine Bebauung geplant. Wie lange will
man noch zulassen, daß die Kommunen zentral gelegene
Plätze immer weiter zubauen und kulturelle Veranstaltungen aus den Stadtzentren vertrieben werden? In den
Herzen der Städte muß Kultur pulsieren. Dazu gehören
auch diese Volksfeste.
Es sei mir erlaubt, nochmals zu betonen, daß in der
heutigen schnellebigen Zeit die sinnvolle Pflege von
Traditionen und volkstümlichem Brauchtum, zu denen
auch die Volksfeste zählen, außerordentlich wichtig ist.
In einer Gesellschaft, die auf der einen Seite immer mobiler wird und andererseits auf Grund von Isolation des
einzelnen und gegenseitiger Entfremdung nach neuen
Formen des Zusammenkommens sucht, gewinnen
zwanglose, gemeinsame Feiern immer mehr Zuspruch.
Das zeigen die Statistiken; entsprechende Zahlen wurden ja auch heute schon genannt.
Es gäbe sicherlich noch eine Vielzahl von Problemen
zu benennen, aber ich möchte nur noch auf eine Frage
eingehen: Die CDU/CSU fordert in ihrem Antrag unter
anderem die Einrichtung von Stützpunktschulen in den
Bundesländern. Diese gibt es eigentlich schon. Ich frage
Sie, meine Damen und Herren, ob es nicht eher an der
Zeit ist, über ein modernes bundesweites Schulsystem
nachzudenken, um allen Kindern und Jugendlichen gleiche Entwicklungschancen zu ermöglichen. Wenn wir
über mehr Effizienz reden, dann müssen wir auch das
Bildungswesen einbeziehen. Erleichterungen im Einschulungs- und Umschulungswesen, in der Aus- und
Weiterbildung sind längst überfällig.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, noch einen letzten
Satz. - Im Hinblick auf einen attraktiven Inlandstourismus halte ich einen Dialog zwischen Kommunen, Kultureinrichtungen und der Tourismusbranche für sehr erstrebenswert. Die Kommunen und die Tourismusinstitutionen vor Ort sollten stärker als bisher die Möglichkeit
wahrnehmen, an lokalen Kulturveranstaltungen zu partizipieren. So wächst auch das Verständnis füreinander.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt hat das Wort
der Kollege Jann-Peter Janssen, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung hat die Bedeutung der
Volksfeste und des Schaustellergewerbes erkannt. Treffender als unser Bundeskanzler Gerhard Schröder kann
man die Leistungen des Schaustellergewerbes nicht darstellen. Er sagte - nachzulesen auf der Internet-Seite des
Deutschen Schaustellerbundes -:
Die Schausteller in Deutschland leisten einen unschätzbaren Beitrag für ein menschliches Miteinander in unserer Gesellschaft.
({0})
Die großen Volksfeste und die vielen kleinen Dorfund Stadtteilfeste bieten Jung und Alt Woche für
Woche unbeschwerte Stunden der Geselligkeit und
des Frohsinns.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben dem bedeutsamen sozialen Aspekt der Volksfeste ist aber noch etwas anderes ganz wichtig - der Parlamentarische Staatssekretär hat es schon angedeutet -, nämlich die Wahrung
der Tradition und der vielfältigen Kultur in diesem Bereich durch die Schaustellerinnen und Schausteller. Dies
hat naturgemäß eine insgesamt nicht zu unterschätzende
positive Auswirkung auf den Tourismussektor in
Deutschland.
Die Bedeutung des Schaustellergewerbes läßt sich
unabhängig von den doch eher soziologischen Begriffen
„soziales Miteinander“ und „Traditionspflege“ auch in
nüchternen Wirtschaftsdaten und Zahlen ausdrücken.
Das wirtschaftliche Gewicht des Gewebes wird um so
deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, daß in unserem Land etwa 10 000 Volksfeste, Weihnachts- oder andere Jahrmärkte veranstaltet werden, die von 200 Millionen Menschen besucht werden, wie schon mein Kollege Brähmig eingangs ausführte. 1998 wurden 1,3 Milliarden DM Umsatz erwirtschaftet. Im Reisegewerbe
insgesamt - um neben dem Schaustellergewerbe auch
noch den Markt- und Straßenhandel hinzunehmen sprechen wir nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Schausteller und Marktkaufleute von einem Gesamtumsatz von 22 Milliarden DM.
Ich will an dieser Stelle auch einmal die Opposition
loben.
({2})
Denn es ist schön, daß sich die CDU/CSU-Fraktion mit
ihrem vorliegenden Antrag diesem wichtigen Thema,
nämlich der Unterstützung des Schaustellergewerbes
und der Sicherung der Volksfeste, annimmt. Wir SozialRosel Neuhäuser
demokraten haben auch keine Probleme damit, auf dem
Weg der Gemeinsamkeit zum Ziel zu schreiten; denn
der Antrag könnte ja in weiten Teilen auch von uns sein.
({3})
Die Union war diesmal schneller. Aber in der Opposition hat man ja auch mehr Zeit als früher.
({4})
Ja, es ändert sich schon einiges, Herr Brähmig, wenn
man sich auf einmal in der Opposition befindet; denn
der Unterschied von diesem Antrag zu ihren früheren
Anträgen in der letzten Wahlperiode ist offensichtlich:
Gab es früher nur ein „Weiter so“ für Sie, wollen Sie
heute auch Veränderungen erreichen. Wenn es sich um
positive Veränderungen für den Fremdenverkehr handelt, können Sie auch auf unsere Mithilfe rechnen.
({5})
Im Schaustellergewerbe existieren Probleme, vor denen man nicht die Augen verschließen darf. Hier müssen
wir uns im Rahmen unserer bundespolitischen Möglichkeiten einschalten. Eines dieser Probleme, das mich als
Gewerkschafter besonders angeht, ist die Situation der
Beschäftigten. Im Schaustellergewerbe allein - einschließlich der mitarbeitenden Familienmitglieder - sind
34 000 Menschen tätig; im Reisegewerbe, wieder inklusive der Betroffenen im Markt- und Straßenhandel, sind
es unter Einbeziehung der Familienangehörigen insgesamt 1,2 Millionen Menschen. Diese Arbeitsplätze müssen wir zukunftssicher machen. Der Haken dabei ist: Es
handelt sich um keine festen Arbeitsstellen an einem festen Ort, was die Sache nicht leichter macht.
Nach mir vorliegenden Informationen wird derzeit im
Bundesarbeitsministerium die Problematik des „Wiederkehrrechts“ geprüft. Ziel dabei soll es sein, daß
ausländische Arbeitskräfte, die in einem Jahr mehr als
sechs Monate beschäftigt waren, auch im Folgejahr wieder beschäftigt werden können. Derzeit ist dieses nicht
der Fall. Ein Rückgriff auf erfahrene Mitarbeiter ist somit also kaum möglich. Eine Änderung der entsprechenden Verordnung wäre wünschenswert.
({6})
Herr Burgbacher hat eben die 630-Mark-Jobs angesprochen. Ich möchte hier ganz deutlich für die SPDFraktion und für meinen Ausschuß sagen: Ich freue
mich, feststellen zu können, daß die Diskussion um die
630-Mark-Jobs im Schaustellergewerbe sehr an Heftigkeit verloren hat. Auch der hier und heute zur ersten Lesung anstehende Antrag der Union sieht bei der Regelung der geringfügigen Beschäftigung keinen dringenden Handlungsbedarf.
Zu einer zukunftssicheren Beschäftigungssituation im
Schaustellergewerbe gehört auch ein gut geschulter und
ausgebildeter Nachwuchs. Teilweise muß man die schulische Ausbildung für Kinder im Schaustellergewerbe
als katastrophal bezeichnen. Deshalb ist die Einführung
eines Schulbegleittagebuches für Schaustellerkinder zu
begrüßen. Somit kann eine kontinuierliche und damit
bessere Unterrichtung der Kinder an unterschiedlichen
Schulen gewährleistet werden.
Ebenso zu begrüßen ist die Einigung der Kulturministerkonferenz, nach Wiedereinführung des Vollzuges
der Berufsschulpflicht für Schaustellerjugendliche die
Jugendlichen nicht in die üblichen Berufsschulklassen
einzugliedern, sondern in den Wintermonaten Sonderlehrgänge und Blockunterricht vorzusehen. Das haben
wir auch des öfteren im Ausschuß diskutiert.
({7})
Ein kleiner und begrüßenswerter Fortschritt - hier sei
einmal auf die Initiative meiner Fraktionskollegin Annette Faße hingewiesen - ist auch die Empfehlung der
Kultusministerkonferenz vom 30. Juli des Jahres, nach
der für Kinder von Binnenschiffern, Schaustellern und
Zirkusangehörigen, die in einem Heim untergebracht
sind, bundesweit einheitlich 10 DM pro Kind und Tag
gezahlt werden soll.
({8})
Zum Abschluß: Sie wissen, daß ich Ostfriese bin.
Dem Vorsitzenden unseres Schaustellerverbandes,
Herrn Langenscheidt, möchte ich hier auf ostfriesisch
sagen: Leev Damen, leev Herren, leev Kolleginnen und
Kollegen, lat uns miteinander ahl de Schaustellers helpen und ahl dat doon, wat wi doon können, ohne links
und rechts to kieken. In dissem Sinne solln wi´t anpakken.
Das heißt auf hochdeutsch:
({9})
- Du hast nämlich gar nichts verstanden, mein lieber
Kollege. ({10})
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, lassen Sie uns das, was wir für das Schaustellergewerbe tun können, auf den Weg bringen, ohne nach
links und rechts zu schauen, und zwar gemeinsam. In
diesem Sinne: Packen wir es an!
Ich danke für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.
({11})
Nun endlich hat der
Kollege Ernst Hinsken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
anscheinend einige Fans. Ich bedanke mich dafür, daß
sie noch hier und sich bewußt sind, über was wir heute
debattieren. Es handelt sich nämlich nicht nur um eine
todernste Debatte. Wir reden auch über etwas Schönes,
an dem sich jeder in unserem Lande, sofern ein Fest
stattfindet, erfreuen kann. - Der Kollege Götzer hat sogar seinen Sohn mitgebracht, einen Nutzer von Volksfesten, damit er sieht, wie dieses Thema hier behandelt
wird.
({0})
Es gab noch nie im Deutschen Bundestag eine Debatte zu diesem Thema. Deshalb begrüße auch ich, daß
die führenden Repräsentanten des Schaustellergewerbes
heute zugegen sind.
({1})
Meine Damen und Herren, fast jede Gemeinde hat
eine Kirchweih, eine Kirmes, einen Markt
({2})
- oder ein Schützenfest. Es ist ein Vergnügen für Jung
und Alt zugleich. Volksfeste gehören zu den schönsten
Ereignissen des Jahres.
({3})
Es müßte in unser aller Sinn sein, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Volksfestkultur in Gänze so erhalten
bleibt, wie wir sie momentan erleben können.
Wer kennt sie denn nicht, die großen Feste, die wir
haben: das Münchener Oktoberfest, den Wurstmarkt in
Bad Dürkheim, den Striezelmarkt in Dresden, den
Nürnberger Christkindlmarkt, das Gäuboden-Volksfest
in Straubing, Frau Kollegin Irber, oder das Cannstadter
Volksfest in Stuttgart? Es ist wert, daß man all diese Feste einmal anspricht. Lassen Sie mich nur das größte
Volksfest in Deutschland herausgreifen, nämlich das
Oktoberfest in München. Dies allein lockte beim letzten
Mal über 6,5 Millionen Besucher an, die für einen Umsatz von 450 Millionen DM sorgten. Darüber hinaus betrug der Wirtschaftswert für die Stadt München, also
Übernachtungen, Souvenirs usw. 1,4 Milliarden DM.
Diese Zahlen können sich durchaus sehen lassen.
Meine Damen und Herren, ein Volksfest ist des Volkes Fest, das Fest des kleinen Mannes, zu dem jeder gehen kann und an dem sich jeder erfreuen kann. Ich bitte,
gerade im Goethe-Jahr Goethe zitieren zu dürfen, der
einmal schrieb:
Hier ist des Volkes wahrer Himmel! Zufrieden
jauchzet groß und klein: Hier bin ich Mensch, hier
darf ich's sein!
({4})
Ich mache denjenigen ein großes Kompliment, die
dafür Verantwortung tragen, daß das Schaustellerwesen
funktioniert und Volksfeste durchgeführt werden können.
({5})
Die Schausteller haben es nicht leicht, sich gegenüber
dem Fernsehen und vielen anderen Angeboten zu behaupten. Aber sie haben es geschafft, weiterhin am Ball
zu bleiben und sich so zu geben, wie es erforderlich ist,
damit junge und ältere Menschen zu den Volksfesten
kommen.
Meine Damen und Herren, vielen Menschen in dieser
Republik ist nicht bewußt, um welchen bedeutenden
Wirtschaftsfaktor es sich hier überhaupt handelt:
({6})
90 000 Markttage pro Jahr in ganz Deutschland, 10 000
Volksfeste und Jahrmärkte mit über 200 Millionen Besuchern und einem geschätzten Umsatz von rund
25 Milliarden DM. Zählt man die Zulieferer dazu, werden hier Hunderttausende von Arbeitsplätzen vorgehalten.
Machen wir uns alle nichts vor: Um wieviel ärmer
wäre unser Land ohne Volksfeste!
({7})
Diese Meinung wird von über zwei Dritteln, nämlich
67 Prozent, der Bevölkerung geteilt.
({8})
- Ja, bundesweit, Herr Kollege Müller. Sie gehen nämlich gerne zu den Festen.
Damit dies so bleibt, müssen wir, die Politiker, für
vernünftige Rahmenbedingungen sorgen. Dazu wurde
heute viel gesagt. Herr Mosdorf hat etwas versprochen,
der von mir hochgeschätzte Kollege Janssen hat auch
der Unterstützung der Schausteller das Wort geredet.
Aber wenn es darum geht, was konkret getan wird, dann
sieht es nicht so goldig aus, wie es an und für sich sein
sollte.
({9})
Meine Damen und Herren, schließlich geht es darum,
daß auch bei den Schaustellern gesehen werden muß,
daß nur an 120 Tagen im Jahr Geld erwirtschaftet werden kann. Außerdem wird nicht nur von den Fahrgästen
Geld eingenommen, sondern es muß auch Geld für neue
Fahrgeschäfte ausgegeben werden. Ein Riesenrad oder
eine Autoscooteranlage kosten 2 bis 5 Millionen DM.
Deshalb ist es erforderlich, vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Schausteller weiterhin
existieren können.
({10})
Dabei ist der Kurs der Bundesregierung von entscheidender Bedeutung. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen, was hat denn die
Bundesregierung den Schaustellern ebenso wie allen
Wählern versprochen? Hat es nicht wie oft auf dem
Jahrmarkt geheißen: „Jedes Los ein Treffer“?
({11})
Was haben die Wähler und die Schausteller in der Zwischenzeit gezogen? Nieten, Nieten, Nieten!
({12})
Die erste Niete war die Ökosteuer. Sie macht den
Strom um zwei Pfennige pro Kilowatt teurer. Von den
Stromkosten hängt natürlich der wirtschaftliche Erfolg
eines modernen Fahrbetriebes entscheidend ab.
Die zweite Niete war die Mineralölsteuererhöhung.
Die Erhöhung um 24 Pfennige in den nächsten vier Jahren plus Mehrwertsteuer macht zusammen fast
30 Pfennige aus.
({13})
Die dritte Niete war das 630-DM-Chaos. Es wurde vom
Kollegen Burgbacher und anderen Vorrednern aus unseren Reihen schon angesprochen.
Angesichts dessen meine ich für die CDU/CSUFraktion sagen zu dürfen: Wir dürfen es nicht bei Worten bewenden lassen - darum bitte ich Sie alle -, sondern haben dem auch Taten folgen zu lassen. Die Bundesregierung sollte vom Parlament aufgefordert werden
- ich nenne dafür zehn Punkte -: erstens in der Gewerbeordnung einen einheitlichen Begriff für Schausteller
einzuführen, um einheitliche Regelungen für das gesamte Schaustellergewerbe zu erreichen,
({14})
zweitens beim Lärmschutz auf die Länder und Kommunen einzuwirken, damit die traditionellen Feste nicht
durch überzogenen Immissions- und Nachbarschaftsschutz in ihrem Bestand gefährdet werden,
({15})
drittens auf die Kommunen einzuwirken, einen rechtlichen Schutz traditioneller Volksfeste hinsichtlich der
Festplätze zu schaffen, viertens die Eigentransporte von
Schaustellerbetrieben zu und von Volksfesten nicht mit
zusätzlichen Auflagen zu versehen, insbesondere die
Schausteller von der geplanten streckenbezogenen Autobahngebühr freizustellen
({16})
- ich setze auf Sie, Herr Schmidt, daß Sie mich unterstützen, wenn ich nächstes Jahr einen diesbezüglichen
Antrag einbringe -,
({17})
fünftens die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung so
zu ändern, daß Sicherheitsprüfungen zu für die Branche
möglichen Terminen durchgeführt werden können,
sechstens die Marketingaktivitäten für deutsche Volksfeste durch die Deutsche Zentrale für Tourismus im Inund Ausland zu intensivieren und dabei insbesondere
den Bahn- und Bustourismus zu fördern, siebtens wegen
der beruflich bedingten hohen Schulausbildungskosten
von Schaustellerfamilien eine höhere steuerliche Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten sicherzustellen - Herr Kollege Janssen, da haben Sie mich voll
und ganz auf Ihrer Seite -, achtens auf eine Verkürzung
der Bearbeitungszeit bei der Vermittlung von Nicht-EUAusländern hinzuwirken, neuntens auf das 630-DMGesetz zu verzichten und es zurückzunehmen - das
braucht unser Schaustellergewerbe;
({18})
hier haben sie es geprügelt und geknebelt; das ist eine
zusätzliche Belastung vor allen Dingen für den einzelnen Betrieb, der Formulare über Formulare ausfüllen
muß; das ist ein Abkassieren von Menschen, die sich ein
paar Mark hinzuverdienen wollen - und zehntens
Herr Kollege, Sie
müssen an Ihre Zeit denken.
- auf weitere Erhöhungen der Mineralölsteuer zu verzichten.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich. Ich möchte aber
gern die Frage der Kollegin zulassen.
Das kommt jetzt.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich,
bitte.
({0})
Bitte sehr, Frau
Kollegin.
Herr Kollege Hinsken, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß bereits sechs von den
zehn Forderungen durch die Bundesregierung erfüllt
worden sind, und würden Sie überdies zur Kenntnis
nehmen, daß es beim Gesetz zur geringfügigen Beschäftigung für das Schaustellergewerbe möglich ist, eine 50-Tage-Regelung in Anspruch zu nehmen?
Frau Kollegin Irber,
wenn das Schaustellergewerbe an über 120 Markttagen
unterwegs ist, dann ist ihnen mit einer Regelung für
50 Tage nicht gedient.
({0})
Wenn Sie der Meinung sind, daß bereits sechs von
diesen zehn Forderungen erfüllt sind, dann möchte ich
entgegnen: Es sind noch nicht einmal viereinhalb. Sie
müssen sich anstrengen, wenigstens die sechs zu erreichen. Dann wäre ein vernünftiger Schritt in die richtige
Richtung getan. Das Schaustellergewerbe, ein mittelErnst Hinsken
ständisches Gewerbe, ein wichtiger Wirtschaftszweig,
braucht das.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Nun hat das Wort
die Kollegin Marianne Klappert, SPD-Fraktion.
({0})
- Ihr habt alle den Hamburger Dom nicht erwähnt. Das
finde ich nicht in Ordnung.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Lieber Ernst Hinsken, ich
habe eben während deiner Rede ab und zu Bedenken
gehabt, daß du dich so sehr ereifern könntest, daß du
deine Gesundheit gefährdest.
({0})
Ich denke, das sollten wir doch bei diesem Thema nicht
machen.
({1})
Wir freuen uns alle darüber, daß wir Volksfeste haben, daß wir Kirmesse und Schützenfeste haben, und wir
wollen diese alle gemeinsam erhalten. Ich wollte die
CDU/CSU-Fraktion heute abend loben, daß sie einen
sachlichen Antrag eingebracht hat.
({2})
- Das mache ich auch noch.
({3})
- Ja, es war ein Fehler von dir, daß du mich gelobt hast.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
({0})
Jawohl.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Klappert, ich meine, daß Sie sich um meine Gesundheit keine
Sorgen zu machen brauchen.
({0})
Vielmehr hätte ich mir gewünscht, daß Sie heute nachmittag bei der Abstimmung über die Gesundheitsreform
richtig abgestimmt hätten. Dann wäre vielleicht nicht
soviel Blödsinn gemacht worden, wie es dann heute
mehrheitlich beschlossen worden ist. Sind Sie bereit,
dies zur Kenntnis zu nehmen?
({1})
Herr Kollege Hinsken,
ich nehme zur Kenntnis, daß ich richtig abgestimmt habe.
({0})
Ich möchte zu unserem eigentlichen Thema zurückkommen. Es geht uns um den Erhalt von Traditionsfesten, von Schützenfesten, von Kirmessen und von großen Volksfesten, die, denke ich, für unsere Städte und
Gemeinden von unglaublicher Wichtigkeit sind. Diese
Feste sind für die Städte ein wichtiger wirtschaftlicher
Faktor. Sie sind eine Tourismusattraktion. Ich denke, es
hilft ganz besonders auch dem Städtetourismus.
({1})
Es ist nicht nur ein besonderes Museum in München,
sondern es ist das Oktoberfest, das die Menschen anzieht. Darauf freut man sich, da geht man gemeinsam
hin.
Auf unseren großen Volksfesten treffen sich alle Personengruppen - nicht nur der kleine Mann, den Ernst
Hinsken eben angesprochen hat.
({2})
Vielmehr treffen sich hier sehr viele unterschiedliche
Mentalitäten und viele Volksgruppen. Alle freuen sich,
daß wir Gelegenheit haben, dort für einige Stunden unsere Sorgen zu vergessen.
Kollege Hinsken hat unter all den vielen Punkten die
630-DM-Regelung angesprochen. Wir müßten es gemeinsam schaffen, daß Langzeitarbeitslose wieder Gelegenheit haben, dort Arbeitsstellen anzunehmen, daß
sie wieder mit den Fahrgeschäften unterwegs sind. Dieses muß man verstärken.
Ich habe in Ihrem Antrag gelesen, und der Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf hat es eben schon gesagt: Wir haben nicht nur darüber geredet, sondern diese
Bundesregierung hat angefangen zu handeln. Das ist
eigentlich das Wichtige.
({3})
Kollege Burgbacher, daß sich die Schausteller ab dem
1. Dezember 1999 über die TÜV-Abnahme verständigen können, ist nicht die falsche Richtung, es ist die
richtige.
({4})
Wenn in der Bund-Länder-Kommission heute gemeinsam verhandelt wird, daß es im Gaststättengesetz
neue Regelungen gibt, daß eine Dauergenehmigung erteilt wird, ist auch das die richtige Richtung. Sie dürfen
nicht immer nur sagen, wie Herr Hinsken das gesagt hat,
diese Bundesregierung zieht Lose und verspricht dann
alles mögliche. Das macht uns die gemeinsame Arbeit
ein bißchen schwer.
Die Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen und
mein Kollege Jann-Peter Janssen sowie der Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf haben deutlich gemacht ich wiederhole es jetzt -, daß wir bei den Ausschußberatungen diese von Ihnen vorgeschlagenen Punkte auch
intensiv beraten werden. Wir haben die Hoffnung, nach
den Ausschußberatungen einen gemeinsamen Antrag
vorlegen zu können. Wir müssen den Schaustellern gemeinsam deutlich machen, wie ernst wir ihre Probleme
nehmen.
Ich will noch etwas zur Kommunalpolitik sagen. Der
Deutsche Städte- und Gemeindebund hat sich 1998 intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Wir alle wissen
aber, daß wir eine kommunale Selbstverwaltung haben. Wir wissen alle, daß in den Räten teilweise die
Kämmerer - nach 16 Jahren CDU/CSU- und F.D.P.Regierung - das Sagen haben.
Man muß einmal überlegen, was wir aus Sicht des
Bundes gemeinsam mit den Kommunen erreichen. Die
SPD hat eine Sozialdemokratische Gemeinschaft für
Kommunalpolitik. Die CDU hat die Kommunalpolitische Vereinigung. Ich denke, wir sind alle gefordert, mit
unseren Kollegen und Kolleginnen vor Ort zu reden.
Wir müssen diese Verbindung von oben nach unten in
dieser Frage stärker in Anspruch nehmen. Wir müssen
die Leute dafür sensibilisieren, daß sich die Kommunen
teilweise auch selber durch ständig erhöhte Gebühren
und Abgaben Einnahmen wegnehmen.
Ich glaube, wir können leisten, in unsere Gremien zu
gehen und zu sagen: Wir wollen uns gemeinsam der
Probleme annehmen. Wenn wir das schaffen, können
wir anschließend gemeinsam einen Antrag formulieren.
Ich glaube, damit tun wir den Schaustellern einen viel
größeren Gefallen, und es ist viel wichtiger für sie, als
wenn hier gegenseitig Polemik gemacht wird.
({5})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klaus
Brähmig?
Selbstverständlich, Frau
Präsidentin.
Bitte sehr, Herr
Kollege Brähmig.
Frau Kollegin Klappert, stimmen Sie mit mir darin überein, daß dieser Antrag keine Polemik enthält, sondern durchaus eine sachliche Grundlage für die Diskussion im Ausschuß bereithält?
Ich möchte noch auf die Problematik der 16 Jahre
eingehen, die Sie und verschiedene andere Redner angesprochen haben. Es geht hier um ein Problem, das zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gelöst wird. Sie
wissen genauso gut wie ich - deswegen habe ich dies
sachlich dargestellt -,
({0})
daß natürlich auch in den Ländern und Kommunen verschiedene Regierungsformen vorhanden sind und es
überhaupt keinen Sinn macht, daß wir uns hier in der
Debatte gegenseitig Vorwürfe machen. Das Problem ist
nicht, Herr Kollege Schmidt,
({1})
daß wir in 16 Jahren hier nichts auf die Reihe gebracht
hätten, sondern daß der Föderalismus in einzelnen Bereichen bei der Lösung der Probleme durchaus Schwierigkeiten bereitet.
Jetzt müssen Sie
noch die Kurve zur Frage kriegen.
({0})
Frau Präsidentin, er hat
ja am Anfang gefragt, ob ich ihn unterstützen könnte.
Herr Brähmig, alles, was Sie jetzt gesagt haben, ist in
Ordnung. Das wollen wir auch. Wir haben das auch vorgeschlagen. Aber es ist unser gutes Recht, auch einmal
deutlich zu machen, daß Sie 16 Jahre Regierungsverantwortung hatten
({0})
und daß Sie nicht früher mit einem solch ausführlichen
Antrag gekommen sind.
Jann-Peter Janssen hat eben gesagt, Sie hätten in der
Opposition jetzt mehr Zeit. Nutzen Sie sie! Lassen Sie
uns bestimmte Dinge gemeinsam machen! Es ist wichtig, daß deutlich wird, daß das, was die jetzige Bundesregierung schon angestoßen hat, Erleichterungen bringt
und daß wir auf dem richtigen Weg sind und nicht nur
immer darüber reden, sondern auch handeln.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({1})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1312 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir wünschen den Beratungen zu diesem Thema, bei
dem es so viel Übereinstimmung gibt, einen guten Verlauf und schnelle Ergebnisse für die Menschen, die in
diesen Bereichen beschäftigt sind und uns so viel Freude
machen.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des TäterOpfer-Ausgleichs
- Drucksache 14/1928 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({0})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Frau Bundesjustizministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Von den Volksfesten und den Schaustellern
zum Strafrecht und Strafprozeßrecht ist es in der Tat ein
weiter Bogen. Dennoch: Was wir heute abend in erster
Lesung debattieren, ist außerordentlich wichtig. Es bildet den ersten Schritt zur Erweiterung und Veränderung
des Sanktionensystems, die wir uns für die kommende
Legislaturperiode vorgenommen haben.
Sie wissen, meine Damen und Herren, der Schutz der
Schwachen durch das Recht ist einer der wesentlichen
Schwerpunkte der Rechtspolitik der neuen Bundesregierung.
({0})
Die Koalition hat bereits in ihrer Koalitionsvereinbarung
festgelegt - es lohnt sich übrigens wirklich, sie nachzulesen, meine verehrten Herren Zwischenrufer -, daß wir
mit einem umfassenden Bündnis gegen Gewalt zum
einen die Wurzeln der Gewalt in unserer Gesellschaft
bekämpfen und zum anderen die Rechte der Opfer wieder in den Mittelpunkt stellen müssen.
({1})
Das gilt ganz besonders für die Stellung des Opfers
einer Straftat -im Strafverfahren gegen den Täter. Wer
einmal Opfer einer Straftat und Beteiligter in einem anschließenden Strafverfahren gegen den Täter gewesen
ist, weiß sehr gut, daß manchem Opfer im konkreten
Ablauf des Strafverfahrens häufig eher eine Nebenrolle
zuteil wird. Das kritisieren heute zu Recht immer mehr
Betroffene.
Es ist richtig - lassen Sie mich das betonen -, daß im
Vordergrund eines konkreten Strafprozesses der Beschuldigte steht und stehen muß. Die Definition Radbruchs von der Strafprozeßordnung als der Magna
Charta des Beschuldigten, die Diskussion über die
schuldangemessene Strafe und die Resozialisierung diese übrigens auch als Opferschutz - sowie über rechtsstaatliche Garantien für den Beschuldigten gegenüber
den Strafverfolgern bilden völlig zu Recht in unserem
Rechtsstaat Kernelemente des Strafverfahrensrechts.
Das darf aber nicht dazu führen, daß sich gleichzeitig
das Opfer einer Straftat an den Rand des Verfahrens gerückt fühlt. Deshalb ist für das Bundesministerium der
Justiz nach den langen Jahren, in denen man das nicht
ernsthaft in Angriff genommen hat, die verstärkte Wahrung der Interessen des Opfers im Strafverfahren von
ganz entscheidender Bedeutung.
({2})
Wir unterstreichen das mit unserem Gesetzentwurf
über den Täter-Opfer-Ausgleich in vielfacher Weise.
Erstens erfüllt er zwei Hauptanliegen der Opfer von
Strafverfahren, nämlich ihr Interesse, einen Ausgleich
für das erlittene Unrecht zu erhalten, und die Genugtuung, zu erfahren, daß der Täter wirkungsvoll mit seiner Tat konfrontiert wird.
Der Täter-Opfer-Ausgleich eröffnet zweitens eine aus
kriminalpolitischer Sicht sinnvolle Reaktionsmöglichkeit auf leichtere bis mittelschwere Kriminalität.
Drittens - auch das wissen wir - muß sich der Täter
mit der Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs den
direkten Konsequenzen seines strafbaren Verhaltens
stellen. Auch das ist wichtig.
Viertens: Gleichzeitig bekommt der Straftäter in besonderer Weise die Möglichkeit, selbst Verantwortung
zu übernehmen und Konsequenzen für seinen weiteren
Lebensweg in Richtung auf ein straffreies Leben zu ziehen.
Fünftens kann die Stärkung des Täter-OpferAusgleichs bei den Opfern von Straftaten zu einer verbesserten Akzeptanz der Arbeit der Justiz beitragen,
weil das Opfer in einem Verfahren, in dem es um ihm
angetanes Unrecht geht, selbst erlebt, daß die Justiz und
damit der Staat, unser Rechtsstaat, darum bemüht ist,
Belastungen und Schäden aus einer Straftat unmittelbar
zu beheben.
Es verwundert aus all diesen Gründen nicht, meine
Damen und Herren, daß der Täter-Opfer-Ausgleich, den
es gibt, gerade im Jugendgerichtsverfahren in der Praxis
großen Erfolg hat.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zieht aber
die Konsequenz aus der Tatsache, daß der Täter-Opfer5948
Ausgleich im Erwachsenenstrafrecht in der Praxis
eher zögerlich angewandt wird. Bis heute sind sich
Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte der Möglichkeiten des Täter-Opfer-Ausgleichs als sinnvoller Alternative zu den bisherigen Sanktionsformen ganz offensichtlich noch nicht hinreichend bewußt. Sie ergreifen
die Möglichkeiten zu wenig, die bereits mit der Einführung des § 46 a StGB durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom Oktober 1994 gerade für das Erwachsenenstrafrecht geschaffen wurden.
Da runzelt jemand die Stirn,
({3})
aber ich will Ihnen sagen, warum das so ist und daß es
so ist. Nicht nur die Wissenschaft weist darauf hin, daß
das Potential des Täter-Opfer-Ausgleichs, sehr verehrter
Herr Kollege Funke, derzeit bei weitem nicht ausgeschöpft wird, sondern auch die Zahlen belegen dies. Das
sind die Zahlen, die Professor Dölling und andere in
dem Ihnen ohne Zweifel bekannten, hervorragenden und
grundlegenden Gutachten von 1998 zur Bestandsaufnahme und Perspektive des Täter-Opfer-Ausgleichs in
Deutschland zusammengetragen haben. Diese sprechen
für sich.
Danach betrug 1995 der Anteil des Täter-OpferAusgleichs an den Einstellungen und Sanktionsentscheidungen der Staatsanwaltschaften etwa 9 000 von insgesamt möglichen zirka 600 000 Fällen - lassen Sie mich
die Zahlen wiederholen, sie überzeugen auch Zweifler:
9 000 von möglichen 600 000 -, also 1,5 Prozent. Das
ist zuwenig.
({4})
Dieses Ungleichgewicht wollen wir beseitigen. Unser
Entwurf setzt dort an, wo heute Lücken sind, nämlich
bei der strafprozessualen Verankerung des Täter-OpferAusgleichs, und schafft das für die breitere Anwendung
dieses Instrumentes erforderliche verfahrensrechtliche
Gegenstück zu den materiell-rechtlichen Regelungen. Es
gibt also zwei Pfeiler, die beide verankert werden.
Zu den wichtigsten Punkten gehört einmal § 155 a
der Strafprozeßordnung, die Kernnorm dieses Entwurfs,
die Staatsanwaltschaften und Gerichte dazu veranlassen
soll, in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit
zu prüfen und darauf hinzuwirken, einen Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Verletztem zu erreichen. Das
stellt auf der einen Seite sicher, daß der Täter-OpferAusgleich im Erwachsenenstrafrecht sehr viel breiter
angewandt wird. Auf der anderen Seite können solche
Fälle, die sich eben nicht für ein derartiges Verfahren
eignen - die gibt es natürlich -, ohne übermäßige Belastungen der Justiz weiter verfolgt werden, und zwar im
ganz normalen Strafverfahren.
§ 155 b StPO räumt die datenschutzrechtlichen Bedenken aus, die bis heute der effizienten Handhabung
des Täter-Opfer-Ausgleichs entgegengehalten werden.
§ 87 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte
fördert - ganz pragmatisch, aber vernünftig - die Akzeptanz des Täter-Opfer-Ausgleichs auch in der Anwaltschaft.
Ich habe schon darauf hingewiesen: Dieser Gesetzentwurf ist ein Schritt zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems. Diesen Weg werden wir
weiterhin verfolgen. Es ist wichtig, die staatlichen
Möglichkeiten, in sinnvoller Weise auf Kriminalität zu
reagieren, zu erweitern und grundlegend zu verändern.
Wir erwarten aus dem hoffentlich Anfang nächsten
Jahres vorliegenden Abschlußbericht der noch von
meinem Vorgänger eingesetzten Kommission zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems
weitere Impulse. Wir begleiten selbstverständlich die
Arbeiten dieser Kommission mit unseren eigenen
Überlegungen.
In all diesen Schritten geht es um rechtsstaatliche und
wirksame Sanktionen und Reaktionen auf Straftaten.
Lassen Sie mich nochmals betonen und damit den Bogen zum Beginn meiner Ausführungen schließen: Es
geht um die Wahrung der Interessen der Opfer von
Straftaten.
({5})
Ich bitte Sie deshalb, diesen Gesetzentwurf gerade im
Interesse der Opfer und ihrer Belange zügig zu beraten,
damit der Täter-Opfer-Ausgleich in der täglichen Praxis
endlich aus dem Schatten der Strafjustiz heraustritt.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Wolfgang Götzer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieser
Gesetzentwurf wird zwar nicht im Hauruckverfahren
durchgepeitscht, so wie wir es heute vormittag, heute
nachmittag und leider auch gestern morgen im
Rechtsausschuß bei einem anderen Thema erleben
mußten. Das wirft für mich ein bezeichnendes Licht auf
das parlamentarische Verständnis dieser Regierungskoalition. Aber auch wenn es bei diesem Entwurf etwas
langsamer zugeht, so ist er nicht viel besser und schon
gar nicht ausgereift.
Der Deutsche Anwaltsverein kommt in einer Stellungnahme zu dem Ergebnis: Es handelt sich um keine
verfahrensrechtliche Regelung des Täter-OpferAusgleichs, nicht einmal um eine inhaltlich gesetzessystematische Verankerung im Prozeßrecht. Er spricht von
Etikettenschwindel.
Ich glaube, wir sind uns alle einig, daß der TäterOpfer-Ausgleich, wenn er richtig praktiziert ist, eine
gute Sache ist. Deswegen hat die Bayerische Staatsregierung schon in den 80er Jahren einiges in dieser
Richtung erprobt. Auch die Regierung Kohl hat in diesem Bereich wichtige Schritte unternommen. Ich möchte
nur die Novelle des Jugendgerichtsgesetzes von 1990
erwähnen.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf geht davon aus,
daß der Täter-Opfer-Ausgleich bislang nur in relativ
kleinen Zahlen praktiziert wird. Der Grund hierfür ist
freilich nicht eine fehlende strafprozessuale Verankerung; denn ausreichende rechtliche Grundlagen für den
Täter-Opfer-Ausgleich gibt es im StGB und in der StPO.
Gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt es im Grunde
lediglich bezüglich einer Datenübermittlung der Strafjustiz an diejenigen Stellen, die den Täter-OpferAusgleich vermitteln. Der Grund, warum er bisher nicht
in gewünschter Zahl praktiziert worden ist, liegt in den
fehlenden Ressourcen.
Darüber setzt sich der Entwurf großzügig hinweg, indem er die massenhafte Anwendung des Täter-OpferAusgleichs geradezu propagiert. Wenn man nur davon
ausgeht, daß ein Sozialarbeiter maximal 100 bis 150
Verfahren im Jahr schaffen kann, dann stellt sich die
Frage, woher die dafür erforderlichen bis zu 3 000 neuen
Sozialarbeiter kommen sollen und wie sie zu finanzieren
sind. Darüber schweigt sich der Entwurf aus. Die Kosten
werden ganz einfach den Ländern aufgedrückt.
Aber es gibt noch einige andere grundlegende Probleme des Entwurfs. Hier wird eine neue Generalnorm
ins Gesetz geschrieben, die vorsieht, daß die Möglichkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs in jedem Verfahren
durch Staatsanwaltschaft und Gerichte zu prüfen sind.
({0})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht jedes strafrechtliche Verfahren und nicht jede Straftat eignet sich
bekanntlich dazu.
({1})
Ein weiterer Gesichtspunkt. Staatsanwaltschaft und
Richter sollen auf die Durchführung des Täter-OpferAusgleichs hinwirken. Wie das zusätzlich zu der ohnehin schon bestehenden Arbeitsbelastung der Staatsanwälte und Richter gehen soll, würde ich gerne erfahren. Vor allem aber ist anzumerken, daß es hier zu
einer grundlegenden Verschiebung der Aufgaben der
Strafrechtspflege kommt. Die Kernaufgabe der Strafrechtspflege ist die Verfolgung und Ahndung von Straftaten, nicht eine ausgleichende Konfliktschlichtung.
({2})
Ein weiterer Punkt. Der Entwurf verlangt lediglich,
daß sich der Beschuldigte um den Täter-OpferAusgleich zu bemühen hat. In § 153 a StPO sind die
darin aufgeführten Auflagen und Weisungen bislang alle
an den Eintritt eines sicher feststellbaren Erfolgs geknüpft. Jetzt soll es plötzlich genügen, daß man sich
bemüht. Ich glaube, daß aus Opfersicht kein Verständnis
dafür besteht, wenn der Täter durch das bloße Bemühen
die automatische, sanktionslose Beendigung des Strafverfahrens erreichen kann.
({3})
Ich glaube, das Opfer muß sich zur Straflosstellung des
Täters instrumentalisiert vorkommen.
Der für mich wichtigste Punkt - sozusagen ein Hammer - ist der neue § 155 a StPO, der regelt, unter welchen Voraussetzungen sich ein Strafverfahren für den
Täter-Opfer-Ausgleich eignet. Die Formulierung in
§ 155 a lautet: „Gegen den ausdrücklichen Willen des
Verletzten soll die Eignung nicht angenommen werden.“
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was heißt das? Ein
Verletzter muß sich also ausdrücklich gegen den TäterOpfer-Ausgleich wehren, wenn er ihn nicht will. Und
selbst wenn er ausdrücklich zu erkennen gibt, daß er ihn
nicht will, kann dieser dennoch - gegen seinen ausdrücklichen erklärten Willen - durchgeführt werden.
Das halte ich für völlig inakzeptabel.
({4})
Der Täter-Opfer-Ausgleich und seine Akzeptanz in
der Rechtsgemeinschaft stehen und fallen mit der Wahrung der Opferbelange. Einen Täter-Opfer-Ausgleich
gegen den Willen des Opfers oder an ihm vorbei, kann
und darf es nicht geben.
({5})
Ich möchte noch einmal betonen, verehrter Herr
Kollege Ströbele: Der Täter-Opfer-Ausgleich ist grundsätzlich zu begrüßen.
({6})
- Nein, nein. Die Gewichte sind hier eindeutig verschoben. Bei einem Täter-Opfer-Ausgleich, Herr Kollege
Ströbele, müssen die Interessen des Opfers an der ersten
Stelle stehen, und zwar nicht nur verbal, so wie sie die
Frau Bundesministerin gerade betont hat, sondern auch
tatsächlich.
({7})
Der vorliegende Entwurf trägt dem nicht Rechnung. Im
Gegenteil: Seine kriminalpolitische Tendenz geht genau
in die andere Richtung. Diese Bundesregierung kümmert
sich mehr um die Täter als um die Opfer, und das werden wir nicht mitmachen.
({8})
Jetzt hat der Kollege
Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Irgendwie scheint in der Turbulenz des heutigen Nachmittages das richtige Lesen abhanden gekommen zu sein. Ich will dies einmal versuchen, obwohl
meine Brille kaputtgegangen ist.
({0})
In § 155 a StPO steht, in geeigneten Fällen solle die
Staatsanwaltschaft darauf hinwirken. Nun fragt sich der
geneigte Leser: Was sind „geeignete Fälle“? Dort steht
dann auch: „Gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten soll die Eignung nicht angenommen werden.“
({1})
- Na und?
({2})
Das bedeutet für Leute, die des Deutschen mächtig sind,
({3})
daß das Ganze dann nicht angewandt wird, wenn das
Opfer dies nicht will.
({4})
- Die Eignung soll nicht angenommen werden. Das beschreibt ja noch eine vorherige Stufe. Die Staatsanwaltschaft muß sich ja erst über den Fall klar werden. Auch
hier haben Sie einfach unrecht. Dies wird nicht bei allen
Verfahren gemacht. Wir befinden uns hier vielmehr im
Bereich der Vergehen. Das ergibt sich aus § 153 a
StPO, in dem ausdrücklich steht, daß dies für Vergehenstatbestände, also für etwas leichtere Delikte, vorgesehen ist.
Die CDU hat uns heute wieder ein hervorragendes
Beispiel gegeben: Es vergeht keine Veranstaltung oder
Podiumsdiskussion, auf der die Vertreter der CDU uns
nicht mit dem blöden Satz konfrontieren: Bei den Grünen - so heißt es, wenn ich an solchen Veranstaltungen
teilnehme - oder bei der SPD - so heißt es, wenn ein
Vertreter der SPD teilnimmt - stehen immer nur - dies
gilt erst recht für Rechtsanwälte und Verteidiger - die
Täter - eigentlich muß man sagen: die Verdächtigten,
die Beschuldigten - im Vordergrund. An die Opfer
denkt keiner - außer Ihnen natürlich.
Nun haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, in
dem ausdrücklich - dies steht schon in der Überschrift die Interessen der Opfer berücksichtigt werden. Wir
haben in diesem Entwurf berücksichtigt, daß Opfer in
einem Strafprozeß in der Tat nur eine Randrolle spielen.
Sie sind als Zeugen und manchmal auch - bei geeigneten Delikten - als Nebenkläger bzw. Nebenklägerin am
Verfahren beteiligt. Ansonsten haben sie mit dem Verfahren nichts zu tun. Die Opfer stellen häufig fest, daß
etwas mit ihnen passiert und daß sie kaum Möglichkeiten haben, Einfluß zu nehmen. Dies wollen wir ändern.
In Zukunft soll nach unserer Auffassung das Opfer
einer Straftat entsprechend dem, was ihr - meistens ist
es eine Frau - oder ihm passiert ist, an dem Verfahren
beteiligt werden. Es muß das, was viele in diesem Bereich Tätige wie Richter, Staatsanwälte und vor allen
Dingen auch Rechtsanwälte immer wieder von denjenigen, die von einem Vergehen betroffen sind, hören, berücksichtigt und ernst genommen werden. Den Betroffenen geht es gar nicht so sehr darum geht - dies klingt
immer wieder in Ihren Reden durch -, Rache zu nehmen
und Vergeltung zu üben; vielmehr geht es den Betroffenen darum, den Schaden ersetzt zu bekommen oder zu
verstehen, warum gerade sie Opfer einer Straftat wurden. Sie wollen erfahren, wie sie sich in Zukunft verhalten sollen. Sie wollen wissen, wie sie in Zukunft ihre
Sicherheit in der Gesellschaft, zum Beispiel auf der
Straße und in Parks, wiedergewinnen können. Solche
Fragen stehen bei sehr vielen Opfern von Straftaten im
Mittelpunkt ihrer Überlegungen.
Deshalb ist es richtig und wichtig, daß man die Täter
in irgendeiner Weise dazu veranlaßt, sich mit den Opfern auseinanderzusetzen. Es ist wichtig, daß die Täter
mit dem Leid, dem Schaden und der Unsicherheit, die
sie häufig bei den Opfern angerichtet haben, konfrontiert
werden und daß sie sich damit beschäftigen müssen.
Dies ist nicht nur wichtig für die Opfer, sondern auch für
die Täter. Sie sollen nicht nur im Rahmen einer Gerichtsverhandlung nach einem abstrakten Gesetz abgeurteilt werden, sondern auch begreifen, was sie in der
Gesellschaft angerichtet haben und in welchem Maße sie
sich an der entstandenen Unsicherheit in der Gesellschaft schuldig gemacht haben.
Nach unserer Ansicht läßt sich dies am besten dadurch erreichen, daß sich der Täter - mehr als das in der
Vergangenheit der Fall war - mit dem Opfer beschäftigen muß. Der Täter soll in den geeigneten Fällen an die
Opfer herantreten. Wir wollen die Täter dazu veranlassen. Wir wollen den Täter verlocken, dies zu tun. Wir
sagen den Tätern: Wenn ihr das macht, dann honorieren
wir, der Staat oder die Staatsanwaltschaft, das. Wenn ihr
euch mit dem Opfer in Verbindung setzt und zu erkennen gebt, daß es euch nicht gleichgültig läßt, was ihr
getan habt, und wenn ihr bereit seid, im Rahmen der
Möglichkeiten den entstandenen Schaden zu ersetzen,
dann honorieren wir das. So etwas hilft.
Wenn Sie, Herr Kollege, in den entsprechenden Verfahren tätig waren, dann wissen Sie, daß dies für jedes
Opfer viel mehr bringt, als wenn es nachher im Gerichtssaal oder aus der Zeitung erfährt, daß der Täter eine Geld- oder eine Freiheitsstrafe mit Bewährung erhalten hat, und selber nicht weiß, wie es angesichts des angerichteten Schadens weitergeht. Darum geht es. Diesen
Ausgleich wollen wir fördern. Die Veränderung des §
153a StPO und des § 155 StPO und in den weiteren
Vorschriften der Strafprozeßordnung ist ein Bemühen,
den Täter-Opfer-Ausgleich weiter zu fördern. Dies
wird noch nicht das Problem lösen. Wir müssen noch
viel mehr tun.
Sie haben völlig recht, daß es im wesentlichen Ländersache ist, den Staatsanwaltschaften durch geeignete
Hilfen wie Sozialarbeiter und Vereine, die auch heute
schon in Bayern, Baden-Württemberg, NordrheinWestfalen und Berlin tätig sind - in Köln gibt es zum
Beispiel eine berühmte Einrichtung -, zu ermöglichen,
den Täter-Opfer-Ausgleich zu organisieren und zu fördern. Die müssen wir natürlich jetzt fördern. Das muß
auf Landesebene geschehen.
Wenn Sie sich jetzt hier so ins Zeug legen und fragen,
wie sie das finanzieren sollen, heißt das denn, daß Sie in
Zukunft den Strafvollzug, die Justiz nicht mehr Sache
der Länder sein lassen wollen, sondern daß das Bundesaufgabe werden soll? Dann müßten Sie dazu einen AnHans-Christian Ströbele
trag stellen, und dann sollte man sich darüber unterhalten. Bisher war ich davon ausgegangen, daß das Ländersache ist - das hat ja auch seinen guten Grund - und daß
es auch Aufgabe der Länder ist, diese Prozesse zu organisieren, Hilfestellung zu leisten, damit das immer mehr
in Gang kommt. Wir können auf Bundesebene die gesetzlichen Vorschriften so verändern, daß das im Interesse der Opfer besser ermöglicht wird, vor allen Dingen
deswegen, weil wir die Interessen der Opfer ernst nehmen, nicht nur auf den Lippen führen und uns auf der
Zunge zergehen lassen, nicht Polemik damit treiben und
uns in Boulevardzeitungen damit verbreiten, sondern in
kleinen Schritten zu einer konfliktfreieren Gesellschaft
kommen wollen oder wenigstens zu einer Gesellschaft,
in der die an den Konflikten, an den Straftaten Beteiligten ein besseres Verständnis füreinander bekommen und
sich in Zukunft vielleicht auch anders und besser verhalten, in der die Opfer sich wieder sicherer fühlen und
die Täter sehen, was sie getan haben, und miterleben,
was sie angerichtet haben, und damit vielleicht auch zu
einem veränderten Verhalten in der Zukunft kommen.
Dem dient dieser Gesetzentwurf, und ich denke, wir
werden in den Beratungen im Rechtsausschuß hoffentlich auch den einen oder anderen von Ihnen davon überzeugen, daß das ein wichtiger und richtiger Schritt ist.
({5})
Jetzt hat das Wort
der Kollege Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben meinen
Gesichtsausdruck völlig fehlinterpretiert,
({0})
denn wir teilen im Prinzip Ihre mit diesem Gesetz verfolgten Bestrebungen.
({1})
Ich habe aber vielleicht etwas ernster geschaut - die
Stirn gerunzelt habe ich wahrscheinlich nicht -, als Sie
die Zahlen genannt haben. Wenn Sie sich zum Beispiel
die Zahlen Ihres Heimatlandes Baden-Württemberg für
das Jahr 1998 ansehen würden, könnten Sie nicht sagen,
daß der Täter-Opfer-Ausgleich in Baden-Württemberg
nicht erfolgreich sei oder zu gering ausfalle. Denn immerhin sind dort mehr als 1 000 Fälle im Täter-OpferAusgleichsverfahren durchgeführt worden. Das, finde
ich, ist ein großer Erfolg der baden-württembergischen
Regierung, natürlich auch des liberalen Justizministers,
Professor Goll.
({2})
Der Täter-Opfer-Ausgleich, der ja nicht ganz neu
ist, sondern ursprünglich im Jugendstrafrecht gegolten
hat und seit 1994 auch im Erwachsenenstrafrecht gilt,
hat sich in den letzten Jahren durchaus bewährt bei
Straftaten wie Beleidigung, Körperverletzung und Nötigung, Straftaten, bei denen sich Täter und Opfer in Konfliktsituationen häufig unmittelbar gegenüberstanden.
Wir fordern diesen Täter-Opfer-Ausgleich, weil wir hoffen, so den Rechtsfrieden in der Gesellschaft zu verbessern und zu sichern, aber auch, weil wir glauben, daß
durch die erforderlichen Gespräche zwischen Täter und
Opfer unter Zuhilfenahme eines Dritten ebenfalls präventive Wirkung erzielt wird.
Wir sind uns bewußt, daß der Täter-Opfer-Ausgleich
häufig dazu führt, daß eine Verurteilung vermieden oder
zumindest die Vollstreckung einer Strafe verhindert
werden kann. Fiskalische Gesichtspunkte dürften dabei
eigentlich überhaupt keine Rolle spielen. Wir wissen,
daß die Aburteilung durch ein Gericht wahrscheinlich
viel billiger wäre und viel schneller ginge. Die Durchführung von Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren ist viel
aufwendiger, aber sie dient dem Rechtsfrieden. Deswegen wollen wir diese Verfahren gerade auch unter präventiven Gesichtspunkten haben.
({3})
Der Entwurf der Bundesregierung zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs dient meines Erachtens - wenigstens noch - dem
Ziel des Rechtsfriedens nur unvollkommen. Wir werden hierüber ja noch intensiv im Rechtsausschuß zu beraten haben. Unklar ist in meinen Augen auch die
eigentliche Zielrichtung: Handelt es sich um den Ausbau
einer Justizentlastung oder Verfahrensbeschleunigung,
oder soll die Stellung des Opfers im Strafverfahren verbessert und die Schaffung von neuen Möglichkeiten
konstruktiver Tatverarbeitung für Beschuldigte verbessert werden?
({4})
Ich gehe davon aus, daß das letztere zu gelten hat. Dann
sind wir einer Meinung, aber dann muß das auch klar
gesagt werden; denn nur das kann dem Rechtsfrieden
dienen.
Es bedarf einer klareren Regelung der Strafprozeßordnung, unter welchen Voraussetzungen der TäterOpfer-Ausgleich nach § 153a erfolgen soll. Es muß sich
meines Erachtens in erster Linie um eine autonome Entscheidung von Beschuldigtem und Verletztem handeln.
Lediglich das ernsthafte Bemühen des Täters wird wohl
nicht reichen; denn schließlich muß auch das Interesse
des Opfers hinreichend berücksichtigt werden, wenn es
aus nachvollziehbaren Gründen einen Kontakt mit dem
Täter nicht wünscht. Zu Recht hat - das hat der Kollege
Dr. Götzer schon angesprochen - der Deutsche Anwaltsverein in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf für ein Gesetz zur strafrechtlichen Verankerung
des Täter-Opfer-Ausgleichs darauf hingewiesen, daß nur
dann eine strafverfahrensrechtliche Verankerung des
Täter-Opfer-Ausgleichs auch zu einem breiteren Anwendungsbereich führen kann.
Es müssen wichtige verfahrensrechtliche Regelungen
ausdrücklich vorgenommen werden, wie zum Beispiel
über die rechtliche Stellung des Personals der TäterOpfer-Ausgleich-Stelle, das rechtliche Gehör der Betroffenen vor der Einleitung des Täter-Opfer-AusgleichVerfahrens sowie die notwendigen Verfahrensschritte
während des Täter-Opfer-Ausgleich-Verfahrens.
Ich hoffe sehr, daß es gelingen wird, im Rechtsausschuß zu einer Verbesserung des Entwurfs der Bundesregierung zu gelangen. Das ist die Voraussetzung dafür,
daß sich der Täter-Opfer-Ausgleich, den ich gefördert
sehen möchte - das will ich ausdrücklich sagen -, in
Zukunft weiter durchsetzt und wir unser Ziel, nämlich
ein höchstes Maß an Rechtsfrieden in der Gesellschaft
zu erlangen, erreichen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Sabine Jünger.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nach der gültigen Rechtslage § 46 a des Strafgesetzbuches - kann es nur zu einem
Täter-Opfer-Ausgleich kommen, wenn die mögliche
Freiheitsstrafe ein Jahr oder die Geldstrafe 360 Tagessätze nicht übersteigt. Herr Götzer, das müßten auch Sie
wissen. Der Entwurf der Bundesregierung sieht jetzt vor,
§ 153 a der Strafprozeßordnung, Einstellung des Verfahrens bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen, um
den Täter-Opfer-Ausgleich zu erweitern und die §§ 155 a
und b einzuführen.
Im allgemeinen Strafrecht stellt der Täter-OpferAusgleich einen Gesichtspunkt der Strafzumessung dar.
Er kann im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung
angeordnet werden und bei nicht schweren Verfahren
zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens führen. Zur
Zeit gibt es im Bereich Täter-Opfer-Ausgleich nur geringe Fallzahlen, die allerdings stetig steigen.
Wir halten die Verankerung des Täter-OpferAusgleichs in der Strafprozeßordnung für ein rechtspolitisch bedeutsames Vorhaben, das wir nachdrücklich
unterstützen. Wir begrüßen es, daß diesem Instrument
ein breiter Anwendungsbereich geschaffen werden soll.
Gerichte und Staatsanwaltschaften sollen nun ausdrücklich die Möglichkeit eines Ausgleichs prüfen.
Ein Ausgleich soll nur zustande kommen, wenn der
Geschädigte damit einverstanden ist, und das ist auch
richtig so. Fast die Hälfte aller Opfer sind für den TäterOpfer-Ausgleich, und weitere 25 Prozent können sich
einen Ausgleich mit dem Täter vorstellen, wenn es zu
keinem Ausgleichstreffen kommt.
Zwei kritische Momente will ich jedoch nicht verschweigen: Erstens. Der Vorschlag, zunächst die Zustimmung des Gerichts und des Beschuldigten einzuholen, hat aus unserer Sicht den Nachteil, daß sich der
Staatsanwalt schon vor dem Verfahren darüber im klaren sein muß, daß er einen Täter-Opfer-Ausgleich mit
dem Ziel der Verfahrenseinstellung durchführen will.
Das ist meines Erachtens schwer mit dem Ziel vereinbar,
daß sich der Täter aus freien Stücken um einen Ausgleich bemühen soll.
Zweitens. Diese Vorgabe kann auch bei den Tätern
zu einem falschen Rollenspiel führen. Es besteht zudem
die Gefahr, daß auf das Opfer Druck ausgeübt wird, sowohl von seiten des Täters als auch von seiten des Konfliktschlichters, nach dem Motto: Nun schließe schon
endlich Frieden, sonst bist du für die Anklage verantwortlich! Ich sage es ganz deutlich: Die Interessen der
Opfer müssen vordringlich beachtet werden.
Wenn wir wirklich wollen, daß der Täter-OpferAusgleich in der Praxis verstärkt angewandt wird - das
wollen wir hier wohl alle -, muß für mehr Verständnis
und Akzeptanz bei Richtern, Rechts- und Staatsanwälten
geworben werden. Aus unserer Sicht ist es deshalb dringend notwendig, diesen Punkt bereits in der juristischen
Ausbildung zu beachten. Der Täter-Opfer-Ausgleich
zwingt den Täter, über seine Tat und deren Konsequenzen für das Opfer nachzudenken und sich Gedanken
über eine mögliche Wiedergutmachung zu machen. Der
Resozialisierungs- und Erziehungsgedanke des Strafrechts kommt dadurch meiner Meinung nach besser zum
Tragen als durch die von außen bzw. von oben ausgesprochenen Strafen.
Durch die Ausweitung wird die Anzahl strafgerichtlicher Hauptverhandlungen und die der Zivilprozesse sinken. Dadurch wird die Justiz entlastet. Auch das spricht
aus unserer Sicht für den Täter- Opfer-Ausgleich.
Ich hoffe - da schließe ich mich den Worten des
Kollegen Funke an -, daß wir vielleicht bei dem einen
oder anderen kleinen Punkt noch zu Nachbesserungen
kommen. Aber ansonsten stehen wir diesem Konzept
sehr aufgeschlossen gegenüber.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die SPDFraktion spricht jetzt die Kollegin Hedi Wegener.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Chancen und Grenzen des TäterOpfer-Ausgleichs einschließlich kritischer Betrachtung
der berechtigten Anliegen der Opfer in das Strafrecht
einzuführen, das ist das Bestreben des Gesetzentwurfes.
Im übrigen befinden wir uns international in guter Gesellschaft; denn die 1985 von der Generalversammlung
der Vereinten Nationen beschlossene Erklärung über
Rechtsprinzipien für Opfer von Kriminalität und Mißbrauch gilt als Erfolg einer kriminalpolitischen Bewegung.
({0})
Allerdings ist das bewußt einseitige Engagement für die
Opfer manchmal auch eine Lobby für eine konservative
Kriminalpolitik und eine Legitimation für beliebte Forderungen nach Verschärfung des Strafrechts.
Das Vorhaben Täter- Opfer-Ausgleich ist jedoch sehr
gut geeignet, einen parteiübergreifenden Konsens herzustellen.
({1})
Für einige Feinheiten besteht noch Beratungsbedarf. Wir
werden in den Ausschußsitzungen Gelegenheit haben,
vielleicht gemeinsam mit einigen Kollegen aus der
CDU/CSU, diese zu klären.
({2})
- Herr Geis, bei Ihnen wäre ich mir da allerdings nicht
so sicher.
({3})
Es geht in diesem Gesetzentwurf um die Stärkung der
Kriminalitätsopfer im Strafverfahren, um die davon ausgehenden kriminalpräventiven Maßnahmen und vor allen Dingen um die Installierung in der Strafprozeßordnung und im StGB.
Gute Erfahrungen damit - die Frau Ministerin hat
darauf hingewiesen - gibt es bereits im Jugendstrafrecht.
Der Täter- Opfer-Ausgleich für Erwachsene wird heute
nach wie vor sehr selten angewandt. Staatsanwälte und
Gerichte haben Bedenken. Der neue § 155a StPO macht
es den Staatsanwaltschaften und Gerichten ausdrücklich
in jedem Stadium des Verfahrens möglich, den Ausgleich zu prüfen. Kommt er zustande, so ist eine endgültige Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO
möglich. Dabei muß auch bei einem nicht endgültigen
Abschluß oder Zustandekommen ein ernsthaftes Bemühen
({4})
- ernsthaftes - zu erkennen sein. Dies ist eine möglicherweise nicht einfach festzustellende Tatsache, je
nachdem, wer sie anstellt: Opfer, Beklagter, oft vielleicht auch Rechtsanwalt oder Gericht.
Ich möchte Sie gerne auffordern, mit mir einige Betrachtungen genereller Art über die Dynamik zwischen
Täter und Opfer anzustellen. Auf den ersten Blick
könnte man meinen, der Gesetzentwurf diene ausschließlich dem Täter, und der würde dadurch eine Bevorzugung erhalten.
({5})
Bei näherem Hinsehen würde auch Ihnen die Tragweite
des Handelns, der Bemühungen, der Einschränkungen
und der Zwänge, die dem Täter in diesem Prozeß, in den
er sich einläßt, auferlegt werden, auffallen.
Wenn ich im übrigen die ausschließlich männliche
Sprachform benutze, dann deshalb, weil die Täter überwiegend männlich sind. Es gibt natürlich auch Täterinnen. Aber die Kriminalität ist männlich und die Gewalt
allemal.
Das heißt im übrigen im Umkehrschluß nicht, daß die
Opfer überwiegend weiblich sind. Wir wissen, daß gerade 15- bis 30jährige junge Männer, die am gefährdetsten
sind, zu den Opfern gehören. Bei Körperverletzungen
erfolgen die Taten häufig im eigenen Milieu und in der
eigenen Altersklasse. Anders stellt es sich in den Opferberatungsstellen dar, die es ja auch jetzt schon gibt. Da
Täter häufig Männer sind, Frauen aber eher Beratungsstellen aufsuchen und sich als Opfer Hilfe holen, sind
drei Viertel der Ratsuchenden Frauen. Ebenso sind drei
Viertel der Ratsuchenden jünger als 40 Jahre. 18 Prozent
der Betroffenen sind Angehörige, die sich dort Rat und
Hilfe holen. Es kommen auch Opfer, die nicht immer
unbedingt einen Strafantrag stellen wollen.
Eigentlich müßte der Opferschutz schon vorher beginnen, nämlich im Strafverfahren selbst. Er besteht
darin, daß die psychischen Verletzungen während des
Verfahrens nicht noch verschlimmert werden. Dies betrifft Anhörungen, Gutachter-, Zeugenbefragungen usw.
Bei den Strafverfolgungsbehörden muß sich herumsprechen, daß zum Beispiel Verletzte nicht bloß Auskunftspersonen zur Aufklärung strafrechtlich relevanter Sachverhalte sind. Das bedeutet auch, daß die Interessen der
Geschädigten während des Verfahrens ausreichend zur
Sprache kommen und die Opfer die Möglichkeit haben,
ihre Erlebnisse zu bearbeiten und eine Entschädigung
für ihren erlittenen Schaden zu bekommen.
Sicher werden Überlegungen angestellt - darüber
wurde vorhin schon gesprochen -, welche Delikte bei
einem Täter-Opfer-Ausgleich eigentlich eine Rolle
spielen können. Denken wir zum Beispiel an Beziehungsdelikte. Dies betrifft Krisen, Ereignisse innerhalb
einer Beziehung, die in mehreren Phasen ablaufen, sich
zeitlich aufbauen und - oft in einer Körperverletzung eskalieren. Wer Opfer und Täter ist,
({6})
läßt sich im nachhinein manchmal nur noch am Delikt
feststellen. Am Prozeß sind alle Konfliktparteien - ob
aktiv oder passiv - gleichermaßen beteiligt. Zu den Opfern gehören Männer und Frauen im gleichen Maße. Der
Täter- Opfer-Ausgleich ist gut für rivalisierende Gruppen. Ein solcher erfolgt schon heute unter rivalisierenden Jugendgruppen, ist aber auch im Erwachsenenbereich möglich.
Kommen wir zu den Gewaltdelikten: Die Opfer verlangen zum einen die Strafe. Sie wollen zum anderen, daß
die Tat nicht wiederholt wird, und sie fordern psychische
und finanzielle Unterstützung sowie Beratung. Bei
Eigentumsdelikten stehen die Schadensersatzforderungen
- oftmals auch der Versicherungen - an oberster Stelle.
Wie aber kann der Täter, der Staat oder die Gesellschaft das wiedergutmachen, was dem Opfer widerfahren ist? Wiedergutmachung unter Einfluß des Opferinteresses, gibt es das eigentlich? Schadenswiedergutmachung als eigenständige Rechtsfolge ist nicht neu. Im
Jugendstrafrecht gibt es das schon. Den entstandenen
Schaden mußten die Täter im übrigen schon immer wiedergutmachen.
Schauen wir noch einmal auf die Opfer: Die Opfer
wollen, daß man sich mit ihren Anliegen beschäftigt. Sie
wollen soziale Gerechtigkeit. Sie wollen nicht noch einHedi Wegener
mal Opfer werden. Wenn man genauer hinschaut, was bei
Opfern eigentlich verletzt worden ist, dann ist festzustellen: Es wurde die Menschenwürde bzw. ihre Seele verletzt. Sie haben gegebenenfalls einen materiellen Schaden
gehabt, und ihre Gesundheit ist beschädigt worden. Deshalb wünschen sich die Opfer: Der Täter muß für sein
Handeln Verantwortung übernehmen. Er muß die Konsequenzen tragen, und das Opfer muß rehabilitiert werden.
Schauen wir auf den Täter: Bei dem Täter besteht
die Tendenz, den Opfern negative Eigenschaften zuzuschreiben. Man nennt diese Umbewertung Neutralisierungstechnik. Das heißt, eigenes Verhalten wird gerechtfertigt. Durch den Täter-Opfer-Ausgleich wird der Täter
mit der Sichtweise des Opfers konfrontiert, und abweichende Beurteilungen werden offensichtlich. Veränderungen seiner Perspektive sind dabei erwünscht. Perspektivübernahme nennt man das. Erfaßt werden diese
im Prozeß des Täter-Opfer-Ausgleichs durch gezielte
Fragetechniken. Das ist im übrigen ein schwieriges Unterfangen für Täter.
Die Täter bewerten den entstandenen Schaden meistens auch subjektiv. Entweder sagen sich die Täter
- das ist oftmals der Fall -, das Opfer kann den Schaden
eigentlich verschmerzen oder macht den Schaden höher,
als er eigentlich ist, oder sie kommen zu der Erkenntnis,
daß der Schaden doch größer als gedacht ist, daß der
Geschädigte ja richtige Angaben zu dem Schaden macht
oder daß die Folgen der Tat für die Opfer schwerwiegender sind, als sie sich das eigentlich gedacht haben.
Eine weitere Möglichkeit des Täters, sich selber zu
rechtfertigen, besteht darin, sich selber keine Verantwortung für das Leiden des Opfers zuzuschreiben. Er
verdrängt die Tat und sagt, er sei es nicht gewesen.
Frau Kollegin Wegener, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, bitte, Herr Geis.
Es ist, Frau Kollegin,
gewiß ein richtiger Gedanke, daß ein Ausgleich zwischen Täter und Opfer stattzufinden hat. Das bejahen
wir durchaus. Sehen Sie aber auch - das ist meine Frage
- das dritte Opfer, das mit im Spiel ist, nämlich die verletzte Rechtsordnung? Wie kann durch den Täter-OpferAusgleich die Verletzung der Rechtsordnung wiedergutgemacht werden? Sehen Sie dazu eine Möglichkeit? Ich
bitte Sie, uns dazu noch etwas zu sagen.
Wir stellen die Interessen des
Opfers und die Behandlung seiner Verletzungen an die
oberste Stelle. Dieser Prozeß zwischen Täter und Opfer,
auf den ich gleich noch näher eingehe, befriedigt das
Opfer eigentlich schon. Es bleibt natürlich immer noch
die Alternative der strafrechtlichen Sanktion oder der
Einstellung des Verfahrens, wenn der Täter-OpferAusgleich zu einem Abschluß gekommen ist, dem beide,
auch das Opfer, zustimmen.
({0})
- Ja, dann wird eingestellt.
({1})
Wir waren gerade dabei, wie der Täter seine Tat und
die Sichtweise des Opfers betrachtet. Wenn er die negativen Konsequenzen der Tat für das Opfer wahrnimmt,
kommt es auch beim Täter zu einer Umbewertung der
Tat. Nach dem Täter-Opfer-Ausgleich soll diese stattgefunden haben. Dem Täter soll klar sein, daß er gegen das
Gesetz verstoßen und eine Person geschädigt hat, daß
auf die Tat eine Sanktion folgt und daß er für die Folgen
verantwortlich ist.
Welche Inhalte hat der Täter-Opfer-Ausgleich? Eine
Beratung des Konfliktes, eine Vereinbarung über die
Wiedergutmachung, eine Leistung des Täters zur Wiedergutmachung und die Berücksichtigung der Täterbemühungen im Strafprozeß. Im praktischen Ablauf heißt
das, daß Konfliktschlichtungsstellen eine Beratung - an
der beide Seiten freiwillig teilnehmen müssen - in einem strukturierten Prozeß mit Kommunikationsregeln
durchführen.
Meine Ausführungen zeigen, daß ein Täter-OpferAusgleich nur im Dialog zwischen Täter, Opfer und einer dritten schlichtenden Person erfolgen kann. Es entwickelt sich also ein Prozeßgeschehen, das begleitet
werden muß; das geht aber nur professionell. Den Ländern wird die Durchführung aufgegeben. Die Verantwortung dafür wird sinnvollerweise in erster Linie bei
der Justiz selber liegen, aber auch freie Verbände, die
schon jetzt in die Bewältigung von justiznahen Aufgaben einbezogen sind, können diese Aufgaben wahrnehmen. Dazu dienen die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen datenschutzrechtlichen Maßnahmen, die ein weiteres Gesetz überflüssig machen.
Der Täter-Opfer-Ausgleich unterscheidet sich allerdings noch von dem weitergehenden Prozeß der Konfliktschlichtung. In beiden Fällen ist es ein laufender
Prozeß, dem sich die Konfliktparteien unterziehen. Aus
diesem Grunde spricht alles dafür, ihn zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens zuzulassen und strafmildernd zu
berücksichtigen. Die Gespräche sind in jedem Falle
freiwillig und laufen in verschiedenen Phasen ab unter
Berücksichtigung der Emotionen, der Annäherung, der
Ablehnung und der Unterschiede.
Eine gute Sache ist also der Täter-Opfer-Ausgleich,
wenn die Länder, die für die Durchführung zuständig
sind, und wenn die Richter und Staatsanwälte die Einführung nicht nur als neue gesetzliche Grundlage,
sondern als eine dem Frieden dienende Initiative ansehen.
Schönen Dank.
({2})
Frau Kollegin Wegener, das war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen
Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
beglückwünsche ich Sie auf das herzlichste dazu.
({0})
Allerdings muß ich Ihnen sagen, daß ich ansonsten mit
der Redezeit nicht so großzügig sein kann. Aber bei der
ersten Rede ist das schon einmal möglich.
({1})
Als letzter Redner dieser Debatte hat der Kollege
Eckart von Klaeden von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Auch ich
darf zunächst der Kollegin Wegener herzlich zu ihrer ersten Rede gratulieren und gleichzeitig ankündigen - das
ist sozusagen ein kleines Präsent für ihre erste Rede -,
daß ich meine Redezeit nicht voll ausschöpfen werde.
Ich möchte mich zunächst entschuldigen und mit
einer protokollarischen Richtigstellung beginnen. Ich
hatte nämlich bei unserer letzten rechtspolitischen Debatte
Herrn Professor Meyer mit einem Zitat der Kollegin
Antje Vollmer konfrontiert, mit dem ich ihn widerlegen
wollte. Das Zitat stammt zwar aus der Koalition. Aber es
bleibt festzustellen, daß das Zitat nicht von ihm stammte.
({0})
- Herr Kollege Ströbele, ich habe sie nicht optisch verwechselt. Da Sie technisch interessiert sind - Sie haben
das gezeigt, indem Sie mit Ihrer einbügeligen Brille
ganz gut balanciert haben -, will ich Ihnen sagen: Diese
Verwechselung ist dadurch geschehen, daß beim Ausdruck der letzten Debatte zu dem Thema im Jahre 1996
der Absatz mit dem neuen Rednerkopf nicht ausgedruckt
worden ist. So gingen die beiden Reden ineinander über,
und so kam es, daß ich Herrn Professor Meyer mit
einem falschen Zitat konfrontiert habe.
Zur Sache selber. Ich bin, wie schon die Kollegin
Wegener in ihrer ersten Rede, der Ansicht, daß wir genug Anlaß haben, miteinander zu streiten. Wir sollten
aber nicht übermäßig über die Punkte streiten, in denen
zwischen uns Konsens besteht. Deswegen ist festzuhalten: Einen gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich begrüßen
wir alle. Wir freuen uns, wenn sich die Regierungskoalition bemüht - wenn auch nur in wenigen Fällen -,
ihre Rechtspolitik in die Tradition der Koalitionspolitik
der letzen beiden Legislaturperioden zu stellen.
In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen
- der Kollege Dr. Götzer und der Kollege Funke haben
dies schon getan -, daß wir bereits in den 80er Jahren in
der Jugendgerichtsnovelle von 1990 und schließlich im
Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 den TäterOpfer-Ausgleich verankert haben. Insofern spricht aus
meiner Sicht prinzipiell nichts dagegen, diese rechtspolitische Initiative in der Strafprozeßordnung fortzusetzen.
Um deutlich zu machen, wo die Kritik unserer Fraktion insbesondere an dem von Ihnen vorgeschlagenen
§ 155 a StPO ansetzt, will ich aus dem vom Justizministerium des Landes Baden-Würtemberg und auch von
der Bundesjustizministerin zitierten Gutachten vorlesen,
in dem der Zweck des Täter-Opfer-Ausgleichs beschrieben wird. Dort heißt es:
Der Täter soll Einsicht in die Verwerflichkeit seines Verhaltens nehmen. Dabei darf allerdings nicht
übersehen werden, daß der Täter-Opfer-Ausgleich
auch eine Belastung für das Opfer darstellen kann.
Denn das Opfer muß dem Täter ({1}) gegenübertreten. Es wäre eine Fehlvorstellung und letztlich eine Überforderung des Opfers, wenn man seine Position in dieser alternativen Schlichtungsform
per se positiver beurteilen würde als im förmlichen
Strafverfahren.
Es besteht jetzt die Frage, ob der neue § 155a StPO
dieser Interessenlage als Generalnorm ausreichend
Rechnung trägt. Ich will in diesem Zusammenhang einmal den Blick nach Österreich wenden. Eine ähnliche
Generalnorm wie im geplanten § 155a StPO spielt in
§ 42 des österreichischen Strafgesetzbuches eine Rolle.
Es heißt dann in § 90i der österreichischen Strafprozeßordnung, daß bei solchen Maßnahmen die Interessen des
Verletzten zu berücksichtigen und, soweit sie berechtigt
sind, im größtmöglichen Umfang zu fördern sind. Unter
Beachtung dieser österreichischen Regelung wäre es
doch sinnvoll, eine entsprechende Ergänzung in § 155a
StPO vorzunehmen. Schon die Debatte im Bundesrat hat
gezeigt, daß man bei der Formulierung „Gegen den ausdrücklichen Willen des Verletzten soll die Eignung nicht
angenommen werden“, die vom Kollegen Dr. Götzer zu
Recht kritisiert wurde, vielleicht erstens den Begriff der
Ausdrücklichkeit streichen und zweitens dazu übergehen
könnte, zu sagen: „Gegen den Willen des Verletzten darf
der Täter-Opfer-Ausgleich nicht durchgeführt werden.“
({2})
Das könnte durchaus die Möglichkeit mit sich bringen, die auch im Gutachten beschriebene Interessenlage
zu berücksichtigen und das, was Sie selber in bezug auf
§ 155 a und die anderen Regelungen im Rahmen der
Strafprozeßordnung vorgegeben haben, zu erreichen,
nämlich die Stellung des Opfers zu verbessern. Ich habe
zunächst einmal keinen Grund, an Ihrem Willen zu
zweifeln. Aber das könnten Sie mit einer solchen Klarstellung in § 155 a StPO besser bewerkstelligen als mit
der derzeit vorliegenden Formulierungsempfehlung.
Auf die finanziellen Belastungen hat der Kollege
Funke schon hingewiesen. Ich will nur noch sagen, daß
uns hier immer wieder wie tönend Erz vorgetragen wurde, daß derjenige, der die Musik bestellt, sie auch bezahlen soll. Hier bestellen Sie mit den über 3 000 notwendigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ein
ganz prächtiges Orchester im Rahmen unserer Rechtspflege.
({3})
- Ich sage nichts dagegen, ich will nur darauf hinweisen,
Herr Ströbele. Ich finde aber schon, daß die Argumente,
die Sie als damalige Opposition vorgetragen haben, auch
bei dieser Frage eine Rolle spielen sollten. Wenn wir
Haushaltspolitik betreiben und feststellen, daß ein nicht
unerheblicher Teil des Sparpakets dazu führt, daß eine
Menge Kosten auf die Länder und Kommunen verlagert
wird, ist es angemessen, hier einmal zu sagen: Ja, wir
stehen zu dieser Regelung!, gleichzeitig aber dafür zu
sorgen, daß die Länder dafür eine gewisse finanzielle
Entlastung erfahren.
({4})
- Herr Kollege Ströbele.
Herr Kollege von
Klaeden, Sie gestatten die Zwischenfrage?
Gerne.
Herr Kollege, geben Sie mir Recht, wenn
ich sage, daß Sie, wenn Sie zusätzliche Straftatbestände
oder zusätzliche Sanktionen ins Strafgesetzbuch aufnehmen, immer auch die Länder belasten, daß jeder, gegen den Sie eine Freiheitsstrafe verhängen, bei den Ländern zusätzliche Kosten verursacht, nämlich mindestens
200 DM pro Haftplatz pro Tag, und daß auch Sie während Ihrer Regierungszeit, wenn Sie Strafverschärfungen
vorgenommen haben, nie auf die Idee gekommen sind,
zu sagen: „Jetzt müssen die Länder einen finanziellen
Ausgleich erhalten, damit sie die Strafgefangenen unterbringen und versorgen können“? Das hängt nun einmal
damit zusammen, daß, jedenfalls in aller Regel, die
Strafvollstreckung in der Zuständigkeit der Länder angesiedelt ist und deshalb auch den Finanztopf der Länder belastet.
Herr Kollege
Ströbele, was Sie gesagt haben, ist mir bekannt. Mich
beeindruckt durchaus, daß es auch Ihnen bekannt ist.
({0})
Ich darf doch einmal verlesen, was Sie unter Punkt D in
Ihrem Gesetzentwurf geschrieben haben:
Durch die verstärkte Inanspruchnahme der mit der
Durchführung eines Täter-Opfer-Ausgleichs betrauten Ausgleichsstellen ist mit bei den Ländern anfallenden Mehrkosten zu rechnen, die sich derzeit
nicht quantifizieren lassen.
Wenn ich also nur auf das hinweise, was am Anfang
Ihres Gesetzentwurfes steht, bedarf es doch keiner Zwischenfrage. Es handelt sich schlicht um eine Tatsache.
Ich habe lediglich darauf hingewiesen, daß dies in einem
gewissen Spannungsverhältnis zu dem steht, was Sie
zuvor als Opposition immer wieder gefordert haben, obgleich ich Ihnen, Herr Kollege Ströbele, gern zugestehen
will, daß die Situation der Länderhaushalte Ihnen vielleicht nicht so sehr am Herzen lag wie anderen Kolleginnen und Kollegen der vormaligen Opposition.
({1})
Meine Damen und Herren, da ich hier nicht nach dem
alten Satz vorgehen will, es ist schon alles gesagt, aber
noch nicht von allen, schließe ich meine Ausführungen
und wünsche allen Rechtspolitikern einen angenehmen
Abend.
({2})
Ich danke Ihnen für
den Zeitgewinn, Herr Kollege von Klaeden.
Ich schließe die Aussprache. Es wird Überweisung
des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1928 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der F.D.P.
Abschreibungs-Tabellen nicht ändern
- Drucksachen 14/1887 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({0})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.Fraktion hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung beabsichtigt, die Abschreibungstabellen so zu verändern, daß die Abschreibungszeiten verlängert werden. Das bedeutet faktisch die Einführung
einer neuen Investitionssteuer. Eine neue Investitionssteuer ist in der derzeitigen Situation, in der es darum
geht, Arbeitsplätze zu schaffen, vermutlich das Verheerendste, was man überhaupt machen kann.
({0})
Deshalb ist es richtig, daß dieser Vorgang hier im
Bundestag behandelt wird. Er wird heute in erster Lesung behandelt und im Finanzausschuß weiterbehandelt;
denn ich vermute, daß die Bundesregierung heute nicht
erklären wird, daß der Antrag zurückgezogen wird, obwohl sie es tun könnte. Sollte sie es nicht tun, werden
wir sie bei diesem Thema treiben. Das sage ich hier ganz
deutlich, und darauf werde ich noch im einzelnen zu
sprechen kommen.
Wenn es in der Vergangenheit konjunkturelle Probleme gab und Arbeitsplätze geschaffen werden sollten,
haben alle Regierungen möglichst dazu gegriffen, Abschreibungsfristen zu verkürzen. Das haben sogar sozialdemokratische Wirtschaftsminister getan. Wenn hier
unter der Ägide des Finanzministers, des Sparministers
Eichel die Abschreibungsfristen verlängert werden, bedeutet das für die Betriebe in Deutschland eine Steuererhöhung auf kaltem Wege. Das ist das letzte, was wir
gebrauchen können.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn man
Abschreibungsfristen verlängert und die Steuersätze
nicht ändert, ist das eine Steuererhöhung und nichts
anderes. Ich wäre dankbar, wenn Sie, Frau Staatssekretärin, das für die Bundesregierung hier bestätigen könnten.
Dies ist keine reine Verwaltungsvereinbarung.
Vielmehr hat das Kabinett vor der Sommerpause beschlossen, daß aus dieser Maßnahme Steuermehreinnahmen in Höhe von 2,2 Milliarden DM im Jahr 2000
entstehen sollen. Daher möchte ich alle Beamten, die
daran arbeiten, vor den Äußerungen der Regierung in
Schutz nehmen, die besagen, damit habe die Regierung
überhaupt nichts zu tun, da es eine reine Verwaltungsgeschichte sei. Das stimmt nicht. Wenn es reines Verwaltungshandeln wäre, hätte das Kabinett dies in der
Sitzung vor der Sommerpause nicht beschließen dürfen.
({2})
Das Kabinett hat es aber beschlossen. Wenn es das nicht
wollte, hätte es diesen Beschluß förmlich zurückzunehmen. Das bezwecken wir mit unserem Antrag.
({3})
Es ist auch absolut unglaubwürdig, wenn die Regierung in Aussicht stellt, im Rahmen einer Unternehmensteuerreform sollten die Steuerbelastungen für die
Unternehmen um 8 Milliarden DM gesenkt werden. Die
Regierung hat in diesem Zusammenhang schon viel versprochen. Sie hat schon versprochen, daß es ab dem
1. Januar 2000 eine Unternehmensteuerreform geben
soll.
({4})
Jetzt haben Sie gerade einmal beschlossen, am 5. Januar
2000 solle der Referentenentwurf eingebracht werden.
Es scheint aber noch Diskussionsbedarf im Hinblick auf
Kollegin Scheel zu geben, die in der Öffentlichkeit erklärt hat, dieses Konzept der Regierung trage sie überhaupt nicht mit, obwohl auch dieses Konzept vom Kabinett verabschiedet wurde. Ihm gehört die Frau Kollegin
Scheel zwar noch nicht an; aber es gibt ja den einen und
anderen grünen Minister, der bereits den Vorstellungen
der Regierung zugestimmt hat. Das nur zum Stichwort
Glaubwürdigkeit!
In diesem Zusammenhang möchte ich Wirtschaftsminister Müller zitieren, der einen Brief an Finanzminister
Eichel geschrieben hat - ich zitiere aus der „FAZ“ vom
15. Oktober 1999 -:
Müller erinnerte seine Kollegen an den Kabinettsbeschluß vom Februar zur steuerlichen Regelung
von Rückstellungen auf der Grundlage einer Vorlage des Bundesfinanzministeriums, der völlig falsch
gewesen war und die Wirtschaft erheblich mehr
belastet hätte. Damals sei gesagt worden, daß sich
solche Fehleinschätzungen nicht wiederholen dürften.
Ich finde, Wirtschaftsminister Müller hat an dieser Stelle
recht.
({5})
Wenn das Finanzministerium unter Finanzminister
Lafontaine nicht rechnen konnte, dann scheint es unter
Finanzminister Eichel ebensowenig rechnen zu können.
Denn die Belastung, die sich aus dieser Absicht der
Bundesregierung ergibt, beträgt pro Jahr 14 bis
20 Milliarden DM - das geht zu Lasten von deutschen
Arbeitsplätzen -, und in das Finanztableau wurden nur
2,2 Milliarden eingestellt.
({6})
Ich möchte jetzt aus der Rede des Bundeskanzlers zitieren, die er vor dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels gehalten hat:
Denn Sie haben recht, insbesondere was da überlegt
worden ist bei den Abschreibungen von ComputerHardware, ist sowas neben der Sache, daß man dies
nicht lange erläutern muß. Es ist, wie das gelegentlich so ist, ein Entwurf im Finanzministerium gewesen, fiskalisch begründet, dies müssen die auch,
aber nicht alles, was da, ohne daß die Hausspitze es
gesehen hat, aufgeschrieben und gedacht wurde,
muß gleich Gegenstand öffentlicher kritischer Erörterungen werden. Ist er aber, und ich mache es
hier sehr deutlich: Diese Tabellen, die dort versandt
worden sind, sind keine Tabellen, die rechtliche
Geltung erlangen werden. „Gesetz“ darf ich nicht
sagen, weil es, glaube ich, Erlasse sind.
Soweit Bundeskanzler Schröder.
Deshalb kann ich dieser Regierung nur sagen: Ziehen
Sie diese Änderung zurück!
({7})
Denn ich glaube Ihnen nicht, daß diese Abschreibungslisten nicht Quasi-Gesetzeskraft erhalten sollen. Wir werden Sie mit diesem Thema treiben.
({8})
- Das werden wir. Das geschieht jetzt schon.
({9})
Herr Kollege Thiele,
ich muß Sie leider angesichts Ihrer Redezeit auch etwas
treiben.
Frau Kollegin Bläss,
ich lasse mich hier auch treiben.
Abschließend möchte ich sagen: Die Glaubwürdigkeit von Rotgrün ist sowieso schon dahin. Aber wenn
die Neue Mitte Ihre Zielgruppe sein soll, dann machen
Sie sie nicht mit diesen Abschreibungsregelungen zur
Zielscheibe. Das haben die Unternehmer, die Unternehmen und die Arbeitnehmer in unserem Lande nicht verdient.
({0})
Das Wort hat die
Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium der Finanzen, Barbara Hendricks.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zur Beurteilung Ihrer Rede, geschätzter Herr Kollege Thiele, fallen mir nur zwei Möglichkeiten ein: Entweder haben Sie keine Ahnung, oder
Sie sprechen wider besseres Wissen. Ich nehme das
letztere zu Ihren Gunsten an.
({0})
Im übrigen kann ich sogleich erklären, daß die Aussage des Bundeskanzlers, die Sie hier zitiert haben, vollständig mit dem in Einklang steht, was ich Ihnen schon
vor mindestens zwei Wochen, als wir uns zum erstenmal
darüber im Finanzausschuß unterhalten haben, genau so
für die Bundesregierung gesagt habe. Es gibt also keinerlei Dissens zwischen dem Bundesfinanzministerium
und dem Bundeskanzler.
({1})
Das könnten Sie sogar dem Protokoll entnehmen, wenn
das Protokoll der Sitzung des Finanzausschusses von vor
zwei, drei Wochen vorliegt.
Der Antrag der F.D.P.-Fraktion zielt ja darauf, die
Überarbeitung der AfA-Tabellen einzustellen und es bei
den bisherigen AfA-Tabellen zu belassen.
({2})
Diese Forderung haben schon einige Wirtschaftsverbände erhoben. Das ist natürlich auch ihr gutes Recht. Ich
will aber eines klar sagen: Dieser Forderung kann die
Finanzverwaltung im Hinblick auf das auch Ihnen bekannte Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19. November 1997 zur Ermittlung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer eines Wirtschaftsgutes einfach nicht nachkommen.
({3})
Nach diesem Urteil ist als maßgebliches Kriterium
für die Bemessung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer im Sinne des § 7 Einkommensteuergesetz die
technische Abnutzung eines Wirtschaftsgutes anzusehen. Eine von der technischen Nutzungsdauer abweichende, kürzere wirtschaftliche Nutzungsdauer ist nach
der BFH-Rechtsprechung nur noch in den Fällen zulässig, in denen unter Berücksichtigung der typischen Nutzung im Betrieb des einzelnen Steuerpflichtigen die
Möglichkeit einer wirtschaftlich sinnvollen, auch anderweitigen Nutzung oder Verwertung objektiv endgültig entfallen ist.
Frau Kollegin Hendricks, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Thiele?
Ja. Bitte, Herr Kollege.
Frau Staatssekretärin,
Sie beziehen sich auf das Urteil des BFH vom
19. November 1997. Ist Ihnen bekannt, daß dieses Urteil
des Bundesfinanzhofes einen Einzelfall betrifft, in dem
ein Steuerpflichtiger trotz der damals geltenden Nutzungsdauer von vier Jahren bei der Abschreibung von
Pkws der Auffassung war, sein Pkw müßte in drei Jahren abgeschrieben sein, und daß der BFH in diesem Einzelfall erklärt hat, daß eine Abschreibung in drei Jahren
nicht zulässig sei, sondern daß der Steuerpflichtige die
damals geltende Nutzungsdauer von vier Jahren anzuwenden habe?
Ich muß jedoch bemerken, inzwischen ist es auf fünf
Jahre verlängert. Aber aufgrund dieses Einzelfalls zu
Lasten des Steuerpflichtigen sind die AfA-Tabellen
nicht geändert worden und läßt sich aus meiner Sicht
nicht ein Auftrag an die Finanzverwaltung herleiten.
Vielmehr ist es reines Wunschdenken, um einen Auftrag von Dritten zu bekommen, um die Steuer zu erhöhen.
Herr Kollege Thiele, dieses Urteil ist mir bekannt. Ich kenne natürlich auch den
Inhalt des Urteils. Zu diesem Urteil hat die alte Bundesregierung keinen Anlaß gesehen, einen Nichtanwendungserlaß zu erlassen. Daraufhin ist das Urteil durch
die Verwaltung anzuwenden. Jetzt sind wir verpflichtet,
es umzusetzen. Sie hätten zumindest versuchen können,
einen Nichtanwendungserlaß herauszugeben. Die Finanzverwaltung hat es damals versäumt. Nehmen Sie
das bitte zur Kenntnis.
Bisher wurden bei der Aufstellung und bei der Änderung von Abschreibungstabellen auch betriebswirtschaftliche Aspekte berücksichtigt, die in der Regel zum Ansatz
einer verkürzten Nutzungsdauer führen. Nach dem BFHUrteil ist dies nicht mehr zulässig, aber, wie erwähnt,
natürlich in jedem Einzelfall gleichwohl möglich.
Frau Kollegin Hendricks, es gibt eine zweite Zwischenfrage.
({0})
Bitte schön, Herr Kollege
Thiele.
Frau Staatssekretärin,
könnten Sie mir erläutern, wie auf ein Urteil hin, welches keine rechtliche Bindung für den Gesetzgeber erlangt oder auch nur feststellt, ein Nichtanwendungserlaß
überhaupt ergehen muß? Denn ein Nichtanwendungserlaß setzt nach meinem Rechtsverständnis voraus, daß
der BFH eine strittige Frage so klargestellt hat, daß eine
Anwendung erfolgen muß, über den Einzelfall hinaus.
Das enthält das Urteil in keiner Form. Insofern bedarf es
auch keines Nichtanwendungserlasses.
Herr Kollege Thiele, wir
können uns hier jetzt natürlich rechtlich darüber streiten.
Es hat jedenfalls diesen Nichtanwendungserlaß nicht
gegeben. Nach Auffassung der obersten Finanzbehörden
des Bundes und aller Länder enthält dieses BFH-Urteil
rechtlich bindende Aussagen. Sie können anderer rechtlicher Auffassung sein. Ich kann nur sagen, es ist zu
Zeiten der alten Bundesregierung versäumt worden,
einen Nichtanwendungserlaß herauszugeben. Hätte es
ihn geben können, hätten wir keine rechtlichen Zweifelsfragen. Sie vertreten da eine andere Position als die
obersten Finanzbeörden des Bundes und aller Länder.
Wir können uns weiter darüber streiten.
Bitte schön, Herr Kollege Fromme.
Sie haben die Regie
schon übernommen. Bitte, Herr Kollege Fromme, Ihre
Frage.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir vielleicht einmal erklären, wo
es eine Rechtsgrundlage gibt, die Sie daran hindert, jetzt
einen Nichtanwendungserlaß herauszugeben?
({0})
Herr Kollege Fromme,
Sie wissen, daß ich keine Juristin bin. Ich werde Ihnen
diese Frage gerne schriftlich beantworten, aber ich bin
sicher und davon überzeugt, daß es bestimmte Regeln
gibt, innerhalb deren ein solcher Nichtanwendungserlaß
ergehen muß. Das ist eben nicht erfolgt. Aber wir können das noch klären.
Zum Verfahren: Die obersten Finanzbehörden des
Bundes und der Länder sind an diese Auslegung des § 7
des Einkommensteuergesetzes durch den BFH gebunden. Sie beschlossen deshalb bereits Anfang 1998, also
noch zu Zeiten der alten Bundesregierung, eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag einzusetzen, alle AfA-Tabellen
zu überarbeiten. Diese Arbeiten sind noch im Gange.
Fertiggestellt ist bislang lediglich ein Arbeitsentwurf der
AfA-Tabelle für allgemein verwendbare Anlagegüter;
ein Arbeitsentwurf, das darf ich noch einmal betonen.
Dieser beruht auf den Ergebnissen aktueller Betriebsprüfungen im gesamten Bundesgebiet, die etwa im Zeitraum von Mitte 1998 bis Mitte 1999 vonstatten gegangen sind. Diese Ergebnisse führen generell zur Verlängerung der Nutzungsdauern unter technischen Aspekten.
Die Stellungnahme der Spitzenverbände der Wirtschaft zu diesem Arbeitsentwurf werden Anfang Dezember 1999 durch die Vertreter der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder ausgewertet. Sollte
sich dabei herausstellen, daß die von den Fachleuten der
Finanzverwaltung unter Beachtung der Rechtsprechung
des BFH ermittelten Nutzungsdauern einzelner Wirtschaftsgüter im Arbeitsentwurf zu lang angesetzt wurden, was zu erwarten ist, werden diese Ansätze natürlich
korrigiert. Dies entspricht dem üblichen Verfahren bei
der Anpassung der AfA-Tabellen. Erst nach Abschluß
dieser Arbeiten wird die endgültige Tabelle im Bundessteuerblatt veröffentlicht.
Auch die übrigen rund 100 branchenspezifischen
AfA-Tabellen werden zur Zeit überarbeitet und voraussichtlich im Laufe des Jahres 2000 als Entwurf ebenfalls
den betroffenen Spitzenverbänden zugeleitet. Die AfATabellen sind im übrigen nicht, wie hier und da geäußert, Gegenstand einer Rechtsverordnung. Sie sind eindeutig eine Verwaltungsvorschrift und deshalb für den
Steuerpflichtigen unverbindlich.
Die Erfahrung zeigt zwar, daß sich die Steuerpflichtigen selber an diesen AfA-Tabellen orientieren, gleichwohl kann aber jeder Unternehmer der Abschreibung für
ein Wirtschaftsgut eine kürzere Nutzungsdauer als in der
AfA-Tabelle zugrunde legen, wenn dies hinsichtlich der
technischen Abnutzung des Wirtschaftsguts in seinem
Unternehmen schlüssig begründet ist. Es hat also keine
Bindungswirkung für den Steuerpflichtigen.
Die Überarbeitung der AfA-Tabellen steht nicht im
steuerpolitischen Kontext der Reform der Unternehmensbesteuerung oder anderer zentraler steuerpolitischer Vorhaben der Bundesregierung.
({0})
Es handelt sich, wie ich Ihnen schon sagte, um ein bereits unter der Vorgängerregierung im Einvernehmen
mit allen Ländern begonnenes Vorhaben auf Verwaltungsebene.
Es geht hier allein um die Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts. Der zeitliche Zusammenhang mit der beabsichtigten Unternehmenssteuerreform
ist also zufällig. Die Anpassung der AfA-Tabellen an die
geänderte Rechtsprechung hätte auch ohne eine Unternehmensteuerreform vollzogen werden müssen.
Es trifft aber zu, daß im Finanztableau für den Kabinettsbeschluß vom 23. Juni 1999 die überarbeiteten
AfA-Tabellen im Entstehungsjahr mit Mehreinnahmen
von 2,2 Milliarden DM ausgewiesen waren, im Rechnungsjahr 2000 übrigens mit rund 800 Millionen DM anders, als Sie es eben gesagt haben, Herr Kollege
Thiele. Diese Schätzung der Bundesregierung erfolgte
allerdings vor Kenntnis eines Zwischenergebnisses der
Bund/Länder-Arbeitsgruppe und beschränkte sich auf
einen vorsichtigen pauschalen Ansatz.
Ich denke, daran wird auch deutlich, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt hat, mit der Verlängerung
von Abschreibungsfristen zwischen 14 und 20 Milliarden DM im Jahr an zusätzlichem Steueraufkommen zu
erzielen. Andererseits konnte natürlich die Bundesregierung auch nicht die Augen davor verschließen, daß diese
Arbeiten im Gange waren. Deswegen ist ein vorsichtiger
pauschaler Ansatz geschätzt worden. Das muß im Sinne
einer seriösen Finanz- und Haushaltsplanung auch so sein.
({1})
Dies ist also mit rund 800 Millionen DM in den Steuereinnahmeansatz des Jahres 2000 eingegangen.
Sie sehen an der Differenz zwischen 2,2 Milliarden
DM im Entstehungsjahr bzw. rund 800 Millionen DM
im ersten Rechnungsjahr und einer geschätzten Mehrbelastung, die auch von Ihnen hier vorgetragen worden
ist, zwischen 15 und 20 Milliarden DM, daß wir keinesfalls beabsichtigen, die Verlängerung der Nutzungsdauern in einem Umfang herbeizuführen, daß tatsächlich eine solche steuerliche Mehrbelastung eintreten würde.
Danke schön.
({2})
Für die Fraktion der
CDU/CSU hat jetzt der Kollege Leo Dautzenberg das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen!
Die F.D.P.-Fraktion fordert mit ihrem Antrag die Bundesregierung auf, von der „geplanten Verschlechterung“
der AfA-Tabellen Abstand zu nehmen.
Die CDU/CSU-Fraktion hatte mit Drucksache 14/1746 vom 6. Oktober dieses Jahres bereits eine
Kleine Anfrage an die Bundesregierung bezüglich der
Neufassung der AfA-Tabellen gestellt. Heute nachmittag ist die Antwort eingegangen. Frist für die Beantwortung war der 21. Oktober. Benötigt das Finanzministerium, Frau Staatssekretärin, wirklich so lange, um
einfache Fragen zu beantworten?
Der Entwurf einer überarbeiteten AfA-Tabelle „AV“
ist vom Finanzministerium den Wirtschaftsverbänden
zur Stellungnahme übersandt worden. Hintergrund der
geplanten Neufassung der AfA-Tabellen ist ein Urteil
des Bundesfinanzhofes vom 17. November 1997.
Die Behauptung des Finanzministeriums und auch
heute wiederum der Staatssekretärin, daß die Entscheidung des BFH zwangsläufig zu einer grundlegenden
Überarbeitung der AfA-Tabellen führen muß, ist
schlichtweg falsch.
({0})
Die AfA, Abschreibung für Abnutzung, ist die Verteilung der Anschaffungs- oder Herstellungskosten auf
die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer. Die Nutzungsdauer von Wirtschaftsgütern, die der technischen oder wirtschaftlichen Abnutzung unterliegen, ist
stets begrenzt. Das Ende der Nutzung wird durch technische und wirtschaftliche Gründe bestimmt. Daran hat
sich die Schätzung der betrieblichen Nutzungsdauer zu
orientieren. Darauf beruht die ständige Rechtsprechung
des Bundesfinanzhofes, die sich auch durch das oben
genannte Urteil nicht geändert hat.
Der Bundesfinanzhof wendet sich im Ergebnis nur
dagegen, die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer noch
weiter auf eine sogenannte Behaltefrist im eigenen Betrieb zu reduzieren. Der BFH hat in einem branchenspezifischen Fall der Pkw-Vermietung entschieden, daß eine kürzere als die amtliche AfA-Nutzungsdauer nicht
gewährt werden kann - das hat Herr Thiele schon betont
-, wenn an Hand der Bilanzen nachgewiesen werden
kann, daß der Unternehmer die Wirtschaftsgüter nach
Ablauf des Nutzungszeitraums in jedem Fall mit hohem
Restwert, nämlich 30 bis 40 Prozent der Anschaffungskosten, veräußert.
({1})
Dieser Einzelfall kann aber nicht zum Anlaß genommen werden, für fast alle anderen Wirtschaftsgüter des
Anlagevermögens die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer drastisch zu verlängern.
({2})
Bei Pkws haben wir zudem einen funktionierenden Sekundärmarkt, den wir beim überwiegenden Teil der
anderen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens eben
nicht haben. Für den typischen Investitionsgütermarkt
gibt es keinen etablierten Gebrauchtmarkt.
Festzuhalten ist weiterhin, daß die derzeit gültige
AfA-Tabelle „AV“ erst zwei Jahre alt ist. Dem Aspekt
der längeren technischen Nutzung war bereits bei der
Aufstellung dieser Tabelle Rechnung getragen worden.
Deshalb ist es eben nicht nachvollziehbar, wenn in dem
Entwurf die Nutzungsdauer für Wirtschaftsgüter wie
zum Beispiel für EDV-Anlagen, Großrechner, von fünf
auf acht Jahre, für PCs von vier auf sechs Jahre, für Peripheriegeräte von vier auf sieben Jahre, für Büromöbel
von 10 auf 15 Jahre, für Pkw von fünf auf acht Jahre, für
Lkw von sieben auf elf Jahre und für Maschinen des
Anlagevermögens teilweise von 10 auf 20 Jahre erhöht
wird. Das sind nur wenige Beispiele.
Man muß fragen: Welche empirischen Untersuchungen von welchen Behörden liegen den überarbeiteten
AfA-Tabellen eigentlich zugrunde? Wir haben mit der
neuen AfA-Tabelle somit eine Verlängerung der Nutzungszeiträume mit einer Spannbreite von 50 bis zu
150 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar, meine Damen
und Herren.
({3})
Wenn durch die neuen AfA-Tabellen erreicht werden
soll, daß die Unternehmen ihre Anlagen länger nutzen
und nicht durch neue, auf dem Stand der Technik befindliche Anlagen ersetzen, kann dies als volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Fehlleistung bezeichnet werden.
({4})
Ein Unternehmen kann nur dann mit niedrigen Kosten
produzieren, wenn es hierfür die modernsten und leistungsfähigsten Anlagen einsetzt.
Verlängert man die AfA-Zeiten, kommt es zu einem
staatlich verordneten Desinvestitionsprogramm. Im
Ergebnis ist dies ein staatlich verordnetes Investitionsdrosselungsprogramm und damit kontraproduktiv hinsichtlich der Zielsetzung, Arbeitsplätze zu schaffen.
({5})
Gegenüber den Wettbewerbern im Ausland, die
wesentlich kürzere AfA-Laufzeiten haben, wäre dies
eine weitere Benachteiligung für den Standort Deutschland. Dies hat für in- und ausländische Investoren erhebliche Auswirkungen, da die AfA-Sätze neben den
Steuersätzen oft als einzige steuerliche Berechnungsgröße Eingang in betriebswirtschaftliche Investitionsrechnungen finden. Es kommt hinzu, daß im Zuge der beabsichtigten Unternehmensteuerreform die degressive AfA
von 30 auf 20 Prozent gesenkt werden soll.
Die Verlängerung der Abschreibungsdauer - so die
Behauptung der Finanzverwaltung - ist nicht lediglich ein
Periodisierungsproblem. Nein, die durch eine Verlängerung der Nutzungsdauer eintretenden geringeren Abschreibungsbeträge können nicht mehr aufgeholt werden.
Denn das für Investitionen bedeutsame Innenfinanzierungsvolumen durch Abschreibungen wird über einen
Zeitraum vermindert, der in etwa der Verlängerung der
jeweiligen Nutzungsdauer entspricht. Halten die Unternehmen an ihrer geplanten Investitionspolitik fest, müssen
sie zur Finanzierung neuer Investitionen Kredite in Höhe
der verordneten zusätzlichen Steuern aufnehmen. Liquidität und Cash-flow der Unternehmen werden gefährdet.
Das Instrument der Selbstfinanzierung gerät damit in Gefahr, und dies, meine Damen und Herren, trifft insbesondere unsere mittelständischen Unternehmen.
({6})
In mittelständischen Unternehmen werden häufig die
dünne Eigenkapitaldecke und die unausgewogene Finanzierungsstruktur beklagt. Um so weniger ist es deshalb verständlich und einzusehen, daß der Staat die Innenfinanzierung erschwert.
Vielleicht sind noch viel näher liegende Gründe für
die vorliegende AfA-Tabelle ausschlaggebend. In einer
Kabinettsitzung der rotgrünen Regierung Ende Juni aus ihr wurde schon zitiert - wurde das Steueraufkommen mit der neuen AfA-Tabelle auf rund 2,5 Milliarden DM geschätzt. Die Wirtschaftsverbände beziffern
die steuerlichen Mehrbelastungen auf 13 bis 15 Milliarden DM. Bereits das sogenannte Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2001 hat zunächst die Unternehmen mit
Änderungen der Bemessungsgrundlagen und mit Hinweis auf eine grundlegende Unternehmensteuerreform
mit Milliarden D-Mark mehrbelastet.
Mit dem Schritt der neuen AfA-Tabellen wird eine
weitere Vorwegfinanzierung einer noch immer unbestimmten Unternehmensteuerreform vollzogen. An
Stelle einer in Aussicht genommenen Steuerentlastung
führt dies in den betroffenen Unternehmen zu erheblich
steigenden Steuerbelastungen mit noch hohen Steuersätzen, da es infolge des sinkenden AfA-Volumens bereits
ab dem Jahr 2000 zu deutlichen Erhöhungen der
Buchgewinne kommt.
Ein weiterer Gesichtspunkt kann für die Aktualität
der neuen AfA-Tabelle ausschlaggebend sein. Wenn
seitens des Bundesfinanzministeriums erklärt wurde, der
vorliegende Entwurf sei mit den Ländern abgestimmt,
so trifft dies nur zum Teil zu. Länder wie BadenWürttemberg und Bayern haben sich frühzeitig verabschiedet. Sollten hier die Länder eine mögliche Kompensation für die Belastungen aus dem sogenannten
Sparpaket erhalten?
({7})
Die Investitionskraft unserer Volkswirtschaft darf nicht
durch solche vordergründigen Ränkespiele gefährdet
werden.
Die Reaktionen aus den Wirtschaftsverbänden zeigen,
daß diese im Interesse der Unternehmen und der Arbeitsplätze nicht bereit sind, die neuen AfA-Tabellen zu
akzeptieren. Von seiten des Finanzministeriums wird
dann wiederum betont, es handele sich lediglich um
einen Referentenentwurf. Finanzminister Eichel läßt
ausschließlich aus fiskalischem Interesse die Beamten
agieren.
Laut „Handelsblatt“ vom 20. Oktober 1999 - Herr
Thiele hat es schon zitiert - hat Bundeskanzler Schröder
vor dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels erklärt, die neuen Tabellen erhielten keine Geltung. Man
muß fragen, welches Verfallsdatum diese Zusagen haben.
({8})
Wir haben zwar keine Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich der AfA-Tabellen. Wir sollten uns aber in einer
Anhörung oder in einem Fachgespräch/Expertengespräch mit dieser Sachlage im Finanzausschuß befassen.
In der vorliegenden Form kann die AfA-Tabelle aus den
dargelegten Gründen nicht akzeptiert werden.
({9})
Es spricht jetzt für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Thiele, wenn Sie die Auffassung vertreten, Sie müßten
die Regierung zu diesem Thema treiben, dann kann ich
nur sagen: Wir beschäftigen uns mit diesem Thema. Dazu bedarf es nicht der F.D.P.
({0})
Das BFH-Urteil vom 19. November 1997 wurde auf
der Verwaltungsebene - bereits zu den Zeiten der alten
Koalition - so interpretiert, daß sich im Regelfall die
Abschreibungstabellen an den technischen Nutzungsdauern zu orientieren haben. Das heißt, auch nach Auffassung der in den Ministerien jeweils Zuständigen der
alten Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. wurde es so
formuliert, daß es zwingend notwendig sei, hier eine
gewisse Anpassung - ich nenne das bewußt so - vorzunehmen. Daraufhin haben Sie in Ihrer Verantwortung
1998 eine Arbeitsgruppe auf den Weg gebracht,
({1})
die letztendlich diesen Auftrag zu erfüllen hatte.
({2})
- Im Januar 1998.
Nach dem Regierungswechsel gab es einen Entwurf,
der am 31. August 1999 an die Wirtschaftsverbände zur
Stellungnahme weitergegeben wurde. Es ist vollkommen klar, daß unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Wirtschaftsverbände Anpassungen vorgenommen werden, wenn sich Nutzungsdauern als zu lang angesetzt herausstellen.
Es ist aber auch klar, daß der jetzt vorliegende Vorschlag in dieser Form absolut nicht akzeptabel ist. Es ist
logisch, daß sich Investitionen auf der einen Seite für die
Wirtschaft rechnen müssen, daß sich auch die Modernisierungen der Betriebe im Konkurrenzgeschäft eines internationalen Marktes rechnen müssen und daß wir hier
nicht etwas tun dürfen, wodurch wir die mittelständische
Wirtschaft im Hinblick auf ihre Konkurrenzfähigkeit in
die Bredouille bringen.
({3})
Ich nenne noch einmal das Beispiel der Notebooks,
weil dies immer wieder angeführt worden ist. Dabei geht
es um die Verlängerung des Abschreibungszeitraums
von vier auf sechs Jahre. Dies ist wirklich realitätsfremd,
und es gibt viele andere Regelungen, die ebenfalls realitätsfremd sind.
({4})
Ich sage es noch einmal deutlich: Niemand hat vor,
diese AfA-Tabellen des auf der Verwaltungsebene vorgelegten Vorentwurfes in ihrer ursprünglichen Ausgestaltung Realität werden zu lassen. Das wissen alle in
diesem Haus.
({5})
Ich kann an dieser Stelle nur sagen - das gilt für die
gestrige Debatte in der Aktuellen Stunde genauso -,
daß die F.D.P. versucht, sich mit irgendwelchen ungelegten Eier zu profilieren. Gestern versuchte sie es hinsichtlich der Steuerschätzung, obwohl überhaupt keine
Zahlen auf dem Tisch liegen. Heute versucht sie es mit
Tabellen, die niemals Realität werden, was sie genau
weiß.
({6})
Man versucht also, politisch Profit zu schlagen
({7})
und die Wirtschaft zu verunsichern.
({8})
Letztlich glaubt man, von irgendwelchen Leuten Unterstützung zu bekommen, die dies dementsprechend weiterleiten.
Frau Kollegin
Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thiele?
Bitte sehr.
Frau Kollegin Scheel,
stimmen Sie mir darin zu, daß diese Regierung, anders
als jede andere Regierung, erstmalig ein Finanztableau
eingestellt hat - in der Größenordnung von 2,195 Milliarden DM im Entstehungsjahr -, was darauf schließen
läßt, daß diese Regierung eine finanzielle Mehrbelastung
der Unternehmen beabsichtigt, was eine Vorgängerregierung nie getan hat, weil es keine politische Entscheidung dafür gab?
({0})
Herr Thiele, ich glaube, in diesem Punkt liegen Sie vollkommen falsch.
({0})
Sie haben allerdings insofern recht, als in der Schätzung
mit einer Summe gerechnet wird, die Sie eben angesprochen haben, nämlich mit etwa 2,1 Milliarden DM. Ich
finde es übrigens gut, daß Sie diese Zahl endlich einmal
genannt haben.
({1})
Sie sprachen vorhin von 15 bis 17 Milliarden DM. Es
hat eine andere Dimension, wenn man versucht, den
Eindruck zu erwecken, als würde die Wirtschaft im Jahre 2000 plötzlich in dieser Größenordnung belastet. Sie
wissen genau, daß dies so nicht stimmt. Deswegen vielen Dank, was diese Klarstellung angeht.
Nun aber zu dem zweiten Teil Ihrer Frage. Sie haben
gesagt, die alte Regierung habe niemals eine Zahl in
Umlauf gebracht. Das ist schlicht und ergreifend falsch.
({2})
Die alte Regierung ging in der Finanzplanung von 3
Milliarden DM aus.
({3})
Diese Summe wurde in der Finanzplanung immer mit berücksichtigt, weil man wußte, daß man die Arbeitsgruppe
mit einem entsprechenden Auftrag versehen hatte. Natürlich hat man auch Schätzungen vorgenommen. Die Schätzung der alten Regierung liegt um fast 1 Milliarde über
dem, was die neue Regierung jetzt in ihrer Schätzung
vorgelegt hat. Das sind die Fakten. Sonst gar nichts.
({4})
Nun noch ein paar Überlegungen zu den Zahlen und
auch zu den finanziellen Wirkungen. Eines habe ich bereits angesprochen: Von den zweistelligen Milliardenbeträgen, die des öfteren genannt werden, kann nicht die
Rede sein. Natürlich gibt es auch, was die Liquiditätsüberlegungen angeht, bestimmte Wirkungen. Das heißt,
wenn man bestimmte Dinge anpaßt - ich will sie nicht
im Detail nennen; das ist die Aufgabe, die diese Arbeitsgruppe zu bewältigen hat -, führt dies zu Mindereinnahmen. Im Ergebnis, wenn verteilt wird, sieht es also für den Bund oder auch für die Länder ganz anders
aus, als sie gedacht haben. Das heißt, dies führt im Saldo
nicht zu einer Mehrbelastung, sondern es entstehen verlagerte Effekte.
({5})
Ich sage auch ganz deutlich: Es ist ein zeitlicher Zufall, keine versteckte Gegenfinanzierung der geplanten
Unternehmensteuerreform, wie das von Ihnen immer
dargestellt wird. Wir haben uns vorgenommen, kleine
und mittlere Unternehmen zu entlasten. So steht es im
Koalitionsvertrag. Dies ist das politische Ziel und der
politische Wille, sonst nichts.
({6})
Ich möchte abschließend - meine Redezeit ist leider
schon zu Ende - anmerken, daß man bei der Überarbeitung der Tabellen auch über den Anwendungszeitpunkt
nachdenken sollte, damit die Opposition nicht wie jetzt
versuchen kann, Verbindungen zwischen Zahlen herzustellen. Deswegen werden wir in diesem Zusammenhang
eine sehr weise Entscheidung treffen.
({7})
Frau Heidemarie
Ehlert, Sie haben das Wort für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Aus Sicht der F.D.P.-Fraktion als
Vertreterin der Wirtschaftslobby ist der vorliegende
Antrag natürlich verständlich. Ich frage nur, warum Sie
nicht 1997 - vor der letzten Änderung der AfA-Tabellen
- einen solchen Antrag gestellt haben. Herr Waigel
plante damals, 2,5 Milliarden DM Steuermehreinnahmen zu kassieren. Offensichtlich waren damals keine
Arbeitsplätze gefährdet.
Herr Thiele, Sie wissen doch genauso gut wie ich,
daß die amtliche AfA-Tabelle für die allgemein verwendbaren Anlagegüter nichts mit der tatsächlichen Gebrauchswertabnutzung zu tun hat. Sie ist - man muß nur
auf die letzte Legislaturperiode zurückschauen - ein
politisches, zwischen dem Finanzministerium und den
Fachverbänden der Wirtschaft ausgehandeltes Ergebnis,
um unter Umgehung von Steuererhöhungen mehr Geld
in die Staatskassen zu bekommen.
Durch eine veränderte Abschreibung sollen diesmal 2
Milliarden DM erzielt werden, mit denen das Sparprogramm mitfinanziert werden soll. Allerdings ist bisher
noch nie so deutlich gekungelt worden wie in diesem
Jahr. Früher waren die AfA-Tabellen zunächst internes
Material des Ministeriums. Aber diesmal wurde die
Lobby durch das BMF rechtzeitig informiert und mobilisiert. Wir als Abgeordnete des Bundestages haben allerdings selbst keinen Einfluß auf diese Tabellen, es sei
denn, unsere politische Heimat ist einer der Lobbyverbände. Dies scheint bei Ihnen so zu sein.
({0})
Die AfA-Tabelle ist einer der aufkommensbedeutsamsten Bestandteile unseres Steuersystems. Ein Prozentpunkt an degressiver Abschreibung bedeutet steuerliche Mehr- bzw. Mindereinnahmen von zirka 1 Milliarde DM im Jahr. Es lohnt sich also sowohl für die Regierung wie auch für die Wirtschaft, über Abschreibungssätze nachzudenken.
Die PDS-Fraktion ist für eine Anpassung der AfATabellen und auch für eine Verlängerung der Nutzungsdauer. Sie muß allerdings wesentlich zielgenauer
als bisher sein. Im High-Tech-Bereich ist vor allem der
moralische Verschleiß gegenwärtig sehr hoch. Dies
wurde zum Beispiel bei der AfA für Computer, Mobiltelefone und andere Elektronikgeräte offensichtlich völlig übersehen. Aber, werte Kolleginnen und Kollegen
von der F.D.P., Sie glauben doch wohl selbst nicht daran, daß die Wirtschaft mit den Einnahmen aus den Abschreibungen in erster Linie Arbeitsplätze schafft oder
Investitionen tätigt. Wenn dies so wäre, dann hätte es ja
in den Jahren vor 1997, also vor der letzten Änderung
der AfA-Tabellen, fast ein Überangebot an Arbeitsplätzen geben müssen.
({1})
Eine längere Nutzung der entsprechenden Wirtschaftsgüter muß auch nicht automatisch zum Abbau
von Arbeitsplätzen führen. Es kann doch zum Beispiel
parallel ein Dienstleistungssektor aufgebaut werden, der
Service und Reparaturen anbietet. Neue Arbeitsplätze
können in arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichen
entstehen.
Wir sind außerdem für eine verlängerte, zielgenaue
Abschreibung, weil sie einfach ökologischer ist. Der
entsprechend der künstlich festgelegten Abschreibung
beschleunigte Arbeitsmittelumschlag ist eine gewaltige,
vermeidbare Rohstoffvergeudung und eine zusätzliche
Umweltbelastung.
({2})
Wie lange wollen und können wir uns das überhaupt
noch leisten?
({3})
Auch über die Abschreibungen kann unseres Erachtens
ein Einstieg in den ökologischen Umbau erfolgen.
({4})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Fritz Schösser, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag der F.D.P. „Abschreibungstabellen nicht ändern“ vermittelt den Eindruck, als könne er kein Wässerchen trüben. Bei genauerem Hinsehen und vor allem
vor dem Hintergrund der aufgeschreckten, aber sehr
durchsichtigen Kampagne, die zu diesem Thema bereits
öffentlich veranstaltet wurde, kommt man dann aber
schnell zu einer anderen Betrachtungsweise.
Wie immer, meine Damen und Herren von der
F.D.P., schütten Sie das Kind mit dem Bade aus. Denn
mit Ihrer Kampagne verunsichern Sie die Wirtschaft und
erreichen genau das Gegenteil von dem, was Sie scheinheilig zu wollen vorgeben.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Nehmen Sie sich ein Beispiel
an der CDU/CSU; die haben, dem Problem angemessen,
eine Kleine Anfrage gestellt und nicht einen Antrag eingebracht. Das hat auch seinen Sinn, wie ich später noch
darstellen werde. Es hat vielleicht auch seinen Sinn, daß
heute niemand von der CSU dabei ist. Aber auch dazu
später noch etwas.
Es geht für Sie nicht darum, den Investitionsstandort
Deutschland wirklich attraktiv zu machen. Nein, Herr
Thiele, Sie regen sich künstlich auf, verspritzen verbales
Gift, zeigen mit dem Finger auf die Regierung und hoffen darauf, daß schon etwas hängenbleibt. Das ist die
Art, von der der Antrag geprägt ist.
({1})
Aus Mücken auf der Verwaltungsebene haben Sie einen
regierungsamtlichen Elefanten gemacht. Aber was Sie
hier veranstalten, ist nichts anderes als ein Sturm im
Wasserglas.
Bundeswirtschaftsminister Werner Müller hat sich ja
sehr frühzeitig klar und auch differenziert von dem Material der Steuerexperten auf der Beamtenebene von
Bund und Ländern distanziert.
({2})
- Er hat sich davon distanziert. - Aber man höre und
staune: Herrn Thiele stört das gar nicht. Am nächsten
Tag nämlich wirft er dem Wirtschaftsminister vor, begleitet vom Konzert der Wirtschaftsverbände - in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist es nachzulesen -:
„Herr Müller weiß regelmäßig nicht, was er beschlossen
hat.“
({3})
Wie kann er auch, Herr Thiele, wenn es noch gar keinen
Beschluß über die neuen AfA-Tabellen gibt?
({4})
Herr Thiele, ich kenne Sie ja mittlerweile ein wenig.
Wahrscheinlich waren Sie zu früheren Zeiten einmal ein
Hubschrauber: Landen, viel Staub aufwirbeln und dann
ohne konstruktiven Vorschlag wieder abziehen.
({5})
Ich kann Ihnen nur versichern: Die jetzt vorliegenden
Tabellen werden so weder Verwaltungsvorschriften
noch Rechtsverordnungen, noch werden sie im Parlament beschlossen. Das vorliegende Material ist auch
kein Skandal, schon gar keine beschlossene Neuordnung
der AfA-Tabellen, sondern das ist schlicht und einfach
das Ergebnis einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf
Beamtenebene, an der sich auch Baden-Württemberg
und Bayern beteiligt haben. Baden-Württemberg hat
sich seit September, habe ich mir sagen lassen, zurückgezogen. Bis dahin hat man aber jede Zahl mit unterschrieben.
({6})
Es ist doch völlig selbstverständlich und unumstritten: Nach Auswertung der Verbandsstellungnahmen aus
dem Wirtschaftsbereich werden die von Fachleuten der
Finanzverwaltung unter Beachtung der Rechtsprechung
ermittelten Nutzungsdauern überprüft und - dessen bin
ich sicher - in den einschneidenden Fällen auch wieder
korrigiert. Deshalb haben die Beamten ihre Ausarbeitung ja auch an die Verbände gesandt; sonst hätten sie
das ja gar nicht tun müssen.
Nun zu dem, was getan werden muß. Es ist klar erläutert worden: Es gibt eine Vorgabe des Bundesfinanzhofes, und - was noch sehr viel deutlicher ist - es gibt
natürlich auch einen klaren Auftrag, der von Finanzminister Theo Waigel erteilt wurde. Das vergessen einige
in dieser Runde. Es ist mehrmals richtig gesagt worden,
daß die alte Regierung diesen Betrag bereits eingestellt
hat. Aber auch das, Herr Thiele, macht Sie gar nicht unsicher. Man vergißt halt relativ schnell.
Nun zu der Frage, warum die CSU heute nicht da ist.
Überrascht bin ich schon über die Kleine Anfrage vom
5. Oktober 1999 und über die Tatsache, daß jetzt niemand hier ist. Vielleicht kann sich die CSU nicht so
recht an das erinnern, was Kurt Faltlhauser als Finanzminister vorgelegt hat. Das war vor wenigen Wochen.
Es geht da um die „Steuerinitiative Bayern 2001“. Sie
können da auf der Seite 17 gern nachlesen, wie beispielsweise die erste Stufe 2001 teilfinanziert werden
soll. In dieser Teilfinanzierung der ersten Stufe steht ein
Titel, der folgendermaßen lautet: „Anpassung der Abschreibungsdauer auf bewegliche Wirtschaftsgüter des
Anlagevermögens an die tatsächliche Nutzungsdauer“.
({7})
Man höre und staune: 3 Milliarden DM, also exakt 805
Millionen DM mehr, als im Tableau der Bundesregierung steht. Ist das vielleicht der Grund dafür, daß Sie
von der CDU heute so einsam hier sitzen und von der
CSU verlassen sind?
({8})
Ich frage mich, meine Herren von der CDU/CSU,
warum Sie Ihre Anfrage nicht an Herrn Faltlhauser gerichtet haben, der anscheinend ganz genau Bescheid
weiß, wie die AfA-Tabelle aussehen soll. Er hat es konkret in sein Programm hineingeschrieben.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage?
Aber bitte.
Herr Kollege
Schösser, wären Sie so freundlich, der Vollständigkeit
halber anzugeben, wie hoch die Steuersätze sowohl bei
der Eingangs- als auch bei der Spitzenbesteuerung in
diesem Finanzkonzept sind?
Das kann ich Ihnen sagen. In
der Stufe eins auf der Ebene des Jahres 2001 liegt der Einkommensteuersatz bei 20 Prozent im unteren Bereich und
bei 42 Prozent im oberen Bereich und die Körperschaftsteuer bei den thesaurierten Gewinnen bei 35 Prozent.
({0})
- Ich sehe da nicht die großen Unterschiede zu anderen
Konzepten, die ausgearbeitet werden.
Die zweite Zwischenfrage bitte.
Herr Kollege Schösser,
wenn Sie die Kollegen von der CSU nicht kennen, wie
wollen Sie dann die Steuersätze der CSU kennen?
Hören Sie mal, die sind
nachzulesen. Aber ich sehe Sie so selten, daß man Sie
tatsächlich einmal übersehen kann.
({0})
Die Steuersätze habe ich dabei. Sie mögen sich dafür
schämen. Ich habe nichts dagegen.
({1})
Sie können sie auch zurückziehen; das würde uns auch
helfen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ich habe viel Zeit.
Herr Kollege Schösser,
ich bin deshalb ins Plenum gekommen, weil ich mich als
neuer Bundestagsabgeordneter über die Abschreibungstabellen informiere; denn Ihr Kollege aus der Oberpfalz,
Ludwig Stiegler, hat gerade bei uns in der nördlichen
Oberpfalz viel Falsches verbreitet. Heute könnte er hier
sein und sich über diese Dinge informieren.
Das machen Sie mal morgen
früh mit Ludwig Stiegler selber aus.
Ich stelle noch einmal die Frage: Warum haben Sie
Ihre Anfrage nicht an Herrn Faltlhauser gerichtet? Er
weiß anscheinend sehr genau, wie die 3 Milliarden DM
für das Jahr 2001 zustande kommen sollen.
Sie sehen also, meine Damen und Herren, im Vergleich mit dem Steuerkonzept der CSU nimmt sich die
erwartete Steuereinnahme im Finanztableau der Bundesregierung für das Entstehungsjahr mit knapp 2,2 Milliarden DM eher bescheiden aus.
Meine Damen und Herren, Unternehmen investieren
nicht deshalb, weil sie günstig abschreiben können. Ich
habe das bisher in keinem Aufsichtsrat erlebt.
({0})
Der entscheidende Punkt ist, ob der Markt, die Qualifikation der Arbeitnehmer, das Produkt, der Absatz und
die Absatzerwartung stimmen. Das sind die entscheiFritz Schösser
denden Faktoren. Die Abschreibungsfrage steht sehr im
Hintergrund.
({1})
Ich sage Ihnen: Sie führen im Grunde eine Auseinandersetzung gegen das Windmühlenrad. Selbst wenn in
einzelnen Bereichen die Abschreibungsjahre sozusagen
gestreckt werden, heißt das doch nicht, daß das für ein
Unternehmen eine Steuererhöhung bedeuten muß.
({2})
Das Unternehmen, das sich der Steuerzahlung ehrlich
stellt, wird natürlich früher oder später Steuern bezahlen
müssen. Das verschweigen Sie leider. Wenn ich die Jahre
sozusagen strecke, ist das zum großen Teil nur eine vorgezogene Steuereinnahme und keine dauerhafte, wie die
relativ hohen Kosten im Entstehungsjahr schon zeigen.
Das heißt, einen Zusammenhang mit der Unternehmensteuer herzustellen und zu sagen, wir nehmen den Unternehmern weg, was wir ihnen geben, ist so nicht haltbar.
({3})
Ich glaube, bei aller Unterschiedlichkeit im Parlament
ist eines sehr wichtig: Wir sollten nichts tun, was die
Wirtschaft verunsichert.
({4})
Herr Thiele, bei allem Geplänkel zwischen Parteien sage
ich Ihnen: Wenn man die Wirtschaft verunsichert - das
tun Sie -, glaubt man am Ende vielleicht sogar, dieser
Standort sei schlecht. Das ist aber nicht so. Die Fakten
und Daten für das nächste Jahr weisen deutlich darauf
hin, daß die Wirtschaft mit einem Aufschwung rechnet
und dieser Aufschwung auch von mehr Arbeitsplätzen
getragen sein wird.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1887 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einbürgerungsverfahren human gestalten Einbürgerungshindernisse beseitigen
- Drucksache 14/1757 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Die Kolleginnen und Kollegen Meinrad Belle,
CDU/CSU-Fraktion, Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion,
Cem Özdemir, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und
Ulla Jelpke, PDS-Fraktion, geben ihre Reden zu Proto-
koll.*)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Fraktion der SPD die Kollegin Lilo Friedrich.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In acht Wochen tritt das neue Staatsbürgerschaftsrecht in Kraft. Mit dieser Reform wird endlich ein
deutliches Zeichen für die Weltoffenheit und Modernität
unseres Landes gesetzt, ein Land, das der Integration
unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
einen hohen Stellenwert einräumt.
Die Kernpunkte sind hinlänglich bekannt: Die Einbürgerungsfristen werden verkürzt, und für Härtefälle
wird eine verbesserte Ausnahmeregelung bei der Hinnahme von Mehrstaatigkeit geschaffen. Dies hat zum
Ziel, daß sich zwischen der in Deutschland lebenden
ausländischen Bevölkerung und dem deutschen Staatsvolk nicht eine immer größer werdende Lücke bildet.
Will man ein Haus bauen, so muß man mit dem Fundament beginnen. Baustein für Baustein wird das Haus
danach vollendet. Der vorliegende Antrag ist ein weiterer Baustein. Nach vielen politischen Auseinandersetzungen hat der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes beschlossen. Nun gilt es, diese gesetzlichen Vorgaben in eine praxiserleichternde Einbürgerung umzusetzen. Aufgabe hierbei ist es, die Richtlinien für den
Verwaltungsvollzug so zu gestalten, daß das neue Gesetz seiner Aufgabe und Zielsetzung, insbesondere der
Integration, gerecht werden kann.
Wichtig ist uns hinsichtlich der Verwaltungsvorschriften - sozusagen der Gebrauchsanweisung für das
Gesetzeswerk selbst -, daß das Einbürgerungsverfahren
human gestaltet und Einbürgerungshindernisse beseitigt
werden.
({0})
Deshalb bitten wir die Bundesregierung und die Bundesländer, im Zuge des Erlasses der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Staatsangehörigkeitsrecht den
Schwierigkeiten ausländischer Staatsangehöriger, insbesondere aus dem Iran und der Bundesrepublik Jugoslawien, im Entlassungsverfahren gezielt Rechnung zu tragen.
({1})
Zur Begründung: Mit dem neuen Staatsbürgerschafts-
recht wird die Einbürgerung vieler Antragsteller er-
------------
*) Anlage 5
leichtert, die Probleme mit den ausländischen Behörden
bei ihren Entlassungsbemühungen erfahren. Für die
deutschen Einbürgerungsbehörden ist jedoch die Beurteilung der Einbürgerungsvoraussetzungen, die eine
Hinnahme von Mehrstaatigkeit ermöglichen, in manchen Fällen besonders schwierig. So ist die Verwaltungspraxis einiger ausländischer Staaten, zum Beispiel
Iran oder Bundesrepublik Jugoslawien, nicht immer
nachvollziehbar.
Hierzu ein Beispiel. Die Einbürgerung iranischer
Staatsbürger geschieht noch heute auf der Grundlage
des deutsch-iranischen Niederlassungsabkommens aus
dem Jahre 1929. In Abschnitt II des Schlußprotokolls
haben sich die Vertragspartner verpflichtet, keinen Angehörigen des anderen Staates ohne vorherige Zustimmung seiner Regierung einzubürgern. Dieses Schlußprotokoll hat in der Vergangenheit manche Einbürgerung von Iranern verzögert oder blockiert, weil die iranische Seite ihre Zustimmung zur Einbürgerung versagt
bzw. Entlassungsanträge abschlägig beschieden oder
nicht bearbeitet hat.
Mit der von uns eingeleiteten Reform des deutschen
Staatsbürgerschaftsrechts wird die Bedeutung des
Schlußprotokolls für die Einbürgerung von Iranern weiter abnehmen. Denn die Zeit des Inlandsaufenthaltes, die
für einen Einbürgerungsantrag erforderlich ist, unterliegt
laut mehreren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes nicht dem Schlußprotokoll. Sie wird durch das
neue Staatsbürgerschaftsrecht nahezu halbiert werden,
das heißt auf künftig acht Jahre. - Das ist die eine bedeutende Verbesserung.
Die zweite besteht darin, daß das neue Staatsbürgerschaftsrecht hinsichtlich des Grundsatzes der Vermeidung von Mehrstaatigkeit eine erhebliche Erweiterung
des Ausnahmekatalogs vorsieht.
({2})
Das Festhalten am Grundsatz der Vermeidung von
Mehrstaatigkeit bewirkt zwar weiterhin, daß der Ablauf
der Einbürgerungsverfahren ausländischer Staatsangehöriger in hohem Maße vom Recht und der Behördenpraxis des jeweiligen Herkunftsstaates abhängt. Hier können jedoch zahlreiche Schwierigkeiten auftreten: zum
Beispiel die faktische Unmöglichkeit, das Ausscheiden
aus der ausländischen Staatsangehörigkeit herbeizuführen, willkürhafte oder unangemessene Anforderungen
des Herkunftsstaates im Entlassungsverfahren, eine vorangegangene diskriminierende oder entwürdigende Behandlung des Einbürgerungsbewerbers, eine überlange
Verfahrensdauer, überhöhte Entlassungsgebühren, erhebliche Nachteile als Folge des Ausscheidens aus der
ausländischen Staatsbürgerschaft oder eine vorangegangene politische Verfolgung.
Die Entscheidung über eine Einbürgerung muß sich
meines Erachtens vorrangig an den Gesichtspunkten orientieren, die zwischen dem Einbürgerungsbewerber und
der Bundesrepublik Deutschland als dem aufnehmenden
Staat von Bedeutung sind. Daher ist es bei auftretenden
Schwierigkeiten ausländsicher Staatsangehöriger insbesondere aus dem Iran und der Bundesrepublik Jugoslawien im Entlassungsverfahren geboten, den Grundsatz
der Vermeidung von Mehrstaatigkeit zurückzustellen,
wenn diese Schwierigkeiten das im Einzelfall zumutbare
Maß überschreiten. Somit kommt dem § 87 des neuen
Ausländergesetzes, der die Ausnahmefälle regelt, in denen Mehrstaatigkeit hingenommen wird, entscheidende
Bedeutung zu.
Die Erleichterungen für iranische Einbürgerungsbewerber sollen künftig in folgender Hinsicht berücksichtigt werden: Diejenigen, die im Sinne von § 51 des
Ausländergesetzes als politisch Verfolgte anerkannt
sind, müssen keine vorherigen Bemühungen um eine
Entlassung aus der ausländischen Staatsangehörigkeit
nachweisen.
({3})
Außerdem wird die Einbürgerungsbehörde künftig erstmals in die Lage versetzt, besondere Schwierigkeiten bei
älteren Einbürgerungsbewerbern zu berücksichtigen.
Des weiteren kann ein Einbürgerungsanspruch festgestellt werden, wenn dem Ausländer bei der Aufgabe der
ausländischen Staatsangehörigkeit erhebliche Nachteile
- zum Beispiel vermögens- oder erbrechtlicher Art entstehen. Ferner wird Mehrstaatigkeit hingenommen,
wenn „der ausländische Staat die Entlassung aus der
Staatsangehörigkeit aus Gründen versagt hat, die der
Ausländer nicht zu vertreten hat“. Dies ist häufig bei
Ärzten oder sonstigen Fachkräften der Fall.
Bei jugoslawischen Einbürgerungsbewerbern treten besondere Schwierigkeiten bei Staatsangehörigen
der Bundesrepublik Jugoslawien, das heißt bei solchen
aus Serbien und Montenegro, auf. Vielfach erfolgt die
Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit, weil
die Entlassungsgebühren unzumutbar hoch sind.
Daneben gibt es auch hier Fallgruppen, in denen
weitere Entlassungsbemühungen als unzumutbar anzusehen sind und Mehrstaatigkeit hingenommen werden
sollte. Dies gilt unter anderem bei Einbürgerungsbewerbern, die bereits vor den Kriegsereignissen einen vollständigen und formgerechten Antrag auf Entlassung aus
der jugoslawischen Staatsangehörigkeit gestellt haben
und deren Entlassungsantrag aus von ihnen nicht zu
vertretenden Gründen nach zweijährigen Entlassungsbemühungen nicht weiter bearbeitet wird, sowie in solchen Fällen, in denen bereits die Entgegennahme des
vollständigen und formgerechten Entlassungsantrags
durch den ausländischen Staat trotz mehrfacher ernsthafter und nachhaltiger Bemühungen des Einbürgerungsbewerbers über einen Zeitraum von sechs Monaten
hinweg nicht erfolgt ist.
Allerdings nicht jeder Fall wird detailliert im Rahmen
der allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Staatsangehörigkeitsrecht geregelt werden können. Wir bitten
jedoch darum, daß Bundesregierung und Bundesländer
bei der Umsetzung des neuen Staatsbürgerschaftsrechts
die genannten Entlassungsschwierigkeiten bestimmter
ausländischer Staatsangehöriger - insbesondere aus dem
Iran und der Bundesrepublik Jugoslawien - in den Verwaltungsvorschriften stärker berücksichtigen. Nur so
können das Einbürgerungsverfahren human gestaltet und
die Einbürgerungshindernisse wirkungsvoll beseitigt
werden.
Lilo Friedrich ({4})
Die Opposition hat in der Vergangenheit die Probleme zwar erkannt, aber den Handlungsspielraum, den
die deutschen Regelungen und Verfahrensabsprachen
bieten, nicht für eine wirkliche Erleichterung bei den
genannten Fallgruppen genutzt. Mit dem von uns eingebrachten Antrag soll jetzt endlich die Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
auch in praktischer Hinsicht umgesetzt und erleichtert
werden.
Ich danke Ihnen.
({5})
Frau Kollegin Friedrich, das war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen
Bundestages. Im Namen aller hier anwesenden Kolleginnen und Kollegen gratuliere ich Ihnen ganz herzlich
dazu.
({0})
Obendrein bekommen Sie gleich noch ein präsidiales
Kompliment, denn Sie haben Ihre Redezeit, auch wenn
sie sehr üppig bemessen war, nicht voll ausgeschöpft.
Kompliment dafür!
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 14/1757
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den letzten Tagesordnungspunkt,
den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Sabine Jünger, Gerhard Jüttemann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur abschließenden Regelung offener Vermögensfragen in Bezug auf Wohngrundstücke im
Beitrittsgebiet ({1})
- Drucksache 14/1693 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2})
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS fünf Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Die Kolleginnen und Kollegen Hans-Joachim Hacker,
SPD, Andrea Voßhoff, CDU/CSU1), Rainer Fornahl,
SPD und Hans-Christian Ströbele, BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN2), haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Ich eröffne die Aussprache. Für die PDS-Fraktion hat
das Wort die Kollegin Christine Ostrowski.
------------
1) Anlage 6
2) Redebeiträge lagen bei Redaktionsschluß noch nicht vor.
Frau Präsidentin! Liebe Hiergebliebenen! Es ist nun einmal so, daß wir immer an der letzten Stelle stehen. Vielleicht sorgen Sie
mit dafür, daß PDS-Anträge in Zukunft auch einmal etwas eher in der Tagesordnung abgehandelt werden.
Dann müssen wir uns dies zu so später Stunde nicht
mehr antun.
({0})
Es ist ja etwas aberwitzig, daß wir den zehnten Jahrestag des Mauerfalls feiern, vor der Jahrtausendwende
stehen und nächstes Jahr schon zehn Jahre deutsche
Einheit feiern können, aber gleichzeitig noch immer
Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten für redliche Erwerber von Wohngrundstücken im Osten nicht beseitigt
sind. Man hatte ja die Hoffnung, daß sich dabei etwas
nach den Bundestagswahlen ändert. Die Kollegen Sozialdemokraten haben ja in der Opposition ganz mächtig
dafür gekämpft. Es ist schade, daß Herr Hacker heute
nicht hier ist. Wenn ich nämlich seine Aussagen aus der
damaligen Zeit heute noch einmal zitiere, läuft mir jetzt
noch ein wohliger Schauer über den Rücken. Noch im
Juni 1998 hat er gesagt:
Seit über acht Jahren hat sich die SPDBundestagsfraktion mit einer Vielzahl parlamentarischer Initiativen dafür eingesetzt,
({1})
die offenen Vermögensfragen in den neuen Ländern sozialverträglich zu lösen und die von der Regierungskoalition zugelassenen Regelungsdefizite
zu beseitigen. Insbesondere traten und treten wir
Sozialdemokraten dafür ein, die über Jahre gewachsenen Lebensrealitäten in den neuen Ländern
zu berücksichtigen und die berechtigten Interessen
der redlichen Nutzer und Erwerber zu schützen.
Das ist wirklich ein wunderbares Zitat.
Die Sache verhält sich nur so: Die Sozialdemokraten
regieren schon ein ganzes Jahr. Wo aber sind die parlamentarischen Initiativen geblieben?
({2})
Sie sind nicht zu sehen. Es herrscht Funkstille. Wie Sie
damit klarkommen, ist natürlich nicht unsere Sorge. Wir
jedenfalls halten unser Wahlversprechen und legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor.
({3})
- Wir haben durchaus auch etwas versprochen; zum
Beispiel, daß wir ein solches Gesetz einbringen. Das tun
wir jetzt auch.
({4})
Dieses Gesetz wird, wenn Sie es denn annehmen und
vielleicht sogar noch verbessern, für Nutzer und Erwerber ostdeutscher Grundstücke mehr Rechtssicherheit und
Gerechtigkeit schaffen.
Lilo Friedrich ({5})
Es handelt sich dabei um ein Artikelgesetz. In Art. 1
geht es um die Stichtagsregelung nach den sogenannten
Modrow-Käufen. Sie wissen ja, daß der 18. Oktober
1989 als Stichtag festgesetzt wurde und alle nach diesem
Tag geschlossenen Kaufverträge für unwirksam erklärt
wurden.
({6})
- Mit einigen wenigen Ausnahmen. - Der Aberwitz der
Geschichte ist, daß der Gesetzgeber durch die Stichtagsregelung gerade Erich Honecker in einer Art und Weise
ein Denkmal setzt, die schon wirklich sehr merkwürdig
ist. Das hat er wirklich nicht verdient; denn Verträge
„unter ihm“ sind wirksam und Verträge „nach ihm“ sind
unwirksam.
({7})
Die vorgeschlagene Regelung will die willkürliche
Stichtagsregelung beseitigen und eine Gleichstellung
von vollzogenen und angebahnten Verkäufen erreichen. Wenn Sie sich die Realität in Ostdeutschland ansehen, dann werden Sie feststellen, daß dies kein Zustand ist. Es gab Fälle, da konnte jemand vom Nutzer
zum Eigentümer werden, sein linker Nachbar durfte wenigstens nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz kaufen, sein rechter Nachbar durfte nur noch Mieter sein
und der übernächste Nachbar mußte vielleicht Haus und
Hof verlassen.
({8})
Daß solche Zufälligkeiten zutiefst ungerecht sind, ist
auch deshalb einsichtig, weil den Kaufverträgen das
formell und materiell korrekt zustande gekommene Verkaufsgesetz vom 7. März 1990, das sogenannte Modrow-Gesetz, zugrunde lag. Die frei gewählte Volkskammer der DDR hat dieses Gesetz nicht aufgehoben im Gegenteil. Die von ihr gewählte Regierung erließ dazu noch im Juli und im August 1990 Verordnungen und
Ausführungsbestimmungen. Nein, die Stichtagsregelung
gehört aufgehoben.
({9})
Art. 2 unseres Gesetzentwurfes will eine weitere Absurdität beseitigen. Hier geht es um die Überlassungsverträge, die das bundesdeutsche Recht gar nicht kannte, wohl aber das Recht der DDR. Wenn zum Beispiel
ein Grundstückseigentümer die DDR verließ, wurde das
Grundstück zunächst von der kommunalen Wohnungswirtschaft verwaltet, die wiederum das Grundstück samt
Haus oft einem anderen Nutzer überließ. Dieser Nutzer
mußte alle Lasten des Grundstückes tragen und war für
die Instandhaltung, soweit dies unter DDR-Bedingungen
eben ging, verantwortlich.
Viele Nutzer handelten über Jahrzehnte wie Eigentümer. Sie hielten Grundstück und Gebäude instand, besserten den Wert auf, kümmerten und sorgten sich. Was
das bedeutete, weiß eigentlich nur der, der in der DDR
gelebt hat. Da gab es nämlich keine Baumärkte, in die
man einmal schnell fahren könnte, um Dachziegel oder
Zement zu holen. Da brauchte es lange Wartezeiten,
manchmal die sprichwörtlich „blauen Fliesen“, Einfallsreichtum, Nerven und Erfindergeist, um das Häuschen
instand zu halten.
Nach geltendem Recht werden Nutzer mit Überlassungsverträgen jetzt aber in der Regel wieder wie
Mieter behandelt. Sie können das von ihnen unter Umständen seit Jahrzehnten bewohnte und instand gehaltene Haus nur in den seltensten Fällen nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz kaufen. Wir wollen, daß
dieser Zustand beendet wird und daß Überlassungsverträge in das Sachenrechtsbereinigungsgesetz aufgenommen werden.
In Art. 3 geht es uns schließlich um die nochmalige
Verlängerung der Fristen zum Eigentumserwerb.
Hierbei geht es um Fälle, in denen private Eigentümer,
aber auch öffentliche Wohnungsunternehmen und Genossenschaften in den neuen Ländern Ansprüche auf
Erwerb eines Grundstückes gestellt haben, das ihnen
noch nicht gehört, auf dem sie aber Wohngebäude errichtet haben. Wenn nach geltendem Recht nicht bis
zum Ende dieses Jahres eine Grundbucheintragung erfolgt ist, besteht die Gefahr, daß die Besitzrechte an diesen Häusern und die Nutzungsrechte an diesen
Grundstücken verlorengehen.
Die Frist, um die es hier geht, wurde schon einmal
verlängert. In der Praxis hat sich gezeigt, daß diese
Verlängerung einfach nicht reicht. Wir schlagen deshalb
vor, die Frist bis zum Ende des Jahres 2004 zu verlängern.
Unsere drei Artikel könnten die Ungerechtigkeiten
und die Rechtsunsicherheiten beseitigen. Da die SPD
noch nicht aktiv wurde, obwohl sie es versprochen hatte,
gehe ich einfach davon aus, daß Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen. Sollten Sie mit dem einen oder anderen Punkt nicht einverstanden sein, stehen wir jedem
Änderungsantrag, der unseren Entwurf verbessert, sehr
aufgeschlossen gegenüber.
Ich bedanke mich.
({10})
Ich schließe die Aus-
sprache und möchte noch darauf hinweisen, daß auch
der Kollege Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion seine
Rede zu Protokoll gibt.*)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfs auf Drucksache 14/1693 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich
sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich bedanke mich
ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kollegen, die bis
zum Schluß ausgeharrt haben.
------------
*) Anlage 6
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 5. November 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.