Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
({0})
Mit Bestürzung haben wir die Nachricht aufgenommen, daß das Parlament von Armenien Ziel eines brutalen Terroranschlages geworden ist. Eine Gruppe von
Terroristen ist gestern in das Parlament eingedrungen
und hat mit automatischen Waffen das Feuer auf Abgeordnete und Regierungsmitglieder eröffnet. Nach letzten
vorliegenden Meldungen starben durch die Kugeln mindestens zehn Menschen, darunter der Parlamentspräsident Karen Demirtschjan und Ministerpräsident Wasgen
Sarkisjan. Weitere 30 Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt. Es ist ein unfaßbarer Bruch der elementaren Grundlagen politischer Kultur, daß ein Parlament,
die Stätte gewaltloser Auseinandersetzung, zum Ort
eines Blutbades geworden ist. Als Parlamentarier verurteilen wir den Terroranschlag auf das schärfste und geben unserer Solidarität mit den Abgeordneten des Parlaments von Armenien Ausdruck. Den Angehörigen der
getöteten Parlaments- und Regierungsmitglieder sprechen wir unser tiefes Mitgefühl aus.
Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zu der
heutigen Tagesordnung. Interfraktionell ist vereinbart
worden, die verbundene Tagesordnung um die folgenden, Ihnen in einer Liste vorliegenden Zusatzpunkte zu
erweitern:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 22 bis 25 in
Drucksache 14/1836: Rente mit 60 und Bündnis für Arbeit
({1})
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Lötzer, Carsten Hübner, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS: Zukunftsfähiger Handel und umfassende Reform der WTO - Drucksache 14/1834 3. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Kohärenz von EUAgrarpolitik und Entwicklungspolitik im Rahmen der WTOII-Verhandlungen - Drucksache 14/1860 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sigrid SkarpelisSperk, Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Ditmar Staffelt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Margareta Wolf ({2}), Dr. Uschi Eid, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN: Transparenz, offene Märkte, Fairness
und nachhaltige Entwicklung: Für eine umfassende Weiterentwicklung des Welthandelssystems - Drucksache
14/1861 5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Düngemittelgesetzes - Druck-
sache 14/1857 -
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN: Weiterentwicklung der deutschtschechischen Beziehungen - Drucksache 14/1873 6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Forderungen, das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit zu streichen
7. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Verarbeitung und Nutzung der zur Durchführung der Verordnung ({4}) Nr. 820/97 des Rates erhobenen Daten und zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes ({5}) - Drucksache 14/1856 8. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Förderung der Selbständigkeit - Drucksache 14/1855 9. Vereinbarte Debatte zur Entscheidung des US-Senats zum
Atomteststoppvertrag
10. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung der Bundesregierung zu einer möglichen Lieferung
von Kampfpanzern an die Türkei
Außerdem wurde vereinbart, die Beratungen zu Tagesordnungspunkt 10 - Änderung insolvenzrechtlicher
und kreditwesenrechtlicher Vorschriften -, zu Tagesordnungspunkt 15 - Änderung der Strafprozeßordnung sowie zu Tagesordnungspunkt 16 - Zwangsarbeiterentschädigung - abzusetzen.
Des weiteren mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 53. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innen5570
ausschuß und Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen
werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes
({6})
- Drucksache 14/1515 überwiesen:
Ausschuß für Gesundheit ({7})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Der in der 55. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union zur
Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Zusatzprotokoll
vom 22. September 1998 zu dem Übereinkommen vom 5.
April 1973 ({8}) zwischen den Nichtkernwaffenstaaten der Europäischen Atomgemeinschaft,
der Europäischen Atomgemeinschaft und der Internationalen Atomenergie-Organisation in Ausführung von Artikel III Absätze 1 und 4 des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen
- Drucksache 14/1416 überwiesen:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({9})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
nicht vergessen, der Kollegin Gabriele Iwersen die
besten Glückwünsche des Hauses zu ihrem 60. Geburtstag auszusprechen, den sie am 25. Oktober gefeiert
hat.
({10})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zu den Ergebnissen der Sondertagung des Europäischen Rates in Tampere am 15./16. Oktober 1999
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor, über den wir im Anschluß an die Aussprache
abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Jahr
1999 wird als ein äußerst wichtiges Jahr in die Geschichte der Ausgestaltung der europäischen Integration
eingehen. Nach dem historischen Schritt der Einführung
der gemeinsamen Währung ist es während der deutschen
Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr trotz der Doppelkrise durch Kosovo-Krieg und Rücktritt der Europäischen Kommission gelungen, im europäischen Integrationsprozeß einen bedeutenden Schritt nach vorne zu tun.
Die Agenda 2000, die Beschlüsse zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion, zur Grundrechtscharta und zur neuen Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen sind wichtige Bausteine auf dem
Weg zu dem großen Ziel einer erweiterten und zugleich
politisch handlungsfähigen Europäischen Union.
Der Europäische Rat in Tampere markiert nun nach
Binnenmarkt und gemeinsamer Währung den Einstieg in
ein neues, weitreichendes und ehrgeiziges Integrationsprojekt: den Aufbau eines gemeinsamen Raumes
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dies zeigt,
daß niemand die Integrationskraft des alten Kontinents
Europa unterschätzen sollte. Im Bewußtsein der enormen Herausforderungen, die vor uns liegen, ist der Wille
zur Gestaltung der gemeinsamen Zukunft, des gemeinsamen europäischen Hauses ungebrochen.
Mit dem gemeinsamen Rechtsraum rückt das Europa
der Bürger in greifbare Nähe. Der Alltag der Bürger ist
durch Reisen und durch berufliche und familiäre Beziehungen längst europäisch geworden. Zugleich haben
sich aber auch viele ihrer Probleme europäisiert. Ein
einzelner Staat kann heute nicht mehr aus eigener Kraft
mit der Herausforderung durch die organisierte Kriminalität oder - wie wir es im Zusammenhang mit dem
Kosovo-Krieg erlebt haben - mit starken Flüchtlingsbewegungen fertig werden. Die EU muß dieser Realität gerecht werden. Die Bürger müssen wirklich spüren, daß
sich durch die Europapolitik ihre alltägliche Lebenssituation verbessert. Nur so werden wir ihre für die weitere Integration unverzichtbare Akzeptanz auf Dauer sichern können.
Die Bedeutung dieses neuen Integrationsprojektes
geht aber noch darüber hinaus. Gemeinsames Recht
kann eine enorme integrative Kraft entfalten. Der Code
Napoléon und die deutsche Einigungsgeschichte nach
1870/71 sind eindrucksvolle Beispiele hierfür. Die
wirkliche Bedeutung des gemeinsamen Rechtsraums besteht deshalb darin, daß sich mit seiner Verwirklichung
Europa mit Nachdruck zu einer echten politischen Union
entwickeln kann.
Mit der Verabschiedung von rund 50 konkreten, verbindlichen Arbeitsaufträgen und der Vereinbarung eines
ehrgeizigen Zeitzieles zu deren Realisierung - für mich
ist wichtig, dies zu betonen; es handelt sich um das Jahr
2004 - hat der Europäische Rat die politische Priorität
unterstrichen, die er dem Projekt eines gemeinsamen
Rechtsraums - eines verbesserten Zugangs zum Recht,
einer gemeinsamen Asyl- und Integrationspolitik sowie
einer wirksameren Verbrechensbekämpfung - beimißt.
Daß dieser politische Startschuß möglich wurde, ist in
hohem Maße das Verdienst der Innen- und Justizminister, die den Gipfel zusammen mit dem Auswärtigen
Amt vorbereitet und mitgestaltet haben. Mein besonderer Dank geht daher auch an die Bundesministerin
Däubler-Gmelin und an den Bundesminister Schily.
({0})
Meine Damen und Herren, die europäischen Rechtsräume sind das Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklungen. Sie gehören zum gemeinsamen europäischen
Kulturgut. Ihre Integration wird alles andere als einfach
sein, weil das gewachsene Recht ein wichtiger und zugleich ein im Alltag erlebter Identifikationspunkt ist.
Das Ziel kann deshalb nicht eine Homogenisierung dieser vielfältigen Rechtskulturen sein. Wohl aber kann es
das Ziel sein, Inseln des gemeinsamen Rechts zu schaffen und diese dort, wo es für erforderlich erachtet wird,
auszubauen.
Wir haben uns in Tampere, um mit den Worten Romano Prodis, dem neuen Präsidenten der Kommission,
zu sprechen, in dieser Frage auf „einen langen Marsch
der Arbeit“ begeben. Das Projekt des gemeinsamen
Rechtsraums steht noch am Anfang. Entscheidend ist
aber, daß jetzt ein konkreter inhaltlicher und zeitlicher
Rahmenplan vorliegt, wie er sich etwa beim Binnenmarkt bewährt hat. Damit kann sich das Ergebnis von
Tampere mehr als sehen lassen.
({1})
Ein gemeinsamer Rechtsraum muß heißen, daß ein
Bürger der Europäischen Union künftig in jedem Mitgliedstaat so einfach vor Gericht gehen kann wie in seinem Heimatland. Dazu müssen bürokratische Hürden
beseitigt und die Abläufe vereinfacht und beschleunigt
werden.
Zivilrechtliche Urteile werden in der Europäischen
Union schon heute in der Regel gegenseitig anerkannt.
Schwierig für den einzelnen bleibt jedoch die Durchsetzung seines Rechts. Um diesen Mißstand zu beseitigen,
soll nun auf deutsche Initiative ein europäischer Vollstreckungstitel eingeführt werden.
Im Familienrecht soll eine Angleichung des Kollisionsrechts sicherstellen, daß überall in Europa zweifelsfrei feststeht, welches nationale Recht zur Anwendung
kommt, wenn eine binationale Ehe geschieden wird oder
wenn Fragen im Zusammenhang mit dem Sorgerecht zu
klären sind. Dies sind Fragen, die auch und gerade im
deutsch-französischen Verhältnis immer wieder eine
belastende Rolle spielen.
Zum europäischen Rechtsraum muß eine europäische Grundrechtscharta gehören. Der Europäische Rat
in Tampere hat sich auf die Modalitäten der Einsetzung
des Gremiums verständigt, das die Grundrechtscharta
ausarbeiten wird. Dieses Gremium wird sich im Dezember konstituieren und soll bis Ende nächsten Jahres
einen Entwurf vorlegen. Als Beauftragter des Bundeskanzlers wird ihm der frühere Bundespräsident Roman
Herzog angehören. Bundestag und Bundesrat werden
jeweils einen Vertreter entsenden. Ein besonderer Erfolg
gemeinsamer Anstrengungen von Bundestag und Bundesregierung ist, daß sich das Gremium seinen Vorsitzenden selbst wählen wird.
Mit dem Vorschlag für die Grundrechtscharta will
Deutschland nicht die europäischen Grundrechte neu erfinden. Aber wer durch Organe oder Institutionen der
Europäischen Union in seinen Grundrechten verletzt
wird - es wird in Zukunft immer wichtiger, eine positive
Antwort auf dieses Problem zu finden; denn wir wollen
gerade in dieser Säule eine verstärkte Integration, eine
verstärkte Vergemeinschaftung haben -, der muß dagegen wirksamer vorgehen können als bisher. Das Demokratiegebot erzwingt es, daß wir eine europäische
Grundrechtscharta ausarbeiten und diese dann Schritt für
Schritt in das Vertragswerk der Europäischen Union implementieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie des Abg. Manfred
Müller [Berlin] ({2})
Die geltenden Grundrechte müssen für den Bürger
transparenter und sichtbarer gestaltet werden. Wir versprechen uns von der Grundrechtscharta einen Impuls
nicht nur für die Menschenrechte, sondern vor allem
auch für die Identität und die Legitimität der Europäischen Union. Dies ist eine unverzichtbare Grundlage für
den weiteren Integrationsprozeß, das heißt, ohne eine
Stärkung des Demokratieprinzips in der Europäischen
Union wird eine weitere Vergemeinschaftung und Vertiefung der Integration sehr schwer werden. Insofern
kommt jetzt der konkret begonnenen Arbeit an der europäischen Grundrechtscharta eine weit über dieses grundsätzliche Rechtsgebiet hinausgehende integrationspolitische Bedeutung zu.
({3})
Die Europäische Union wird eine gemeinsame Asylund Migrationspolitik entwickeln. Ihr Kernstück, ein
gemeinsames Asylsystem, wird garantieren, daß Verfolgten auch zukünftig Schutz in der Europäischen Union gewährt wird. Dieser Beschluß, zu dem eine Initiative der deutschen, französischen und britischen Innenminister wesentlich beigetragen hat, macht nochmals deutlich, worum es der Union geht - das wurde von allen,
die sich in dieser Diskussion in Tampere gemeldet haben, unterstrichen -, nämlich um den Schutz von
Flüchtlingen und nicht um den Schutz vor Flüchtlingen.
Die Europäische Union ist und darf keine abgeschottete
Festung werden.
({4})
In der Deutschland besonders betreffenden Frage
einer europäischen Lastenteilung hat sich der Europäische Rat gerade auch auf deutsches Drängen hin für einen solidarischen Ausgleich zwischen den Mitgliedstaaten ausgesprochen, der allerdings noch konkretisiert
werden muß und der angesichts der Interessendifferenz
auch alles andere als einfach werden wird.
Die Europäische Union wird künftig die Bekämpfung
der Fluchtursachen - Elend, Not und politische Verfolgung - zu einem wichtigen Ziel ihrer gemeinsamen
Außenpolitik machen. Entsprechende Aktionspläne für
die wichtigsten Herkunftsländer wurden gebilligt und
müssen jetzt umgesetzt werden. Die Europäische Union
wird zudem eine energischere Integration dauerhaft in
der Europäischen Union lebender Ausländer anstreben.
In Tampere wurde ferner eine Verbesserung der
Verbrechensbekämpfung auf europäischer Ebene vereinbart. Am 1. Juli hat Europol seine Arbeit aufgenomBundesminister Joseph Fischer
men. Dennoch müssen wir darauf achten, daß die
Verbrechensbekämpfung Schritt hält mit der organisierten Kriminalität, die heute mit modernen technischen
Mitteln über die Grenzen hinweg operiert. Die Polizeizusammenarbeit in Europa muß so effizient und reibungslos funktionieren wie innerhalb eines Staates.
Auch deswegen wird übrigens der Grundrechtsschutz
sehr wichtig; denn das gehört zu einem innerstaatlichen
Ausgleich unter demokratischen Bedingungen heute
selbstverständlich dazu. Gemeinsame Ermittlungsdienste unter Beteiligung - möglichst Leitung - von Europol
sind ein nächster wichtiger Schritt dorthin.
Polizei und Justiz müssen auch auf europäischer Ebene parallel miteinander aufgebaut werden. Dies ist eine
Grundfrage der Gewaltenteilung. Mit der Einrichtung
von Eurojust als Ergänzung von Europol soll zunächst
eine enge Zusammenarbeit der Staatsanwälte erreicht
werden. Auf längere Sicht kann Eurojust die Keimzelle
für eine europäische Staatsanwaltschaft werden.
Ich komme zum zweiten großen Thema. Auch für die
Erweiterung der Union wurden in Tampere auf der
Grundlage der jüngsten Fortschrittsberichte der Kommission wichtige Weichen gestellt. Für den Europäischen Rat in Helsinki zeichnet sich nun in den zentralen,
die Erweiterung betreffenden Fragen folgendes Einvernehmen ab: Die Beitrittsverhandlungen sollen - wie
von der Kommission vorgeschlagen - im nächsten Jahr
mit allen sechs Ländern der zweiten Gruppe aufgenommen werden. Zugleich soll bei den Verhandlungen stärker als bisher nach den individuellen Fortschritten der
Beitrittsländer entlang den objektiven Kriterien differenziert werden.
Es läßt sich vorhersehen, daß dieser Ansatz zu einer
stärkeren Auffächerung des Kandidatenfeldes führen
wird als bisher. Nur so ist aber sichergestellt, daß bisherige Nachzügler faire Aufholchancen erhalten und daß
alle Kandidaten allein nach ihren Verdiensten beurteilt
werden, ohne daß die Kopenhagener Kriterien aufgeweicht werden.
Die Europäische Union beabsichtigt, in Helsinki eine
politische Verpflichtung einzugehen, bis zum 1. Januar
2003 aufnahmebereit zu sein. Hiermit hat die Bundesregierung ihre Initiative für einen Erweiterungszeitplan
konkretisieren können. Ein solches Datum wird die Berechenbarkeit des Erweiterungsprozesses für die Beitrittsländer signifikant erhöhen. Sie haben deshalb das
Signal von Tampere einhellig begrüßt.
Die Zeit arbeitet nicht unbedingt für die Erweiterung,
meine Damen und Herren. Dies zeigt der besorgniserregende Rückgang der Zustimmung zum EU-Beitritt in
einigen mittel- und osteuropäischen Ländern. Gerade
deshalb ist es so wichtig, daß wir das Momentum nicht
verlieren. Die Erweiterungsfragen sind heute aber keine
symbolischen Fragen mehr. Es sind Fragen, die konkreter Entscheidungen, die konkreter praktischer Verhandlungsfortschritte und auch konkreter Vorbereitung innerhalb der Europäischen Union bedürfen. Der erste
Schritt, die Agenda 2000, wurde erfolgreich abgeschlossen. Der zweite Schritt, die Regierungskonferenz
zu den institutionellen Reformen, soll spätestens mit der
französischen Präsidentschaft abgeschlossen werden.
Wenn man dann noch das eine Jahr einrechnet, das notwendig ist, um die entsprechenden Ratifizierungsprozesse in den Parlamenten durchlaufen zu können, erreicht
man das Zieldatum des 1. Januar 2003.
Der im nächsten Jahr stattfindenden Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen - ich habe es
schon erwähnt - kommt eine entscheidende Bedeutung
für die Erweiterung und das Funktionieren der künftigen
Union zu. Die „drei Weisen“, angeführt von Richard
von Weizsäcker, haben hierfür gute und wichtige Vorschläge gemacht. Wir müssen allerdings darauf achten,
daß wir die Regierungskonferenz nicht überfrachten;
denn sie muß rechtzeitig im kommenden Jahr unter der
französischen Präsidentschaft abgeschlossen werden,
damit das Zeitziel, die Erweiterungsfähigkeit zum 1. Januar 2003, erreicht werden kann. Dies wird der Maßstab
der Bundesregierung bei den konkreten Festlegungen
der Inhalte der Regierungskonferenz sein.
Ich sage hier ganz offen: Wir halten es für nicht sinnvoll, in die Regierungskonferenz Inhalte hineinzunehmen, die den Abschluß der Regierungskonferenz letztendlich auf eine längere Bank schieben würden. Die
Bundesregierung wird deshalb Frankreich, unseren engsten und wichtigsten Partner, mit allem Nachdruck bei
seinen Bemühungen unterstützten, die Regierungskonferenz rechtzeitig und mit einem substantiellen Reformpaket abzuschließen.
Meine Damen und Herren, in Tampere sind auch die
Meinungsbildungen zum Kandidatenstatus der Türkei
weiter angenähert worden. Dies war ebenfalls ein Anliegen der Bundesregierung. Ich will hier noch einmal unterstreichen: Beitrittsverhandlungen mit der Türkei können erst dann beginnen, wenn diese - wie die anderen
Beitrittskandidaten - die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt hat. Dies ist keine Lex Türkei, sondern
dies gilt für alle Kandidaten, die sich um Aufnahme in
die EU bewerben.
({5})
Die Türkei weiß sehr genau - dies zeigt der Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Schröder und Ministerpräsident Ecevit -, wie weit sie hiervon entfernt
ist. Für uns ist entscheidend, daß die Europäische Union
der Türkei eine Perspektive eröffnet, die die Türkei aus
der Isolation herausholt und Spannungen abbaut.
({6})
Wir können doch trotz aller Kritik heute schon sehen
- lesen Sie die Berichte vom heutigen Tage -, daß das
griechisch-türkische Verhältnis im Zusammenhang mit
der neuen Türkei-Politik auf dem Weg zu einer entscheidenden Verbesserung ist. Das ist eines der ersten
positiven Resultate dieser neuen Politik, während die
drei Jahre, in denen die Türkei in die Isolation gedrängt
wurde, das Gegenteil von konstruktiver und positiver
Politik mit sich gebracht haben. Meine Damen und Herren, für uns ist entscheidend, daß die Europäische Union
der Türkei eine Perspektive eröffnet, damit dort Demokratie, Menschenrechte, der Schutz von Minderheiten
und die inneren Reformen gefördert werden können.
Der Europäische Rat in Tampere fiel mit dem Amtsantritt von Javier Solana als Hohem Vertreter für die
Außen- und Sicherheitspolitik zusammen. Dies ist ein
weiteres wichtiges Datum in diesem Jahr. Mit der Schaffung dieses Amts ist eines der ehrgeizigsten und weittragendsten Vorhaben der europäischen Politik Wirklichkeit geworden. Die Europäische Union gewinnt mit
Javier Solana einen zentralen Ansprechpartner nach außen und einen wichtigen Impulsgeber nach innen. Dies
ist ein echter Schritt nach vorne auf dem Weg zu einer
gemeinsamen Vertretung europäischer Interessen.
Der gemeinsame Brief von Bundeskanzler Schröder
und Staatspräsident Chirac hat in Tampere zu einer Festigung der Rolle Solanas im Verhältnis zu Präsidentschaft und Kommission geführt. Dies ist ein weiteres
Beispiel dafür, wie eng Deutschland und Frankreich entgegen einem fälschlichen Eindruck - in allen europäischen Fragen zusammenarbeiten. Wir werden uns
gemeinsam mit Frankreich weiterhin mit allen Kräften
dafür einsetzen, daß Solana sein politisches Gewicht und
seine Erfahrungen in seinem neuen Amt voll zum Tragen bringen kann, gerade wo es um die Gestaltung einer
gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
geht.
Die Beschlüsse von Tampere stehen in einem engeren
Zusammenhang, als es auf den ersten Blick scheinen
mag. Die Akzeptanz der Beitritte, der Erweiterung, wird
wesentlich davon abhängen, ob die zukünftigen Mitgliedstaaten in der Justiz- und Innenpolitik an die in
Tampere vereinbarten Maßnahmen anknüpfen können.
Wir müssen vor der Erweiterung bei der Vertiefung, in
der Justiz- und Innen- wie in der Außen- und Sicherheitspolitik soweit wie möglich vorankommen; denn zu
25 werden Fortschritte kaum einfacher zu erzielen sein
als zu 15.
Der Dreiklang von Tampere bei Recht, Erweiterung
und Außenpolitik war insofern ein wichtiger und in sich
ausgewogener Zwischenschritt auf dem Weg zu einer
erweiterten Politischen Union. Die Chancen, daß in Helsinki die nächste wichtige Etappe gemeistert werden
kann, sind deswegen gut. Die Bundesregierung will den
Erfolg des sogenannten „Erweiterungsgipfels“ von Helsinki und wird dafür alles in ihrer Kraft Stehende tun.
Ich bedanke mich.
({7})
Das Wort hat nun
Kollege Jürgen Rüttgers, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Als ich der Regierungserklärung zugehört habe, habe ich mich gefragt:
Was will der Außenminister uns mit dieser Regierungserklärung eigentlich sagen, was wir nicht schon in den
letzten 14 Tagen durch regierungsamtliche Verlautbarungen zur Kenntnis genommen haben? Was will der
Dichter uns eigentlich sagen? Wahrscheinlich gar nichts.
Er will nur davon ablenken, daß er in dieser Woche eine
verheerende Niederlage erlitten hat.
({0})
Er ist angeschlagen, und das ist der Grund, weshalb er
hier geredet hat.
({1})
Herr Außenminister, was haben Sie vor einem guten
Jahr - damals noch als Oppositionspolitiker - im Parlament nicht alles kritisiert! Aber jetzt merken Sie: Man
muß nicht nur regieren wollen, sondern man muß es
auch können. Aber Sie können es offensichtlich nicht.
({2})
Dieser Außenminister bringt es tatsächlich fertig, einen
Staat wie die Türkei zum offiziellen Beitragskandidaten
für die Europäische Union - immerhin ein Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts - zu befördern
und ihn zugleich für nicht vertrauenswürdig genug zu
halten, ihm als NATO-Partner einen Testpanzer zu übersenden.
({3})
Dieser Widerspruch, Herr Außenminister, ist auch durch
noch soviel diplomatische Finesse Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht aufzulösen.
Es ist wohl wahr: Die Menschenrechtslage in der
Türkei ist zu kritisieren, ebenso die mangelnde demokratische Verfaßtheit. Aber gerade deshalb ist die Entscheidung für den Beitrittskandidatenstatus so riskant
und kann in der Türkei zu einer noch größeren Enttäuschung führen. Sie spielen ein doppeltes Spiel, und das
weiß die Türkei. Deshalb muß sie mißtrauisch sein ob
der Ernsthaftigkeit des Beitrittskandidatenstatus und der
Rüstungskooperation. Ihre Türkei-Politik, Herr Außenminister, ist jedenfalls nicht nur ohne Konzept, sie ist
nach dieser Woche nur noch ein Trümmerhaufen.
({4})
Sie haben auch Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit zutiefst geschadet, und zwar nicht nur durch Ihr Verhalten
im Bundessicherheitsrat. Was hat sich Joschka Fischer
früher bei jedem Rüstungsexport hier aufgeregt! Noch
nie hat es ein Außenminister geschafft, innerhalb eines
Jahres zunächst gegen eine Verschärfung der Exportrichtlinien für Kriegswaffen im Bundessicherheitsrat zu
sein und dann einen Beschluß des gleichen Bundessicherheitsrats in Frage zu stellen, solange diese Exportrichtlinien nicht verschärft sind.
Zu guter Letzt erklärt die Koalition: Wir liefern zwar
einen Testpanzer; ob wir aber bereit sind, der Türkei
Panzer zu verkaufen, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Einladender, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht's
nimmer! Der Automann Schröder weiß ja sicherlich, daß
man dann, wenn man einen Wagen anbietet, auch bereit
sein muß, ihn zu verkaufen. So verspielt man auf jeden
Fall außenpolitische Glaubwürdigkeit, Herr Außenminister.
({5})
Nun war Tampere ein innenpolitischer Gipfel. Die
insgesamt mageren und enttäuschenden Ergebnisse dieses Sondergipfels - das sage ich ausdrücklich - sind
nicht nur dem Innenminister anzulasten. Die Zeiten, in
denen es auf das, was Deutschland sagte, ankam und in
denen der deutsch-französische Motor Impulse für die
europäische Entwicklung gegeben hat, sind vorbei.
({6})
Die Zeiten, in denen Kanzler wie Helmut Kohl und
Helmut Schmidt bei ihrer Vision einer immer engeren
Union der Völker Europas ihre Kollegen mitgerissen
haben und sie dafür begeistern konnten, sind ebenso
vorbei. Sie sind vorbei, seit Rotgrün Deutschland in Europa repräsentiert.
({7})
Es reicht eben nicht, statt einer funktionsfähigen Regierung eine regierende Bastelgruppe zu haben.
({8})
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heute
vor einem Desaster in den deutsch-französischen Beziehungen. Generationen von Kanzlern und Außenministern haben hierauf besonders geachtet. Mißverständnisse, Desinteresse und Ärger bestimmen die Beziehungen
zwischen Schröder und Jospin.
({9})
- Ich wäre vorsichtig, hierüber nur zu lachen. Ich halte
Ihnen nur einmal vor, was „Die Woche“ gerade geschrieben hat: „Die Kernachse Europas steht vor dem
Zusammenbruch.“ Und Ihr ehemaliger Bundeskanzler
Helmut Schmidt spricht in der „Zeit“ vom 12. August
1999 von einer „gefährlichen Entwicklung“.
({10})
Das ist leider die Realität. Angesichts dessen nützt es
auch nichts, daß der Außenminister versucht, nach einem Treffen mit seinem französischen Kollegen so zu
tun, als sei alles wieder im Lot. Die Zeit des Einflusses,
die Zeit der Impulse ist leider vorbei. Die Europapolitik
droht unter dieser Regierung zu einem europapolitischen
Klein-Klein zu werden. Schade!
Selbst auf die Gefahr hin, daß ich mir vom Kollegen
Schily wieder die erregte Zwischenfrage einhandle, ob
ich bereit sei, zur Kenntnis zu nehmen, daß in a, b, c, d,
e, f und g kleine Fortschritte erzielt worden seien, daß in
Tampere hier und da eine etwas gewagtere Formulierung gefunden worden sei und daß die SchröderRegierung auch nichts dafür könne, daß in Europa alles
so kompliziert sei, möchte ich hier feststellen: Viel war
ja nicht in Tampere, nicht wahr?
Zwei konkrete Punkte: Eurojust und Grundrechtekonvent; ansonsten nur Absichtserklärungen und Arbeitsaufträge, aber keine Vereinbarung für eine gerechte
Lastenverteilung in der Flüchtlingsfrage, keine Harmonisierung der asylrechtlichen Standards, sondern nur
noch Mindestbedingungen, kein europäisches System
zur Registrierung von Fingerabdrücken, keine europäische Staatsanwaltschaft.
({11})
Das Projekt Grundrechtekonvent gehört in meinen
Augen zu den positiven Aspekten von Tampere - ich
unterstreiche das ausdrücklich -, und meine Fraktion
will in diesem Projekt mitarbeiten. Es stellt eines der
großen Ziele dar, die wir uns in den letzten Jahren gesetzt haben. Doch schon beim Thema „burden sharing“
konnte keinerlei Einvernehmen mit den Partnern über
eine gerechte Lastenverteilung erzielt werden. Mit der
immer proklamierten Berücksichtigung deutscher Interessen hat das Ergebnis von Tampere in dieser Frage nun
wahrlich nichts zu tun.
Es sollte ja ein europäischer Rechtsraum geschaffen werden; so hat man vor diesem Gipfel regierungsamtlich angekündigt. Wir hatten, um noch einmal daran
zu erinnern, in den Art. 61 ff. der Amsterdamer Verträge
Regelungen zum Aufbau eines Raumes der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts eingefügt. Leider ist in Tampere nichts Konkretes hinzugekommen. Ich überfliege
jetzt einmal mit Ihnen, wenn Sie gestatten, den Text in
Abschnitt VI der Schlußfolgerungen von Tampere im
Bereich der Verben: „würden“, „sollte“, „sollte“, „fordert“, „sollte“, „würden“, „könnte“, „sollten“, „sollten“,
„ersucht“, „sollte“, „sollten“.
({12})
Ich kann mir schon richtig vorstellen: Da zittern die
Kriminellen Europas, wenn sie das lesen.
({13})
Viel Wortgeklingel, aber nichts Konkretes im Bereich
der inneren Sicherheit. Es ist gut, daß Europol jetzt seine Arbeit aufgenommen hat. Aber wir dürfen bei dem
Erreichten nicht stehenbleiben. Das muß weiterentwikkelt werden. Am Ende der Entwicklung - da bin ich
ganz sicher - muß es so etwas wie ein europäisches FBI
geben. Europol muß operative Befugnisse haben. Es
muß operationell tätig werden, vor allem im Sinne einer
Koordinierung und Initiierung von konkreten nationalen
und grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen.
Das heißt, ausländische Ermittlungskräfte müssen
sich unter nationaler Leitung aktiv an Ermittlungsmaßnahmen beteiligen dürfen, an Durchsuchungen, an Beschlagnahmen, an Auswertungen von Gesprächen im
Rahmen einer Telefonüberwachung usw. Die deutsche
Strafprozeßordnung muß insofern europäisch ergänzt
und geöffnet werden. Dazu hat es keine nennenswerten
Initiativen unter der deutschen Präsidentschaft gegeben.
Eingefahren wurde also die Ernte, die wir gesät haben,
ansonsten herrscht Stillstand.
({14})
Ein weiteres Thema - der Außenminister hat es angesprochen - war die Erweiterung der Europäischen
Union um die Staaten des östlichen Mitteleuropa, übrigens ein Punkt, der sehr viel mit innerer Sicherheit zu
tun hat. Denn die Europäische Union greift mit der
Osterweiterung in Regionen ein, die Herkunfts- und
Transitländer organisierter Kriminalität und illegaler
Migration sind. Ich will die Risiken, die diese Öffnung
der Europäischen Union nach Osten für die innere
Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
birgt, nicht überzeichnen. Aber ich finde, wir müssen
ganz deutlich sagen: Wir werden nicht erwarten können,
daß die Beitrittskandidaten die Verpflichtungen, die sich
zum Beispiel aus dem Schengener Vertragswerk zur
inneren Sicherheit und zur Grenzsicherheit ergeben, aus
dem Stand und ohne Hilfestellung erfüllen können.
Zu den größten Herausforderungen der Mitgliedstaaten gehört es deshalb, die Beitrittskandidaten auf diesem
Weg aktiv zu begleiten und zu fördern, ja - das ist ein
Vorschlag, den ich hier heute unterbreite -, sie bereits
jetzt zu beteiligen und einzubeziehen, damit sie die
Chance haben, überhaupt dieses Niveau zu erreichen.
Die Bundesregierung hat sich während der deutschen
Präsidentschaft dieser Aufgabe nicht gestellt. Das Versäumte ist wahrscheinlich schwer nachholbar.
Aber es gibt natürlich gerade auch in diesem Zusammenhang wichtige, ja, zentrale Fragen. Wir wollen an
der Schwelle zur Erweiterung der Europäischen Union
nicht vergessen, daß die Frage der europäischen
Flüchtlingskonzeption nicht gelöst, noch nicht einmal
in der Sache angegangen ist. Wir wissen aus unseren
Debatten über die Innenpolitik und die Ausländerpolitik,
wie wichtig es ist, ein konkretes Integrationskonzept zu
erarbeiten, dafür zu sorgen, daß ein Konzept vorliegt,
das eben nicht zu ungeordneter Zuwanderung und Überbelastung führt, sondern verhindert, daß bei uns die
Integrationsbereitschaft sinkt und damit die Integrationsbedingungen schwieriger werden. Es kann nicht dabei bleiben, daß es kein europäisches Flüchtlingskonzept
gibt, das nicht Deutschland den Hauptteil der Lasten und
Kosten beläßt und zugleich das humanitärste Land der
Union, nämlich die Bundesrepublik Deutschland, als Ort
der Fremdenfeindlichkeit erscheinen läßt.
Es hat nennenswerte Fortschritte zu einer europäischen Lastenverteilung in bezug auf Flüchtlinge in
Tampere nicht gegeben. Nun lese ich heute mit großem
Interesse, daß der Bundesinnenminister in einem Interview an seiner Auffassung festhält, in Deutschland seien
die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung überschritten. Ja, dann frage ich: Warum haben Sie in Tampere nicht versucht, konkreter weiterzukommen, anstatt
hier in Deutschland Interviews zu geben, in denen Sie
die Zuwanderung beklagen und sagen, die Grenze der
Belastbarkeit sei überschritten?
({15})
Wahrscheinlich werden wir die Frage auch einmal
von der anderen Seite betrachten müssen. Ich glaube,
nach den Erfahrungen von Tampere ist es an der Zeit, zu
fragen, woran es denn eigentlich liegt, daß Deutschland
in diesem Bereich in Europa sehr, sehr einsam dasteht.
Unsere europäischen Partner haben doch nicht in jeder
Hinsicht Unrecht, wenn sie zögern, Deutschland Lasten
in der Asyl- und Flüchtlingspolitik abzunehmen. Ist es
denn, werte Kolleginnen und Kollegen, so falsch, wenn
unsere europäischen Partner sagen: „Wenn Deutschland
den größten Teil aller Asylbewerber und Flüchtlinge der
Europäischen Union abbekommt, dann lockt es offenbar
mehr als andere Staaten diese Menschen an? Deutschland ist selbst schuld, daß durch sein Sozialhilferecht für
Asylbewerber der größte Teil nach Deutschland
kommt.“
({16})
Alle unsere europäischen Partnerländer sind, wie wir
wissen, Gott sei Dank, offene westliche Demokratien
und Rechtsstaaten. Wenn es trotzdem den überwiegenden Teil aller nach Europa kommenden Asylbewerber
nach Deutschland zieht, dann muß das doch andere
Gründe haben. Das hat offensichtlich etwas mit unserem
Leistungsniveau zu tun.
({17})
Wieso eigentlich sollen die anderen Europäer ihr jeweiliges Asylrecht dem deutschen Recht anpassen oder
Teile der deutschen Lasten übernehmen? „Burden sharing“, Lastenteilung, ist ja für die weniger Belasteten
Lastenaufbürdung. Nicht das Recht der anderen EUPartner führt zu Problemen, sondern das deutsche, und
nicht die europäischen Partner bringen das europäische
Gleichgewicht durcheinander, sondern Deutschland mit
seinem überaus großzügigen Asyl- und Sozialrecht.
({18})
Müßte man nicht umgekehrt geradezu fordern, daß
Deutschland von seinen europäischen Nachbarn lernt
und die Sozialleistungen für Asylbewerber endlich dem
europäischen Standard anpaßt? Niemand wird die Art,
wie Staaten wie Dänemark oder Österreich, wie Portugal
oder Irland, wie Frankreich oder Großbritannien mit
Flüchtlingen umgehen, als inhuman bezeichnen. Warum
kann Deutschland sich das denn nicht zum Vorbild
nehmen? frage ich. Wir müssen uns endlich freimachen
von dem Ansatz, am deutschen Asylrechtswesen müsse
die Welt genesen. Ich glaube, das wird noch zu einer
schwierigen Debatte führen.
Denjenigen, die jetzt auf der linken Seite des Hauses
Zwischenrufe gemacht haben, empfehle ich, das Interview des Herrn Bundesinnenministers zu lesen. Wenn
ich das richtig verstanden habe, dann ist er bereit, über
die Leistungen für Asylbewerber nicht nur kontrovers zu
diskutieren und sie auf europäisches Niveau herunterzufahren, sondern gleichzeitig im Bereich des Asylrechts
auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention über die
Frage der Grundrechtsabsicherung nachzudenken. Wir
sind bereit, diese Diskussion zu führen, weil es zu einer
europäischen Angleichung bei der Belastung mit
Flüchtlingen und Asylbewerbern kommen muß.
({19})
Meine Damen und Herren, diese Debatte findet ja in
einer Woche statt, in der auch über einen Jahrestag diskutiert wird, nämlich über ein Jahr rotgrüne Regierung.
Ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, daß der Bundeskanzler auf einer Krisenveranstaltung der SPD am
Dienstag in Moers gesagt hat:
Das ist schon ein ziemlich schwerer Job. Ich frage
mich manchmal, warum ich damals am Tor des
Kanzleramts gerüttelt habe.
Richtig, Herr Bundeskanzler! Das fragt sich das deutsche Volk seit einem Jahr.
({20})
Hätten Sie sich das früher gefragt, wäre Deutschland
manches erspart geblieben.
({21})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beim Anhören
der Rede des Vorredners drängte sich mir immer wieder
die Frage auf, ob Sie, Herr Kollege Rüttgers, überhaupt
zur Europapolitik oder Tampere reden wollten.
({0})
Nichts zum Amtsantritt von Solana, nur pauschale und
neben der Sache liegende Kritik an den großen Fortschritten beim Aufbau eines gemeinsamen Raumes der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und sonst fast
nichts, außer einer erstaunlichen Urheberrechtsbehauptung zur Grundrechtscharta. Herr Kollege Rüttgers, denken Sie doch bitte einmal in Ruhe darüber nach,
({1})
ob es den Interessen unseres Landes dient, wenn Sie
- im Gegensatz zur früheren Opposition - die Europapolitik zum Schlachtfeld innenpolitischer Streitereien
und landespolitischer Profilierungsversuche machen.
({2})
Übrigens zeigt Ihre Sprachkritik an den Formulierungen
von Tampere, daß Sie bis vor kurzem und während all
der Jahre der Kohl-Regierung keine europäischen Texte
gelesen haben können.
({3})
In einem Punkt allerdings stimmen wir überein: Der
Beschluß des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer
Charta der Grundrechte ist eines der erfreulichsten
Ergebnisse von Tampere. Ich will meine Ausführungen
auf dieses Thema konzentrieren. Zu den einzelnen
Schlußfolgerungen für die europäische Justiz- und Innenpolitik werden sich die beiden zuständigen Ressortminister ausführlich äußern. Es ist das Verdienst von
Otto Schily und Herta Däubler-Gmelin und auch von
Außenminister Joschka Fischer, daß Tampere insgesamt
ein großer Erfolg geworden ist.
({4})
Der Beschluß des Europäischen Rats zur Grundrechtscharta führte die im März 1999 unter deutscher
Präsidentschaft verabschiedeten Schlußfolgerungen des
Kölner Gipfels aus. Dadurch ist ein großer Schritt zur
Verwirklichung einer Forderung gelungen, die im Deutschen Bundestag erstmals im Juni 1995 von der SPDFraktion erhoben und ausführlich begründet worden ist.
Erfreulicherweise haben sich bereits im Dezember 1995
alle Fraktionen des Deutschen Bundestages dieser Forderung angeschlossen. Wir hatten damals auf die verbreitete Europamüdigkeit hingewiesen und die Frage gestellt, ob nicht eine Vision notwendig sei, mit der wir
der Union neue Ausstrahlung geben könnten. Deshalb
haben wir gefordert, dem EU-Vertrag eine Charta europäischer Menschen- und Bürgerrechte oder - in unserer
deutschen Terminologie - einen europäischen Grundrechtskatalog voranzustellen. Damit haben wir versucht,
eine Diskussion wiederzubeleben, die es seit Jahren im
Europäischen Parlament immer wieder einmal gegeben
hatte. Ich erinnere nur daran, daß das Europäische Parlament 1984 in seinem Spinelli-Entwurf die Verabschiedung eines Grundrechtskatalogs gefordert hatte. Fünf
Jahre später verabschiedete das Parlament einen ersten
Beschluß eines einheitlichen Grundrechtskatalogs, in
dem sich Menschenrechte, demokratische und soziale
Grundrechte wiederfinden.
Die Geschichte und Theorie der Grundrechte zeigt,
daß es sich bei dem nunmehr unwiderruflich eingeleiteten Prozeß nicht um folgenlose Grundrechtsrhetorik
handelt. Ein Gemeinwesen, das sich ausdrücklich zum
Schutz der Grundrechte verpflichtet, gewinnt eine tiefe
Legitimation. Nur ein solches Gemeinwesen kann mit
Solidarität und Akzeptanz rechnen. Aber vor allem haben Grundrechte eine Konsensfunktion. In ihnen werden
gemeinsame Wertvorstellungen zum Ausdruck gebracht.
Eine dem Grundrechtsschutz ausdrücklich und sichtbar
verpflichtete Europäische Union wird mehr noch als in
der Vergangenheit eine Signalwirkung nach außen, aber
auch nach innen hinsichtlich der weiteren Integration
Europas haben.
Vor der erwähnten Bundestagsdebatte hatte ich im
Frühjahr 1995 einen vorläufigen Diskussionsentwurf
einer Grundrechtscharta erstellt, der in der Folgezeit
zum Thema von Workshops und Diskussionsveranstaltungen wurde, auf denen ich wertvolle Kritik und viel
Zustimmung erhalten habe. Aber wir haben darauf verzichtet, einen solchen Entwurf im Bundestag einzubringen und zu einer Bundestagsdrucksache zu machen, weil
wir den Eindruck vermeiden wollten, daß sich die Deutschen als Oberlehrer in Fragen der Menschen- und Bürgerrechte aufspielen wollen. Diesen Eindruck sollten wir
tunlichst vermeiden.
Ich habe keinen Zweifel daran, daß sich das einzusetzende Gremium auch mit unserem Grundgesetz und den
Grundrechtskatalogen der Verfassungen nicht zuletzt der
neuen Bundesländer beschäftigen wird. Dieselbe Aufmerksamkeit werden auch die Grundrechtskodifikationen anderer europäischer Mitgliedstaaten finden. So hat
etwa Finnland 1995 einen umfangreichen Grundrechtskatalog verabschiedet. Ich nenne als weiteres Beispiel
die Verfassung der Republik Portugal von 1992, die in
68 Artikeln eine ganze Reihe eindrucksvoll formulierter
Grundrechte und Grundpflichten enthält. Der Gedanke,
daß es nicht nur Grundrechte, sondern auch mit ihnen
korrespondierende Grundpflichten gibt, bedarf nach
meiner Überzeugung vertiefter Erörterungen. Die praktische Bedeutung erschließt sich jedem ohne weiteres, der
sich zum Beispiel für die Einführung eines sozialen
Grundrechts auf Arbeit einsetzt.
Wir alle wissen, daß die skizzierten Forderungen im
Amsterdamer Vertrag, an den wir 1995 eigentlich gedacht hatten, nicht realisiert wurden. Es gab lediglich
eine gewisse Konkretisierung und Erweiterung des früheren Art. F des EU-Vertrags im heutigen Art. 6 des
Amsterdamer Vertrags. Von einer Grundrechtscharta
konnte noch keine Rede sein. Der Durchbruch - hier gebührt Bundeskanzler Gerhard Schröder ein besonderes
Verdienst - gelang erst auf dem Kölner Gipfel. Dies ist
ein bleibendes Verdienst der deutschen Präsidentschaft,
das auch vom Bundestag vorbehaltlos anerkannt werden
muß.
({5})
Wir haben dann vor wenigen Wochen durch einen
Beschluß nach § 93a unserer Geschäftsordnung der Regierung für Tampere Aufträge erteilt, die mit der Verbindlichkeit nach Art. 23 unserer Verfassung ausgestattet waren. Was ist aus diesen Aufträgen geworden?
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Auch hier gebührt der Bundesregierung uneingeschränktes Lob. Das
hätte der Kollege Rüttgers fairerweise auch einmal zum
Ausdruck bringen können.
({6})
Ich gehe auf unseren Beschluß ein. Die Anzahl der
Mitglieder des nunmehr vorgesehenen Gremiums entspricht bis auf einen zusätzlichen Abgeordneten des
Europaparlaments, was wir nur begrüßen können, exakt
unseren Vorstellungen. Die von uns gewünschte Beteiligung der Beitrittskandidaten wird durch den vorgesehenen Gedankenaustausch zwischen dem Gremium oder
dem Vorsitzenden und den Beitrittsländern sichergestellt. Die von uns allen geforderte Transparenz der Beratungen ist dadurch gewährleistet, daß die Sitzungen
des Gremiums und die in diesen Sitzungen unterbreiteten Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen. Außerdem ist vorgesehen, daß neben den Beobachtern der beiden europäischen Gerichte sowie des Europarates auch sonstige Gremien, gesellschaftliche Gruppen oder Sachverständige gehört werden.
Am schwierigsten war aber die Durchsetzung unserer
Forderung, daß das Gremium selbst seinen Vorsitzenden
wählen sollte. Mit unserer ergänzenden Forderung, der
Vorsitz solle während der Ausarbeitung der Charta in
einer Hand bleiben, hatten wir uns gegen einen wechselnden Vorsitz der jeweiligen Präsidentschaft gewandt.
Deshalb ist es nach anfänglichen Schwierigkeiten noch
im vorbereitenden allgemeinen Rat äußerst erfreulich,
daß sich beim Gipfel im Tampere unsere Forderung
durchgesetzt hat. Das ist von ganz zentraler Bedeutung
vor allem auch wegen der außerordentlich weitreichenden Rechte, die der Vorsitzende erhalten soll. Er soll
nämlich bereits dann den Entwurf der Charta dem Europäischen Rat im Wege des üblichen Verfahrens zuleiten,
wenn er im engen Benehmen mit seinen Stellvertretern
zu der Auffassung gelangt, daß der von dem Gremium
ausgearbeitete Entwurf für alle Seiten zustimmungsfähig
ist; ein gewiß ungewöhnliches Verfahren, das die Stellung des Vorsitzenden außerordentlich stark macht.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unseren
Beschluß, wonach dem Europäischen Parlament und den
nationalen Gesetzgebungsorganen eine hervorragende
Bedeutung bei der Ausarbeitung der Grundrechtscharta
zukomme - ich zitiere aus unserem Beschluß -, „weil es
sich hierbei um eine Aufgabe der Volksvertretungen
handelt“. Daraus folgt für mich, daß das Gremium, das
aus 46 Parlamentariern und aus 16 weiteren Mitgliedern,
also zu etwa drei Vierteln aus Abgeordneten besteht,
auch einen Abgeordneten zum Vorsitzenden wählen
sollte. Nach meiner persönlichen Meinung sollte dies ein
Abgeordneter des Europäischen Parlaments sein.
({7})
Bei aller Freude über das in Tampere Erreichte bleiben selbstverständlich noch etliche Fragen offen. Ich
will einige nennen.
Bei einem kürzlichen Treffen von Abgeordneten der
Europaausschüsse, der nationalen Parlamente der EU
und des Europaparlaments wurde von einigen Kollegen
die Auffassung vertreten, es reiche doch eigentlich aus,
den insbesondere durch die Europäische Menschenrechtskonvention erreichten Grundrechtsschutz nebst
der dazu ergangenen Rechtsprechung der beiden Europäischen Gerichtshöfe in einem gut lesbaren Dokument
zusammenzufassen. Zwar habe der Europäische Gerichtshof festgestellt, daß die EU mangels eigener
Rechtspersönlichkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht beitreten könne. Das verhindere
aber nicht, daß man diese Konvention gewissermaßen zu
einem nur leicht modifizierten EU-Vertragsdokument
macht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es kann
nach meiner Auffassung nicht zweifelhaft sein, daß die
Konvention eine wichtige Grundlage der zu erarbeitenden Charta sein wird, aber sie reicht keineswegs aus.
Erstens ist der Grundrechtsschutz der Europäischen
Menschenrechtskonvention lückenhaft. Sie garantiert
beispielsweise nicht die Unantastbarkeit der Menschenwürde oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder die
für eine Kulturgemeinschaft nach meiner Auffassung
konstitutive Kunst- und Forschungsfreiheit oder das
Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung oder gar
Dr. Jürgen Meyer ({8})
Grundrechte der sogenannten dritten Generation wie etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Zweitens. Die Europäische Union kann durch die
mehr oder weniger unveränderte Annahme einer Konvention des Europarates von 1950 kaum eine unverwechselbare und eigenständige Legitimation gewinnen.
Drittens. Es geht in der Charta selbstverständlich
nicht nur um Menschenrechte, sondern auch um Bürgerrechte der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen
Union. Als Beispiel nenne ich nur das aktive und passive Wahlrecht oder die Freizügigkeit.
Eine weitere noch klärungsbedürftige Frage betrifft
die Verbindlichkeit der in der Charta niedergelegten
Grundrechte. Ohne die Öffnung eines Rechtsweges zum
Europäischen Gerichtshof in Luxemburg würde das
ganze Unternehmen zunächst Hoffnungen wecken und
am Ende in tiefer Enttäuschung enden. Der historische
Beleg dafür ist die Geschichte der Grundrechte der
Weimarer Reichsverfassung, die bekanntlich nicht in
diesem Sinne einklagbar waren.
Zur Verbindlichkeit der Charta gehört selbstverständlich auch, daß es nicht eine bloße Resolution wird.
Die Charta sollte deshalb zum ersten Teil des EUVertrages gemacht werden. Die praktische Folge wäre,
daß die europäischen Verträge, wie wir es nennen, verfassungskonform, also chartakonform ausgelegt werden
müssen.
In diesem Zusammenhang muß auch die Reichweite
der Grundrechtscharta reflektiert werden. Neben der
bereits erwähnten Funktion als Auslegungsinstrument
der europäischen Verträge stellt sich nämlich die Frage,
wer in erster Linie durch die Charta als deren Adressat
verpflichtet werden soll. Es wird nach meiner Auffassung wahrscheinlich hilfreich sein, klarzustellen, daß
dies die europäischen Institutionen sind. Mit der Forderung, die Bürokratie in Brüssel besser als bisher zu kontrollieren, findet man jedenfalls auch bei denen, die dem
Unternehmen Grundrechtscharta skeptisch gegenüberstehen, nachhaltige Zustimmung.
Wer Transparenz fordert, der muß sich auch selbst
bemühen, sie herzustellen. Diese Aufforderung richtet
sich nicht nur an das einzurichtende Gremium; vielmehr
ist es auch Sache der Parteien, der Gewerkschaften, der
Kirchen und der gesellschaftlichen Institutionen, einen
öffentlichen Diskussionsprozeß anzustoßen und zu führen. Im Bundestag sollten wir eine überfraktionelle Gesprächsrunde einrichten, die allen daran interessierten
Abgeordneten Gelegenheit gibt, ihre Beiträge einzubringen.
Nach einem derartigen öffentlichen Diskussionsprozeß könnte es durchaus sinnvoll sein, ein EU-weites Referendum über die Grundrechtscharta durchzuführen.
({9})
Damit könnten alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zum Ausdruck bringen: Wir sind nicht
nur eine Wirtschaftsgemeinschaft; vielmehr sind wir alle
Bürgerinnen und Bürger einer europäischen Wertegemeinschaft.
({10})
Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem
Kollegen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der polnische Präsident hat nach dem Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin in einer Rede in dieser
Stadt darauf hingewiesen, daß europäische Fortschritte
immer davon abhängig waren, daß in der deutschen Innenpolitik Geschlossenheit herrschte und daß große
Projekte gemeinsam unterstützt wurden. Er warnte vor
der großen Gefahr, Europa falle international zurück,
wenn aus Deutschland nicht weiterhin starke Integrationsimpulse kämen.
Das letzte große Projekt, die Vollendung der Währungsunion - ein Glanzstück der früheren Regierung aus
Union und F.D.P. -, wurde trotz massiver Warnungen
von Herrn Schröder, Herrn Biedenkopf und Herrn Stoiber pünktlich verabschiedet. Am Ende dieses Jahres
kann man sagen: Der Euro ist nach innen stabil; er ist
nach außen auf dem Weg zu einer zweiten Weltwährung
neben dem Dollar, und - darin folge ich Herrn Fischer der Euro als Währungsunion bedarf der Vertiefung und
der politischen Integration. Professor Issing, der Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, und auch das
Bundesverfassungsgericht haben immer darauf hingewiesen: Ohne weitere Vertiefung, ohne weitere Fortschritte der politischen Union ist eine Währungsunion
auf Dauer nicht legitimiert.
({0})
Der Sondergipfel in Tampere war eine Chance zur
weiteren Vertiefung, zur Stärkung des dritten Pfeilers.
Aber diese muß, unabhängig von Prüfaufträgen, Aufforderungen und Absichtserklärungen, mit der gleichen
Durchschlagskraft vorangetrieben werden wie damals
die Vollendung des Binnenmarktes und die Währungsunion.
({1})
Das Ergebnis ist offen. Meine Kollegin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wird darauf eingehen.
Wie steht es sonst um wichtige deutsche Europaprojekte? Wir erinnern uns an eine sehr gute Rede von Ihnen, Herr Fischer, im Mai 1999 vor dem Europaparlament: Vision von Paneuropa, schnelle Osterweiterung,
schnelle Vertiefung, politische Verfassung, politische
Union als Ziel. Heute hat die Europapolitik der neuen
Dr. Jürgen Meyer ({2})
Regierung wenig Ergebnisse, wenig Substantielles vorzuweisen.
({3})
Das deutsch-französische Verhältnis ist gestört, auch
wenn es immer wieder Treffen von Intellektuellen und
Künstlern gibt. Die Hinwendung von Herrn Schröder zu
Herrn Blair hat weder uns in Deutschland innere Reformen noch hat sie England dem Euro-System näher gebracht. Sie hat im Grunde nur Mißtrauen in Frankreich
gesät, Herr Fischer.
({4})
Dies ist auf Dauer für die weitere Integration von großem Nachteil. Derzeit gibt es kein großes gemeinsames
deutsch-französisches Projekt, was wir sonst immer
hatten. Zuletzt war dies die Währungsunion.
({5})
Die Liste der Konflikte wird immer größer. Das beginnt
in der Agrarpolitik und bei den Verhandlungen in der
WTO.
({6})
Die Franzosen haben zum ersten Mal nicht unterstützt,
daß die deutsche Sprache Verhandlungssprache ist. Der Rüstungskonzern - im Fernsehen haben wir es erlebt - war von der Industrie vorbereitet. Herr Schröder
und Herr Jospin waren die Notare von wirtschaftlichen
Veränderungen in Europa, aber dies war nicht politisch
vorangetrieben. - In Zukunft wird vom deutschfranzösischen Verhältnis gerade auch aus Polen sehr viel
mehr erwartet werden.
Das andere wichtige Projekt ist die Osterweiterung.
Sie hat strategische Bedeutung. Leider ist es unter der
deutschen Präsidentschaft nicht gelungen, entscheidende
Verhandlungserfolge zu erzielen. Das gilt auch für die
Frage des Datums, Herr Fischer, ich habe es immer gesagt. Sie nähern sich jetzt der Datumfrage langsam an,
aber das Ziel, am 1. Januar 2002 erweiterungsfähig zu
sein, haben Sie noch nicht erreicht. Das Problem ist, daß
der Widerstand in den Reformländern zunimmt. Schauen Sie sich nur einmal die innenpolitische Situation in
Polen an! Ohne Datum wird auch in Deutschland der
Widerstand gegen die Osterweiterung zunehmen. Das
Menetekel der PDS, die Erfolge von Herrn Haider und
von Herrn Blocher zeigen europaweit, daß wichtige europäische Integrationsprojekte wie der Euro oder wie der
Binnenmarkt mit der Unterstützung der Eliten zu einem
bestimmten Datum schnell vollendet werden müssen,
wenn der Widerstand nicht zunehmen soll. Es wird eine
große Aufgabe der Eliten in Deutschland sein - nicht
nur der Politiker, sondern auch der Wissenschaftler, vor
allem auch der Industrie -, für die Osterweiterung zu
werben und deutlich zu machen, daß sie im besten strategischen Interesse Deutschlands ist,
({7})
daß die Angst vor dem Wettbewerb eben nicht gerechtfertigt ist, daß die Agrarreform durchgeführt werden
muß, und zwar nicht wegen Polen, sondern damit die
Westeuropäer in sich wieder handlungsfähiger werden
und mehr Geld für Forschung und Innovation ausgeben
können. Darin sehe ich auch eine große Aufgabe aller
demokratischen Parteien. Die Bevölkerung muß darauf
vorbereitet werden, daß die Osterweiterung europapolitisch geboten und wirtschaftlich sinnvoll ist und daß sie
den Menschen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa Sicherheit gibt.
({8})
Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren. Das
Verhältnis zur Türkei. Herr Fischer, Sie können nicht
einerseits den Beitrittsstatus ankündigen und andererseits keine Verhandlungen aufnehmen. In der Türkei
wird natürlich registriert, daß jetzt gleichzeitig mit Ländern wie Bulgarien und Rumänien konkret verhandelt
wird, während die Verhandlungen mit der Türkei überhaupt nicht beginnen. Meine Damen und Herren, entweder hat man Vertrauen in die innere Entwicklung der
Türkei, dann muß man auch zu einer militärischen Zusammenarbeit im Rahmen der NATO bereit sein, oder
aber man muß generell ehrlicher gegenüber der Türkei
sein, sonst führt das Ganze zum jetzigen Zeitpunkt zu
weiteren Enttäuschungen.
({9})
Ich schließe, indem ich sage: Die Osterweiterung und
die Vollendung der politischen Union bleiben Ziele
meiner Fraktion. Je mehr Sie hier erreichen, um so größer wird unsere Unterstützung sein.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun die
Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Rüttgers, ich muß zuallererst auf Ihre
Äußerungen zur Türkeipolitik des Außenministers reagieren. Diese Äußerungen waren wirklich schwer zu ertragen, lieber Herr Rüttgers; denn in der Vergangenheit
war doch gerade Ihre Türkeipolitik doppelbödig und
heuchlerisch. Von Menschenrechten war immer nur
dann die Rede, wenn es politisch opportun war. Gleichzeitig haben die Rüstungsgeschäfte floriert. Es wurden
der Türkei ja sogar die alten NVA-Gerätschaften in einem großen Akt der Freundschaft geschenkt, weil das
billiger war, als diese NVA-Geräte hier zu verschrotten.
Das ist heuchlerisch, Herr Rüttgers.
({0})
Dr. Helmut Hausmann
Über 30 Jahre lang wurde der Türkei keine glaubwürdige Beitrittsperspektive eröffnet.
({1})
In Luxemburg wurde ihr die rote Karte gezeigt.
({2})
- Hören Sie einmal zu! ({3})
Es wurde gerade in Ihren Kreisen, Herr Rüttgers, laut
darüber spekuliert - ich finde das gar nicht so amüsant -,
ob ein Land, dessen Bevölkerung in der Mehrheit moslemisch ist, überhaupt Platz in der Europäischen Union
hat, ob also die Europäische Union der Hort des christlichen Abendlandes ist.
Ich glaube, die Europäische Union basiert nicht auf
der Religion, sie basiert auf Laizismus, auf Demokratie,
auf Menschenrechten und auf Rechtsstaatlichkeit. Ihre
Politik war heuchlerisch, deswegen Vorsicht mit solchen
Bemerkungen.
({4})
Es geht also darum, verspielten Einfluß zurückzugewinnen, um in der Türkei wieder eine Dynamik der Veränderung hin zu Demokratie und Menschenrechten zu
schaffen. Genau das soll der Kandidatenstatus verdeutlichen. Es geht darum, daß Einfluß zurückgewonnen wird,
daß dieser Status Impulse in der Türkei für den Demokratisierungsprozeß gibt. Der Kandidatenstatus ist nicht
der Beitritt. Der Kandidatenstatus ist keinesfalls der
Stempel, mit dem die Türkei zur Demokratie erklärt
wird. Deswegen besteht kein Widerspruch zu einer
restriktiven Rüstungsexportpolitik. Das war meine
Anmerkung, Herr Rüttgers. Ich kann es Ihnen, wenn
Sie einmal nicht telefonieren, auch persönlich erklären.
({5})
Als Europaabgeordnete konnte ich viele Jahre lang
leidvoll erfahren, wie weit Europa von den Menschen
weg ist. Spätestens bei den Europawahlen hat sich mein
Eindruck bestätigt, daß Europa in ziemlich schlechter
Verfassung ist. Die Wahlbeteiligung war auf einem historischen Tiefpunkt angekommen. Dabei sind die Europäerinnen und Europäer keineswegs demokratiemüde, wie so
oft beklagt wird. Ich glaube, das Problem liegt woanders:
Die Demokratie in Europa wurde bislang noch gar nicht
richtig geweckt. Die europäische Demokratie schläft, und
wenn sie alle fünf Jahre einmal an einem Sonntag aufwacht, kann man nicht erwarten, daß alle Leute parat stehen, um sie jubelnd zu begrüßen.
Die Zukunft dieses Europas basiert eben nicht auf
dem Wechselkurs des Euro, sondern darauf, daß die
Bürgerinnen und Bürger beim Zusammenwachsen Europas ihre Ideen und ihre Kreativität überhaupt einbringen können. Dafür braucht die Europäische Union schon
sehr lange eine regelrechte Demokratieoffensive. Sie
braucht ein bürgerrechtliches Fundament, und sie
braucht einen verfassungsgebenden Prozeß, der identitätsstiftend wirken kann.
Die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen
Union sind eben nicht nur eine Frage der Quantität der
teilnehmenden Länder, sondern sie sind auch eine Frage
der Qualität - der Qualität dessen, was man an Werten
postuliert und was man den Bürgerinnen und Bürgern an
Rechten garantiert. Das wird dann dazu beitragen, daß
die Menschen wieder wissen, warum sie dieses Europa
überhaupt wollen sollen.
Wann ist ein Gipfel erfolgreich? Ich messe den Erfolg
von Tampere nicht nur daran, ob man in feierlichen Erklärungen und Reden bzw. in den Präambeln von
Schlußfolgerungen der Verwirklichung des Europas der
Bürgerinnen und Bürger tatsächlich näherkommt, sondern auch daran, ob er ganz konkrete Schritte hin zum
Europa der Bürgerinnen und Bürger macht.
In Tampere ging es, wie es die Vorredner schon angesprochen haben, um die Schaffung eines Raums der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem „die
Grundsätze der Transparenz und der demokratischen
Kontrolle tragende Elemente sein sollen“ und in dem
„ein offener Dialog mit der Bürgergesellschaft über die
Ziele und Grundsätze dieses Raums entwickelt werden
muß, um eine bessere Akzeptanz und mehr Unterstützung seitens der Bürger zu erreichen“. - Die Herausforderungen und die Anforderungen sind richtig beschrieben. Denn Partizipation, demokratische Teilhabe und
Demokratie sind in Europa keine Vision, sondern eine
Überlebensfrage.
Der Weg dorthin ist noch sehr weit. Ich glaube, auf
Grund wichtiger Entscheidungen in Richtung Demokratisierung kann Tampere wirklich Erfolge vermelden. Die
Grundrechtscharta zum Beispiel bedeutet ein gemeinsames Bewußtsein von Rechten. Professor Meyer hat
sich bei Bundeskanzler Schröder bedankt; lassen Sie
mich nachdrücklich die Initiative von Joschka Fischer in
Köln erwähnen - wir danken also beiden -, die dazu
beigetragen hat, daß es zu einem Ja zur Erarbeitung
einer solchen Charta gekommen ist und daß nun in
Tampere sehr konkrete Strukturen beschlossen worden
sind, der Startschuß also gemacht worden ist.
Ich habe fünf Wünsche, die bei der konkreten Ausarbeitung dieser Charta verwirklicht werden sollten. Erstens. Sie muß glasklar, verständlich und einklagbar
sein. Sie sollte allen EU-Vertragswerken vorangestellt
werden, und sie sollte die Europäische Menschenrechtskonvention zur Basis haben.
Zweitens. Für die Demokratisierung der EU ist es unerläßlich, daß dem EuGH auch in den eingriffsintensiven Bereichen der polizeilichen Kooperation und im
Ausländer- und Flüchtlingsrecht uneingeschränkt Kontrollrechte eingeräumt werden. Ich finde es sehr überlegenswert, den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof in
den Instanzenweg des Grundrechtsschutzes der EU mit
Claudia Roth ({6})
einzubinden, wie es Professor Simitis jüngst vorgeschlagen hat.
Drittens. Die Grundrechte müssen für alle Menschen
in der Europäischen Union gelten. Es darf keine Hierarchisierung in Menschen erster, zweiter und dritter Klasse geben. Alle Menschen in der Europäischen Union
müssen gleich sein. Die Unionsbürger sind nicht gleicher.
({7})
Viertens. Die Grundrechtscharta darf den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht hinterherhinken. Sie
darf nicht als geschlossenes, statisches Projekt begriffen
werden. Grund- und Menschenrechte sind weiterzuentwickeln, zum Beispiel in den Bereichen der ökologischen Rechte oder der neuen Technologien, wo es keine
hinreichenden Schutzinstrumente gibt.
Fünftens. Alte Fehler dürfen nicht wiederholt werden:
Die Ausarbeitung einer solchen Charta kann nicht nur
Sache von Regierungsvertretern, Abgeordneten und
Verfassungsrichtern sein. Sie muß vielmehr von einer
breiten europäischen Öffentlichkeit geschrieben werden.
Sie muß Ergebnis eines großen Diskussions- und - im
besten Sinne des Wortes - Aneignungsprozesses sein.
Vorgesehen ist leider lediglich, daß das Erarbeitungsgremium gesellschaftliche Gruppen oder Sachverständige anhören kann. Die mit diesem Thema befaßten Ausschüsse im Bundestag waren in ihren Empfehlungen
weitergegangen.
Lassen Sie mich kurz einige Punkte zur europäischen
Flüchtlingspolitik nach Tampere erwähnen. Ende letzten Jahres hat der Europäische Rat die sogenannte
„Hochrangige Gruppe Asyl und Migration“ eingesetzt,
die jetzt Ergebnisse in Form von Aktionsplänen präsentiert hat. Der Aktionsplan Irak wurde unter Federführung des deutschen Auswärtigen Amtes erarbeitet. Er
ergänzt den letztjährigen Aktionsplan der EU durch begrüßenswerte Eckpunkte für eine humane Flüchtlingsund Migrationspolitik dadurch, daß Menschenrechte in
den Herkunftsländern ebenso gestärkt werden sollen wie
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Konfliktprävention
und Versöhnungsarbeit sollen unterstützt, und die soziale und wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder soll
gefördert werden. Darin wird eine Politik beschrieben,
die an den Fluchtursachen ansetzt, die die Fluchtursachen bekämpfen will und die sich auf das individuelle
Grundrecht auf Asyl und auf das Prinzip der Schutzgewährung zurückbesinnt.
Ich möchte zum Schluß herzlich darum bitten, daß
wir uns nicht in ein paar Stunden zurückzulehnen und
sagen: Der Gipfel ist vorbei. Wir haben eine gute Europadebatte geführt. Zurück zur eigentlichen Politik! Gut
ist eine Europadebatte nämlich nur dann, wenn wir es
schaffen, das auf nationaler Ebene umzusetzen, was wir
von Europa verlangen: eine Renaissance, eine Neuwertigkeit der Grundrechte. Europa fängt zu Hause an. Wer
nämlich von den Rechten aus dem Grundgesetz nicht
begeistert ist, wird sich auch für Grundrechte in Europa
nicht begeistern lassen.
In diesen Zeiten wird häufig von Modernität gesprochen. Diese Grundrechte sind das Allermodernste, was
wir haben. Ohne sie ist Europa nicht zukunftsfähig.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun die
Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Kollegin Roth, natürlich teile ich Ihre
Kritik an den Scharfmacherthesen, die Herr Rüttgers
heute morgen vorgetragen hat. Sie sind aber gleichzeitig
in einem Spagat dem Außenminister zur Seite gesprungen, obwohl gerade die grüne Partei bezüglich der ersten
Lieferung von Leopard-Panzern - nicht zu vergessen die
deutsche Hilfe bei der Herstellung von chemischen Waffen - an die Türkei eingeknickt ist. Das ist kein Ruhmesblatt für diese rotgrüne Bundesregierung.
({0})
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage zum Einsatz
chemischer Waffen in der Türkei ist nachzulesen, wo
Herr Fischer gelogen hat. Er hat gesagt, daß er von der
deutschen Beteiligung nichts wußte. All das konnte man
gestern abend an Hand der Recherchen von „Kennzeichen D“ verfolgen.
Manchmal muß man sich fragen, über welche Konferenz wir hier eigentlich diskutieren. Die Konferenz hatte
sich die Aufgabe gestellt, einen einheitlichen Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union in Angriff zu nehmen. Was hat der Gipfel
tatsächlich gebracht?
Ich beginne mit dem Beschluß zur Grundrechtecharta. Eine solche Grundrechtecharta ist meines Erachtens längst überfällig. Deshalb ist es wichtig, daß sie
erneut beschlossen wurde. Ich möchte einmal aus der
„Süddeutschen Zeitung“ zitieren. Dort hieß es:
Solange die EU so konstruiert ist, dass sie, wenn sie
Beitrittskandidat wäre, mangels demokratischer
Verfasstheit abgelehnt werden müsste, kann man
ihr guten Gewissens Straf- und Eingriffsrechte
nicht geben.
Ich komme noch einmal zur Grundrechtecharta, weil
ich meine, daß es wichtig wäre, eine breite öffentliche
Beteiligung und Mitwirkung gesellschaftlicher Organisationen an der Erarbeitung dieser Charta zu erreichen.
Wir wollen verhindern, daß am Ende eine feierliche Deklaration herauskommt, wie es beispielsweise noch auf
dem Gipfel in Köln geheißen hat. Die EU-Charta der
Grundrechte muß vielmehr für alle in der EU lebenden
Menschen soziale und politische Grundrechte verbindlich und einklagbar festschreiben. Sie muß also Bestandteil der EU-Verträge werden. So weit, so gut.
Der Schwerpunkt auf dem Gipfel in Tampere war jedoch ein anderer. Im Vordergrund stand die Migrations- und Flüchtlingspolitik. Hier dominierte eine reClaudia Roth ({1})
pressive Politik, nämlich der Ausbau des Repressionsapparates und letztendlich die Verfolgung von Flüchtlingen. In Tampere war es Aufgabe, eine Harmonisierung der Flüchtlings- und Migrationspolitik in der EU,
wie sie im Amsterdamer Vertrag festgeschrieben ist, in
Angriff zu nehmen. Für uns heißt das: Verbesserung der
wirtschaftlichen und rechtlichen Situation der Flüchtlinge in Europa sowie offene Grenzen für Menschen in
Not. Das bedeutet ganz konkret: keine Abschiebungshaft
für Flüchtlinge, Aufhebung des Arbeitsverbots für
Flüchtlinge, Verbesserung der Situation von Kindern
und jugendlichen Flüchtlingen, Anerkennung frauenspezifischer Fluchtgründe, Anerkennung nichtstaatlicher
Verfolgung als Fluchtgrund - also entsprechende Änderung des § 51 des Ausländergesetzes.
Wie groß der deutsche Handlungsbedarf gerade hier
ist, zeigt auch die Kritik anderer Länder an der Bundesrepublik Deutschland. Die Zeitschrift „Neue Juristische
Wochenschrift“ berichtet zum Beispiel, daß das höchste
britische Berufungsgericht am 23. Juli dieses Jahres die
Bundesrepublik für Flüchtlinge, die vor nichtstaatlicher
Verfolgung fliehen, als kein sicheres Drittland eingestuft
hat. Wir hoffen, daß die Revision dieses Urteil bestätigt,
damit sich die deutsche Bundesregierung endlich Gedanken über diese Kritik macht.
Hat nun Tampere auf irgendeinem Gebiet eine Verbesserung für Flüchtlinge gebracht? Sicher, denn in
Tampere wurde beschlossen, die Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt und allumfassend anzuwenden. Man höre und staune! Eine Haltung, die
eigentlich seit Jahren selbstverständlich sein sollte, wird
in Tampere noch einmal durch einen Beschluß bekräftigt. Ich habe Ihnen aber schon gestern im Innenausschuß gesagt, daß das nicht alles gewesen sein darf.
Auf dem praktischen Gebiet der Flüchtlingspolitik
sollen nach Tampere nun die Arbeiten an einem System
der Identifizierung - wir haben es heute schon gehört,
Herr Rüttgers - fortgesetzt werden. Dadurch werden einige weitere Verschärfungen vorgenommen. Die Fingerabdrücke der Asylbewerber sollen nämlich jetzt auch
über Europol mit der Datenbank Eurodac erfaßt werden.
In Deutschland werden Deutsche dieser erkennungsdienstlichen Behandlung eigentlich nur dann unterzogen, wenn sie für Verbrecher gehalten werden. Das
schürt nach unserer Meinung Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Wir lehnen die Anwendung dieser Methoden im Umgang mit Flüchtlingen entschieden ab.
({2})
Ich frage Sie: Warum schaffen Sie eigentlich keine
EU-weite Datei gegen Konkursbetrüger, Steuerflüchtlinge und Börsenschinder? Nein, solche Systeme - ich
wiederhole es - gibt es nur für den Umgang mit Flüchtlingen. Nichts dokumentiert deutlicher, daß Tampere für
die Flüchtlingspolitik keine Besserung gebracht hat,
sondern statt dessen das Konzept der Abschottung der
Festung Europa leider weiter Bestand hat. Auch die
weiteren in Tampere beschlossenen Maßnahmen zur
Flüchtlingspolitik sind in erster Linie repressiv ausgelegt
und dienen der Stärkung der Abschottungspolitik. Ich
nenne die stärkere Kontrolle der Außengrenzen durch
ausgebildete Fachkräfte und den Auftrag an die Kommission, Rücknahmeübereinkommen mit Drittländern
auszuhandeln, um Flüchtlinge schneller abschieben zu
können.
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat im Zusammenhang mit Tampere erklärt, daß das deutsche Asylrecht
besonders großzügig sei. Ich möchte Sie daran erinnern:
Allein in diesem Jahr sind 38 Menschen an der Ostgrenze zu Tode gekommen. Sie ertranken in der Oder, erfroren im Gebirge oder verunglückten irgendwo in Wäldern
oder auf Straßen. Wie kann man da von einem großzügigen Asylrecht sprechen?
({3})
Wie die Situation bei von nichtstaatlicher Verfolgung
Betroffenen aussieht, ist in diesen Tagen wieder in Thüringen deutlich geworden. Ich möchte Ihnen dazu ein
Beispiel bringen: Eine in Lettland lebende Frau, die sich
um KZ-Überlebende kümmerte, selbst als Kind in einem
deutschen Konzentrationslager überlebte, deren Vater
von den Nazis in Bergen-Belsen ermordet wurde, war
nach Deutschland geflohen, weil sie in Lettland von
Neonazis verfolgt wurde. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, weil keine staatliche Verfolgung erkennbar sei.
Diese 57 Jahre alte Frau wäre nächsten Montag gewaltsam von der Polizei abgeschoben worden, wenn sie
nicht aus panischer Angst ihre freiwillige Ausreise bekanntgegeben hätte.
Auch in bezug auf die Migrationspolitik sind die Ergebnisse unbefriedigend. Immerhin wurde in Tampere
beschlossen, die Rechtsstellung von Drittstaatangehörigen an die von EU-Bürgerinnen und -Bürgern anzugleichen. 30 Jahre und länger leben diese Menschen zum
Teil in Europa. Trotzdem hat man sie noch nicht gleichberechtigt integriert. Wir werden weiterhin dafür kämpfen, daß diese Menschen wirklich die gleichen Rechte
und nicht, wie es heißt, annäherungsweise diese Rechte
erhalten. Trotzdem reicht auch hier das Beschlossene bei
weitem nicht aus. Wir werden noch viel Arbeit vor uns
haben.
Daß in der Innen- und Rechtspolitik der EU die repressive Seite dominiert, zeigen auch die Beschlüsse zu
Europol. Wie es zu befürchten war, wird Europol weiter
ausgebaut. Die Behörde soll künftig auch bei Verdacht
auf Geldwäsche tätig werden. Bei verschiedenen Strafvorwürfen sollen gemeinsame Ermittlungsteams unter
Einschluß von Europol-Beamten gebildet werden. Sogar
eine Task-Force der europäischen Polizeichefs soll es
geben. Nebenbei frage ich mich, wer eigentlich der
deutsche Polizeichef ist. Dabei gibt es bis heute keine
Rechtsschutzlinie für das Schengener Durchführungsabkommen von 1990. Die EU-Datenschutzrichtlinie von
1995 ist noch nicht in das deutsche Recht umgesetzt
worden.
Die Beratung all dieser Punkte wäre auf dem Gipfel
von Tampere eigentlich wichtig gewesen. Wie soll sich
künftig eine EU-Bürgerin oder ein EU-Bürger zur Wehr
setzen, wenn ihre oder seine Daten unberechtigt in den
Speicher von Europol geraten sind? Wo bleibt die parlamentarische Kontrolle, die gerade die Parteien der jetzigen Regierungskoalition gemeinsam mit uns und mit
Teilen der F.D.P. in der vergangenen Legislaturperiode
immer wieder eingefordert haben? Über all diese Punkte
gab es keine Beschlüsse auf dem Gipfel von Tampere.
Wir hoffen, daß die nächsten Konferenzen diese Punkte
auf die Tagesordnung setzen.
Ich fasse zusammen. Wer sich von Tampere einen
Fortschritt für die Bürger- und Menschenrechte erhofft
hatte, der ist im großen und ganzen enttäuscht worden.
Das Demokratiedefizit der EU dauert an. Die Situation
von Flüchtlingen wurde nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die Abschottungspolitik der EU gegen
Menschen, die aus sozialer und politischer Not zu uns
fliehen, wurde fortgesetzt. Dieses Ergebnis können und
werden wir nicht akzeptieren. Deswegen haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt, dem Sie hoffentlich
zustimmen werden.
Danke.
({4})
Ich erteile nun der
Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Gipfel von Tampere war ganz unbestreitbar ein Erfolg:
ein Erfolg für Europa und auch für die deutsche Regierungspolitik, aber vor allem ein Erfolg für das Europa
der Bürgerinnen und Bürger und für das Europa des
Rechts, das wir wollen.
({0})
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich bin
ganz sicher, Sie wären froh, Sie hätten in den vergangenen 16 Jahren die Ergebnisse der Gipfel von Köln und
Tampere erzielen können.
({1})
Lassen Sie mich gleich eine Bemerkung zu dem machen, was Sie Herr Kollege Rüttgers, gesagt haben. Von
innenpolitisch, nur mit Blick auf das Tagesgeschäft
agierenden Politikern kann Europa zwar keinen Dank,
aber doch etwas mehr Ernsthaftigkeit erwarten.
({2})
Ich bin der Auffassung, daß man peinliche Wortverdrehungen, mit denen man die Türkei vom Beitrittskandidaten zum „Beitragskandidaten“ abstempelt, möglichst
unterlassen sollte. Man sollte auch nicht - ich zitiere den
Kollegen Rüttgers nochmals - den „Verlust von Größe“
bejammern. Ich war immer der Meinung, daß im Bundestag parteiübergreifender Konsens darin besteht, daß
sich unser Land durch Kooperation und durch gute
Nachbarschaft in Europa auszeichnen soll.
Man sollte auch nicht in dem flapsigen Stil eines
Jahrmarktredners über Europa sprechen. Wer so mit Europa und mit den Ergebnissen des Gipfels, den die finnische Präsidentschaft ausgerichtet hat, umgeht, der zeigt,
daß es ihm nicht um Europa geht. Der praktiziert doch,
was der Kollege Rüttgers dann kritisiert, nämlich „teutonische Arroganz“, und genau die führt zu Einsamkeit
in Europa, Kollege Rüttgers, die wir uns auf keinen Fall
leisten können und auch gar nicht leisten wollen, wenn
es uns mit Europa ernst ist.
({3})
Der Gipfel von Tampere - ich sagte es schon - war
für Europa und für die deutsche Politik ein Erfolg, vor
allem aber war er ein Erfolg für das Recht und das
Rechtsdenken in Europa. Der deutliche Fortschritt in
dem Bereich der Innen- und Rechtspolitik wird durch
den Beschluß des Gipfels von Köln zur Grundrechtscharta, durch die Neuregelung der Voraussetzungen für
die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rechts- und Innenpolitik, die mit dem Amsterdamer Vertrag in Kraft
getreten ist, und durch den Wiener Aktionsplan markiert.
Das ist aber nicht alles. Wir haben auch einen Fortschritt bezüglich der Schaffung eines einheitlichen
Rechtsraums in Europa erzielt. Wir haben damit eine
neue Stufe auf dem Weg zu einem Europa erreicht, das
nicht alleine durch einen gemeinsamen Wirtschaftsraum
und eine gemeinsame Währung gekennzeichnet ist, sondern auch durch eine demokratische und soziale Rechtsordnung, die wir alle wollen.
Gerade deshalb ist das so wichtig, worüber Außenminister Fischer geredet hat und was auch der Kollege
Meyer bereits angesprochen hat, nämlich die Entscheidung, eine Grundrechtecharta nicht nur zu erstellen,
sondern sie im Jahre 2000 feierlich zu deklarieren, das
heißt in Kraft zu setzen. Ich füge hinzu: Selbstverständlich entspricht es der deutschen Politik und insbesondere
dem, was diese Bundesregierung und die Mehrheit
dieses Hauses wollen, daß diese Grundrechtecharta als
erster Teil den europäischen Verträgen vorangestellt
wird.
({4})
Das, meine Damen und Herren, bedeutet nämlich
dreierlei: Das macht deutlich, daß nicht nur bei uns in
Deutschland, gebunden an unsere Verfassung und an
unsere Rechtsordnung, sondern eben auch in Europa der
Mensch im Mittelpunkt steht. Das stärkt zum zweiten
das Grundrechtedenken und damit auch die Grundrechtsbindung in Europa. Darüber hinaus schafft das
- das ist gerade jetzt ein ganz wichtiger Punkt - mehr
Bürgerbewußtsein und damit mehr europäische Identität.
Meine Damen und Herren, die Fortschritte im Justizbereich, - ich würde den Kollegen Rüttgers gerne bitten,
sich etwas mehr mit diesen Fragen zu befassen - sind
ganz praktisch.
({5})
- Sie haben es gerade nötig! - Natürlich ist es so, Herr
Kollege Rüttgers, daß dies alles umgesetzt werden muß.
Daß ausgerechnet Sie das kritisieren, habe ich allerdings
nicht verstanden. Wenn Sie hier um der billigen Effekte
willen Verben vorlesen, dann haben Sie wahrscheinlich
noch gar nicht erkannt, daß gerade im Bereich der Innen- und Rechtspolitik Ihre Regierung alles dafür getan
hat, jede einzelne nationale Kompetenz so sorgfältig gehütet hat, wie ihren Augapfel. Das heißt, die Tendenz,
nationale Vorbehalte zu betonen und sie beizubehalten,
war ein Kennzeichen Ihrer Politik.
({6})
Ich habe das übrigens zum Teil verstanden, weil ich
der Meinung bin, daß alles, was im Bereich der Innenund Rechtspolitik vergemeinschaftet werden soll, und
auch die Harmonisierung die strenge Bindung berücksichtigen muß, die wir aus unserem Rechtsstaatsprinzip
und aus der Grundrechtebindung abzuleiten gewohnt
sind.
Aber jetzt, wo es zum erstenmal wirklich gelungen
ist, nicht nur das Ziel des gemeinsamen europäischen
Rechtsraums zu beschreiben, sondern auch Schritte zu
formulieren, zu kritisieren, das sei alles nur „könnte,
wollte und sollte“, und das müsse alles noch umgesetzt
werden, zeugt nicht direkt davon, daß Sie es ernst meinen mit der Aufgabe, die wir auf dem Weg zu einem
einheitlichen Europa des Rechts noch vor uns haben.
({7})
Wir werden diesen Weg gehen. Wir verlassen uns
darauf, daß diejenigen Teile der Opposition, die es ernst
mit Europa meinen und die es auch ernst meinen mit einer demokratischen und sozialstaatlichen Rechtsordnung, uns darin unterstützen.
Tampere hat aber auch ganz praktische Fortschritte
für die Bürgerinnen und Bürger gebracht. Ich will, damit
es überhaupt keinen Zweifel daran gibt, fünf aufzählen.
Das fängt damit an, daß die Europäische Kommission
verpflichtet wurde, bessere Informationen über die Justiz
der jeweiligen Mitgliedstaaten zu erstellen. Man fragt
sich wirklich, warum das nicht schon längst passiert ist.
Natürlich bedeutet das, daß sich jedes einzelne Land
daran beteiligen muß - jawohl, das ist so - und daß das
alles dann in eine Form gebracht werden muß, die Bürgerinnen und Bürger einen Nutzen bringt, zum Beispiel
dann, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat in Verkehrsunfälle verwickelt werden, wenn es Familienstreitigkeiten über die Grenzen hinweg gibt, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat irgend etwas kaufen und es
entweder dort oder dann, wenn sie aus den Ferien zurück sind, kaputtgeht, aber natürlich auch dann - auch
das kommt ja vor -, wenn sie in einem anderen Staat
Opfer von Straftaten werden. Dann stellen sich die Fragen: An wen kann ich mich wenden? Wo bekomme ich
Hilfe? Wie ist das Justizsystem in den anderen Ländern
aufgebaut? Wer hilft mir bei der Durchsetzung meiner
berechtigten Ansprüche? Darum geht es bei dem, was in
Tampere beschlossen worden ist. Und genau hier haben
wir eine Menge erreicht. Es steht noch eine Menge vor
uns. Aber wir kommen auf diesem Weg weiter.
Weitere - das ist der zweite Punkt - wichtige praktische Auswirkungen sind beschlossen worden. Es geht
nicht nur um das Wissen über den Umgang mit der Justiz des anderen Staates. Man muß vielmehr auch die
nötigen finanziellen Mittel haben, um Zugang zu den
Gerichten zu bekommen. Ich spreche hier von der Prozeßkostenhilfe, die es in Deutschland gibt, aber in anderen Ländern bisher nicht. Wir haben erreicht, daß es jetzt
einheitliche Mindestregelungen in jedem Land Europas
geben soll. Dies ist schwierig; das wissen wir ganz genau. Hierbei geht es weniger um nationale Vorbehalte,
sondern es geht um Geld. Daß es in unserer Zeit schwer
ist, dies zu erreichen, ist klar. Aber die Verpflichtung ist
seit Tampere auch Teil des europäischen Rechts. Das ist
gut.
Es geht weiterhin - das ist der dritte Punkt - um die
Anerkennung und die Vollstreckung von Gerichtsurteilen und anderen Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen. Das klingt gut, ist aber schwer durchzusetzen,
was nötig wäre. Wer ein Gerichtsurteil in Frankreich,
Finnland oder in Portugal erstritten hat, möchte natürlich, daß dieses hier bei uns anerkannt wird und auch
vollstreckt werden kann. Umgekehrt legen wir ebenso
großen Wert darauf, daß es dann, wenn zum Beispiel ein
Portugiese einen Deutschen in Portugal verklagt hat,
einheitliche Mindeststandards an Verfahrensgarantien
und an Rechtsstaatlichkeit gibt und diese auch eingehalten werden. Das macht jeden Fortschritt ziemlich
kompliziert und schwierig. Aber es ist richtig, die Zielvorstellung in den Vordergrund zu rücken. Es ist auch
richtig zu sagen: Wir brauchen dazu Zeit. Die Staaten
müssen hierfür eine ganze Menge an Vorarbeit leisten,
ehe wir weiterkommen.
Die Einführung eines europäischen Mahnverfahrens - das ist der vierte Punkt - wird wahrscheinlich
sehr viel kurzfristiger gelingen, und für die Geschäftswelt in ganz Europa erhebliche Fortschritte mit sich
bringen. Deswegen, meine Damen und Herren, lassen
Sie es nicht zu, daß die Bürgerinnen und Bürger meinen,
es würde hier nur mit Worten wie „sollen“, „würden“,
„können“ geklingelt oder mit kleiner Münze gehandelt.
Nein, es geht um ganz praktische Dinge, wenn wir von
dem einheitlichen Rechtsraum Europa reden. Wir sind in
Tampere ein gutes Stück weitergekommen.
Das ist auch bei dem fünften Punkt, nämlich der Errichtung der Zentralstelle Eurojust, so. Sie soll der
Kriminalitätsbekämpfung dienen. Das ist ganz wichtig;
keine Frage. Sie soll der Zusammenarbeit und der Koordinierung von Staatsanwaltschaften und Gerichten der
verschiedenen Mitgliedstaaten dienen. Dies ist wichtig,
weil dadurch Rechtshilfeersuchen, Auslieferungsersuchen und die Entscheidung von Rechtsfragen in Europa
künftig viel schneller gehen.
Wir sind der Meinung, daß die justitiellen Netze, die
wir heute haben, auf eine gute Weise durch Eurojust ergänzt werden. Das ist ein Fortschritt. Aber wir meinen
auch, daß die Kompetenzen von Eurojust erweitert werden können und müssen.
({8})
Hierin sind wir uns mit anderen EU-Mitgliedstaaten
einig. Es ist nicht so, daß wir die Einsamen sind. Das
wird man nur durch Arroganz. Es gibt hier entsprechende Absprachen mit anderen Staaten, die dies auch wollen und deutlich sagen. Zum Ziel: Wir in Deutschland
haben als Ausfluß unseres Rechtsstaatsprinzips und der
Rechtsstaatsbindung in unserem Land die Trias von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten. Das macht einen
Teil unseres Rechtsstaats aus. Wir wollen, daß auch Europa Schritt für Schritt durch diese Ordnung, durch diese
Rechtsstaatlichkeit geprägt wird. Dieses Ziel haben wir
vor Augen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt noch
einmal darauf zurückkommen, warum dies alles so
wichtig ist und warum es auch wichtig ist, daß wir uns
mit dem Respekt, den auch ein kleines Land wie Finnland verdient, Herr Rüttgers, mit Europa und seinen
Fortschritten befassen. Wir brauchen Europa, weil wir
eine friedliche, eine freiheitliche und eine wirtschaftlich
gute Zukunft für unsere Region wollen. Daran besteht
kein Zweifel. Es geht nicht, daß wir uns dabei auf ein
Europa der Wirtschaft, ein Europa der Währung oder ein
Europa anderer Politikbereiche begrenzen. Es muß
vielmehr ein Europa des Rechts und der Bürgerrechte
sein.
({9})
Lassen Sie mich deutlich sagen: 1999 ist und war ein
Jahr, in dem wir uns an besonders viele Ereignisse unserer Geschichte erinnern, die mit der Bindung von politischer Macht an Recht und der Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte in Staat und Gesellschaft zu tun haben. Das ist nicht nur das Grundgesetz,
das dafür ja die Grundlage geschaffen hat, sondern beispielsweise auch die Paulskirchenverfassung von vor
150 Jahren.
Diese Ereignisse haben unser Rechtsdenken, unser
Gefühl für Recht und Gerechtigkeit und unsere Rechtskultur in Deutschland ganz entscheidend geprägt. Wir
wollen sie in ein einheitliches Europa mitnehmen, in ein
Europa der Bürger und ein Europa des Rechts.
({10})
Ich möchte gerne mit den Worten eines jener Großen
- Carlo Schmid - schließen, die damals dafür gesorgt
haben, daß sich die nationale Entwicklung bei uns in der
Bundesrepublik Deutschland so glücklich vollziehen
konnte, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen
hat. Denn Carlo Schmid hat auch zum Thema Europa
gesagt, was wichtig ist. Er hat zugleich all die Zauderer,
die meinen, man könne sich in Details verirren, sich
damit begnügen, billig darüber zu spotten, damit zur
Ordnung gerufen.
Er hat gesagt:
Wir alle irren, wenn wir glauben, wir könnten Europa schaffen, indem wir es halb schaffen. Wenn
Europa werden soll, dann muß man aufs Ganze gehen, dann muß man Europa zu einer ökonomischen,
politischen und konstitutionellen Einheit machen.
Carlo Schmid hat auch in diesem Punkt recht. Wir arbeiten weiter an diesem Ziel, und Tampere war ein
wichtiger, ein erfolgreicher Schritt.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Manfred Kanther, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine verehrten Damen! Meine Herren! Nach Tampere,
nach den G-8-Begegnungen, nach einem Jahr, in dem
die deutsche Europapolitik und die europäische Sicherheitspolitik, was die deutsche Mitwirkung angeht, ganz
besonders wichtig waren, nach einem Jahr SchengenPräsidentschaft, EU-Präsidentschaft und G-8-Präsidentschaft möchte ich einige Anmerkungen zur europäischen
Sicherheitspolitik machen - ein Thema, das die Menschen außerordentlich interessiert, ein Thema, das Sorgen auslöst, ein Thema, das für die europäische Glaubwürdigkeit, für die Akzeptanz des europäischen Gedankens von höchster Bedeutung ist und emotional
vor mancher Frage aus dem Wirtschaftsbereich rangiert.
Herr Außenminister, ich halte Ihnen nicht vor, daß in
internationalen Begegnungen und internationalen Vereinbarungen Flockigkeiten vorhanden sind, daß es dort
Phrasen gibt, daß man einen Dissens zunächst verbirgt
und manches auf die lange Bank schiebt. Man muß nur
wissen, daß man das getan hat. Das Papier strotzt von
diesen Dingen.
Ein Beispiel: Der Europäische Rat betont, wie wichtig es ist, das Drogenproblem auf umfassende Weise anzugehen. - Richtig. Aber die dort Versammelten sollten
sich dem Problem der verheerenden holländischen Drogenpolitik stellen!
({0})
Aber kommt Zeit, kommt Rat. Ich will Sie nicht überfordern; wir haben es ja auch nicht ändern können. Das
Problem besteht jedoch.
Deshalb meine erste Forderung: Die Bundesregierung
muß jetzt diese Obersätze, von denen ich nicht viele
falsch finde, mit Leben erfüllen. Sie muß ihnen nachgehen. Es gibt gute Richtungsweisungen, aber es muß
Fleisch an den Knochen. Es darf nicht bei den Phrasen
bleiben.
Ich will noch einen kleinen Punkt herausgreifen: Eurodac, das Flüchtlinge betreffende Identifizierungsverfahren als Erfüllung Dubliner Verpflichtungen, ist offenkundig auf dem gleichen Stand wie vor zwei Jahren,
als ich es mühsam auf die Birminghamer Agenda im
Hinblick auf die weiteren Präsidentschaften geboxt habe. Es ist noch immer nicht konsentiert; Ziffer 17 weist
dies aus. Dranbleiben, selbst an kleinen Dingen, ist also
alles!
Zweite Bemerkung. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß vieles, was an Phraseologie in der rotgrünen
Politiklandschaft zum Thema Asyl- und Flüchtlingswesen jahrelang hier umgegangen ist - die Justizministerin
ist, wenn es um den Austausch von Verbalinjurien in
dieser Frage ging, kaum zu überbieten gewesen -, wohl
hinter uns liegt. Sei es drum: Sollte es tatsächlich hinter
uns liegen, wäre ich darüber froh.
Angesichts dessen, was etwa in den Ziffern 23 und 24
zur Bedeutsamkeit der Grenzsicherung gesagt wird,
fordere ich Sie, Herr Außenminister, auf, sich von der
Phrase zu trennen, die da lautet: „Wir wollen keine Festung Europa.“ Das war ein völlig fehlerhafter Begriff
aus vergangenen Zeiten, und das will auch überhaupt
niemand. Aber eine Sicherung der Grenzen von EUEuropa wollen wir ganz entschieden.
({1})
Das erwächst einem nicht aus Worten, sondern aus Taten: zum Beispiel aus der Unterstützung der südosteuropäischen Regierungen hinsichtlich ihrer Justiz- und Polizeisysteme. Das kostet Geld, Aus- und Fortbildung und
tatkräftige Unterstützung - es ist richtig, Herr Innenminister, daß Sie dies in einem kleinen Punkt in Mazedonien gerade getan haben -, und das zeigt, daß diese Bundesregierung Antworten und nicht nur Obersätze schuldet.
Wenn man das Papier liest und die Regierungsmitglieder, die, wie Frau Däubler-Gmelin, eine Fachverantwortung haben, dazu reden hört, dann gelangt man zu
der Auffassung, daß es keine Richtungsangaben für die
deutsche Politik gibt. Was wird denn jetzt daraus? Ist
sich Rotgrün darin einig, daß ihre frühere Politik zum
Thema Asyl, Flucht- und Wanderungsbewegung mitsamt der Reflexe für die innerdeutsche Situation, was
Kriminalität und insbesondere organisierte Kriminalität
angeht, falsch war und jedenfalls von Tampere an auch
nicht mehr Konsens in EU-Europa ist? Die vereinigten
Sozialdemokraten aller europäischen Länder, die sich ja
auch in Tampere getroffen haben, soweit sie den nationalen Regierungen angehören, sind nicht der Glaubensmeinung, die früheren rotgrünen Absprachen zu diesem
Thema zugrunde lag. Die Gewährleistung von Grenzsicherheit ist ein elementarer Punkt auch für die innenpolitische Situation in Deutschland.
({2})
Ich werfe Ihnen, Herr Schily, nicht vor, daß Sie das
Thema „burden sharing“ bislang nicht weiterbringen
konnten, als wir es auch konnten. Es ist nicht verwunderlich, daß andere europäische Staaten die Tatsache,
daß im wesentlichen die Deutschen, die Österreicher
und - außerhalb der EU - die Schweizer die Lasten
schultern, für einen bequemen Zustand halten. Man muß
weiter daran bohren und zugleich dafür sorgen, daß im
Inland die Konditionen dafür geschaffen werden, daß
die Illegalität nach Kräften gedämpft wird.
({3})
Man muß also wirksame innenpolitische Systeme gegen
den Asylmißbrauch aufbauen, der ja nach wie vor ein
zehntausendfacher ist. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung habe ihren Frieden mit 100 000 Asylbewerbern pro Jahr gemacht. Man hört gar nichts mehr davon, wie diesbezüglich die Bemühungen weitergehen
sollen.
Sie fordern in dem Papier mit Recht Anstrengungen
der südeuropäischen Nachbarn und Bündnis- und EUPartner. Es taucht die Frage nach der Sicherung der südeuropäischen Seegrenzen auf. Papier ist geduldig; das
sieht man auch am Adria-Abkommen zwischen Italien
und Griechenland. Wie geht die Bundesregierung vor,
um das Papier sachlich zu unterfüttern und daran mitzuhelfen, daß die Seegrenzsicherung besser wird? Ich verlasse diesen Punkt und sage nur, daß es hier Vollzugsanforderungen an die deutsche Politik gibt.
Die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen ist
ein höchst wichtiger Punkt, ebenso die Forderung nach
gemeinsamen Rechtsvorschriften. Dazu gibt es viele
Einzelfragen: verbessertes Auslieferungsverfahren, einfache Überstellungsverfahren, Eilverfahren in der Überstellung. Ich stelle auch die Frage nach der Vollstrekkung von Haftbefehlen in Europa, nach der Nutzung von
Erkenntnissen aller Polizeien durch alle Polizeien und in
allen Strafverfahren, nach europäischen Vollstreckungstiteln und nach der Verbesserung der Situation von Europol; bei letzterem geht es um gemeinsame Teams und
operative Kompetenzen.
Ziehen wir darunter einen Schlußstrich, gelangen wir
zu der Frage an die Bundesregierung und an meinen geschätzten Nachfolger im Amte des Innenministers: Wie
lauten die Zeitpläne und Handlungsabsichten der Bundesregierung? Haben Sie vor, einen gemeinsamen Arbeitsstab zwischen Justiz- und Innenministerium zur
Abarbeitung des Gipfels von Tampere einzurichten?
Haben Sie dafür einen Zeitplan? Werden Sie den Handlungsbedarf in gesetzgeberischer, administrativer und
fiskalischer Hinsicht erfüllen? Wie halten Sie es mit den
Haushaltsfolgen von Tampere, wenn es um die Unterstützung osteuropäischer Länder beim Aufbau tauglicher
Justiz-, Polizei- und Grenzsicherungssysteme geht?
Sie fordern verschämt - Ziffer 25 - speziell ausgebildete Grenzsicherungseinheiten. Richtig! In manchen
Ländern gibt es nur drei oder vier, in manchen sogar gar
keine derartigen Einheiten. Wie halten wir es mit der
EU-Finanzierung? Was war es für eine Mühsal, eine
auskömmliche Europol-Finanzierung durchzusetzen!
Wo sind jetzt entsprechende Ansätze der Bundesregierung in einer langfristigen Planung? - Das sind entscheidende Fragen.
Wenn Sie gestatten, Herr Präsident, jetzt noch zwei
Aspekte, die mir ein besonderes Anliegen sind. Der erste
Aspekt: Bevor nicht auf diese Fragen Antwort gegeben
ist, bevor nicht der Tatsache Rechnung getragen ist, daß
wir als Deutsche unter vielen Aspekten mangelnder Sicherheit in Europa leiden, kann auf diesem Sektor nicht
das Mehrheitsprinzip gelten. Das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip in diesem Sektor ist noch auf längere Sicht notwendig.
Die zweite Bemerkung: Es darf keinen „Rabatt“ in
Sicherheitsfragen geben, nur weil das diplomatisch geschickt erscheint und das Handeln in anderen Bereichen,
etwa ökonomischen Fragen, erleichtert. Es geht nicht,
daß man im Bereich der Sicherheit, zum Beispiel in der
Frage der Freizügigkeit, Rabatt gewährt, bloß weil das
der Diplomatie dient. Denn die Bürger messen an dieser
Frage die Leistungsfähigkeit des EU-Systems.
({4})
Eine letzte Bemerkung: Zu Recht stellen die Schlußziffern 61 und 62 die Bedeutsamkeit einer konsistenten
Außenpolitik für die Sicherheitspolitik fest. Das finde
auch ich; das muß ganz undogmatisch festgestellt werden. Ich glaube, daß man Grenzsicherheit und Schutz
vor illegalen Wanderungsbewegungen - mit all den damit verbundenen Nachfolgeerscheinungen im Inland nicht gewährleisten kann ohne ein schrittweises Mitwirken der Türkei als der Drehscheibe vieler dieser Illegalitäten. Auch bei der Einbeziehung von Nicht-EUAspiranten sollte man undogmatisch auf die Sicherheitsphilosophie von Schengen schauen. 1 200 Kilometer zu sichernde slowakische Grenze - wenn dieser Balkon weiter so nach EU-Europa hineinragt - reduzieren
sich auf 200 Kilometer, wenn nur noch zur Ukraine hin
gesichert werden muß.
Das sind die praktischen Fragen, um die es geht. Zu
diesen praktischen Fragen erwarten wir - wenn auch
nicht sämtlich heute - in den nächsten Monaten von Ihnen nachhaltige Antworten. Wir werden sie bei Ihnen
abfragen.
Danke.
({5})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Kanther, ich muß mich schon sehr über Ihre Rede wundern. Haben Sie sich mit Herrn Rüttgers überhaupt nicht
abgesprochen? Herr Rüttgers erzählt uns, daß Tampere
ein riesiger Flop ist. Nichts sei passiert, nichts sei erreicht worden. Herr Kanther dagegen verlangt von der
Bundesregierung die Umsetzung der vielen konkreten
Beschlüsse von Tampere. Einer von beiden muß sich irren.
({0})
Mit seiner Einschätzung, daß Tampere ein Erfolg war
und daß viele konkrete Dinge vereinbart wurden, muß
ich dem Kollegen Kanther Recht geben, wenn ich einmal das Match in Ihrer Fraktion entscheiden darf.
Allerdings muß ich sagen: Herr Kanther hat das Papier nicht gelesen.
({1})
Denn in vielen Punkten ist die Akzentsetzung nicht so
finster und sinister, wie es in seiner Schreckensrede zum
Ausdruck kam. Vielmehr sind viele fortschrittliche Ansätze enthalten. Da wird nicht einseitig auf Repression,
auf eine Abschottung der Festung Europa gesetzt. Prävention bei der Kriminalpolitik wird ausdrücklich als
ein wichtiger Ansatz erwähnt - etwas, was unter der alten Regierung jahrelang vernachlässigt wurde. Die
Rechte der Opfer von Menschenhandel werden in den
Mittelpunkt gerückt, nicht die Frage, wie man das
Schlepperunwesen bekämpft. Wie hilft man den betroffenen Menschen und macht sie zu Bündnispartnern, anstatt gegen sie vorzugehen, so daß sie Menschenhändler
und Strafverfolgungsbehörden gegen sich gerichtet sehen?
Bei Ihren langen Ausführungen zur Asylpolitik habe
ich kein Wort darüber gehört, daß der Europäische Rat
die Bedeutung bekräftigt, die die Union und deren Mitgliedstaaten der unbedingten Achtung des Rechts auf
Asyl beimessen. Es wird ausdrücklich betont, daß man
sich auf die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt, und
dies findet sich auch in den einzelnen Maßnahmen und
Vereinbarungen.
Diese Perspektive haben Sie verschwiegen, weil Sie
das Grundrecht auf Asyl auf europäischer wie auf nationaler Ebene angreifen. Ich finde es bei einer Partei, die
das „C“ im Namen führt, äußerst verwunderlich, daß Ihnen die Grundrechte von Menschen, die vor Verfolgung
flüchten, überhaupt nichts wert sind.
({2})
Meine Damen und Herren, Europa befindet sich auf
dem richtigen Weg hin zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger. Die Beschlüsse von Tampere haben erfreulicherweise deutlich gemacht: Eine europaweite
kompatible und für die Bürger transparente Rechtsordnung rückt allmählich näher. Das Europa der Märkte
kann so endlich zu einem Europa der Bürger werden,
und ein Europa der Bürger braucht ein solides Fundament der Bürgerrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Hier
war Tampere ein Durchbruch.
Meine Fraktion begrüßt es, daß die EU sich nach der
Schaffung des Binnenmarktes und der Einführung des
Euro nun endlich auch verstärkt der Vereinheitlichung
von Mindeststandards in der Innen- und Rechtspolitik
zuwendet. Ich sage bewußt „endlich“; denn die Bürgerinnen und Bürger erleben sich doch schon länger, ob im
Beruf, auf Reisen, über familiäre Beziehungen oder im
Sport, als Unionsbürger in vielen Lebensbereichen. Im
Bereich der Justizpolitik ist jedoch die Entwicklung hin
zu einer harmonischen europäischen Rechtseinheit in
den letzten Jahren, um es vorsichtig zu sagen, etwas
schleppend verlaufen - und dies nicht immer zum Vorteil der Bürgerinnen und Bürger, im Gegenteil.
Nicht zuletzt die Wahlbeteiligung bei den letzten
Europawahlen - das wurde auch schon angesprochen hat gezeigt: Die Bürger haben das Europa, wie es sich
jetzt darstellt, nämlich als Europa der Bürokratien, als
Europa der Konzerne noch nicht in dem Maße angeManfred Kanther
nommen, wie wir es uns wünschen. Akzeptanz schafft
man aber nicht nur durch offene Grenzen und durch
Freizügigkeit innerhalb der EU für Geldströme und auch
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch
indem man die Bürger von einem anständigen europäischen Rechtsschutzsystem überzeugt, einem Rechtsschutz, der den veränderten Realitäten gerecht wird.
Das Europa der Bürger und nicht nur der Märkte ist das hat Tampere ganz deutlich gemacht - nicht nur ein
Europa der EU-Bürger. Es ist in dieser Vereinbarung
auch die Frage der Drittstaatler ausdrücklich thematisiert worden. Ich bin sehr froh, daß man hier die Perspektive mit der Annäherung hin zur Gleichberechtigung auch der Drittstaatler im EU-Raum eröffnet und
deutlich gemacht hat: Europa ist keine Festung. Vielmehr verpflichten wir uns auf die Genfer Flüchtlingskonvention und nehmen die Menschen auch auf, die vor
Verfolgung aus anderen Ländern fliehen. Wir müssen
das auf europäischer Ebene besser regeln - aber nicht,
um die Menschen hinauszudrängen, sondern um einen
gleichen Mindeststandard innerhalb der Europäischen
Union zu schaffen.
Wenn wir die Genfer Flüchtlingskonvention so ernst
nehmen, wie das in diesem Papier geschieht, dann wird
das auch Auswirkungen auf das deutsche Asylrecht haben müssen.
({3})
Unser Fluchtbegriff des politischen Asyls ist viel enger
als der Fluchtbegriff, den wir in der Genfer Flüchtlingskonvention vorfinden.
({4})
Bündnis 90/Die Grünen haben schon immer eine verbindliche und einklagbare Grundrechtscharta als
Grundlage und Maßstab für die Europäisierung der
Rechts- und Innenpolitik gefordert. Eine europäische
Verfassung schafft Transparenz und Rechtssicherheit,
und sie unterstreicht, daß die Bürger Rechtssubjekte des
Gemeinschaftsrechts sind. Wir freuen uns deshalb auch,
daß ausgerechnet unter bundesdeutscher Ratspräsidentschaft in Köln die Weichen hierzu gestellt wurden und
jetzt in Tampere die Lokomotive endlich unter Dampf
gesetzt wurde. Man hat den Geist von Köln aufgegriffen. Die Zusammensetzung der Verfassungskommission
steht. Es gibt auch Vorhaben mit konkreten Terminen:
Ende 2000 soll die Charta verabschiedet werden - ein
ehrgeiziges Ziel. Ich hoffe, wir erreichen es.
Eine Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit innerhalb des Gebildes Europäische Union würde zeigen die Kollegin Jelpke hat es auch schon angesprochen -:
So, wie die Europäische Union heute verfaßt ist, würden
wir ihr die Aufnahme in die Europäische Union als Mitgliedsstaat nicht gestatten. Das, was man von den Beitrittskandidaten erwartet, muß die Europäische Union
auch ihren eigenen Bürgern im europäischen Recht gewähren.
({5})
Rechtsvereinheitlichung darf es nicht um jeden
Preis geben. Sie muß differenziert angegangen werden.
Wir müssen aufpassen, daß ein harmonisiertes Recht
auch angemessenen rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt. In diesem Zusammenhang möchte ich Heribert
Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ zitieren: Bisher
ist es in der EU so, daß Rechtsstaat, mit 15 multipliziert,
nicht mehr, sondern erheblich weniger Rechtsstaat ergibt. Darin bestand in der Vergangenheit das Problem.
Das muß im Rahmen der weiteren Entwicklung auf der
Grundlage der EU-Charta anders werden. Vor allem bei
der Vereinheitlichung sensibler Bereiche wie der inneren Sicherheit und der Kriminalitätsbekämpfung ist deshalb ein behutsames Vorgehen geboten. Sicher, nicht
das Verbrechen, sondern seine effektive Verfolgung
scheitert häufig an manchen überflüssigen bürokratischen Hürden, die in den einzelnen Nationalstaaten bestehen. Hier ist mehr Kooperation gefragt.
Die Erweiterung der Kompetenzen von Europol zur
Bekämpfung von Geldwäsche und Geldfälschung kann
für eine wirkungsvollere Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität absolut erforderlich sein. Aber das Handeln von Europol muß wie
das polizeiliche Handeln im Einzelstaat auch jederzeit
juristisch und datenschutzrechtlich überprüfbar sein.
({6})
Gleiches gilt auch für die neugeschaffene europäische
Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit Eurojust.
Auch hier ist die Grundrechtscharta von entscheidender
Bedeutung. Im Hinblick auf Europol ist es notwendig, in
der Grundrechtscharta ein verbrieftes Recht der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf informationelle
Selbstbestimmung zu verankern. Dieses Recht ist bei
Europol gegenwärtig nicht hinreichend durch Kontrollbefugnisse gewährleistet. Die Voraussetzungen dafür,
daß Europol zukünftig auch Eingriffsbefugnisse erhält,
sind die Abschaffung der heute geltenden Immunitätsregelung und die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof wie ein nationales Gericht bei ungerechtfertigten Eingriffen in die Rechte der Bürgerinnen und
Bürger anzurufen. Ich wünsche mir ohnehin, daß der
Europäische Gerichtshof bei der Weiterentwicklung des
Europarechts im justiziellen Bereich dieselbe Rolle
spielen wird wie das Europäische Parlament bei der
Weiterentwicklung der Demokratie in Europa.
({7})
Das Wort hat nun die
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tampere war
dringend notwendig, aber Tampere hat auch Vorläufer.
Ohne den Vertrag von Amsterdam hätte es den Gipfel in
Tampere mit solchen Themen nicht gegeben.
({0})
Volker Beck ({1})
Erlauben Sie mir, an Ihre Erinnerung zu appellieren;
denn die heutigen Regierungsfraktionen haben sich über
den Vertrag von Amsterdam äußerst zurückhaltend,
zögerlich und teilweise ablehnend geäußert.
({2})
Zur Bewertung des Gipfels von Tampere gehört aber
die Einbeziehung des Vertrags von Amsterdam unverzichtbar. Sie wird den Blick auf das lenken, was tatsächlich in den 62 Punkte umfassenden Schlußfolgerungen formuliert ist. Einige Passagen der Schlußfolgerungen sind mit Art. 61, 62 und 63 des Vertrags von Amsterdam identisch. Den Vertrag von Amsterdam, der
einen Stufenplan mit einer Frist von fünf Jahren für die
Umsetzung enthält, sollte man sich noch einmal vor Augen führen, um sich die notwendigen Grundlagen für das
gegenwärtige Handeln zu vergegenwärtigen.
Vor diesem Hintergrund - damit wird das Bild wieder
zurechtgerückt - kann man sagen, daß einige der ganz
wenigen konkreten Entscheidungen richtig sind.
({3})
Das betrifft natürlich die Entscheidung zur Grundrechtscharta. Die F.D.P. hat die Grundrechtscharta
immer als einen Schritt hin zu einer langfristigen Vision
eines zusammenwachsenden Europas und einer europäischen Verfassung formuliert und gefordert.
Ich finde es gut, daß man sich auch hier im Bundestag, der ja leider nur durch einen Abgeordneten in diesem Gremium vertreten sein wird, fraktionsübergreifend
mit diesen Fragen befaßt. Herr Meyer, ich greife gern
Ihren Vorschlag auf, hier eine fraktionsübergreifende
Gruppe zu bilden, in der wir uns beim Einbringen unserer eigenen Formulierungsvorschläge austoben können,
die aber auch folgenden Zweck erfüllen muß: Wir brauchen Öffentlichkeit für diese wichtige Frage. Wenn wir
Bewußtsein für Grundrechte schaffen wollen, dann müssen wir dafür begeistern, dann müssen die Bürger in
Deutschland erkennen, was wir damit verbinden und wie
wir Europa in dieser Hinsicht als Wertegemeinschaft
gestalten wollen.
Ich denke, das gehört dringend auf die Tagesordnung,
denn auch die heutige Debatte verfällt mit Blick auf diese Schlußfolgerungen immer wieder in Technik, in
eurobürokratische Formulierungen und allgemeine Absichtserklärungen und Äußerungen. Das reicht nicht aus,
im Gegenteil, das gefährdet die anstehende notwendige
Integration Europas und gerade das Nahebringen dieser
Entwicklung in der Innen- und Justizpolitik in Europa.
({4})
Die F.D.P. hat in den letzten Jahren natürlich an vielen Weichenstellungen bewußt, zielorientiert und initiativ mitgewirkt, gerade auch an wichtigen Übereinkommen in der dritten Säule und gerade auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Natürlich ist Europol im Bereich der inneren Sicherheit und des Vorgehens gegen Kriminalität wichtig und
unverzichtbar. Wichtige Weichenstellungen dafür sind
mit dem Übereinkommen, das erst in diesem Jahr in
Kraft getreten ist, vorgenommen worden. Aber es ist
ganz klar: Eine Weiterentwicklung von Europol hin zu
einem operativ handelnden Organ Europas muß natürlich von ganz anderen rechtsstaatlichen, justitiellen und
parlamentarischen Kontrollen begleitet werden.
({5})
Dazu gibt es gerade in diesem anachronistischen Immunitätenprotokoll wenigstens einige Verfahrensschritte, die deutlich machen, daß man diesen Prozeß sehr
wohl eröffnen muß und dazu verpflichtet ist, wenn man
dafür eintreten will, daß Europol mehr Befugnisse als
jetzt erhält. Ich glaube, daß es richtig ist, wenn Europol
mehr tun kann, aber nur unter diesen unverzichtbaren
Konditionen. Weil wir alle wissen, wie schwierig die
Meinungsbildung dazu innerhalb der europäischen Mitgliedstaaten ist, wäre es auch wichtig zu hören, mit welcher Perspektive, mit welchen Forderungen, mit welchen konkreten Vorschlägen der Bundesinnenminister in
diese Gespräche hineingehen wird.
Natürlich ist auch die Grundsatzentscheidung zu Eurojust - etwas, was die Bürger überhaupt nicht verstehen; sie werden fragen, was das denn sei - für die Fachkenner etwas Richtiges, denn dahinter verbirgt sich endlich ein stärkeres Zusammenführen europäischer Staatsanwaltschaften, europäischer Richter, also endlich ein
Ausbau der Organe, die zur rechtsstaatlichen Kontrolle
berufen sind. Aber man darf sich dabei nicht auf den
gleichen Weg begeben, den man in vielen anderen Bereichen beschreitet, nämlich in Koordinierung, in informationeller Zusammenarbeit, in Austausch von Informationen zu verharren. Vielmehr muß dieser Prozeß
letztendlich natürlich in den europäischen Staatsanwalt
als Einrichtung, als ein Organ münden, denn nur das ermöglicht uns mit Blick auf Europol und die Zusammenarbeit der Polizei und der Verwaltungsbehörden einen
entsprechenden ersten Schritt der Kontrolle.
Natürlich müssen dann weitere Schritte folgen: Natürlich brauchen wir für ein Europa der Bürger, für ein
Europa des Rechtsraums der Freiheit, der Sicherheit einen leichteren und unmittelbareren Zugang der Bürger
zu Gerichten und zum Rechtsschutz. Von daher besteht
für mich die entscheidende langfristige Aufgabe darin,
den Zugang zum Europäischen Gerichtshof zu erleichtern, die Doppelwegigkeit zwischen Europäischem Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verbessern, zu versuchen, Parallelitäten
zu vermeiden, und dem Bürger deutlich zu machen, wohin er sich unmittelbar zu wenden hat, wenn er sich von
rechtswidrigem Handeln verletzt fühlt.
({6})
Vision unserer Arbeit für das Zusammenwachsen
einer politischen Europäischen Union muß sein, daß
Grundrechte, Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit das Entscheidende im ausgehenden 20. Jahrhundert sein werden. Die F.D.P. wird - gerade in der
Opposition - diese von ihr immer vertretenen GrundsätSabine Leutheusser-Schnarrenberger
ze ganz entscheidend in die Diskussion einbringen. Wir
werden versuchen, anhand konkreter Stadien der Verhandlungen in Europa diese Grundsätze durchzusetzen.
Soweit es im engen Rahmen des Europaausschusses des
Bundestages möglich ist, werden wir unsere politischen
Vorschläge formulieren. Da müssen wir überhaupt
nichts ändern. Im Gegenteil, wir werden gerade, was die
Frage der europäischen Grundrechtscharta angeht, sehr
viel lauter werden.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich empfinde es als
einen erfreulichen Sachverhalt, daß es unter den demokratischen Parteien in Deutschland einen lebhaften
Wettbewerb um den Einsatz für die europäische Einigung gibt. Dieser Wettbewerb ist um so positiver zu
werten, als leider in einigen unserer Nachbarstaaten
besorgniserregende Tendenzen einer Rückkehr zu nationalistisch-antieuropäischen Positionen sichtbar werden.
Im Rahmen eines Wettbewerbs um die beste Europapolitik ist es durchaus legitim, daß die Opposition die
Regierung zu noch mehr europäischem Engagement auffordert und Kritik an vermeintlichen Versäumnissen übt.
Aber Kritik sollte nicht anmaßend werden. Ich sage das
vor allem deshalb, weil die Kritik, die Sie, Herr Kollege
Rüttgers, an den Ergebnissen von Tampere üben, sich
zugleich gegen die finnische Präsidentschaft und alle
übrigen Mitgliedstaaten Europas richtet. Das müssen Sie
sich einmal vor Augen führen.
({0})
Entschuldigen Sie, daß ich folgendes sage: Ich glaube
nicht, daß sich irgend jemand in Europa für den Redebeitrag heute morgen von Herrn Rüttgers interessieren
wird.
({1})
Falls dennoch jemand in Europa Ihre Rede nachlesen
sollte - das ist unwahrscheinlich -, wird der fatale Eindruck entstehen, daß die CDU/CSU ihre beachtenswerte
europapolitische Kompetenz eingebüßt hat.
({2})
Das wäre zu bedauern; denn viele in der CDU/CSU
kennen sich besser aus als Sie, Herr Kollege Rüttgers.
Der von mir sehr geschätzte Kollege Kanther hat heute
morgen bewiesen, wie man aus der Opposition heraus
einen sachlichen Beitrag leisten kann, ohne der Regierung zuzujubeln.
Herr Kollege Rüttgers, Sie haben einige Dinge angesprochen, die ich zurechtrücken will. Sie haben die Behauptung aufgestellt, es gebe eine Vereinsamung der
Bundesregierung auf der europäischen Ebene, und zwar
bei denjenigen Feldern, die in Tampere zu bestellen waren. Ich weiß nicht, ob Sie sich über Ihre Äußerungen
vergewissert haben. Wir, Frankreich, das Vereinigte
Königreich und Deutschland, haben für Tampere ein
gemeinsames Papier vorgelegt zu einem wichtigen
Thema, nämlich Asyl-, Migration- und Bürgerkriegsflüchtlinge. Ist das Ausdruck von Vereinsamung?
Ich weiß aus vielen Gesprächen, die ich auf den Konferenzen der Innen- und Justizminister der Europäischen
Union geführt habe, welches Lob und welche Anerkennung die Bundesregierung für ihre Staatsangehörigkeitsreform erworben hat. Auch das ist kein Ausdruck
von Vereinsamung, sondern Ausdruck einer gemeinsamen europäischen Politik, wie sie die Bundesrepublik
vertritt - aber in einer modernen und nicht in einer
rückwärtsgewandten Form, wie Sie sie vertreten.
({3})
Ich komme im Laufe meines Beitrages auf einige Themen zurück, zu denen Sie weitere Unwahrheiten und
Unrichtigkeiten vorgetragen haben.
Meine Damen und Herren, an der Schwelle zum
21. Jahrhundert steht Europa wahrlich vor richtungweisenden und weitreichenden Entscheidungen, die bestimmend und gestaltend für unsere Zukunft wirken
werden. Im Zeitalter der Globalisierung und der von ihr
ausgehenden Dynamik wird immer deutlicher, daß der
nationalstaatliche Rahmen für die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben und die Gestaltung der Zukunft nicht
mehr ausreicht. Die Verwirklichung des vereinten Europa, zu der uns bereits das Grundgesetz verpflichtet, ist
die notwendige, erfolgreiche und zugleich faszinierende
Antwort auf Umbruch und Wandel in Europa und in der
gesamten Welt.
Bereits in unserer Koalitionsvereinbarung haben wir
die herausragende Bedeutung der Einbindung Deutschlands in die Europäische Union und die Notwendigkeit
unterstrichen, den europäischen Integrationsprozeß mit
neuen Initiativen voranzutreiben, um der Vertiefung und
Erweiterung der Europäischen Union neue Impulse zu
verleihen.
Auch im Bereich der Innenpolitik ist die Bedeutung
der europäischen Politik und des europäischen Rechts in
den vergangenen 50 Jahren stetig gewachsen und zu einem überragenden Faktor geworden. Die Ergebnisse des
Europäischen Rates in Tampere haben in eindrucksvoller Weise unterstrichen, welche erhebliche Intensivierung die bisherige innenpolitische Zusammenarbeit der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam am 1. Mai
1999 erfahren hat.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich habe
überhaupt kein Problem damit, die Verdienste der alten
Bundesregierung am Zustandekommen des Vertrages
von Amsterdam, dem meine Fraktion ausdrücklich zuSabine Leutheusser-Schnarrenberger
gestimmt hat, anzuerkennen. Die Fairneß sollte es auch
gebieten, daß wir nicht alles, was Sie in der alten Regierung gemacht haben, einer Kritik unterziehen. Ich habe
auch keine Probleme anzuerkennen, daß mein sehr
geschätzter Kollege Kanther wichtige Vorarbeiten zu
Dingen geleistet hat, die wir während der deutschen
Präsidentschaft abschließen konnten.
Der Europäische Rat in Tampere hatte das Ziel, dem
im Amsterdamer Vertrag niedergelegten Arbeitsprogramm zur Errichtung eines Raumes der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts innerhalb von fünf Jahren zu
einem guten Start zu verhelfen. Dieses Ziel hat er erreicht. Die in Tampere gefundenen europäischen Lösungen für den Bereich der Innenpolitik machen von den
neuen Möglichkeiten des Amsterdamer Vertrages umfassend Gebrauch und stellen, wie bereits Außenminister
Fischer einleitend dargestellt hat, neben dem Binnenmarkt und der einheitlichen europäischen Währung ein
neues, weitreichendes Integrationsprojekt dar.
Die vom Europäischen Rat in den Bereichen Asyl,
Migration und Kriminalitätsbekämpfung erteilten Arbeitsaufträge an die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten sind wahrlich wichtige Bestandteile zur
Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts in Europa.
Mir war besonders daran gelegen, daß wir zu Ergebnissen kommen, die den Mehrwert der europäischen
Zusammenarbeit für die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar erkennbar werden lassen. Angesichts der
schwierigen Fragen in den Bereichen Asyl, Migration
und Kriminalitätsbekämpfung muß es unbedingt eine
engere Zusammenarbeit in Europa geben.
({4})
Mit dem Amsterdamer Vertrag haben wir bereits für
den Bereich Asyl, Migration mit der Vergemeinschaftung, das heißt Europäisierung, begonnen, auch wenn
dies für einen Übergangszeitraum noch in einer bestimmten Verfahrensweise aufgehoben ist. Diese Möglichkeiten müssen wir nun offensiv nutzen. Tampere hat
dafür die Richtung vorgegeben.
Aus innenpolitischer Sicht möchte ich auf folgende
Leitlinien und Aufträge des Europäischen Rates besonders eingehen:
Eine der prioritären Maßnahmen ist die Bekämpfung
der politischen und wirtschaftlichen Fluchtursachen
durch eine starke Verzahnung der Einwanderungspolitik
mit anderen Politikfeldern wie der Außen- und Sicherheitspolitik oder, wie man im europäischen Vokabular
sagt, durch einen säulenübergreifenden Ansatz. Dazu hat
gerade das Papier von Frankreich, Großbritannien und
Deutschland wichtige Vorarbeiten geleistet. Denn wir
kommen bei diesem Thema nicht voran, wenn wir nicht
eine Differenzierung des Problems nach Asylsuchenden,
Migranten und Bürgerkriegsflüchtigen erreichen.
Der Europäische Rat in Tampere hat die von der
Hochrangigen Gruppe Asyl und Migration für zunächst
fünf Staaten ausgearbeiteten Aktionspläne ausdrücklich
begrüßt und stimmte auch der von der Bundesrepublik
geforderten Verlängerung des Mandats sowie der Ausarbeitung weiterer Aktionspläne zu. Die Berichte über
die Umsetzung der Aktionspläne soll der Europäische
Rat in Paris im Dezember 2000 entgegennehmen.
Das ist der genau richtige Ansatz, ein Ansatz übrigens, der aus einem holländischen Vorschlag entstanden
ist. Wir wollen die sogenannten Push- und Pullfaktoren
ins Auge fassen und darangehen, die Lebensverhältnisse
in den Herkunftsländern der Menschen, die Beweggründe haben, ihr Heimatland zu verlassen, zu verbessern
und das Geld lieber dort einzusetzen, als teure Sozialprogramme in Deutschland aufzulegen. Auf der anderen
Seite wollen wir aber auch dafür sorgen, daß die Pullfaktoren - das sind die Faktoren, die dazu führen, daß
die Menschen nach Deutschland oder in andere Länder
kommen - verändert werden. Selbstverständlich schließt
das, Herr Kollege Kanther, die Grenzsicherung und die
Verhinderung illegaler Zuwanderung ein.
Weil Herr Rüttgers und leider auch Herr Kanther - in
diesem Punkt sind Sie nicht ganz auf dem laufenden Eurodac angesprochen haben, möchte ich sagen: Es ist
eine große Leistung der deutschen Präsidentschaft und
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Innenministeriums, das früher Sie geleitet haben und heute ich leite,
daß Eurodac abgeschlossen werden konnte. Es geht jetzt
nur noch um die Frage der rechtlichen Umsetzung - es
gehört in die erste Säule -, die wir während unserer Präsidentschaft nicht mehr erreichen konnten. Sie ist aber
bereits konsentiert; das war eine schwierige Aufgabe,
aber wir haben sie erfolgreich abgeschlossen.
Der vorübergehende Schutz für Flüchtlinge ist entsprechend der Auffassung der Bundesregierung auch
nach den Dokumenten von Tampere weiterhin an den
Grundsatz der Solidarität der Mitgliedstaaten gekoppelt. Das ist die berühmte Frage des Solidarausgleichs.
Das ist eine schwierige Frage. Herr Kanther war so fair,
zu sagen, daß es auch der alten Bundesregierung nicht
gelungen ist, dort zu Vereinbarungen zu kommen. Es ist
deshalb eine so schwierige Frage - da soll man sich
nichts vormachen -, weil jedes Land in seiner spezifischen geographischen Situation mit spezifischen Problemen zu kämpfen hat.
Spanien denkt über solche Probleme natürlich ganz
anders nach als Deutschland. Deutschland hat seine Probleme; Sie kennen die Hauptherkunftsländer der Menschen, die nach Deutschland kommen. Spanien hat mit
illegaler Zuwanderung aus den nordafrikanischen Staaten zu kämpfen. Für Frankreich gilt das gleiche, und Italien ist der Zuwanderung aus dem Balkan und aus Nordafrika ausgesetzt.
Meine Damen und Herren, wir kommen in Europa
nicht weiter, wenn wir nicht Verständnis für die Probleme der anderen entwickeln, sondern immer nur Nabelschau betreiben und unsere eigenen Schwierigkeiten
hervorheben.
({5})
Dazu gehört auch, Herr Rüttgers, daß wir uns das Verhältnis zwischen der Zahl der Zuwanderungen von
Flüchtlingen und der Zahl der Bevölkerung ansehen. Da
werden Sie ganz merkwürdige Entdeckungen machen.
Es ist nämlich nicht ganz so, wie Sie es geschildert haben; vielmehr sind auch in anderen Staaten Probleme
vorhanden.
Ich kann im Rahmen meines kurzen Beitrags nicht
auf alle Einzelheiten eingehen. Ich wollte nur einige
Stichworte zum Bereich der Migrations-, Flüchtlingsund Asylpolitik nennen. Das ist sicher eine Aufgabe, die
vor uns steht. Die Kommission hat dabei eine besondere
Rolle zu spielen.
Ich will jetzt einige Sätze zu der mir sehr wichtigen
Frage sagen, die die Kriminalitätsbekämpfung betrifft.
Hier ist Tampere ein großer Erfolg und ein Schritt nach
vorn gewesen; denn in einem Raum, der den Bürgerinnen und Bürgern mehr Freizügigkeit erlaubt, in dem die
Grenzen ihre Bedeutung verloren haben, hat die Bekämpfung von Kriminalität einen anderen Rahmen und
einen anderen Ansatz als zuvor. Es war immer die Idee
von Schengen - sie war richtig -, daß wir in der Frage
der Kriminalitätsbekämpfung eine Kompensation brauchen. Deshalb ist das, was auf diesem Gebiet geschieht
und geschehen wird, von großer Bedeutung.
Ich glaube, auch hier ist von Herrn Rüttgers völlig
übersehen worden, was wir an diesem Punkt während
der deutschen Präsidentschaft erreicht haben. Es ist uns
nämlich nach schwierigen Vorarbeiten gelungen, daß
Europol seine Arbeit am 1. Juli aufnehmen konnte. Ich
habe keinen Anlaß zu zögern, Herrn Kanther für die
Vorarbeiten, die von der alten Bundesregierung zu diesem Thema geleistet worden sind, meinen Dank zu sagen. Das gebietet die Fairneß. Aber Sie sollten umgekehrt die Fairneß aufbringen zu sagen, daß es ein Erfolg
der deutschen Präsidentschaft ist, daß Europol seine Arbeit aufnehmen konnte.
({6})
Herr Kollege Kanther, dazu muß ich eines bemerken:
Die Finanzierungsgrundlagen haben wir zustande gebracht. Die haben Sie leider nicht erreicht. Das tadle ich
nicht; verstehen Sie mich nicht falsch. Aber daß eine Finanzierung gesichert ist, ist uns gelungen.
Frau Jelpke, Sie haben gesagt, es gebe einen Informationsaustausch nur über illegale Zuwanderung. Eine
illegale Zuwanderung ist übrigens sehr stark mit Kriminalität vermischt. Das wissen vielleicht auch Sie.
Schleuserbanden sind Schwerkriminelle; damit das klar
ist. Aber es gibt natürlich auf europäischer Ebene längst
einen Informationsaustausch im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung. Dazu gehört auch Europol.
Wichtig ist, daß wir uns in Tampere mit dem Vorschlag durchsetzen konnten, eine europäische Polizeiakademie zu errichten. Man sollte die Bedeutung dieses
Vorhabens nicht unterschätzen. Denn es kommt sehr
wesentlich darauf an, daß die europäische Polizei gemeinsam ausgebildet wird. Wir haben bei der Bekämpfung der Geldwäsche Fortschritte erreicht. Wir haben erreicht - das ist sehr zu begrüßen -, daß es in Zukunft eine operative Task Force der europäischen Polizeichefs
geben wird. Es gibt eine Vielzahl von anderen Details,
die wir nicht geringschätzen sollten.
Sie fahren mit Ihrer Kritik dann am besten, wenn Sie
konstruktive Vorschläge machen. Solche Vorschläge
sind immer willkommen. Aber Sie sollten das in einer
gemeinsamen Anstrengung erreichte Ergebnis dieses
Gipfels - dies war ein Gipfel, der sich zum erstenmal
nur der Innen- und Justizpolitik auf europäischer Ebene
gewidmet hat - wahrlich nicht geringschätzen, sondern
es in seiner Bedeutung anerkennen. Wenn Sie noch an
der Regierung wären, würden Sie heute ganz anders von
diesem Pult aus sprechen, als Sie es heute getan haben.
Aber daß Sie jetzt so darüber sprechen, liegt daran, daß
Sie von der Regierung in die Opposition gewechselt
sind.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Ich bin ein
Mensch, der Superlative normalerweise scheut. Aber die
Europäische Union ist für mich - das ist mein voller
Ernst - die größte Erfolgsgeschichte des ausgehenden
Jahrhunderts.
({7})
Deshalb haben wir Grund, dankbar zu sein, daß Europa
zu einem Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit geworden ist. Die deutsche Bundesregierung fühlt
sich der Verantwortung verpflichtet, diesen Raum der
Freiheit, des Rechts und der Sicherheit zu erhalten und
auszubauen.
Vielen Dank.
({8})
Es spricht jetzt der
Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesinnenminister
Schily, niemand hat heute bestritten, daß in Tampere gerade auch im Bereich der Rechtspolitik eine ganze Reihe
von positiven Dingen erreicht worden ist. Sie können
aber mit noch so viel wortreichen Erklärungen nicht
darüber hinwegtäuschen, daß in dem entscheidenden Bereich der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen, wo
Sie seit vielen Monaten gebetsmühlenartig die Forderung nach einer Quotenregelung nach Lastenteilung und
„burden sharing“ vor sich hertragen, kein einziger wirklicher Fortschritt erreicht worden ist. Der einzige diesbezügliche Satz in den Schlußfolgerungen, nämlich der,
daß über irgendeine Form von Finanzreserve nachgedacht werden soll, birgt das Risiko, daß möglicherweise
ein Fonds eingerichtet wird, in den im wesentlichen
Deutschland einzahlt und der zum allergrößten Teil in
anderen Ländern ausgezahlt wird. Sie haben in diesem
Bereich keine Erfolge nach Hause gebracht, und Sie
sollten wenigstens den Mut haben, dies vor diesem Hohen Hause auch zuzugeben.
({0})
Meine Damen und Herren, daß der Gipfel von Tampere überhaupt möglich war und daß wir heute wie
selbstverständlich über eine europäische Innen- und
Rechtspolitik diskutieren, das hat einen ganz entscheidenden Grund: Das hängt mit einer Entscheidung zusammen, die vor 15 Jahren von Francois Mitterrand und
von Helmut Kohl herbeigeführt worden ist, nämlich mit
der Entscheidung, die europäischen Grenzen zu öffnen
und die Grenzkontrollen abzuschaffen. Gerade als Abgeordneter aus einer Grenzregion, aus dem Saarland,
kann ich beurteilen, wie wichtig es für die europäische
Identität der Menschen ist, daß in einem Zeitraum von
15 Jahren Grenzkontrollen, Stacheldraht und Schlagbäume völlig verschwunden sind. Dieser Prozeß, der
Schengen-Prozeß, war der Ausgangspunkt dafür, daß
wir heute überhaupt darüber sprechen, wie wir auf europäischer Ebene grenzüberschreitende Banden- und Drogenkriminalität, Schleuserkriminalität und vieles andere
wirksam bekämpfen können.
Der Beschluß zur Abschaffung der Grenzkontrollen
war historisch genauso wichtig wie die Beschlüsse über
die Einführung des Euro oder des Binnenmarktes.
({1})
Natürlich hat nicht die Abschaffung der Grenzkontrollen
dazu geführt, daß Europa unsicherer geworden ist. Das
hat seine Ursache in der Internationalisierung der Kriminalität durch technischen Fortschritt und Globalisierung. Aber der Wegfall der Grenzkontrollen hat uns gezwungen, darüber nachzudenken, wie wir die Sicherheit
der Bürger in der Europäischen Union effektiv gewährleisten können.
Es geht nicht nur um die Sicherheit vor Kriminalität.
Es gehört zu den entscheidenden Errungenschaften des
modernen Rechtsstaats, daß die Bürger nicht nur bestimmte Rechte haben, sondern diese auch geltend machen und einklagen können, und zwar in einem angemessenen Zeitraum. Genau dies ist im europäischen
Binnenmarkt eben nicht mehr gewährleistet. Wir können
keinem Bürger in Europa verständlich machen, warum
ein Prozeß mit Beteiligten aus Maastricht und Aachen,
wo die Entfernung ganze 30 Kilometer beträgt, zweibis dreimal so lange dauert wie ein Prozeß mit Beteiligten aus Hamburg und München, wo die Entfernung
800 Kilometer beträgt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Bitte sehr.
Herr Kollege Altmaier, Sie haben beklagt, auf dem Gebiet des Solidarausgleichs sei
nichts gelungen. Was die Quotenregelung angeht, ist das
sicherlich richtig. Ist Ihnen aber nicht aufgefallen, daß es
während der Kosovo-Krise gerade durch den Einsatz der
deutschen EU-Präsidentschaft gelungen ist, einen durchaus beachtenswerten Lastenausgleich zu erreichen, indem von den insgesamt 94 000 aus Mazedonien evakuierten Kosovo-Flüchtlingen etwa 15 000 nach Deutschland gekommen sind, also rund 80 000 von anderen
Ländern aufgenommen wurden? Können Sie dies anerkennen? Ist Ihnen bekannt, daß auch der UNOFlüchtlingskommissar die deutsche Bundesregierung
ausdrücklich dafür gelobt hat, daß es auf Grund ihres
Einsatzes gelungen ist, andere Länder zu animieren, beachtliche Anstrengungen für die Unterbringung dieser
Flüchtlinge auf sich zu nehmen?
({0})
Herr Bundesminister
Schily, ich bin der Auffassung, daß die gesamte Art und
Weise, wie wir den Kosovo-Konflikt bewältigt haben,
eine großartige Leistung der Europäer insgesamt als
auch der NATO ist. Auch daß es bei der Aufnahme von
Bürgerkriegsflüchtlingen aus den Gebieten der ehemaligen Republik Jugoslawien gelungen ist, ein Verfahren
zu praktizieren, das den Problemen in etwa angemessen
war, ist eine gemeinsame Leistung der Europäer. Dazu
haben wir Deutsche unseren Beitrag geleistet, und zwar
parteiübergreifend, daß heißt: mit Unterstützung von
CDU und CSU. Genau dies ist anerkannt worden.
Worum es aber geht, Herr Bundesinnenminister, ist
- das haben Sie persönlich eingefordert -, daß wir in der
Europäischen Union zur Kenntnis nehmen müssen, daß
zu einer zusammenwachsenden Union auch das prinzipielle Anerkenntnis gehört, daß die Lasten, die sich aus
solchen Bewegungen ergeben, geteilt werden. Mit Ausnahme des vagen Hinweises auf einen eventuellen Fonds
ist in diesem Dokument mit 62 Einzelpunkten leider
Gottes kein einziges Wort dazu zu finden.
({0})
Herr Kollege Altmaier, gestatten Sie eine zweite Frage des Abgeordneten
Schily?
Mit Vergnügen.
Herr Kollege Altmaier, ich widerspreche Ihnen nicht: Eine Quotenregelung ist nicht
gelungen. Wahrscheinlich sind die Möglichkeiten auch
nicht allzu groß, dies zu erreichen. Das hat bereits die
alte Bundesregierung feststellen müssen.
Ich möchte mit meiner zweiten Frage vor einem Mißverständnis warnen: Ist Ihnen bekannt, daß es gerade die
deutsche Bundesregierung war, die in Tampere verhindert hat, daß es einen Flüchtlingsfonds gibt, weil wir
nicht zu dem Ergebnis kommen wollen, daß es einerseits
keine Quotenregelung gibt und wir die höchste Zahl der
Flüchtlinge aufnehmen, wir gleichzeitig aber in einen
Flüchtlingsfonds das meiste Geld einzahlen?
Das sind allgemein bekannte Feststellungen, Herr Bundesminister. Das täuscht
aber nicht darüber hinweg, daß wir in der eigentlichen
Frage, die deutschen Interessen betreffend, nichts erreicht haben.
Nun zwingen Sie mich, auch zu einem Punkt, den ich
eigentlich nicht ansprechen wollte, Stellung zu nehmen:
Es ist kein Zufall, daß Sie in den entscheidenden Fragen
der Innenpolitik, im Gegensatz etwa zu Fragen aus dem
Bereich der Rechtspolitik, in Tampere sehr wenig erreicht haben. Die Unfähigkeit der Bundesregierung, eine
kohärente Linie etwa im Hinblick auf ein künftiges europäisches Asylrecht zu formulieren, hängt mit den
völlig unterschiedlichen Auffassungen zwischen SPD,
Grünen und ihren diversen Flügeln zusammen. Diese
Uneinigkeit im Innern macht sie unfähig, nach außen
eine kohärente Linie zu verfolgen. Deshalb haben Sie in
Tampere bei der Durchsetzung Ihrer Interessen keinen
Erfolg gehabt.
({0})
Meine Damen und Herren, ich möchte auf die Notwendigkeit zurückkommen, den europäischen Binnenmarkt, den wir in wesentlichen Teilen vollendet haben,
durch einen europäischen Rechtsraum zu ergänzen.
Dieses Vorhaben steckt bislang noch in den Kinderschuhen. Wir müssen den Nachweis erbringen, daß die
europäische Integration nicht nur zu nicht weniger
Rechtsschutz führt, sondern tatsächlich auch zu besserer
Verbrechensbekämpfung und zu mehr Rechtsgewährung
für die Bürger beiträgt. Um das zu erreichen, brauchen
wir nicht alle Bereiche der Innen- und Rechtspolitik einheitlich zu regeln, die bisher in die nationale Zuständigkeit fallen. Wir brauchen kein einheitliches europäisches
Strafgesetzbuch, wir brauchen kein europäisches BGB.
Wir müssen nicht vom Mundraub bis zum Nießbrauch
alles über einen Kamm scheren. Wir sollten es auch
nicht tun, weil unterschiedliche rechtliche Regelungen
auch Ausdruck von unterschiedlichen Mentalitäten, Traditionen und historischen Gegebenheiten sind.
({1})
Deshalb sollten wir in diesem Bereich das Subsidiaritätsprinzip anwenden. Das heißt, es kommt nicht so
sehr darauf an, daß wir das Recht selbst vereinheitlichen, sondern es kommt darauf an, daß wir die Anwendung des Rechts vereinheitlichen. Es darf keine EuropaDividende für Kriminelle und keine europäischen Strafbarkeitslücken geben. Deshalb muß zum Beispiel feststehen, welches Land für die Verfolgung von Straftätern
zuständig ist. Es muß feststehen, welches Recht angewandt wird, und es muß anerkannt werden, daß Dokumente, die in einem Land ausgestellt werden, auch in
anderen Mitgliedstaaten Gültigkeit haben. Leider wurden, Frau Bundesjustizministerin, bei dem wichtigen
Vorhaben des europäischen Rechtshilfeübereinkommens gerade während der deutschen Präsidentschaft
kaum Fortschritte erreicht. Es stand ja auf der Prioritätenliste Ihrer Präsidentschaft weit oben, konnte aber
bislang leider nicht zum Abschluß geführt werden.
Die Bilanz der Bundesregierung im Bereich der europäischen Innen- und Rechtspolitik ist - Herr Kollege
Rüttgers hat es schon gesagt - in der Tat eher ernüchternd. Sie haben keine einzige neue Idee, keinerlei Visionen und kein Strukturprinzip in die Debatte eingeführt, das uns in irgendeiner Weise vorangebracht und
über das hinaus geführt hätte, wozu in den Verträgen
von Maastricht und Amsterdam der Grund gelegt worden ist oder was Sie bei Amtsantritt in den Schubladen
der alten Bundesregierung vorgefunden haben.
({2})
Der einzige Punkt, den wir vorbehaltlos unterstützen
und an dem alle Fraktionen dieses Hauses von Anfang an
mitgearbeitet haben, ist die europäische Grundrechtscharta. Wir glauben in der Tat, daß es sich um ein bahnbrechendes Vorhaben für die europäische Einigung handelt, daß es Sinn macht, unsere gemeinsamen europäischen Werte und Überzeugungen in einem herausragenden Dokument zusammenzufassen, das dann nicht nur
für die Europäische Union Bedeutung hat, sondern weit
darüber hinaus auch international für Menschenrechtsbewegungen, für junge Demokratien, für unterdrückte
Völker in Diktaturen ein Beispiel ist, an dem man sich in
Sachen Menschenrechtsschutz orientieren kann. Freiheit,
Demokratie und Menschenrechte sind europäische Erfindungen, die sich inzwischen zu einem weltweiten Exportschlager entwickelt haben. Wir können mit der europäischen Grundrechtscharta dazu beitragen, daß dies so
bleibt und in Zukunft noch deutlicher wird.
Herr Bundesaußenminister - er ist im Augenblick
leider nicht hier -, entscheidend ist nicht so sehr, wie
man zu den Panzerlieferungen an die Türkei steht, von
denen Sie ja ganz offensichtlich etwas überrollt worden
sind. Es ist aber ein starkes Stück, daß die Menschenrechtspolitik der rotgrünen Bundesregierung inzwischen
offenbar auf die Ebene von Geheimdiplomatie herabgesunken ist. Sie trauen sich ja gar nicht mehr, öffentlich
Position zu beziehen, weil der Bundeskanzler bei jeder
Gelegenheit den Eindruck erweckt, daß er derartige Fragen nicht als Herzensanliegen, sondern eher als unliebsames Hindernis für den Außenhandel betrachtet.
Wir begrüßen und unterstützen die europäische
Grundrechtscharta auch deshalb, weil wir glauben, daß
sich mit Blick auf die Zusammensetzung des Konvents,
der zu ihrer Erarbeitung eingesetzt wurde, für die Europäische Union die Möglichkeit bietet, neue Wege zu beschreiten. Wir haben erreicht - Herr Kollege Meyer, ich
möchte Ihr Engagement in diesem Bereich ausdrücklich
positiv würdigen und hervorheben; wir haben im
Rechtsausschuß und im Europaausschuß seit vielen Jahren gemeinsam für dieses Ziel gekämpft -, daß bei diesem Konvent insbesondere auch die Parlamente eine
wichtige Rolle spielen und eben nicht nur die Regierungen wie üblicherweise auf Regierungskonferenzen. Über
die Parlamente werden auch die Bürger einbezogen.
Dies ist ein neues Element und kann Modell für die zukünftige Arbeit der Europäischen Union insgesamt sein.
Im übrigen werden wir im Zusammenhang mit der
Ausarbeitung der Grundrechtscharta auch darüber nachzudenken haben, wie wir in der künftigen Europäischen
Union die Kompetenzen verteilen.
Die Grundrechtscharta, die Regierungskonferenz zu
institutionellen Reformen, die anstehende Erweiterung
der Union sind Themen, die uns unmittelbar zur Frage
führen: Wie soll denn die Europäische Union in 10 oder
20 Jahren aussehen? Es gibt viele Bürger, die Angst vor
einem europäischen Superstaat haben, der alle Entscheidungen zentral in Brüssel trifft. Andere wollen unverPeter Altmaier
hohlen eine Renationalisierung, indem sie die Europäische Union zu einer großen Freihhandelszone machen
wollen.
Wir wollen weder das eine noch das andere. Deshalb
ist es notwendig, daß wir uns im Rahmen eines europäischen Verfassungsvertrages - dies ist seit langem eine
Forderung der CDU und wird auch in dem Bericht der
Herren Dehaene, Richard von Weizsäcker und Lord Simon angeregt - Klarheit darüber verschaffen, was wir
auf europäischer Ebene, auf der Ebene der Mitgliedstaaten und der Ebene der Bundesländer und Gemeinden
tun. Ein solches Vorgehen wäre gut für die Europäische
Union und auch gut für die Mitgliedstaaten. Ich möchte
Sie ausdrücklich auffordern, daß Sie Ihren Widerstand in dieser Frage aufgeben und mit uns gemeinsam auf einen europäischen Verfassungsvertrag hinarbeiten.
Der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts wird kommen - durch den Vertrag von
Maastricht und den Vertrag von Amsterdam sind die
Grundlagen dafür gelegt -, unabhängig davon, wie erfolgreich oder erfolglos die Bundesregierung in den einzelnen Bereichen agieren wird.
({3})
Wir möchten Ihnen anbieten, daß wir am Zustandekommen dieses Vertrages gemeinsam arbeiten. Es gibt
eine Tradition in diesem Haus, daß wir bei allen grundlegenden europäischen Fragen an einem Strang ziehen
und daß wir diese Fragen im Konsens behandeln. Diesen
Konsens sollten wir auch beim Thema Grundrechtscharta und beim Thema europäische Innen- und Rechtspolitik im Interesse unserer Bürger praktizieren.
Ich danke Ihnen.
({4})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Tampere hat im Bereich der Migrationspolitik
wichtige und richtige Signale ausgesandt.
Wichtig ist das Signal, daß sich die Europäische Union um die Integration der dauerhaft und rechtmäßig
hier lebenden Ausländer bemühen will. Dies ist tatsächlich eine gesamteuropäische Aufgabe. Es geht auf Dauer
nicht an, daß Waren und Dienstleistungen zwar die
europäischen Grenzen problemlos überschreiten können,
daß dies aber Arbeitnehmern aus Drittstaaten verweigert
wird. Warum sollte sich ein türkischer Arbeitnehmer,
der zum Beispiel seit 20 Jahren in Deutschland arbeitet,
nicht eine Arbeit in Frankreich suchen? Wenn wir am
gemeinsamen Haus Europa bauen, sollten wir die Menschen, die seit Jahren zu uns gehören, nicht als Angehörige von Drittstaaten außen vorlassen, sondern in das
europäische Haus mit hineinnehmen.
({0})
Noch wichtiger ist ein zweites Signal. Flüchtlingspolitik ist für die Europäische Union Menschenrechtspolitik und keine Politik der Abschottung. In diesem
Zusammenhang gibt es auch hier in Deutschland
noch sehr viel zu tun. Wir brauchen einheitliche materielle Standards im europäischen Asylrecht. Flüchtlinge
aus Algerien, Somalia und Afghanistan bekommen
in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
Asyl, so zum Beispiel in Großbritannien, in Norwegen, in Schweden und Österreich, aber auch in der
Schweiz.
In der Bundesrepublik Deutschland hingegen ist eine
Anerkennung dieser Flüchtlingsgruppen so gut wie ausgeschlossen. Sie laufen sogar Gefahr, daß das Asylgesuch mit dem für die Betroffenen niederschmetternden
Urteil „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wird. Das
darf nicht mehr sein!
({1})
Dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen ein einheitliches
Asylrecht in Europa. Das, was hier von der PDS als Befürchtung geäußert wurde, nämlich daß sich der Standard des Asylrechts dann nach unten bewegen würde,
ist, wie ich gerade an diesem Beispiel gezeigt habe,
nicht richtig.
Die Harmonisierung des Asylrechts ist kein Selbstzweck. Sie ist ein wichtiger Schritt zu einem Europa der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes. Eine Harmonisierung muß aber auch der Verwirklichung von Menschenrechten dienen. Eine Harmonisierung darf sich
deshalb nicht in der Regelung von Verfahren und Zuständigkeiten erschöpfen, sondern muß auch eine verbindliche Vereinbarung über Kriterien für die Anerkennung von Flüchtlingen beinhalten.
Ich begrüße deshalb das klare und völlig uneingeschränkte Bekenntnis des Europäischen Rates in Tampere zur Genfer Flüchtlingskonvention und zu anderen
Menschenrechtsübereinkünften. Daß dies nicht selbstverständlich ist, wissen wir seit Erscheinen des unglückseligen Strategiepapiers aus Österreich, das eine Zeitlang in Europa herumgegeistert ist.
Die materielle Harmonisierung des Asylrechts bietet
zugleich die Chance für dringend erforderliche Verbesserungen auch in Deutschland. Die Genfer Flüchtlingskonvention und ihre Interpretation durch den Hohen
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen bieten
eine verbindliche, bewährte und gute Grundlage. Dabei
geht es dann nicht darum, ob die Europäische Union das
deutsche Asylrecht akzeptiert oder nicht. Vielmehr geht
es um die Frage: Haben wir in Deutschland, gerade
auch im europäischen Vergleich, Lücken beim Schutz
von Flüchtlingen? Ich meine, wir haben solche Lücken,
und möchte dies anhand von zwei Punkten deutlich machen.
Nichtstaatliche Verfolgung muß asylrelevant sein.
({2})
Sie muß im Asylverfahren berücksichtigt werden und
sollte in vielen Fällen zu einer Anerkennung als FlüchtPeter Altmaier
ling führen. Dies ist in Deutschland bislang nicht der
Fall. Asylanträge von Opfern schwerster Menschenrechtsverletzungen werden abgewiesen, weil diese - so
die Rechtsprechung bei uns - nicht von staatlichen, sondern von quasistaatlichen Autoritäten mißhandelt worden sind. Deswegen erhalten Schutzsuchende zum Beispiel aus Somalia, Afghanistan oder Algerien bei uns
in Deutschland kein Asyl. Dies führt im Einzelfall oft zu
unerträglichen Ergebnissen. Der Bundesinnenminister
hat dies in einem Interview im „Spiegel“ zu Recht als
bizarr bezeichnet.
Die mangelnde Berücksichtigung nichtstaatlicher
Verfolgung in deutschen Asylverfahren - auch im Zusammenhang mit der Verfolgung von Frauen - wird
noch in diesem Herbst Gegenstand einer Anhörung im
Menschenrechtsausschuß des Deutschen Bundestages
sein. Ich freue mich auf diese Anhörung; denn wir
brauchen sie, um uns in sorgfältiger Weise auf Grundlagen zu verständigen, die wir gemeinsam tragen wollen.
Der asylrechtliche Schutz von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren, die sich völkerrechtswidrigen
Handlungen entziehen wollen, sollte ebenfalls verbessert
werden. Der Europäische Rat hat in einem Gemeinsamen Standpunkt vom März 1996 zur Auslegung des
Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention in dieser Richtung erfreuliche Zeichen gesetzt. Ich erwarte eine entsprechende Verankerung auch in dem Rechtsinstrument
der Europäischen Union zur materiellen Harmonisierung
des Asylrechts. Ich habe sehr bedauert, daß sich die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union während des
Kosovokrieges nicht dazu durchringen konnten, Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aus Jugoslawien
ein großzügiges Asylangebot zu machen. Ein solches
Angebot hätte helfen können, die jugoslawische Armee
auch ohne Waffeneinsatz zu schwächen.
Die Regelungen zur Gewährung vorübergehenden
Schutzes dürfen nicht zu einer Aushöhlung des Asylrechts führen. Wir alle wissen, daß wir gut beraten sind,
wenn wir über ein Institut des vorübergehenden Schutzes nachdenken. Allerdings, wie gesagt, dürfen wir
uns damit nicht auf die schiefe Bahn begeben, die Genfer Flüchtlingskonvention oder das Asylrecht auszuhebeln.
Es geht nicht darum, eine Festung Europa zu bauen.
Das müssen wir in den wohlhabenden europäischen
Staaten immer wieder deutlich machen, und dies hat der
Bundeskanzler in der Pressekonferenz zu Tampere sehr
deutlich herausgestellt. Es geht darum, ein europäisches
Asylrecht zu schaffen, das die menschenrechtliche Tradition Europas sichtbar fortführt. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Schutzsuchende aus Somalia, Algerien und Afghanistan sollten in der Europäischen Union
dauerhaften Schutz erhalten, egal, ob sie ihren Asylantrag in Porto oder in Pankow stellen.
Schönen Dank.
({3})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Michael Stübgen,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Die Letzten werden
die Ersten sein!
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gehört zum üblichen Ritual nach Regierungskonferenzen wie der, die jetzt in Tampere stattgefunden hat, daß alle Regierungschefs mit ihren Ministern in ihr Land zurückfahren und dort Erklärungen
abgeben, wie wichtig dieser Gipfel war, wie erfolgreich
die Beschlüsse waren, daß natürlich die nationalen Interessen zu nahezu 100 Prozent durchgesetzt worden
sind und daß dieser Gipfel insbesondere durch ihren
Beitrag so erfolgreich geworden ist.
Die Debatten, die danach in allen nationalen Parlamenten der Europäischen Union stattfinden, laufen immer so ab, daß die Regierung diese Erklärung abgibt und
daß versucht wird, die Kritik der Opposition daran als
reine Mäkelei abzutun. So ist das Ritual. Das habe ich
vor dem Regierungswechsel als Koalitionsabgeordneter
auch jahrelang erlebt.
Ich möchte dies in einem Punkt durchbrechen: Ich
möchte feststellen, daß der Regierungsgipfel in Tampere
insgesamt ein wichtiger Gipfel war. Er ist - das ist schon
mehrfach gesagt worden - durch den Amsterdamer
Vertrag angelegt worden. Es gab wichtige zielführende
Beschlüsse. Er hätte in vielen Punkten weiter gehen und
konkreter sein können. Aber es ist normal, daß sich 15
Regierungschefs nicht hundertprozentig auf das einigen
können, was eine Nation als wichtig und entscheidend
ansieht. Allerdings möchte ich auch darauf hinweisen,
daß viele konkrete Beschlüsse und konkrete Ziele, die
erreicht werden konnten, entscheidend mit der Vorbereitungsarbeit der Regierung unter Helmut Kohl zu tun
haben.
Ich möchte darauf eingehen, daß dort die Beschlüsse
des Amsterdamer Vertrages zu Europol in klarer Form,
wie es notwendig war, und in der Hoffnung, daß sie umgesetzt werden, weitergeschrieben werden. Für mich ist
besonders wichtig, daß Europol in die Lage versetzt
werden soll, operative Daten von Mitgliedstaaten zu erhalten, die Mitgliedstaaten um Ermittlung ersuchen und
gemeinsame Ermittlungsteams einzurichten. Beim Regierungsgipfel in Tampere sind die Rechte Europols als
zentraler Stelle bei der Prävention, Ermittlung und
Analyse von Straftaten gestärkt worden. Wenn diese
Beschlüsse so, wie es dort vorgegeben worden ist,
bald umgesetzt werden, wird die europäische Verbrechensbekämpfung effizienter gestaltet werden können. Dies ist ein wichtiges Anliegen der Europäischen
Union und ihrer Bürger. Wir unterstützten dieses Anliegen.
({0})
Marieluise Beck ({1})
Allerdings werden wir als Parlamentarier auch darauf
achten, daß diese Beschlüsse möglichst bald umgesetzt
werden.
In einem anderen wesentlichen Bereich der Beschlüsse von Tampere, nämlich bei der Gewährung von Asyl
und der Migration Drittstaatsangehöriger, teile ich allerdings die Auffassung des Bundesinnenministers nicht.
Die Ergebnisse, die dort erzielt worden sind, sind im
wesentlichen nur eine Wiederholung dessen, was längst
auf der Innen- und Justizministerkonferenz 1995 beschlossen worden ist. Weiter vorangebracht worden ist
letztlich nichts. Seit dieser Zeit ist nichts passiert. Diese
Beschlüsse sind auch nicht sehr zielführend und relativ
unkonkret. Selbst bei den Zeiträumen, die für die Umsetzung gesetzt worden sind, weiß man überhaupt nicht,
in welchem Rahmen und mit welcher Zielsetzung etwas
umgesetzt werden soll.
({2})
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, den Sie,
Herr Bundesinnenminister, angesprochen haben, und
zwar ist das die für die Bundesrepublik Deutschland
wirklich entscheidende Frage der gerechten Lastenverteilung, des sogenannten „burden sharing“. Meine These, die ich begründen will, ist: Es gab auf dem Gipfel
nicht nur kein Ergebnis im Sinne einer Verbesserung der
Situation, sondern die Bundesregierung hat sogar einem
Ergebnis zugestimmt, das die Situation für Deutschland
letztlich verschlechtern wird. Das ist die Hauptproblematik in diesem Bereich.
Lassen Sie mich das kurz begründen und zunächst ein
paar Worte zur Problemanalyse sagen. Seit Beginn der
Jugoslawien-Krise, also seit ungefähr sechs Jahren, ist
der überwiegende Teil der Flüchtlinge von dort nach
Deutschland gekommen. Nun habe ich eine Statistik
vom Mai dieses Jahres hinsichtlich des KosovoKonflikts. Aus dieser Statistik ergibt sich, daß die Verteilung der Flüchtlinge aus dem Kosovo in der Tat viel
besser für Deutschland ist, aber das Mißverhältnis ist
noch immer eklatant. Deutschland hat bis zum Mai faktisch knapp 10 000 Flüchtlinge aufgenommen, Frankreich unter 2 000 und Großbritannien - man höre und
staune - 330. Damit hat Großbritannien weniger als die
Hälfte der Flüchtlinge aufgenommen, die ein Land mit
wirklich großen Problemen, nämlich Polen, aufgenommen hat; in Polen waren es 670 Flüchtlinge. Das Mißverhältnis bei der Verteilung der Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, der Srpska und Kroatien war noch
wesentlich größer.
Dieses Thema ist also von entscheidender Bedeutung.
Nach allgemeinen Schätzungen haben wir noch heute in
Deutschland ungefähr 180 000 Flüchtlinge jugoslawischer Herkunft. Seriöse Schätzungen gehen davon aus,
daß es noch deutlich mehr sind. Das ist auch ein Kostenpunkt, der wirklich alles andere als unerheblich ist.
In den anderen großen Mitgliedsländern der Europäischen Union gibt es gerade einmal ein paar hundert oder
maximal ein paar tausend Flüchtlinge, die versorgt werden müssen.
Weil dieses Problem bekannt ist, ist in Art. 63 2b des
Amsterdamer Vertrages festgehalten worden, daß in
dieser Frage möglichst bald, innerhalb von fünf Jahren,
Regelungen für eine „ausgewogene Verteilung der Belastung“, wie es dort wörtlich heißt, gefunden werden
müssen.
({3})
- Darauf möchte ich jetzt eingehen und das kurz begründen. Dann gehe ich gerne auf Ihre Zwischenfrage
ein.
Wenn wir jetzt lesen, was in Tampere verabschiedet
worden ist, müssen wir feststellen, daß das eine Abkehr
von dieser richtigen Zielstellung ist. Da steht nämlich
wörtlich:
Der Europäische Rat ist der Ansicht, daß geprüft
werden sollte, ob nicht bei massivem Zustrom von
Flüchtlingen zwecks vorübergehender Schutzgewährung irgendeine Form von Finanzreserve bereitgestellt werden könnte. Die Kommission soll
entsprechende Möglichkeiten sondieren.
Das Problem ist folgendes: Wir können in der jetzigen Situation eigentlich nur hoffen, daß die Kommission
bei ihrer Suche nach irgendeiner Finanzreserve nicht
fündig wird. Denn wird sie fündig, läuft das nach dem
üblichen europäischen Modell so ab: Diese Finanzreserve wird durch das europäische Finanzierungssystem
gespeist. Der Nettosaldo Deutschlands beträgt dort über
60 Prozent. Deutschland trägt also im Prinzip die Belastung mit dieser Reserve zu über 60 Prozent, bekommt
aber nur vielleicht 20 oder 30 Prozent zurück. Das heißt,
wenn die Beschlüsse so, wie diese Bundesregierung ihnen zugestimmt hat, umgesetzt werden, wird es zu einer
finanziellen Mehrbelastung in Deutschland kommen,
nicht zu einer Entlastung.
({4})
Dies halte ich für problematisch, obwohl ich durchaus
weiß, wie schwer es ist, in dieser Frage andere Beschlüsse herbeizuführen.
Auch aus Ihrer Koalition sind andere Gesichtspunkte
bekannt. Herr Kollege Meyer, Sie haben das Problem
bei der letzten COSAC in Helsinki vorgetragen. Wir haben beide gemerkt, daß wir kein positives Echo bei den
anderen Delegationen hatten. Auch Frau Kollegin Roth
hat von notwendigen Ausgleichszahlungen der Länder,
die wenige oder keine Flüchtlinge aufnehmen, für die
Länder, die viele Flüchtlinge aufnehmen, gesprochen.
Dort gibt es eine falsche Weichenstellung.
Herr Kollege Stübgen, bevor Sie jetzt mit den einzelnen Kolleginnen und
Kollegen in einen Dialog treten, frage ich Sie jetzt, ob
Sie die Frage des Kollegen Schily zulassen.
Ich wollte das gerade tun. Bitte schön.
Herr Kollege Stübgen, weil Sie
Ihren Beitrag in sehr sachlicher Form halten, wollte ich
Ihnen die Frage stellen, ob Sie bei Ihrem Zahlenstudium
auch entdeckt haben, daß andere Länder im Vergleich
zur Bundesrepublik sehr viel mehr Flüchtlinge aufgenommen haben, wenn man zum Beispiel die Zahl der
Flüchtlinge aus dem Kosovo ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl setzt. Österreich hat beispielsweise mehr
Flüchtlinge aufgenommen als Bayern. Sind Sie mit mir
einer Meinung, daß es ein wichtiges Ergebnis einer erfolgreichen Krisenbewältigung war, daß es uns gelungen
ist, in Europa gemeinsam dafür zu sorgen, daß die aus
dem Kosovo vertriebenen Flüchtlinge in erster Linie in
den angrenzenden Ländern untergebracht worden sind?
Können Sie mir auch zustimmen, daß wir - bei aller
Kritik hinsichtlich der Quotenregelung, die ich verstehen
kann - bei dieser Krise, was die Belastung Deutschlands
angeht, ein sehr viel besseres Ergebnis erreicht haben als
die damalige Bundesregierung, was Bosnien-Herzegowina angeht? Ich tadele das nicht; nicht, daß Sie mich
mißverstehen. Vielleicht war die Situation damals eine
andere; ich will da nicht selbstgerecht sein. Aber im
Vergleich zu der damaligen Situation haben wir eine
sehr viel bessere Verteilung erreicht.
Herr Kollege, ich
beginne mit der dritten Frage: Hier stimme ich dem, was
Sie gesagt haben, zu.
Zur zweiten Frage: Die von Ihnen angesprochene
Zielsetzung - sie ist von der CDU/CSU immer unterstützt worden -, die Flüchtlinge, soweit es geht, im
engeren Raum unterzubringen, ist ebenfalls völlig richtig.
Zur ersten Frage aber noch eine kurze Anmerkung:
Auf Grund der kurzen Redezeit habe ich dieses Problem
nicht genannt. Es gibt in der Europäischen Union in der
Tat Länder, die durch die Aufnahme von Asylbewerbern, aber auch von Bürgerkriegsflüchtlingen pro Kopf
etwas stärker belastet sind. Es kommt ja auf den ProKopf-Vergleich an; man kann von Luxemburg nicht
verlangen, genauso viele Flüchtlinge wie Deutschland
aufzunehmen. Aber mir kommt es in erster Linie - das
kann ich als einfacher Abgeordneter und Oppositionspolitiker vielleicht leichter sagen - auf große Länder der
Europäischen Union an, die nicht Ziel-1-Gebiete sind,
also verhältnismäßig reiche Länder sind, und sich in dieser Angelegenheit bislang enorm zurückhalten. Ich habe
die beiden Länder, um die es geht, vorhin schon genannt.
({0})
Deshalb ist die Bundesregierung, wie ich glaube, gut
beraten - wir werden dieses Thema auch noch im Innenund im Europaausschuß erörtern -, die Verbündeten dort
zu suchen, wo die Belastungen pro Kopf zum Teil sogar
noch höher als in Deutschland sind. Allerdings wundert
mich, daß Sie bisher nicht erreicht haben, daß diese
Länder mit uns zusammen an diesem Thema arbeiten.
Man sollte versuchen, das noch zu erreichen.
({1})
Österreich unterstützt uns seltsamerweise in dieser Angelegenheit nicht; zumindest habe ich noch nichts davon
bemerkt. Wie gesagt, es ist wichtig, in dieser Frage Verbündete zu suchen und mit ihnen zusammen offen und
klar die Länder kritisch zu benennen, die sich hier zurückhalten. Sie müssen notfalls auch mit einer Drohkulisse dazu geführt werden, ihre solidarischen Pflichten
zu erfüllen.
({2})
Herr Kollege Stübgen, gestatten Sie eine zweite Frage?
Ja.
Bitte, Herr Kollege
Schily.
Herr Kollege Stübgen, ich weiß
nicht, was Sie mit „Drohkulisse“ meinen.
({0})
Ich weiß auch nicht, welche
Druckkulisse Sie da aufbauen wollen. Meine Erfahrung
lehrt mich, daß Druckkulissen nicht weiterhelfen.
Ist Ihnen bekannt, daß Österreich ausdrücklich die
Position Deutschlands in der Frage des Solidarausgleichs unterstützt und daß ich mit meinem Kollegen
Schlögl in dieser Frage sehr eng zusammengearbeitet
habe? Ist Ihnen auch bekannt, daß ein Land wie Frankreich - Sie wissen, daß die deutsche Bundesregierung
eine besonders enge Zusammenarbeit mit Frankreich
sucht; das findet seinen Ausdruck auch in dem gemeinsam mit Herrn Kollegen Chevènement erarbeiteten Papier - mit einem gewissen Recht darauf hinweist, daß es
aus anderen Weltgegenden mit Belastungen versehen ist,
die wir nicht zu tragen haben, und daß es für einen guten
europäischen Geist ausschlaggebend ist, jeweils Verständnis für die Probleme aufzubringen, die ein anderes
Mitgliedsland in seiner speziellen geographischen Situation hat?
Ich bin bereit, Ihnen
im wesentlichen zuzustimmen; es war ja weniger eine
Frage als eine Darstellung. Aber in einem Punkt möchte
ich konkretisieren, was ich meine und was ich an dem
Ergebnis von Tampere kritisiere. Nach dem Schlußdokument des Rates von Tampere - ein anderer Nachweis
ist nicht erbracht, jedenfalls nicht in der heutigen Debatte; vielleicht kann man das später nachholen - wird
aus der solidarischen Teilung schlimmstenfalls ein Ergebnis herauskommen, durch das Deutschland wieder
überproportional belastet wird und letztlich offensichtlich sogar mehr zahlen muß, als wenn es überhaupt
keinen Ausgleich gäbe. Das halte ich für eine falsche
Weichenstellung, und meine dringende Bitte ist, zu versuchen, diese falsche Weichenstellung zurückzunehmen.
({0})
- Das ist kein völliger Quatsch. Sie sollten sich einmal
das Finanzierungssystem der Europäischen Union genauer anschauen. Möglicherweise haben Sie auch zugestimmt oder zustimmen lassen, weil Sie nicht verstanden
haben, worum es im Einzelfall geht.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da ich
wegen der Zwischenfragen Gelegenheit hatte, wesentlich länger zu reden, als ich es ursprünglich wollte, beschränke ich mich jetzt darauf, noch eine kurze Bemerkung zur Drittstaatsangehörigkeit zu melden.
Wir sind uns im Bundestag einig - auch im Europaausschuß -, daß die jetzige Situation nicht auf Ewigkeit
erhalten bleiben kann. Die Situation ist folgende: In
einem Mitgliedsland legal lebende Drittstaatsangehörige
haben im Moment nicht einmal Reisefreiheit. Daß das
nach Beseitigung der Schlagbäume an den Grenzen
nicht aufrechtzuerhalten ist, ist klar. Aber bei dieser
Problematik bitte ich künftig zu bedenken: Deutschland
muß - wenn es zu einer Regelung kommt, wie sie in
dem Gipfelpapier vorgeschlagen wird, wenn die Rechte
der Drittstaatsangehörigen möglichst nah an die Rechte
der EU-Bürger angelehnt werden - verhindern, daß es
zu einem Sozialtransfer kommt. Dann würden nämlich
nicht nur die Niederlassungsfreiheit, das Arbeitsrecht
und dergleichen gelten, sondern auch der Zugriff auf die
Sozialsysteme wäre voll möglich. Solange die sozialen
Leistungsniveaus in der Europäischen Union erhebliche
Unterschiede aufweisen, müssen wir dieser Gefahr begegnen. Die Zielrichtung ist, wie gesagt, grundsätzlich
richtig. Aber wir müssen aufpassen, daß es hier nicht zu
einer zusätzlichen Verschlechterung der finanziellen
Situation Deutschlands kommt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Entschließungsantrags der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/1854 vorgeschlagen. An welche Ausschüsse der Antrag überwiesen werden soll, müßten die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer noch nachreichen, da dies
kurzfristig entschieden wurde. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie die
Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G.
Fritz, Wolfgang Börnsen ({0}), HansJürgen Doss, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für eine umfassende multilaterale Verhandlungsrunde über eine weitere Liberalisierung im Welthandel
- Drucksache 14/1664 Überweisungsvorschlag:
Auschuß für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Carsten Hübner, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zukunftsfähiger Handel und umfassende Reform
der WTO
- Drucksache 14/1834 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Verbesserung der Kohärenz von EU-Agrarpolitik und Entwicklungspolitik im Rahmen
der WTO-II-Verhandlungen
- Drucksache 14/1860 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Dr. Norbert Wieczorek, Dr.
Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Margareta Wolf ({4}), Dr. Uschi Eid, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz, offene Märkte, Fairneß und
nachhaltige Entwicklung: Für eine umfassende Weiterentwicklung des Welthandelssystems
- Drucksache 14/1861 Michael Stübgen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
SPD-Fraktion die Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Füllhorn der Glücksgöttin oder Büchse der Pandora - zwischen diesen beiden
Extremen werden derzeit die Themen Globalisierung
und weitere Liberalisierung des Welthandels in der Öffentlichkeit diskutiert. Auch die uns vorliegenden Anträge der Oppositionsparteien CDU/CSU und PDS sind
in diesem Spannungsbogen angesiedelt, der Antrag der
CDU/CSU am optimistischen, der der PDS am pessimistischen Ende. Dabei sollte es doch möglich sein, sich
bei der Diskussion der Weltwirtschaft auf einige gemeinsame Einschätzungen zu einigen, auf deren Grundlage wir die Diskussion in der kommenden Welthandelskonferenz in Seattle und der darauffolgenden Milleniums-Runde führen können. Nach Meinung von uns
Sozialdemokraten sind das folgende:
Offene Märkte, Globalisierung durch zunehmenden
Handel, Direktinvestitionen und technische Entwicklung
haben in Deutschland und Europa zu Wohlstandsgewinnen und zu zusätzlichem Wachstum geführt. Das hat
insgesamt zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen beigetragen.
Deutsche Unternehmen - zunehmend sind es auch
kleinere und mittlere Unternehmen - sind stark auf
weltweite Märkte ausgerichtet und profitieren von ihnen,
sind aber auch stark von den Veränderungen auf den
Weltmärkten abhängig. Mehr Liberalisierung hat zu
mehr Wettbewerb und zu schnellerem Strukturwandel
geführt, der in einer Reihe von Branchen trotz großer
Anpassungsbereitschaft hohe Arbeitsplatzverluste zur
Folge hatte, zum Beispiel in der Textilindustrie. Dennoch zeigt die Gesamtbilanz der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte: Wir haben uns im Globalisierungsprozeß gut behauptet, und wir werden es auch
künftig tun, wenn wir Innovationen konsequent fördern
und soziale Stabilität bewahren und weiterentwickeln.
Aber nicht alle Länder haben von diesem Prozeß profitiert. Vor allem die ärmsten Länder sind immer weiter zurückgefallen. Der Abstand zwischen den ärmsten
und reichen Ländern, gemessen am Sozialprodukt pro
Kopf, hat sich in den letzten 15 Jahren von 1:30 auf 1:74
vergrößert. Ohne eine angemessene Teilhabe auch der
armen Länder an den Gewinnen einer größeren internationalen Arbeitsteilung ist aber die gemeinsame Zukunft
der Welt nicht nachhaltig zu sichern. Wenn das keine
Lippenbekenntnisse bleiben sollen, müssen wir sowohl
bei der Entwicklungshilfe als auch bei der Entschuldung und der Marktöffnung vor allem für die ärmsten
Länder mehr tun.
({0})
Die Bundesregierung hat sich auf dem Gipfel in Köln
bei der Entschuldungsfrage und bei der Erarbeitung einer gemeinsamen EU-Position für die Ministerkonferenz
in Seattle nachdrücklich für die ärmsten Entwicklungsländer eingesetzt und verdient dafür ausdrücklich die
Unterstützung des Deutschen Bundestages.
({1})
In Seattle werden wir auch die Grundlagen für eine
neue multilaterale Welthandelsrunde festlegen. In manchen Bereichen sind wir durch vorangegangene Verpflichtungen aus dem Marrakesch-Abkommen aber
nicht mehr frei. Auf der Tagesordnung stehen da zum
Beispiel Landwirtschaft sowie Handel und Dienstleistungen. Zusätzlich müssen vereinbarungsgemäß zahlreiche wichtige Abkommen über Anti-Dumping, Streitschlichtungsverfahren, Importlizenzen, Ursprungsregeln,
sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen, technische
Handelshemmnisse und vieles mehr überprüft werden.
All dieses hat erhebliche Konsequenzen auch für unser Land und seine Arbeitsplätze. Deswegen kann die
Weiterentwicklung der Welthandelsordnung nicht,
wie das bei früheren Abkommen vielfach der Fall war,
als bloß handelstechnische Abkommen angesehen werden - was sie nie waren -, die am besten in den Händen
der Experten bleiben. Nein, wir, das gesamte deutsche
Parlament und seine Ausschüsse, müssen uns, anders als
in der Uruguay-Runde, intensiv mit den Vorbereitungen
befassen, und ihre Ergebnisse und die Ausarbeitung des
EU-Verhandlungsmandats müssen wir in einen zentralen
Punkt unserer parlamentarischen Arbeit verwandeln.
({2})
Nach der Ministerkonferenz in Seattle, wenn wir
wissen, was genau auf der Tagesordnung stehen wird,
wird es an der Zeit sein, sich detailliert mit der Vorbereitung eines Verhandlungsmandats der Europäischen
Union zu befassen. Dies jetzt schon zu tun - ich habe
dazu in einem Antrag schon viele Details gesehen - erschiene mir auch verhandlungstaktisch verfrüht. Man
muß nicht schon vor Beginn einer Pokerrunde alle Karten auf den Tisch des Hauses legen.
({3})
Gleichwohl muß der Deutsche Bundestag seine Grundsätze für eine Weiterentwicklung des Welthandelsystems definieren und diese dann unserer Regierung für
den Brüsseler Ministerrat und die Konferenz in Seattle
mitgeben.
Dabei müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß es in
Wirtschaft und Gesellschaft unseres Landes nicht nur
Befürworter einer weiteren Liberalisierung und eines
immer rascheren Strukturwandels gibt, sondern daß
viele Menschen in unserem Land - nicht nur diejenigen,
die unmittelbar ihre Arbeitsplätze bedroht sehen - mit
steigendem Unbehagen darauf reagieren. Das hat meines
Erachtens vier Gründe, über die wir offen reden sollten.
Erstens. Es gibt eine weitgehende Unkenntnis in der
Öffentlichkeit über die vergangenen Handelsrunden und
ihre Konsequenzen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Zweitens. Globalisierung wird in der Öffentlichkeit
vielfach als ein unentrinnbares Schicksal begriffen, die
wie ein Naturgesetz wirkt. Das ist sie definitiv nicht. Der
Globalisierungsprozeß war ein politisch gewollter Prozeß. Er war politisch gestaltbar, und er wird auch in der
Zukunft politisch gestaltbar sein.
Drittens. Ein Problem ist auch, daß der Globalisierungsprozeß als Instrument zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer, sozialpolitischer und tarifpolitischer
Zielsetzungen benutzt wird.
Viertens. Der weitgehende Ausschluß der breiten Öffentlichkeit von den Verfahrensweisen und vom Inhalt
der internationalen Wirtschaftsverhandlungen in der
Vergangenheit war nicht vertrauensbildend. Das Schicksal des Multilateralen Abkommens über Investitionen,
MAI, der OECD ist ein Beleg dafür, daß Verhandlungen
in Geheimkabinetten unter Ausschluß der Öffentlichkeit
und der Parlamente schließlich zum Scheitern verurteilt
sind.
({4})
Deswegen muß die Bundesregierung erstens eine
grundlegende Bestandsaufnahme und Analyse der bestehenden Verträge und Konsequenzen der vergangenen
Handelsrunde, der Uruguay-Runde, vornehmen und die
bereits vorhandenen Analysen lesbar zusammenfassen die bisher veröffentlichten dickleibigen Bände helfen
normalen Menschen nicht -, um sie einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen.
Zweitens. Nicht nur der Deutsche Bundestag, sondern
auch die interessierte Öffentlichkeit, insbesondere Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und andere Nichtregierungsorganisationen, muß umfassend informiert werden. Wir brauchen einen intensiven Dialog, um die Partizipation einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu gewährleisten. Dafür müssen die Transparenz der Welthandelsorganisation deutlich erhöht und die Beteiligungsrechte der Nichtregierungsorganisationen deutlich
ausgebaut werden.
Drittens. Wir müssen darauf drängen, daß darauf verzichtet wird, Globalisierung als Totschlagargument zum
allfälligen Gebrauch zu verwenden. Wer unter Berufung
auf den Globalisierungsprozeß Angst macht, muß sich
nicht wundern, wenn Abwehrhaltungen und Denkblokkaden entstehen. Blockaden können wir uns in Zeiten
zunehmender weltweiter Interdependenzen und vertiefter regionaler Integration wirklich nicht mehr leisten.
Außerdem kennen der weltweit erhöhte Wettbewerb und
der umfassendere und immer schneller verlaufende
Strukturwandel - seien wir ehrlich - auch zukünftig
nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Dies muß
Widerstände und Bedenken auslösen.
Viele dieser Bedenken sind nicht berechtigt, wie ich
anfangs schon erklärte; denn wir haben uns im Globalisierungsprozeß gut behauptet und können dies mit einer
vernünftigen Wirtschaftspolitik auch weiterhin schaffen.
Deswegen ist eine „Politik des stillen Kämmerleins“ erst
recht nicht sinnvoll; vielmehr müssen wir einen Dialog
über unsere zentralen, unmittelbaren Interessen im Hinblick auf Arbeitsplätze, Branchen, Regionen und Bedürfnisse der Konsumenten, die wir in der bevorstehenden Milleniumsrunde vertreten wollen, ebenso führen
wie über die Zukunftsfragen des Welthandelssystems,
die ja weit über die klassischen Instrumente wie Zölle
und Marktzugang hinausgehen. Gesellschaftspolitische
Wertvorstellungen und Ziele wie Schutz der Umwelt
und Gesundheit, soziale Gestaltung der Gesellschaft, Sicherung des Wettbewerbs und kulturelle Vielfalt müssen
bei der Gestaltung einer globalen Ökonomie gleichrangig behandelt werden.
({5})
Die Wirtschaft ist nicht das Ziel; sie ist letztlich Dienerin zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen.
Wenn sie das nicht ist, verfehlt sie ihren Zweck. Deswegen unterstützen wir Sozialdemokraten die Anstrengungen der EU-Kommission, eine umfassende neue Welthandelsrunde ins Leben zu rufen, die insbesondere eine
weitere Ausweitung des Handels zum Nutzen aller Länder, für mehr Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerb bewirken soll, die aber auch mit einer weltweiten
nachhaltigen Entwicklung in Einklang stehen sollte.
({6})
Wir unterstützen eine Welthandelsrunde, die zu mehr
Transparenz, Fairneß und Verläßlichkeit durch die Stärkung der WTO-Regeln und -Verfahren führt und die sicherstellt, daß die vorhandenen weltweiten Abkommen
über Umwelt- und Sozialstandards nicht Sonntagspredigten bleiben, sondern Schritt für Schritt in das Welthandelssystem integriert werden.
({7})
Deswegen begrüßen wir es, daß die neue Bundesregierung fest zur Forderung nach einer Arbeitsgruppe
„Handel und Kernarbeitsnormen“ steht. Der vorgestern
abend in der EU gefundene Kompromiß eines ständigen
Arbeitsforums zwischen Internationaler Arbeitsorganisation und Welthandelsorganisation kann uns nicht so
recht befriedigen. Wichtig ist, daß wir endlich konkrete
Umsetzungsschritte von der längst etablierten Arbeitsgruppe „Handel und Umwelt“ verlangt haben.
({8})
Nur wenn eine weltweite Liberalisierung eine nachhaltige Entwicklung fördert und die Risiken der Globalisierung ökologisch und sozial abgefedert werden, wird
die Welthandelsrunde mit einer breiten Unterstützung
der Menschen rechnen können. Deswegen war und ist es
wichtig, daß die Bundesregierung und die EU erfolgreich darauf gedrängt haben, die neue Welthandelsrunde
unter das Motto besserer Entwicklungsmöglichkeiten für
möglichst viele Menschen auch in den Entwicklungsländern zu stellen.
Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wir
allerdings parallel zu den Verhandlungen der Welthandelsrunde auch die Ursachen der permanenten und massiven Währungs- und Finanzkrisen angehen, die in
den vergangenen Jahren zu enormen WechselkursDr. Sigrid Skarpelis-Sperk
schwankungen, zu Abwertungswettläufen und zu einer
unglaublichen Verarmung von hunderten Millionen
Menschen in Asien, Lateinamerika und Rußland geführt
haben und die übrigens durch geringere Wachstumsraten
auch die Europäische Union negativ betroffen haben.
Nur mit einer neuen Weltfinanzarchitektur, zu der erste Schritte auf dem G-7-Gipfel in Köln im Juni dieses
Jahres gemacht wurden - man kann die Bundesregierung nur in ihrem Ziel unterstützen, andere Länder daran
zu erinnern, ihre dort eingegangenen Verpflichtungen in
den nächsten Jahren auch wirklich umzusetzen -, werden wir eine Weiterentwicklung des Welthandelssystems im Interesse aller bewirken und die Gefahren von
Protektionismus und Handelskriegen abbauen können.
({9})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe
Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben eingangs die Frage gestellt: Wo stehen wir eigentlich zwischen Hoffnung und
Angst? Ich stelle mit Freuden fest, daß Sie eher auf der
Seite der Zuversicht sind. Dies war nicht in allen Teilen
Ihrer Fraktion immer ganz selbstverständlich. Ich
möchte sagen, wir sind hier in der Tat auf der Seite der
Zuversicht, denn wir haben im nächsten Jahrhundert eigentlich nur zwei Chancen für eine friedliche Entwicklung einer wachsenden Menschheit; einerseits die
Chance des Aufbaus der Wissensgesellschaft, des
Wachstums aus Intelligenz, des klugen Umgangs mit
begrenzten Ressourcen und andererseits die Chance der
Globalisierung, des Zusammenwachsens zu einer einzigen Welt, in der jeder in der Verantwortung auch für die
anderen steht. Hier hat uns die Entwicklung der vergangenen Jahre bestätigt, und das ermutigt uns.
Die Entwicklungshilfe ist nur sehr begrenzt gewachsen.
({0})
- Ich sage es mit Behutsamkeit und ohne jede Polemik.
Die Wirtschaft ist gewachsen, gerade in jungen Ländern über lange Zeiten mit beachtlichen Raten. Stärker
noch als die Wirtschaft ist der Welthandel gewachsen;
stärker als der Welthandel mit Gütern ist der Welthandel
mit Dienstleistungen gewachsen. Alles das hat zu einem
wachsenden Wohlstand in dieser Welt beigetragen. Das
gilt für die reichen Länder.
({1})
- Ich kann hier nur eines nach dem anderen ansprechen,
lieber Kollege; Entschuldigung.
({2})
Eines Tages bekommt man vielleicht ein kleines
Knopflochmikrophon. Dann bekommen wir eine andere
und herzlichere Form der Debatte mit menschlicher Nähe und größerer Präzision.
Ich wiederhole: Das gilt für die reichen Länder. In einer Welt, in der die Zahl der Produkte, die Vielfalt der
Dienstleistungen immer weiter zunimmt, erwächst die
Chance, an dieser Entwicklung teilzuhaben, nur aus dem
Handel. Das gilt auch für viele Entwicklungsländer,
Schwellenländer, die in den vergangenen Jahren zunehmend Wohlstand aufgebaut haben. Die Direktinvestitionen übersteigen schon längst die Entwicklungshilfe. Der
Zufluß von Geldern aus OECD-Ländern in NichtOECD-Länder hat sich in fünf Jahren verdoppelt. Die
Chance, Wohlstand über Investitionen aufzubauen und
über Investitionen auch Technologietransfer vorzunehmen und Verständnis für neue Wirklichkeiten zu gewinnen, liegt im freien Handel.
Natürlich - Frau Skarpelis-Sperk hat zu Recht darauf
hingewiesen - gilt dies auch für die ärmsten Länder. Ihre Hoffnung ist in der Tat die Beteiligung am Welthandel, und eines der Ziele der WTO-Konferenz ist ja gerade, daß sie an den Welthandel herangeführt werden, daß
man ihnen spezielle Chancen gibt, daß man sie schützt,
soweit ihnen daran liegt, und daß sie einen offeneren
Zugang bekommen als andere.
Die WTO-Konferenz in Seattle wird mit einem außerordentlichen Katalog an Vorschlägen einen Ausschnitt der Entwicklungschancen unserer Welt verhandeln. In diesem Ausschnitt ist eine Vielfalt einzelner
Themen enthalten. Vor allem aber steht eine Vision dahinter. Daß die Anträge von Grünen, SPD und
CDU/CSU in wichtigen Bereichen übereinstimmen,
zeigt nichts anderes als die Faszinationskraft dieser Idee
- eine der wenigen Visionen, die von armen und reichen
Ländern geteilt wird. Es ist die Idee einer Welt, in der
die Völker der Erde aus eigener Tüchtigkeit ihre Zukunft aufbauen: in Kooperation und Konkurrenz, mit
dem Recht für den Starken, aber in Fairneß gegenüber
dem Schwachen, ein Schutz für alle durch das Recht.
Es ist die Idee einer Welt, in der die Chance zur
Nachhaltigkeit deshalb entsteht, weil wir Welthandel
nicht nur als ökonomischen Vorgang betrachten; vielmehr sehen wir durchaus, wo der Welthandel in einen
größeren Zusammenhang einzuordnen ist. Es ist die Idee
einer Welt, in der die Chance auf Frieden besteht; denn
man führt mit seinen Kunden keinen Krieg. Je intensiver
der Handel Menschen und Völker verbindet, desto größer ist die Chance - es ist nicht mehr als eine Chance auf eine friedliche Welt.
Dies sind die Ideen, von denen wir ausgehen, und die
Ziele, auf die wir zugehen. Der heilige Thomas sagte: In
den Grundsätzen ist man sich immer einig; schwierig
wird es, wenn es um die konkrete Einzelentscheidung
geht.
({3})
Natürlich hat er recht.
({4})
- Verehrte Frau Skarpelis-Sperk, wenn wir hier über
Thomismus diskutieren wollen, dann stehe ich Ihnen zur
Verfügung - aber bitte nicht im Rahmen meiner Redezeit.
({5})
Wir haben es mit nichts anderem als mit der Konkurrenz um die Erreichung eines Zieles zu tun, zugunsten
dessen ein jeder etwas dranzugeben hat. In der Spannung zwischen - durchaus berechtigten - nationalen Interessen und dem großen Ziel bestand die Schwierigkeit
der Vorbereitung. In der Europäischen Gemeinschaft
haben wir in dieser Frage weitgehend Übereinstimmung.
Es ist eine große Leistung, daß wir weitgehend eine gemeinsame Verhandlungsposition haben erarbeiten können.
Einige unserer Partner - auch wir selber - haben
Themen zurückstellen müssen. Die jetzt von der Kommission vorgeschlagene Formulierung zu den Arbeitsnormen scheint mir ein realistischer Vorschlag zu sein.
Diese Formulierung weicht von dem ab, was die Bundesregierung ursprünglich im Sinn hatte. Frankreich
wollte im audiovisuellen Bereich die Eigenständigkeit
der Kulturgüter schützen - ein hohes Ziel. Aber der jetzige Text weist aus, daß wir alle nicht mehr daran glauben, man könne die Kulturgüter durch Protektionismus
und Abschottung schützen. Nein, man kann die Kulturgüter fördern und stützen; aber sie müssen sich in einer
offenen Welt im Wettbewerb der Besten bewähren.
Wir haben ein gemeinsames Konzept erarbeitet, mit
dem wir in die Verhandlungsrunde gehen wollen. Das
Charakteristikum dieses Konzepts ist, daß die Gemeinschaft eine umfassende Verhandlungsrunde will - umfassender, als dies in den anderen Konzepten gefordert
wird. Die Verhandlungsrunde muß umfassend sein; denn
sämtliche Märkte hängen zusammen, sie stützen und sie
bedingen einander.
Die Gemeinschaft listet in ihrem Papier mehr als ein
Dutzend verschiedene Sachthemen auf. Diese Sachthemen haben jeweils ihr eigenes spezifisches Gewicht: Es
geht unter anderem um Landwirtschaft. Wir wissen,
daß im Beschluß sowohl im Äußeren die Senkung der
Zölle als auch im Inneren der Abbau von Subventionen
festgelegt ist. Aber wir wissen auch, daß die Landwirtschaft für uns mehr als eine Güterproduktion ist. Sie ist,
wie die Fachleute sagen, multifunktional, das heißt, sie
ist ein Teil unserer Kulturlandschaft und ein Teil unseres
Landes. Es geht darum, den weisen Kompromiß zu finden. Für die Entwicklungsländer ist der Zugang zu den
Agrarmärkten eine essentielle Angelegenheit, die viel
Klugheit und viel Fingerspitzengefühl verlangt.
({6})
Wir werden über Dienstleistungen, der schnellstwachsende Markt, zu reden haben - über Dienstleistungen nicht nur als Dienstleistungen. Dienstleistungen öffnen zusammen mit der jetzt zur Verfügung stehenden
Hardware erst die Märkte. Es geht also nicht nur um die
Frage des stärkeren Wachstums der Dienstleistungsmärkte. Erst die Tatsache, daß man Dienstleistungen anbieten kann, öffnet zunehmend die Märkte für Hardware, in BOT- und BOOT-Modellen, in maßgeschneiderten Umweltanlagen unterschiedlichster Bereiche.
Beiläufig gesagt: Die Marge bei Dienstleistungen ist wesentlich höher als die Marge bei Hardware.
Investitionen sind die eigentliche Triebkraft für die
Entwicklung der armen Länder, und zwar Investitionen
unter Bedingungen, die nicht in 1 600 bilateralen Abkommen unterschiedlicher Art, sondern in einem einzigen multilateralen System festgelegt werden, so daß
gleiches Recht für alle gilt und der Mächtigere nicht auf
Grund seiner Machtposition bilaterale Verträge erzwingen kann. Es muß ein gemeinsames Konzept für alle
entstehen.
Wettbewerb und die Senkung der Zölle:
Die öffentliche Beschaffung macht in vielen Ländern fast 15 Prozent der relevanten Märkte aus. Die Zugänge zu den einzelnen Bereichen, das geistige Eigentum: Wenn wir es nicht schützen, wird es nicht entstehen, oder es entsteht, geht aber nicht in die Länder, die
es brauchen. Der Schutz des geistigen Eigentums ist
nicht die Abschottung gegenüber denen, die es noch
nicht haben, sondern ermöglicht es erst in diesen Ländern, daß es dort wirksam wird.
({7})
Wenn wir hier über die Aufnahme von China in die
WTO sprechen, wird man solche Fragen von vornherein
einbeziehen müssen. China ist nicht das klassische arme
Entwicklungsland. China hat ganz andere Strukturen,
Funktionen und Möglichkeiten auf den Weltmärkten, so
daß es zu Bedingungen kommt, die eine dauerhafte und
fruchtbare Mitgliedschaft ermöglichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
nur einige der Punkte aufgegriffen, über die wir reden.
Dies sind gewaltige Ziele. Der Rahmen von drei Jahren,
den wir uns gesetzt haben, ist ein begrenzter Rahmen.
Ich hoffe, daß unsere Ziele in dieser Zeit erreichbar sein
werden. Niemand kann das garantieren. Bei diesen gewaltigen Zielen sollte man - da stimme ich zu - nicht
von vornherein Abstriche machen. Churchill sagt: Setzt
keine kleinen Ziele! „They do not have the magic to stir
the people’s mind.“ - Sie haben nicht die Magie, die
Herzen der Menschen zu bewegen. Dennoch muß man sich in der realen Welt darüber im
klaren sein, daß mit dem Weg, den wir vor uns haben,
nicht alles und nicht alles zu 100 Prozent erreicht werden kann. Wir müssen mit unseren amerikanischen
Freunden reden. Ich halte es für eine vorzügliche Sache, daß Herr Prodi die Initiative ergriffen hat und jetzt
das Gespräch mit Präsident Clinton sucht, um von
Mann zu Mann zu klären, was nicht allein auf der Ebene
unserer hervorragenden, tüchtigen und achtenswerten
Beamten zu klären ist. Manchmal muß von oben entschieden werden. Dies ist eine Idee, die bei manchen
Regierungen etwas ungewöhnlich klingt.
({8})
Aber daß dies notwendig ist, um Probleme zu lösen,
steht außer Streit. Seattle wird wahrscheinlich die letzte
Möglichkeit sein, mit den USA zu einer gemeinsamen
Strategie zu kommen. Danach ist Wahlkampf.
Wir haben für diese Agenda auch die Länder der
Dritten Welt zu gewinnen. Dies ist in keiner Weise trivial. Wir haben in der ASEM-Vision-Group mit 25 europäischen und asiatischen Ländern über das diskutiert,
was für unsere gemeinsame Zukunft wichtig sein kann.
Das Faszinierende dabei war das feste Vertrauen, die tiefe Zuversicht dieser Länder in die eigene Tüchtigkeit,
sofern man ihnen faire Bedingungen auf den Märkten
einräumt. Aber spürbar war auch das tiefe Mißtrauen,
daß die reichen Länder sie mit Protektionismus und unter dem Vorwand von Sozialnormen und Arbeitsnormen
von den Märkten fernhalten, daß sie ihnen nicht erlauben, sich zu entwickeln.
Wir treten nicht für den Welthandel als Wert an sich
ein. Wir treten genauso für Werte jenseits von Angebot
und Nachfrage ein.
({9})
- Hören Sie mal; das ist aber eine besonders lustige Bemerkung! Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich sie zerpflücken.
({10})
Die opportunistische Politik der derzeitigen Regierung mit der Nichtabsehbarkeit dessen, was morgen geschieht, ist sicherlich keine Politik, die sich an Grundsätzen orientiert. Sonst wären diese gelegentlich erkennbar.
({11})
Wir wünschen ihr allen Erfolg - im Geist der offenen
Märkte, im Geist von Wettbewerb und Konkurrenz, im
Geist von Kooperation und Partnerschaft und in einem
Geist des Rechts, das für alle gleich ist. Schon allein die
Existenz der Schiedsgerichtsbarkeit ist friedensstiftend
für alle, die sich in der WTO versammelt haben, und das
sind 135 Nationen.
Komplementär dazu gilt ein Zweites: Wir wollen den
offenen Wettbewerb, wir wollen offene Märkte, aber
Deutschland muß in diesen Märkten auch bestehen können. Die zweite Hälfte der Sache ist, daß wir im schärferen Wind des Wettbewerbs überprüfen müssen, was alles zu geschehen hat, damit wir stark und erfolgreich
sein können.
Da gelten im Grunde die gleichen Prinzipien wie für
die Verhandlungen der WTO. Wir wollen natürlich die
Zölle senken. Wir wollen in Deutschland aus genau den
gleichen grundsätzlichen Überlegungen die Steuern für
Unternehmen und Unternehmer senken. Die aberwitzige
Unterscheidung zwischen Unternehmen und Unternehmern - das eine ist gut; der andere wird diskriminiert ist für das Selbstbewußtsein derer, die wir brauchen,
verhängnisvoll.
({12})
Wir wollen deregulieren, und wir wollen feste Rahmenbedingungen schaffen. Dabei ist es nicht uneingeschränkt hilfreich, daß gestern im Ausschuß die Korrekturvorschläge zum Korrekturgesetz über die
Scheinselbständigkeit in einer neuen Vorlage vorgelegt
wurden. Es ist nicht hilfreich, wenn die Probleme der
630-Mark-Jobs und der Scheinselbständigkeit über Monate hinweg mit großer Liebe diskutiert werden. Der
Staat vollbringt schon eine großartige Leistung, wenn er
die Menschen nicht mehr als nötig bei der Arbeit stört.
({13})
Herr Müller, ich glaube, Sie denken genauso: Ob Sie
es zugeben, ist eine andere Frage. Ob das mit der Regierungspolitik übereinstimmt, ist eine weitere Frage.
Wir müssen dafür sorgen, die Sache so aufzubauen,
daß der Mutige ermutigt und der Tüchtige tüchtiger wird
und der Staat sie nicht bremst.
Ein Letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren:
Ich stimme in herzlichem Einvernehmen mit der derzeitigen Regierungsfraktion der SPD dem zu, was Frau
Skarpelis-Sperk gesagt hat. Wir erwarten von der Regierung, daß sie für diese Ideen wirbt. Die Angst ist ein gefährlicher Ratgeber. Der Glaube, die Umwelt würde
durch Handel zerstört, ist irreführend, gefährlich und
kontraproduktiv. Bevölkerungswachstum und Armut
zerstören die Umwelt, während der Handel die Möglichkeit gibt, Armut zu überwinden. Das ist die Idee.
({14})
Diese Idee aber auch zu zeigen und ihre Strahlkraft
sichtbar zu machen ist die Aufgabe der Bundesregierung, die sich bisher noch nicht durch besondere Strahlkraft auszeichnet.
Saint-Exupéry sagte: Willst du ein Schiff bauen, dann
sammle nicht Nägel und Werkzeug und Holz
Herr Kollege, außerdem müssen Sie auf die Uhr sehen.
- ich bitte um
Nachsicht, ich bin sofort fertig -,
Es fällt mir schwer,
Sie zu bremsen.
- sondern
sammle Männer, und lehre sie die Sehnsucht nach dem
weiten endlosen Meer. Ein bißchen mehr Faszination,
die die Herzen der Menschen bewegt, Freude an dem,
was wir tun können, ein bißchen weniger Verstrickung
in das Elend der einzelnen bürokratischen Gesetzlichkeiten, ein bißchen mehr Mut für das, was für ein zuversichtliches Deutschland in der Gemeinschaft der Völker
getan werden kann - das ist das, was dieses Land
braucht.
({0})
Herr Kollege Riesenhuber, angesichts der Tatsache, daß Sie mir als PräDr. Heinz Riesenhuber
sidentin eine völlig neue Perspektive eröffnet haben,
nämlich im Interesse der Stenographinnen und Stenographen aufpassen zu müssen, daß der Redner halbwegs
am Pult bleibt, habe ich ausnahmsweise die Augen ein
Stückchen zugedrückt, was die Redezeit betrifft.
Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist der Kollege Reinhard Loske.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mir
ist noch immer warm ums Herz nach den schönen Worten von Herrn Riesenhuber. Ich habe auch aus Überzeugung und Anteilnahme geklatscht. Ich bin wirklich sehr
froh, Herr Riesenhuber, daß wir auf der einen Seite von
der Dämonisierung, daß die Globalisierung die Wurzel
allen Übels sei, und auf der anderen Seite von der Idealisierung weggekommen sind. Sie klang bei Ihnen, am
Schluß jedenfalls, noch etwas an. Auch ich bin im Sinne
von Saint-Exupéry für die große Vision. Aber man sollte
in diesem Zusammenhang eine Haltung einnehmen, die
so lautet: Zuversicht gepaart mit Gestaltungswillen und
Realitätssinn.
Realitätssinn ist natürlich wichtig. Die Schere zwischen Arm und Reich beispielsweise hat sich in den 90er
Jahren weiter geöffnet; sie ist nicht kleiner geworden.
Auch das ist Realität. Das kann man nicht durch Reden
aus der Welt schaffen.
Zu denken ist auch an die globale Umweltsituation.
Ihr Parteifreund Klaus Töpfer hat hier in Berlin vor wenigen Wochen auf sehr eindrucksvolle Weise den jüngsten UNO-Bericht zur Lage der Umwelt in der Welt
vorgestellt: Sie hat sich verschlechtert. Das heißt - so
wunderbar ich Ihren Vortrag fand und so wunderbar Ihre
Emphase war -, zum Schluß sind Sie etwas über das
Ziel hinausgeschossen. Denn die Realitäten sind etwas
komplexer.
Nun zu der Frage, wie Staaten auf die Globalisierung reagieren können. Ich möchte, bevor ich auf die
WTO zu sprechen komme, ganz kurz ein paar allgemeine Dinge ansprechen. Ich glaube, es gibt drei Wege, als
Staat auf die Globalisierung zu reagieren: erstens mit
Abschottung, zweitens mit Anpassung und drittens mit
einem gemeinsamen Gestaltungswillen.
Was das erste betrifft, sind wir uns, glaube ich, einig:
Abschottung ist nicht nur unrealistisch, sondern in den
Ländern, in denen man dies versucht hat, historisch
grandios gescheitert, zum Beispiel in den Entwicklungsländern, nämlich in den 70er Jahren in Tansania
mit dem Versuch selektiver Abkoppelung usw., - ich
will hier nicht Nordkorea nennen -, ganz zu schweigen
von dem großen Experiment in Osteuropa. Insofern
kann das für uns keine realistische Perspektive sein.
Dennoch will ich hinzufügen, daß in bestimmten Bereichen Regionalisierungsstrategien, die mehr auf die Region als auf den Weltmarkt setzen, wichtige Beiträge
sind und keineswegs als Abkoppelung vom Weltmarkt
denunziert werden sollten.
Was das zweite betrifft, die Anpassung an die neuen
Realitäten, so ist festzustellen, daß daran kein Weg vorbeiführt. Diese neuen Realitäten sind so, wie sie sind. Es
gibt für die Unternehmen eine freie Wahl des Standortes. Es gibt den freien Fluß von Waren, Dienstleistungen, Informationen und Kapital. Das sind die Realitäten.
Wer diese Realitäten ignoriert, der verliert seine Wettbewerbsfähigkeit und letztlich Wohlstand sowie Arbeitsplätze. Ich glaube, da besteht zwischen uns überhaupt kein Dissens.
Daß man auch in der Politik gewisse Anpassungsreaktionen an den Tag legen muß, zum Beispiel bei den
Tarifparteien im Hinblick auf die Gestaltung der Arbeitswelt sowie allgemein im Hinblick auf den Abbau
überzogener Bürokratie und die Sicherstellung eines leistungsfähigen Staates und leistungs- sowie wettbewerbsfähiger Steuersysteme, ist richtig. Aber die grundsätzliche Frage lautet: Reicht Anpassung aus?
Ich glaube, die dritte Dimension, der Gestaltungswille, ist von zentraler Bedeutung und unverzichtbar.
Gerade unter ordoliberalen Ökonomen war es völlig unstrittig, daß wir einen Wettbewerbsrahmen, einen Sozialrahmen und einen ökologischen Rahmen brauchen.
Denn was der Markt kann, ist, Ressourcen effizient zu
allozieren. Was er aber definitiv nicht kann, ist, soziale
Gerechtigkeit herzustellen oder Umweltstandards zu
gewährleisten. Das müssen wir Politiker schon selber
machen.
({0})
Wenn es so ist, daß sich die Ökonomie globalisiert,
also den nationalen bzw. europäischen Handlungsraum
verläßt, dann besteht die Aufgabe, den Versuch zu wagen, einen globalen Ordnungsrahmen sicherzustellen,
der Wettbewerbsregeln, Sozialstandards und Umweltstandards beinhaltet. Das ist die Aufgabe, die Herausforderung, vor der wir stehen.
Wenn einem das manchmal als Herkulesaufgabe vorkommt, so ist an folgendes zu erinnern: In Deutschland
hat es sehr lange gedauert, bis wir vernünftige Wettbewerbsregeln, einen einigermaßen tragfähigen Sozialstaat
und Umweltregeln hatten. Dies hat auch in Europa sehr
lange gedauert. Wir sind ständig dabei, diese Dinge zu
verbessern. Auch im Weltmaßstab, im Rahmen der
WTO und der anderen Systeme, wird es sehr lange dauern, bis wir ähnliches erreichen. Aber die Bewältigung
dieser Aufgabe - mag es auch eine Herkulesaufgabe
sein - muß angegangen werden; sonst würden wir vor
der Geschichte versagen. Das steht in bester kontinentaleuropäischer Tradition. Deshalb bin ich froh, daß die
EU in die entsprechenden Verhandlungen mit einer geschlossenen Position geht. Wir Grünen unterstützen diese Position und auch die der Bundesregierung ausdrücklich.
Ich möchte jetzt zu den Verhandlungen im engeren
Sinne kommen und einige Punkte gesondert herausheben, die uns besonders wichtig sind: Das betrifft erstens
die Öffnung der Märkte auch für die Entwicklungsländer, zweitens den Umweltschutz, drittens die soziale
Dimension, viertens die Verbraucherinteressen - das ist
ganz wichtig; darüber wurde bislang noch gar nicht gesprochen - und fünftens und letztens die Gestaltung
einer Wettbewerbsordnung.
Zum ersten, zu den Entwicklungsländern. In diesem
Zusammenhang muß man jenseits der großen Worte
feststellen, daß in unserem Verhalten gewisse Abweichungen von diesem großen Ziel zu erkennen sind. Ich
nenne das Bananenbeispiel. Weitere Beispiele gibt es im
Textilbereich, wo nach wie vor Zölle bestehen, die es
den Entwicklungsländern objektiv erschweren, Handel
zu treiben. Darauf wird jedoch meine Kollegin KösterLoßack gleich eingehen.
Zweiter Punkt: Umweltschutz. Ich glaube, es ist ganz
wichtig, daß wir das bislang völlig unverbunden neben
dem Umweltrecht stehende internationale Handelsrecht
mit dem Umweltrecht verzahnen müssen. Wenn die beiden Bereiche nur nebeneinander stehen, dann ist ganz
klar, welcher Bereich sich durchsetzt, nämlich das Handels- und Wirtschaftsrecht. Die Verzahnung ist also eine
ganz wichtige Aufgabe.
Eine zweite wichtige Aufgabe ist der Abbau ökologisch kontraproduktiver Subventionen, auch der Exportsubventionen. Es kann nicht sein, daß wir einerseits von
den Chancen der Entwicklungsländer auf unseren
Agrarmärkten reden, andererseits aber Agrarexporte in
die Entwicklungsländer subventionieren und damit
die Strukturen in diesen Ländern kaputtmachen. Das ist
auf gar keinen Fall nachhaltige Politik. Das muß aufhören.
Der dritte Punkt in diesem Zusammenhang ist die
Landwirtschaft insgesamt. Ich glaube sehr wohl, daß
die Landwirtschaft eine Sonderrolle einnimmt. Herr Riesenhuber hat es schon angesprochen: In der Landwirtschaft geht es eben nicht nur um die Erzeugung von
Nahrungsmitteln. Gerade in Europa geht es auch um die
Kulturlandschaft. Es gilt, eine vernünftige Balance zwischen den Interessen für eine Marktöffnung und den Interessen des Landschaftsschutzes herzustellen. Das halte
ich für sehr zentral; denn die Landwirtschaft ist mehr als
nur Nahrungsmittelproduzent.
Was die Sozialstandards betrifft, so glaube ich, daß
die Lösung, die sich jetzt abzeichnet, nämlich eine gemeinsame Arbeitsgruppe von ILO, der Internationalen
Arbeitsorganisation, und Welthandelsorganisation, zwar
nicht besonders weitgehend und anspruchsvoll ist;
gleichwohl ist dies ein erster Schritt in die richtige
Richtung. Besser wäre es - das ist bislang auch noch
Position der EU -, in der WTO eine Arbeitsgruppe einzurichten.
Viertens: Verbraucherinteressen. Das ist ein ganz
zentraler Punkt, der nach meinem Gefühl viel zuwenig
zur Sprache kam. Wir haben es heute in den Industrieländern, aber auch weltweit mit der Situation zu tun, daß
die Verbraucher viel besser informiert sein wollen und
viel bewußter sind, was die Kaufentscheidung angeht.
Deswegen ist es völlig unakzeptabel, daß man sich beispielsweise gegen die Kennzeichnung von genetisch
veränderten Lebensmitteln sperrt. Ich halte dies für unmöglich.
({1})
Der selbstbewußte Verbraucher braucht Informationen.
Aufgabe internationaler Vereinbarungen ist es, dem
Verbraucher diese Informationen zu geben.
Ich komme in diesem Zusammenhang zum letzten
Punkt. In unserer Gesellschaft gibt es bestimmte Traditionen. Wir wollen kein Hormonfleisch, wir wollen keine Genprodukte, und wir wollen keine Turbokühe. Das
müssen die Vereinigten Staaten akzeptieren.
({2})
Zum Schluß noch ein Wort zu den Interessen der
Entwicklungsländer. Wie gesagt, wird meine Kollegin
gleich ausführlich darauf eingehen. Ich glaube, hier
wandern wir auf einem sehr schmalen Grat: Auf der
einen Seite wollen wir, daß ökologische Standards,
möglichst auch Sozialstandards in das Handelsregime
einbezogen werden.
({3})
Auf der anderen Seite müssen wir aber zur Kenntnis
nehmen, daß sich gerade die Entwicklungsländer mit
Händen und Füßen dagegen wehren, und zwar aus der
Sorge heraus, daß hier einem grünen oder Sozialprotektionismus Vorschub geleistet werden soll. Der Schlüssel
dafür, dies auf die Agenda setzen zu können und bei den
Entwicklungsländern auf Akzeptanz zu stoßen, ist die
Glaubwürdigkeit des eigenen Handelns.
({4})
Insofern besteht ein direkter Zusammenhang zwischen
dem, was wir bei uns tun, und dem, wofür wir international eintreten.
Danke schön.
({5})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die anstehende WTO-Konferenz in
Seattle muß ein Erfolg werden. Wir brauchen ein klares
Signal. Nur so kommt die notwendige Liberalisierung
des internationalen Handels voran. Wer die Zusammenhänge kennt, weiß: Teilhabe am Ausbau der internationalen Arbeitsteilung bedeutet Wohlstandsmehrung und
Chance für alle. Das ist kein Nullsummenspiel, hier entsteht Zusätzliches.
Grundvoraussetzung für einen Erfolg ist, daß die Europäische Union mit einer starken Stimme spricht. Was
wir brauchen, sind klare Linien und Positionen und kein
mit einzelstaatlichen Sonderinteressen überfrachtetes
Verhandlungsprogramm.
Im Gegensatz zu den traditionellen Freihandelsnationen wie Großbritannien und die Niederlande hat die
Dr. Rainer Loske
grünrote Bundesregierung hier leider eine wenig förderliche Rolle gespielt. Zwar will sie auf der einen Seite
zügig zu Ergebnissen kommen. Auf der anderen Seite
werden von der Bundesregierung aber zahlreiche Einzelforderungen gestellt. Ich appelliere deshalb an Sie: Lassen Sie uns lieber in drei Jahren zu konkreten Ergebnissen in wenigen wichtigen Punkten kommen und nicht in
acht Jahren alles zerreden!
({0})
Wir begrüßen ausdrücklich das gemeinsame Ziel der
Welthandelsrunde, die Entwicklungsländer beim Freihandel einzubeziehen.
({1})
Dann aber müssen Sie die Belange der Entwicklungsländer auch tatsächlich berücksichtigen. Es ist wenig
hilfreich, wenn Sie die Länder der Dritten Welt durch
die Forderung unterschiedlichster Mindeststandards verunsichern. Wir dürfen die Entwicklung dieser Länder
nicht bremsen, indem wir ihre Wettbewerbsfähigkeit
schwächen,
({2})
sondern wir müssen auch bereit sein, uns umgekehrt diesem auf dem Papier gewünschten Wettbewerb zu stellen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung
möchte trotz der vorgetragenen Bedenken unbedingt die
Sozialstandards auf die Agenda der WTO setzen.
({3})
Dabei nimmt sie offensichtlich nicht zur Kenntnis, daß
es bereits Empfehlungen der OECD - wissen Sie, wer
schreit, hat immer Unrecht, Frau Kollegin -,
({4})
zum Thema Mindeststandards für multinationale Unternehmen gibt. Es gibt außerdem verschiedene Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO.
Auch Sie wissen, wie es um die Ratifizierung dieser
Konventionen bestellt ist. Wenn bestimmte Länder solche Konventionen unterzeichnen, ist das wahrlich keine
Garantie dafür, daß die Konventionen von diesen Ländern auch eingehalten werden.
({5})
Wenn umgekehrt Großbritannien oder die Niederlande
solche Konventionen nicht unterzeichnen, bedeutet dieses nicht, daß in diesen Ländern unzumutbare soziale
Zustände herrschen würden.
Deshalb frage ich Sie: Welchen Sinn macht es, jetzt
weitere Runden zu diesem Thema innerhalb der WTO
zu installieren, zumal die Bundesregierung für ihr Anliegen nicht einmal innerhalb der Europäischen Union
eine solide Mehrheit hat? Wollen Sie damit vom Versagen in der nationalen Politik ablenken? Ist es denn nicht
irreal zu meinen, die anderen würden sich unseren überdrehten Standards anschließen, ihre Wettbewerbsvorteile
und ihre komparativen Vorteile aufgeben, die sie dadurch haben, daß wir uns in Deutschland nicht bewegen
und notwendige Anpassungsprozesse nicht vornehmen
wollen? Davon träumen nur Sie.
({6})
Das erinnert mich an Aussagen wie „Am deutschen
Wesen soll die Welt genesen“ bzw. „Der deutsche
Oberlehrer weiß alles besser; der Rest der Welt hat sich
danach zu richten, strammzustehen - zack, zack - und
die Empfehlung entgegenzunehmen“. So kann man es
nicht machen. Die WTO ist zu wichtig, um PlaceboPolitik zu betreiben. Sie müssen auch sagen, welchen
Preis Sie letztlich zu zahlen bereit sind, damit über internationale Mindeststandards geredet wird. Die Entwicklungsländer werden sich natürlich mit Händen und
Füßen gegen solche Diskussionen wehren. Wenn sie
sich doch darauf einlassen, wollen sie dafür entgolten
werden. Sie müssen dem deutschen Steuerzahler klar
sagen, was das kostet. Die Forderung nach Mindeststandards darf nicht zu einer bloß symbolischen politischen
Forderung verkommen. Dazu ist das Thema zu wichtig.
({7})
Es muß an der richtigen Stelle und in den richtigen
Gremien diskutiert werden. In die Welthandelsrunde
paßt es nicht.
Es wundert mich übrigens sehr, welche Nebenrolle
Sie dem Thema Handel und Wettbewerb zuweisen.
Auch internationale Kartelle und Zusammenschlüsse
sind eine greifbare Bedrohung für den Freihandel.
({8})
Wir leben in einer Zeit der internationalen Unternehmenskonzentrationen. Es entstehen neue Dinosaurier.
Im vergangenen Jahr haben weltweit Unternehmen mit
einem Wert von 2,1 Billionen Dollar fusioniert. Dieser
Wert liegt sechsmal so hoch wie 1992. Die Tendenz
hierbei ist weiter steigend. Die Entwicklung auf den
Märkten im Bereich der Automobile, der Versicherungen, der Banken, des Öls, der Telekommunikation und
der Luftfahrt bestätigen leider die Warnung des scheidenden deutschen Kartellamtspräsidenten Wolf, der
sagte, daß die gemeinschaftliche Kontrolle des Weltmarktes durch wenige Konzerne aus seiner Sicht nicht
mehr allzufern sei.
({9})
Hier muß man gegenhalten und etwas machen.
Die Marktmacht, die durch diese grassierende Fusionitis gebündelt wird, ist erheblich. Hier entstehen geradezu neofeudalistische Strukturen. Deshalb lobe ich die
Pläne der Vereinigten Staaten und der Europäischen
Union: Beide wollen einen gemeinsamen Ausschuß
gründen, der sich künftig regelmäßig um transatlantische
Wettbewerbsfragen kümmert.
Wir brauchen - nebenbei bemerkt - dringend eine
europäische Kartellbehörde.
({10})
Es ist doch ein Witz, daß für kleinere Zusammenschlüsse das einigermaßen funktionierende deutsche Kartellrecht gilt. Je größer sie aber sind, desto weniger Kontrolle darüber existiert, was sich tut und welche Konzentrationen ablaufen. Diese Entwicklungsprozesse registriert scheinbar weltweit überhaupt niemand. Es fehlt
ein weltweites Regelwerk, in dem die elementaren
Grundsätze des Wettbewerbs verbindlich festgeschrieben werden.
({11})
Hier greifen bilaterale Vereinbarungen zu kurz. Wir
brauchen hier Rechtssicherheit. Die WTO ist die geeignete Institution, um ein Problem dieser Art anzugehen.
Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Loske?
Ja, gerne.
({0})
- Wissen Sie, Ihre Bemerkung: „Der schwätzt nur“,
Frau Kollegin, hat Niveau. Gratulation dazu!
Herr Brüderle, in Ihrer Rede finden sich durchgängig zwei Auffassungen: Zum einen gibt es eine große Skepsis bis zur Ablehnung von Normen im Bereich
Umwelt und Soziales im Rahmen des WTO-Regimes.
Zum anderen gibt es die Einsicht in die Notwendigkeit,
den Wettbewerb im globalen Maßstab zu ordnen. Meine
Erfahrung im internationalen Bereich ist, daß diese beiden Standpunkte sehr wohl zusammenpassen.
Können Sie sich nicht vorstellen, daß beispielsweise
deutsche oder europäische Unternehmen, die weltweit
agieren, Interesse daran haben, daß alle Wettbewerber in
dem Land, in dem sie Investitionen tätigen - zum Beispiel in Südafrika -, auf der Basis der gleichen Normen
agieren? Liegt es nicht sogar im Interesse unserer Wirtschaft, daß beispielsweise im Bereich der Umwelt einheitliche Standards sichergestellt werden?
Politik ist immer die
Kunst des Machbaren. Man könnte natürlich auch
10 Jahre lang träumen und nichts zustande bringen, obwohl man relativ schnell zu Entscheidungen gekommen
ist.
({0})
- Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, und blöken Sie
nicht in meine Antwort hinein! Wenn Sie eine Frage
stellen, dann bekommen Sie eine passende Antwort.
({1})
Der Wunsch ist irreal, der Traum könne sich erfüllen,
daß sich alle in Richtung deutscher Standards bewegen.
Mit diesem Traum werden Sie gar nichts erreichen. Anstatt den Träumen nachzuhängen, ist es deshalb richtiger, sich auf Kernpunkte zu konzentrieren, die konsensfähig sind und die man umsetzen kann. Ich weiß, in
Deutschland war die Romantik immer populärer als die
Aufklärung. Ich bevorzuge die Aufklärung.
({2})
Herr Kollege Brüderle, es gibt den Wunsch des Kollegen Loske nach einer zweiten Zwischenfrage.
Ja, bitte schön.
Mir ist Ihre Antwort etwas zu billig.
Das habe ich vermutet.
Man kann es sich nicht so einfach machen. Die
Realität hinsichtlich der Probleme, vor denen die Unternehmen stehen, ist komplexer. Deswegen will ich nachfragen. Liegt es nicht im Interesse der deutschen Unternehmen, daß weltweit - wenigstens in der Tendenz einheitliche Standards gelten? Im anderen Fall wäre es
so, daß beispielsweise diejenigen, die sich nicht an diese
Standards halten, Wettbewerbsvorteile gegenüber denjenigen haben, die sich daran halten. Diese Tatsache muß
doch selbst für einen Wirtschaftsliberalen nachvollziehbar sein - oder nicht?
Es liegt im Interesse unserer Unternehmen, daß wir mit der Liberalisierung in
den Punkten, die wir umsetzen können, vorankommen.
Es liegt nicht im Interesse der Unternehmen, auf Wolke
sieben zu träumen, aber nichts zu erreichen. Ich weiß,
daß Ihre Politik so angelegt ist. Aber die Welt ist leider
anders, als Sie sie sich sozusagen backen möchten.
({0})
- Es ist klar, Herr Ströbele, daß ich Sie nicht zufriedenstellen kann. Das können ja nicht einmal Ihre eigenen
Leute, weil Sie in Ihrem eigenen Verein Außenseiter
sind.
Herr Kollege Brüderle, es gibt noch einen Wunsch, eine Zwischenfrage
zu stellen.
Ich freue mich darauf.
Herr Kollege Brüderle, Sie haben vorhin vehement darauf hingewiesen,
daß WTO-Verhandlungen für den Steuerzahler Kosten
verursachen. Sie haben uns in diesem Zusammenhang
aufgefordert, zu sagen, was es kostet, wenn man solche
Standards durchsetzen will. Meine Gegenfrage lautet:
Wären Sie auch bereit, dem deutschen Steuerzahler mitzuteilen, welche Kosten auf ihn zukommen, wenn
80 Prozent der Menschheit keine Chance hat, an einer
nachhaltigen Entwicklung zu partizipieren?
Herr Kollege, gerade weil
ich diesen Menschen eine Chance geben will, bin ich dafür, Regelungen zu finden, die für diese Länder akzeptabel sind. Aber wenn Sie diese Regelungen gemäß deutschen Vorstellungen den Entwicklungsländern in Afrika,
deren Bewohner sich in der untersten Einkommenskategorie befinden, überstülpen wollen, dann muß ich sagen,
daß diese Länder dann keine Chance haben, sich zu
entwickeln.
({0})
Wir müssen diese Regelungen so dosieren, daß sie am
Take-off der Entwicklungsprozesse teilnehmen können.
({1})
Sie aber behindern diese Länder, indem Sie ihnen keinen
Freiraum geben, sondern durch eine Überreglementierung sozusagen Handschellen anlegen. Ich möchte aber,
daß diese Handschellen abgelegt werden.
({2})
Herr Kollege Brüderle, es gibt noch einen letzten Wunsch nach einer
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Büttner.
Das ist erfreulich, weil
ich so ein bißchen länger reden kann.
Herr Kollege Brüderle, ich möchte Sie nur folgendes fragen: Sind Ihnen
eigentlich die Arbeitsgesetze der meisten Staaten im
südlichen Afrika bekannt? In diesen Gesetzen sind Mindeststandards für Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und
Arbeitsschutz geregelt. Halten Sie es nicht für richtig,
daß man diesen Staaten dabei hilft, daß sie im Rahmen
der internationalen Regelungen ihre gesetzlichen Bestimmungen einhalten können, anstatt sie aufzufordern,
ihre eigenen Gesetze zu brechen?
Ich weiß nicht, wie Sie zu
der Exegese kommen, ich hätte diese Staaten aufgefordert, ihre Gesetze zu brechen. Ich warne nur: Wer meint,
er könne der ganzen Welt deutsche Vorstellungen überstülpen, der wird nichts erreichen. Gerade deshalb sind
wir Deutschen in der Welt so „populär“ und so „angesehen“. Wenn nämlich drei Deutsche im Ausland auftreten, gibt es vier Oberlehrer, die jedem erklären, was er
machen muß.
({0})
Geben Sie doch den Menschen die Chance, sich selbst
zu entwickeln, und schreiben Sie ihnen nicht alles vor!
Die Vorstellung, man könne alles planerisch steuern, ist
doch letztlich gescheitert.
Deshalb sage ich: Laßt den Ländern die Chance, zu
Wohlstand zu kommen, und meint nicht, ihr wüßtet alles
besser. Vielleicht kennen Sie die Arbeitsgesetzgebung
von Gambia und auch die Realität vor Ort im Detail und
können gelegentlich einmal dazu rezitieren.
Ich will, da es bedauerlicherweise keine weiteren
Fragen gibt,
({1})
die mir verbleibende Redezeit nutzen, um darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung - Herr Kollege Riesenhuber hat es angesprochen - eine Bringschuld nicht
erfüllt hat. Sie hat es nämlich, auch wenn sie Öffentlichkeitsarbeit sonst sehr gern macht, versäumt, der breiten
Öffentlichkeit die Zusammenhänge zwischen Öffnung
des Handels, Ausbau der Arbeitsteilung, Arbeitsplätzen,
Produktivität und Fortschritt im eigenen Land zu verdeutlichen. Das gehört ebenfalls dazu. Sie muß dann
auch erklären, was für einen Sinn eine Bananenmarktordnung in Europa macht, durch die die Bananen eben
teurer sind und andere Länder keine Chance haben. Sie
muß erklären, welche Zölle sie weiter senken will. Sie
muß erklären, welche Zusammenhänge sie sieht. Sie
muß, wenn sie gegen Dumping vorgehen will, sagen, ob
sie auch die Sonderangebote bei Aldi für Fahrräder made in China unterbinden will.
({2})
Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Es ist dann jetzt wohl an mir, die Zuversicht etwas zu dämpfen und die Büchse der Pandora zu
öffnen.
Im EU-Mandat wie in den Anträgen von SPD bis
CDU/CSU wird eine umfassende Liberalisierungsrunde
angestrebt. Sie begründen dieses Mandat mit den Fortschritten im Welthandel, dem Beitrag zum Wohlstand,
zur Entwicklung und der Hebung des Lebensstandards.
Jedoch verteilen sich die positiven und die negativen
Wirkungen sehr ungleich. Es gibt Gewinner, und es gibt
Verlierer.
Die USA, Japan und die EU haben dabei gewonnen;
gerade die ärmsten Entwicklungsländer aber haben verloren. Der Einkommensunterschied - darauf hat Frau
Kollegin Skarpelis-Sperk schon hingewiesen - zwischen
dem reichsten und ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung
hat sich seit 1960 mehr als verdoppelt. Für die Uruguay-Runde stellte eine OECD-Studie einen Gewinn von
213 Milliarden Dollar fest. Davon entfiel ein Drittel auf
die Entwicklungsländer, der größte Teil auf die
Schwellenländer. Die afrikanischen Länder, insbesondere die Nahrungsmittelimporteure mit niedrigem Einkommen, haben auf Grund des Verlusts von Handelspräferenzen dabei draufgezahlt.
Zahlen zur Zunahme des Handels und Exportwachstums allein sagen wenig über die sozialen Folgen und
Wirkungen aus, genausowenig über die Akteure und
darüber, wie sich denn die Gewinne und Verluste verteilen. Die eindeutigen Gewinner sind die multinationalen Konzerne. Der Marktanteil der jeweils zehn größten
Konzerne wuchs bis 1998 im Bereich Telekommunikation auf 86 Prozent, im Bereich Computer auf 70 Prozent. Demgegenüber nimmt die Arbeitslosigkeit von
Mexiko bis Magdeburg zu. Gerade die exportintensiven
Unternehmen mit einer Außenhandelsabhängigkeit von
mehr als 40 Prozent haben in Deutschland seit 1980
massiv Beschäftigung abgebaut. Nicht nur die ungleiche
Verteilung des Reichtums zwischen den armen und reichen Ländern steigt, sondern auch die ungleiche Verteilung innerhalb der Länder.
Wenn Sie von der CDU/CSU in Ihrem Antrag die
Regierung zur weiteren Steuerentlastung der Unternehmen, zur Fortsetzung der Privatisierung und zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes aufrufen, um auf die verschärfte Konkurrenz durch eine weitere Liberalisierung
im Dienstleistungsbereich im Rahmen der WTO-Runde
vorzubereiten, dann machen Sie die weiteren Folgen nur
allzu deutlich. Ihre Forderungen unterstreichen die
Dringlichkeit, daß das Recht jeder Regierung, spezielle
Dienstleistungen - wie Bildung und Gesundheit - aus
der Liberalisierung herauszunehmen, zwingend in eine
solche Verhandlung aufgenommen werden müßte. Das
gleiche gilt für Regelungen zur Positivdiskriminierung
im öffentlichen Beschaffungswesen. Im EU-Mandat
fehlen solche Regelungen.
Diese Entwicklungen unterstreichen auch die Dringlichkeit einer Einigung auf soziale und gewerkschaftliche Mindeststandards. Das von der EU vorgesehene Forum der WTO mit der ILO trägt kaum zur Lösung bei.
Die Stärkung der Verhandlungsmacht von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die Sanktionsfähigkeit bei Verletzung von Standards und die Einbindung
der UN-Sonderorganisationen halten wir für unverzichtbar. Es geht um die Menschen, Herr Brüderle, nicht um
die Länder, um die Menschen in Sonderwirtschaftszonen, um ihren Schutz, um bessere Arbeitsbedingungen
und mehr Rechte. Allerdings setzt das die Unterstützung
der Entwicklungsländer bei der Realisierung voraus, und
zwar nicht nur durch Entschuldung und Entwicklungshilfe, sondern insbesondere auch dadurch, daß IWF und
Weltbank Hilfen bei der Umsetzung geben, statt - wie
bisher - den Entwicklungsländern die Deregulierung der
Sozialsysteme aufzuzwingen.
({0})
Die umfassende Demokratisierung der WTO ist
eine zwingende Vorbedingung einer erneuten Verhandlungsrunde. Die WTO verfügt im Gegensatz zu anderen
internationalen Großorganisationen wie zum Beispiel
der ILO mit dem Streitschlichtungsverfahren über starke
Sanktionsmechanismen. Länder, gegen die eine Entscheidung getroffen wird, können nicht einmal mehr ein
Veto einlegen. Wie damit Regulierungen für den Gesundheitsschutz außer Kraft gesetzt werden können,
machte das Verfahren der USA gegen die EU wegen des
Importverbots für Rindfleisch mit Wachstumshormonen
deutlich. Trotz formaler Gleichheit sind die Entwicklungsländer nicht in der Lage, das Streitschlichtungsverfahren gleichberechtigt zu nutzen. Vergeltungsmaßnahmen von Mali gegen die USA geraten zur Karikatur,
während der umgekehrte Vorgang die Lebensgrundlagen
vieler Menschen zerstören kann.
({1})
Mit den Entscheidungen der WTO werden völkerrechtlich verbindliche Normen geschaffen, die nicht ausreichend von demokratischen Instanzen gestaltet und
kontrolliert werden. Mehr als 20 WTO-Mitglieder haben
keine Vertretung in Genf, sechs nicht einmal in Europa.
Eine gleichberechtigte Teilnahme der Entwicklungsländer an Entscheidungen ist damit bei aller formellen
Gleichheit ad absurdum geführt.
Öffentlichkeit, Parlamente und NGOs müssen in die
Entscheidungen eingebunden werden. Die Einrichtung
einer zweiten Kammer aus Parlamentariern und NGOVertretern sowie die zwingende Ratifizierung von
WTO-Verträgen durch die Parlamente wären notwendige Schritte dazu. Eine Verankerung im System der Vereinten Nationen und ihren Organisationen, die sich mit
den politischen und sozialen Menschenrechten beschäftigen, halten wir ebenfalls für zwingend.
Kolleginnen und Kollegen, das vorgelegte EUMandat ist nicht das MAI. Aber wesentliche Fragen sowohl aus Sicht der Entwicklungsländer als auch der
Mehrheit der Menschen in den Industrieländern werden
damit nur unzureichend oder gar nicht beantwortet. In
unserem Antrag gehen wir auf die einzelnen Punkte ein.
Gerade weil wir für eine politische Gestaltung der
Globalisierung, Kollegin Skarpelis-Sperk, und nicht für
Abschottung oder gegen den Handel sind, fordern wir
Sie zusammen mit mehr als 1 000 NGOs und vielen
Entwicklungsländern auf, keine Verhandlungsrunde,
sondern statt dessen mit einer umfassenden Evaluierung
der bisherigen Ergebnisse der Liberalisierung für die soziale Situation, die Umwelt, die Lage von Frauen und
Kindern, die Menschen- sowie Arbeitnehmerinnen- und
Arbeitnehmerrechte und die Entwicklungsperspektiven
der Länder des Südens und der Reform der WTO zu beginnen. Erst diese Ergebnisse als Voraussetzung können
unserer Meinung nach die Basis einer an sozialer und
ökologischer Nachhaltigkeit orientierten Reform werden.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun
der Bundesminister für Wirtschaft, Werner Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen
Ziele der Bundesregierung ist es, gemeinsam mit unseren EU-Partnern eine neue, umfassende Welthandelsrunde auf der 3. WTO-Ministerkonferenz in Seattle
Ende November/Anfang Dezember einzuleiten. Die
Bundesregierung hat hierbei, lieber Herr Professor Riesenhuber, ein völlig klares Konzept, das ebenso klar von
den Regierungsparteien getragen wird. Es gibt dabei
weit weniger Differenzen, als Sie vermuten, sagen wir:
weit weniger Differenzen als etwa zwischen Ihnen und
dem Rednerpult.
({0})
Trotzdem habe ich eben mit Sympathie beobachtet, wie
Sie entweder auf die Regierungsparteien oder auf den
Wirtschaftsminister zugegangen sind. Beides fand ich
sehr gut. Es zeigt auch, daß wir bei diesem Thema eine
deutliche Übereinstimmung in den wesentlichen Punkten haben.
Die über 50jährige Geschichte von GATT und
WTO stellt insgesamt eine der großen Erfolgsgeschichten der internationalen Wirtschaftspolitik in diesem
Jahrhundert dar. Die Zölle der Industriestaaten für Industrieerzeugnisse konnten mittlerweile in acht Verhandlungsrunden von etwa 40 Prozent auf durchschnittlich
4 Prozent gesenkt werden. Der Welthandel hat sich wie schon gesagt worden ist - im gleichen Zeitraum etwa versiebzehnfacht, die Weltproduktion hat sich vervierfacht, und das weltweite Pro-Kopf-Einkommen hat
sich immerhin verdoppelt. Wir erwarten von einer neuen
Runde frische Impulse für Wirtschaft und Wachstum
und damit auch für Arbeitsplätze, insbesondere in unserem Land.
Wir brauchen die neue Runde auch unter dem Gesichtspunkt, hier und da erkennbaren protektionistischen
Tendenzen durch Multilateralisierung entgegenzuwirken. Schließlich stellt sich in Zeiten zunehmender Globalisierung und internationaler Arbeitsteilung immer
mehr die Frage nach der Kohärenz der Handelspolitik
mit anderen Bereichen der Politik wie Investitionen,
Wettbewerb, Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik, Arbeitsnormen und Sozialstandards.
({1})
Hier bedarf es deshalb neuer Regeln zum Zusammenspiel dieser verschiedenen Politikbereiche.
Dies alles zeigt, daß eine neue WTO-Runde nach
Vorstellungen der Bundesregierung eine Vielzahl von
Themen umfassen muß. Ich freue mich ausdrücklich,
daß - wie zum Beispiel in Ihrer Rede, Herr Professor
Riesenhuber, deutlich wurde - die CDU/CSU mit der
Bundesregierung hinsichtlich der Chancen und Notwendigkeiten sowie der Gestaltung einer neuen Welthandelsrunde grundsätzlich übereinstimmt. So stimme ich
auch Frau Skarpelis-Sperk und Herrn Riesenhuber ausdrücklich in dem Punkt zu, daß wohl ausschließlich eine
breitangelegte Runde mit einer Paketlösung zu allen
Themen nach möglichst nur dreijähriger Verhandlungsdauer zu einem ausgewogenen Ergebnis für alle Teilnehmer führen wird.
Schließlich soll die neue Runde auch dazu führen, die
Entwicklungsländer stärker in die Weltwirtschaft und
das weltweite Handelssystem zu integrieren.
({2})
Die Entwicklungsländer konnten zwar in den letzten
30 Jahren ihren Anteil an den weltweiten Ausfuhren um
fast 50 Prozent erhöhen, die Wirtschaftsleistung blieb
jedoch von Region zu Region unterschiedlich, so daß die
Bekämpfung der Armut unverändert eine der großen
weltpolitischen Aufgaben bleibt.
({3})
Mitunter heißt es, eine umfassende Runde komme für
die Entwicklungsländer zu früh; sie hätten noch nicht
ausreichend die Ergebnisse der vorausgegangenen Uruguay-Runde „verdaut“. Dazu sage ich: Die Vorteile der
Handelsliberalisierung sind nicht nur auf die Industrieländer beschränkt, sondern auch die Entwicklungsländer
werden davon profitieren. Aber wir müssen ihnen natürlich dabei helfen, die Ergebnisse der Uruguay-Runde
umzusetzen und die Vorteile der Handelsliberalisierung
tatsächlich zu nutzen. Dies geht nicht allein mit Mitteln
der Handelspolitik; hier müssen auch entwicklungspolitische Maßnahmen greifen. Der Ausbau des WTORegelwerkes kann im übrigen gerade den vielleicht
schwächeren Partnern auf der internationalen Bühne
Rechtssicherheit und damit Stärke geben.
Um welche Themen und Sektoren handelt es sich bei
der neuen Runde im einzelnen? Ich will sechs Bereiche
nennen. Es sind, Herr Brüderle, doch ein paar mehr,
denn die WTO ist etwas mehr als die Organisation eines
Winzerfestes.
({4})
Erstens. Noch in der Uruguay-Runde sind neue Liberalisierungsverhandlungen zu Agrar- und Dienstleistungen ab dem 1. Januar 2000 beschlossen worden. Bei den
Agrarverhandlungen wird es darum gehen, notwendige Reformen im Weltagrarhandel mit den defensiven
Interessen der EU in Einklang zu bringen. Ich nenne hier
nur die Stichworte Verteidigung der multifunktionalen
Rolle der Landwirtschaft, Schutz der Gesundheit von
Mensch und Tier, Pflanzen- und Umweltschutz, Nahrungsmittelsicherheit sowie Verbraucherschutz. Nach
den Erfahrungen der Uruguay-Runde muß man kein
Prophet sein, um beim Agrarthema schwierige Verhandlungen für die EU vorauszusehen.
({5})
Bei den Dienstleistungsverhandlungen streben wir ein
höheres Verpflichtungsniveau sämtlicher WTO-Länder,
insbesondere unserer wichtigsten Drittlandspartner, an.
Sämtliche Dienstleistungssektoren sind ausnahmslos in
die Verhandlungen einzubeziehen, wobei ihren Besonderheiten allerdings Rechnung getragen werden muß.
Zweitens. Auf unser Interesse an einer umfassenden
Senkung der Industriezölle habe ich bereits hingewiesen.
Drittens. Neben dem Zollabbau ist für uns auch der
Abbau von nichttarifären Handelshemmnissen von ganz
erheblicher Bedeutung.
Viertens nenne ich nur als Stichwort unser Interesse
an der weiteren Öffnung der öffentlichen Beschaffungsmärkte.
Fünftens. Die sogenannten neuen WTO-Themen
werden in der nächsten Runde eine wichtige, wenn nicht
sogar die zentrale Rolle spielen:
Zunächst ist das Thema „Handel und Umwelt“ zu
nennen. Handel und Umweltpolitik sollten einander im
Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung ergänzen.
Dieser Aspekt sollte sich in allen Verhandlungsbereichen niederschlagen.
Bei der Behandlung des Investitionsthemas in der
WTO müssen wir die Erfahrungen aus den gescheiterten
Verhandlungen über ein multilaterales Investitionsabkommen in der OECD berücksichtigen. Mit der zunehmenden globalen Verflechtung zwischen Handel und
Investitionen wird die Notwendigkeit der Ausarbeitung
eines multilateralen Regelwerkes für einen Marktzugang
bei Investitionen und insbesondere deren Schutz immer
dringender.
Zum Thema „Handel und Wettbewerb“ streben wir
eine WTO-Rahmenvereinbarung über multilaterale
Wettbewerbsregeln zur Ausgestaltung durch die WTOMitgliedstaaten an. Es geht also ausdrücklich nicht darum, die WTO als supranationale Kartellbehörde zu konstituieren, wie es in Ihrem Vortrag, Herr Brüderle, als
Forderung anklang.
({6})
Die Bundesregierung mißt den sozialen Aspekten
des internationalen Handels hohe Bedeutung bei.
({7})
Dank des klaren Festhaltens an dieser Position kann ich
nunmehr feststellen, daß die EU einvernehmlich - Herr
Brüderle, ich wiederhole: einvernehmlich - die Einrichtung eines Ständigen Arbeitsforums der WTO gemeinsam mit der Internationalen Arbeitsorganisation,
ILO, anstrebt, in dem das Verhältnis zwischen Handel,
Handelsliberalisierung, Arbeitnehmergrundrechten und
Entwicklung näher untersucht und über die Zusammenhänge verhandelt wird.
({8})
An diesem Dialog sollen auch wichtige gesellschaftspolitische Gruppen wie Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter beteiligt werden.
({9})
Sechstens. Für die bessere Integration der Entwicklungsländer in das Welthandelssystem wird es entscheidend auf einen verbesserten Marktzugang für Produkte
der Entwicklungsländer in den Industrieländern ankommen,
({10})
was im Einzelfall für die Industrieländer auch durchaus
schmerzhaft sein kann. Zu allererst sollten alle Industrieländer und möglichst auch fortgeschrittene Entwicklungsländer schon in Seattle eine Zusage an die am
wenigsten entwickelten Staaten geben, ab dem Jahre
2003 zollfreien Zugang für im wesentlichen alle Produkte zu gewähren. Dies ist eine Initiative, für deren
Unterstützung die EU schon seit einiger Zeit bei den
WTO-Partnern wirbt. Diese Initiative kann wichtige Hilfestellung für die ärmsten Entwicklungsländer bieten
und ist ein Beweis, daß es uns mit der stärkeren Einbeziehung dieser Länder in das Welthandelssystem ernst
ist. Außerdem treten wir für eine spezielle, besser mit
anderen internationalen Organisationen koordinierte
handelsbezogene technische Hilfe sowie für eine Verfeinerung der die Entwicklungsländer begünstigenden
WTO-Sonderregeln ein.
Unsere zugegebenermaßen ehrgeizigen Erwartungen
an die neue Runde werden auch von den EU-Partnern
geteilt, in dieser Breite allerdings nicht von allen WTOPartnern.
({11})
Die Entwicklungsländer äußern starke Vorbehalte gegen
Themen wie Sozialstandards, Umwelt und Investitionen,
hinter deren Wunsch zur Einbeziehung in die Runde sie
protektionistische Absichten der Industrieländer vermuten.
Insgesamt stehen wir in Seattle vor außergewöhnlich
schwierigen Beratungen. Auch die EU-Kommission hat
inzwischen vor allzu hohen Erwartungen gewarnt. Wir
werden daher noch erhebliche Überzeugungsarbeit insbesondere bei den Entwicklungsländern leisten müssen,
damit es in Seattle gelingt, das Momentum weiterer umfassender Marktöffnung sowie zur Stärkung und Erweiterung der WTO-Regeln über das Jahr 2000 hinaus zu
erhalten.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Erich Fritz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Als der ehemalige
EU-Kommissar Leon Brittan vor drei Jahren eine neue
Welthandelsrunde forderte, da stand er alleine, da haben
das alle weit von sich gewiesen. Jetzt stehen wir doch
vor einer neuen Runde. Es geht also nicht nur um die
Abarbeitung der aus der Uruguay-Runde übriggebliebenen Punkte. In Seattle soll endlich die Entscheidung
darüber fallen, was auf die Tagesordnung kommt und
was nicht.
Die Europäische Union - Minister Müller hat das gerade vorgestellt - hat sich vorgestern auf einen Vorschlag für den Ministerrat geeinigt. Diese Position, Herr
Brüderle, finde ich nicht so abartig, wie Sie sie dargeBundesminister Dr. Werner Müller
stellt haben. Im Vergleich zu dem, was nach den Diskussionen der letzten Jahre zu befürchten war, halte ich
das sogar für eine sehr vernünftige und an der Sache
orientierte Position. Sie dient dazu, sich mit den anderen
auseinanderzusetzen. Denn es wird nicht alles das auf
die Tagesordnung kommen, was in Europa formuliert
worden ist.
Ja, wir sind für eine umfassende Runde. Wir sind
auch für weitere Liberalisierung, weil wir der Überzeugung sind, daß sich dieser Weg als richtig erwiesen hat.
Diesen Antrag, in dem wir uns für eine neue Liberalisierungsrunde aussprechen, haben wir gestellt, Frau Skarpelis-Sperk, weil wir wollten, daß der Deutsche Bundestag über die Vorbereitung dieser Konferenz diskutieren kann. Das haben wir erreicht, und das hat dazu geführt, daß auch andere Position bezogen haben. Das finden wir sehr gut; denn wir brauchen für diesen Prozeß
mehr Öffentlichkeit, als das in der Vergangenheit der
Fall war.
Das MAI ist mehrfach angesprochen worden. Ich
glaube, daß die bisherigen Erfahrungen, die gezeigt
haben, daß es im heutigen Kommunikationszeitalter so
etwas wie eine internationale Öffentlichkeit gibt, in die
Überlegungen einbezogen werden müssen und deshalb
keine fertigen Ergebnisse präsentiert werden können,
sondern bereits auf dem Weg dorthin Information und
Diskussion nötig sind. Der richtige Platz dafür ist hier bei aller Anerkennung der Bemühungen, gesellschaftliche Gruppen einzubeziehen und Kommunikationsfelder
aufzubauen, die bereits im Vorfeld einen Teil der
Widerstände auflösen oder zumindest in vernünftige
Bahnen lenken.
Die öffentliche Auseinandersetzung in den letzten
Jahren war von großem Mißtrauen geprägt. Weil das so
war, freut mich der Antrag der Koalitionsfraktionen. Mit
ihm war so nicht zu rechnen, hat doch die SPD noch im
vergangenen Jahr mit der Angst vor den Folgen der
Globalisierung und der Liberalisierung des Handels
Wahlkampf gemacht und auf Ängste spekuliert, die in
der Bevölkerung natürlich vorhanden sind, weil - darauf
ist zu Recht hingewiesen worden - die Zusammenhänge
noch nicht richtig dargestellt worden sind.
({0})
Weil Sie sich jetzt dafür aussprechen, stehen Sie stärker als in der Vergangenheit in der Pflicht, dafür zu sorgen, daß erklärt wird, warum die Veränderungen in der
Weltwirtschaft Anpassungsleistungen auch von uns
verlangen. Ich wünsche mir nur, daß Sie aus dieser Erkenntnis, die in dem Antrag deutlich wird, jetzt die Konsequenzen ziehen und auch dafür sorgen, daß die nötigen Reformen in Deutschland durchgeführt werden, die
den Standort Deutschland in diesem schärfer werdenden
Wettbewerb verbessern.
({1})
Bis jetzt haben Sie ja nur Dinge rückgängig gemacht,
verzögert, verhindert und haben andere Dinge angekündigt, die vielleicht kommen werden.
Meine Damen und Herren, es muß verantwortliche
Wege geben, das internationale Regelwerk transparent,
fair und wirksam weiterzuentwickeln. Dieses Regelwerk
muß akzeptiert sein. Deshalb muß man auch darüber
breit diskutieren. Es muß auch andere Instrumente
geben, mit denen man die Wirklichkeit in dieser Welt
ein wenig erfassen kann. Die Finanzkrise in Asien war
sicher nicht das Ergebnis der Liberalisierung der Finanzmärkte.
({2})
- Moment. - Es wäre schon hilfreich gewesen, wenn
man in der Lage gewesen wäre, durch entsprechende Indikatoren vorweg festzustellen, wer denn welchen Veränderungsbedarf hat, damit der Betreffende dann mit
dieser Situation besser fertig geworden wäre. Es ist eben
erst durch diese Krise offengelegt worden, daß es „good
governance“ in diesen Ländern nicht gibt,
({3})
daß die Finanzarchitektur dort nicht stimmt, daß das
Bankensystem dort nicht stimmt. Deshalb meine ich,
daß man sich auch beim Fortgang der Diskussion in der
WTO über Veränderungen solche Gedanken machen
muß und daß wir integriert denken müssen. Das heißt
aber nicht, daß man alles und jedes in der WTO auch
regeln kann und muß.
Insgesamt hat die Liberalisierung einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, daß es in der Welt
Wohlstand gab und Entwicklung stattfand. Richtig ist
aber auch - das ist hier mehrfach betont worden -: Das
ist nicht überall in gleichem Maße geschehen. Vielmehr
gibt es Verlierer, und gibt es Gewinner, und es gibt auch
in bezug auf die Direktinvestitionen, deren Höhe, wie
schon richtig gesagt worden ist, mittlerweile die Entwicklungshilfe überschreitet und die die eigentlichen
Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung sind, große
Unterschiede, und zwar reicht das von Null bis zu einer
wirklich erkennbaren positiven Entwicklung. Ich glaube,
daß wir deshalb gut daran tun, das, was die Entwicklungsländer in den letzten Wochen an vielen Stellen
deutlich gemacht haben, ernst zu nehmen, nämlich daß
es einen Fortschritt in der Liberalisierung nicht gibt,
wenn ihre Interessen nicht besser als in der Vergangenheit berücksichtigt werden.
Da gibt es schlicht und einfach einige Dinge, die die
Industrieländer und auch wir zur Kenntnis nehmen müssen. Wir müssen auch hier in unserem Land die Anpassungen und Strukturveränderungen vertreten, die bei uns
nötig sind, damit wir das gewährleisten können. Damit
tun sich manche sehr schwer. Der Hintergrund ist: Alle
Anforderungen hinsichtlich Sozialstandards und Umweltstandards werden doch von den Entwicklungsländern nicht pauschal abgelehnt.
({4})
Sie sind doch selbst daran interessiert, daß es eine zukunftsfähige Entwicklung gibt. Aber der pakistanische
Wirtschaftsminister sagte neulich: „Pakistan ist ein armes Land; wir wollen keine Kinderarbeit; wir wollen eine intakte Umwelt, aber ihr müßt uns die Chancen geben, daß wir unsere Produkte verkaufen können, damit
Kaufkraft entsteht und die Mittel für Gesundheit, Erziehung und die Entwicklung unseres Landes vorhanden sind. Dann werden wir uns auch den Standards nähern.“
({5})
- Da hat sich in der Zwischenzeit ein bißchen geändert.
Das ändert nichts an der grundsätzlichen Tatsache und
daran, daß das ein Beispiel für viele andere Entwicklungsländer ist.
Wenn Sie ein anderes Beispiel haben wollen, dann
nenne ich den Namen Tofail Ahmed, dem Sie ja von
seiner ganzen Biographie und politischen Geschichte her
nicht unterstellen wollen, daß er etwas gegen Menschenrechte hat. Er sagt im Prinzip genau das gleiche und tritt
dafür ein, daß diese Probleme jetzt stärker berücksichtigt
werden. Deshalb bin ich sehr wohl der Meinung, daß
man mit gutem Recht sagen kann: Wir müssen uns in
der nächsten Runde auch einmal anschauen: Welche internationalen Regelwerke gibt es in bezug auf die drei
Säulen von Nachhaltigkeit, nämlich Umwelt, Soziales
und Ökonomie? Wir müssen aber auch danach fragen:
Wie finden wir Instrumente, um Kohärenz herzustellen,
ohne die Welthandelsorganisation jetzt zum Allheilmittel zu erklären? Das kann sie nämlich nicht sein. Wenn
sie nämlich hinsichtlich ihrer Ausgestaltung beliebig
wird, dann wirkt sie nicht mehr. Wir haben da, glaube
ich, einen ganz gesunden Ansatz.
Herr Kollege Loske, ich finde, man muß einfach vernünftig mit diesen Fragen umgehen. Sie haben dazu ja
eingangs einige vernünftige Bemerkungen gemacht. Das
heißt auch, zu akzeptieren, daß wir mit einigen Schritten, die seit Rio gemacht wurden, nicht zufrieden waren.
Aber man muß auch akzeptieren, daß Handelssanktionen
als Mittel für die Durchsetzung der Rio-Beschlüsse sicherlich niemandem nützen werden. Deshalb müssen die
Auseinandersetzungen über die Themen innerhalb der
WTO-Runde so geführt werden, wie es Frau Yolanda
Kakobadse, die equadorianische Umweltministerin,
formuliert hat: Wir müssen alles in allen Organisationen
denken, aber wir müssen alles getrennt bearbeiten. Wir
müssen hinterher sehen, wie die einzelnen Ergebnisse
zusammenpassen. Dies ist der richtige Weg.
Die neue WTO-Runde, in deren Rahmen nicht nur
die alten Tagesordnungspunkte aufgegriffen werden,
sondern auch das, was Herr Minister Müller gerade dargestellt hat - das muß nicht wiederholt werden -, bietet
uns ausgesprochen gute Chancen, auch in Zukunft einerseits unsere wirtschaftlichen Vorteile zu nutzen - vorausgesetzt, wir sind bereit, unsere Hausaufgaben zu machen - und andererseits einen wesentlichen Beitrag dazu
zu leisten, daß auch andere bessere Chancen zur Nutzung ihrer wirtschaftlichen Interessen erhalten. Deshalb
unterstützen wir ausdrücklich den Ansatz, die Interessen
der ärmsten Länder innerhalb der WTO-Runde in den
Vordergrund zu stellen und ihnen Chancen auf einen
Marktzugang zu eröffnen. Ohne solche Chancen helfen
alle WTO-Regelungen nichts.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Die in Seattle beginnende Welthandelsrunde
hat sich zum Ziel gesetzt, durch eine stärkere Liberalisierung den Wohlstand aller Menschen zu fördern. Davon sollen insbesondere die Entwicklungsländer profitieren; denn es ist unbestritten, daß die bisherigen Regelungen und deren Umsetzung vor allem den Industrieländern und zum Teil auch den Schwellenländern
zugute gekommen sind. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß eine Öffnung der Märkte nicht automatisch zu
steigendem Wohlstand für alle führt.
({0})
Wir müssen vielmehr die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen politisch gestalten, wenn soziale und ökologische Fortschritte im Sinne aller Beteiligten erzielt
werden sollen. Die WTO muß Regelungen festlegen, die
uns und auch die Menschen in den Entwicklungsländern
insbesondere vor einem ungezügelten Umweltverbrauch
und den fatalen Auswirkungen von Sozialdumping
schützen. Gleichzeitig gilt es, den Ländern des Südens
Entwicklungschancen zu eröffnen. Hier scheint im Vorfeld ein Gegensatz zu bestehen; denn die Entwicklungsländer fürchten - auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen auch nicht zu Unrecht -, daß hinter dem Wunsch
nach einer stärkeren Berücksichtigung von Umwelt- und
Sozialstandards protektionistische Bestrebungen der Industrieländer stehen könnten.
Die Lösung dieses Problems besteht weder darin,
diese Bedenken einfach vom Tisch zu wischen, noch
darin, auf die Einbeziehung von Umwelt- und Sozialnormen in die internationalen Handelsbeziehungen zu
verzichten. Eine saubere Umwelt ist nicht nur ein Anliegen der Menschen in den Industrieländern. Der Schutz
vor elementarer Ausbeutung ist vor allem in den sogenannten Entwicklungsländern - egal, in welchem Entwicklungsstadium sie sich befinden - dringend notwendig.
({1})
Die EU wird Zugeständnisse machen müssen, gerade
dann, wenn sie die für uns wichtigen Beschlüsse über
die Themen „Handel und Umwelt“ und „Handel und
Sozialstandards“ erzielen möchte. Es wird nicht ausreichen, die Notwendigkeit der Einbeziehung multilateraler
Umweltabkommen und der ILO-Kernstandards mit dem
Interesse aller Menschen global zu begründen. Die Industrieländer müssen zeigen, daß sie bereit sind, ihren
Wohlstand langfristig mit den Menschen im Süden zu
teilen.
({2})
Deshalb müssen die Märkte gerade für die Produkte
der Entwicklungsländer geöffnet werden, die diese Länder im Moment überhaupt exportieren können, also vorrangig im Agrar- und Textilbereich. Dies ist der richtige Zusammenhang von Chancen durch Liberalisierung
und notwendigen Regulierungen. Deren Gestaltung ist
die zentrale politische Aufgabe in Seattle. Die Verhandlungen über den Handel mit landwirtschaftlichen
Produkten wurden schon im Rahmen der UruguayRunde fest vereinbart. Vor allem die Entwicklungsländer drängen auf stärkere Zugeständnisse insbesondere
der EU. Natürlich ist es so, daß nicht alle Entwicklungsländer identische Interessen haben. Die nahrungsmittelexportierenden Länder haben selbstverständlich
ein viel größeres Interesse an Liberalisierungen im
Agrarhandel als diejenigen, die auf Nahrungsmittelimporte angewiesen sind.
Dennoch: Exportsubventionen und geschlossene
Märkte im Norden führen nicht nur zur Verringerung
von Exportchancen der Entwicklungsländer, sondern
auch zu Marktverzerrungen auf den internen Märkten
der Entwicklungsländer, auch in den Ländern, die nach
wie vor auf die Einfuhr von Lebensmitteln angewiesen
sind. Oft wird gerade die Existenzgrundlage von Kleinbauern durch subventionierte Produkte gefährdet.
Wir alle kennen die Auswirkungen der Rindfleischexporte aus der EU insbesondere nach West- und Südafrika. Deswegen müssen wir die Exportsubventionen
weiter abbauen
({3})
und außerdem die „blue box“ auf ihre Entwicklungsverträglichkeit hin prüfen sowie die „green box“ erweitern.
Mit der Verabschiedung der Agenda 2000 hat sich
die EU in die richtige Richtung bewegt, wenn auch noch
nicht ausreichend. Vor allem die Maßnahmen, die in der
sogenannten „blue box“, also produktgebundene direkte
Zahlungen und Marktpreisstützungen, zusammengefaßt
sind, müssen weiter reduziert werden. Zu begrüßen ist
der EU-Vorschlag, daß alle Industrieländer in der WTO
Nullzollsätze für die Exporterzeugnisse aus den am wenigsten entwickelten Ländern ab 2003 anwenden sollen.
({4})
Neben diesen Liberalisierungsschritten bedarf es aber
vor allem regulierender Maßnahmen zur Ernährungssicherung. Die Entwicklungsländer müssen selbst in die
Lage versetzt werden, dafür notwendige Maßnahmen zu
ergreifen. Wir sollten gerade nicht eine undifferenzierte
Liberalisierung fördern, sondern vorrangig Maßnahmen
ergreifen, die allen Menschen das Überleben sichern.
Die Einführung einer „bread box“ stellt hier ein geeignetes Mittel dar. Diese enthält genau definierte Programme im Grundnahrungsmittelbereich, die der Ernährungssicherung und Hungerbekämpfung dienen.
Im Vorfeld der WTO-Verhandlungen gibt es unterschiedliche Sichtweisen bei Entwicklungs-, Agrar-,
Umwelt- und Wirtschaftspolitikern. Entscheidend für
die Akzeptanz der Seattle-Runde wird sein, daß es zu
einem fairen Ausgleich zwischen den Interessen der
Entwicklungsländer, den Verbraucherinteressen und
auch den Interessen der europäischen Landwirtschaft
kommt.
Eine zentrale Forderung in unserem Antrag bezieht
sich auf die Verhandlungsmacht bzw. -ohnmacht der
Entwicklungsländer bei den WTO-Verhandlungen. Wir
wollen dafür sorgen, daß diese Länder wirksame Mitsprache-, Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten in
der WTO bekommen. So können regionale Kooperationen der Entwicklungsländer in diesem Bereich gefördert
und kann bei der Rechtsberatung und -durchsetzung
Unterstützung gewährt werden. Es wäre auch sinnvoll,
wenn Deutschland überlegte, sich der Initiative anderer
Länder anzuschließen, ein unabhängiges Institut für
WTO-Recht mitzutragen.
In diesem Zusammenhang finde ich es ausgesprochen
wichtig, daß das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung etwa 4 Millionen DM
für Qualifizierungsmaßnahmen bereitstellt. Dieser Weg
sollte weitergegangen werden.
Diskutieren wir also hier nicht nur über die Interessen, die die Entwicklungsländer haben, sondern sorgen
wir dafür, daß sie diese Interessen selbst formulieren
und vertreten können!
Ich danke Ihnen.
({5})
Jetzt hat der Kollege
Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zuerst meiner Fraktion danke schön sagen, daß sie mir
noch ein paar Minuten Zeit gegeben hat, damit ich zu
dem sehr schwierigen Bereich der Agrarfragen doch
noch einige Worte sagen kann.
Die Fragen der Agrarwirtschaft, die sich in Fortsetzung der Uruguay-Runde stellen, sind natürlich sehr
konkret zu fassen. Hier geht es um sehr konkrete Auswirkungen, unter anderem auf unsere Landwirtschaft
und die vor- und nachgelagerten Bereiche. Die Agrardiskussion wird sich im Spannungsfeld zwischen den
Cairnsländern, den USA, Europa, aber auch den Entwicklungsländern abzeichnen. Das ist der Bogen, der
hier zur Diskussion steht. In diesem Spannungsfeld legen wir natürlich sehr großen Wert darauf, daß das EUAgrarmodell nicht unter die Räder kommt, daß das EUAgrarmodell erhalten bleibt, weil es vielfältige Aufgaben erfüllt.
Man muß einfach sagen: Es geht nicht nur um die
Produktion von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sondern auch - weit darüber hinaus - um den vor- und
nachgelagerten wirtschaftlichen Bereich. Es geht um die
Pflege der Kulturlandschaft, und es geht um eine nachhaltige Bewirtschaftung.
({0})
Eine nachhaltige Bewirtschaftung praktiziert eben nicht
den Raubbau an der Natur, wie es in vielen Teilen der
Erde, übrigens auch in Nordamerika, leider Gottes der
Fall ist. Wir betreiben in Europa eine nachhaltige Agrarbewirtschaftung.
Zur Agenda 2000 muß man klar und deutlich sagen sie hat die Voraussetzungen für die WTO-Runde schaffen sollen -, daß einiges versäumt worden ist. Ich spreche zum Beispiel den Milchsektor an. Er wurde nicht
geregelt; vielmehr wurde seine Regelung ins Jahr 2005
verschoben. Wenn es darum geht, die aufgehäuften
Überschüsse bei Milch und Rindfleisch auf den Weltmärkten absetzen zu müssen, dann kommen wir automatisch in eine sehr schwierige Diskussion. Das wird
das Thema Nummer eins in den WTO-Verhandlungen
sein, bei denen die europäische Landwirtschaft unter
Druck kommen wird. Wir werden erklären müssen, was
es für einen Sinn macht, Nahrungsmittel zu produzieren,
die auf dem europäischen Markt nicht absetzbar sind,
die gelagert werden müssen und letztendlich mit Steuergeldern in die Dritte Welt exportiert werden, wo sie zum
Teil verheerenden Schaden anrichten. Dieser Schaden ist
finanzpolitisch, agrarpolitisch, aber auch entwicklungspolitisch nicht zu verantworten. Er ist erst recht so
nicht weiter zu finanzieren. Auf die hiermit verbundenen Fragen hat die Agenda 2000 keine Antwort gegeben.
Bei aller Kritik an der europäischen Agrarpolitik
muß man auch sehen, daß mehr Länder im Glashaus sitzen, zum Beispiel die USA. Sie verstehen es, in einer
vorzüglichen Art und Weise die Förderung ihrer Agrarsektoren, ihrer Landwirte in vielerlei Programmen zu
verstecken. Wenn es darauf ankommt, dann schieben die
USA 13 Milliarden über den Tisch und leisten zusätzliche Hilfe - was in Europa überhaupt nicht denkbar ist.
Wir haben gesetzlich klar fixierte Regelungen über
die Abläufe, die für jeden leicht erkennbar und somit ob unserer Politik - auch leicht einklagbar sind. Die
Politik der Amerikaner in dieser Frage ist ausgesprochen
verwaschen; deshalb kommt sie etwas eleganter über die
Diskussion hinweg. Herr Minister Müller, die Aufgabe
der Europäer wird es sein, dafür zu sorgen, daß eine klare Diskussion zum Beispiel über die Förderregelungen
in den USA geführt wird. Wir dürfen uns in diesem
Punkt nicht über den Tisch ziehen lassen.
({1})
Ich hätte mir selbstverständlich gewünscht, daß wir
im Hormonstreit mit den USA einen Schritt weitergekommen wären und daß endlich einmal die schon lange
in Aussicht gestellten Gutachten auf dem Tisch liegen,
damit wir, wissenschaftlich begründet, wissen, ob dieses
Hormonfleisch Nachteile für die menschliche Gesundheit bringt. Ich habe die Sorge, daß dieser Streit die
WTO-Verhandlungen zusätzlich belastet. Deshalb richte
ich von hier aus die Aufforderung an die Kommission,
möglichst schnell einen wissenschaftlich begründeten
Bericht vorzulegen.
({2})
Kommen Sie bitte
zum Schluß, Herr Kollege.
Ziel der WTO-Runde muß
es sein, daß bei einer weiteren Liberalisierung weder die
Entwicklungsländer noch das europäische Agrarmodell,
das heißt die europäische Landwirtschaft, unter die Räder kommen dürfen. Es muß hart gehandelt und hart
verhandelt werden; denn - ich habe das schon eingangs
gesagt - es sind Maßstäbe anzulegen, die man verteidigen muß und die für unsere Einkommen in der Landwirtschaft ausschlaggebend sind.
Herr Kollege, Sie
müssen zum Schluß kommen.
Lassen Sie mich noch
einen Satz sagen.
Einen Satz, aber
bitte keinen ganzen Gedanken mehr.
Wie hart die Verhandlungen sein werden, zeigt sich daran, daß Kommissar Lamy
bereits gesagt hat: Die Europäer werden im Agarbereich
nachgeben müssen. Er stellt ein Nachgeben also schon
in Aussicht. Ich wünsche uns allen ein gutes Standing.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat nun
der Kollege Rolf Hempelmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorbereitung
der dritten WTO-Ministerkonferenz - dies ist heute in
verschiedenen Debattenbeiträgen deutlich geworden hat die Bundesregierung, hat aber auch die Europäische
Union eine führende Rolle übernommen. Ich denke, dies
ist eine Erwähnung wert, weil sich dies auch deutlich
dagegen abgrenzt, wie ernst diese Dinge in früheren Jahren von früheren Regierungen genommen worden sind.
Ich möchte ausdrücklich das gute Zusammenspiel
zwischen der Europäischen Kommission und der finnischen Ratspräsidentschaft erwähnen, die über mehrere
Monate hinweg an einer gemeinsamen Position der Europäischen Union gearbeitet haben. Die Union hat sich
also intensiv auf die neue WTO-Runde vorbereitet. Sie
hat damit auch ihrer gestiegenen Verantwortung nicht
nur in Europa, sondern in der gesamten Welt Rechnung
getragen.
Die Stärke der Europäischen Union als großer Handelsmacht liegt vor allen Dingen in der gemeinsamen
Interessenvertretung ihrer 15 Mitgliedstaaten. Diese haben es verstanden, ihre Interessen noch stärker zu bündeln als in der Vergangenheit. Nun müssen sie sie auch
erfolgreich nach außen vertreten.
({0})
All das garantiert natürlich noch nicht, daß die von
uns nun gemeinsam festgelegten Ziele in den WTOVerhandlungen auch tatsächlich erreicht werden können.
Auch dies ist von verschiedenen Rednern bereits angedeutet worden. In den wenigen Wochen bis Seattle wird
es deswegen darauf ankommen, daß in Vorgesprächen
mit anderen nichteuropäischen WTO-Mitgliedern Annährungsprozesse organisiert werden, insbesondere mit
den Entwicklungsländern, aber zum Beispiel natürlich
auch mit der Weltwirtschaftsmacht Nummer 1, den
USA.
Wie wichtig Vorgespräche sind, zeigt das gestern
zwischen dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton
und dem Präsidenten der Europäischen Kommission,
Romano Prodi, geführte Gespräch, in dem offensichtlich
eine erste Annäherung in unterschiedlichsten Positionen
erreicht werden konnte. Dies heißt natürlich noch nicht,
daß dies von seiten der USA auch zu einer gemeinsamen
Position wird. Wir alle kennen die komplexen Zusammenhänge und insbesondere auch den Einfluß des Kongresses.
Besondere Bedeutung - dies ist hier ebenfalls mehrfach gelobt worden - hat die Europäische Kommission
den Entwicklungsländern beigemessen. In diesem Zusammenhang ist heute eine ganze Reihe von Zielen genannt und diskutiert worden. Ich will sie nicht im einzelnen wiederholen. Klar ist: Die WTO-Konferenz wird
nur dann zu einem erfolgreichen Abschluß gelangen,
wenn sich alle Teilnehmerländer in den Ergebnissen
wiederfinden. Das bedeutet, daß sich die Interessen der
Entwicklungsländer auch in den Ergebnissen von Seattle
und auch in der Tagesordnung der Millenniumsrunde
wiederfinden müssen.
Wer sich mit der Materie beschäftigt hat, wird wissen, daß es sich hierbei um einen langwierigen und
schrittweise zu vollziehenden Prozeß des gegenseitigen
Gebens und Nehmens handelt wird. Insofern, Herr Brüderle, ist es eine unzulässige Verfälschung - keine Vereinfachung, sondern eine Verfälschung -, wenn Sie davon sprechen, daß es nicht im Interesse der Entwicklungsländer liege, schrittweise zu einer Übernahme von
modernen Arbeits- und Sozialnormen zu kommen.
({1})
Es geht nämlich nicht nur um Länder, es geht auch um
Menschen.
({2})
Komparative Vorteile sind, wenn sie dazu dienen, Menschen auszubeuten, keine Vorteile, die zu unterstützen
sind. Im übrigen ist aber klar - ich glaube, ich habe das
eben auch deutlich gemacht -, daß wir den Entwicklungsländern selbstverständlich die Chance geben müssen, an den Märkten teilzunehmen und teilzuhaben.
Dann wird auch dort die Bereitschaft wachsen, sich auf
das Thema Arbeits- und Sozialstandards einzulassen.
({3})
Im übrigen hat man gemerkt, Herr Brüderle, daß Ihre
Rede schon etwas abgelagert war. Sie müßten wissen,
daß es inzwischen - seit vorgestern nämlich - eine gemeinsame Position in der Europäischen Union gibt.
({4})
Es ist klar, daß es ein Arbeitsforum geben soll. Das wird
jedenfalls der Vorschlag sein, den die EU mit nach
Seattle nehmen wird. Es wird ein Arbeitsforum von
WTO und ILO geben. Ich denke, das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung; die deutsche Handschrift ist eindeutig zu erkennen. Der Begriff des Arbeitsforums - um
das deutlich zu machen -, auf den sich die Union geeinigt hat, dokumentiert Ziel- und Ergebnisorientiertheit.
Meine Damen und Herren, klar ist in diesem Zusammenhang, daß den Entwicklungsländern Marktzugang
und Marktöffnung angeboten werden müssen. Ich habe
das schon angedeutet: Nur so werden sie ihrerseits einen
schrittweisen Annäherungsprozeß an westliche Arbeitsund Sozialstandards vollziehen.
Das am Dienstag dieser Woche in Lausanne stattgefundene Vorbereitungstreffen für die WTO-Konferenz
hat im übrigen deutlich werden lassen, daß es weltweit
natürlich noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten
zwischen den unterschiedlichen Handelsnationen gibt,
und zwar insbesondere in bezug auf die Frage der
Millenniumsrunde.
Bislang hat sich insbesondere die Regierung der USA
auf einige wenige Themenbereiche beschränkt, die ihrer
Ansicht nach im November/Dezember in Seattle Aussicht auf Erfolg haben. Das Interesse der USA ist natürlich doppelt motiviert: Einerseits stehen sie als Gastgeberland unter einem gewissen Erfolgsdruck, andererseits
werfen die im nächsten Jahr stattfindenden Präsidentschaftswahlen ihre Schatten voraus. Aber diese amerikanische Interessenlage gibt natürlich anderen, die am
Verhandlungstisch sitzen, entsprechende Verhandlungsspielräume.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Sie überziehen bereits seit
40 Sekunden.
Aber Sie rechnen mir
nicht die Zeit von anderen Fraktionen an?
Nein.
Insofern will ich deutlich
machen, daß es wichtig ist, daß wir, gerade weil die InRolf Hempelmann
teressenlage auch der anderen so deutlich ist, an dem
Prinzip des „single undertaking“ festhalten. Das Prinzip
„Nichts ist beschlossen, bevor nicht alles beschlossen
ist“ muß gelten. Nur so kann sichergestellt werden, daß
die Konferenz am Ende ein Erfolg wird.
Ich wollte noch das eine oder andere hinzufügen und
wundere mich ein bißchen, daß die Zeit schon um ist.
Sie können das doch
sehen, Sie müssen nur hinschauen.
Ich verzichte deswegen
auf das, was ich mir sonst noch vorgenommen habe.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Göhner, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, diese
Debatte und auch die Anträge der Regierungskoalition
wie der CDU/CSU weisen in den Grundzügen zur Welthandelspolitik eine erfreuliche und beachtliche Gemeinsamkeit auf. Die im Entwurf formulierte Position der
Europäischen Union für das Verhandlungsmandat von
Seattle findet auch unsere Zustimmung, das will ich hier
ausdrücklich festhalten.
Ich will mich aber mit den unterschiedlichen, sagen
wir: Akzenten beschäftigen, die in dieser Debatte eine
Rolle gespielt haben, insbesondere im Zusammenhang
mit der Frage der Umwelt- und Sozialstandards. Ich
glaube nämlich, daß diese Debatte ein Stück illusionär
ist und einige Unehrlichkeiten beinhaltet. Aus unserer
Sicht, aus europäischer Sicht, unter dem Gesichtspunkt
wirtschaftlicher Interessen ist natürlich die Schaffung
etwaiger Umwelt- und Sozialstandards als Bestandteil
des WTO-Regimes eine feine Sache; denn solche Standards werden meilenweit unter dem EU-Level bleiben.
Aber der Grat zum Protektionismus gegenüber solchen Bestrebungen ist sehr schmal. Das muß man bedenken. Die WTO wird - Kollege Hempelmann, Sie haben das vorhin im gleichen Atemzug mit Marktöffnung
und Arbeits- und Sozialstandards genannt - die mit dieser Verhandlungsrunde beabsichtigte notwendige Öffnung vor allem hinsichtlich der Entwicklungs- und
Schwellenländer nicht vornehmen können, wenn sie sich
gleichzeitig als eine Art Weltgesetzgeber für Umweltund Sozialstandards aufschwingen würde. Das wird
nicht klappen.
({0})
Unter dem Vorwand, weltweit mehr für Umwelt und
Soziales tun zu wollen, lassen sich eben auch sehr leicht
protektionistische Neigungen fördern. Ich bin etwas
skeptisch, wenn ich höre, wer diese Forderungen erhebt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin SkarpelisSperk?
Gerne.
Bitte sehr, Frau
Kollegin.
Herr Kollege
Göhner, darf ich Sie darüber informieren, daß die Internationale Arbeitsorganisation bei der Forderung nach
Kernarbeitsnormen mittlerweile nur mehr einen Kernbestand verlangt, der unter anderem ein Verbot der Arbeit
von Kindern unter zehn Jahren sowie ein Verbot der Arbeit von älteren Kindern, soweit sie nicht mit einer Ausbildung verbunden werden kann, das Verbot der Lohnsklaverei und das Verbot der gewalttätigen Unterdrükkung von Gewerkschaften enthält? Wenn wir diese drei
zentralen Punkte als selbstverständliche Grundnormen
der Menschen in eine Welthandelsordnung einbringen
wollen, dann ist zu fragen, was daran Protektionismus
ist. Sind das, zum Beispiel das Verbot der Lohnsklaverei, nicht selbstverständliche Werte, die immer und
überall durchgesetzt werden sollten?
({0})
Frau Kollegin,
ich kann Ihre Fragen mit Ja beantworten und Ihnen ausdrücklich zustimmen. Deshalb stimme ich auch der Position der EU zu - Sie offensichtlich nicht -, die diese
Dinge jetzt nicht zum Bestandteil des WTO-Regelwerks
machen will, sondern die darüber in einem Arbeitsforum
- so heißt das jetzt - mit der ILO einen Dialog führen
will und die Zuständigkeit sowohl für die Normensetzung als auch für die Durchsetzung bei der ILO beläßt.
Dafür trete ich ein; das halte ich für richtig. Ich glaube
nämlich, daß die jetzt gefundene EU-Position ein guter
Kompromiß ist. Die Bundesregierung hat ihre vorherige
Position aufgegeben. Das war vernünftig.
Der beste Beitrag, den die WTO gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern zur Schaffung von
Umwelt- und Sozialstandards leisten kann, besteht darin,
eine Marktöffnung für diese Länder zu ermöglichen.
({0})
Nur wenn diese Länder die Chance haben, sich ökonomisch nachhaltig zu entwickeln, werden sie ihre sozialen
und ökologischen Standards verbessern. Ich wiederhole:
Ich unterstütze deshalb die gemeinsame EU-Position,
wie sie als Entwurf vorliegt. Minister Müller hat soeben
erklärt, daß die Bundesregierung diese Position ebenfalls
unterstützen wird.
Im Antrag der Regierungsfraktionen ist die Rede davon, daß man im Rahmen der Schaffung von Umweltstandards in den WTO-Regelwerken zum Beispiel
Rücknahmeverpflichtungen verankern sollte. Ich will
dies jetzt nicht ins Lächerliche ziehen; aber Sie glauben
doch nicht im Ernst, daß es tatsächlich WTO-Regeln
geben könnte, die unseren Pfand- bzw. Rücknahmeregelungen, unserem dualen System oder unserer Verpackungsordnung ähnlich wären.
({1})
Das wäre völlig überzogen. Das ist die Illusion eines
Weltgesetzgebers, die Sie nicht verbreiten sollten.
({2})
Für die nächste WTO-Runde muß es ein breites Themenspektrum geben. Darin sind wir uns alle einig. Das,
was dort verhandelt werden soll, muß paketfähig werden. Rolf Langhammer hat in der heutigen Ausgabe des
„Handelsblattes“ zu Recht geschrieben, daß die Welthandelsordnung vor Überfrachtung geschützt werden
muß. Dies muß gerade im Interesse der Länder aus dem
Bereich der Entwicklungs- und Schwellenländer geschehen, die nach einem Marktzugang fragen und die
den Vorwurf artikuliert haben, daß es zu viele Marktbarrieren gibt.
Wir müssen ein Stückchen mehr verinnerlichen, daß
die Bundesrepublik Deutschland in Seattle nicht am
Verhandlungstisch sitzt, sondern daß die EU-Kommission bzw. die EU Partner der WTO ist.
({3})
Wir haben in Form des EU-Binnenmarktes ein besonderes Beispiel dafür gesetzt, wie man durch Marktöffnung, durch die Abschaffung von Zöllen, die Beseitigung von nichttarifären Handelshemmnissen und durch
die Schaffung gemeinsamer Rechtsgrundlagen für Investitionen und - Herr Brüderle hat völlig recht - für
Wettbewerb erfolgreiche Ansätze für Wachstum und
Beschäftigung entwickeln kann. Das haben wir innerhalb der Europäischen Union umgesetzt. Dies war ein
großartiges Programm im Hinblick auf Wachstum und
auf eine nachhaltige ökologische Entwicklung.
Um ähnliche Ziele geht es primär bei dieser WTORunde. Wir brauchen dazu eine umfassende Agenda.
Das vorrangige Ziel der weiteren Liberalisierung des
Welthandels ist, Märkte zu öffnen und Hindernisse sowie Bremsklötze im Hinblick auf den Marktzugang zu
beseitigen. Noch immer gibt es in wichtigen Produktbereichen - auch in Industrieländern - Zölle bis zu einer
Höhe von 20 Prozent. Es gibt große Entwicklungs- und
Schwellenländer, die Zölle von durchschnittlich bis zu
39 Prozent haben.
Der Marktzugang wird häufig durch nichttarifäre
Handelshemmnisse behindert, insbesondere bei technischen Standards und Normen. Diese Hindernisse sind
auszuräumen. Das aber geht nicht durch eine separierte
Behandlung von Teilmärkten, wie es offenbar in den
USA geschieht, sondern nur, indem man Industriegüter,
Dienstleistungen und Agrarprodukte, den Welthandel
insgesamt, zum Gegenstand der Agenda macht. Ich denke aber, daß man nach dem Gespräch zwischen Prodi
und Clinton zuversichtlich sein kann, daß es gelingt, für
Seattle eine gemeinsame Tagesordnung, eine paketfähige Agenda zustande zu bringen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Landwirtschaft sagen. Der Kollege Heinrich hat völlig recht:
Das ist ein besonders wichtiger und aus europäischer
Sicht problematischer Bereich. Ich verstehe die Sorgen
der europäischen Landwirtschaft, insbesondere der deutschen Landwirtschaft nach dem Kahlschlag, wie er in
den letzten Monaten durch die steuer- und sozialpolitischen Vorschläge der Bundesregierung auch gegen
wettbewerbsfähige Betriebe betrieben wurde. Ich kann
deshalb nachvollziehen, wenn diesem Projekt bei der
nächsten WTO-Runde große Skepsis entgegengebracht
wird.
Ich glaube aber, daß die Interessenunterschiede zwischen den USA und der EU überschätzt werden. Auch in
Sachen Landwirtschaft gibt es gemeinsame Interessen.
Es ist ja nicht so, als hätten die USA für ihre Landwirtschaft kein Subventionssystem. Im Gegenteil, quantitativ übertrifft es das der EU gewaltig.
Meiner Ansicht nach ist das, was in der Verhandlungsposition der EU zum Ausdruck kommt, richtig: Die
Landwirtschaft ist multifunktional. Auch in Zukunft
muß eine flächendeckende Landwirtschaft möglich sein.
Flächenbezogene Unterstützungsleistungen - diese gibt
es in verkappter Form auch in den USA - müssen daher
erhalten bleiben.
Der Veränderungsdruck auf den europäischen
Agrarmarkt durch die von uns allen gewünschte und betriebene Erweiterung der Europäischen Union wird viel
gravierender sein als der Veränderungsdruck, der sich
aus der WTO-Runde ergibt. Bei der WTO-Runde wird
man die EU-Erweiterung mit im Blick haben müssen,
damit nach dem Kahlschlag, den Sie als Koalition gegen
die Landwirtschaft in Angriff genommen haben, wettbewerbsfähigen, zukunftsträchtigen, gut strukturierten
Betrieben bei uns nicht jede Chance genommen wird.
({4})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Reinhold Hemker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Daß die nächste WTORunde schwierig wird, ist nicht erst in der heutigen Debatte deutlich geworden. Nur, eines muß klar sein - das
sage ich insbesondere an die Adresse der Kollegen Göhner und Heinrich -: Eine Verhandlungsgrundlage ist
vorhanden, nämlich die Agenda 2000, die für die europäischen Mitgliedstaaten hilfreiche Wege in die richtige
Richtung vorgegeben hat. Wir haben mit dem Antrag
auf Drucksache 14/1860 bewußt einen wichtigen Aspekt
dieses gesamten Bereiches herausgegriffen, nämlich die
Kohärenzproblematik, insbesondere bezogen auf das bis
heute schwierige Verhältnis von EU-Agrarpolitik und
Entwicklungspolitik, bilateral oder multilateral verankert.
Wenn jetzt der „Rat Landwirtschaft“ auf EU-Ebene
darauf hinweist, daß die Europäische Union vorgeschlaDr. Sigrid Skarpelis-Sperk
gen hat, daß die in Seattle tagenden WTO-Minister die
Verpflichtung - ich zitiere - „eingehen sollen, spätestens am Ende der neuen Verhandlungsrunde für im wesentlichen alle Erzeugnisse, die von den am wenigsten
entwickelten Länder ausgeführt werden, einen abgabefreien Marktzugang sicherzustellen“, dann ist das bereits
ein Erfolg auch der deutschen Verhandlungsführung auf
EU-Ebene, insbesondere des Ministers Funke und der
Ministerin Wieczorek-Zeul.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Maßnahmen der
Entwicklungszusammenarbeit zur Steigerung der Agrarproduktion in den genannten Ländern und auch die im
Rahmen der Strukturanpassung geforderte Ausweitung
der Exporte werden daher eher zum Erfolg führen als in
der Vergangenheit. Dies gilt im Zusammenhang mit der
Festlegung des Agrarteils in der Agenda 2000 wegen der
Preisgestaltung auch für die europäischen Landwirte.
Das ist meiner Ansicht nach ebenfalls ein Erfolg für die
Festlegung der Verhandlungsposition mit Blick auf die
Konferenz in Seattle. Dabei wurden und werden aber
auch nicht die Anliegen - das will ich deutlich sagen der deutschen und europäischen Landwirte vergessen,
die im Zuge der Umsetzung des Agrarteils der Agenda
2000 unter anderem wegen der Neugestaltung der Preise, die sich am Weltmarktniveau orientieren sollen, neue
Chancen für ihre Produkte mit sehr hohem Qualitätsstandard bekommen.
Es geht also, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer
auch um ein faires Ausloten der jeweiligen Interessen.
Dabei muß man sich bemühen, politische Maßnahmen
und Programme so zu gestalten, daß positive Entwicklungen in einem Bereich nicht durch Maßnahmen in anderen Bereichen behindert werden. Ein Problem ist und
bleibt dabei die Subventionierung von EU-Exporten
in Entwicklungsländer, durch die es zu Marktstörungen und zur Schwächung der dortigen Produzenten
kommt. Auch hier hat der deutsche Beitrag zur Gestaltung der Agenda 2000 den richtigen Weg vorgezeichnet.
({1})
Im Gegensatz zur immer wieder geäußerten Einschätzung sage ich, daß sich das Ergebnis sehen lassen kann,
auch wenn noch, Kollege Heinrich, Regelungsbedarf bei
der Umsetzung hier in Europa und bei den Verhandlungen in Seattle besteht.
Besonders wichtig ist mir in der jetzigen Situation der
Hinweis, daß die Bundesregierung darauf hinwirken
soll, die sozialen und ökologischen Standards bei den
Verhandlungen verstärkt zum Thema zu machen. Man
sollte hier doch nicht so tun, als ob es das nicht schon in
der Vergangenheit bei anderen internationalen Organisationen auf UNO-Ebene gegeben hat. Das ist nicht neu.
Für die Verhandlungen muß auf jeden Fall noch ein klarer Auftrag für die Verhandlungsführer formuliert werden.
Konkret heißt das - wir haben das in dem von mir
genannten Antrag auch so formuliert -: Die Grundlagen
für die Beschlüsse mit einer Beschreibung ihrer Auswirkungen sind in zwei gesonderten Arbeitsgruppen „Handel und Sozialnormen“ und „Handel und Umwelt“ zu
beraten. Dabei - auch das ist Bestandteil unserer Vorstellungen - muß die besondere Bedeutung der Kohärenz durchgängig Gegenstand der Erläuterungen sein.
Die WTO-Verhandlungen müssen auch immer den
Aspekt der Ernährungssicherung, der Entwicklungsverträglichkeit und der Nachhaltigkeit zum Gegenstand haben. Dabei geht es - Frau Kollegin Köster-Loßack hat
schon darauf hingewiesen - um die richtige Einordnung
der Blue-box-Maßnahmen und die nachhaltige Unterstützung der Green-box-Maßnahmen. Es wird sehr darauf ankommen, welcher Stellenwert diesem Bereich bei
den Verhandlungen eingeräumt wird und daß das Thema
Handel im Zusammenhang mit den Strukturanpassungsprogrammen nicht allein in den Vordergrund gestellt
wird. Dies geschieht leider immer wieder.
({2})
Das Ziel der Ernährungssicherung muß neben dem
Schutz des Lebens und der Gesundheit als weiteres
schützenswertes Rechtsgut aufgenommen werden.
Ferner wird es darum gehen, daß die WTO durch ihre
Regeln und ihre Schiedsgerichtsverfahren garantiert, daß
die möglichen Zielkonflikte zwischen Handel und beispielsweise Ernährungssicherung, Umwelt, Verbraucherschutz, Regionalentwicklung oder ländlicher Beschäftigung angemessen berücksichtigt werden. Bei einer Güterabwägung genießt dabei der Handel nicht automatisch Vorrang. Es geht um eine klare Regelung des
Verhältnisses von WTO-Regeln und internationalen Abkommen. Die Ergebnisse der neuen WTO-Runde müssen dazu führen, daß faire Partnerschaft im Rahmen globalisierter Märkte entstehen kann. Wer will, daß die weniger entwickelten Staaten stärkere Partner werden, muß
ihnen mehr Chancen zur Entwicklung und zur Beteiligung am Weltmarkt einräumen.
({3})
Handel und Entwicklungszusammenarbeit sind insbesondere im Bereich der Agrar- und Ernährungswirtschaft zwei Seiten einer Medaille. Wir haben entsprechende Vorstellungen und Forderungen entwickelt.
Wenn die in Aussicht stehende weitere Liberalisierung
die Nahrungsmittelsicherung für die Ärmsten der Welt
be- oder sogar verhindert und keine Maßnahmen im
Sinne einer Food-security-Box ergriffen werden, dann
spaltet man die Welt noch mehr. Auch darauf wurde
heute mehrfach hingewiesen.
Kommen Sie bitte
zum Schluß, Herr Kollege.
Der Forderungskatalog
unseres Antrages zur Kohärenz konkretisiert die Forderungen des Antrages zur Weiterentwicklung des Welthandelssystems unter diesem Aspekt und führt sie unter
den anderen angesprochenen speziellen Aspekten weiter.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zu einer umfassenden Weiterentwicklung des Welthan-
delssystems auf Drucksache 14/1861. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksachen 14/1664, 14/1834 und 14/1860 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17a bis 17i sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
17. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Mai 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Kuwait zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen und zur Belebung der
wirtschaftlichen Beziehungen
- Drucksache 14/1841 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({0})
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ({1})
- Drucksache 14/1830 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({2})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statistiken der Schiffahrt und
des Güterverkehrs
- Drucksache 14/1829 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ver-
einbarung vom 19. Mai 1998 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung des Fürstentums Liechtenstein
über das Verwaltungsverfahren bei der An-
meldung neuer Stoffe
- Drucksache 14/1710 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Win-
fried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi
und der Fraktion der PDS
Bau- und Betriebsordnung für Regionale Ei-
senbahnstrecken
- Drucksache 14/998 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Koschyk, Christian Schmidt ({4}), Karl Lamers, Peter Hintze und der Fraktion der CDU/
CSU
Versöhnung durch Ächtung von Vertreibung
- Drucksache 14/1311 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({5})
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuß für Kultur und Medien
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Margrit Wetzel, Hans-Günter Bruckmann, Dr.
Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt ({6}), Kerstin Müller ({7}),
Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verbot des Mitführens von Radar- und Laserwarngeräten in Kraftfahrzeugen
- Drucksache 14/1351 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Rechtsausschuß
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zeitweilige Aussetzung der Möglichkeit zur
Erhöhung der Nutzungsentgelte
- Drucksache 14/1718 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({9})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Wirkungen der Nutzungsentgeltverordnung sowie zu notwendigen Änderungen
- Drucksache 14/1479 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({10})
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Düngemittelgesetzes
- Drucksache 14/1857 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({11})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weiterentwicklung der deutsch-tschechischen
Beziehungen
- Drucksache 14/1873 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({12})
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuß für Kultur und Medien
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 a auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({13}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur
Änderung der Richtlinie 91/440/EWG zur
Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der
Gemeinschaft
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur
Änderung der Richtlinie 95/18/EG über die
Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über
die Zuweisung von Fahrwegkapazitäten, die
Erhebung von Wegeentgelten im Eisenbahnverkehr und die Sicherheitsbescheinigung
Arbeitsunterlage der Kommission
Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln des
Vorschlags für eine Richtlinie über die Zuweisung von Fahrwegkapazität, die Erhebung von
Wegeentgelten im Eisenbahnverkehr und die
Sicherheitsbescheinigung
- Drucksachen 14/74, Nr. 2.102, 14/1332 ({14}) Berichterstattung:
Abgeordneter Albert Schmidt ({15})
Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/1332 ({16}) in Kenntnis
der EU-Vorlage 11375/98, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({17}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung ({18}) des Rates Festlegung der Modalitäten und Bedingungen für die Strukturmaßnahmen im Fischereisektor
- Drucksachen 14/488 Nr. 2.3, 14/1570 Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten empfiehlt auf Drucksache 14/1570 in Kenntnis der EU-Vorlage 13605/98, eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 c auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 84 zu Petitionen
- Drucksache 14/1722 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Sammelübersicht 84 ist bei einigen
Gegenstimmen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 d auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 85 zu Petitionen
- Drucksache 14/1723 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Sammelübersicht 85 ist bei Gegenstimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 e auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 86 zu Petitionen
- Drucksache 14/1724 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Sammelübersicht 86 ist bei Enthaltung der PDS angenommen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 f auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 87 zu Petitionen
- Drucksache 14/1725 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Sammelübersicht ist gegen die
Stimmen der PDS angenommen.
Wir kommen noch einmal zum Tagesordnungspunkt 3. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/1854 zur federführenden Beratung an den Ausschuß
für die Angelegenheiten der Europäischen Union und
zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Innenausschuß, den Rechtsausschuß und den Ausschuß für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu überweisen.
Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Bericht des Petitionsausschusses ({23})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 1998
- Drucksache 14/1390 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen.
Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Gestern haben wir in einer - wie ich finde - sehr würdigen Feststunde das 50jährige Bestehen
des Petitionsausschusses im Deutschen Bundestag gefeiert. Ich möchte im Namen meiner Fraktion als erstes den
Festrednern, Frau Professor Süssmuth und Herrn Dr.
Hans-Jochen Vogel, sehr herzlich danken. Sie haben uns
sehr deutlich vor Augen geführt, wie groß die Bedeutung dieses Ausschusses und die Erwartungshaltung ihm
gegenüber ist.
({0})
Vor diesem Hintergrund sehe ich es als eine besondere
Ehre an, heute zum Jahresabschlußbericht 1998 sprechen zu dürfen.
Das Petitionsrecht ist eines der wichtigsten verfassungsrechtlich verankerten Rechte der Menschen in unserem Land. Auch im Jahre 1998 machten viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes hiervon Gebrauch.
Die große Bedeutung dieses Rechts liegt im direkten
Kontakt der Bürgerinnen und Bürger mit einem parlamentarischen Gremium. Was die Menschen über Petitionen an uns Volksvertreter herantragen, hat einen besonders hohen Stellenwert.
Die knapp 17 000 Eingaben im Jahre 1998 zeigen
sehr deutlich, daß die Sorgen und Nöte der Menschen
nicht weniger geworden sind. Sie zeigen aber auch, daß
die Menschen trotz der häufig proklamierten Politikverdrossenheit beachtliches Vertrauen und immer wieder
Hoffnung in die Politik setzen, bei der Bewältigung der
Sorgen und Nöte Unterstützung zu finden.
Die alte Bundesregierung hat die Arbeit des Petitionsausschusses - so meine ich - nicht immer so positiv
unterstützt, wie man es eigentlich hätte erwarten müssen. Die Bürgerinnen und Bürger haben es wohl genauso
gesehen; denn in den drei Monaten vor der Bundestagswahl ging die Zahl der Eingaben drastisch zurück. Dies
ist aber auch ein deutliches Zeichen dafür, daß die Erwartungshaltung der Menschen in diesem Land gegenüber der neuen Regierung groß ist und sie sich von ihr
die Veränderungen versprechen, zu denen die alte Regierung nicht fähig war. Das ist eine hohe Erwartungshaltung.
Ich möchte an dieser Stelle sagen, daß in der relativ
kurzen Zeit seit der Regierungsübernahme schon Verbesserungen spürbar geworden sind.
({1})
Signifikant ist zum Beispiel, daß, wenn wir einen Regierungsvertreter laden, die Auskünfte doch schon eine andere Qualität haben.
({2})
- Das muß nicht sein.
Bevor ich auf den vorliegenden Bericht zu sprechen
komme, möchte ich den fleißigen und zuverlässigen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußsekretariats meinen besonderen Dank sagen.
({3})
Sie bewältigten, wie es in den gesamten zurückliegenden 50 Jahren der Petitionsgeschichte im Deutschen
Bundestag der Fall war, 1998 nicht nur die enorme Zahl
von Neueingaben, sondern auch die zahlreichen Nachträge.
Abschließend konnten wir im letzten Jahr 21 237 Petitionen behandeln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sekretariats leisteten umfangreiche Vorarbeit und
halfen auch jederzeit sehr geduldig, Sonderwünsche der
Berichterstattterinnen und Berichterstatter nach zusätzlichen Stellungnahmen und anderen Recherchen für die
Vorbereitung der Beschlußempfehlungen zu erfüllen.
Herzlichen Dank dafür auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen!
In diesen Dank schließe ich auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein, die an dieser Stelle auch
einmal genannt werden müssen.
({4})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Interessant ist die Verteilung der Petitionen auf die
einzelnen Ministerien. Auf das Bundesministerium für
Arbeit und Sozialordnung entfiel mit 5 292 Petitionen
die größte Zahl der Eingaben. Hieran wird deutlich, daß
die sozialen Belange das Problem Nummer eins sind.
Kein anderes Ressort erreichte annähernd eine so hohe
Anzahl von Eingaben.
Auffällig bleibt neun Jahre nach der Wende die unterschiedliche Verteilung der Petitionen auf die einzelnen
Bundesländer. Aus dem Freistaat Bayern kamen mit Abstand die wenigsten Eingaben, nämlich nur 114 pro eine
Million Einwohner.
({5})
- Warten Sie doch zu Ende ab!
Im Vergleich dazu wurden in Thüringen 467 Petitionen, bezogen auf dieselbe Bevölkerungszahl, gezählt.
({6})
Durch die zahlreichen Eingaben zeigen die Bürger
aus den neuen Ländern einerseits, wie groß und breit
gestreut die Probleme in diesen Regionen immer noch
sind. Andererseits sind dies auch deutliche Rufe an die
Bundesebene nach mehr und vor allem effektiverer Unterstützung bei der Lösung dieser Probleme, den die alte
Bundesregierung unserer Auffassung nach nicht ernst
genug genommen hat.
Der Historiker Fritz Stern hat anläßlich seiner Auszeichnung mit dem diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gesagt:
Die innere Wiedervereinigung ist Vorbedingung für
politische Stabilität in Deutschland. Es darf in diesem Land keine Bürger zweiter Klasse geben.
Diese mahnenden Worte sollten wir sehr beherzigen.
Vorreiter beim Gebrauch des Petitionsrechts ist und
bleibt Berlin mit 468 Eingaben pro eine Million Berliner. Es bleibt nun spannend zu beobachten, ob sich hieran durch den Umzug des Parlaments und der Regierung
nach Berlin etwas ändern wird.
({7})
- Das ist durchaus möglich.
Viele Anfragen aus den neuen Ländern beziehen sich
nach wie vor auf Grundstücks- und Liegenschaftsangelegenheiten. So ging im November 1997 die Bitte eines Ehepaares aus Mecklenburg-Vorpommern beim
Ausschuß ein, in der das Ehepaar schildert, daß es 1975
eine Arbeit in einer LPG aufgenommen und hier eine
Mietwohnung in einem Doppelhaus erhalten habe. Die
Familie freute sich, als sie 1990 die Wohnung und dazu
auch Grund und Boden von eben dieser LPG erwerben
konnte. Erst nach dem Kauf erhielt die Familie die Flurstückskarte vom Katasteramt und mußte jetzt leider
feststellen, daß sie das Nachbargrundstück erworben
hatte.
Diese Tatsache zeigt, wie schwierig die ersten
Schritte in der Nachwendezeit waren. Auf diesem Gebiet ist auch heute noch nicht alles aufgearbeitet.
Die Petenten baten den Ausschuß, auf die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben einzuwirken, um einen Grundstückstausch zu ermöglichen.
Dem Anliegen konnte entsprochen werden. Ich denke,
es ist sehr erfreulich, wenn solch ein Mißgeschick aus
der Welt geschaffen werden kann und dem Petenten geholfen wird.
({8})
Sehr häufig erreichen uns immer noch Petitionen zum
Vertriebenenzuwendungsgesetz. Ein Petent, geboren
in Schlesien, beschwerte sich beispielsweise über die
Stichtagsregelung dieses Gesetzes. Der Petent hatte bis
1989 in der ehemaligen DDR gelebt und wurde einen
Monat vor dem Fall der Mauer ausgebürgert. Da der
Stichtag in dem Gesetz aber der 3. Oktober 1990 ist und
der Vertriebene laut Gesetz bis zu diesem Zeitpunkt in
der ehemaligen DDR gewohnt haben muß, wurde ihm
mitgeteilt, daß er keinen Anspruch auf die einmalige
Zuwendung in Höhe von 4 000 DM habe. In den Augen
des Petenten liegt hier eine große Ungerechtigkeit vor.
Er fühlte sich quasi doppelt vertrieben und vom Gesetzgeber benachteiligt. Eine Gesetzesänderung konnte
dem Petenten nicht in Aussicht gestellt werden, aber die
Petition wurde dem Bundesministerium der Finanzen zugeleitet, um in künftige Überlegungen mit einbezogen werden zu können. Außerdem wurden die einzelnen Fraktionen von dieser Petition in Kenntnis gesetzt.
Ich erwähne dies, weil wir mit den Unzulänglichkeiten von Stichtagsregelungen immer wieder konfrontiert
werden. Dies muß für uns aber auch Anlaß sein, die
Gründe dafür den Bürgerinnen und Bürgern besser zu
verdeutlichen.
Für die Mitglieder des Ausschusses bedeutet die Bearbeitung von Petitionen - gestatten Sie mir diese Bemerkung - viel beharrliche und intensive Arbeit; in aller
Stille, oft nach 22 Uhr. Die Ausschußsitzungen beginnen
oft mittwochs 7.30 Uhr. Nun sind wir alle auch noch in
anderen Fachausschüssen tätig. Die Sitzungen des Petitionsausschusses werden so anberaumt, daß sie nicht mit
anderen Terminen kollidieren können. Leider nimmt
aber die Unsitte wieder zu, daß sich Arbeitsgruppen und
Ausschüsse nicht an diese Übereinkunft halten und
ebenfalls Beratungen mittwochs um 8 Uhr anberaumen.
Ich denke, hier könnte wieder einmal Ordnung einkehren.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche, daß
die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auch in
Zukunft vom Petitionsrecht zahlreich Gebrauch machen,
denn darin ist nicht nur Kritik an bestehenden Verhältnissen zu sehen; es ist vielmehr der direkte Kontakt des
einzelnen Menschen in unserem Land zum Gesetzgeber.
Es ist für uns eine Chance zur Kommunikation und zur
Veränderung.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile dem
Kollegen Hubert Deittert, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir unterhalten uns heute über den Jahresbericht 1998 des Petitionsausschusses des Bundestages. Gestern haben wir in
einer eindrucksvollen Feier Rückblick auf 50 Jahre des
Bestehens dieses Ausschusses genommen. Ich denke,
uns allen ist bei dieser Feier die Bedeutung dieses Ausschusses noch einmal vor Augen geführt worden. Dieser
Ausschuß ist das Bindeglied zwischen den Bürgern im
Lande, dem Parlament und der Regierung. Ich denke,
man muß sehr großen Wert darauf legen, diese Verbindung zu pflegen.
In den fünf Jahrzehnten, die vergangen sind, haben
die Mitglieder des Petitionsausschusses und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußdienstes einen
unvorstellbaren Berg an Akten und persönlichen Schicksalen bewegt. Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes herzlich für die gewissenhafte Zuarbeit danken!
({0})
Für mich selbst ist die Arbeit im Petitionsausschuß
ein ganz wichtiger Bestandteil meiner parlamentarischen
Arbeit; denn hier ist eine schnelle Rückkoppelung der
gesetzgeberischen Entscheidungen mit den Auswirkungen im Lande gegeben. Ich war langjährig Kommunalpolitiker und 20 Jahre Bürgermeister. Da ist es so, daß
eine Entscheidung, die den Bürger belastet, am dritten
Tag wieder auf dem Schreibtisch liegt. Ähnlich ist es im
Petitionsausschuß. Die Rückkoppelung funktioniert hervorragend.
Ich denke, daß gerade der Petitionsausschuß mithelfen kann, da ein Stück Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen, wo es verlorengegangen ist. Auch da sehe
ich für mich eine wichtige Aufgabe.
Aber zurück zu unserem Jahresbericht. Nach unserem
Grundgesetz hat jeder Bürger das Recht, sich mit Anregungen und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
zu wenden. In den letzten Jahren haben im Schnitt etwa
20 000 Bürger von diesem Recht Gebrauch gemacht. Es
ist erfreulich, festzustellen, daß es sich dabei nicht immer nur um persönliche Probleme handelt, sondern daß
durchaus auch Anregungen für Gesetzesänderungen
im allgemeinen Interesse gegeben werden. Das ist ein
sehr positives Zeichen: Neben der Politikverdrossenheit
gibt es eine große Zahl von Frauen und Männern, die bereit sind, konstruktiv mitzudenken und Anregungen zu
geben.
Nun zur Herkunft der einzelnen Petitionen. Es ist
in der Tat so - wie auch Frau Kollegin Deichmann angedeutet hat -, daß überproportional viele Petitionen aus
den neuen Bundesländern kommen. Das ist nach den
gewaltigen Umbrüchen, die im Zuge der deutschen Einheit vollzogen werden mußten, verständlich. Ich will
aber auf Einzelheiten nicht eingehen. Das wird meine
Kollegin Frau Katherina Reiche im weiteren Verlauf der
Debatte übernehmen.
Interessant ist allerdings die unterschiedliche regionale Verteilung in den alten Bundesländern. Dazu
möchte ich folgende Beispiele anführen: Im Freistaat
Bayern gibt es 114 Petitionen pro 1 Million Einwohner,
in Nordrhein-Westfalen sind es 177 Eingaben pro 1 Million Einwohner. Mich würde es reizen, einmal nachzuforschen, ob die politische Farbe der jeweiligen Landesregierung Einfluß auf Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Bürger in dem betreffenden Bundesland hat.
({1})
Die von mir genannten Beispiele lassen das jedenfalls
vermuten.
Die Petitionen selbst betreffen im Grunde alle Lebensbereiche der Bevölkerung. Einen besonderen
Schwerpunkt nehmen hier die Bereiche der Sozialversicherung ein, insbesondere Krankenversicherung und
Rentenversicherung. Diese Tatsache verwundert nicht;
denn wir haben hier ein außerordentlich kompliziertes
Rechtsystem, das nicht für jeden Bürger auf den ersten
Blick nachvollziehbar ist. Es ist vor allem so, daß der
Bürger in manchen Fällen, auch wenn sie nach den
Buchstaben des Gesetzes korrekt abgewickelt sind, die
Entscheidung nicht nachvollziehen kann. Hier liegt eine
Aufgabe des Petitionsausschusses. Es gilt hier, nachzuforschen, ob im Laufe des Verfahrens wirklich irgendwo
ein Fehler gemacht worden ist oder ob es möglicherweise einen Ermessensspielraum gibt, den man zugunsten
des Petenten nutzen kann.
Ich denke, da geht es den Kolleginnen und Kollegen
genau wie mir: Wenn man jemandem konkret helfen
kann, dann ist das ein tolles Erfolgserlebnis, das dafür
entschädigt, daß man morgens um halb acht mit den
Ausschußsitzungen beginnen muß.
Meine Damen und Herren, im Bereich Sozialversicherung gibt es natürlich auch eine Reihe von Bitten um
Gesetzesänderungen, denen der Ausschuß aber nur in
wenigen Fällen entsprechen kann.
Mein persönlicher Schwerpunkt in der Arbeit des Petitionsausschusses liegt in den Bereichen Verkehr und
Landwirtschaft. Ich stelle zwei kurze Beispiele dar, zunächst eines zum Bereich Verkehr.
Der Lärmschutz beschäftigt uns sehr häufig. So hat
eine Bürgerinitiative in ihrer Eingabe zusätzlichen
Lärmschutz an der Autobahn A 1 begehrt. Die Rechtslage verlangt allerdings, daß beim Lärmschutz auf den
Zeitpunkt der Planfeststellung abgestellt wird. Die A 1
wurde 1981 gebaut; damals fuhren auf ihr pro Tag
39 000 Kraftfahrzeuge. Die Prognose für 1990 war
57 000. Allerdings fuhren in diesem Jahr dort tatsächlich
schon 64 000, und im zweiten Quartal 1997 sage und
schreibe 73 430 Fahrzeuge.
Der Bürger hat in diesem Fall keinen Rechtsanspruch
auf eine Anpassung des Lärmschutzes. Wir haben diese
Petition der Regierung zur Erwägung überwiesen. Der
Verkehrsminister vertritt aber die Auffassung, hier bestehe kein Anspruch. Damit sind wir nicht einverstanden. Wir werden daher das Problem weiter verfolgen.
Auch bei knapper Kassenlage müssen diese Lebensbereiche der Menschen gesehen werden.
Meine Damen und Herren, aus dem Bereich Landwirtschaft ebenfalls ein kurzes Beispiel: Im vergangenen Jahr hat sich ein großer Teil der Petitionen auf
die Themen Tierschutz und Tiertransporte bezogen. Bei
diesen Themen ist erfreulicherweise eine wesentliche
Verbesserung erfolgt, vor allem beim Thema Tiertransportzeiten. Hier sollte man unserem ehemaligen Landwirtschaftsminister Borchert für seine Initiativen im
Rahmen des Europäischen Ministerrates herzlich danken.
({2})
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen für die Zusammenarbeit im Petitionsausschuß. In
diesem Ausschuß ist es möglich, eine sachliche Diskussion über Parteigrenzen hinweg zu führen und nach der
für den Petenten besten Lösung zu suchen. An dieser
Stelle möchte ich aber auch ein kritisches Wort an die
Vertreter der Regierungskoalition anfügen. Ich bitte Sie,
in den Bereichen Asyl- und Aufenthaltsrecht den
Asylkompromiß aus der 12. Wahlperiode als geltendes
Recht zu respektieren. Es kann nicht angehen, daß man
sich im Ausschuß als guten Menschen darstellt und dann
die Ausführenden in Regierung und Verwaltung mit den
Problemen sitzen läßt; denn diese haben überhaupt keine
andere Möglichkeit, als nach Recht und Gesetz zu entscheiden.
({3})
Ich fordere Sie auf, sich entweder an das geltende Recht
zu halten oder aber mit der neuen Mehrheit, die Sie hier
haben, die Gesetze zu ändern. Dann können Sie natürlich auch im Ausschuß die entsprechenden Beschlüsse
fassen.
Bei dem, was ich eben sagte, mache ich allerdings
einen kleinen Unterschied zwischen den beiden Koalitionsfraktionen, denn die SPD ist auf einem guten Wege,
sich an die Wirklichkeit heranzutasten, während die
Grünen damit noch erhebliche Probleme haben.
({4})
Wenn Sie den Mut dazu haben und in der Lage sind, im
Bundestag und im Bundesrat die entsprechende Mehrheit zu organisieren, dann ändern Sie die Gesetze. Das
jedenfalls wäre ein Gebot der Ehrlichkeit.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
komme zum Schluß und danke abschließend den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes
herzlich für ihre gewissenhafte Zuarbeit. Trotz mancher
Meinungsverschiedenheiten bedanke ich mich auch bei
meinen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen
Fraktionen. Ich freue mich auf eine weitere Zusammenarbeit und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile dem
Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir können in diesem
Jahr - meine beiden Vorredner haben darauf hingewiesen - auf 50 Jahre Tätigkeit des Petitionsausschusses
zurückschauen. Ich denke, daß man diese 50 Jahre als
Erfolgsgeschichte bezeichnen kann. Diesen Erfolg haben wir gestern abend in einer Veranstaltung entsprechend gewürdigt. Im Namen der F.D.P.-Bundestagsfraktion möchte auch ich mich bei Frau Professor
Dr. Süssmuth und Herrn Dr. Vogel für die hervorragenden Festreden bedanken.
In diesen Dank beziehe ich auch den Bundestagspräsidenten ein, der gestern noch einmal die besondere Bedeutung des Petitionsausschusses beschrieben und den
Mitgliedern des Petitionsausschusses ausdrücklich seine
Unterstützung zugesagt hat. Von daher hätte ich mir gewünscht, daß der Herr Bundestagspräsident bis zum
Schluß der Veranstaltung hätte bleiben können, um noch
die Dankesworte der Frau Vorsitzenden zu hören.
Meine Damen und Herren, das Petitionsrecht hat in
Deutschland eine lange Tradition. Schon im Preußen des
18. Jahrhunderts gab es ein Eingaberecht. 1848 wurde
dann durch die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche die Basis für das heute geltende Petitionsrecht geschaffen. Rund 100 Jahre später wurde ihm
schließlich der Rang eines Grundrechts eingeräumt,
nachdem dieses Recht Jahre zuvor von den Nationalsozialisten abgeschafft wurde.
Hier ist schon der besondere Status des Petitionsrechts vorgetragen worden: Das Petitionsrecht haben
alle Menschen in Deutschland, auch Ausländer, Minderjährige und Strafgefangene. Wie wichtig dieses Recht
für die Bürger ist, zeigt die aufgeführte große Anzahl
der Eingaben in den letzten 50 Jahren: mehr als 4 Millionen Petitionen. Diese große Anzahl bestätigt sich
auch für das letzte Jahr, für 1998. Insgesamt gingen fast
17 000 Petitionen beim Ausschuß ein.
Meine beiden Vorredner haben schon auf den hohen
Anteil - 40 Prozent - von Eingaben aus den östlichen
Bundesländern hingewiesen. Dies freut mich ganz besonders, weil wir daran sehen, daß gerade die mit großen
Problemen belasteten ostdeutschen Mitbürger auch
weiterhin viel Engagement zeigen, um unser Land
voranzubringen.
Die Menge der Eingaben verdeutlicht auch, daß eine
große Anzahl unserer Mitbürger - entgegen dem allgemeinen Trend der Politikverdrossenheit - auf diesem
Weg ihre Möglichkeit zur Einflußnahme auf die Politik
wahrnehmen und so unser Land mitgestalten wollen.
Das Petitionsrecht ist daher ein empfehlenswertes und
gutes Instrumentarium für unsere Bürgergesellschaft, die
wir Liberalen wollen.
Zu den schon genannten fast 17 000 Eingaben kamen
noch einmal 13 000 Nachträge der Petenten, von denen
die meisten Erläuterungen oder Klarstellungen waren.
Es hat mehr als 8 000 Stellungnahmen der Regierung
gegeben. Mehr als 3 000 Schreiben von Behörden und
Abgeordneten wurden verarbeitet. Nahezu 70 000 Briefe
verließen 1998 den Petitionsausschuß. Dies alles zu bearbeiten war möglich, weil 80 Mitarbeiter des Ausschußdienstes - ich sage: nur 80 Mitarbeiter - diese Arbeit vorbereitet und koordiniert haben. Auch ich möchte
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes im Namen der F.D.P.-Fraktion für diese Arbeit
herzlich danken.
({0})
In diesen Dank möchte ich auch die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in unseren Büros mit einbeziehen, die
uns eine Menge Arbeit abnehmen.
({1})
Auf den Bereich Arbeit und Soziales entfielen mit
fast 40 Prozent wieder die meisten Eingaben. Eine große
Anzahl von Petitionen hier setzte sich mit der geplanten
schrittweisen Absenkung des Rentenniveaus auseinander. Vor dem Hintergrund der jetzt von der Bundesregierung geplanten Abkopplung der Renten von Lohn- und
Gehaltserhöhungen zwingen diese Zahlen zum Nachdenken. Ich fordere die Bundesregierung auf, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen.
({2})
Ein nennenswerter Rückgang ist im Geschäftsbereich
des Gesundheitsministeriums zu verzeichnen. Ein erheblicher Anteil der Eingaben betraf die Verbesserungen
des Nichtraucherschutzes, wobei oft ein generelles
Rauchverbot am Arbeitsplatz gefordert wurde. Wir haben gerade gestern gehört, daß es bereits - wenn ich das
richtig in Erinnerung habe - 1952 eine ähnliche Eingabe
gab. Allerdings wurde damals, im Jahr 1952, diese Petition unter der Rubrik „Kuriositäten“ abgelegt. Ich denke,
auch hieran zeigt sich, wie sich die Einstellung der Bevölkerung zu diesem Thema verändert hat.
Auch im Geschäftsbereich des Bundesministeriums
der Verteidigung gingen die Eingaben im Jahr 1998 gegenüber dem Vorjahr zurück. Schwerpunktmäßig wurden hier, wie in der Vergangenheit, auch Eingaben von
Soldaten und zivilen Mitarbeitern zu Personalproblemen
gemacht. Viele Wehrpflichtige schrieben den Petitionsausschuß zu Fragen der Einberufung zum Grundwehrdienst an, um ihre Ausbildung in Betrieben und Universitäten mit der Ableistung ihres Grundwehrdienstes
nicht kollidieren zu lassen. Wir haben auch Petitionen in
diesem Bereich gehabt, in denen um eine vollständige
Befreiung vom Wehrdienst gebeten wurde, weil die Betreffenden nach großen Bemühungen endlich einen Arbeitsplatz gefunden oder es geschafft hatten, ein eigenes
Unternehmen aufzubauen. Aber auch Besoldung und
Versorgung waren Gegenstand verschiedener Eingaben.
Es gingen auch Eingaben zum Thema „Frauen in
der Bundeswehr“ ein, ein Thema, das gerade in diesen
Tagen durch die Klage einer Frau vor dem EuGH wieder
an Aktualität gewinnt.
({3})
Die Frau hatte sich für den Dienst in den Streitkräften
beworben, wurde aber nur wegen ihres Geschlechts abgelehnt.
({4})
Im Frühjahr wird die Entscheidung des EuGH im Fall
der deutschen Klägerin gefällt.
({5})
Die Chancen für die Klägerin stehen gut, nachdem sich
der Generalanwalt beim EuGH in ihrem Sinne geäußert
hat. Diesem Votum stimmt die F.D.P.-Bundestagsfraktion ausdrücklich zu.
({6})
Es ist nicht nachvollziehbar, daß Frauen einerseits
bei Polizei, beim Bundesgrenzschutz und in zivilen
Wachdiensten Dienst an und mit der Waffe tun dürfen,
dieses ihnen aber in der Bundeswehr nicht gestattet sein
soll.
({7})
Wenn Frauen freiwillig Dienst an und mit der Waffe
leisten wollen, dann soll ihnen das nicht verwehrt bleiben. Es paßt einfach nicht mehr in unsere Zeit, Frauen
derart zu bevormunden, zumal Deutschland heute unter
der Mehrheit der NATO-Staaten das Schlußlicht bei der
Öffnung der Streitkräfte für freiwillige weibliche Bewerber bildet. Ich verweise bei dieser Gelegenheit noch
einmal auf den von der F.D.P.-Bundestagsfraktion eingereichten Gesetzentwurf zur Klarstellung des Art. 12a
des Grundgesetzes und hoffe insbesondere, daß die
Fraktionen von CDU/CSU und SPD der Grundgesetzänderung zustimmen werden,
({8})
so wie Sie das ja zum Teil auch schon in der Öffentlichkeit angekündigt haben. Herr Kollege, ich freue mich
dann auf Ihre Unterstützung, so daß wir dann hier eine
Mehrheit für unseren Antrag bekommen.
({9})
Ich will eine Petition noch besonders erwähnen: Ein
Wehrdienstleistender bat um eine Versetzung an einen
heimatnahen Standort, weil seine Mutter schwer an
Krebs erkrankt war und daher der täglichen Hilfe in der
Verrichtung einfachster Tätigkeiten bedurfte. Der Vater
war beruflich so stark eingebunden, daß er diese Hilfe
nicht übernehmen konnte. Die Versetzung des jungen
Mannes wurde mit der Begründung abgelehnt, daß seine
persönliche Situation für eine Versetzung nicht ausreiche. Auf Drängen des Petitionsausschusses ist er dann
letztlich doch an einen heimatnahen Standort versetzt
worden. Diese Petition stellt meines Erachtens ein gutes
Beispiel für die vielen Fälle dar, in denen der Petitionsausschuß im Einzelfall fraktionsübergreifend - ich betone ausdrücklich: fraktionsübergreifend - dem Bürger
helfen konnte.
Der Petitionsausschuß befindet sich nach wie vor an
der wichtigen Nahtstelle zwischen der korrekten Anwendung unserer Gesetze durch Behörden und andere
Institutionen einerseits und den Einzelfällen andererseits, die leider nicht immer alle vom Gesetzgeber berücksichtigt werden können.
Den Kollegen und Kolleginnen, die in der Vergangenheit diese Arbeit geleistet haben - gleich aus welcher
Fraktion; auch das betone ich noch einmal -, möchte ich
namens der F.D.P.-Bundestagsfraktion danken. Nach
den ersten 50 Jahren erfolgreicher Arbeit wünsche ich
auch allen zukünftigen Mitgliedern und Mitarbeitern des
Ausschusses immer eine glückliche Hand - und dies im
Interesse der Petenten.
Vielen Dank.
({10})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Unabhängig von den jeweiligen politischen Mehrheiten nutzt eine enorm große Zahl der Bürgerinnen und Bürger das Petitionsrecht seit nunmehr 50
Jahren. Von Atombombe bis Zahnplombe: Auch 1998
wurden über 16 000 Bitten und Beschwerden aus allen
Politik- und Lebensbereichen an den Petitionsausschuß
herangetragen.
Der vorliegende Jahresbericht fällt zusammen mit
dem 50jährigen Jubiläum des Petitionsausschusses
des Bundestags. Aber ist das nicht ein merkwürdiges Jubiläum, das wir feiern? Wir feiern eine Institution, die
sich mit dem befaßt, was nicht funktioniert, was falsch
ist oder was besser funktionieren könnte, eine Institution, bei der sich die Bürger beschweren und an die sie
sich wenden, weil sie sich ärgern oder weil etwas ungerecht ist. Sie ärgern, beklagen und beschweren sich
seit nunmehr 50 Jahren über die Behörden sowie über
den Staat und seine Gesetze. 50 Jahre Ärger, Wut und
Enttäuschung! Wäre dies nicht eher ein Grund zur Trauer und Verdrossenheit? - Nein!
({0})
- Dann ist es ja gut. - Nein, die vielen Eingaben sind
tatsächlich ein Vertrauensbeweis für unser Parlament
und unsere Demokratie.
({1})
Das Petitionsrecht ist ein „Lichtstrahl in den Grauzonen des Rechtsstaats und des demokratischen Systems“,
so der Rechtsgelehrte Schefold. Ein Grund zu ernster
Sorge wäre es vielmehr, wenn sich die Bürger nicht mit
ihren Problemen und Verbesserungsvorschlägen an ihre
Volksvertretung wenden würden. Die große Zahl der
Eingaben beweist, daß sie dem Parlament, dem demoraktischen System, die Lösung ihrer individuellen Probleme zutrauen. Die große Zahl der Bitten zur Gesetzgebung belegt auch, daß viele Bürgerinnen und Bürger
engagiert bereit sind, bei der Gestaltung unseres Gemeinwesens aktiv und mit guten Vorschlägen mitzuwirken.
Auch der Jahresbericht 1998 läßt den Willen zur Mitsprache erkennen. Mit 6 186 Petitionen haben die Bürger auf die Gesetzgebung des Bundes Einfluß zu nehmen versucht. Das Petitionsrecht ermöglicht Bürgerinnen und Bürgern, die Politik zu verändern.
„Mit Petitionen Politik verändern“, so lautet auch der
Titel des pünktlich zum 50jährigen Jubiläum des Petitionsausschusses von der Vereinigung zur Förderung des
Petitionsrechts in der Demokratie herausgegebenen
Handbuchs zur Geschichte, Gegenwart, Praxis und Zukunft des Petitionsrechts. In dieser Bremer Initiative haben sich engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammengeschlossen, die sich nach ihren eigenen Erfahrungen als
Petenten das Ziel gesetzt haben, Ansehen und Achtung
des Petitionsrechts in Parlament und Gesellschaft zu
vergrößern. Seit 1986 ist die Vereinigung ein kritischer,
kompetenter und überparteilicher Begleiter unserer Arbeit. Ich bin sicher, daß sie auch diese Debatte mit
Argusaugen verfolgen wird und uns mit ihrer konstruktiven Kritik auch weiterhin auf Trab halten wird. Ich
möchte mich bei dieser Vereinigung für ihr außerordentlich fruchtbares Wirken ausdrücklich bedanken. Mit
ihrer Arbeit erweist sie unserer Demokratie einen großen
Dienst. Mit ihrem Buch hat sie dem Parlament ein Geschenk gemacht.
An dieser Stelle möchte ich einige Punkte aufgreifen,
die die Vereinigung zum diesjährigen Jahresbericht kritisch angemerkt hat: Der Jahresbericht 1998 sei spät
vorgelegt worden, nämlich erst Ende 1999. In der Tat
sollte der Jahresbericht in Zukunft wieder zeitnah vorgelegt werden. Die bearbeiteten Petitionen wären dann
noch frisch im Bewußtsein der Abgeordneten, und die
parlamentarische Umsetzung der Beschlüsse könnte auf
Grund der Aktualität besser nachvollzogen werden.
Die Vereinigung wünscht sich ferner eine informativere und pointiertere Darstellung und Präsentation des
Jahresberichts. Auch ich bin der Meinung, daß die Präsentation des Jahresberichts ein Musterbeispiel dafür ist,
wie man mit großer Sorgfalt und Mühe sein Licht unter
den Scheffel stellen kann. In einer Welt, in der sich
Realität über Medien vermittelt, verstecken wir unsere
gute Arbeit in trockenen Drucksachen.
Der Bundestag leistet im Petitionsausschuß viel gute
Arbeit für den Bürger. Das sollte der Bürger meines Erachtens aber auch angemessen zur Kenntnis nehmen
können. Bescheidenheit ist eine Zier, aber die erfolgreiche Bürgerarbeit in bürgerunfreundlicher Weise zu präsentieren ist nicht ganz klug. Darum sollte die Bundestagsverwaltung tatsächlich über Mittel und Wege nachdenken, wie das Beschwerdebuch der Nation bürgerfreundlicher und lesbarer gestaltet werden kann. Dies
kann selbstverständlich der ohnedies bis zur Halskrause
in Arbeit steckende Ausschußdienst des Petitionsausschusses - auch von mir recht herzlichen Dank - allein
nicht leisten; da braucht es professionelle Unterstützung.
Darüber hinaus beklagt die Vereinigung, daß die Beschlüsse „Fraktionen zur Kenntnis“ oder „als Material“
in der Regel ins Leere laufen, weil sie die Bundesregierung zu nichts verpflichteten. So pessimistisch sehe ich
das allerdings keineswegs.
Bei den Materialbeschlüssen ist die Bundesregierung
immerhin gehalten zu berichten, in welcher Weise sie
mit diesem Beschluß umgegangen ist. Für unsere Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kann ich zumindest sagen,
daß wir für die Beschlüsse „Fraktionen zur Kenntnis“
ein internes Wiedervorlagesystem haben und regelmäßig
abfragen, ob und was in der Angelegenheit unternommen worden ist.
({2})
Was die Umsetzung der Beschlüsse zur Berücksichtigung und Erwägung angeht, hat die Frau Vorsitzende
bei der Pressekonferenz darauf hingewiesen, daß die
bisherige Bilanz der neuen Bundesregierung zu Beginn
der 14. Wahlperiode positiv auffalle. Kritisch angemerkt
wird von der Bremer Initiative, der Petitionsausschuß
mache zu wenig von seinen weitreichenden Ermittlungsbefugnissen Gebrauch: lediglich 7 Anhörungen
von Regierungsvertretern, 2 Ortstermine und 1 Akteneinsichtnahme. Ich glaube, daß wir im nächsten Berichtszeitraum die Zahl der Anhörungen von Regierungsvertretern weit übertreffen werden. Ich möchte dabei ausdrücklich darauf hinweisen, daß dieses Verlangen, einen Regierungsvertreter vor den Ausschuß zu laden, nicht allein ein Anliegen der Oppositionsfraktionen
ist. In der laufenden Legislaturperiode waren und sind es
gerade die Abgeordneten der Regierungsfraktionen, die
ihre eigene Regierung in die Pflicht nehmen, wenn der
Eindruck entsteht, daß dem Anliegen der Bürger und des
Petitionsausschusses nicht oder nur unzureichend Rechnung getragen wird.
Wenn die Regierung einem Beschluß des Petitionsausschusses nicht folgen will, sind wir sehr empfindlich
und über die Fraktionsgrenzen hinweg einig.
({3})
Das sei auch als Warnung an die hier sitzenden Regierungsvertreter ausgesprochen.
({4})
Mein Fraktionskollege und Staatsminister im Auswärtigen Amt Ludger Volmer kann wahrscheinlich
schon ein Lied davon singen, wie hartnäckig wir sein
können.
({5})
Insgesamt stellt aber auch die Vereinigung dem Jahresbericht 1998 und der Arbeit unseres Ausschusses ein
gutes Zeugnis aus. Der Jahresbericht ist - ich zitiere „ein spannendes, lesenswertes, in der Öffentlichkeit und
der Presse zu gering beachtetes Dokument“.
Besonders hervorgehoben wird die gelungene Wiedergabe petitionsrechtlicher Reformbestrebungen. Dies
bezieht sich auch auf die Debatte zu den reformorientierten petitionsrechtlichen Gesetzentwürfen meiner
Fraktion aus der letzten Legislaturperiode. Ich meine,
unsere Vorschläge von damals für ein bürgerfreundlicheres und moderneres Petitionsrecht sind eine gute
Grundlage zur weiteren Diskussion auch in dieser Legislaturperiode.
Der Jahresbericht des Petitionsausschusses ist ein
„Leitfaden für besseres Regieren“, wie die Zeitung „Die
Woche“ formulierte. Deshalb sollte sich auch unsere
Regierung diesen Bericht gut ansehen, denn als letzter
Jahresbericht, dessen Tätigkeitszeitraum zum größten
Teil noch vor den Bundestagswahlen lag, dokumentiert
er auch die Sorgen und Wünsche der Bürger vor der
Wahl, und in ihm finden sich daher viele Gründe, warum sie eine neue Bundesregierung wollten.
So bietet der Jahresbericht 1998 reichlich Material für
das Parlament und die neue Regierung, wie eine bessere
Politik im Sinne der Bürgerinnen und Bürger aussehen
kann. So freuen wir uns besonders über die Beispiele, in
denen Eingaben an den Petitionsausschuß schon jetzt zu
konkreten Formulierungen in Gesetzesvorlagen der neuen Bundesregierung geführt haben. Ein Beispiel dafür ist
der Gesetzentwurf, der es den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung, die Anspruch auf Krankenversorgung aus Bundesmitteln haben, ermöglicht, sich auch
noch nachträglich von der Versicherungspflicht befreien
zu lassen. Der Gesetzentwurf schließt mit dem Satz:
„Dies entspricht einem Anliegen des Petitionsausschusses.“ Man sieht: Petitionen sind der Stoff, aus dem die
Gesetze sind.
({6})
Der Jahresbericht 1998 hat der Bundesregierung und
dem Parlament weitere noch nicht gelöste Hausaufgaben
mitgegeben. Ich nenne die zahlreichen Eingaben zum
Thema frauenspezifischer Fluchtgründe im Asylverfahren. Der Ausschuß hält weitere Anstrengungen für erforderlich, um Opfer von geschlechtsspezifischen Verfolgungen besser zu schützen.
Der Ausschuß rühmt sich, in den meisten Fällen
fraktionsübergreifend und einvernehmlich um die besten
Lösungen zu ringen. Aber es gibt offensichtlich auch
Unterschiede im Verständnis der Arbeit des Petitionsausschusses. Ein Kollege der CDU hat uns, den Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, auf der
Helmut Wilhelm ({7})
Pressekonferenz zur Übergabe des Jahresberichtes den
Vorwurf der - ich zitiere - „ideologischen Großherzigkeit“ gemacht. Herr Kollege Deittert hat es gerade so
ähnlich formuliert. Ich bin gewiß kein Ideologe - aber
wenn, dann möchte ich ein Verfechter der Großherzigkeit sein.
({8})
Kommen Sie bitte
zum Schluß, Herr Kollege Wilhelm.
Ja.
Großherzigkeit ist allemal besser als rein politische
oder juristische Enge. Großherzigkeit zu üben ist doch
gerade die Funktion des Petitionsausschusses: An wen
sonst sollten sich die Bürger wenden, wenn alle Rechtsmittel erschöpft sind und dennoch keine Lösung des
Problems gegeben ist? Die Bürger wenden sich dann an
uns, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen.
Im Petitionsausschuß sind wir keine Richter. Als
ehemaliger Richter kenne ich den Unterschied wohl.
Wir sollen dort nicht Recht sprechen oder über Bürger
richten. Im Gegenteil, wenn sich ein Bürger an den Petitionsausschuß wendet, dann erwartet er Hilfe und Unterstützung, und die sollten wir ihm geben.
({0})
Ich erteile der Kollegin Heidemarie Lüth, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich bedanke mich ganz
ausdrücklich dafür, daß ich als Vorsitzende des Petitionsausschusses schon an dieser Stelle und nicht eventuell als letzte sprechen darf.
({0})
Zum Jahresbericht 1998 sagte Kollege Wilhelm eben:
recht verspätet. Auch die Bremer Initiative nennt es so.
Wir haben den heutigen Tag ganz bewußt gewählt, und
wir sind dankbar, daß die Debatte heute wirklich stattfinden kann, weil wir von dem Glanz des gestrigen
Abends ein bißchen in den Saal dieses Parlamentsgebäudes scheinen lassen wollten. Wir meinen, daß dieses
Scheinen im Parlament für den Petitionsausschuß eine
gute Angelegenheit ist. 50 Jahre sind immerhin ein
schönes Alter. Soziologisch gesehen, ist der Petitionsausschuß eigentlich eine junge Alte.
({1})
Das ist er tatsächlich. Kompetent, kämpferisch und
ideenreich setzen sich die bisher mehr als 400 Mitglieder dieses Ausschusses seit 1949 für Belange der Petentinnen und Petenten ein. Die Ergebnisse der Arbeit der
Ausschußmitglieder des Jahres 1998 sind Grundlage
dieses Jahresberichtes.
Die Gesamtzahl der behandelten Petitionen betrug
21 237 - eine Arbeitsleistung, die von den Abgeordneten nicht allein zu bewältigen war und auch niemals allein zu bewältigen ist. Daher gilt mein Dank auch ganz
besonders den Kolleginnen und Kollegen im Ausschußdienst, die mit größtem Engagement, mit viel solidem
Wissen und mit vielfältigen Ideen diese unsere Leistungen, die wir hier darstellen können, überhaupt erst möglich gemacht haben.
({2})
5 292 Petitionen gingen zum Bereich Arbeit und
Sozialordnung ein - ein Signal zum Nachdenken über
die Wirkung der von uns beschlossenen Gesetze. Ich
darf daran erinnern: Es handelte sich um das Rentenreformgesetz, das für 1999 beschlossen war. Es handelt
sich um die Regelung des Wachstums- und Beschäftigungsgesetzes, das Frauen ein höheres Renteneintrittsalter bescherte und gleichzeitig die Altersrente für langjährig Versicherte und Arbeitslose entsprechend anhob.
Es brachte Schwierigkeiten für die Erwerbsunfähigkeitsrentner.
1 300 Eingaben aus den neuen Ländern betrafen das
Renten-Überleitungsgesetz und Überführungslücken.
Diese Eingaben will ich nicht unerwähnt lassen. Einige
davon wurden jetzt durch die Möglichkeit auf Grund des
Bundesverfassungsgerichtsurteils verändert.
1 938 Petitionen betrafen den Geschäftsbereich des
BMI. Auch dies möchte ich ganz besonders hervorheben. Im vergangenen Jahr wandten sich recht viele Petentinnen und Petenten - abgelehnte Asylbewerber aus
dem Kosovo -, noch bevor wir im Bundestag über die
dortigen Ereignisse gestritten haben, an den Ausschuß,
und zwar mit dem Signal, daß sie einen Asylantrag gestellt haben und auf Grund der bestehenden Lage Asyl
haben wollen. Des weiteren wandten sich Flüchtlinge
aus Bosnien-Herzegowina an uns, aber auch Eingaben
aus dem Bereich des Staatsbürgerschaftsrechts, der Einbürgerung und der doppelten Staatsbürgerschaft erreichten den Ausschuß. Nicht zu vergessen: Viele, die
noch die Möglichkeit haben wollen, über das Vertriebenengesetz als Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler
anerkannt zu werden und nach Deutschland zu kommen,
wenden sich an uns.
Was signalisieren eigentlich diese schlichten Zahlen?
Petentinnen und Petenten wenden sich häufig schon
während der politischen Debatten zu Gesetzesverfahren
an den Petitionsausschuß. Nicht nur die mit den Themen
befaßten Fachausschüsse und die Fraktionen, sondern
alle Abgeordneten des Hohen Hauses erhalten Kenntnis
davon, wenn Petitionen als Material oder den Fraktionen
zur Kenntnis überwiesen worden sind. Im vergangenen
Jahr lautete der Beschluß 412mal „Material“ und 47mal
„den Fraktionen zur Kenntnis“. Wie ernst nehmen wir
diese Überweisungen, und wie ernst nehmen wir damit
Helmut Wilhelm ({3})
eigentlich auch die Beschlüsse des Bundestages? Wie
oft wird in den Fachausschüssen tatsächlich über die
überwiesene Petition so sachlich und so intensiv beraten,
wie wir es im Petitionsausschuß tun? „Den Fraktionen
zur Kenntnis“ ist eigentlich ein ungeheuer hohes Votum,
weil hierdurch dem Gesetzgeber etwas direkt zur Kenntnis gebracht wird. Für meine Fraktion gibt es da - ich
darf schlicht sagen - entscheidende Reserven. Aber bei
Ihnen ist das sicherlich alles ganz anders, wenn die Petitionen zu Ihnen in die Fraktionen kommen.
Aus den Anträgen kann jedenfalls in den seltensten
Fällen abgelesen werden, daß eine Petition Grundlage
einer parlamentarischen Initiative ist. Dennoch gab es
im vergangenen Jahr 3 588 Legislativpetitionen zu
Fragen der Verwaltung, 2 645 zu Finanzfragen und
über 1 000 zur Sozialversicherung und weiteren Fragen.
Wir sind also schon längst nicht mehr der Kummerkasten der Nation. Vielmehr machen selbstbewußte,
politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger sachlich
von ihrem verfassungsmäßig verbrieften Recht Gebrauch. Sie wollen sich ganz bewußt in Politik einmischen. Hier jedenfalls gibt es keine Politikverdrossenheit. Sie erfassen ihr Recht auf Petitionen als Bindeglied
zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Bundestag
als direkte Teilhabe an Politik.
Wenn sich Politik daran orientieren soll, wie die
Menschen heute leben wollen, dann ist die Kenntnis von
dem, was Menschen im Wege der Petition an den Bundestag herantragen, für uns von besonderer Bedeutung.
Im vergangenen Jahr hat der Bundestag auf Empfehlung
des Petitionsausschusses achtmal zur Berücksichtigung
und 61mal zur Erwägung überwiesen. Angesichts über
21 000 behandelter Petitionen werden Sie sicherlich
auch sehen, daß wir mit den höchsten Voten sehr sparsam umgegangen sind. Um so erstaunlicher ist es nach
wie vor für mich, daß keiner dieser Berücksichtigungsbeschlüsse und nur 20 Erwägungsbeschlüsse verwirklicht wurden.
Machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen auf der
damaligen Regierungsbank, aber auch Sie, die Sie heute
hier sitzen, sich auch einmal klar, wie schwer es uns
fällt, wenn wir einem Petenten oder einer Petentin gerade den Beschluß „zur Erwägung überwiesen“ übermittelt haben, sechs Wochen später sagen zu müssen: Die
Regierung will diesen Beschluß des Bundestages aber
nicht umsetzen. Diese Petentinnen und Petenten haben
dann erst einmal die Nase voll.
Daß die Ladung eines Ministers oder eines Staatssekretärs im Einzelfall hilfreich sein kann, zeigen die Anhörungen, die wir in den letzten Jahren durchgeführt haben.
Ungeachtet der Tatsache, daß Beschlüsse des Petitionsausschusses rechtlich keine Bindung entfalten, achtet
der Petitionsausschuß im Interesse einer gedeihlichen
Zusammenarbeit mit der Volksvertretung darauf, daß die
Bundesregierung alle ihr gebotenen Mittel und Möglichkeiten ausschöpft, um den ihr zur Berücksichtigung
oder zur Erwägung überwiesenen Petitionen nachzukommen. Petitionen sind und bleiben eben Gradmesser
dafür, wie sich gesetzliche Regelungen im Leben der
Bürgerinnen und Bürger auswirken.
Es ist schon mehrfach betont worden, daß die Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern in
weit größerem Maße an den Petitionsausschuß schreiben
als die aus den alten Bundesländern. Ich darf nur darauf
verweisen, daß das so ist. Ich meine aber auch, daß die
vielen Petitionen, die die Bürgerinnen und Bürger an uns
senden - ähnlich hat es Herr Nolting gesagt -, ein wirklicher Vertrauensbeweis in die Demokratie sind. Viele
Zuschriften aus den neuen Bundesländern enthalten genauso wie die aus den alten Bundesländern Vorschläge
zu Gesetzesänderungen.
({4})
Petitionswesen meint aber auch Kontrolle über die
Exekutive, im Parlament konkret durch die Opposition.
Die Koalitionsfraktionen verstehen sich eher als Unterstützer der Regierung oder auch als deren Verteidiger.
Zwar wird der Vorsitz des Ausschusses meist aus den
Reihen der Opposition besetzt, aber in den einzelnen
Angelegenheiten bemühen sich alle Ausschußmitglieder
- für diese kollegiale Zusammenarbeit möchte ich mich
an dieser Stelle bei allen Kolleginnen und Kollegen des
Ausschusses ganz herzlich bedanken - in der Regel um
Konsens und lassen so eher das in der Verfassung angelegte Spannungsfeld zwischen Volksvertretung und
Bundesregierung und weniger das zwischen Opposition
und Koalition erkennen.
Die Festredner des gestrigen Abends haben mich persönlich in dem Bemühen um mehr Transparenz in der
Arbeit, mehr Öffentlichkeit und stärkeres Bemühen, mit
den Petenten in direkten Kontakt zu treten, bestärkt.
Direktes Hören und Sehen sind wichtig, und unsere Befugnisrechte geben uns dazu grundsätzlich die Möglichkeit. Eine monatliche Sprechstunde, die ich als Vorsitzende ab November in Berlin anbiete, kann eine solche
Möglichkeit sein. Sie und ich brauchen ja nicht - wie
vor 1 200 Jahren Harun al Raschid - verkleidet durch
die Bundesrepublik zu laufen, wenn wir Fehler in der
Verwaltung, Lücken in den Gesetzen oder irgendeine
Not innerhalb des Volkes entdecken wollen; denn die
Petentinnen und Petenten kommen mit ihren Anliegen
zum Glück ganz bewußt zu uns.
Es ist kontraproduktiv, daß die Zahl der Ausschußmitglieder auf 29 herabgesetzt wurde. Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob sich diejenigen, die das beschlossen haben, darüber im klaren waren, daß das heißt, etwa
1 000 Berichterstattungen zusätzlich auf diese 29 Mitglieder aufteilen zu müssen.
Ich komme zum Schluß. Im Berichtszeitraum gab es
einen durch die Bundestagswahl begründeten Wechsel
im Ausschußvorsitz. Bis November 1998 stand die
Kollegin Nickels dem Ausschuß als Vorsitzende vor. Ich
darf Ihnen, liebe Kollegin Nickels, für Ihre Arbeit, für
Ihren Mut, in der Umsetzung keinen Schwierigkeiten
aus dem Weg zu gehen, und für Ihre Ideen danken, mit
denen Sie den Ausschuß geleitet haben. Es ist schwer,
das Amt nach Ihnen zu bekleiden.
({5})
Ich gebe das Wort
nunmehr der Kollegin Marlene Rupprecht, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Für viele Menschen, die noch keine
Petition an den Ausschuß gerichtet haben, ist die Arbeit
des Petitionsausschusses so etwas wie eine Black box.
Was darin geschieht, ist für sie nicht nachvollziehbar.
Deshalb will ich wie einige Vorrednerinnen und Vorredner an konkreten Beispielen die Vielfalt der Eingaben
und deren mögliche politische Umsetzung kurz skizzieren. Ich finde es schade - vielleicht macht es der Raum,
vielleicht macht es die Anwesenheit des Publikums aus,
wir sind ja hier wie im Schaufenster -, daß hier auf einmal ein anderes Klima und eine andere Art des Umgangs miteinander als sonst vorherrschen.
Wir haben über 90 Prozent einstimmige Beschlüsse,
wir hebeln keine Gesetze aus, sondern wir achten sie.
Wir loten nur die Spielräume, die wir haben, aus und
versuchen, Einzelschicksale zu sehen und Problemlösungen anzubieten. Daher möchte ich auf das zurückkommen, was wir eigentlich tun: Kärrnerarbeit im Verborgenen. Sonst tagen wir nämlich in einem abgeschiedenen dunkelblauen Raum. Vielleicht macht es das aus,
daß wir miteinander normal umgehen. Vielleicht vertragen wir das Schaufenster nicht.
({0})
- Ja, das stimmt, Herr Nolting.
Da ich dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend angehöre, will ich ein paar diesbezügliche
Beispiele nennen: 1998 gab es in diesem Bereich 201
Petitionen. Die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger
bezogen sich in überwiegender Weise auf Gleichstellungsfragen, auf die Seniorenpolitik sowie auf Fragen
der Kinder- und Jugendhilfe. Man sieht, daß diese 201
Petitionen nicht die Mehrheit der Petitionen darstellten,
aber auch da haben wir versucht, zu helfen.
Mehrere Eingaben in diesem Bereich betrafen die
Förderung des sozialen Ehrenamtes. Es wurde gefordert, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so auszugestalten, daß die Ausübung eines Ehrenamtes möglich ist.
Dabei ging es vor allem um Verbesserungen im Hinblick auf die berufliche Freistellung, um das Ehrenamt
ausüben zu können, und um den Ersatz der damit verbundenen Aufwendungen. Die neue Bundesregierung
und auch die Fraktion der SPD hat diese Anregung bereits aufgegriffen, indem unter anderem der bisher begünstigte Personenkreis erweitert wird und die bisher
steuerbefreite sogenannte Übungsleiterpauschale von
200 DM in eine steuerbefreite Ehrenamtsförderung von
monatlich 300 DM umgewandelt wird.
({1})
Da uns der Bericht von 1998 vorliegt, muß ich dazu
doch einen kleinen Schlenker machen: Die Vorgängerregierung und die Kollegen von der CDU/CSU und der
F.D.P. loben jetzt immer das Ehrenamt. Sie hätten
eigentlich Zeit genug gehabt, etwas zu tun und nicht nur
Sonntagsreden zu halten.
({2})
Weil aber nichts getan worden ist, müssen wir jetzt
berechtigte Forderungen umsetzen.
({3})
- Ich bin gleich wieder freundlich. Beruhigen Sie sich!
Ein weiterer Fall, den ich hier erwähnen möchte, betrifft eine Petentin, die sich im Frühjahr 1998 an den
Ausschuß mit der Bitte wandte, ihr nach Ende ihres Erziehungsurlaubes im Herbst 1998 bei der Suche nach
einer Teilzeitbeschäftigung zu helfen. Sie war mit zwei
Kindern und wegen hoher Mietkosten auf eine Teilzeitbeschäftigung angewiesen. Der Angestellten wurde von
ihrem bisherigen Arbeitgeber mitgeteilt, daß die dort zu
erledigende Tätigkeit von einer Teilzeitbeschäftigten
nicht zu bewältigen sei. Bemühungen bei anderen
Dienststellen waren ebenso erfolglos.
Der Petitionsausschuß - da sieht man, welchen Ermessensspielraum er hat - konnte hier schnell und unbürokratisch helfen. Das zunächst bestehende Hindernis,
die Aussage des Arbeitgebers, die zu erledigende Arbeit
könne von einer Teilzeitbeschäftigten nicht geschafft
werden, konnte durch die Genehmigung der Besetzung
des Arbeitsplatzes mit einer weiteren Teilzeitkraft ausgeräumt werden. Der Petitionsausschuß konnte dafür
sorgen, daß die Petentin an ihrem bisherigen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt wird.
An diesem Fall wird sehr deutlich, welche Hürden
Frauen nach wie vor überwinden müssen, wenn sie Familie und Erwerbsarbeit unter einen Hut bringen wollen.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist deshalb das
zentrale Anliegen im Ausschuß für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend und vor allem auch das unserer Ministerin, die dies in dem Aktionsprogramm „Frau und
Beruf - Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ niedergelegt hat. - Es freut mich sehr, daß wir hier gemeinsam
sehr schnell und unbürokratisch helfen konnten.
Häufig konnten und können wir im Einzelfall auf
Grund der Gesetzeslage nicht helfen. Es bedurfte und
bedarf vieler Eingaben von Bürgern, bis bei den zuständigen Stellen die Notwendigkeit zum Handeln gesehen
wird. So war es auch bei den Petitionen, die den Problemkreis Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen betrafen. Viele Bürgerinitiativen haben Petitionen
geschrieben. Die Betroffenen haben darunter gelitten
und wurden krank. Die berechtigten Wünsche nach
Schutz ihrer Gesundheit wurden von den zuständigen
Stellen jedesmal mit dem Hinweis zurückgewiesen, daß
es für Lärmsanierung keine Rechtsgrundlage und keine
Haushaltsmittel gebe und daß man der Deutschen Bahn
AG als selbständiger Aktiengesellschaft außerdem nicht
vorschreiben könne, Lärmschutzmaßnahmen zu treffen.
Die Mitglieder des Petitionsausschusses haben diese
Auffassung nicht geteilt und die Petitionen an das damalige Bundesministerium für Verkehr und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen. Das Ziel war, durch entsprechende
Interpretation vorhandener oder auch durch Schaffung
neuer Rechtsnormen das Eisenbahn-Bundesamt in die
Lage zu versetzen, die Deutsche Bahn AG dazu anzuhalten, Lärmschutz, wo immer im Interesse der Bürger
nötig, zu installieren.
Von wegen „keine Bundesmittel“! Die neue Bundesregierung hat noch im Bundeshaushalt 1999 den Titel
„Maßnahmen zur Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes“ eingerichtet
und für dieses Jahr mit 100 Millionen DM dotiert.
({4})
Es werden also bereits Lärmschutzwände gebaut.
Weiterhin erstellt die DB AG derzeit ein Lärmbelastungskataster, das als wichtige Entscheidungsgrundlage
für die Frage, ob ein Härtefall vorliegt, dienen soll. Hier
brachte das Handeln nach der Devise „Steter Tropfen
höhlt den Stein“ den Erfolg. Die Leute haben also so
lange „gebimst“, bis endlich gehandelt wurde.
({5})
Viele Petitionen betreffen nicht ganz konkrete, persönliche Anliegen einzelner Bürgerinnen und Bürger.
Auch allgemeine oder ethische Fragen sind Gegenstand
der Eingaben.
Ich komme zu einem nächsten Beispiel. Nach Bekanntwerden des erfolgreichen Klonens eines Schafs in
Schottland befürchteten viele Menschen, daß damit der
erste Schritt in Richtung Klonen des Menschen getan
sei. Die Petenten forderten ein klares und lückenloses
Verbot der Klonierung von Menschen. Die Bundesregierung bekräftigte damals in ihrer Stellungnahme, daß
Klonierung in Deutschland verboten sei, jedoch stets
Mißbrauchs- und Umgehungsmöglichkeiten verhindert
werden müßten, um Unklarheiten gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Der Petitionsausschuß begrüßte die Haltung der Bundesregierung - da ist wieder das Versöhnliche - und vor
allem das Engagement der Petenten für ein weltweites
Verbot der Klonierung von Menschen. Die im Grundgesetz verankerte Würde des Menschen - das war uns sehr
wichtig - muß auch im Rahmen moderner Reproduktionstechnologien unbedingt gewährleistet sein. Ein
Mensch darf nicht wie ein technisches Produkt hergestellt werden. Durch die Zuweisung bestimmter Erbanlagen werden an den Klon Erwartungen gestellt, die die
Selbstbestimmung und die freie Entfaltung des Menschen einschränken.
Wir hielten es für wichtig, daß diese Petition im weiteren Meinungsbildungsprozeß beachtet wird, und haben
deshalb empfohlen, sie der Bundesregierung als Material
zu überweisen und den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis zu geben. Ich denke, daß es im
Augenblick gärt, daß etwas daraus entsteht. Es ist noch
nichts spruchreif. Aber wie ich meine Fraktion und auch
andere Kollegen kenne, wird sich daraus etwas entwikkeln.
Ich möchte noch einige Anmerkungen aus Sicht eines
Petitionsausschußmitglieds machen, das erst in dieser
Legislaturperiode in dieses Gremium gekommen ist. Die
Arbeitsweise und den Umgang der Parlamentarier und
Parlamentarierinnen in diesem Ausschuß empfinde ich
als fair, an der Sache und an den Menschen orientiert.
Hätten die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit,
diese demokratische Praxis zu erleben, wäre viel getan,
um das Negativbild von Politikern zu korrigieren.
({6})
Ich bedanke mich an dieser Stelle bei meinen Kolleginnen und Kollegen und bei der Frau Vorsitzenden
({7})
- ich hätte keine Probleme gehabt, Sie vorzulassen - für
die gute Zusammenarbeit und spreche auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes für
die geleistete Arbeit meinen Dank aus.
Zum Schluß möchte ich den Petentinnen und Petenten für ihre Geduld danken; denn die sorgfältige Bearbeitung der Eingaben beansprucht oft viel Zeit. Dank
auch dafür, daß sie Verständnis haben, daß wir trotz
großer Anstrengungen für ihre Anliegen nicht immer die
gewünschten Lösungen finden können!
Danke schön.
({8})
Das Wort hat nunmehr die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich möchte meinen Ausführungen über die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 1998 zwei persönliche
Bemerkungen voranstellen.
Zunächst ist es mir ein Bedürfnis, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes meinen
herzlichen Dank für die kollegiale Zusammenarbeit auszusprechen. Die professionelle Arbeitsweise des Ausschußdienstes hat mir als einer jungen Abgeordneten
den Einstieg in die nicht immer einfache Materie sehr
erleichtert.
Zweitens will ich eine Lanze für die Reputation des
Ausschusses brechen. Es gibt immer wieder die eine
oder andere Stimme, die dem Petitionsausschuß eine
nicht ganz so hohe Bedeutung beimißt. Dementsprechend schätzen diese Stimmen auch die Mitgliedschaft
von Abgeordneten in diesem Gremium als gering ein.
Auch ich habe solche Stimmen vernommen. Nach einem
Jahr Arbeit im Petitionsausschuß kann ich sagen, daß
diese Beurteilung nicht zutrifft.
Die aktive Beteiligung der Menschen am politischen
Geschehen ist Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Den Mitgliedern des Ausschusses
kommt dabei die verantwortungsvolle Aufgabe zu, diese
Beteiligung nicht zu einer hohlen Hülse verkommen zu
lassen; dies wäre der Fall, wenn die Bürger den Eindruck gewönnen, ihre Anliegen würden nicht ernst genommen oder gar inkompetent bearbeitet werden. Dieser
Eindruck darf auf keinen Fall entstehen. Wir müssen begreifen, daß der Petitionsausschuß eine doppelte Chance
bietet: eine Chance für den Bürger, direkt mit dem Parlament zu kommunizieren und gegebenenfalls Hilfe zu
erlangen, und eine Chance für das Parlament, eine direkte und praxisnahe Rückkopplung über seine Gesetzgebung zu bekommen.
Ein Jahresbericht ist immer eine Sternstunde für Statistiker. Auch der Jahresbericht des Petitionsausschusses
gibt reichlich Gelegenheit für die Betrachtung zahlenmäßiger Verhältnisse und Veränderungen. Für mich als
Abgeordnete aus den neuen Ländern sticht dabei eine
Zahl ganz besonders hervor: Bei einer sinkenden Gesamtzahl von Petitionen erhöht sich der eh schon große
prozentuale Anteil von Petitionen aus den neuen Ländern in diesem Jahr auf über 30 Prozent.
Worin liegt es begründet, daß sich besonders viele
Bürger aus den neuen Ländern an den Petitionsausschuß
wenden? Vermutlich gibt es dafür eine ganze Reihe von
Gründen, und viele von ihnen sind positiv zu bewerten.
Nach Jahrzehnten staatlicher Willkür und Allmacht
nehmen viele Menschen aus der ehemaligen DDR ihr
Recht wahr, Entscheidungen zu hinterfragen und überprüfen zu lassen. Viele wollen mit ihren Vorschlägen die
Demokratie aktiv mitgestalten und suchen auf diesem
Weg einen Dialog mit der Politik. Manche Gründe spiegeln auch die Zeichen der Zeit wider: Auch im Jahre 9
der deutschen Einheit müssen wir uns weiterhin für die
materielle Angleichung der Lebensverhältnisse in den
neuen Ländern einsetzen. Es ist nicht in allen Bereichen
so, wie wir es uns wünschen. Häufig steckt der Teufel
bei der Herstellung der inneren Einheit im Detail. Die
Anrufung des Petitionsausschusses konnte hier in den
letzten Jahren in vielen Fällen Abhilfe schaffen.
Es gibt aber auch Gründe dafür, die mich ärgern und
nicht sein müßten: Der Prozentsatz der Eingaben, die
durch Auskunft und Verweisung erledigt werden, liegt
bei über 30 Prozent. Die Eingaben aus den neuen Ländern haben daran einen nicht unerheblichen Anteil. Aus
diesen Eingaben läßt sich häufig eine Unkenntnis der
politischen, wirtschaftlichen und administrativen Strukturen unseres Staates ableiten. Dies bestätigt meine Auffassung, daß der politischen Bildung in den neuen Ländern noch sehr viel mehr Bedeutung beigemessen und
mehr Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden müssen. Wir müssen gemeinsam Wege finden, politische
Bildung allen Generationen in Ostdeutschland besser zu
vermitteln und die Bürger erfolgreich zu motivieren,
politische Bildung auch anzunehmen. Vielleicht würde
sich eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit des Ausschusses positiv auswirken. Der Ausschuß sollte offen
bekunden, wenn er helfen konnte, die Lage eines Petenten zu verbessern. - Dies wären für mich wichtige
Schlußfolgerungen aus der statistischen Betrachtung des
Jahresberichtes.
Auf der inhaltlichen Ebene möchte ich aus der ostdeutschen Perspektive zwei Vorgänge ganz besonders
beleuchten: Der Ausschuß hat im vergangenen Jahr mit
einer Empfehlung einen wichtigen Beitrag zu Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit in den neuen Ländern
geleistet. Er hat sich klar für die Verlängerung der Verjährungsfristen für mittelschwere DDR-Regierungskriminalität ausgesprochen. Die Petenten hatten mit
dem Hinweis auf eine angebliche Unterwerfung der
DDR durch die Bundesrepublik ein sogenanntes Strafverfolgungsbeendigungsgesetz gefordert. Dies wäre ein
fatales Signal gewesen und hätte den Rechtsfrieden in
den neuen Ländern gefährdet.
In einem anderen Fall ging es um Schäden, die auf
den von der Westgruppe der russischen Streitkräfte
genutzten Flächen entstanden sind. Viele Bürger erhielten ihre Grundstücke zurück, allerdings durch Munition verseucht. Den Geschädigten wurde eine Frist von
drei Monaten eingeräumt, um Schadenersatz für die
Räumungskosten zu beantragen. Das Problem des Petenten war es aber nun, daß er gar nicht wußte, daß sein
Grundstück mit Munition verseucht war. Als er dann
von dem Zustand erfuhr, hätte er entweder die Räumungskosten selber tragen oder das Grundstück zu
einem sehr geringen Preis an die Stadt veräußern müssen. Der Ausschuß empfahl, dem Betroffenen an Stelle
einer objektiven eine subjektive Frist einzuräumen, die
nicht mit dem Zeitpunkt der Rückgabe, sondern mit dem
Zeitpunkt der Kenntnis der Schäden beginnt. Der Petent
bekam eine neue Frist zugesprochen. Ich finde, daß mit
dieser Empfehlung die besondere Lage derjenigen Menschen berücksichtigt wurde, deren Grund und Boden
während des kalten Krieges von den damaligen Sowjetstreitkräften genutzt wurde.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum
Schluß noch eine Bemerkung. Innerhalb des Berichtszeitraumes hat es einen Regierungswechsel gegeben.
Früher haben die Kollegen, die heute der Regierungskoalition angehören, die Ministerien und insbesondere das
Auswärtige Amt hart kritisiert und mehr Menschlichkeit
gerade in Fragen von Visa-Anträgen und Familienzusammenführungen angemahnt. Es überrascht mich deshalb, daß derselbe Personenkreis, der nunmehr in den
Ressorts die Verantwortung trägt, von seiner damaligen
Kritik offenbar nichts mehr wissen will. Ging es damals
etwa nicht um die Sache, sondern nur um bloße Polemik?
({0})
Auch wenn in wenigen Einzelfällen Eingaben zum
Schmunzeln angeregt haben - es ging etwa einmal um
die Frage, ob ein Gericht entscheiden kann, ob Rehe
Mais verzehren können oder nicht -, so war doch die
Arbeit des Petitionsausschusses im vergangenen Jahr
und in den vorhergehenden Jahren wichtig und erfolgreich. Ich freue mich auf das nächste Jahr.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Frau Kollegin Reiche, Sie haben zwar Ihre Rede gerade beendet, aber
vielleicht gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von
Frau Jutta Müller.
Ich wäre Ihnen sehr
dankbar, wenn wir uns nach der Debatte unterhalten
könnten.
({0})
Ich gebe also nunmehr der Parlamentarischen Staatssekretärin bei der
Bundesministerin für Gesundheit, Christa Nickels,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das 50jährige Jubiläum des Petitionsausschusses
haben wir gestern gefeiert. In der heutigen Zeit ist das
Petitionsrecht für uns ein ganz selbstverständliches
Recht, das Bürgerinnen und Bürger sehr intensiv und
ungezwungen in Anspruch nehmen. Die Zahlen wurden
ja schon genannt: Innerhalb von 50 Jahren gab es 4,5
Millionen Petitionen.
Für mich ist es wichtig, daran zu erinnern, daß dieses
Petitionsrecht als Bestandteil der demokratischen Teilhabe ein erkämpftes Freiheitsrecht ist. Im Kampf um
eine freiheitliche Verfassung im 19. Jahrhundert standen
die Forderungen der Bürgerinnen und Bürger für das
freie Petitionsrecht gleichberechtigt neben der Forderung nach Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit.
Das Petitionsrecht wurde in Deutschland von Anfang
an eben nicht nur zum Vorbringen individueller Wünsche oder von Sorgen und Beschwerden genutzt. Es
hatte immer schon eine politisch gestalterische Dimension. Es drückt damit den Willen aus, etwas politisch
aktiv zu gestalten. Die Bürger waren von Anfang an sehr
davon überzeugt, daß es ihr gutes Recht ist, sich an der
parlamentarischen Willensbildung und an der Gestaltung
der Gesellschaft zu beteiligen. In dem Willen, ein bürgerliches Freiheitsrecht wirklich in Anspruch zu nehmen, liegt das eigentliche Geheimnis des Erfolges des
Petitionsrechts. Für das Recht, sich mit Petitionen in die
eigenen Angelegenheiten einmischen zu können, sind
die Menschen damals auf die Barrikaden gegangen.
Wenn den Menschen die Gelegenheit gegeben wird, sich
kreativ in die Gestaltung ihres Gemeinwesens einzumischen, dann packen sie diese - sonst viel zu seltene Gelegenheit auch heute noch energisch beim Schopf.
Es ist schon auf folgenden Punkt hingewiesen worden: Die hohe Zahl der Eingaben ist ein Vertrauensbeweis der Bürgerinnen und Bürger an das Parlament. Diese Tatsache kann man nicht hoch genug einschätzen in
einer Zeit, in der immer wieder von Politikverdrossenheit die Rede ist. Das Vertrauen in die demokratischen
Verfahren und vor allem der Wille zur Mitgestaltung
gehören zu den wichtigsten Grundlagen und Ressourcen
unseres Landes. Damit dürfen wir ebenso wenig Raubbau treiben wie mit den natürlichen Lebensgrundlagen.
Der Mensch braucht saubere Luft und sauberes Wasser
zum Leben. Eine demokratische Gesellschaft braucht ebenso unabdingbar - Menschen, die sich einmischen,
mitdenken, auf Mängel hinweisen und Verbesserungsvorschläge machen. Das ist ein wesentlicher Beitrag, unsere Zivilgesellschaft auf Dauer zu erhalten und weiterzuentwickeln.
({0})
Für mich ist diese Debatte zum Jahresbericht 1998
nicht nur wegen der gestrigen Feierstunde interessant,
die in allen Debattenbeiträgen erwähnt wird. Sie hat für
mich auch eine ganz persönliche Dimension. Ich bin in
der vierten Legislaturperiode Mitglied des Parlamentes
und war 12 Jahre - Bernd Reuter gehörte die ganze Zeit
ebenfalls dazu - mit Leib und Seele, mit Kopf und
Verstand Mitglied des Petitionsausschusses.
({1})
Ich war vier Jahre lang Vorsitzende dieses Ausschusses.
Wir wissen alle, daß die Arbeit im Petitionsausschuß ein
mühsames Bohren dicker Bretter im Interesse der betroffenen und engagierten Menschen ist. Wir haben oft erlebt, daß es manchmal 10 Jahre dauerte, bis sich im
Parlament etwas Grundsätzliches bewegte. Ich erinnere
an die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Dazu
gab es vor vier bis fünf Jahren 1,5 Millionen Unterschriften von Menschen, die eine Änderung wollten.
Man sieht in vielen Bereichen deutlich, daß es zwar lange dauern kann, daß sich aber letztendlich etwas grundlegend positiv verändert, was in den Entscheidungen des
Parlaments dann seinen Niederschlag findet.
Als ich ins Gesundheitsministerium kam und dann
meinen Antrittsbesuch bei den Abteilungen machte, saß
da ein Beamter, der mich mit funkelnden Augen anguckte und sagte: Sie sind jetzt die neue PSt. Sie haben
uns früher immer die vielen Petitionen geschickt, die
uns so viel Arbeit gemacht haben. Ich war der Beamte,
der sie bearbeiten mußte. Jetzt sind Sie diejenige, die Sie
mit mir zusammen beantworten und zurückschicken
muß.
Dann habe ich ihm gesagt: Das ist mir schon klar. Es
freut mich sehr, daß Sie sich gleich vorgestellt haben.
Wir werden das jetzt intensiv und engagiert angehen. Ich
hoffe, daß wir mit viel Kreativität viel für die Betroffenen erreichen können.
Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen sage,
daß es auf der Regierungsseite genauso ein Bohren dikker Bretter ist, daß man dort aber erfreulich viel leisten
kann. Ich will einmal einige Sachen nennen, für die wir
lange gekämpft haben.
Sie alle kennen den furchtbar tragischen Fall eines
ehemaligen NS-Opfers, das im KZ gesessen hat. Sie
nicken alle. Wir haben fünf Jahre lang daran gearbeitet.
Wir haben im Rahmen der Strukturreform eine Regelung getroffen, durch die wir hoffen, diesen Menschen
helfen zu können. Es kann nämlich nicht sein, daß Opfer
aufgrund einer rechtlichen Besserstellung hinterher im
Grunde genommen weniger Geld erhalten.
Wir haben zur Entlastung chronisch Kranker im letzten Jahr über das Solidaritätsstärkungsgesetz entscheidende Maßnahmen ergriffen, die gerade jetzt wirken.
Die Leute haben den entsprechenden Nachweis erbracht,
so daß Leistungen für sie jetzt fast vollständig zuzahlungsfrei sind. Das ist für viele Alte und Kranke, die nur
eine kleine Rente haben, eine ganz erhebliche Verbesserung.
({2})
Ich könnte eine ganze Reihe von Beispielen aufzählen. Ich werde auch die Anregung, die, glaube ich, Sie,
Frau Reichard, gegeben haben, aufgreifen und einmal
das, was wir positiv erledigen konnten, auflisten und Ihnen zur Verfügung stellen. Ich glaube, es ist wichtig,
daß die Ministerien dies tun.
Natürlich gibt es auch hochrangige Überweisungen,
bei denen es lange dauert. In einem Fall habe ich als
Vorsitzende noch einen Vorschlag unterschrieben und
bin jetzt diejenige, die das beantworten muß. Leider
Gottes muß ich einen negativen Bescheid geben.
({3})
Aber Sie können sicher sein, daß ich mich hier sehr engagiert einsetze; das tut unser ganzes Haus. Sie können
auch sicher sein, daß Sie immer ein offenes Ohr finden.
Sie können mich selbstverständlich gern morgens in den
Ausschuß einladen, wenn wir das zu diskutieren haben.
Ich setze auf eine gute Zusammenarbeit und freue mich
sehr, Frau Vorsitzende Lüth, daß Sie in der kurzen Zeit
schon feststellen konnten, daß von den hochrangigen
Beschlüssen, die in dieser Legislaturperiode gefaßt worden sind, 50 Prozent umgesetzt worden sind. In der vergangenen Legislaturperiode waren es lediglich 10 Prozent. Über diese Veränderung freue ich mich; das stecke
ich mir gerne ans Revers. Ich hoffe, daß wir das halten
können. Vielen Dank für Ihre Arbeit!
({4})
Es spricht nun der
Kollege Aribert Wolf, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Rund 17 000 Eingaben gingen beim Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages im Jahre 1998 ein. Mehr als 21 000 Petitionen
wurden 1998 vom Petitionsausschuß abschließend behandelt. Die Zahlen sind heute bereits genannt worden.
Ich meine, diese Daten machen deutlich - hinter jeder
dieser Eingaben steht ein persönliches Schicksal -, daß
wir keine neuen Institutionen, Bürgerbeauftragte oder
ähnliches brauchen, um Bürgeranliegen unmittelbar an
das Parlament bzw. an den Gesetzgeber heranzutragen.
Hier funktioniert unsere Demokratie. Darauf können wir
alle miteinander ein wenig stolz sein. Bei den Diskussionen draußen wird das ja nicht immer so dargestellt,
wie es im Plenarsaal des Deutschen Bundestages geschieht.
Auch ich möchte mich bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des Ausschußdienstes ganz herzlich bedanken; denn vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Bundestages haben dafür gesorgt, daß
das wichtigste plebiszitäre Element in unserer repräsentativen Demokratie nicht nur auf dem Papier steht, sondern Sitzungswoche für Sitzungswoche mit Leben erfüllt wird. Für diese fachliche Arbeit ein herzliches
Dankeschön!
Als neues Mitglied im Bundestag und auch im Petitionsausschuß will ich aber nicht nur eine Jubelarie und
ein Loblied anstimmen und deutlich machen, wie wichtig uns allen im Bundestag die Arbeit des Petitionsausschusses ist. Das klingt in Feierstunden und Debatten
wie dieser immer ganz gut. Die gelebte Wirklichkeit im
Deutschen Bundestag und auch die Zusammenarbeit mit
der Bundesregierung sieht allerdings ein bißchen anders
aus.
So habe ich bei Beginn der 14. Legislaturperiode zunächst festgestellt, daß die Mitgliedschaft im Petitionsausschuß nicht gerade zu den begehrtesten Ausschußmitgliedschaften gehört. Er hielt sich in allen Fraktionen
in sehr überschaubaren Grenzen, wenn ich auch zubilligen muß, daß es einige wenige Mitglieder dieses Hauses
gibt, die sich sehr nachdrücklich für ihre Mitgliedschaft
im Petitionsausschuß stark gemacht haben. Viel Arbeit
und wenig Öffentlichkeit - das zeichnet die Tätigkeit in
diesem Ausschuß aus. Um so mehr gebührt fraktionsübergreifend all den Kolleginnen und Kollegen Dank
und Anerkennung, die allesamt - so habe ich es jedenfalls erlebt - ihre Arbeit im Petitionsausschuß mit großem Einsatz, Engagement und Fleiß machen. Vielen
Dank!
({0})
Wo den Bürger der Schuh am häufigsten drückt, wo
aber vielleicht auch die Regelungsdichte des Staates am
höchsten ist, zeigen die Rekordhalter unter den Ressorts,
die von Eingaben an den Petitionsausschuß betroffen
sind. Einsamer Spitzenreiter ist das Bundesarbeitsministerium mit über 5000 Petitionen oder 38 Prozent der
Eingaben. Es folgen das Innenministerium mit 1900 Petitionen, das Finanzministerium mit 1800 Petitionen, das
Gesundheitsministerium mit 1200 Petitionen und das Justizministerium mit 1100 Petitionen. Alle anderen Ressorts sind weit abgeschlagen.
Werden die Anliegen im Petitionsausschuß beraten,
gibt es stets ein intensives Ringen um fraktionsübergreifende Voten. Wir haben überwiegend einstimmige
Beschlüsse gefaßt. Das gelingt nicht immer, muß aber
auch - so meine ich - nicht sein. Wir sind gewählt worden, damit wir im Parlament unterschiedliche Standpunkte einbringen. Es macht gerade den Kern der Demokratie und des Parlamentarismus aus, daß diese Unterschiede zum Ausdruck kommen.
({1})
Es ist immer wieder die Bereitschaft zu spüren, die
Anliegen der Bürger als berechtigt anzusehen und ihnen
Hilfe und Unterstützung zu gewähren. Wenn es um das
Wohl des einzelnen und um die Herstellung von Gerechtigkeit, um das anzuwendende Recht geht, dann darf
der Bürger nicht das Gefühl haben, er sei einer undurchsichtigen Schreibtischherrschaft ausgesetzt, die sich der
parlamentarischen Kontrolle völlig entziehe. Hier können wir beruhigt feststellen, daß diese Einsicht auf allen
Seiten des Hauses, zumindest im Petitionsausschuß,
vorhanden ist.
Aber hier gilt es auch, Kritik anzubringen. Denn was
gibt es eigentlich für ein parlamentarisches Gremium
Schlimmeres, als bei den betroffenen Bürgerinnen und
Bürgern hohe Erwartungen zu wecken, obgleich von
vornherein klar ist, daß diese Erwartungen nicht erfüllt
werden können? Auch das habe ich im Petitionsausschuß immer wieder erlebt. Diese Kritik richtet sich
vorwiegend an die Vertreter der rotgrünen Regierungskoalition.
Gerade bei den Beschlüssen im Sozialbereich haben
wir immer wieder erleben müssen, wie Sie auch im
Petitionsausschuß dem Motto Ihrer sonstigen Regierungsarbeit treu bleiben: viel versprechen und wenig
halten. Ich rede hier nicht von den acht Petitionen, die
der Ausschuß der Bundesregierung 1998 zur Berücksichtigung überwiesen hat und von denen die Bundesregierung bis heute keine einzige positiv erledigt hat. Ich
rede auch nicht von den 61 zur Erwägung überwiesenen
Petitionen, von denen die Bundesregierung bisher nur 20
positiv erledigt hat. Ich rede vielmehr von einer ganzen
Reihe von Bürgeranliegen und -wünschen im Bereich
des Rentenrechts, der Kranken- und Pflegeversicherung
sowie des Asyl- und Ausländerrechts - um nur einige
Beispiele zu nennen -, die Sie, also Rotgrün, zwar im
Petitionsausschuß unterstützt haben, von denen wir aber
hier im Deutschen Bundestag, wenn es darum geht, daß
Sie im Rahmen Ihrer Regierungsarbeit entsprechende
Gesetze auf den Weg bringen, nichts sehen.
({2})
- Es ist doch so! Da können Sie gern „Na, na!“ rufen.
Bei der sozialen Schieflage Ihrer Rentenkürzungen
und Ihrer Gesundheitsreform, angesichts Ihrer Plünderung der Rücklagen der Pflegeversicherung und dessen,
was Sie den Menschen hier zumuten, müßten Sie
eigentlich auch im Petitionsausschuß die einzelnen Bürgeranliegen ablehnen.
({3})
Aber Sie tun es nicht, meine Damen und Herren. Sie beruhigen damit Ihr schlechtes Gewissen und überweisen
diese Wünsche immer wieder an die Regierungsfraktionen, obwohl Sie wissen, daß eh nichts dabei herauskommt.
Ich denke - um es konkret zu machen - zum Beispiel
daran, daß wir im Petitionsausschuß alle dafür eingetreten sind, die Leistungen der Pflegeversicherung für
Demenzkranke zu verbessern. Dies gilt auch für den
Stellenschlüssel in Pflegeheimen. Aber wie wollen Sie
diese Voten erfüllen, wenn Sie mit Ihrem rotgrünen
Sparpaket künftig Jahr für Jahr der Pflegeversicherung
500 Millionen DM entziehen?
({4})
Wenn Ihr Kanzler schon bei den Schwächsten sparen
will, sollten Sie entweder die Courage haben, Ihr rotgrünes Sparpaket wegen seiner sozialen Schieflage im Bundestag und in Ihrer Fraktion zu stoppen, oder zumindest
den Mut aufbringen, den Menschen in Einzelfällen im
Petitionsausschuß zu sagen, daß Sie bei diesem BrioniKanzler keine Chance auf Verwirklichung sehen.
({5})
Auch beim Asylverfahren sind es immer wieder die
Grünen, die glauben, den Petitionsausschuß zu einer Art
Superrevisionsinstanz machen zu können. Das ist der
falsche Weg! Ich kann Ihnen sagen, daß ich stolz darauf
bin, daß Bayern mit 114 Eingaben pro 1 Million Einwohner am wenigsten Petitionen hat. Dies zeigt, daß die
Bayerische Staatsregierung die Gesetze in unserem Land
vernünftig umsetzt und die Bürger deswegen wenig
Anlaß sehen, sich an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags zu wenden.
({6})
Die bürgerfreundlichste Politik ist diejenige, die dazu
beiträgt, daß überhaupt keine Petitionen eingereicht
werden.
Ich bedanke mich.
({7})
Wenn ich, Frau
Kollegin Nickels, Ihr Verhalten richtig interpretiere,
melden Sie sich, da Ihre Frage nicht zugelassen worden
ist, zu einer Kurzintervention. - Ich gebe Ihnen das
Wort.
Wir sind uns, glaube ich, alle darüber klar, daß es im
Bereich der Pflege der dementen und verwirrten alten
Menschen noch Nachhol- und Nachbesserungsbedarf
gibt. Das ist bekannt, seit die Pflegeversicherung etabliert ist, das hat die alte Bundesregierung in vielen Bereichen sehr umgetrieben.
Es ist zweitens bekannt, daß in diesem Bereich Hast,
Leichtsinn und Leichtfertigkeit nichts zu suchen haben.
Denn wenn man hier mit leichter Hand oder womöglich
mit falschen Zahlenschätzungen vorgeht - ich beziehe
mich hier auf einen Gesetzentwurf, der Anfang dieses
Jahres von Bayern und Baden-Württemberg im Bundesrat eingebracht worden ist und der von Rücklagen in
der Pflegeversicherung von über 12,3 Milliarden DM
ausgeht, obwohl klar ist, daß wir nur 9,3 Milliarden DM
haben -, vertragen das weder die betroffenen pflegebedürftigen Menschen noch diejenigen, die in der Pflege
ihr Bestes leisten.
Das heißt, es ist richtig, daß hier unter Einbeziehung
allen Sachverstandes intensiv geprüft werden muß, wo
und wie man hier zur Verbesserung gerade der Pflege
der Dementen beitragen kann. Sie wissen, Herr Wolf,
daß das Gesundheitsministerium in Zusammenarbeit mit
den anderen Häusern darüber intensive Gespräche führt
und zahlreiche Fachrunden einberufen hat. Allerdings
muß man sich auf die seriösen und soliden Zahlen beschränken und darf den Leuten nicht etwas vorgaukeln,
was die Zahlen nicht hergeben: weder bei der Höhe der
Rücklagen, die in dem Bundesratsentwurf falsch eingeschätzt worden ist, noch auf der Ausgabenseite, wo
man viel zu ungenau ausgerechnet hat, was das Ganze
kostet.
Jetzt komme ich zur Sparleistung: Es ist für uns als
Gesundheitsministerium schmerzlich, daß wir in der
Pflegeversicherung jedes Jahr in der Größenordnung
von ungefähr 300 bis 400 Millionen DM zur Sparleistung beitragen müssen. Unser Haus hat alles getan, um
das im Rahmen zu halten. Ich möchte daran erinnern,
daß Herr Seehofer seinerzeit ganz andere Zahlenoperationen vorhatte, um den Anstieg der Lohnnebenkosten
einzudämmen. Da ging es um mehrere Milliarden DM,
die von der Opposition damals mit Mühe und Not abgewehrt werden konnten. Die Zahl, die jetzt im Sparpaket
enthalten ist, führt nicht dazu, daß die Reserven geplündert werden. Die Reserven werden im Schnitt nie unter 8
Milliarden DM liegen und in einigen Jahren wieder sukzessive steigen. Das enthebt uns aber nicht der Mühe wir werden das auch tun -, intensiv zu versuchen, die
Situation der Pflege der Dementen solide und langfristig
zu verbessern. Da werden Sie von dieser Regierung in
dieser Legislaturperiode noch einiges hören. Allerdings
werden wir keine Schnellschüsse machen. Das ist diesem Bereich absolut abträglich; das darf man nicht machen.
({0})
Der Kollege Wolf
möchte erwidern. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, Sie
werden mir trotzdem recht geben müssen, daß es die
rotgrüne Bundesregierung ist, die die angesparten Spargroschen der Bedürftigsten der Bedürftigen Jahr für Jahr
um 500 Millionen DM plündert,
({0})
indem sie die Bemessungsgrundlage für die Zahlungen
von Beiträgen an die Pflegeversicherung bei Arbeitslosen entsprechend senkt, und daß es schon heute so ist,
daß die Pflegeversicherung auf der Einnahmen- und
Ausgabenseite eine leicht negative Bilanz hat. Das heißt,
wenn Sie 500 Millionen DM wegnehmen, plündern Sie
die Rücklage der Pflegeversicherung, die sich heute - da
gebe ich Ihnen recht - auf rund 9 Milliarden DM beläuft. Wenn Sie das Geld in den Haushalt und die Sanierung der Staatsfinanzen stecken, dann gilt ein altes
Wort, das Franz Josef Strauß einmal in diesem Plenum damals noch in Bonn - gesagt hat, nämlich daß eher ein
Hund einen Wurstvorrat anlegt, als daß eine rote Regierung - damals war es noch keine rotgrüne Regierung eine Sparrücklage unangetastet läßt.
({1})
Ich empfinde es als beschämend - das muß ich wirklich sagen -, wenn ich miterlebe, was Sie den Menschen
im Wahlkampf versprochen haben und was Sie im Petitionsausschuß immer wieder an Beschlüssen fassen. Bei
Ihnen gibt es einen Widerspruch zwischen Ihren Lippenbekenntnissen und der Tatsache, daß Sie die notwendigen Finanzmittel nicht zusammenhalten können. Von
Horst Seehofer und Norbert Blüm ist die Pflegeversicherung als Versicherung ausgestaltet und eben nicht steuerfinanziert worden. Sie aber wollen jetzt mit einem Trick
den Pflegebedürftigen das Geld wegnehmen und in den
allgemeinen Haushalt transferieren. Das werden wir kritisieren, auch wenn Sie noch so viel aufschreien und Rabatz machen; denn diese Mittel fehlen den Schwächsten
der Schwachen in unserer Gesellschaft. Wir werden Ihnen das nicht widerspruchslos durchgehen lassen.
({2})
Ich gebe nun der
Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetzt
schwierig, angemessen und ernsthaft zur Arbeit des Petitionsausschusses zurückzukommen.
({0})
Aber Ihnen schenke ich nachher auch noch aus, Herr
Wolf. Ich komme noch zu Ihnen.
Auch ich möchte hier zunächst meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß nach der gestrigen würdigen
Feier zum 50jährigen Bestehen des Petitionsausschusses heute erneut das besondere Augenmerk des Parlaments und auch der Bevölkerung - Herr Präsident, erlauben Sie mir, daß ich in diesem Zusammenhang die
Besuchergruppen besonders begrüße - auf den Petitionsausschuß gelenkt wird.
({1})
- Nein, ich habe keine Besuchergruppe. Mir ist aber jede
Besuchergruppe der Kolleginnen und Kollegen genausoviel wert.
({2})
In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch für
die Oktober-Ausgabe von „Blickpunkt Bundestag“ bedanken, in der getitelt wurde: „50 Jahre Petitionsausschuß - Frühaufsteher für die Bürgerrechte“. Das sind
wir gerne, und wir werden uns dieser Arbeit auch weiterhin mit großem Engagement zuwenden.
({3})
Wegen des besonderen Ereignisses des 50jährigen
Jubiläums möchte ich weitere Dankesworte anbringen:
zunächst an unsere stellvertretende Ausschußvorsitzende
Jutta Müller, die mit ihren treffenden Analysen so manche Argumentation der Kollegen auf der Gegenseite im
Obleutegespräch und im Ausschuß zum Guten brechen
und wenden kann, zum anderen an unseren Arbeitsgruppenvorsitzenden Bernd Reuter, für den dasselbe gilt und
der darüber hinaus manchmal die Koralle lachen läßt.
({4})
- Das verstehen nur Insider.
Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen zur
Linken und zur Rechten, die Sie als Abgeordnete im Petitionsausschuß und somit in Ombudsmanfunktion für
die Bürgerinnen und Bürger tätig sind. Herzlichen Dank
dem Ausschußdienst und unseren Referenten, ohne die
das Mammutprogramm des Petitionsausschusses nicht
zu bewältigen wäre.
Nun zu unserer Arbeit: Das Recht der Bürgerinnen
und Bürger, nicht nur durch Wahlen, durch Mitarbeit in
den Parteien und durch Kontakt zu den örtlichen Abgeordneten Einfluß zu nehmen und ihre Anliegen vorzubringen, sondern auch durch das Recht, sich mit einer
persönlichen Eingabe direkt an das Parlament zu wenden, wird von vielen Menschen anerkannt und in Anspruch genommen. Daß diese Inanspruchnahme im Berichtszeitraum 1998, also in einem Bundestagswahljahr,
um, wie der Bericht ausweist, mehr als 15 Prozent zurückgegangen ist, liegt an der besonderen Beobachtungsgabe und Erwartungshaltung der Bürgerinnen und
Bürger, die sich von einer alten Regierung nicht mehr
viel und von einer neuen Regierung sicherlich nicht alles, aber dennoch notwendige Veränderungen versprechen.
Und Recht haben die Bürgerinnen und Bürger;
({5})
denn nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 konnten viele Petitionen insbesondere im Bereich Arbeitnehmerrechte, etwa bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und bei der Reduzierung der Zuzahlungen bei
Arzneimitteln und Kuren, positiv erledigt werden.
({6})
Eine hohe Eingabedichte gab es im Bereich der Pflegeversicherung. Die Entwicklung der Pflegeversicherung ist eine fortwährende Aufgabe und braucht nicht
Ihre Polemik, Herr Kollege Wolf. Ich danke der Parlamentarischen Staatssekretärin Nickels für die Darlegung
der Notwendigkeit - die wir alle sehen -, gerade im Bereich der Demenzkranken weiterzuhelfen.
({7})
Das ist eine fortwährende Aufgabe, und ich setze große
Hoffnung in diese Regierung, daß sie das erledigt, was
die alte Regierung nicht geschafft hat.
Notwendige Veränderungen im Bereich der Pflegeversicherung werden aber auch durch die Petitionen herbeigeführt: Die Petenten stellen uns die schwierige Situation, in der sie sich als Pflegende oder Pflegebedürftige befinden, dar - das ist ganz wichtig für unsere Arbeit -, und diese Anliegen transportieren wir natürlich
weiter an den Gesundheitsausschuß.
So konnte es auf Grund von Petitionseingaben auch
zu einer Verbesserung der Akzeptanz der Pflegepflichteinsätze kommen. Dem Wunsch von Petenten, auf die
Pflegepflichteinsätze ganz zu verzichten, da diese als
Kontrolle verstanden werden, konnte mit dem Argument
begegnet werden, daß gerade diese Pflichteinsätze Defizite in der häuslichen Pflege aufzeigen und Hilfestellung
leisten können. Die Beibehaltung der Pflegepflichteinsätze bei Kostenübernahme durch die Pflegeversicherung - dafür haben wir uns entschieden - dient insgesamt der Fortentwicklung der Pflegeversicherung im
Sinne der Petenten.
Eine weitere Vielzahl von Eingaben betrifft den Bereich der Rentenversicherung. In dem Fall einer Ordensfrau, die 50 Jahre als Krankenschwester tätig war
und dann aus ihrem Orden ausgetreten ist, konnte eine
Nachversicherung erreicht werden. Dagegen konnten
wir wegen einer Gesetzesgrundlage aus dem Jahre 1996,
nämlich des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes, vielen Petitionen nicht abhelfen. Das
Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von
Freitag, den 13. September 1996 - einem Schwarzen
Freitag, den ich, 600 Petenten und Hunderttausende von
Bürgerinnen und Bürger nicht vergessen werden -,
führte dazu, daß bei der Rentenberechnung ganz gravierende Einschnitte verankert wurden, die zu drastisch reduzierten Rentenansprüchen geführt haben.
({8})
Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat mich am
13. September 1996 aufgeregt, das hat mich bei jeder
Petition aufgeregt, und das regt mich noch heute auf.
Denn es ist ein eklatanter Mißstand: Je kleiner die Rente, um so drastischer die Auswirkung. Das ist christlichsoziale Politik!
({9})
Die entsprechende Begründung des Ministeriums
lautete damals, daß mit der Neuregelung Wachstum und
Beschäftigung gefördert und die Dynamik der Wirtschaft gestärkt werden sollten. 600 Petenten und Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern sehen das
anders - ich auch. Diese Rentenentscheidung zu Lasten
der Kleinrentnerinnen und -rentner konnte vom Petitionsausschuß nicht mehr korrigiert werden. Sie zeigt uns,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, für unsere weitere politische Arbeit die dringende
Notwendigkeit einer sozialen Grundsicherung auf, um
durch eine moderne Sozial- und Rentenpolitik zähe
Kämpfe um unterschiedliche Leistungsansprüche im
Alter unnötig zu machen.
Hohe Erwartungen werden an uns im Bereich der
Ausländer- und Asylpolitik gestellt. Herr Deittert, wir
haben unsere Voten nicht vergessen. Ist Herr Deittert
noch da?
({10})
Ich weiß nicht, ob
Sie mich ansprechen wollten, verehrte Frau Kollegin.
Das wäre einmal etwas Neues hier im Parlament. Ich
finde das ganz schön. Ich darf nur leider nicht antworten.
Ich hätte mich auch gewundert, wenn Herr Deittert nicht mehr dagewesen
wäre. Aber Frau Reiche zum Beispiel, die erst anprangert und dann nicht zuhört, was wir zu diesem Bereich
zu sagen haben, ist nicht mehr da.
Ich war beim Asyl- und Ausländerrecht. In Nord und
Süd, in großen Kirchengemeinden und selbst in kleinen bayerischen Kommunen kümmern sich Bürgerinnen
und Bürger um Menschen, die seit langen Jahren
ihre Nachbarn sind, deren Kinder miteinander zur
Schule gehen, die aber seit Jahren nicht wissen, wo sie
hingehören, wo man ihnen Zuflucht und Bleibe gewährt.
Ich spreche hier von der ungelösten Situation der Altfälle.
Mangels positiver Abklärung in der Innenministerkonferenz kam es bislang nicht zu größeren Handlungsspielräumen. Die Festlegung in der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 - ich zitiere: „Wir wollen
gemeinsam mit den Ländern eine einmalige Altfallregelung erreichen“ - wurde zur unüberwindbaren Hürde
und somit auch zum Knebel für die Entscheidungen im
Petitionsausschuß. Ich meine, daß der Druck für eine
humanitäre Altfallregelung aus dem Petitionsausschuß
endlich auch zu einem positiven Handeln der Innenministerkonferenz führen muß. Langjährig und integriert hier
lebenden Flüchtlingen ein dauerndes Aufenthaltsrecht zu
gewähren entlastet nicht nur den Petitionsausschuß, sondern Gerichte, Verwaltungen, Flüchtlingsorganisationen
und engagierte Bürgerinnen und Bürger in der ganzen
Republik. Ich weiß: Der Druck der Betroffenen, der
Druck einer engagierten Bevölkerung und der Druck aus
dem Petitionsausschuß werden hier nicht nachlassen.
Wir sind im Petitionsausschuß das Bohren dicker Bretter
gewohnt; wir werden hier weiterbohren und dem Innenminister und der Innenministerkonferenz unsere
Voten nicht ersparen.
({0})
Mein Appell zum Schluß: So wie die Arbeit im Petitionsausschuß oft die Interessen derer, die im Dunkeln
stehen, behandelt, wollen wir, nicht nur heute, Licht ins
Dunkle bringen.
({1})
Wir wollen unser Licht, das Licht derer, die im Petitionsausschuß tätig sind, nicht unter den Scheffel stellen.
Insbesondere wollen wir Mißstände beleuchten, deren
Beseitigung unsere gesamte Parlamentsarbeit in einem
guten Licht erscheinen lassen wird.
Ich danke sehr.
({2})
Es spricht nun der
Kollege Axel Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Wright, Sie haben eben kritisiert, daß die Kollegin
Reiche nicht da ist. Ich muß Ihnen sagen: Wenn eine
junge Mutter geht, um ihr Kind zu stillen, finde ich das
gut.
({0})
Wenn Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als
eines Ihrer Ziele hochhalten, dann sollten Sie so etwas
akzeptieren.
({1})
- Ich sage es Ihnen hiermit: Sie ist weggegangen, um ihr
Kind zu stillen. Damit dürfte das geklärt sein. Ich denke,
wenn Sie die Kollegin Reiche öffentlich kritisieren,
sollte man das hier auch öffentlich klarstellen.
({2})
Seit nunmehr einem Jahr arbeite ich im Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags mit. Der Grund, warum ich mich für diesen Ausschuß entschieden habe, war,
daß ich bürgernah arbeiten will. Ich kann wohl sagen
- das kam in den Reden sowohl der Regierungsfraktionen als auch der Oppositionsfraktionen so zum Ausdruck -: Wir alle fühlen uns im Petitionsausschuß als
Anwälte der Belange der Bürger. Wir wollen mithelfen,
bürokratische Hemmnisse zu überwinden und - bei berechtigten Beschwerden - den Bürgern zum Erfolg zu
verhelfen. Dazu gibt es auch allen Grund. Denn in dem
jahrzehntelang gewachsenen Dickicht aus Gesetzen,
Verordnungen und Verwaltungsvorschriften bleibt es
nun einmal nicht aus, daß verschiedene Gesetze im Ergebnis im Einzelfall vom Gesetzgeber nicht gewollte
Wirkungen zeigen. Diesen steht der einzelne Bürger
teilweise hilflos gegenüber. Leider viel zu oft sieht er
sich einer Bürokratiemaschinerie ausgesetzt, die ihm bei
der Lösung seiner Probleme nicht hilft.
Auf der anderen Seite sind die eingehenden Petitionen auch ein guter Gradmesser für die Stimmung in der
Bevölkerung. Warum, glauben Sie eigentlich, kommen
die meisten Petitionen aus dem Bereich Arbeit und Soziales und von denen wiederum viele aus dem Bereich
der Alterssicherung? Der Kollege Wolf ist darauf schon
ausführlich eingegangen.
({3})
- Sie auch, ja.
Die Petitionen zeigen uns allen die Bereiche auf, in
denen der Gesetzgeber und die Bundesregierung dringend Handlungsbedarf haben. Schauen Sie sich die heutige Demonstration der Rentner an, die nur ein paar
Meter von hier stattfindet. Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben.
({4})
Genauso verhält es sich auch im Bereich der friedlichen
Nutzung der Kernenergie, einem Bereich, in dem wir
mehrere Eingaben zu behandeln hatten. Dabei standen
Sicherheitsfragen immer im Vordergrund. Hier zeigt
sich deutlich Handlungsbedarf, vor allem auf der Seite
der Bundesregierung.
Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lüth?
Ich
bin gerade mitten in einem Gedanken; danach.
Ich erinnere mich an die Petition einer Grundschulklasse. Sie wollte defekte Kernkraftwerke abschalten
lassen. Hier konnte der Petitionsausschuß dem Anliegen
der jungen Petenten weitgehend entsprechen. Wir haben
diese Petition der Bundesregierung und dem Bundesumweltminister zugeleitet. Weil in Deutschland keine
defekten Kernkraftwerke betrieben werden, sollte diese
Petition bei zukünftigen internationalen Verhandlungen
und Vereinbarungen in die Erwägungen der Bundesregierung einbezogen werden. Zu meinem großen Bedauern konnten die Vertreter der Bundesregierung bei ihrem
Besuch in der Ukraine im Sommer dieses Jahres dem
nicht Rechnung tragen. Statt - wie ursprünglich vorgesehen - eine Abschaltung des Kernkraftwerks in
Tschernobyl herbeizuführen, kam der Bundeskanzler
mit leeren Händen zurück.
({0})
Er hat dort absolut versagt.
Es ist darüber hinaus bezeichnend, daß die Handlungen der Bundesregierung in diesem Fall nicht vom Geist
der Petenten getragen wurden. Im Gegenteil: Die Bundesregierung betreibt weiterhin eine unfruchtbare, ideologiegeprägte Ausstiegsdebatte, mit der das Ziel verfolgt
wird, die sichersten Kernkraftwerke der Welt abzuschalten. Das in Deutschland vorhandene Know-how
wird für nichts und wieder nichts leichtfertig verspielt.
Ganz offensichtlich kümmern sich Ideologen weder um
Klimaprobleme noch um die Sicherheitsbelange der Bevölkerung.
Die industrielle Führerschaft, die im Zeichen der
Globalisierung die wichtigste Voraussetzung für eine
florierende Volkswirtschaft ist und hochproduktive sowie zukunftsfähige Arbeitsplätze sichert, soll offensichtlich auf dem Altar technikfeindlicher 68er geopfert
werden. Real existierende Probleme werden dadurch
nicht gelöst. Lieber betreibt die Bundesregierung ideologische Spielchen und nutzt die Hilflosigkeit der Menschen aus, deren Mehrzahl nicht in der Lage ist, bestehende Risiken im Bereich der Kernkraft abzuschätzen.
({1})
Andere Petitionen wurden leider schon von der rotgrünen Ausschußmehrheit abgelehnt. Zum Beispiel forderte ein Petent die Entlassung von Bundesumweltminister Trittin. Er hatte begründet - hören Sie zu; hier können Sie noch etwas lernen! -, daß die Art und Weise, in
der der Bundesumweltminister den Ausstieg aus der
Kernenergie vorantreibe, gegen dessen Amtseid verstoße. Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe würden
vernichtet. Humankapital in Gestalt des Wissens Tausender deutscher Physiker werde entwertet. Ohne in den
Willensbildungsprozeß der Bundesregierung eingreifen
zu wollen, muß ich feststellen, daß mir die Argumente
dieses Petenten eingeleuchtet haben.
({2})
Die aktuelle Ausstiegsdiskussion, die wir derzeit hautnah erleben, bestätigt genau die Argumente des Petenten. Leider folgte die rotgrüne Ausschußmehrheit diesen
Argumenten nicht und legte die Petition ad acta. Dies
zeigt für mich nicht zuletzt auch die politischen Grenzen
auf, die trotz weitgehender Einigkeit in Sachfragen die
Ausschußarbeit erschweren.
Eine weitere Beobachtung hat mich sehr nachdenklich gemacht: Mittlerweile erreichen uns vermehrt Petitionen, in denen Bürger für Umgehungsstraßen kämpfen. Überlastete Straßenabschnitte führen zu unnötigem
Lärm, zu Abgasbelastungen, Erschütterungen und weiteren Einschränkungen. Letzter Ausweg ist für viele
Bürger heute offenbar die Petition. Gleichzeitig sehe
ich, daß viele deutsche Kommunen, die nach eigenem
Bekunden finanziell stark gebeutelt sind, Millionen
D-Mark für den Rückbau von Straßen, die Aufstellung
von Blumenkübeln und für andere verkehrsbeschränkende Maßnahmen ausgeben. Straßen sollen jedoch als
Verkehrswege verbinden und das Mobilitätsbedürfnis
der Bürger unterstützen.
({3})
Ich kann deshalb nur hoffen, daß die Bundesregierung
wie die betroffenen Kommunalparlamente schleunigst
ihre Ideologie und ihre beschränkende Politik aufgeben
und zu einer bürgerfreundlichen Politik zurückkehren, in
deren Rahmen das Erziehungsanliegen einzelner hinter
das Gemeinwohl zurücktritt. In diesem Sinne hoffe ich
auf eine weiterhin konstruktive Arbeit im Petitionsausschuß. Ich danke dem Ausschußdienst sowie allen Kolleginnen und Kollegen. Ich wünsche dem PetitionsausAxel E. Fischer ({4})
schuß auch für die nächsten Jahre, daß die Regierung
den Petitionen Rechnung trägt.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Heidemarie
Lüth.
Ich möchte zu Ihrer Rede,
Herr Kollege Fischer, drei kurze Anmerkungen machen.
Ich kann verstehen, daß Sie in der Opposition Ihre
Redezeit nutzen wollen, um zu zeigen, wie die neue Regierung arbeitet. Aber wir sollten auch den Jahresbericht
1998 debattieren. 1998 war die neue Koalition erst drei
Monate in der Pflicht.
({0})
Die Beschlüsse, von denen wir hier sprechen - sowohl die Erwägungs- wie die Berücksichtigungsbeschlüsse -, gingen alle an die alte, also an die von Ihren
Parteien gestellte Regierung.
({1})
Auch wenn wir diesen Bericht des Petitionsausschusses ganz im Gegensatz zu unseren sonstigen Gepflogenheiten erst etwas später behandeln - wir haben alle
schon begründet, warum wir das heute tun -, ist es,
glaube ich, nicht gerade glücklich und auch nicht im Interesse der Petentinnen und Petenten, die sich im vergangenen Jahr an uns gewandt haben, heute schon auf
Petitionen dieses Jahres hinzuweisen und darauf, wie
heute die Mehrheiten sind.
({2})
Ein dritter Gedanke, mit dem ich Ihnen, Herr Kollege
Fischer, wirklich sehr beipflichten möchte. Es ist tatsächlich so, daß dieser Ausschuß von einer sehr hohen
Konstruktivität getragen ist. Ich weiß es ganz besonders
zu schätzen, daß auch die Kolleginnen und Kollegen aus
der Regierungskoalition, obwohl sie die Mehrheit haben,
um Konsens ringen, damit wir bestimmte Dinge dann in
Gemeinsamkeit entscheiden können. Ich finde es auch
ganz normal, daß Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Regierungsfraktionen im Ausschuß eine andere
Meinung vertreten können als die, die bei Erwägungsoder Berücksichtigungsbeschlüssen durch die Regierung
zum Tragen kommt.
({3})
Aber darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden
wir im kommenden Jahr diskutieren. Im Moment kann
diese Regierung jedenfalls immerhin noch sagen, daß
sie Erwägungs- und Berücksichtigungsbeschlüsse in
hohem Maße erfüllt hat, ganz im Gegensatz zum Jahr
1998.
({4})
Zu einer Erwiderung hat Herr Kollege Fischer das Wort.
Liebe Kollegin Lüth, Sie haben einige Dinge angesprochen.
Ich bin neu im Bundestag. Aber wir haben über die Petitionen des Jahres 1998 gesprochen. Diese Petitionen,
die ich auf dem Tisch hatte, wurden teilweise auch
schon 1998 im Petitionsausschuß und im Bundestag verabschiedet, weil wir immerhin von Oktober bis Dezember Zeit hatten. Deshalb denke ich, daß es, wenn man
hier über die Arbeit des Petitionausschusses berichtet,
schon interessant ist, einzelne Punkte herauszugreifen
und auch einmal auszuführen, zu welchen Sachverhalten
unterschiedliche Meinungen bestehen. Das ist genauso
interessant oder sogar noch interessanter als die Punkte,
bei denen wir alle einer Meinung sind.
({0})
Gerade wenn man aktuelle politische Themen anspricht, ist es doch auch wichtig zu zeigen, daß es viele
Bürgerinnen und Bürger gibt, die mit der Arbeit der jetzigen Bundesregierung unzufrieden sind. Dieser Aufgabe bin ich nachgekommen, und ich denke, das ist so
auch in Ordnung.
({1})
Als letztem Redner
in dieser Debatte erteile ich nunmehr dem Kollegen
Dieter Dzewas von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
Herrn Deittert im Rücken, der mir ja sonst gegenübersitzt, kann eigentlich nichts schiefgehen. Leider verfüge
ich nicht wie Herr Kollege Nolting über prophetische
Gaben, mit Hilfe derer er in der Lage ist, aus dem Jahresbericht 1998 Schlüsse auf das Zukunftsprogramm des
Jahres 2000 im Bereich des Rentenrechts zu ziehen. Ich
verfüge über diese Gabe, wie gesagt, nicht;
({0})
ich hoffe aber trotzdem, daß meine Mitarbeit im Petitionsausschuß nicht darunter leidet.
({1})
Ich habe in diesem Ausschuß die wohltuende Erfahrung gemacht, daß man sich über Parteigrenzen hinweg
Axel E. Fischer ({2})
sachlich an den Anliegen von Petentinnen und Petenten
orientiert. Redebeiträge wie die des Kollegen Wolf und
des Kollegen Fischer sind dort glücklicherweise eine
Ausnahme.
({3})
Eine lebendige Demokratie ist darauf angewiesen,
daß Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die Möglichkeit haben, in sehr persönlicher Form auf Gesetzgebungsverfahren Einfluß zu nehmen. Petitionen sind in
vielen Fällen der letzte Ausweg, aus den Mühlen bürokratischer Zwänge herauszukommen. Eine unverständliche, manchmal sogar unsinnige Rechtsprechung läßt
manchen verzweifeln - da ich selbst lange Jahre in einer
Behörde gearbeitet habe, weiß ich, wovon ich spreche -,
wenn es darum geht, manchen EDV-Bescheid zu lesen
und ihn dann auch noch zu verstehen.
({4})
Jeder, der sich in einem solchen Dschungel einmal verfangen hat, macht die Erfahrung festgefahrener Bürokratie und von Paragraphenreiterei.
Die 50jährige erfolgreiche Arbeit des Petitionsausschusses ist heute schon mehrfach erwähnt worden, und
sie ist in großen Teilen ein Verdienst der Ausschußmitarbeiterinnen und -mitarbeiter - das möchte ich an dieser Stelle doch noch einmal betonen -, denn sie haben in
diesen fünf Jahrzehnten unermüdlich Aktenberge bearbeitet, damit wir sachgerechte Entscheidungen treffen
konnten.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, aber auch all den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß danken, die immer wieder durch Beharrlichkeit so manch dickes Brett durchbohrt haben.
Ich möchte jetzt die Gelegenheit ergreifen, das eine
oder andere Brett direkt vorzustellen. Ich möchte allgemein vorausschicken: Manches eigenverantwortliche
Handeln und mehr Sachverstand in der Behörde hätten
uns viel Arbeit und damit auch Geld und Kosten ersparen können.
Es ging zum Beispiel um den Koch eines Altenpflegeheims, der mit der gesamten Heimbewohnerschaft
Opfer einer solchen bürokratischen Entscheidung zu
werden drohte. Er sollte zu einer Wehrübung einberufen
werden genau zu einem Zeitpunkt, als dieses Heim mit
seinen Bewohnerinnen und Bewohnern, mit Personal
und Angehörigen eine Urlaubsreise machen wollte. Alles war geplant, alles war gebucht; nur das Kreiswehrersatzamt war nicht bereit, dem Antrag auf Unabkömmlichkeit dieses Mitarbeiters Rechnung zu tragen. Erst
nach Intervention des Petitionsausschusses war ein Einsehen und ein Einlenken möglich.
Nicht viel anders verlief die Erfahrung eines Schäfers, der aus Existenzgründen keinen Wehrdienst leisten
wollte und konnte und statt dessen einen Einsatz im Bereich des Katastrophen- und Brandschutzes in Erwägung
gezogen hatte. Dummerweise hatte er die dafür notwendige Bewerbungsfrist, die ihm nicht bekannt war, versäumt. Daraufhin hat er den Petitionsausschuß in einer
wirklich existentiellen Frage um Hilfe gebeten. Die Bemühungen des Petenten, eine angemessene Ersatzkraft
zu beschaffen, blieben erfolglos. Angelernte Kräfte
konnten den Betrieb nicht führen. Auch an dieser Stelle
ist es gelungen, durch gemeinsames Engagement ein
Einlenken des Kreiswehrersatzamtes zu erreichen.
Letztendlich wurde der Einberufungsbescheid sogar
aufgehoben.
Wie im ersten Fall stellt sich allerdings die Frage,
warum und nach welchen Kriterien Behörden Abwägungsentscheidungen treffen. Manchmal wäre aus meiner Sicht ein gesunder Schuß Menschenverstand sinnvoller, als Akten und Paragraphen zu wälzen.
({6})
Ich möchte jetzt eine Petition vorstellen, die sicherlich etwas zum Schmunzeln Anlaß gibt. Ich tue das aber
nicht deshalb, weil ich mich selbst einmal an der Geige
versucht habe. Frau Professor Süssmuth hat diese Petition schon gestern einmal kurz vorgestellt. Es ging um
einen Studenten, der nach einem Stipendiumaufenthalt
in den USA mit dem Ziel nach Deutschland zurückgekehrt ist, mit einer sehr wertvollen Geige - sie hatte
einen Wert von 250 000 DM - eine CD-Aufnahme zu
machen. Die Zollbehörden wollten von ihm eine Einfuhrabgabe von 37 000 DM, die er nicht hatte. Daher
drohte die Versteigerung der Geige. Glücklicherweise
hat er sofort den Petitionsausschuß angerufen. Wir
konnten erreichen, daß diese Angelegenheit im BMF mit
Dringlichkeit behandelt wurde. Dann stellte sich heraus
- das ist das Interessante an dieser Stelle -, daß es
durchaus möglich gewesen wäre, die Geige nachträglich
für die beabsichtigte Verwendung beim Zoll anzumelden. Warum die Zollbehörden auf diese Möglichkeit
allerdings nicht vorher hingewiesen haben, wird wohl
ein ewiges Rätsel bleiben.
({7})
Ebenfalls aus dem Zuständigkeitsbereich des
Finanzministeriums kommt eine andere Petition - das
sollte uns alle interessieren -: Es ging nach Ausführungen des Petenten darum, daß ihm seine EC-Karte gestohlen wurde und daß er insgesamt mehr als 8 000 DM
auf seinem Konto vermißte. Die persönliche Identitätsnummer war nach eigenen Angaben niemandem mitgeteilt worden; aber das betroffene Kreditinstitut weigerte
sich, entsprechenden Ersatz zu leisten. Da es sich um ein
zivilrechtliches Problem handelte, konnten wir leider
nicht direkt für den Petenten tätig werden. Wir haben
ihm aber geraten, sich mit einem Rechtsbeistand vor Gericht zu bemühen, den Schadenersatz zu realisieren.
Bei vielen eingehenden Petitionen von Bürgerinnen
und Bürgern ist offensichtlich immer wieder die Illusion
vorhanden, wir könnten auf Banken und Sparkassen direkten Einfluß nehmen. Das können wir aber nicht. Wir
können lediglich prüfen, ob das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen seine Pflicht erfüllt hat oder
nicht.
Dennoch war diese Petition für uns sehr wichtig, da
sie exemplarisch gezeigt hat, wie notwendig ein sicheres
Verschlüsselungsverfahren für diese persönlichen Identitätsnummern ist. Wir haben aus diesem Grunde dem
Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen die Petition als
Material mit dem Ziel überwiesen, daß zukünftig die
Schwachstellen in diesem Verschlüsselungsverfahren genau beobachtet und, wenn möglich, behoben werden.
Ich möchte als letztes eine Petition aus dem Zuständigkeitsbereich des Arbeitsministeriums schildern, die
sicherlich ebenfalls etwas Anlaß zum Schmunzeln gibt.
Dies trägt vielleicht zu einem etwas versöhnlicheren
Ausklang der Debatte bei. Diese Petition betraf das alljährliche Sternsingen - auch Frau Professor Dr. Süssmuth hat es gestern angedeutet -, bei dem Kinder katholischen Glaubens am Dreikönigstag Gelder für karitative Zwecke sammeln. Der Petent beschwerte sich
über dieses Vorgehen, da er hierin eine Verletzung des
Jugendarbeitsschutzgesetzes sah.
({8})
Statt dessen plädierte er für Sammelmethoden, die ansonsten auch für humanitäre Zwecke angewandt werden.
- Hier erlauben Sie mir bitte eine kurze Zwischenbemerkung: Dabei ist manche Methode, die mir persönlich
sehr zuwider ist.
Der Ausschuß prüfte das Anliegen und kam zu folgendem Ergebnis: Die Bewertung, ob Sternsingen Kinderarbeit ist, hänge zum einen von der Prüfung arbeitsschutzrechtlicher Kriterien ab, zum anderen aber eben
auch von dem im Grundgesetz verbrieften Recht der
kirchlichen Selbstbestimmung. Demnach darf staatliches
Recht die Religionsausübung - hierzu gehören auch
solche karitativen Veranstaltungen - nicht einschränken.
Das heißt, daß Kinder und Jugendliche selbstverständlich bei solchen karitativen Tätigkeiten nicht behindert
werden sollen. Auf der anderen Seite sind Gesundheitsvorschriften immer einzuhalten.
Deshalb aus unserer Sicht: Sternsingen ist keine Kinderarbeit. Deshalb konnten wir dieser Petition nicht abhelfen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beispiele zeigen, daß die Bezeichnung „Kummerkasten der Nation“
tatsächlich nur die passive Seite unserer Petitionsarbeit
beschreibt. Die andere Seite wird von der Ausschußarbeit repräsentiert, in der wir bei Problemen konsequent
nachhaken und uns eben nicht mit Fensterreden über
diese oder jene Angelegenheit aufhalten. Dabei geht es
um die konkreten Anliegen der Petentinnen und Petenten und darum, auf der Grundlage von erkannten Mißständen Korrekturen an der Gesetzgebung anzubringen.
Ich hoffe, daß wir in dieser Hinsicht auch zukünftig entsprechend zusammenarbeiten können. Denn zusammen
mit den Petitionsausschüssen der Länder - diese sind
übrigens in ihrer Qualität sehr unterschiedlich; aber das
möchte ich jetzt nicht politisch werten - und des Europäischen Parlamentes ist es tatsächlich häufig gelungen,
sinnvolle Korrekturen an Gesetzesvorhaben vorzunehmen. In diesem Sinne, denke ich, können wir auch in
Zukunft effektiv und gut zusammenarbeiten und uns
hoffentlich auch bei der Diskussion des Jahresberichts
1999 auf die konkreten Fakten aus dem Bericht beziehen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich schließe die
Aussprache.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu Forderungen, das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit zu streichen
Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Christunion hat gefordert, das
Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit
zu streichen. Hätte das irgendein ahnungsloser Hinterbänkler der CDU oder CSU getan, dann hätte man darüber hinweggehen können. Dann hätte man sagen können: Schwamm drüber; da weiß jemand offensichtlich
nicht, worüber er redet. Aber es war nicht irgend jemand, der diesen Unsinn gefordert hat; vielmehr hat dies
der CDU-Parteivorsitzende und Vorsitzende der
CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag im
„Stern“ zum besten gegeben.
({0})
Ausgerechnet dieses so überaus erfolgreiche Programm steht also ganz oben auf der Streichliste von
CDU und CSU, ein Programm, in das bis Ende September rund 188 000 Jugendliche eingetreten sind. Vier
Fünftel von diesen Jugendlichen waren vorher arbeitslos. Das sind junge Menschen, die in ihrem Leben noch
nie einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz hatten. Viele
sind dabei, die Angst hatten, keine Chance zu bekommen, die Angst hatten, nie mehr einen Platz in unserer
Gesellschaft zu finden. Nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis!
Ich weiß ja, daß Sie alles, was wir tun, grundsätzlich
miesmachen und niedermachen wollen. Aber nehmen
Sie doch bitte zumindest die Fakten zur Kenntnis!
Nehmen Sie zumindest die Erfolgsbilanz zur Kenntnis, die Bernhard Jagoda, der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, erst in der vergangenen Woche gezogen
hat!
({1})
Das ist kein Sozialdemokrat; das ist ein Christdemokrat.
Aber die Christdemokraten in diesem Parlament sind mit
Fakten offenbar nicht zu beeindrucken.
Das Ganze hat offensichtlich System. Ihnen geht es
nicht um Fakten. Ihnen geht es nur darum, jeden Erfolg
kaputtzumachen. Erst hat Herr Schäuble das Programm
im vergangenen Februar als „Programm, um Jugendliche ohne Beschäftigung ruhigzustellen“ verhöhnt. Jetzt
denunziert er das Programm als „völlig ineffektiv“ und
verlangt seine Streichung. Herr Dr. Schäuble hat nicht
etwa irgendein Detail des Programms kritisiert; er hat
auch keine konstruktiven Verbesserungsvorschläge gemacht. Er will es ganz einfach kaputtmachen. Daraus
spricht eisige Kälte, daraus spricht der unerträgliche Zynismus eines Mannes, der offenbar nur ein einziges Ziel
verfolgt:
({2})
jede, aber auch jede Leistung der Bundesregierung in
den Dreck zu ziehen, ganz egal, worum es geht. Dabei
ist ihm jedes Mittel recht. Da werden alle Register gezogen. Mit parlamentarischer Opposition hat das nichts zu
tun.
({3})
Die Jugendarbeitslosigkeit, die wir mit diesem Programm bekämpfen, ist eine der schlimmsten Hinterlassenschaften Ihrer Regierungszeit.
({4})
Das ist der eine Skandal. Der andere, vielleicht noch
schlimmere Skandal besteht darin, daß Sie sogar aus der
Opposition heraus die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit torpedieren wollen. Das ist einfach unerträglich.
({5})
Ich erwarte ja gar nicht, daß jemand von Ihnen uns öffentlich lobt; aber ich hatte schon erwartet, ich hatte
schon gehofft, daß jemand aus Ihren Reihen aufstehen
würde, um zu sagen: Nein, in dieser speziellen Frage hat
mein Fraktions- und Parteivorsitzender Schäuble nicht
recht. Aber keiner von Ihnen ist aufgestanden, und keiner von Ihnen hat das gesagt. Wo ist denn die famose
CDA des Herrn Pfarrer Eppelmann?
({6})
Es geht mir nicht nur um parlamentarische Fairneß.
Es geht bei einer solchen Frage auch um Wahrhaftigkeit
und Ehrlichkeit. Es müßte doch wirklich unser gemeinsames Anliegen sein, die jungen Leute von der Straße zu
holen. Uns allen steht doch die geschichtliche Erfahrung
vor Augen, und wir wissen alle, was aus einer Jugend
werden kann, die keine Perspektive mehr für sich sieht.
Wir in Deutschland wissen doch, welche Folgen das haben kann. Ich meine, zumindest wir hier sollten das alle
wissen.
Ich habe einmal geglaubt, es würde in diesem Parlament einen parteiübergreifenden Konsens geben, wenn
es um so existentielle Probleme geht.
({7})
Ich habe einmal geglaubt, die katholische Soziallehre
würde in der Union noch irgendeine Rolle spielen. Ich
habe einmal geglaubt, es gäbe noch ein paar Ziele, die
wir gemeinsam verfolgen und aus dem Parteienstreit heraushalten könnten. Offenbar habe ich mich da getäuscht, und das finde ich ziemlich bedrückend.
({8})
Aber eines kann ich Ihnen versichern: Wir lassen uns
von solch primitiven und unverschämten Behauptungen
nicht irritieren. Wir machen im Interesse der Jugendlichen in unserem Land weiter.
({9})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Hermann Kues.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was hat Wolfgang
Schäuble wirklich gesagt? Er hat gesagt, das 2 Milliarden DM teure Programm sei zwar teuer, aber völlig uneffektiv, und deswegen könnten die 2 Milliarden DM für
ein solches Programm im Prinzip eingespart werden. Ich
sage ausdrücklich: Er hat mit seiner Aussage vollkommen recht.
({0})
Je länger das Programm dauert und je mehr Jubelgesänge zu den angeblichen Erfolgen angestimmt werden,
desto mehr wird deutlich, daß das Sonderprogramm der
Bundesregierung nichts anderes als eine teure Mogelpackung zur Bereinigung der Arbeitslosenstatistik ist.
Sie fördern im Endeffekt „Maßnahmekarrieren“, Sie
holen die Jugendlichen aus der Realität, und das ist vom
Ansatz her grundfalsch.
({1})
Der Grund ist völlig klar: Ihnen geht es nicht in erster
Linie um die Jugendlichen. Nein, Ihnen geht es um Erfolgsmeldungen, koste es, was es wolle.
({2})
Die Jubelgesänge haben schon im Januar begonnen,
und sie nehmen kein Ende. Jetzt schauen wir uns einmal
die Zahlen an. Die Bundesanstalt für Arbeit verweigert
der Öffentlichkeit diese Zahlen
({3})
- ich nenne sie Ihnen -, sie verweigert sie aus gutem
Grunde. Sie tut das, weil die Bilanz dieses Programms
verheerend ist. Rund 82 000 Jugendliche haben inzwischen das Programm verlassen, davon sind gerade einmal 9 500 in reguläre Ausbildungsverhältnisse gekommen.
Darüber hinaus haben lediglich 3 000 Jugendliche eine Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufgenommen. Wenn Sie die Zahlen addieren, dann kommen
Sie zu dem Ergebnis, daß rund 12 500 Jugendliche das
Programm erfolgreich absolviert haben. Das sind gerade
einmal 15 Prozent der gesamten Teilnehmer.
({4})
Dagegen sind 25 500 ehemalige Teilnehmer des Programms schon heute wieder arbeitslos. In der betreffenden Statistik heißt es bei 33 000 Absolventen, der
Verbleib sei unbekannt, bzw. es steht dort: sonstiger
Verbleib. Die Wahrscheinlichkeit ist also groß, daß auch
diese Jugendlichen nach Abschluß der Teilnahme an
diesem Programm wieder auf der Straße stehen.
Wenn ich jetzt alle Zahlen addiere, dann komme ich
zu dem Ergebnis, daß bei fast 60 000 von 82 000 Jugendlichen, also etwa bei drei Viertel der Jugendlichen,
das Programm ein Mißerfolg gewesen ist. Das sind die
Tatsachen und Fakten.
({5})
Jetzt nenne ich Ihnen den finanziellen Aufwand: Für
jeden Jugendlichen, der durch dieses Programm in reguläre Arbeit oder Ausbildung gekommen ist, sind rund
160 000 DM ausgegeben worden.
({6})
Sie können allein damit die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung um 0,1 Prozentpunkte entlasten. Sie
würden damit die Lohnnebenkosten senken.
({7})
Ich glaube, daß Sie irgendwann merken werden, daß
man die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht allein mit
Geld lösen kann. Es müssen Strukturen verändert werden, und es müssen Anreize geschaffen werden.
({8})
Es gibt nach wie vor keine Kuh, die im Himmel gefüttert
und auf Erden gemolken wird. Die haben auch Sie noch
nicht erfunden.
({9})
Die Kritik ist erst recht begründet, wenn Sie sich anschauen, wer im einzelnen von diesem Programm profitiert. Walter Riester hat kürzlich die SPD-Fraktion darüber informiert.
({10})
- Die entsprechenden Unterlagen werden ja mittlerweile
bundesweit herumgeschickt; auch ich habe sie erhalten.
- Da hat er geäußert, es sollten diejenigen motiviert
werden, die aus einem schwierigen sozialen Umfeld
kämen, die keinen Schulabschluß hätten usw. Wenn Sie
sich diese Zielgruppen genauer ansehen, dann stellen Sie
fest: Der Anteil der benachteiligten Jugendlichen, die an
diesem Programm teilnehmen, beträgt nicht einmal
20 Prozent. Das sind die Fakten. Dagegen können fast
83 Prozent der Teilnehmer einen Schulabschluß vorweisen; davon 38 Prozent sogar einen höheren, das heißt
das Abitur oder die mittlere Reife.
({11})
Solche Jugendliche nehmen also am Programm für benachteiligte Jugendliche teil. Wenn Sie sagen, das Programm wende sich an benachteiligte Jugendliche, dann
streuen Sie der Öffentlichkeit Sand in die Augen.
({12})
- Frau Kollegin, zur katholischen Soziallehre gehört ein
gewisses Maß an Wahrhaftigkeit. Man muß sich dazu
mit den Fakten auseinanderzusetzen. Das tun Sie aber
nicht.
({13})
Die Maßnahmen dieses Programms sind teuer. Sie
verschaffen einer Minderheit hochsubventionierte Vorteile, und sie helfen den Betroffenen im Endeffekt überhaupt nicht weiter. Statt teuere Programme aufzulegen,
sollten Sie sich um die jugendlichen Problemgruppen
kümmern.
({14})
Bei Ihnen ist eben alles Schau. Alles richtet sich nach
Mediengesichtspunkten. Die Zeche zahlt der Beitragszahler, und das wissen Sie ganz genau.
({15})
Ich gebe dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Kues, entweder haben Sie
Zahlen vorliegen, oder Sie haben keine Zahlen vorliegen.
({0})
Aber man kann nicht erst sagen, es würden keine Zahlen
veröffentlicht, und dann auf Zahlen herumreiten.
({1})
- Vielleicht können Sie uns noch einmal erklären, woher
Sie diese Zahlen haben. Wahrscheinlich haben Sie sich
die ausgedacht.
Die Bundesregierung bzw. die Koalition hat kein
Programm für benachteiligte Jugendliche namens JUMP
aufgelegt. Wir haben das Programm JUMP, das Programm „Jugend mit Perspektive“, vielmehr aufgelegt,
um erwerbslosen Jugendlichen zu helfen.
({2})
Sie sollten berücksichtigen, daß der Arbeitsmarkt mittlerweile sehr eng geworden ist. Daß mittlerweile auch
Schülerinnen und Schüler mit Abitur und mittlerer Reife
an diesem Programm teilnehmen, zeigt doch wohl, wie
es momentan auf dem Arbeitsmarkt aussieht. Deshalb
können Sie uns nicht unterstellen, wir würden billigen
Populismus betreiben.
({3})
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 180 000
junge Menschen sind im Sofortprogramm oder haben es
durchlaufen. 28 000 Jugendliche haben einen außerbetrieblichen Ausbildungsplatz gefunden. Die Resonanz
auf das Programm ist höher, als wir es beim Inkrafttreten des Programms erwartet haben. JUMP ist für uns,
aber nicht nur für uns - auch Herr Jagoda hat dies in einer Pressemitteilung, die Ihnen vorliegt, gesagt - ein Erfolg, und zwar auf der ganzen Linie, auch wenn wir es
an der einen oder anderen Stelle verbessern wollen.
({4})
JUMP ist auch deshalb ein deutlicher Erfolg, weil es
ein erster guter Schritt ist, um die Jugenderwerbslosigkeit zurückzudrängen, sogar so weit, daß wir trotz mehr
Schulabgängerinnen und Schulabgängern - 19 000 in
diesem Sommer - erstmals die Erwerbslosenquote unter
die des Vorjahres drücken konnten.
({5})
Entscheidend wird sein, wie viele junge Frauen und
Männer dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt integriert
werden können.
({6})
- Das ist entscheidend, und wir sind bereits auf dem
Weg. - Dazu reicht es natürlich nicht, wenn der Staat
alleine handelt. Es müssen auch betriebliche Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Junge Leute brauchen eine wirkliche Perspektive, einen zukunftsfähigen
Job.
Machen wir uns nichts vor: Die strukturellen Probleme auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt bestehen
nach wie vor. JUMP hat aber für eine spürbare Entlastung gesorgt. Dies alleine wird jedoch nicht ausreichen.
Wer sich aber jetzt hinstellt, wie Sie von der CDU,
und sagt: „Alles Quatsch, was brauchen wir Programme,
sparen wir doch lieber das Geld“, der hat wirklich Tomaten auf den Augen,
({7})
wenn er sich in dieser Republik die Realität für die jungen Leute, die wir verbessern wollen, anguckt.
Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein,
wie die Jugenderwerbslosigkeit am effektivsten bekämpft wird. Man kann aber nicht der Auffassung sein,
man könne Jugendliche ins arbeitsmarktpolitische Nirwana entlassen, wie Sie von der CDU es tun wollen.
({8})
Was die alte Bundesregierung unter der Bekämpfung
der Jugenderwerbslosigkeit verstanden hat, ist uns hinlänglich bekannt: das Prinzip Hoffnung als tragende arbeitsmarktpolitische Säule,
({9})
ein verpatztes „Bündnis für Arbeit“
({10})
und einen konzeptionslosen Maßnahmensalat - etwas
wenig, um berufliche Perspektiven zu bieten! Mit uns ist
eine Hände-in-den-Schoß-Politik nicht drin. Die rotgrüne Koalition wird sich weiter für die jungen Menschen
einsetzen.
({11})
Wir wollen, daß das Programm in die nächste Runde
geht; es wird JUMP II geben.
({12})
Natürlich werden wir - ich spreche hier für meine
Fraktion - Verbesserungsvorschläge machen. Für Bündnis 90/Die Grünen steht schon jetzt fest, daß wir eine
stärkere Ausrichtung der Maßnahmen für junge Frauen
sowie für Migranten und Migrantinnen benötigen.
({13})
Auch die BA sieht dies so. Von daher glaube ich, daß
wir entsprechende Veränderungen vornehmen können.
Arbeits- und Sozialämter, Schulen, Betriebe und Jugendämter sind aufgefordert, das Bewußtsein junger
Frauen für ihre Wahlmöglichkeit in der gesamten Palette
der Berufsbilder zu öffnen. Junge Frauen müssen in diesem Programm eine Stärkung erfahren. Dies gilt in besonderem Maße für die Berufsberatung. Zielgerichtete,
kombinierte Förderinstrumente für junge Migrantinnen
müssen in JUMP II fester Bestandteil der Förderung
werden.
Darüber hinaus flankiert die Bundesregierung ihr Engagement gegen Jugenderwerbslosigkeit - hören Sie
jetzt zu! - mit einem weiteren Programm, nämlich mit
dem Programm für benachteiligte Jugendliche in sozialen Brennpunkten.
Wenn etwa 1 Million Unternehmen ausbilden können, dies aber nur gut die Hälfte wirklich macht, dann
muß etwas getan werden. Es kann nicht sein, daß der
Staat durch ein Programm dafür sorgt, daß die Jugenderwerbslosigkeit zurückgedrängt wird, und die Arbeitgeber das Sofortprogramm als wenig hilfreich kritisieren, obwohl es doch letztendlich an ihnen hängt, Ausbildungsplätze in ausreichendem Maße zur Verfügung zu
stellen.
({14})
Ich komme zum Schluß. Die rotgrüne Koalition wird
auch in Zukunft die beruflichen Perspektiven junger
Menschen in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Dieser Herausforderung wird das Sofortprogramm der Bundesregierung gerecht. Mit dieser Verantwortung werden
wir nicht so fahrlässig umgehen wie Sie von der Opposition. Wir werden weiterhin daran arbeiten, den Jugendlichen eine Perspektive zu geben. Sowohl die Bundesregierung als auch die Koalitionsfraktionen sind
ernsthaft darum bemüht.
Vielen Dank.
({15})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich freue mich immer,
wenn ich an dieses Rednerpult treten kann,
({0})
weil offenkundig die Meinungen, die die Liberalen in
diesem Hause vertreten, Sie genau da treffen, wo es weh
tut und Sie Ihre Fehler machen.
({1})
Ich habe aber Verständnis für diese Bundesregierung.
Ich habe Verständnis dafür, daß die Redner der Koalition dieses Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit als großen Erfolg bezeichnen. Ich habe
Verständnis dafür, daß der Bundesarbeitsminister und
die Bundesbildungsministerin das tun. Ich kann Ihnen
auch sagen, warum das so ist.
Erstens. Es ist das einzige konkrete Ergebnis - ob gut
oder schlecht, sei dahingestellt -, das bisher aus dem
„Bündnis für Arbeit“ herausgekommen ist.
({2})
Zweitens. Bei dem ganzen Murks, den Sie machen,
und den Mißerfolgen, die Sie haben, müssen Sie doch
geradezu jeden kleinen Teilerfolg wie eine Monstranz
vor sich hertragen.
({3})
- Angenehm, Niebel.
Dennoch haben wir zu keinem einzigen Zeitpunkt der
Diskussion gefordert, dieses Programm zu streichen.
Wir haben immer nur auf die Fehler dieses Programms
hingewiesen und wollten dazu beitragen - das werden
wir auch in Zukunft tun -, dieses Programm effektiver
zu machen, weil wir wissen, daß es Jugendliche gibt, die
ohne Förderung und ohne Unterstützung niemals ansprechbar sein werden. Es ist eigentlich das einzig Positive dieses Programms,
({4})
daß es sich auch an Jugendliche wendet, die ihre Ausbildung abgebrochen oder schwierige Ausbildungsbiographien haben. Das verbessert mit Sicherheit die individuellen Chancen dieser Jugendlichen. Es muß aber die
Frage erlaubt sein, inwieweit Kosten und Nutzen in einer vernünftigen Relation stehen. Diese ist in diesem
Fall nicht gegeben.
({5})
- Selbstverständlich geht es um Jugendliche, aber wenn
ich Geld für Jugendliche einsetze, liebe Kollegin, dann
sollte es vorzugsweise so eingesetzt werden, daß damit
die Effekte erzielt werden, die der Gesetzgeber beabsichtigt hat.
Sie werden nur dann Erfolge auf dem Ausbildungsmarkt erreichen und Arbeits- und Ausbildungsplätze zur
Verfügung stellen können, wenn Sie die Rahmenbedingungen für die Betriebe verbessern und sie überhaupt
erst einmal in die Lage versetzen, Ausbildungsplätze zur
Verfügung zu stellen. Die Betriebe haben schon das Ihre
getan, die Verbände und Gewerkschaften haben zwar
das Ganze engagiert begleitet, aber sie werden auch in
Zukunft nicht in der Lage sein, Ausbildungsplätze zur
Verfügung zu stellen. Das Herbstgutachten der sechs
führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sagt, daß es
immer noch fundamentale Probleme in der Wirtschaft
und damit auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt gibt,
und fordert einen Kurswechsel Ihrer Steuer- und Finanzpolitik.
Die Masse aller Maßnahmen dieses Programmes sind
Qualifizierungs-, Bewerbungstrainings- und ähnliche
Maßnahmen. Die wenigsten Maßnahmen zielen tatsächlich auf ein Einmünden in den ersten Arbeitsmarkt oder
in den Ausbildungsmarkt. Sie haben die eine oder andere Qualifikation - die Zahl 28 000 wurde vorhin genannt
- im überbetrieblichen Bereich ermöglicht. Wenn aber
dieses Instrument sintflutartig genutzt wird, gefährden
Sie das duale Bildungssystem.
Sie haben viele wirklich gravierende Fehlentwicklungen im Rahmen dieses Programms bisher nicht abgestellt. So sind mir - ich habe das der Staatssekretärin
Niehuis, die jetzt leider nicht mehr da ist, konkret nachgewiesen - Fälle jugendlicher Aussiedler bekanntgeworden, die aus Deutschkursen, die aus dem Garantiefonds der Bundesregierung finanziert wurden, unter Androhung des Wegfalls der Leistungen zum Lebensunterhalt herausgeholt wurden, um an Betriebspraktika im
Rahmen dieses Sofortprogrammes teilzunehmen. Es
kann doch wohl nicht der Sinn des Ganzen gewesen
sein, nur um die Quote zu erreichen, Leute ohne Sprachkenntnisse aus einer Maßnahme herauszulösen und in
eine Maßnahme einmünden zu lassen, die kurze Zeit
später beendet ist. Hinterher haben diese Leute dann
keine Chance auf dem Ausbildungsmarkt.
Die Studie des Bildungsministeriums, die kürzlich
bekannt gemacht worden ist, stellt fest, daß 11,6 Prozent
aller Jugendlichen unter 26 Jahren keinen Berufsabschluß haben. Fehlende Schul- und Berufsausbildung ist
heutzutage immer noch der bei weitem überwiegende
Grund für Erwerbslosigkeit.
({6})
- Warten Sie noch einen Moment ab, Kollegin Nahles. 65 Prozent der Jugendlichen ohne Schulabschluß haben
hinterher auch keinen Berufsabschluß. Jeder dritte Jugendliche ohne Schulabschluß bemüht sich nach eigenen
Angaben nicht um einen Ausbildungsplatz. 12,3 Prozent
treten die Ausbildung nicht an und 35,9 Prozent dieser
Jugendlichen brechen die Ausbildung ab.
Wenn sich aber nun herausstellt, daß der Kern des
Problems in der fehlenden Schulausbildung liegt, dann
möchte ich darum bitten, auch die Länder in die Verantwortung zu nehmen. Wir müssen uns dann Gedanken
darüber machen, wie die Schulausbildung, für die Vertreter der großen Parteien, die in diesem Hause vertreten
sind, federführend verantwortlich sind, verbessert werden kann, damit hinterher eine erfolgversprechende
Möglichkeit zur beruflichen Ausbildung eröffnet werden
kann.
187 900 Jugendliche sind nach Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit durch dieses Programm gefördert worden. Man könnte daher meinen, all diese Jugendlichen
seien in eine Ausbildung gegangen. Das ist aber nicht
der Fall. Die wenigsten dieser Jugendlichen sind in eine
betriebliche Ausbildung oder in den Arbeitsmarkt eingetreten. Die Masse der Maßnahmen beinhaltet nämlich
Kurzlehrgänge, Bewerbungstraining und Betriebspraktika. Hinterher haben die Jugendlichen aber keinen Deut
mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Wenn Sie Gelder zur Verfügung stellen wollen, dann
sollten Sie sich bemühen, diese Maßnahmen, die wir
bisher auf kommunaler Ebene, auf Länder- und auch auf
Bundesebene schon immer gehabt haben, besser zu koordinieren und zu vernetzen. In diesem Bereich können
Sie Mittel bündeln, zielgerichtet einsetzen und damit
den jungen Menschen tatsächlich helfen.
Vielen Dank.
({7})
Für die PDSFraktion spricht die Kollegin Sabine Jünger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe es ehrlich zu: Ich bin schon
ein wenig erstaunt über die Aufsetzung dieser Aktuellen
Stunde. Das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit wird nicht erst in den letzten 14 Tagen
massiv kritisiert. Auch der Kollege Schäuble ist in diesem Zusammenhang schon sehr früh recht deutlich geworden. Der Grund muß also woanders liegen. Vielleicht sollte lediglich die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde zum Thema „Testpanzer für die Türkei“
weggedrückt werden.
({0})
Wir alle wissen, daß der Regierungskoalition zur Zeit
von allen möglichen Seiten ein recht kalter Wind ins
Gesicht bläst: Proteste von verschiedensten Berufs- und
Bevölkerungsgruppen gegen die unsoziale Sparpolitik,
dazu interne Koalitionsstreitereien am laufenden Band.
Ein wenig Eigenlob, ein wenig Sich-gegenseitig-auf-dieSchulter-Klopfen kommt da für die eigene Moral und
für die Öffentlichkeit wahrscheinlich ganz gelegen. Was
also liegt näher als eine Aktuelle Stunde zum JUMPProgramm, dem vermeintlichen Aushängeschild der rotgrünen Regierung?
({1})
Es ist bekannt, daß auch wir das Sofortprogramm
zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit in seiner Durchführung kritisieren. Für viele der geförderten Jugendlichen brachte das JUMP-Programm lediglich kurzfristige
Trainingsmaßnahmen oder eine weitere Etappe in der
Maßnahmenkarriere. Jugendliche werden durch befristete Maßnahmen nur zeitweilig von der Straße geholt.
Oder es wurden gut qualifizierte und damit eigentlich
gut vermittelbare Jugendliche in Maßnahmen des Sofortprogramms untergebracht. Entgegen der ursprünglich guten Absicht wurden auch im JUMP-Programm
wieder Jugendliche aus Familien von Migrantinnen und
Migranten, Mädchen und junge Frauen oder schlechter
qualifizierte Jugendliche benachteiligt; dabei sollten
doch gerade diese unterstützt werden.
({2})
Das Ziel, die Hälfte der Maßnahmen Mädchen zugute
kommen zu lassen, ist deutlich verfehlt worden. Bei den
Lohnkostenzuschüssen und bei den QualifizierungsABMs wurde nicht einmal ein Anteil von einem Drittel
Mädchen erreicht. Selbst die Verantwortlichen in der
Bundesanstalt für Arbeit mußten einräumen, daß spezielle Maßnahmen für Mädchen schlichtweg fehlen.
Durch das Sofortprogramm sind zwar Jobs - viele davon befristet -, nicht aber wahre Zukunftsperspektiven
für Jugendliche geschaffen worden. Noch immer sind
fast eine halbe Million Jugendliche arbeitslos gemeldet.
Die Forderung der Christdemokratinnen und Christdemokraten, die Mittel für das JUMP-Programm im
nächsten Jahr einzusparen, finde ich in diesem Zusammenhang allerdings hochgradig peinlich. Als die
CDU/CSU-Fraktion noch an der Regierung beteiligt
war, hat sie das Problem der Jugendarbeitslosigkeit und nicht nur dieses - schlicht und ergreifend ignoriert
oder ausgesessen, frei nach dem Motto: Augen zu und
durch. Bis heute ist mir kein konstruktiver Vorschlag der
CDU/CSU bekannt, der sich ernsthaft mit dieser Problematik auseinandersetzt und der Jugendlichen auch
nur Ansätze einer Perspektive bietet.
Trotz aller Kritik: Wir begrüßen es, daß auch im
nächsten Jahr wieder 2 Milliarden DM zur Bekämpfung
der Jugendarbeitslosigkeit bereitgestellt werden. Das
heißt aber nicht, daß man nicht kritisieren darf. Wir erwarten allerdings, daß die Fehlentwicklungen des Sofortprogramms nicht in das nächste Jahr mitgenommen
werden.
({3})
- Ob das bei Ihnen immer so logisch ist, weiß ich nicht.
- Darüber hinaus müssen endlich strukturelle Veränderungen politisch angegangen werden, die über laue Versprechungen und Absichtserklärungen im „Bündnis für
Arbeit“ hinausgehen.
Über die Hälfte der ausbildungsberechtigten Betriebe
bildet nicht aus und schiebt damit eine so zentrale Aufgabe wie Ausbildung und Qualifikation der Jugend auf
andere Betriebe, in zunehmendem Maße aber auch auf
den Staat ab. Die Tendenz zur außerbetrieblichen und
zur staatlich finanzierten Ausbildung wird durch das Sofortprogramm letztendlich sogar noch gestützt. An dieser Stelle liegt aus unserer Sicht die strukturelle Fehlentwicklung.
Wir fordern, statt dessen die Wirtschaft in die Verantwortung zu nehmen und eine Ausbildungsplatzabgabe für nicht ausbildende Betriebe einzuführen. Eine gesetzlich geregelte Umlagefinanzierung würde zu einer
Steigerung des Ausbildungsplatzangebotes und zur Entlastung der Staatskasse führen.
({4})
Dann könnten zum Beispiel die 2 Milliarden DM des
Sofortprogramms gegen Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt werden, um die Jugendlichen nach der Ausbildung
zu beschäftigen, also um feste Stellen für arbeitslose Jugendliche zu fördern oder im öffentlichen Sektor feste
Stellen zu schaffen. In Frankreich schafft man sogar
beides.
({5})
Das Wort für die
Bundesregierung hat die Bundesministerin für Bildung
und Forschung, Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ziel des Sofortprogramms
war es, 100 000 Jugendliche in Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung zu bekommen. Es ist kein Benachteiligtenprogramm, sondern es ist ein Programm,
das genau dieses Ziel hat. Dieses Ziel ist bei weitem
übertroffen worden.
({0})
Meine Herren von der Opposition, ich habe mich bei
Ihren Beiträgen die ganze Zeit gefragt
({1})
- bisher haben nur die Herren geredet -, wo denn
eigentlich Ihre Alternative bleibt
({2})
- Sie haben keine einzige Alternative genannt -, die
Alternative angesichts der Erblast, die wir von Ihnen
übernommen haben, von weit mehr als einer halben
Million jugendlichen Arbeitslosen.
({3})
- Das ist die Erblast, die wir von Ihnen übernommen
haben. Das ist das Ergebnis Ihrer jahrelangen Untätigkeit.
({4})
Nach der bisherigen Debatte am heutigen Tage - ich
hoffe, daß sich das noch ändert - kann ich nur zu der
Schlußfolgerung kommen, daß Ihre Alternative darin
besteht, daß die Jugendlichen arbeitslos bleiben. Das
muß ich einmal so hart formulieren.
({5})
Offenkundig ist Ihnen das lieber, als 2 Milliarden DM
dafür einzusetzen.
({6})
Uns geht es darum, etwas für die Menschen zu tun.
Junge Menschen sind nicht nur eine ökonomische Rechengröße,
({7})
sondern das sind unsere Kinder, die eine Zukunft haben
sollen, die in dieser Gesellschaft etwas leisten wollen
und die etwas zu ihrer Zukunft beitragen wollen.
({8})
Dafür müssen diese jungen Menschen ausgebildet werden. Dazu müssen Sie auch die Chance auf einen Einstieg oder einen Wiedereinstieg in das Berufsleben haben. Das sind die Zielsetzungen, die wir mit dem Programm verfolgen.
({9})
Wir haben mit diesem Programm viel mehr Menschen erreicht, als wir gedacht haben. Wir haben über
770 000 Jugendliche überhaupt erst einmal motiviert.
Sie haben auf die Zahlen teilweise hingewiesen. Viele
Jugendliche tauchten in der offiziellen Arbeitslosenstatistik überhaupt nicht mehr auf, weil sie völlig resigniert
hatten und dachten: Ich habe keine Chance mehr. Diese
Jugendlichen haben wir dadurch wieder motiviert. Wir
haben sie erreicht. Deshalb ist der Name des Programms
richtig. Die Jugendlichen sind gesprungen. Das ist für
mich der wichtigste Erfolg dieses Programms.
({10})
Von den 770 000 Jugendlichen haben über 460 000
Jugendliche ein Angebot für Ausbildung, für Beschäftigung erhalten. Es gab 188 000 Eintritte in das Programm. All das belegt, daß die Initiative weit über das
Programm hinaus einen nachhaltigen Motivationsschub
bei den Jugendlichen ausgelöst hat.
({11})
- Das ist schlichtweg falsch. Ich werde Ihnen das noch
im Detail deutlich machen.
Im Ausbildungsteil des Programms läßt sich mit wenigen Beispielen belegen, daß damit nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Fortschritte zur Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation bewirkt worden sind.
({12})
Wir haben mit dem Programm 260 regionale Projekte
zur Mobilisierung zusätzlicher betrieblicher Lehrstellen
angestoßen und gefördert. Diese regionalen Projekte
bleiben bestehen. Wir haben damit eine Struktur geschaffen, die auch in künftigen Jahren eine wichtige
Rolle spielen wird. 6 449 neue betriebliche Ausbildungsplätze, vor allem in kleineren Betrieben, sind bereits geschaffen worden. Diese Aktion kommt jetzt erst
richtig in Fahrt und wird in den nächsten Jahren noch
erheblich verstärkt werden.
Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung
dieser Projekte zeigen, daß es im Zusammenhang mit
diesem Programm eine Fülle von innovativen Ansätzen
gegeben hat. Diese Ansätze werden exemplarisch dokumentiert, ausgewertet und für einen systematischen
überregionalen Erfahrungsaustausch aufbereitet. Wenn
Sie mit Fachleuten aus der beruflichen Bildung und aus
den Arbeitsämtern reden, hören Sie immer: Genau dies
hat uns bisher gefehlt. - Das ist von Ihnen in all den Jahren nicht geleistet worden.
({13})
Diese Erfahrungen werden im übrigen auch für alle
Aktivitäten genutzt, die nicht im Zusammenhang mit
diesem Programm stehen. Wir wissen nun einfach besser, wie wir Jugendliche erreichen und vermitteln können. Diese haben außerdem Auswirkungen auf die generelle Tätigkeit der Arbeitsämter, aber auch für die Organisationen und Unternehmen, die sich hier engagieren.
Fast 20 000 Jugendliche wurden mit neuartigen Trainingsprogrammen gezielt an berufsausbildende oder berufsvorbereitende Maßnahmen herangeführt. Jetzt sage
ich Ihnen ganz klar: Ich kann überhaupt nicht verstehen,
daß diese Trainingsmaßnahmen diskreditiert werden.
({14})
Angesichts dessen, daß Sie es in all den Jahren nicht
hinbekommen haben, einen vernünftigen Weg für die
Jugendlichen vorzubereiten, die nicht von vornherein
wissen, was sie machen sollen, die in ihrer Region auf
den ersten Blick nichts finden, was für sie interessant ist
und machbar erscheint,
({15})
halte ich es für einen großen Erfolg, daß wir - in anderen europäischen Ländern ist das im übrigen auch schon
mit erheblichem Erfolg gemacht worden - einen Weg
entwickelt haben. Ihre Behauptung, daß die Jugendlichen aus der Trainingsmaßnahme in die Arbeitslosigkeit
gehen, ist schlichtweg falsch.
({16})
Sie gehen aus der Trainingsmaßnahme entweder in die
Berufstätigkeit, in Ausbildung oder Qualifikation.
({17})
- Ich habe die Zahlen gerade genannt.
In der außerbetrieblichen Ausbildung im Rahmen des
Programms befinden sich zur Zeit gut 23 000 Jugendliche. Die Ausbildung dieser Jugendlichen wird bis zum
Ende durchgeführt, wenn sie nicht in der Zwischenzeit
einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Auch
hierzu kann ich nur sagen: Wenn ein Jugendlicher praktisch aus der Maßnahme ausscheidet, weil er einen betrieblichen Ausbildungsplatz findet, ist mir das sehr
recht. Das ist für mich kein Argument dafür, daß das
Programm nicht funktioniert.
({18})
- Doch, das ist er. Sie machen genau diese notwendige
Differenzierung nicht, Herr Niebel.
({19})
Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen möchten, dann tun
Sie das. Dann kann ich darauf eingehen.
({20})
Deshalb sage ich noch einmal deutlich: Unser Ziel ist
es, daß diese Jugendlichen in erster Linie einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Nur dann, wenn das
nicht gelingt, sollen sie einen außerbetrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Das ist unsere Politik.
Knapp 4 000 Jugendliche machen zur Zeit ein bis zu
zwölf Monate dauerndes sozialversicherungspflichtiges
betriebliches Praktikum mit berufsvorbereitender Qualifizierung. Das sind Jugendliche, die dadurch häufig zum
erstenmal eine realistische Chance haben, endlich in
Ausbildung oder Beschäftigung zu kommen.
({21})
Mich berührt es schon, wenn ich Jugendliche erlebe das habe ich in den vergangenen Monaten sehr häufig -,
die 21, 22 oder 23 Jahre alt sind und sagen: „Ich bin in
den letzten Jahren immer hinten heruntergefallen.“ Darunter waren Jugendliche, bei denen ich mich auch gefragt habe, wieso diese eigentlich keinen Ausbildungsplatz bekommen, weil sie zum Beispiel einen durchaus
guten Realschulabschluß hatten. Wenn ich konkret
nachgefragt habe, habe ich festgestellt, daß dies häufig
Jugendliche waren, die bei der Auswahl immer auf dem
zweiten oder dritten Platz gelandet sind. Nun kann ich
mich doch nicht hier hinstellen und sagen: Die sind
überqualifiziert. Was hilft denn das zum Beispiel dem
Mädchen in Mecklenburg-Vorpommern?
({22})
Soll ich sagen: Es tut mir leid, da können wir nichts tun?
Ich finde, das geht nicht. Deshalb bitte ich darum, sich
hierbei etwas sorgfältiger, differenzierter und verantwortungsvoller zu verhalten.
({23})
Unsere Vereinbarungen und Verabredungen im
Bündnis haben wesentlich zu dieser Situation beigetragen. Das Bündnis ist unser zweites Standbein. Da muß
ich Ihnen einmal deutlich sagen: Wir haben im Bündnis,
gerade in der beruflichen Ausbildung, in den vergangenen Monaten erheblich mehr erreicht als Sie in den ganzen Jahren zuvor.
({24})
Das betrifft sowohl die Zahl der Ausbildungsplätze als
auch die Vereinbarungen für eine Neuordnung und Modernisierung von Berufen sowie die Förderung und Ausbildung von benachteiligten Berufen, im übrigen unter
Einbeziehung der Länder. Das hat die alte Bundesregierung nie geschafft. Ich habe die Länder einbezogen. Sie
nehmen daran teil und sind von daher mit in der Verantwortung. Dies ist notwendig.
({25})
Last, not least: Konstruktive Kritik am Sofortprogramm ist nicht nur willkommen, sondern von uns auch
immer wieder erbeten worden. Wir werden sie bei der
Neugestaltung und der Fortführung des Sofortprogrammes im nächsten Jahr berücksichtigen. Denn es gibt
ganz klar einige Punkte, bei denen man etwas besser
machen kann. Es ist in Ordnung, wenn man das kritisiert. Aber diffuse Meckerei mit dem Ziel, eine erfolgreiche Aktion ungeachtet der Fakten und ohne jede
Rücksicht auf die Jugendlichen zu diskreditieren und
damit letztendlich eine politische Debatte auf dem Rükken der Jugendlichen zu führen, die kein positives Ergebnis bringt, ist für mich keine konstruktive Kritik,
sondern destruktiv.
({26})
Da machen wir nicht mit. Das verunsichert nämlich die
betroffenen Jugendlichen, und das verunglimpft und
demotiviert die Menschen, die sich vor Ort in den Arbeitsämtern, in den Betrieben und in den Organisationen
engagiert und motiviert dafür eingesetzt haben.
Vielen Dank.
({27})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Klaus Hofbauer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die rotgrüne Bundesregierung ist angetreten, die Arbeitslosigkeit
im allgemeinen und die Jugendarbeitslosigkeit im besonderen deutlich abzubauen.
({0})
Wie Herr Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung ausgeführt hat, wollte er sich an der Lösung
dieses Problems messen lassen. Heute, ein Jahr nachdem die rotgrüne Bundesregierung in die Verantwortung genommen wurde, ist festzustellen, daß dieses
wichtige Ziel, dieses Versprechen deutlich verfehlt
wurde.
({1})
Wir stellen fest, daß die rotgrüne Meßlatte zwar sehr
hoch gehängt wurde, die Regierung beim Sprungversuch
jedoch eingeknickt ist.
({2})
Sie ist ganz einfach unten durchgekrochen, und zwar zu
Lasten auch der jugendlichen Arbeitslosen, die bisher
weitgehend feststellen mußten, daß den großen Worten
nicht genügend richtige Taten gefolgt sind.
({3})
Die Arbeitslosigkeit ist gegenüber September letzten
Jahres gleichgeblieben, und bei den Jugendlichen ist eine deutliche Verbesserung nicht festzustellen. Das sind
die Fakten.
Ein Ziel der Bundesregierung war es, mit einem Sofortprogramm „100 000 Jugendliche so schnell wie
möglich in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen“.
Das Ziel war nicht, sie in Trainingsmaßnahmen zu bringen.
({4})
Es geht darum, die Jugendlichen in eine betriebliche
Ausbildung im Rahmen des dualen Systems zu bringen
bzw. ihnen eine Arbeit im ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Ich darf auch feststellen, daß die richtigen Zahlen
bisher nicht auf den Tisch gelegt worden sind bzw. daß
die Zahl von 15 Prozent von Herrn Kues nicht widerlegt
worden ist.
({5})
Auf diese Zahl von 15 Prozent geht weder die Bundesregierung noch diese Regierungskoalition ein. Deswegen sage ich: Dieses Programm ist im großen und ganzen zu einem Flop geworden.
({6})
Die Bundesregierung nennt stets nur die Zahl der
Teilnehmer an Sofortprogrammen, die dort eingestiegen
sind bzw. sich angemeldet haben, aber nicht die Zahl der
Jugendlichen, die anschließend in Arbeit gekommen
sind. Auf diese Weise gaukelt man den Menschen in
Deutschland etwas vor. Mit einem hohen finanziellen
Aufwand ist wenig erreicht worden.
Meine Damen und Herren, negativ sind auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit Qualifizierungsanteil
zu bewerten.
({7})
Sie erfreuen sich deshalb so großer Beliebtheit, weil die
Teilnehmer dort mehr Geld als in normalen Ausbildungsstellen erhalten. Damit erweist man den jungen
Menschen einen Bärendienst.
({8})
Das teure 100 000-Job-Programm taugt nur begrenzt
für die duale Berufsausbildung, da vor allem betriebsferne Lehrgänge gefördert werden. Die CDU/CSUFraktion fordert eine offene und ehrliche Bilanz dieses
Programms. Eine Glorifizierung dieser Initiative hilft
den jungen Menschen unseres Landes nicht. Wir müssen
das Programm einer kritischen Überprüfung unterziehen. Wir sind bereit, positive Elemente zu unterstützen.
Im übrigen sind solche Initiativen bereits von der alten
Bundesregierung ergriffen worden. Dort, wo die Maßnahmen richtig eingesetzt waren, und zwar auch, Frau
Ministerin, in Zusammenarbeit mit den Ländern - zum
Beispiel ist die Jugendarbeitslosigkeit in Bayern relativ
gering -, sind Erfolge erreicht worden.
({9})
Im Interesse unserer jungen Menschen müssen weitere zielgerichtete, auf Tiefen- und Breitenwirkung ausgelegte Initiativen ergriffen werden, um die Ausbildungssituation zukunftsorientiert zu verbessern. Dies
beginnt bei der schulischen Ausbildung und endet beim
ehrlichen Beratungsgespräch mit jungen Menschen, in
dem auch darauf hingewiesen wird, daß nicht jeder einen Ausbildungsplatz für seinen Traumberuf bekommen
kann. Wir müssen vermeiden, unseren Jugendlichen den
Eindruck zu vermitteln, daß der Staat mit vielen Steuergeldern nahezu alles möglich machen kann.
Eines ist klar - erlauben Sie mir auch diese Bemerkung -: Trotz des 100 000-Job-Programms zeigen die
jungen Menschen in Deutschland offensichtlich kein
Vertrauen in diese Bundesregierung. Bei den Landtags- und Kommunalwahlen haben sie dies mit dem
Stimmzettel zum Ausdruck gebracht. Sie sind der rotgrünen Koalition in Scharen davongelaufen. Dies sollte
die Koalition nachdenklich stimmen. Diese Bundesregierung kann jungen Menschen keine Perspektive aufzeigen.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gebe ich der Kollegin Ekin Deligöz das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Hofbauer, wenn Sie hier schon irgendwelche Behauptungen aufstellen, dann sollten Sie sie auch belegen
können. Ich hingegen kann Ihnen mit einer Pressemitteilung der Bundesanstalt für Arbeit belegen, daß die
Lehrstellenlücke in Deutschland tatsächlich kleiner geKlaus Hofbauer
worden ist und daß dies ausschließlich dem Sofortprogramm der Bundesregierung zu verdanken ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Arbeit ist nicht nur
Beschäftigung. Eine Arbeit zu haben steht in unserer
Gesellschaft nicht nur für die finanzielle Absicherung,
sondern ist auch mit dem Status der Erwerbstätigkeit
verbunden. Eine Stelle zu haben bedeutet Verantwortung zu übernehmen, bedeutet Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, bedeutet persönliche Entwicklungs- und
Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn wir wollen, daß gerade
junge Menschen soziale Verantwortung übernehmen
und einen positiven Beitrag für die Zukunft dieser Gesellschaft erbringen, dann müssen wir ihnen dafür die
Grundvoraussetzungen ermöglichen: Qualifizierung und
eine gute Ausbildung.
({1})
Die allermeisten Jugendlichen unter 25 Jahren haben
in der Tat eine Beschäftigung, sei es in Form von Ausbildung oder von Schule oder einer Stelle im Betrieb.
Aber dennoch beträgt die Arbeitslosigkeitsquote bei Jugendlichen knapp 10 Prozent. Vorhin haben Sie vorlaut
dazwischengerufen, dieses Programm sei eine Katastrophe. Was ist denn die größere Katastrophe, zuzugucken,
die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun oder
tatsächlich aktiv zu werden und sich der Verantwortung
zu stellen?
({2})
Sie kritisieren, daß auch gut qualifizierte Realschüler
und Gymnasiasten an dem Programm teilnehmen. Daß
sie aber an diesem Programm teilnehmen, ist doch nicht
ein Zeichen dafür, daß das Programm falsch ist. Es ist
vielmehr Beleg dafür, daß die Situation auf dem Lehrstellenmarkt unbefriedigend ist.
({3})
In Anbetracht dieser Tatsache unterscheiden wir in Sachen Jugenderwerbslosigkeit nicht zwischen sozial Benachteiligten, Hauptschülern, Realschülern und Gymnasiasten, sondern wir stellen uns der Gesamtverantwortung und nehmen die Situation für alle Jugendlichen
gleichermaßen ernst.
({4})
Die neue Bundesregierung hat in der Tat nicht sehr
lange gezögert, sondern gleich mit einem Sofortprogramm wichtige Maßnahmen in Gang gesetzt, um sich
dieser Verantwortung zu stellen. Das Ergebnis kann sich
durchaus sehen lassen: Mit dem Programm sind außerbetriebliche Lehrstellen geschaffen worden, und insgesamt sind mehr als 100 000 Jugendliche in Maßnahmen
des Programms, was die Chance auf Eingliederung in
den regulären Arbeitsmarkt tatsächlich nachhaltig verbessert. Die von den Arbeitsämtern nachgezählten Ablehnungen und die vorzeitigen Abbrüche, die Sie so
schön aufzählen, hatten vielfach sehr, sehr gute Gründe,
wie zum Beispiel den Beginn einer schulischen Ausbildung, die geglückte Aufnahme eines Studiums oder die
Festanstellung in einem Betrieb.
({5})
Noch nie war ein Programm in dieser Beziehung so flexibel in der Gestaltung und zugleich so ergebnisorientiert in den Richtlinien. Noch nie sprach ein Programm
so viele Jugendliche an. Selbst die Jugendzeitschrift
„Bravo“
({6})
hat uns bestätigt, daß diese Öffentlichkeitskampagne einen wichtigen Bewußtseinsprozeß in Gang gesetzt hat.
({7})
Aber wenn Sie schon unbedingt über dieses Programm sprechen wollen, dann sollten wir diese Debatte
hier nutzen, um uns vor allem bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsämter vor Ort zu bedanken,
({8})
die voller Engagement und Kreativität ans Werk gegangen sind, um die Jugendarbeitslosigkeit tatsächlich abzubauen. Sie haben noch nicht einmal das mühsame
Klinkenputzen bei Unternehmen gescheut.
({9})
Es ist enorm, was diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus ihrem Handlungsspielraum gemacht und was sie
auf die Beine gestellt haben. Schon allein deshalb müssen wir dieses Programm fortsetzen.
({10})
„Chancengleichheit“ ist ein Begriff, den wir in der
Regierung ernst nehmen. Dafür tun wir einiges. Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, sollten
ausnahmsweise einmal die Parteitaktik hintanstellen und
uns unterstützen.
({11})
Es spricht jetzt die
Kollegin Andrea Nahles, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Programm zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und Ausbildungsnot, JUMP, ist schon deswegen ein Erfolg, weil endlich
Schluß ist mit dem Totschweigen der Jugendarbeitslosigkeit in diesem Land.
({0})
Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit in einem Jahr um
6,9 Prozent gesenkt. Eine solche Bilanz hatten Sie in
16 Jahren nicht aufzuweisen, meine Herren von der Opposition.
({1})
Wenn Sie, Herr Kues, Herr Schäuble und wie Sie alle
heißen,
({2})
von einer „teuren Luftnummer“ sprechen, dann will ich
Ihnen sagen: Eine bessere Möglichkeit, in junge Leute
zu investieren, kann ich mir für diese 2 Milliarden DM
überhaupt nicht vorstellen.
({3})
Herr Kues, gehen Sie mit mir einmal in ein xbeliebiges Arbeitsamt in einem x-beliebigen Berliner
Bezirk! Dort sollten wir uns einmal mit einer JUMPKlasse, in der junge Leute sitzen, die 30, 40 Bewerbungen ohne Erfolg abgeschickt haben, treffen. Denen können Sie dann einmal sagen: Leute, ihr sitzt hier in einer
Luftnummer. - Ich würde gerne einmal hören, was die
jungen Leute dazu sagen. Das ist doch lächerlich, Herr
Kues.
({4})
Herr Jork, ich habe gehört, Sie sind der Bildungsexperte der Union. Ist Herr Jork noch da?
({5})
- Da ist er ja. Das ist ja beruhigend. - Es ist schon sehr
bemerkenswert, wenn Sie das Programm dadurch diffamieren - auch Herr Schäuble hat dies getan -, daß Sie
sagen: Junge Leute lassen gut bezahlte Ausbildungsstellen sausen, um möglichst schnell in dieses Jugendarbeitslosigkeitsprogramm hineinzukommen.
Ich will Ihnen einmal die Realität schildern: 27 800
junge Leute bekommen über drei Jahre hinweg pro Monat 500 DM, um im Rahmen einer außerbetrieblichen
Maßnahme ihre Ausbildung zu absolvieren. Die machen
das, obwohl sie zu einem guten Teil schon über 20 sind
und sie, wenn es tolle Möglichkeiten gäbe, weitaus mehr
Geld verdienen könnten - von Schwarzarbeit will ich
gar nicht reden. Warum sitzen diese Leute da für 500
DM? Weil sie das als Chance begreifen. Also hören Sie
mit solchen Diffamierungen auf! Das ist unverschämt.
({6})
Es ist nicht der Erfolg der Bundesregierung, der hier
im Mittelpunkt steht. Erfolg haben wir vor allem deswegen, weil uns die jungen Leute im wahrsten Sinne des
Wortes die Bude eingerannt haben. Das ist die Wahrheit.
({7})
Ich will Ihnen das an Hand von Zahlen deutlich machen.
Wir haben allein auf der Hotline 226 000 Anrufe gehabt.
Wir haben 188 000 Leute in Maßnahmen bekommen.
Aber wir haben auch Leute erreicht - ({8})
- Das kann ich Ihnen erzählen: die Bundesanstalt für
Arbeit und die Landesarbeitsämter in der Vereinbarung
mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung.
({9})
- Wissen Sie was, Herr Kues? Sie haben lange geschlafen. 16 Jahre lang nichts gemacht und jetzt frech wie
Oskar - so etwas habe ich gern.
({10})
Toll ist nicht nur, daß die jungen Leute motiviert
werden, sondern auch, daß es in den Arbeitsämtern zu
einer Anstrengung gekommen ist, wie wir sie in
Deutschland noch nie hatten. Wir haben es tatsächlich
geschafft, in den Arbeitsämtern neue Methoden anzuwenden. Wir haben Streetworker eingesetzt.
({11})
Wir haben Internetcafés eingerichtet. Wir haben Callcenter beauftragt. Das hat dazu geführt, daß die Arbeitsämter auch über 30 000 junge Leute erreicht haben, die
nicht einmal mehr in der Arbeitslosenstatistik Ihrer Regierung aufgetaucht sind. Das müssen Sie sich einmal
klarmachen.
({12})
Ihre Kritik trifft uns nicht.
({13})
Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder die
Wirtschaft stellt genügend Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung - Sie sollten Ihre rhetorischen Fähigkeiten einmal dafür einsetzen, daß das gelingt;
({14})
das ist nämlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht der
Fall -, oder wir machen ein Programm, weil wir als
Politiker unsere Hausaufgaben machen müssen und
nicht einfach nichts tun können.
({15})
Da hat sich diese Bundesregierung anders entschieden,
als Sie es 16 Jahre vorgemacht haben: Wir tun etwas.
({16})
Sie haben heute noch die Möglichkeit, Ihre ernstzunehmenden Einwände gewinnbringend einzusetzen. Wir
veranstalten landesweit regionale Ausbildungskonferenzen, bei denen es darum geht, eine Nachvermittlungsaktion hinzubekommen.
({17})
Da können Sie dann - hoffentlich positiv - mitmachen.
Denn Ihre Nörgelei bringt keinen Jugendlichen in Arbeit
und Ausbildung.
({18})
Als letztes appelliere ich an alle Jugendlichen: Meldet
euch bitte, wenn ihr noch eine Ausbildungsstelle oder
einen Arbeitsplatz sucht! Meldet euch jetzt, damit wir
jetzt noch Anstrengungen für euch unternehmen können!
An die Unternehmer, die die betrieblichen Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen: Wenn wir es nicht
im guten schaffen, dann müssen wir andere Saiten aufziehen.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat der
Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Nahles, Sie werden mit „andere Saiten
aufziehen“ und solchen Kraftausdrücken keinen einzigen Handwerksmeister dazu bringen, einen zusätzlichen
Ausbildungsplatz anzubieten.
({0})
Ich glaube, es wäre für die Debatte heute gut, wenn
wir einmal etwas ruhiger und sachlicher über diese Frage redeten. Es ist doch überhaupt nicht so, daß unsere
Zielsetzung eine andere wäre. Wir müssen junge Leute
qualifizieren und wieder in Arbeit bringen.
Es ist doch auch so, daß es einzelne Teile des Programms schon früher gegeben hat. Auch unter Arbeitsminister Norbert Blüm hat es Maßnahmen für Arbeit
und Qualifizierung von Jugendlichen gegeben, weil es
sinnvoll ist, junge Leute zu qualifizieren, damit sie Arbeit und Ausbildung bekommen. Viele Teile Ihres Programmes sind überhaupt nichts Neues, sondern Instrumente, die wir in der Arbeitsmarktpolitik seit Jahr und
Tag einsetzen.
({1})
Neu ist, daß ein Programm - dies hat die heutige
Aktuelle Stunde, wie ich finde, sehr deutlich gezeigt für eine einzigartige PR-Kampagne zugunsten der neuen
Regierung herhalten muß, auch deswegen herhalten
muß, weil in vielen anderen Bereichen nichts gelaufen
ist.
({2})
Wenn ein Programm 2 Milliarden DM kostet - dies ist
im übrigen fünfmal soviel wie das, was Sie der Pflegeversicherung durch Ihre Spargesetze wegnehmen -,
dann haben wir als Parlamentarier doch die Pflicht, zu
fragen, was mit diesem Geld geschieht.
({3})
Wird dieses Geld sinnvoll und effektiv eingesetzt? Erreichen Sie mit diesen Mitteln das Maximum dessen,
was man erreichen kann? Oder könnte man den gleichen
Effekt mit weniger Geld erzielen?
({4})
Könnte man mit diesem Geld noch mehr Menschen helfen, in Arbeit und Ausbildung zu kommen?
({5})
Wir haben in einigen Bereichen Zweifel, die auch besprochen werden müssen. Das Programm beinhaltet ohne Frage - viele Kurzzeit- und Trainingsmaßnahmen.
Die Zahl der Teilnehmer, die Sie mit diesen Maßnahmen
erreichen, läßt sich vielleicht gut verkaufen. Aber es ist
unser gutes Recht, nach dem Sinn dieser Maßnahmen zu
fragen, wenn von 32 100 Menschen, die sich in diesen
Maßnahmen befanden, nur 220 - diese Zahl ist bekannt - einen regulären Ausbildungsplatz erhalten haben. Angesichts dieser Zahlen müssen wir fragen, ob es
nicht besser gewesen wäre, die Maßnahmen anders auszurichten und andere Schwerpunkte im Programm zu
setzen.
({6})
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Vor einigen
Wochen habe ich einen brandenburgischen Wahlkreis
besucht und dort viele Gespräche geführt. Ein Handwerksmeister kam auf mich zu und berichtete: Ich muß
noch Schulden abzahlen, weil ich meinen Betrieb erst
vor einigen Jahren gegründet habe. Mir fällt es sehr
schwer, lukrative Aufträge zu bekommen. Wenn man
mir einen kleinen Zuschuß gäbe, würde ich durchaus
einen weiteren Lehrling einstellen. Warum unterstützen
Sie nicht solche Maßnahmen? Wenn Sie das täten, dann
müßte nicht mehr der Staat den Handwerksmeister
finanzieren, der einen Jugendlichen ausbildet.
({7})
Mit der Unterstützung der oben beschriebenen Maßnahme könnte man dafür sorgen, daß sich die Ausbildung nahe an der Wirklichkeit des zukünftigen Arbeitsplatzes orientiert. Machen Sie ein bißchen weniger
Sozialarbeit! Sorgen Sie lieber ein bißchen mehr für die
Unterstützung der Handwerksmeister!
({8})
Es hat mich auch sehr nachdenklich gestimmt, als ich
gelesen habe, daß 53 Prozent der Bewerber um einen
Ausbildungsplatz mittlere und höhere Schulabschlüsse
haben. Der Kollege Kues hat darauf hingewiesen.
Es ist unverständlich, daß zwei Drittel der Mittel im
Westen und nur ein Drittel der Mittel im Osten ausgegeben werden, obwohl wir alle wissen, daß die Probleme
im Osten größer sind, weil die dortigen Strukturen noch
nicht so gut entwickelt sind wie im Westen. Im übrigen
tragen Sie die Verantwortung dafür, daß es im Osten
keinen Mittelstand gibt. Sie haben keinen Mittelstand
zugelassen.
({9})
Ihre Partei ist die Mittelstandsvernichtungspartei in
Deutschland! Das sollten Sie wissen.
({10})
Man muß die Schwerpunkte auf dem Jugendarbeitsmarkt dort setzen, wo sie katastrophal sind. Die Entscheidung, zwei Drittel der Gelder im Westen, wo es gut
läuft, und nur ein Drittel der Gelder im Osten auszugeben, paßt nicht zu den Verhältnissen.
Frau Bildungsministerin, Sie haben so engagiert geredet.
({11})
Sorgen Sie dafür, daß auf der Kultusministerkonferenz
entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Ich weiß,
daß dies sehr schwer zu erreichen ist; denn die Kultusministerkonferenz ist nicht gerade die innovativste Veranstaltung. Der Vatikan ist im Vergleich zur Kulturministerkonferenz neumodisch. Wenn nicht bald bessere
Möglichkeiten zur Förderung derjenigen im allgemeinbildenden Schulwesen, die sich mit den neuen Anforderungen sehr schwertun, entwickelt werden, dann kann
der Bund auf Dauer nicht die Reparaturkosten bezahlen,
die durch eine falsche Schulpolitik der Länder entstehen.
({12})
Weil wir es mit den Menschen gut meinen und weil wir
den jungen Leuten die Erfahrung ersparen möchten, von
der Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, fordere ich
Sie auf: Lassen Sie die Polemik beiseite! Lassen Sie uns
gemeinsam überlegen, wie die Maßnahmen des Programms zielgenauer ausgerichtet werden können, um
das zu erreichen, was wir gemeinsam erreichen wollen.
Schönen Dank.
({13})
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium
für Arbeit und Sozialordnung Gerd Andres.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber KarlJosef Laumann, du hast in deiner Rede Unwahrheiten
und Fakten miteinander vermischt und alles so verdreht,
wie du es brauchst. Der Handwerksmeister aus Brandenburg bekommt das, was er benötigt. Er wird unterstützt.
({0})
Ich finde es schlimm, daß hier eine solche Debatte
geführt und damit ein falscher Eindruck erweckt wird.
Ich beobachte ja Herrn Kues die ganze Zeit,
({1})
der ständig seine 15 Prozent anbringt. Sie diffamieren
ein Programm, und Sie diffamieren wissentlich die jungen Leute, die in diesem Programm stecken. Das tun Sie
wissentlich.
({2})
Ich will Ihnen etwas Einfaches sagen. Der Ausgangspunkt für dieses Programm im Herbst des vergangenen
Jahres waren 428 000 junge Menschen, die arbeitslos
waren. Gleichzeitig waren den Arbeitsämtern noch
35 000 unvermittelte Bewerber um Ausbildungsplätze
gemeldet.
Herr Kues, ich sage es Ihnen jetzt noch einmal; ich
kann es Ihnen auch aufschreiben: Wir machen hier kein
Benachteiligtenprogramm,
({3})
sondern wir haben ein Programm zur Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Nehmen Sie das bitte
einmal zur Kenntnis!
({4})
Ein Element dieses Programms ist auf ganz besondere
Zielgruppen ausgerichtet. Zu diesen Zielgruppen sage
ich Ihnen gleich noch etwas.
({5})
Ich sage Ihnen hier ganz deutlich: Wenn solche Leute
wie der hessische Ministerpräsident das Sofortprogramm
kritisieren, als Ganzes in Frage stellen und es als
Täuschungsaktion gegenüber jungen Menschen diffamieren, so wie er das in einem Interview in der „Sächsischen Zeitung“ vom 15. September 1999 gemacht
hat, dann ist das zusammen mit Äußerungen von
Herrn Schäuble und anderen, die ich aneinanderreihen
könnte, exakt ein Beleg dafür, daß Sie hier eine für meine Begriffe üble Doppelstrategie fahren. Sie sagen:
„Über bestimmte Punkte können wir reden“, aber Vorschläge kommen von Ihnen keine. Herr Laumann sagt
das auch,
({6})
und der Herr von der F.D.P., der sowieso immer redet
und nicht lernfähig ist, macht das auch so.
Ich sage Ihnen hier: Dieses Programm der Bundesregierung ist ein voller Erfolg. Da beißt die Maus überhaupt keinen Faden ab.
({7})
Ich frage Sie einmal, wie Sie zu Ihren Ergebnissen
kommen, wenn Sie zur Kenntnis nehmen müssen, daß
Ende September dieses Jahres immerhin noch 108 000
junge Menschen in Maßnahmen des Programms einbezogen waren.
({8})
Wie kommen Sie denn dazu, hier Ergebnisse mitteilen
zu können? Jetzt sage ich Ihnen einmal ein paar einfache
Positionen.
({9})
- Passen Sie mal auf; ich nenne Ihnen ein paar einfache
Positionen. Hören Sie auf. - Herr Hofbauer hat gesagt: Man muß mal mit den Leuten ordentliche Beratungsgespräche führen. Herr Hofbauer, ich sage Ihnen
das zum Mitschreiben. Nehmen Sie einen Kugelschreiber, damit Sie es beim nächsten Mal nicht vergessen haben.
({10})
- Ja, doch, doch. Wissen Sie was? Der Punkt ist, daß
man sich das durchlesen und anschauen muß, was man
in seinem Fachausschuß an Informationen schriftlicher
Art erhält. Dann kann man sich hier nicht hinstellen und
solche Positionen in Einzelheiten vertreten.
({11})
10,6 Prozent der jungen Leute - das sind 19 900 Personen - sind in Beratungsmaßnahmen. Da wird genau
das gemacht, was Sie angemahnt haben. Man setzt sich
mit dem Beratungssuchenden hin und fragt ihn: Welche
Ansprüche hast du? Was möchtest du lernen? Paßt das
überhaupt zu deinen Bildungsabschlüssen? Paßt das zu
dem, was hier zur Verfügung steht? - Es wird also genau das getan, was Sie angemahnt haben.
Jetzt nenne ich eine andere Zahl - die können Sie
auch weiter diffamieren -: 32 400 junge Leute sind in
Qualifizierungs-ABM. Die Alternative dazu wäre, daß
sie arbeitslos sind.
({12})
- Doch! - Und das Dilemma ist, daß viele dieser jungen
Leute - deswegen auch Qualifizierungs-ABM - schon
einmal eine Ausbildung absolviert hatten, aber zwischenzeitlich arbeitslos waren. Wir müssen nun Möglichkeiten und Chancen nutzen, um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern. Das ist übrigens etwas, was Ihnen bei den beschäftigungspolitischen Leitlinien aus
Brüssel wiederbegegnet. Das ist im übrigen etwas, was völlig richtig gesagt - Herr Blüm auch gemacht hat, was
aber jetzt von Ihnen systematisch diffamiert wird. Das
halte ich für zynisch und schlimm gegenüber den jungen
Leuten.
({13})
Nun nenne ich Ihnen den nächsten Punkt.
({14})
- Nein, ich will gar nichts. Ich buchstabiere Ihnen das
jetzt hier durch. - Es gab Ende September 23 800 Arbeitsverhältnisse mit Lohnkostenzuschüssen im ersten
Arbeitsmarkt.
({15})
Soll ich es noch einmal sagen, sozusagen zum Mitschreiben? Der spannende Punkt ist ein ganz einfacher.
({16})
- Nein, ich bin nicht übermütig.
({17})
Was ich schlimm finde, ist, wie zynisch mit diesem
Thema und dieser Situation umgegangen wird.
({18})
Ich könnte Ihnen weitere Zahlen vortragen.
Es wurde von den Abbrechern geredet. Es handelt
sich hierbei um eine ganz spannende Angelegenheit. In
der Tat, es gibt Abbrecher. Wir haben Berichte geliefert,
in denen dargestellt wird, warum abgebrochen wird. Es
gibt sogar Berichte darüber, warum das Angebot nicht
angenommen wird. Wenn die Arbeitsverwaltung einem
jungen Menschen etwas anbietet und er sagt: „Passen
Sie einmal auf, das macht keinen Sinn, ich habe eine
Einberufung und muß in zwei Monaten zur Bundeswehr“, dann wird er in der Arbeitsverwaltung als Ablehner geführt. Wenn ein junger Mensch sagt: „Hören Sie
einmal zu, ich habe mich um einen Studienplatz beworben; ich mache das nicht“, dann wird er ebenfalls als
Ablehner geführt, ohne daß die Gründe dafür differenziert dargestellt werden.
Herr Kues, ich kann Ihnen eines sagen: Ich war heute
über die Mittagszeit mit Herrn Jagoda im Haushaltsausschuß. Da hat das Programm eine große Rolle gespielt.
Bernhard Jagoda, den man nicht verdächtigen kann,
Mitglied der SPD oder der Grünen zu sein oder dieser
ganz schlimmen Koalition nahezustehen, hat auf eine
Menge von Fragen außerordentlich gut geantwortet und
das Programm verteidigt. Er hat dargestellt, daß da, wo
leichtfertig abgelehnt wird, Sperrzeiten verhängt werden. Das machen wir relativ konsequent.
Ich sage Ihnen eines: Die Bundesregierung hat beschlossen, das Programm konsequent fortzusetzen. Sie
können schreien, soviel Sie wollen - wir werden es umsetzen. Dazu haben wir die Mehrheit.
({19})
Wir bieten an, daß wir darüber Punkt für Punkt - das
IAB wird eine Auswertung vorlegen - im Ausschuß reden. Da können Sie all Ihre Verbesserungsvorschläge
machen, auf die ich schon sehr gespannt bin. Aber wir
werden das Programm fortsetzen, weil es den jungen
Menschen und ihrer Beschäftigungsfähigkeit in diesem
Lande dient und für sie ganz wichtig ist.
Schönen Dank.
({20})
Das Wort hat der
Kollege Dr. Rainer Jork, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die jetzt laufende Aktuelle Stunde hat die SPD beantragt, um über
das Sofortprogramm zu diskutieren. Da dieses Programm keiner streichen will, steht die Frage im Raum,
warum es erneut diskutiert werden soll, obwohl wir es
sowohl in Plenum und Ausschuß als auch an anderen
Stellen wiederholt beraten haben. Wir haben es kritisiert,
gelobt und getadelt. Wir haben Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Frau Ministerin, wir haben auch Alternativen formuliert. Auch der Kollege Staatssekretär Andres darf das zur Kenntnis nehmen. Für mich stellt sich
die Frage, welche Gründe hinter diesem SPD-Wunsch
stehen.
Variante eins: Angesichts der sich täglich wandelnden Aussagen zu Absichten der Bundesregierung und zu
Schwerpunkten in der Arbeit der Bundesregierung wollen die Bildungspolitiker der SPD mahnen, hier nicht zu
streichen. Dazu dient die Methode „gezieltes Mißverständnis“. Frau Nahles, Sie haben diese Methode angewandt; denn ich habe von etwas ganz anderem als dem
gesprochen, was Sie in Ihrem Beitrag behandelt haben.
({0})
Diese Selbstermahnung würde glaubhafter, wenn sie mit
Selbstoptimierung verbunden wäre. Vorschläge dafür
liegen vor.
Variante zwei: Es soll von der bereits selbst beschlossenen Streichung der Förderung der Ausbildungsberater
und der Lehrstellenwerber - das ist im Haushalt des
Bundesministeriums für Wirtschaft vorgekommen - abgelenkt werden; schließlich war die Streichung dort eine
Fehlentscheidung.
({1})
- Richtig, die waren erfolgreich. - Dies könnte durch
konstruktive Zusammenarbeit korrigiert werden. Entweder gibt es diese konstruktive Zusammenarbeit zwischen
den Ministerien der Bundesregierung nicht, oder die
Förderung ist gar nicht gewollt.
Variante drei: Die SPD ist selbst unsicher, wie es
weitergehen soll. Wenn das so ist, dann kann ich nur sagen: Schauen Sie unsere Vorschläge und unsere Alternativen an! Nehmen Sie uns ernst!
({2})
- Das sage ich Ihnen gerne. Auch Sie waren teilweise
dabei, als wir sie dargestellt haben.
Variante vier: Die SPD will das Sofortprogramm als
besondere Spitzenleistung der Öffentlichkeit darstellen.
({3})
Genau das hat die Ministerin in ihrer Rede gemacht. Es
handelt sich aber nicht nur um eine Frage hohen materiellen Einsatzes. Die Ministerin erklärte am 5. Oktober in
einer Presseerklärung unter anderem, es gebe noch einiges zu tun. Sie hat recht. Eigentlich in diesem Sinne haben wir im Ausschuß diskutiert. Da hat uns der Staatssekretär Catenhusen übrigens sehr wohl gesagt, daß wir
gemeinsam über Vorschläge diskutieren werden.
Was soll diese Aktuelle Stunde also?
Wir waren uns eigentlich einig, daß Bewertungskriterien für Maßnahmen im Bereich der Berufsbildung und
der Lehrstellen folgende Punkte betreffen: Erstens: Die
Lehrlinge haben Anspruch auf eine hochqualitative
Ausbildung. Zweitens: Sie müssen praxisnah in Betrieben ausgebildet werden. Drittens: Sie müssen eine
Chance auf einen Dauerarbeitsplatz haben.
({4})
An dieser Stelle muß ich etwas ergänzen - dies ist
wichtig und kam aus meiner Sicht bisher in allen Diskussionen zu knapp weg -: Die Maßnahmen müssen
nachhaltig sein. Das, was wir hier konstruieren, darf
kein Wahl-Strohfeuer sein.
({5})
Ich habe hierbei bewußt im Hinterkopf, daß jemand
einmal von „Wahl-ABM“ gesprochen hat. Ich sehe Parallelen zu den Wahlen in diesem Jahr: Es ist nicht aufgegangen.
Des weiteren ist aus meiner Sicht die Spezifik der
neuen Bundesländer in viel höherem Maße zu berücksichtigen. In der Argumentation sind verschiedene Fragen völlig durcheinandergebracht worden. Ich kann
nicht für die Frage, was Leute machen, die einen mittleren Abschluß haben, einen Fall in Schwerin anführen,
wenn die Wirtschaft gar nicht vorhanden ist.
({6})
Nach diesen Maßstäben ist das Sofortprogramm zu
bewerten, Frau Schmidt. Ich nenne einige Kritikpunkte.
Das Programm ist nicht effektiv, da 53 Prozent der
öffentlich finanzierten außerbetrieblichen Lehrstellen
von Jugendlichen besetzt werden, die einen mittleren
und höheren Abschluß haben. Hier geht es eben um die
Differenzen zwischen Ost und West. Im Westen, in den
alten Bundesländern, kann man mit ihnen durchaus freie
Lehrstellen besetzen.
Das Programm ist nicht effektiv, da die Teilnehmer
der Qualifizierungs-ABM - Frau Nahles, vielleicht hören Sie einmal zu; darum ging es - 80 Prozent des Tariflohnes als Arbeitsentgelt erhalten. Dies liegt deutlich
über den Ausbildungsvergütungen und ist eher ein Anreiz, die Lehre abzubrechen.
({7})
Das Programm ist nicht effektiv, weil etwa ein Drittel
Kurzläufer sind. Wir wissen aus den Zahlen, daß das
Programm für viele nach drei Monaten beendet ist. Es
ist eben nicht nachhaltig.
Das Programm ist nicht ausreichend, weil strukturelle
Probleme des Ausbildungsstellenmarktes nicht gelöst
werden. Ich denke an das Leistungsvermögen der Bewerber und an den Bedarf in der Wirtschaft sowie an die
Möglichkeiten der Betriebe. Die echten Problemfälle
werden unzureichend getroffen. Dies sind, wie Sie selbst
angeben, etwas weniger als 10 000. Die Kriterien sind
nicht ausreichend erfüllt.
Es wurde nach den Alternativen gefragt. Ich wünsche
mir - auch das haben wir schon gesagt - zukunftsfähige
Berufsbilder, die Strukturreform, die gezielte Förderung
von Handwerk und Mittelstand, Konzepte zur Förderung
und Motivierung der Jugendlichen und vor allem eine
konzertierte Aktion.
({8})
Es wäre schön, wenn dies einigermaßen liefe.
Abschließend eine Bitte: Sorgen Sie für eine Neuauflage des Programms und dafür, daß die Beteiligten
mit seriösen Maßnahmen nachhaltig gefördert werden!
Sorgen Sie dafür, daß unsere Steuergelder sinnvoll und
effektiv genutzt werden! Darum geht es.
Danke.
({9})
Nächster Redner ist
der Kollege Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Zunächst möchte ich auf eine Bemerkung des Herrn Dr. Jork bezüglich der Aktuellen Stunde eingehen. Sie wissen sehr wohl, daß diese
Aktuelle Stunde nicht wegen JUMP, also nicht wegen
des Sofortprogramms für 100 000 Jugendliche, beantragt
wurde, sondern weil es Äußerungen Ihres Fraktionsvorsitzenden gab, die darauf abzielten, dieses Programm zu
streichen. Das ist ein entscheidender Unterschied.
({0})
Ich muß schon sagen: Ich bin verblüfft, besser gesagt:
betroffen von dem, was man in den letzten Wochen alles
über das erfolgreiche Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit hören mußte. Da redet Kollege Kues von
der CDU/CSU-Fraktion von einer „teuren Mogelpakkung“, sein Fraktionskollege Jork laut „Handelsblatt“
vom 7. Oktober von einer „teuren Luftnummer“, und am
gleichen Ort schlägt BDA-Präsident Dieter Hundt am
20. Oktober in die gleiche Kerbe. Ich hätte gerne diese
Stimmen gehört, als vor einem guten Jahr die Herren
Kohl, Waigel, Schäuble, Gerhardt und Co. kurz vor der
Bundestagswahl mit dem Füllhorn viel Geld für ineffiziente Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die sogenannten
Wahlarbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ausgeschüttet haben.
({1})
Doch die Bürgerinnen und Bürger waren nicht so
dumm, wie Sie sich das erhofft hatten. Sie merkten, daß
es sich bei diesen Aktivitäten nicht um durchdachte
Maßnahmen mit Perspektiven handelte, sondern daß das
grundsätzlich wertvolle Instrument der ABM zum
Wahlkampfinstrument degradiert wurde.
({2})
Uns Politikern wird häufig vorgeworfen, wir lebten
so abgehoben, daß wir nicht mehr wüßten, welche Sorgen die Menschen umtreiben. Wenn ich mir einige
Kommentare zum Sofortprogramm anschaue, muß ich
sagen: Für einige Politiker und Verbandsfunktionäre gilt
dies - leider - wirklich.
({3})
Ist Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren
von der Opposition, bei Ihren Gesprächen in den Wahlkreisen noch nicht aufgefallen, wie die Sorge um einen
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz die Menschen umtreibt?
Nicht nur die direkt betroffenen Jugendlichen, auch deren Eltern, Geschwister, Freunde und Großeltern leiden
darunter.
({4})
Sie haben uns über 400 000 arbeitslose Jugendliche
hinterlassen und beschweren sich nun, daß wir tatkräftig
darangegangen sind, den Jugendlichen eine Perspektive
zu geben.
({5})
- Perspektiven zu geben ist nie Quatsch. Das sage ich
nur am Rande. ({6})
Das kann man nicht nur dreist, sondern auch unverschämt nennen.
Daß es bei einem Programm dieser Größenordnung
an einigen Stellen auch unbeabsichtigte und ungewollte
Auswirkungen gibt, halte ich für normal. Die Erfahrungen des ersten Jahres werden selbstverständlich in die
Planungen des Programms für das nächste Jahr eingehen. Konstruktive Vorschläge nehmen wir übrigens gern
entgegen.
({7})
Staatssekretär Andres hat Ihnen eindrucksvolle Zahlen über den Erfolg des Jugendprogramms vorgelegt; da
will ich, von einer Ausnahme abgesehen, vom Präsentieren von Zahlen Abstand nehmen.
({8})
Ihre Argumente - so nennen Sie Ihre Ausführungen gegen das Sofortprogramm stehen zudem auf sehr
tönernen Füßen. Ich möchte hier aus Zeitgründen nur
auf ein Beispiel eingehen: Es ist wahr, daß knapp 60 000
Jugendliche das Angebot des Sofortprogramms abgelehnt haben. Diese zugegebenermaßen relativ hohe Zahl
der Ablehnungen als Ausdruck der Verweigerung zu
interpretieren ist schlichtweg falsch.
({9})
Denn darin ist auch die Zahl all derer enthalten, die sich
doch noch zu einem Studium entschlossen haben, zur
Bundeswehr einberufen wurden oder durch Eigeninitiative einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz gefunden haben.
Für 4 400 Jugendliche, die Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe bezogen haben, wurden wegen unbegründeter Ablehnung oder unbegründeten Abbruchs von
Maßnahmen Sperrzeiten verhängt. Bei 12 800 Jugendlichen, die Sozialhilfe bezogen, erfolgte aus den gleichen
Gründen eine Meldung an das Sozialamt. Damit reduziert sich die Zahl der sogenannten Verweigerer auf ein
Viertel der soeben genannten Zahl. Daß durch dieses
Programm entdeckte Unwillige Sanktionen hinnehmen
mußten, hätte eigentlich, wenn man Ihre sonstige Rhetorik berücksichtigt, eher Zustimmung hervorrufen müssen.
Als Wirtschaftspolitiker meiner Fraktion möchte ich
noch folgendes grundsätzlich feststellen: Für uns Sozialdemokraten ist es ein vorrangiges Ziel, daß die ausbildungswilligen Jugendlichen eine betriebliche Ausbildung erhalten.
({10})
Es kann und darf nicht zu einem Dauerzustand werden,
daß der Staat permanent bzw. in zunehmendem Maße
außerbetriebliche Ausbildungsplätze finanzieren muß.
({11})
Im „Bündnis für Arbeit“ hat sich die Wirtschaft verpflichtet, den demographisch bedingten Zuwachs der
Nachfrage nach Ausbildungsplätzen durch zusätzliche
betriebliche Ausbildungsstellen abzudecken und darüber
hinaus mindestens 10 000 weitere Ausbildungsplätze zu
schaffen. Dies ist ein großer Erfolg des von Bundeskanzler Schröder initiierten „Bündnisses für Arbeit“.
({12})
Wir werden die Wirtschaft an ihren Taten messen.
Wir Sozialdemokraten haben kein Interesse an einer
unnötigen Regulierung der Wirtschaft. Im Unterschied
zu Teilen der Opposition lehnen wir Vorschriften für die
Wirtschaft aber auch nicht ab, wenn sie im Interesse des
Gemeinwohls notwendig sind und die Wirtschaft ihrer
gesellschaftlichen Verpflichtung, die ja auch von ihr
selber immer wieder betont wird, nicht nachkommt.
({13})
Auf unsere augenblickliche Debatte bezogen heißt
das, daß wir keine Ausbildungsplatzabgabe wollen.
({14})
Sollte aber die Wirtschaft auf Dauer nicht in der Lage
oder nicht willens sein, genügend Ausbildungsplätze bereitzustellen, wird eine derartige Abgabe,
({15})
wie immer sie dann heißt und aussieht, nicht zu vermeiden sein.
({16})
Schließlich kann den Steuerzahlern nicht dauerhaft zugemutet werden, für die Versäumnisse der Wirtschaft
aufkommen zu müssen.
Herr Kollege, Sie
müssen leider zum Schluß kommen. Wir befinden uns in
der Aktuellen Stunde.
Ich bin sofort fertig.
Ich betone noch einmal: Wir wollen keine Ausbildungsplatzabgabe, aber die Wirtschaft muß ihrer Verantwortung gerecht werden. Da offensichtlich ist, daß es
im nächsten Jahr ohne ein Sofortprogramm wieder einen
Mangel an Ausbildungsplätzen gäbe, werden wir unser
erfolgreiches Sofortprogramm im nächsten Jahr fortsetzen. Dies schulden wir einfach der jungen Generation.
Danke.
({0})
So kann man die
Präsidentin auch austricksen.
Das Wort hat der Kollege Hans Forster, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Thema beherrscht
unsere Arbeit in den Wahlkreisen: die Arbeitslosigkeit,
die verzweifelte, oft vergebliche Suche junger Menschen
nach Ausbildungsplätzen. Über 200 000 Anrufe bei der
Hotline der Bundesanstalt für Arbeit sind ein eindeutiger
Beleg für das außerordentliche Interesse an Ausbildungsplätzen und für die großen Probleme, einen solchen zu finden.
Das Sofortprogramm der Bundesregierung gegen
Jugendarbeitslosigkeit zeigt: Wir finden uns nicht damit
ab, daß in Deutschland Hunderttausende von jungen
Menschen schon zu Beginn ihres Berufslebens aufs Abstellgleis geschoben werden.
({0})
Die Arbeitsämter ziehen durchweg positive Bilanzen.
Allein das in meinem Wahlkreis ansässige Arbeitsamt
Emden hat 511 bislang unversorgten Jugendlichen Ausbildungsplätze und Qualifizierungschancen gegeben.
Viele Teilnehmer von JUMP waren vorher nicht einmal
beim Arbeitsamt registriert, weil sie schon jede Hoffnung aufgegeben hatten. Die Zusage der Bundesregierung, das Sofortprogramm auch im kommenden Jahr
wieder aufzulegen, wird vor Ort von den arbeitslosen
Jugendlichen, ihren Familien und den Fachleuten der
Arbeitsämter ausdrücklich begrüßt.
({1})
Es gibt auch im nächsten Jahr einen dringenden Bedarf.
Ich möchte einen weiteren positiven Aspekt hervorheben: Die Vorgaben des Sofortprogramms haben zu einer engen Vernetzung von Arbeitsamt, Maßnahmenträgern und Jugendsozialhilfe geführt. Das ermöglicht eine
intensive und individuelle Unterstützung der Jugendlichen. Das Sofortprogramm eröffnet darüber hinaus vielen ausländischen Jugendlichen in Deutschland zusätzliche Integrationschancen.
Junge Ausländer, besonders Mädchen, haben - selbst
mit guten Noten - große Probleme, eine Lehrstelle zu
finden.
({2})
Ausländische Jugendliche sind überproportional häufig
ohne Berufsabschluß. Blieben gemäß dem letzten Berufsbildungsbericht 8,1 Prozent der deutschen Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, waren es
bei den ausländischen Jugendlichen 32,7 Prozent.
Auch diesen Menschen gibt das Sofortprogramm
neue Perspektiven. 24 400 ausländische Jugendliche
wurden bisher erreicht. Das sind 13 Prozent der Maßnahmenteilnehmer. Damit bietet das Sofortprogramm
für ausländische Jugendliche eine Integrationschance,
die über die Möglichkeiten des dualen Ausbildungssystems hinausgeht.
({3})
Die breite Palette von Maßnahmen, die im Sofortprogramm angeboten werden, und die Möglichkeit, Maßnahmen zu verbinden, zum Beispiel Trainingsmaßnahmen und eine anschließende außerbetriebliche Ausbildung, gerade das kommt den ausländischen Jugendlichen zugute.
Einen innovativen Aspekt sehe ich in Art. 11 des Sofortprogramms: Er schafft die Handhabe, junge Menschen anzusprechen, die durch die bisherige Praxis nicht
erreicht wurden. Diese Jugendlichen werden durch die
Einrichtung von niedrigschwelligen und sogenannten
aufsuchenden Maßnahmen einbezogen. Viele konnten
so motiviert werden, Qualifikationsangebote anzunehmen. Es geht uns darum, allen Jugendlichen einen Ausbildungsabschluß zu ermöglichen. Nur so kann soziale
Ausgrenzung verhindert werden.
Nichts von alledem ist in den Verlautbarungen der
Vertreter der CDU/CSU und der Arbeitgeberverbände
zu finden. Die alten Regierungsparteien haben tatenlos
zugesehen, wie der Verdrängungswettbewerb um Ausbildungsstellen immer härter wurde. Die Jugendlichen
mit Haupt- oder Sonderschulabschluß oder Jugendliche
ohne Schulabschluß drohten in diesem Wettbewerb als
Verlierer auf der Strecke zu bleiben. Diese jungen Menschen gewannen den Eindruck, daß man sie nicht
braucht. Viele von ihnen hatten nach etlichen vergeblichen Anläufen die Suche nach einer Lehrstelle resigniert
aufgegeben. Allen Fakten zum Trotz bestreitet die Opposition die Notwendigkeit, diesen Jugendlichen eine
aktive Unterstützung auf dem Weg in die Arbeitsgesellschaft zu geben.
({4})
- Wie gesagt, wir sehen das anders.
Mit dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit hat die Bundesregierung ein klares Zeichen gesetzt.
Der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hat für uns allerhöchste Priorität. JUMP hat dazu beigetragen, daß in unserer Gesellschaft ein neues Bewußtsein entstanden ist.
Es wäre unverantwortlich, das Projekt zu stoppen bzw.
es nicht weiterzuführen.
({5})
Eine qualifizierte Ausbildung ist die wichtigste Investition gegen Jugendarbeitslosigkeit und für die Zukunft
der jungen Menschen. Wir werden unser erfolgreiches
Programm fortsetzen.
Vielen Dank.
({6})
Herr Kollege Forster,
dies war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dieses Hauses möchte ich Ihnen dazu gratulieren
({0})
und Ihnen als Präsidentin ein Kompliment aussprechen:
Sie haben Ihre Redezeit nicht voll ausgenutzt.
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der
Kollege Heinz Schmitt, ebenfalls SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in dieser Aktuellen Stunde sehr viel über das Sofortprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit gehört. Es steht fest - ich sage es
hier noch einmal abschließend -: Das Programm JUMP
ist ein voller Erfolg, vor allen Dingen für die jungen
Menschen in diesem Lande.
({0})
Ihre Kritik widerspricht allen Erfahrungen, die meine
Fraktionskolleginnen und -kollegen und ich in den Arbeitsämtern vor Ort gesammelt haben.
({1})
Sie sollten einmal mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Arbeitsämtern reden. Reden Sie doch
einmal mit den Fachleuten! Sie müssen sich mit eigenen
Augen davon überzeugen, mit welch hoher Motivation
dort gearbeitet wird, mit welchem Engagement das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt wurde.
({2})
Die Arbeitsämter haben nämlich endlich die benötigten
Instrumente in der Hand, um mehr Jugendlichen eine
echte Chance für eine ordentliche Berufsausbildung zu
bieten.
({3})
Natürlich muß das Programm JUMP in einzelnen
Punkten auf seine Wirksamkeit und auf mögliche Verbesserungen hin überprüft werden; das ist selbstverständlich.
Kommen wir aber einmal zur Kritik der Arbeitgeber.
Wenn ich die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit
zugrunde lege, resultiert das Mehrangebot von 25 000
Lehrstellen zum 30. September dieses Jahres in erster
Linie aus dem Sofortprogramm der Bundesregierung. Im
Augenblick sehe ich noch nichts von den zugesagten
16 000 Lehrstellen, deren Schaffung die Arbeitgeber im
„Bündnis für Arbeit und Ausbildung“ versprochen haben. Wie es aussieht, haben wir hier das alte Problem:
Noch immer bilden zuwenig Betriebe aus, um dem tatsächlichen Bedarf an Lehrstellen gerecht zu werden. Da
ist und bleibt die Arbeitgeberseite in der Bringschuld. Es
bleiben aber noch einige Wochen, um diese Bilanz zu
verbessern.
Wenn Sie von der CDU/CSU kritisieren - das war
heute mehrfach zu hören -, zuwenig Jugendliche hätten
nach Teilnahme an einer Maßnahme tatsächlich einen
Arbeits- oder einen Ausbildungsplatz besetzt, dann unterschlagen Sie die Vielschichtigkeit dieses Sofortprogramms.
({4})
Sehr viele Jugendliche haben in den letzten Monaten
an berufsvorbereitenden Trainingsmaßnahmen teilgenommen. Die Arbeitgeber haben sich doch immer beklagt, daß es den Ausbildungsplatzsuchenden teilweise
an der grundlegenden Qualifikation für eine Lehrstelle
fehle. Deshalb gibt es diese Trainingsmaßnahmen. Daß
nicht alle Jugendlichen, die an einer solchen Ausbildungs- oder Berufsvorbereitung teilgenommen haben,
direkt eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz vermittelt
bekommen, ist doch klar. Wir sorgen aber mit diesen
Maßnahmen dafür, daß diese Jugendlichen in Zukunft
bessere Chancen bei der Vermittlung eines Ausbildungsoder Arbeitsplatzes haben.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, diese Anstrengungen kann man nicht pauschal als
überflüssig oder gar als Mißerfolg abtun; das ist nur Polemik. Auch die Arbeitgeberverbände sollten sich angesichts dieser Fakten etwas zurückhalten, was ihre Kritik
am Sofortprogramm angeht.
({5})
Wenn der Vorsitzende der größten Oppositionspartei
in einem Interview davon spricht, daß das Geld, das wir
für die Jugendlichen ausgeben, verschwendet sei, ist das
schon ein starkes Stück.
({6})
Die Probleme jugendlicher Arbeitsloser scheinen demnach nicht vorrangige Sorge von Herrn Schäuble und
seiner Partei zu sein.
Für unsere Regierung jedenfalls ist es lohnenswert,
auch in Zukunft um jeden Ausbildungsplatz zu kämpfen.
Wir werden dies weiterhin tun. Ich bin sicher, daß die
Jugendlichen spüren, daß u n s ihr Schicksal nicht
gleichgültig ist.
({7})
Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen Sie es einfach zur Kenntnis: Das Sofortprogramm
der Bundesregierung ist ein großer Erfolg. Wir werden
dieses Programm fortsetzen. Den Arbeitgebern lege ich
sehr nahe: Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die Ausbildung noch ein wenig ernster! Dann, aber nur dann
können wir in Zukunft auf Programme wie JUMP verzichten.
({8})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit
- Drucksache 14/1831 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär im
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Gerd
Andres.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit 1996 ist
das Altersteilzeitgesetz in Kraft.
({0})
Die Bundesregierung will dieses bewährte Instrument
nun ausbauen und weiterentwickeln. Unser Grundgedanke dabei ist: Altersteilzeit muß gefördert werden,
damit möglichst viele Arbeitslose eine neue Chance erhalten, und Hemmnisse, die bei der Altersteilzeit noch
bestehen, müssen abgebaut werden. Dann werden noch
mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als bisher
Altersteilzeit nutzen.
Bei der Weiterentwicklung der Altersteilzeit wollen
wir die bisherigen Erfahrungen mit diesem Instrument
aufgreifen. Ursprünglicher Geburtshelfer der Altersteilzeit war ja die Idee, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen gleitenden Übergang vom Arbeitsleben
in den Ruhestand zu ermöglichen und gleichzeitig die
freigewordenen Stellen jeweils mit einem Arbeitslosen
wiederzubesetzen. An dieser Idee wollen wir weiter
festhalten. Allerdings haben uns die Partner im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“
klargemacht, daß es derzeit noch rechtliche Hemmnisse
gibt, die dazu führen, daß Altersteilzeit noch nicht im
gewünschten Ausmaß angenommen wird. Dies ist der
Ansatzpunkt für unser Gesetz.
Dabei gelten weiterhin zwei Voraussetzungen: Erstens dürfen unsere sozialen Sicherungssysteme finanziell nicht über Gebühr belastet werden. Zweitens kann es
eine Förderung auch in Zukunft nur dann geben, wenn
durch Altersteilzeit neue Beschäftigung geschaffen wird.
Altersteilzeit hat nur dann einen Sinn, wenn Arbeitslosen eine Beschäftigungsperspektive eröffnet wird.
Darüber sind wir uns mit den Sozialpartnern einig. Beim
letzten Spitzengespräch innerhalb des „Bündnisses für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ im Juli
dieses Jahres sind wir in diesen Punkten zu konkreten
Ergebnissen gekommen. Bundesregierung, Arbeitgeber
und Gewerkschaften haben gemeinsam beschlossen, die
Altersteilzeit auf der Basis dieser Grundvoraussetzungen
weiterzuentwickeln.
Eine kurze Zwischenbemerkung an den Abgeordneten Niebel: Einen Tagesordnungspunkt weiter müssen
Sie sich wieder mit einem Ergebnis des „Bündnisses für
Arbeit“ auseinandersetzen. Schauen Sie sich Ihre Rede
aus der Aktuellen Stunde noch einmal an; vielleicht
müssen Sie da noch etwas korrigieren.
Ein wichtiger Punkt des neuen Gesetzes ist es, daß
wir den Anwendungsbereich der Altersteilzeit auf Teilzeitbeschäftigte erweitern. Auch sie können künftig
vorzeitig in den Ruhestand gleiten. Damit reagieren wir
auf die Wünsche von vielen Teilzeitbeschäftigten, die in
ihrer Mehrzahl noch immer Frauen sind. Wir berücksichtigen all jene, die das Instrument der Altersteilzeit
bisher nicht nutzen konnten. Nach unserer Vorstellung
sollen Teilzeitbeschäftigte genauso wie Vollzeitbeschäftigte ihre bisherige Arbeitszeit halbieren. Allerdings dürfen sie nicht nur geringfügig beschäftigt, sondern müssen auch nach der Verminderung ihrer Arbeitszeit voll versicherungspflichtig sein. Damit werden Teilzeitbeschäftigte Vollzeitbeschäftigten gleichgestellt. Das
Potential derjenigen, die früher aus dem Erwerbsleben
ausscheiden können, wird größer. Zugleich fördern wir
damit den Anreiz, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
einzustellen. Diese Neuregelung entspricht gerade den
Wünschen von vielen teilzeitbeschäftigten älteren Frauen, die zur Zeit noch nicht von der Altersteilzeit profitieren können.
Heinz Schmitt ({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
zu einem weiteren wichtigen Punkt unseres Gesetzes.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vereinfachen wir
das geltende Recht. Insbesondere erleichtern wir die
Wiederbesetzung einer Stelle. Darauf kommt es
schließlich an. Die Wiederbesetzung ist nämlich die
wichtigste Voraussetzung, um Altersteilzeit durch das
Arbeitsamt zu fördern. Bisher gibt es kein Problem bei
der Förderung, wenn ein Arbeitsloser oder ein neu Ausgebildeter unmittelbar für den ausscheidenden Beschäftigten eingestellt wird. Allerdings ist dieser Fall in der
Praxis eher selten. Deshalb müssen bisher umfangreiche
Wiederbesetzungsketten nachgewiesen werden. Das ist
für die Betriebe mit einem erheblichen Aufwand verbunden.
Diesen Nachweis bei Wiederbesetzung wollen wir
nun erleichtern, zumindest innerhalb eines Unternehmens. So müssen in Zukunft nicht mehr alle Glieder
einer Kette nachgewiesen werden, die bei der Umsetzung zwischen den in Altersteilzeit gehenden Mitarbeitern und den neu eingestellten Mitarbeitern eine Rolle
spielen. Künftig genügt es, wenn für einen Mitarbeiter,
der in Altersteilzeit geht, ein anderer Mitarbeiter in dessen Aufgabenbereich nachrückt. Allerdings muß im selben Funktionsbereich des Unternehmens, also zum Beispiel in der Produktion oder im Vertrieb, ein neuer Mitarbeiter eingestellt werden. Diese Erleichterung ist ohne
Gesetzesänderung möglich und hilft allen Unternehmen.
({2})
Für kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 50
Arbeitnehmern bauen wir die Bürokratie noch weiter ab.
Für diese Betriebe gilt in aller Regel, daß sie beim Ausscheiden eines Mitarbeiters in Altersteilzeit ersatzweise
einen Arbeitslosen einstellen. Der Nachweis der Wiederbesetzung wird hier vom Gesetzgeber einfach unterstellt. Wir fördern diese Unternehmen außerdem auch
dann, wenn sie für einen Nutzer von Altersteilzeit einen
Auszubildenden einstellen. Diese Regelung galt bisher
nur für Unternehmen mit bis zu 20 Arbeitnehmern.
Es gibt darüber hinaus noch andere Verbesserungen
und Vereinfachungen. So werden die Verfahren, um
Altersteilzeit zu beantragen und genehmigen zu lassen,
wesentlich erleichtert. Das beseitigt unnötigen Verwaltungsaufwand und schafft Planungssicherheit bei der
Anwendung des Rechts.
({3})
Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir der weiteren
Entwicklung der Altersteilzeit einen wichtigen Impuls
geben. Schon jetzt ist die Altersteilzeit ein fester Baustein der Personalpolitik in den Unternehmen. Das beweisen nicht zuletzt die bereits existierenden über
300 Tarifverträge zur Altersteilzeit in fast sämtlichen
Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung.
Wir haben ein sehr massives Interesse daran, daß dieses Instrument künftig mehr genutzt wird. Wir wünschen uns, daß nach den gesetzlichen Verbesserungen
und Erleichterungen die Tarifvertragsparteien von diesem Instrument noch mehr Gebrauch machen. Natürlich
lassen sich zur Zeit keine seriösen Prognosen erstellen,
inwieweit Altersteilzeit zukünftig von den Beschäftigten
als attraktiv empfunden wird. Dies ist auch eine Frage
der materiellen Ausgestaltung. Hier sind nicht zuletzt
die Tarifpartner gefordert, den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern Angebote zu machen.
Sicher ist allerdings, daß wir mit dem Gesetzentwurf
die Ausgangsbedingungen erheblich verbessern, unter
denen Altersteilzeit in höherem Maße als bisher genutzt
werden kann. Deshalb gibt es Grund zur Zuversicht, daß
das verbesserte Gesetz in der Praxis angenommen wird.
Daher hoffe ich, daß unser Gesetzentwurf in diesem
Hause eine breite Zustimmung erfährt. Wir befinden uns
in der ersten Lesung und werden in den Ausschußberatungen die einzelnen Regelungen ausführlich erörtern
und diskutieren.
({4})
Es ist daher nicht notwendig, daß ich jetzt noch länger
über die Altersteilzeit spreche.
Ich bitte also herzlich um Unterstützung. Dieser vernünftige Gesetzentwurf sollte eine breite parlamentarische Mehrheit finden.
({5})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hans-Peter Friedrich.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes ist - der
Staatssekretär hat dies ausgeführt - die Verbreiterung
der Anwendungsmöglichkeiten aus dem sogenannten
Altersteilzeitgesetz. Wenn man dieses Gesetz von 1996
für einen richtigen Politikansatz hält, dann macht es
durchaus Sinn, beispielsweise die Teilzeitbeschäftigung
einzubeziehen. Ich betone allerdings die Einschränkung:
wenn man dieses Gesetz für einen richtigen Politikansatz hält.
({0})
- Liebe Frau Kollegin Dückert, ich möchte darum bitten, daß wir darüber ernsthaft diskutieren.
({1})
Die Zielrichtung war - der Staatssekretär hat es dargestellt -, einen gleitenden Übergang in den Ruhestand
aus dem Erwerbsleben heraus zu ermöglichen. Ich halte
das für ein wichtiges und richtiges Ziel, vor allem für
Menschen, die schon lange im Arbeitsprozeß sind und
die es beim Älterwerden einfach verdient haben, daß sie
um einige Arbeitsstunden entlastet werden.
Das zweite Ziel war, aus arbeitsmarktpolitischen
Gründen ältere Arbeitnehmer durch jüngere zu ersetzen.
Über dieses Ziel kann und muß man meines Erachtens
diskutieren.
Drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes stellen wir
allerdings fest, daß beide Ziele eigentlich nicht erreicht
worden sind. Das Gesetz ist überwiegend von der
Großindustrie genutzt worden, die ältere Arbeitnehmer,
anstatt sie in den Unternehmen zu qualifizieren und entsprechend ihren Erfahrungen einzusetzen, mit von der
Gemeinschaft finanzierten Instrumenten abgeschoben
hat. In einem Großunternehmen läßt sich - Stichwort:
Wiederbesetzungskette - nicht genau nachvollziehen,
wo welcher jüngere Arbeitnehmer tatsächlich als Ersatz
für einen älteren eingestellt worden ist. Es gibt genügend
Möglichkeiten, das entsprechend hinzubiegen. Die Altersteilzeit ist also als willkommene Möglichkeit genutzt
worden, Ältere auf Kosten der Allgemeinheit abzuschieben. Wenn man dies für richtig hält, dann macht es natürlich Sinn, wenn man jetzt auch dem Mittelstand diese
Mitnahmemöglichkeiten stärker eröffnet.
Das zweite Ziel, nämlich das des gleitenden Übergangs in den Ruhestand, ist nicht erreicht worden, weil
- darauf deutet alles hin - überwiegend die verblockte
Variante gewählt worden ist, das heißt, die Menschen
zweieinhalb Jahre früher in Rente gegangen sind, als es
eigentlich vorgesehen war. Darin liegen im Grunde zwei
falsche Signale, die das Gesetz aussendet. Das ist einmal
das falsche Signal, daß man Arbeitnehmer mit 55 Jahren
zum alten Eisen erklärt, und zwar unabhängig davon,
welche Beschäftigung sie ausüben. Man braucht sich
eigentlich nicht zu wundern, wenn dann umgekehrt bei
den Arbeitgebern die Vorstellung aufkommt, man
bräuchte jemanden, der Ende Vierzig ist, nicht mehr zu
qualifizieren, weil er wenige Jahre später, nämlich mit
55 Jahren, ohnehin zum sozialrechtlichen Auslaufmodell
erklärt wird.
Wir werfen vielen Personalchefs in den Unternehmen
vor, sie hätten älteren Arbeitnehmern gegenüber eine zu
negative Grundeinstellung; dieser Vorwurf ist immer
wieder zu hören. Ich denke, daß die Sozialpolitik auf
Grund dieser Wertungen daran nicht ganz unschuldig
ist.
Es wird der Eindruck erweckt, daß es sich nicht mehr
lohnt, in diese Arbeitnehmer zu investieren. Umgekehrt
wird bei den Arbeitnehmern die Einstellung gefördert,
es sei völlig normal, zweieinhalb Jahre früher in Rente
zu gehen, und die Sozialgemeinschaft könne sich das
auch leisten.
({2})
Ich denke daher, daß wir eine Diskussion über eine neue
Philosophie führen müssen, die sich schlicht an den
Grundrechenarten orientiert.
({3})
Unser Problem ist, daß das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsbeziehern immer dramatischer
wird. Immer weniger Beitragszahler - sei es in der Gesundheitspolitik, sei es in der Rentenpolitik oder bei der
Arbeitslosenversicherung - müssen immer mehr Leistungsbezieher finanzieren. Dieser Entwicklung kann
man nicht dadurch begegnen, daß man ältere Beitragszahler gegen jüngere auswechselt; denn selbst wenn dies
funktionieren würde, wäre es nur ein Nullsummenspiel.
Man hätte nicht mehr Beitragszahler und nicht weniger
Leute, die nicht beschäftigt sind.
Vielmehr kommt es darauf an, die Zahl der Beitragszahler zu erhöhen. Im Klartext heißt das: Die rotgrüne
Bundesregierung kann sich um die Aufgabe, für mehr
Wachstum, mehr Investitionen und damit für mehr Arbeitsplätze zu sorgen, nicht durch einen Austausch von
Arbeitnehmern herummogeln, sondern sie muß die Investitionsbedingungen verbessern.
({4})
Die Schröder-Uhr in der „Wirtschaftswoche“ zeigt wenn Sie die Erkenntnis brauchen, sollten Sie da nachschauen -,
({5})
daß die rotgrüne Regierung dabei völlig versagt hat.
Im übrigen geht auch die Rente mit 60 in die gleiche
falsche Grundrichtung, wie sie die Gewerkschaften mit
der Idee der Arbeitszeitverkürzung verfolgen. Das Umverteilen von Arbeit bringt schon deswegen nichts, weil
wir in Deutschland eine strukturelle Arbeitslosigkeit
haben. Wenn Sie einen guten Facharbeiter frühzeitig
nach Hause schicken, dann brauchen Sie als Ersatz wieder einen guten Facharbeiter. Leider ist es so, daß wir in
vielen Branchen und Betrieben schon heute einen Mangel an solchen Fachkräften haben.
Wenn Sie Sozialbeitragsstabilität haben wollen, dann
gibt es nur zwei Möglichkeiten: Leistungsreduzierung
oder mehr Beitragszahler. Das ist die einfache Grundwahrheit. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern kann nur durch neue Arbeitsplätze
und dadurch verbessert werden, daß man den Beitragszahlern ehrlich sagt, daß in Zukunft eine längere statt
einer kürzeren Lebensarbeitszeit erforderlich ist, jedenfalls bei denen, die weniger als 45 Beitragsjahre aufzuweisen haben.
Noch wichtiger und angesichts der auf uns zukommenden längeren Lebensarbeitszeiten das richtige Ziel
ist es - das habe ich am Anfang gesagt -, einem Arbeitnehmer, der 55 oder 60 Jahre alt ist, zu ermöglichen, daß
er vielleicht ein oder zwei Stunden am Tag weniger arbeitet. Denn dem, der 40 Jahre lang in der Mühle malocht hat, muß man einfach die Möglichkeit geben,
vielleicht nur noch sechs Stunden am Tag oder nur vier
Tage in der Woche zu arbeiten. Der physische und psychische Druck in unserer Arbeitswelt ist in den letzten
Jahren in unglaublicher Weise gewachsen. Hauptgrund
dafür ist übrigens die falsche Tarifpolitik, die durch Arbeitszeitverkürzung die Arbeit teurer gemacht und die
den Produktivitäts- und Leistungsdruck permanent zu
Lasten der Menschen erhöht hat.
({6})
Eine echte Altersteilzeit wird möglich, sinnvoll und
finanzierbar, Herr Gilges, wenn die Arbeitnehmer in
jungen Jahren eine Mehrarbeit erbringen, die sie dann
im Alter zur Absenkung der Stundenbelastung nutzen
können. Ich denke, diesen Ansatz sollte man diskutieren.
So hat etwa der Zentralverband des Deutschen Handwerks vorgeschlagen, eine sogenannte Vorsorgearbeit
in Form von Mehrarbeit zu leisten und den Gegenwert
der angesammelten Mehrarbeit in Pensionsfonds oder in
andere Formen der betrieblichen Altersvorsorge zu investieren. Aus diesen Mitteln kann dann später die Stundenverkürzung finanziert werden.
Natürlich weiß ich, daß das eine Lösung für junge
Leute ist, die heute 25 Jahre alt sind, aber nicht für diejenigen, die heute 55 Jahre alt sind, denn diese können
nicht die Uhr zurückdrehen und die entsprechende
Mehrarbeit erbringen. Deswegen muß man darüber diskutieren, wie man eine stundenweise Arbeitsentlastung
der älteren Menschen über Beiträge, über Beteiligung
der Arbeitgeber oder auch über eine Eigenbeteiligung
der Betroffenen finanzieren kann. Ich würde mir wirklich wünschen, daß die Tarifpartner mutiger an diese Sache herangehen. Vielleicht ist dies durchaus eine Möglichkeit für Gewerkschaften, mit solch modernem Denken auch wieder junge Leute für die Gewerkschaftsarbeit zu interessieren.
Lassen Sie mich zum Gesetzentwurf zurückkommen.
Ich denke - der Herr Staatssekretär hat das auch richtig
gesagt -, daß in diesen Gesetzentwurf vieles aufgenommen worden ist, was an Problemen und Verkomplizierungen beklagt worden ist. Insofern liegt in diesem Gesetzentwurf durchaus eine gut gemeinte Fortentwicklung. Ich will nicht schon in der ersten Lesung sagen:
Wir lehnen diesen Gesetzentwurf von vornherein ab.
Aber wir sollten dann, wenn wir diesen Gesetzentwurf
in den Ausschüssen diskutieren, die Chance nutzen, über
eine neue Grundphilosophie in dieser Frage nachzudenken. Wir brauchen eine Neuorientierung der Politik im
Hinblick auf ältere Arbeitnehmer. Wir brauchen dies
auch deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
weil es gesamtwirtschaftlich falsch ist, auf die Kenntnisse und Erfahrungen von langjährigen Mitarbeitern zu
verzichten, nur weil sie gerade nicht das neueste Computerprogramm kennen.
({7})
Ich fordere Sie deswegen auf, den falschen Weg einer
Umverteilung der Arbeit nicht länger zu beschreiten. Ich
weiß, daß dies nicht populär ist, aber ich denke, das ist
ehrlich und fair auch gegenüber einer jungen Generation, die am Schluß alles bezahlen muß.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Dr.
Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Friedrich, ich muß gleich damit beginnen, Ihnen noch einmal zu sagen, daß einer der falschen Wege,
nämlich die extensive Ausdehnung des Vorruhestandes,
ganz klar auf Ihr Konto geht.
({0})
Wenn wir hier wirklich eine offene Debatte führen wollen, dann sagen Sie das doch dazu.
Meine Damen und Herren, wir haben hier einen Vorschlag des Bündnisses für Arbeit vorgelegt bekommen,
der zwei Veränderungen des gültigen Altersteilzeitgesetzes beinhaltet. Es geht um zwei wichtige zentrale
Punkte. Der erste Punkt ist, daß nun auch Teilzeitbeschäftigte in die Altersteilzeit gehen können. Die Regelung wird für Teilzeitbeschäftigte geöffnet. Der zweite
Punkt ist die Lockerung der Wiederbesetzungskette, gerade für kleine und mittlere Unternehmen.
({1})
Die Öffnung der Altersteilzeit für Teilzeitbeschäftigte ist besonders für Frauen ein außerordentlich wichtiger
Punkt.
({2})
Gerade Frauen, die bei der bisherigen Regelung ausgeschlossen waren - übrigens auch bei vielen anderen Regelungen ausgeschlossen sind, beispielsweise den Vorruhestandsregelungen -, weil sie vornehmlich in Teilzeit
arbeiten, können jetzt in den Genuß der Altersteilzeit
kommen. Wir dürfen dabei nicht übersehen, daß für
Frauen sicherlich auch weiterhin eine besondere Problematik darin liegt, daß ihr Nettolohneinkommen im
Durchschnitt unter dem Nettolohneinkommen der Männer liegt. Da auch dieses Modell mit geringen Lohneinbußen verbunden sein muß, stellt es für Frauen noch
immer eine größere Barriere dar. Trotzdem glaube ich,
daß wir es erreichen können, daß auch Frauen in Altersteilzeit gehen können.
Der zweite Punkt war die Lockerung der Wiederbesetzungskette. Es besteht das Ziel, durch Verwaltungsvereinfachung, quasi durch Entschlackung, zu erreichen,
daß das Gesetz in kleinen und mittleren Betrieben besser
aufgenommen wird. Wir werden die Wirkung in der
Praxis abwarten müssen. Wir werden abwarten müssen,
ob die Wiederbesetzung durch diese Lockerung tatsächlich sichergestellt werden kann. Alle Anzeichen, besonders die Rückmeldungen aus den kleinen und mittleren
Betrieben, lassen erwarten, daß dies möglich sein wird.
Wir werden die Reaktionen jedoch erst ruhig auswerten
müssen.
Im ganzen ist das Altersteilzeitgesetz - das wird sogar von der Opposition bemerkt - von der Intention und
der Idee her ein vernünftiges Gesetz, weil es älteren
Menschen die Möglichkeit gibt, sich in den letzten Jahren des Erwerbslebens durch Arbeitszeitverkürzung Erleichterung zu verschaffen. Das ist ein sehr humaner
Ansatz. Er ist aber auch beschäftigungspolitisch sinnDr. Hans-Peter Friedrich
voll, jedenfalls dann, wenn die Wiederbesetzung sichergestellt wird und wenn wir Wege finden, die tatsächliche
Intention der Altersteilzeit, nämlich eine echte Altersteilzeit durchzusetzen, umzusetzen.
({3})
Ich werde später noch einmal darauf zurückkommen.
Die wichtige Idee ist, daß hier Ansätze für neue
Möglichkeiten gegeben sind, eine lebensphasenübergreifende Gesamtkonzeption der Arbeitszeitgestaltung sicherzustellen. Diese brauchen wir, und Altersteilzeit
kann dafür ein Element sein. Wir können es zu diesem
Zweck auch weiterentwickeln.
Das Ziel ist die Integration in den Arbeitsmarkt und
nicht das Aussteuern von Älteren. Die Älteren sollen
die Möglichkeit haben, länger im Betrieb zu bleiben.
Deswegen wird es nötig sein - darauf spielte ich gerade
an -, die echte Altersteilzeit und nicht die Blockbildung voranzubringen, und zwar auch deshalb, weil
wir auf Dauer dahin kommen müssen, die extensive
Ausnutzung des Vorruhestandes zurückzudrängen, zu
welcher die Blockbildung in der Altersteilzeit ein Baustein war.
Die Tatsache, daß heute in den westdeutschen Ländern das durchschnittliche Renteneintrittsalter für Männer bei 57 Jahren liegt, ist langfristig hochproblematisch,
zum einen für die Rentenkassen - das ist völlig klar -,
zum anderen, aber auch für den Arbeitsmarkt, und zwar
deshalb, weil wir auf Grund von demographischen Entwicklungen zukünftig mit größeren Qualifikationsproblemen zu tun haben werden, wenn die Älteren so früh
aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Deswegen wird es
notwendig sein, mittelfristig den Vorruhestand abzubauen.
({4})
Es ist notwendig, vernünftige gleitende Maßnahmen
- die Altersteilzeit ist ein solches gleitendes Modell - zu
finden, um eine Kultur der Altersarbeit zu entwickeln
und nicht eine Kultur des frühzeitigen Aussteuerns.
Dieser Umstieg muß an Strategien des lebenslangen
Lernens, an Strategien der betriebsnahen Arbeitsmarktpolitik, also an verbesserten Möglichkeiten zur echten
Altersteilzeit, und an flexiblen Modellen der Umverteilung der Arbeit über den gesamten Erwerbszyklus gekoppelt sein. Das sind entscheidende Elemente für eine
Arbeitsmarktpolitik, die auf Integration setzt. Dänemark hat uns dafür schon vernünftige Wege aufgezeigt;
dort werden beispielsweise für Ältere ab 45 gerade in
kleinen und mittleren Betrieben besondere Förderungen
für Qualifikation und Fortbildung zur Verfügung gestellt.
Meine Damen und Herren, das bedeutet, daß wir die
Perspektive verändern müssen. Wir müssen auf Integration und nicht auf vorzeitigen Ruhestand setzen, und
zwar auch deshalb, weil im nächsten Jahrtausend das
alte Modell der Vollzeiterwerbstätigkeit nicht mehr zum
Tragen kommen wird. Das, was bislang ohnehin mehr
für Männer galt, wird zunehmend durch im Laufe der
Lebenszeit mehrfach unterbrochene Erwerbsphasen ersetzt werden. Deswegen müssen wir uns ganz im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Friedrich, vorgetragen
haben,
({5})
mit einer Umverteilung von Arbeitszeit, die dann sehr
unterschiedliche Elemente aufweisen wird, auseinandersetzen. Die Altersteilzeit ist eines dieser Elemente.
Ich habe gestern hier einen anderen Vorschlag unterbreitet und angeregt, auch im „Bündnis für Arbeit“ darüber nachzudenken, dann, wenn Tariffonds gegründet
werden, diese für alle aufzumachen, beispielsweise auch
für Modelle des Job-sharing, damit wir die Reduzierung
von Arbeitszeit unterstützen können, sofern neue Arbeitnehmer nachrücken. Modelle, in denen bei der
Wahl von Teilzeitarbeit das adäquate Nachrücken von
neuen Arbeitnehmern öffentlich gefördert wird, wären
ein Schritt hin zu einer neuen Arbeitsmarktpolitik, die
übrigens im Metallbezirk Hannover schon praktiziert
wird.
Die Altersteilzeit können wir in eine vergleichbare
Richtung weiterentwickeln. Diese Debatte müssen wir
langfristig führen. Die Altersteilzeit kann ein Einstieg in
neue Wege der Arbeitsmarktpolitik sein. Die heutige
Praxis - ich sprach es eben schon einmal an - entspricht
an manchen Stellen nicht der Intention der Altersteilzeit,
weil in den Betrieben immer mehr Blockbildungen stattgefunden haben und die Altersteilzeit letzten Endes zu
einer Form des Ausstiegs aus dem Erwerbsleben mit 57
geführt hat.
({6})
Deswegen plädieren wir für eine durchaus variable
Modellierung. Dabei wäre zu überprüfen, ob nicht für
eine Übergangszeit von fünf Jahren echte Altersteilzeit
stärker als Blockbildung gefördert werden kann, um zu
erreichen, daß die Altersteilzeit gerade in mittleren und
kleineren Betrieben in der Funktion unterstützt wird,
einen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu Wege
zu bringen.
Der zweite Anknüpfungspunkt für eine Zukunftsdebatte über Altersteilzeit ist für uns, daß die einschlägigen
Regelungen für Jüngere geöffnet werden sollten. Würde
man die Altersgrenze von 55 abschaffen, wäre es nach
meiner Vorstellung durchaus möglich, ein Teilzeitarbeitsmodell allen Generationen zu eröffnen. Würde die
Teilzeitarbeit an die jetzigen Regelungen des Altersteilzeitgesetzes sowie an verschärfte Wiederbesetzungsbedingungen gebunden, könnte dies dazu führen, daß Modelle einer über alle Generationen verteilten variablen
Arbeitszeit unterstützt werden. Diesen Weg müssen wir
in Zukunft wählen, da diese Modelle einen hohen Refinanzierungsgrad haben werden und auf die Integration
der Erwerbslosen, nicht aber auf die Ausgliederung der
älteren Arbeitnehmer setzen.
Meine Damen und Herren, der Einstieg zur Suche
nach neuen Lösungen ist gerade im „Bündnis für Arbeit“ sehr gut möglich. Wir sollten uns die Erfahrungen,
die wir in der Vergangenheit gemacht haben, sehr genau
anschauen, um zukunftsfähige Modelle im Bereich einer
flexiblen Arbeitszeitgestaltung zu finden.
Schönen Dank.
({7})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand hier im Haus
würde, so glaube ich, behaupten, Altersteilzeit an sich
sei eine schlechte Sache. Der Gedanke ist ja auch ganz
reizvoll, hat seinen Charme: Ältere Arbeitnehmer arbeiten etwas weniger, damit jüngere einen Einstieg
in das Berufsleben erhalten und nicht dem Arbeitsamt
und damit der Solidargemeinschaft auf der Tasche liegen.
({0})
So weit, so gut! Diesen Ansatz jetzt weiterzuentwickeln
scheint entsprechend durchaus löblich und ist sicherlich
auch gut gemeint. Doch es zeigt sich, daß „gut gemeint“
auch hier das Gegenteil von gut ist. Es ist wie beim Beton - Sie kennen das aus der Werbung -: Es kommt darauf an, was man daraus macht.
In der Vergangenheit hat sich gezeigt, Staatssekretär
Andres - die Kollegin Dückert hat das mit ihren durchaus kritischen Anmerkungen ja auch eingeräumt -, daß
von diesen Regelungen in nicht unerheblichem Maße
eben nicht arbeitslose junge Menschen profitiert haben,
sondern die Unternehmen, insbesondere Großunternehmen, ihre internen Strukturprobleme zu Lasten der Bundesanstalt für Arbeit gelöst haben.
({1})
Ich nehme hier ein Mitglied der Bundesregierung
zum Kronzeugen. Herr Minister Müller hat unlängst im
Fernsehen erklärt: Bezogen auf alle Frühverrentungen
- dazu gehört die Altersteilzeit ja wohl - sei das Verhältnis 7:1, das heißt, auf sieben vorzeitig in den Ruhestand entlassene Arbeitnehmer kommt eine Neueinstellung. Angesichts dessen stellt sich in der Tat die Frage
nach der Effizienz.
Ich kann mir - ich sage dies, weil Sie hier so stolz
waren auf die Ergebnisse des „Bündnisses für Arbeit“ den Konsens im „Bündnis für Arbeit“, in dem der Mittelstand ja nur am Rande eine Rolle spielt, sehr gut plastisch vorstellen. Für mich steht jedenfalls fest: Von dem
hier vorgelegten Gesetzentwurf zur Fortentwicklung der
Altersteilzeit wird der Mittelstand - wie auch bisher bei
der Altersteilzeit - allenfalls am Rande profitieren. Profitieren werden erneut die großen Unternehmen, die mit
ihren großen Personalabteilungen in der Lage sind, dieses bürokratische Gesetz zu handhaben. Für den Handwerksmeister mit seinen fünf oder zehn Beschäftigten,
der mit Bürokratie ohnehin genug um die Ohren hat, ist
das nämlich schlichtweg nicht durchschaubar. Daher
wird er niemanden aus seinem Unternehmen in die Altersteilzeit schicken.
({2})
- Das heißt ganz konkret, Frau Kollegin Rennebach, daß
durch die komplexen Regelungen der Altersteilzeit die
kleinen Unternehmen - und damit die meisten Arbeitnehmer in Deutschland - ausgeschlossen sind. Sie wissen ja hoffentlich noch - ich habe es in diesem Hause
jedenfalls oft genug gesagt -, daß der Mittelstand, also
mittelständisches Handwerk, freie Berufe, Dienstleistungen, kleinflächiger Einzelhandel, das Gros der Arbeitsplätze in Deutschland stellt.
({3})
- Das ist ja das Problem, Herr Kollege Niebel. Die im
Mittelstand beschäftigten Arbeitnehmer dürfen dann zu
allem Überfluß über ihre Sozialversicherungsbeiträge
und Steuern auch noch die Umstrukturierung der Großunternehmen durch Altersteilzeit bezahlen.
({4})
Wir in der Politik neigen dazu, manchmal ein bißchen
zu theoretisch zu diskutieren.
({5})
Deswegen ist, so glaube ich, wichtig: Selbst wenn all
dies zu überwinden wäre, besteht für den Handwerker
immer noch das Problem, daß er den neu einzustellenden qualifizierten jungen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt nicht findet. Es ist eben ein Unterschied, ob
Daimler oder Ford jemanden für das Band einstellen
wollen oder ob es um eine qualifizierte handwerkliche
Tätigkeit in einem kleinen mittelständischen Unternehmen geht.
Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Die
grundsätzliche Idee, die hinter der Altersteilzeit steht, ist
gut. Deswegen haben wir diese Möglichkeit vor drei
Jahren eröffnet. Wir müssen die Regelung jetzt kritisch
hinterfragen. Das müssen wir bei der Überarbeitung leisten. Den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf - die Umsetzung, die Sie hier präsentieren - halte ich für verfehlt.
Ich kann nur noch einmal sagen: Wenn Ihnen daran
liegt, daß die Beschäftigten in kleinen und mittleren
Unternehmen in Altersteilzeit gehen, dann müssen Sie gerne mit uns gemeinsam - die Gesetze so machen, daß
sie die Chefs dieser Unternehmen auch handhaben können. Sie müssen von der Vorstellung herunterkommen
- ich werde sie manchmal nicht los, auch bei Ihren Vorträgen, Herr Staatssekretär Andres -, daß alle Arbeitnehmer tätig sind in Unternehmen mit 10 000 Beschäftigten, mit einem freigestellten europäischen Betriebsrat, mit allen Möglichkeiten der Mitbestimmung und
einem Verbindungsbüro der IG Metall direkt neben der
Kantine. Nicht alle Arbeitnehmer arbeiten in Wolfsburg.
({6})
Die Realität in den arbeitsplatzschaffenden mittelständischen Unternehmen ist viel einfacher, persönlicher,
kleiner und überschaubarer, als Sie sich das vielleicht
vorstellen.
({7})
Nebenbei: Die Tatsache, daß Sie vorsehen, die Wiederbesetzung des durch die Altersteilzeit frei werdenden
Arbeitsplatzes in der Regel nicht mehr mit der Nachweispflicht zu belegen, ist zugegebenermaßen eine Verwaltungsvereinfachung; sie öffnet aber auch dem Mißbrauch die Türe. Hier gibt es zweifellos - das muß man
sehen - ein Dilemma. Das sollten wir bei unseren weiteren Beratungen im Auge behalten.
Dann ist da noch die sicher gutgemeinte Neuregelung, nach der auch die Teilzeitbeschäftigten in den Genuß der Altersteilzeit kommen sollen - eine Altersteilteilzeit gewissermaßen. Auch das wird im Mittelstand
nicht wirken. Es wird noch viel weniger wirken als die
bisherige Regelung. Daimler-Chrysler kann vielleicht
eine Viertelstelle oder eine Sechstelstelle - auch das ist
theoretisch denkbar - noch produktiv einsetzen. Aber
der Fliesenleger Schulze - oder soll ich sagen: der Fliesenleger Gilges? - hätte damit sicherlich Probleme. Für
ihn macht das keinen Sinn mehr, sofern er angesichts
der Bürokratie überhaupt mit dem Gesetz zurechtkommt.
({8})
Das heißt für mich: Auch damit wird der Mittelstand benachteiligt; auch damit werden große Unternehmen
bevorzugt - immer unter der Prämisse, daß derjenige, der in Altersteilzeit geht, noch produktiv im Betrieb tätig sein will und tätig sein kann und das Ganze
nicht am Ende doch nur eine Art vorgezogener Ruhestand ist.
Meine Damen und Herren, um es zusammenzufassen: Mit dem Entwurf in der jetzt vorliegenden Fassung
kann ich mich nicht anfreunden. Er ist zu bürokratisch. Er benachteiligt den Mittelstand und die Beschäftigten im Mittelstand. Er bevorzugt die großen Unternehmen.
Frau Kollegin Rennebach, wir sind zur konstruktiven
Beratung bereit. Wir werden im Ausschuß konkret sehen
können, ob wir uns - mit den Erfahrungen der bisherigen Regelung und dem Ziel, das Sie verfolgen, vor
Augen - auf einen gemeinsamen Nenner einigen können. Derzeit ist unsere Stellungnahme jedenfalls kritisch
und eher ablehnend.
Vielen Dank.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Reinhard Göhner,
CDU/CSU, das Wort.
({0})
Kollege Kolb,
Sie haben die alte Vorruhestandsregelung, die wir als
Koalition seinerzeit gemeinsam beschlossen haben und
wegen der Fehlentwicklungen wieder außer Kraft gesetzt haben, zu Recht kritisch beleuchtet.
({0})
- Sie waren auch nicht gegen diese Regelung. Nun lassen Sie das einmal!
({1})
Ich wollte allerdings darauf hinweisen, daß die von
Ihnen zu Recht in Erinnerung gebrachte geringe Wiedereinstellungsquote von 1 : 7 für diese alte Vorruhestandsregelung in der Tat galt, aber nicht für die von
CDU/CSU und F.D.P. gemeinsam, Herr Kollege Kolb,
eingeführte Altersteilzeitregelung. Geförderte Altersteilzeit, also die Altersteilzeit, die allein sich finanziell zu
Lasten der Versichertengemeinschaft auswirken kann,
hat eine Wiederbesetzungsquote von 1 : 1, weil eine
Förderung durch die Solidargemeinschaft nur bei Wiedereinstellung stattfindet. Deshalb rechnet Sie sich für
die Solidargemeinschaft. Ich meine deshalb nach wie
vor, daß die von uns eingeführte Altersteilzeit richtig
war.
Wie ist es nun mit diesem Gesetzentwurf? Sie haben
völlig zu Recht den kritischen Punkt der Handhabbarkeit
für den Mittelstand angesprochen. Diese ist - das muß
man einräumen - bei dem noch bestehenden Altersteilzeitgesetz für kleinere Betriebe schwierig. Aber deshalb
will dieser Gesetzentwurf Erleichterungen bringen. Ich
bitte Sie, einfach noch einmal zu überdenken, ob dieser
Vorschlag, der gerade in diesem Punkt sehr stark auf
den Zentralverband des Deutschen Handwerks zurückgeht, der natürlich vor allem mittelständische Betriebe
berücksichtigt, mit den hier vorgesehenen Erleichterungen für Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten nicht
insoweit einen Konstruktionsfehler beseitigt, den - das
muß man kritisch einräumen - wir selbst bei der Verabschiedung des Gesetzes damals begangen haben.
Ich möchte Sie deshalb dazu veranlassen, noch einmal zu überprüfen, ob nicht gerade die von Ihnen genannten Gesichtspunkte - die Möglichkeit, bei der Wiedereinstellung für einen in das flexible Ausscheiden
überwechselnden Arbeitnehmer auch einen Auszubildenden zu berücksichtigen, und die Entlastung im
Nachweisverfahren - für die mittelständischen Betriebe
ein Anlaß sein könnte, diesem Gesetzentwurf etwas
positiver entgegenzutreten. Nicht alles, was diese Bundesregierung macht, ist schlecht - dies für meine Begriffe jedenfalls nicht.
({2})
Zur Erwiderung,
Herr Kollege Dr. Kolb.
Herr Kollege Göhner,
ich habe nur eine Äußerung des Wirtschaftsministers,
Herrn Müller, von vor wenigen Tagen wiedergegeben.
Ich weiß nicht, ob er nicht zur Differenzierung fähig
war. Er hat in der Fernsehsendung jedenfalls nicht zwischen alten und neuen Regelungen unterschieden. Er hat
auf Grund seiner Berufspraxis festgestellt, daß die Quote
bei 1 zu 7 liege. Wenn der Bundeswirtschaftsminister so
etwas behauptet, dann muß ich es erst einmal hinnehmen
und zur Diskussion stellen.
Wir haben - ich bin durchaus bereit, das zuzugeben versucht, die Regelung zu verbessern und wasserdichter
zu machen. Sie fordern: Die Quote muß heute bei 1 zu 1
liegen. Ich erwidere Ihnen: Ja, formal stimmt das. Aber
wir alle wissen, Papier ist geduldig, und die Personalabteilungen großer Unternehmen sind leistungsfähig.
Aber man sollte die kritische Frage stellen dürfen, wie
es konkret aussieht, bevor man in Beratungen über Veränderungen des Gesetzes eintritt.
({0})
- Herr Kollege Ströbele, ich weiß nicht, wieviel Phantasie Sie haben. Aber das Leben ist voller Überraschungen.
Ich möchte nur dem Eindruck entgegentreten, den der
Kollege Göhner mit seiner sicherlich gutgemeinten
Kurzintervention erweckt hat, nämlich es gebe überhaupt keine Probleme. Die Realität sieht ein bißchen anders aus. Vielleicht liegt die Quote irgendwo zwischen
1 zu 1 und 1 zu 7. Reden wir einfach darüber! Schauen
wir uns das Ganze kritisch an! Versuchen wir, gemeinsam eine neue und bessere Lösung zu finden!
({1})
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat jetzt die Kollegin Monika Balt.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In dem vorliegenden Gesetzentwurf sind die bisherigen Erfahrungen mit der Altersteilzeit eingeflossen. Es bietet sich an, zu diesen Erfahrungen resümierend etwas zu sagen. Durch das Altersteilzeitgesetz von 1996 wurde die bis dahin geltende
Praxis der Frühverrentung abgelöst. Dies hatte die PDS
begrüßt. Aber man muß auch deutlich darauf hinweisen:
Das bis dato geltende Altersteilzeitgesetz hat sich als ein
sehr großer Flop erwiesen. Bis Ende August 1999 wurden nur 35 186 Anträge auf Altersteilzeit gestellt, von
denen 29 433 bewilligt wurden. Selbst dann, wenn man
die 40 900 zusätzlichen Anträge auf Vorentscheidungen
mitrechnet, bleibt die Bilanz mehr als mau.
Die CDU-geführte Bundesregierung erwartete durch
die Förderung der Altersteilzeit und die sich anschließende Rente ab 1998 gut 150 000 Beschäftigte in Altersteilzeit. Davon kann bei weitem nicht die Rede sein.
Sie ging ferner davon aus, daß für rund 60 000 Menschen Arbeitslosigkeit vermieden werden kann. Auch
dieses Ziel ist nicht erreicht worden.
Neben dem Bundeswirtschaftsminister bestätigte
auch Franz Ruland, daß nur jeder siebte freiwerdende
Arbeitsplatz wieder besetzt worden ist. Zwar ist die Altersteilzeit bis Ende August 1999 in mehr als 300 Tarifverträgen verankert gewesen, in deren Geltungsbereich
immerhin rund 12,5 Millionen Menschen fallen. Aber es
gibt augenscheinlich dringenden Handlungsbedarf; denn
das bisherige Altersteilzeitgesetz ist offenkundig ungeeignet, die Arbeit in nennenswerten Größenordnungen
anders zu verteilen und Arbeitslosen eine Chance auf
einen Job zu verschaffen.
({0})
Angaben darüber, wie viele Menschen zusätzlich die
sich durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Altersteilzeit bietende Möglichkeit wahrnehmen werden
und wie hoch die Zahl derer voraussichtlich sein wird,
die dadurch wieder einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bekommen, werden erst gar nicht gemacht. Viele
der vorgeschlagenen Neuregelungen sind Verbesserungen und werden vermutlich dazu beitragen, daß das Gesetz mehr genutzt wird. Außerdem sind einige Vereinfachungen und Präzisierungen, die die Durchführung erleichtern, vorgesehen.
So weit, so gut. Aber es gibt einen dicken Pferdefuß
im Gesetzentwurf. Wenn es künftig kleinen und mittelständischen Unternehmen mit bis zu 50 Arbeitnehmern
ermöglicht wird, Fördergelder auch dann zu erhalten,
wenn sie für einen in Altersteilzeit gegangenen Beschäftigten einen Auszubildenden ohne die Garantie
der Weiterbeschäftigung nach der Ausbildung einstellen, dann heißt das, daß nicht notwendigerweise ein Arbeitsplatz geschaffen wird.
Das ist schlecht, denn ohne Berufserfahrung nach der
Ausbildung wird es für die Betroffenen schwer, in angemessener Zeit eine Beschäftigung zu finden, und ohne
Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung, zum Beispiel auf Arbeitslosengeld, ist die Gefahr, in die ergänzende Sozialhilfe zu rutschen, sehr groß. Deshalb muß
die Bedingung im Gesetz verankert werden, daß nur die
Unternehmen die Förderung erhalten, die die entsprechenden Auszubildenden nach ihrer Ausbildung mindestens ein Jahr weiterbeschäftigen.
({1})
Nach den bisherigen Erfahrungen werden aber auch
die Verbesserungen der Altersteilzeit nicht in nennenswertem Umfang dafür sorgen, daß Ältere in den wohlverdienten Ruhestand gehen und dafür jüngere Arbeitslose einen Arbeitsplatz erhalten.
Die Rente mit 60 scheint ein neuerlicher Versuch,
die Arbeitslosen zu verstecken. Die Folge wird eine Zunahme der auf den Löhnen lastenden Abgaben sein, die
den Faktor Arbeit verteuert und die Zahl der Arbeitsplätze verringert. Das angestrebte Tariffondsmodell ist
ein übler Taschenspielertrick, mit dem zum anderen die
Jungen zweifach hinters Licht geführt werden. Das Ganze ist eine verkappte Beitragserhöhung und begründet
zudem keinen Leistungsanspruch der Beitragszahler. Für
eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ist es
politisch mehr als verantwortungslos, zehntausende,
wenn nicht gar hunderttausende Arbeitsplätze einfach
„wegzuriestern“.
Notwendig wäre, daß die Finanzierung der Rente mit
60 nicht zu Lasten der Lohnzuwächse bei den abhängig
Beschäftigten geht und daß sie die Kaufkraft von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht beschneidet. Zudem ist es aber auch nicht hinnehmbar, wenn
viele erhöhte Beiträge dafür bezahlen, daß nur einige in
den Genuß dieser Regelung kommen. Von daher ergibt
eine Beschränkung auf nur fünf Jahre überhaupt keinen
Sinn.
Die meisten Frauen hätten von einer solchen Regelung auch nicht viel. Wegen der Erziehungsjahre und
familiärer Pflichten haben sie oft weniger Beitragsjahre
und würden leer ausgehen. Nein, die Rente mit 60 muß
schon für alle Frauen und alle Männer möglich sein, die
das wollen, und zwar ohne Abschläge.
({2})
Wer mit dem sogenannten Sparpaket die Rentenversicherung allein durch die niedrigen Beiträge für Arbeitslose um 4,5 Milliarden DM bringt und nicht bereit
ist, Besserverdienende und Bestverdienende wie uns
Abgeordnete, Minister, Freiberufler, Beamte und Selbständige in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen, der sollte mit dem Ruf, das sei nicht zu finanzieren, sehr vorsichtig sein.
({3})
In dem uns vorliegenden Gesetzentwurf zur Altersteilzeit werden weder die Entgeltzuschüsse erhöht
noch die daraus resultierenden Rentenabschläge vermindert.
Es wird immer deutlicher: Ohne Beteiligung und
Einbeziehung aller politischen Kräfte einschließlich der
PDS sowie der Sozialverbände ist diese Bundesregierung nicht imstande, die Probleme der Massenarbeitslosigkeit und der Rentenpolitik zu lösen.
- Danke.
({4})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, gestatten Sie mir, bevor ich der Kollegin
Rennebach das Wort erteile, eine Anmerkung.
Aus dem mir soeben zugeleiteten Stenographischen
Protokoll der vorangegangenen Aktuellen Stunde geht
hervor, daß der Kollege Dr. Peter Ramsauer gegenüber
der Kollegin Andrea Nahles einen tatsächlich unparlamentarischen Zuruf gemacht hat.
Ich weise den Ausdruck „Sie unverschämtes Ding“
entschieden zurück. Er entspricht nicht der Kultur des
politischen Umgangs, die wir eigentlich in unserem
Hohen Hause haben.
({0})
Ich erteile jetzt der Kollegin Renate Rennebach von
der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr
verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hatte während der Debatte doch einige
Zweifel. Der Kollege Staatssekretär Gerd Andres hat
sehr ausführlich die Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, und
der Regierung erklärt. Es war sehr einleuchtend. Danach
war mir überhaupt nicht mehr klar, wieso Herr Friedrich
plötzlich das Gesetz von 1996 nicht mehr für richtig
hält, obwohl es das Gesetz der CDU/CSU-F.D.P.Koalition war.
({0})
Er will sich jetzt plötzlich für die Verbesserung der Situation älterer Arbeitnehmer einsetzen. Das hätten wir
uns in diesem Hause 16 Jahre lang gewünscht.
Herr Kolb sagt: Was gut gemeint ist, hat irgend etwas
mit Beton zu tun. Darf ich Sie jetzt als Vertreter der
Betonfraktion bezeichnen? Ich finde das alles ganz
furchtbar.
({1})
Er bezeichnet einen Entwurf, der einen wirklich bürokratischen Entwurf ablöst, als bürokratisch. Er zitiert
einen Wirtschaftsminister, der den alten und nicht den
neuen Gesetzentwurf meint, und muß von einem Vertreter der CDU/CSU, einem Arbeitgeber, korrigiert werden. Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe diese Diskussion nicht mehr.
({2})
Ich möchte betonen: Wir reden über einen Gesetzentwurf, der im „Bündnis für Arbeit“ entstanden ist. Wir
reden über einen Entwurf zur Altersteilzeit. Auch Altersteilzeit hat nichts mit Frühverrentung zu tun, Herr
Kolb. Auch da war ich wieder irritiert.
({3})
- Sie wissen, von welchem Gesetz Herr Müller geredet
hat. - Es geht um eine notwendige Anpassung für den
gleitenden Übergang in den Ruhestand. Es geht um Arbeitsplätze, damit um die Zukunft von jungen Menschen
und im besonderen von Frauen. Es geht nicht zuletzt um
Verbesserungen eines Gesetzes, das in seinem jetzigen
Zustand enorme Probleme in der Praxis bereitet. Es ist
bürokratisch und unwirksam.
({4})
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Altersteilzeit ist
notwendig, weil er einem richtigen Grundsatz folgt und
- das ist entscheidend - die Bedingungen so verändert,
daß die Umsetzung sichtbare Vorteile für den Arbeitsmarkt, für Beschäftigte, für Betriebe und nicht zuletzt
für fertige Auszubildende bringen wird. Auch das ist ein
Problem, mit dem Sie jahrelang nichts anzufangen
wußten.
Erlauben Sie mir dazu eine kurze Vorbemerkung. Ich
möchte feststellen, daß sich Bundesregierung, GewerkMonika Balt
schaften und Arbeitgeber im „Bündnis für Arbeit“ in der
Frage der Altersteilzeit geeinigt haben. Das ist ein Erfolg. Deswegen betone ich es. Es handelt sich um einen
Erfolg, den Sie nicht wegdiskutieren können, verehrte
Damen und Herren von der Opposition. Da können Sie
reden, wie Sie möchten.
Es ist ein Erfolg, und zwar in doppelter Hinsicht: erstens weil sich die Tarifpartner mit der Regierung darauf
verständigt haben, die Regelung zur Altersteilzeit in
einem ersten Schritt zu verbessern; zweitens, weil Einigung darüber besteht, die Fragen nach weiteren Wegen
für den Übergang in den Ruhestand auch zukünftig im
Konsens zu lösen.
({5})
Hier liegt der offensichtliche Unterschied zur alten Bundesregierung, die - wir erinnern uns - das „Bündnis für
Arbeit“ platzen ließ.
({6})
Herr Kolb hat eine weitere Bemerkung gemacht. Er
meinte, das gelte alles nur für die Großunternehmen.
({7})
Warum haben wir den Kreis der betroffenen Betriebe bisher waren es bei Ihnen Betriebe mit 20 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, - auf Betriebe mit 50 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erweitert? Wir haben dies getan, um dem Mittelstand eine Chance zu geben, auch diese Regelung in Anspruch zu nehmen.
({8})
Auch die von uns auf den Weg gebrachten Enthemmnisse dienen nur dazu, dem Mittelstand zu helfen. Überlegen Sie in Zukunft doch bitte einmal, wovon Sie reden,
und diffamieren Sie nicht aufs Geratewohl!
({9})
Liebe Opposition, Sie sollten endlich einmal aufhören, Ihren eigenen Presseerklärungen zu glauben. In diesem Zusammenhang schließe ich mich den Worten meines Kollegen Gerd Andres an: Diesem Gesetzentwurf
kann man nur zustimmen. Ich hoffe auf fröhliche und
konstruktive Diskussionen in den Ausschüssen.
({10})
Letzter Redner in der
Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege
Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn
wir heute über Altersteilzeit reden, dann müssen wir uns
bewußt sein, daß dieser Bereich mit dem Thema „Rente
mit 60“ verbunden ist. Wir müssen dennoch eine differenzierte Bewertung vornehmen. Ich möchte meinen
heutigen Beitrag dazu nutzen, ein paar Fragen aufzuwerfen, die wir in der Ausschußberatung behandeln sollten.
Herr Staatssekretär, so viel Zeit, wie Sie gesagt haben,
ist ja nicht; denn es handelt sich wieder um ein Gesetz,
das relativ spät eingebracht wird und daher sehr zügig
durch den Ausschuß muß. Gestatten Sie mir also, daß
ich meinen heutigen Beitrag nutze, um ein paar Fragen
aufzuwerfen, die aus unserer Sicht gestellt werden müssen. Ich finde gut, daß auch Frau Dückert einen Teil dieser Probleme so sieht. Es ist vielleicht eine Möglichkeit,
parallel vorzugehen: den Gesetzentwurf im Ausschuß zu
beraten und die mit dem Gesetzentwurf mittelfristig verbundenen Fragen im Blick zu behalten.
Wir sprechen über die Schnittstellen zwischen Arbeitslosigkeit, Eintritt in das Erwerbsleben, für die die
draußen sind, und Ausscheiden aus dem Arbeitsleben
und Renteneintritt für die, die herausgehen, und wir
sprechen darüber, wie man dies möglichst so organisiert,
daß immer dann, wenn jemand ausscheidet, auch jemand
neu eintritt. Das ist eigentlich die klassische Version, die
wir erreichen wollen.
Wir debattieren das heute nicht unter dem Gesichtspunkt der Rente mit 60. Dazu will ich nicht mehr sagen,
als daß dies wirklich nicht finanzierbar ist. Da haben wir
unsere Erfahrungen mit anderen Modellen. Wir debattieren über die Fortentwicklung der Altersteilzeit. Wer
über Fortentwicklung und über das Gesetz debattiert,
das die jetzige Regierung einbringt, der muß auch feststellen, daß es in diesem Bereich schon etwas gibt, nämlich das Altersteilzeitgesetz von 1996. Ich sage auch
ganz deutlich - vielleicht erschrecken Sie sich dabei,
meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen
-: Idee und Gesetz über die Altersteilzeit sind Kinder
der Union. Wenn Sie es noch deutlicher haben wollen:
Der Vater dieser Idee ist Norbert Blüm.
({0})
Die CDU hat sich bereits in ihren Stuttgarter Leitsätzen von 1985 sehr stark für die Flexibilisierung ausgesprochen und konsequent gehandelt.
({1})
Wir haben das neue Arbeitszeitrecht des Jahres 1994
und damit eine flexible und individuelle Arbeitszeitgestaltung ermöglicht.
({2})
Ich weiß nicht mehr, wie Sie sich damals verhalten haben, kann es mir aber denken. - Die Tarifpartner entscheiden über die konkrete Ausgestaltung.
Wir haben aber auch Erfahrungen mit der Frühverrentung, mit den damit verbundenen hohen Kosten und
auch mit dem Ausnutzen solcher Möglichkeiten durch
Großunternehmen vor allem auf Kosten der Allgemeinheit gesammelt und haben daraus Konsequenzen gezogen. Auch 1996 hat es ein „Bündnis für Arbeit“ gegeben. Das ist auch nichts Neues.
({3})
- Nein, nein, Herr Gilges. Das wiederum lasse ich mir
nicht von Ihnen kaputtmachen.
({4})
Dieses „Bündnis für Arbeit“ hat genau diesen Bereich
mit der Förderung des gleitenden Übergangs in den Ruhestand vereinbart, und wir haben das im August 1996
umgesetzt. Das Gesetz ist auch von uns weiterentwickelt
und verbessert worden, und zwar zuletzt 1998 durch das
Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen. Hierdurch wurde die Anwendung
des Altersteilzeitgesetzes erleichtert und dessen Anwendungsbereich zeitlich gestreckt.
Meine Damen und Herren, wenn wir einmal Bilanz
ziehen, was bisher passiert ist, so können wir auf der
Grundlage des von der CDU-geführten Bundesregierung
geschaffenen Altersteilzeitgesetzes festhalten: Das Modell der Altersteilzeit wird von den Tarifparteien gut
angenommen. Das belegen mehr als 330 Tarifverträge,
die mittlerweile den gleitenden Ausstieg aus dem Arbeitsleben regeln. Ich will das einmal festhalten; das ist
eine schwierige Diskussion; lassen Sie uns doch einmal
differenzieren - ({5})
- Ich komme gleich zu Ihnen, damit Sie diese Fragen
auch noch mitbekommen.
Mit dem Erfolg des Modells steigen allerdings auch
die Kosten der Bundesanstalt für Arbeit. Ich will ein
paar Zahlen, die mir bekannt sind, nennen. - Im Ausschuß müssen wir auch einmal darüber reden, ein paar
Zahlen genannt zu bekommen. ({6})
- Ich weiß, es ist schwierig, aber das fordern wir ein. Sie
wollen ja auch eine gewisse Zustimmung erhalten. Deshalb muß man über diese Dinge offen und ehrlich miteinander reden.
In der ersten Jahreshälfte 1999 gab es 85 Millionen
DM Zuschüsse.
({7})
Inzwischen habe ich eine neue Quelle. Darin heißt es,
bis August 1999 seien es 130 Millionen DM gewesen.
({8})
- Deshalb will ich ja auch an die Quelle heran, die es
wissen muß, und bitte die Bundesregierung darum, diese
Quellen freizugeben, damit wir im Ausschuß wirklich
einmal darüber diskutieren können. - Im Jahre 1997 waren es nur 16 Millionen DM.
Wie viele Personen diese Maßnahmen letztlich in
Anspruch nehmen können, ist offen. Ich bin nicht so
keck zu sagen, dies seien die 1,5 Millionen, bei denen
wir über Rente mit 60 reden; in der Theorie schon, aber
in der Praxis wird dies nicht der Fall sein. Es liegt also
nahe, meine Damen und Herren, bei diesem Ansatz und
bei diesem Ergebnis darüber nachzudenken - das tun Sie
ja mit dem heutigen Gesetzentwurf -, ob man das, was
wir als Basis geschaffen haben, was Norbert Blüm eingeführt hat, fortentwickeln kann. Wir müssen damit die
Frage verbinden, ob man nicht parallel auch Bereiche
sehen muß, die möglicherweise aus dem Blick geraten,
wenn wir uns nur darauf konzentrieren, wie wir den
Ausgleich zwischen denen, denen wir es ermöglichen, in
Rente zu kommen, und denen, die neue Arbeitsplätze
besetzen, also denen, die draußen stehen, schaffen. Wir
müssen auch stärker den Blick für die Frage öffnen, wie
es mittel- und langfristig hinsichtlich der älteren Arbeitslosen sein wird, ob wir es uns auf Dauer erlauben können, immer nur den Weg und die Brücke in die Verrentung zu sehen, oder ob wir uns nicht zumindest parallel
auch Gedanken über eine stärkere Integration älterer
Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt machen müssen.
({9})
- Nein, das ist zu wenig. Wir müssen ein bißchen mehr
tun.
Meine Damen und Herren, wir möchten wirklich eine
genaue Kostenanalyse vornehmen. Nur die Fragen zu
stellen, wie das bisher gestiegen ist und wie sich das
weiterhin kostenmäßig entwickeln wird, ist zu wenig. In
der Gesetzesvorlage wird gesagt, daß die zu erwartende
verstärkte Nutzung von Altersteilzeit zu einem nicht
quantifizierbaren Mehraufwand führt. Daneben wird gesagt, daß es einen nicht quantifizierbaren Minderaufwand bei im Entwurf vorgesehenen Vereinfachungen
gibt. Darüber, daß das von den Größenordnungen her
möglicherweise etwas auseinanderläuft, müssen wir aber
noch reden.
Auch über die Frage - Herr Kolb hat sie angesprochen -, in welchem Umfang die Maßnahmen genutzt
werden und wer in den Genuß solcher Regelungen
kommt, müssen wir reden. Ich habe auch hier die Bitte
an die Bundesregierung, Zahlen darüber vorzulegen, wie
das bisher beim Mittelstand und den Großunternehmen
war. Welche Erwartungen vorhanden sind, wird ein entscheidender Aspekt der Beratungen sein, denn wir müssen zu mehr Gerechtigkeit zwischen großen, kleinen und
mittleren Unternehmen kommen.
Der Arbeitsmarkteffekt ist schon mehrfach angesprochen worden. Hier müssen wir fragen, ob er sichergestellt ist und ob Einstellungen von Arbeitslosen auch
in dem Umfang erfolgen, in dem ältere Arbeitnehmer in
Altersteilzeit gehen. Es gibt generelle Daten - das ist
auch von Wirtschaftsminister Müller erwähnt worden -,
die davon ausgehen, daß es ein Verhältnis von 7 : 1 gibt.
Für sieben ausscheidende ältere Arbeitnehmer erfolgt
lediglich eine Einstellung. Es gibt eine zweite Variante:
Im günstigsten Fall ist das Verhältnis 3 : 1.
Wenn diese Daten stimmen, heißt das, daß Arbeitsplätze abgebaut werden. Unser Ziel muß aber die 1 : 1Regelung sein, die wir in diesem Bereich sicherlich
durchsetzen können. Wir müssen uns nur darüber klar
sein: Selbst dann, wenn ein Verhältnis 1 : 1, - ein älterer
Arbeitnehmer scheidet aus, und ein Arbeitsloser steigt
ein - erreicht wird, schafft dieses Instrument keine neuen Arbeitsplätze. Das Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen, besteht trotzdem. Das kann daher nicht die einzige
Regelung bleiben.
({10})
Ich will einen letzten Punkt ansprechen, weil er in
den nächsten Jahren unsere Debatte entscheidend prägen
wird. Wir müssen grundsätzlich stärker darüber diskutieren und vielleicht auch der Frage mehr Beachtung
schenken, wie wir das Problem der Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer und der schwierigeren Vermittelbarkeit von älteren Arbeitslosen prinzipiell angehen werden. Lösen wir das Problem allein dadurch, daß wir
immer mehr Brücken und immer breitere Wege in die
Rente schaffen, oder führen wir zumindest eine offenere
und intensivere Diskussion darüber, wie ältere Arbeitslose in den nächsten Jahren in den Arbeitsmarkt integriert und dafür qualifiziert werden, wie sie wieder in
Arbeit gebracht werden bzw. von drohender Arbeitslosigkeit verschont werden können?
Ich erspare mir aus Zeitgründen, die Zahlen zu nennen. Denn es ist schon erklärbar, daß wir zur Zeit große
Probleme mit der Arbeitslosigkeit älterer Menschen haben. Betrachten Sie die Gruppen der 55- bis 65-jährigen
im Fünfjahresrhythmus, dann stellen Sie fest, daß sie im
Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit deutlich über dem
Durchschnitt liegen. Das ist ein Problem, das wir auf
Dauer nicht nur durch neue Wege in die Altersteilzeit
lösen dürfen. Statt dessen müssen wir wegen der demographischen Entwicklung darüber nachdenken, wie wir
ältere Arbeitnehmer mittelfristig stärker in den Arbeitsprozeß einbinden können; denn die Daten sagen uns
eindeutig, daß wir zukünftig immer mehr ältere und immer weniger jüngere Arbeitnehmer haben werden. Je
mehr berufserfahrene und qualifizierte Ältere wir ausscheiden lassen, um so mehr Probleme werden wir zu
einem gewissen Zeitpunkt bekommen, weil wir nicht
mehr genügend Menschen mit Erfahrung im Berufsleben haben. Das ist ein Punkt, über den man, so bitte ich,
wirklich nachdenken sollte. Wenn das auf der Basis erfolgt, daß das Instrument der Altersteilzeit in der gegenwärtigen Situation der hohen Arbeitslosigkeit gerade
von Älteren flexibilisiert und weiterentwickelt wird,
dann ist das ein gangbarer Weg. Ich habe aber die Bitte,
daß wir die anderen von mir aufgeworfenen Fragen dabei nicht vergessen.
Schönen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1831 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf:
7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Strafverfahren
({0})
- Drucksache 14/1714 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die einbringende Rede für die Fraktion der
CDU/CSU hält der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Ministerin, die CDU/CSU will dazu beitragen, der Regierung ein wenig Arbeit abzunehmen, damit
sie nicht, wie zum Teil in der Vergangenheit geschehen,
unausgegorene Gesetze durch die Ausschüsse und den
Bundestag peitschen muß.
({0})
Deswegen legen wir heute den Entwurf eines Gesetzes
zur Beschleunigung von Strafverfahren, eines Strafverfahrensbeschleunigungsgesetzes, vor, das sich weitgehend auf die Grundlage des Gesetzentwurfes des Bundesrates vom 1. März 1996 stützt, das seinerzeit schon
gut ausgearbeitet war und heute durch die Streichung einiger entbehrlicher Teile und einige wenige Ergänzungen noch verbessert wurde.
Wir folgen damit auch diesmal den Wünschen der
Länder, die auf der 70. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 7. bis 9. Juli 1999 im schönen Baden-Baden festgestellt haben, daß die Strafjustiz
bei stetig steigendem Geschäftsanfall ohne Möglichkeit
zur weiteren Personalvermehrung ihre Aufgaben künftig
nur wird bewältigen können, wenn sie durch gesetzgeberische Maßnahmen nachhaltig entlastet wird. Dies erfordert auch und vor allem eine Straffung des Strafverfahrens, die insbesondere durch die Reform der
Rechtsmittel in Strafsachen erzielt werden kann. Diese
Feststellung wurde mit dem Stimmenergebnis 16 : 0, das
heißt einstimmig, beschlossen.
Nun plant, wie wir erfahren haben, die Bundesregierung, verschiedene Gremien einzusetzen, um eine solche
Reform vorzubereiten. Dies ist eine unseres Erachtens
überflüssige Maßnahme, da dies nach der Vorarbeit
durch den Bundesrat, also die Länder, und ergänzt durch
die der Experten unserer Fraktion nicht mehr nötig zu
sein scheint. Wir laden die Bundesregierung und die Regierungsparteien zu einem fruchtbaren Dialog über den
vorliegenden Gesetzentwurf ein. Nichts ist so gut, daß es
nicht verbessert werden könnte; aber Arbeitskreise brauchen wir für diese Änderungen nicht mehr.
Ich will nicht auf Details eingehen, aber einige wesentliche Punkte ansprechen: Wir haben eine kleine Änderung im Strafgesetzbuch vorgeschlagen, indem die
Verurteilung eines Ausländers leichter durchgeführt
werden kann, wenn innerhalb angemessener Frist die
Auslieferung nicht beantragt worden ist.
Die etwas umständliche Fassung des § 25 StPO in
bezug auf die Ablehnung eines Richters haben wir kurz
und bündig gefaßt, damit durch diese Ablehnung keine
unnötigen Verzögerungen innerhalb eines langfristigen
Verfahrens eintreten. Ergänzt wird diese Vorschrift
durch eine kleine Änderung von § 26 StPO durch Vermehrung der richterlichen Entscheidungsbefugnis im
Hinblick auf die Ablehnung.
§ 59 StPO wird im Grunde genommen nur der Praxis
angepaßt, weil schon heute die Vereidigung nach der
Vernehmung die Ausnahme und nicht die Regel ist und
bei Unterlassen nun nicht mehr begründet werden muß.
Auch die Ergänzung, daß die Durchsuchung von Papieren des Betroffenen auf Weisung durch Hilfsbeamte der
Staatsanwaltschaft durchgeführt werden kann, ist lediglich eine Vereinfachung.
Bei der Frage der Verteidigerbestellung wird der
Staatsanwaltschaft eine bessere Stellung zugedacht.
Auch die Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153 und 154
StPO mit ihren Unterabteilungen, zum Beispiel Auslandsstraftaten, werden entsprechend den Vorschlägen
des Bundesrates und damit der Länder verbessert, um
Verfahren beschleunigt beenden zu können.
Um unnötige Wiederholungen von Hauptverhandlungen zu vermeiden, wurde die Unterbrechungsfrist verlängert und die Möglichkeit, eine Unterbrechung der
Hauptverhandlung bereits nach sechs Monaten - statt
nach zwölf Monaten - zu wiederholen, eingeräumt.
Ebenso soll eine Verzögerung durch Erkrankung des
Angeklagten bzw. einzelner Mitglieder des Gerichts
keine völlige Neuverhandlung erfordern.
Die Ablehnung eines Beweisantrages soll durch die
Einfügung „nach der freien Würdigung des Gerichts“
erleichtert werden, um eine Prozeßverschleppung zu
verhindern. Die Änderung des § 251 StPO, die ein erleichtertes Verlesen von Protokollen ermöglicht, dient
unter anderem dem Zeugenschutz.
Durch die Verlesung von polizeilichen Feststellungen, Gutachten und Sachverständigenausarbeitungen
werden die Strafverfolgungsbehörden nachhaltig entlastet und wird der Unsitte, zum Beispiel die den Unfall
aufnehmenden Polizeibeamten zu zweit zu laden und sie
damit einen halben oder gar ganzen Tag dem Dienst zu
entziehen, ein Ende bereitet. Davon ausgenommen sind
Vernehmungsprotokolle, soweit sie nicht bereits nach
anderen Vorschriften verlesungsfähig sind.
Die Berufungsmöglichkeiten sollen insoweit eingeschränkt werden: Die Annahmeberufung wird auf Verurteilungen bis zu 30 Tagessätzen - einschließlich Fahrverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis bis zu neun
Monaten - angehoben. Bei amtsgerichtlichen Verurteilungen soll das Wahlrechtsmittel eingeführt werden, das
heißt: entweder Berufung oder Revision. Im Bereich der
Annahmeberufung wird die Sprungrevision ausgeschlossen. Diese Einschränkung erscheint vertretbar und
könnte zu erheblichen Entlastungen führen.
Die Justiz soll weiterhin von erheblichem Formulierungs- und Schreibaufwand entlastet werden, soll möglichst in großem Umfang von der Abfassung von gekürzten Urteilen Gebrauch machen. Dazu dient auch,
daß das Ziel der Berufung angegeben wird und die Berufung begründet werden muß.
({1})
Auch die Beschränkung von Rechtsmitteln für den
Nebenkläger, außer im Fall des Freispruchs, erscheint
gerechtfertigt, Herr Ströbele, weil Strafmaß und Strafhöhe Sache des Staates sein sollen. Dabei wird von dem
Grundgedanken ausgegangen, daß der Nebenkläger im
ersten Verfahren genügend Möglichkeiten zur Einwirkung auf den Gang des Verfahrens hat.
Die Erstreckung der Möglichkeit des Strafbefehls auf
alle Gerichtszüge erscheint folgerichtig und zweckmäßig, da es gegebenenfalls auch in größeren Verfahren
sinnvoll erscheint, bei Mitangeklagten von diesem Verfahren Gebrauch zu machen.
Der Zusatz in § 418 Abs. 1 StPO „Zwischen dem
Eingang des Antrags bei Gericht und dem Beginn der
Hauptverhandlung sollen nicht mehr als sechs Wochen
liegen“ soll nachdrücklich den Willen des Gesetzgebers
deutlich machen, möglichst oft im beschleunigten Verfahren zu entscheiden und die Hauptverhandlung zügig
anzuberaumen.
Auch die Änderungen im Jugendgerichtsgesetz dienen der Beschleunigung, ohne auf die Besonderheiten
des Jugendgerichtsverfahrens zu verzichten. Folgerichtig
ist bei Einführung des § 59 Abs. 1 StPO der § 49 des Jugendgerichtsgesetzes überflüssig.
Um auch bei Jugendlichen das beschleunigte Verfahren durchführen zu können, ist es notwendig, den Jugendlichen bei Nichterscheinen vorführen zu lassen und
gegebenenfalls Haftbefehl anzuordnen. Richtigerweise
wird das vereinfachte Jugendverfahren im Gesetzentwurf auch auf Heranwachsende ausgedehnt, wenn noch
das Jugendstrafrecht Anwendung finden soll. Es ist auch
sinnvoll, ein gemeinsames Verfahren gegen Jugendliche
und Heranwachsende bei gleichem oder ähnlichem Tatvorwurf durchzuführen.
Bei allen Gesetzesvorschlägen ist berücksichtigt, daß
der Rechtsschutz des Angeklagten oder der Angeklagten
oder Beschuldigten ausreichend gegeben ist und die
Rechte der ordentlichen Verteidigung nicht eingeschränkt werden. Damit geben wir den Länderjustizverwaltungen die Möglichkeit an die Hand, die Verfahren
zu beschleunigen, was nicht nur im Interesse des
Rechtsstaates, sondern auch im Interesse der Beschuldigten, oder Angeklagten, aber auch der anderen Verfahrensbeteiligten, zum Beispiel der Zeugen und Gutachter,
liegt. Damit eröffnen wir die Möglichkeit einer deutlichen Arbeitsentlastung, die auch vom Kostenstandpunkt
her notwendig und zu begrüßen ist.
Meine Damen und Herren vom Rechtsausschuß, Frau
Ministerin, hoffentlich werden wir in fruchtbaren Berichterstattergesprächen zu einer schnellen Lösung und
Verabschiedung kommen und müssen nicht auf eine
große Reform warten.
Danke schön.
({2})
Nächster Redner für
die SPD-Fraktion ist der Kollege Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es mutet schon etwas merkwürdig an, wenn Sie, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, heute einen Gesetzentwurf aufgreifen, der
das Parlament bereits in der letzten Legislaturperiode
beschäftigt hat und der trotz Ihrer damaligen Koalitionsmehrheit im Bundestag nicht abschließend beraten
worden ist, geschweige denn beschlossen wurde. Da
dieser Gesetzentwurf neben manchem Erörterungswürdigen - dies sei eingeräumt - auch Eingriffe in ein
rechtsstaatliches Strafverfahren beinhaltet, die wir nicht
für sinnvoll und vertretbar halten, waren wir auch nicht
traurig darüber, daß der damalige Entwurf der Diskontinuität anheimfiel.
Es ist noch nicht einmal zwei Jahre her, daß gegen
wichtige Teile dieses Entwurfes in einer hochkompetenten Sachverständigenrunde des Rechtsausschusses
schwere Bedenken vorgebracht worden sind.
({0})
Wir halten es daher nicht gerade für sinnvoll, diesen
Entwurf, den Sie, nur geringfügig verändert, wieder einbringen, nochmals zur Grundlage intensiver Beratungen
zu machen.
Damit befinden wir uns im übrigen in Übereinstimmung mit einem im Juni gefaßten Beschluß der Justizministerkonferenz. Die Justizministerinnen und Justizminister haben sich darauf verständigt, zunächst keine
weiteren gesetzgeberischen Maßnahmen über den Bundesrat einzuleiten, sondern die Beratung der nach
gründlicher Vorbereitung von der Bundesregierung und
der Frau Justizministerin vorzulegenden Vorschläge entsprechend zu begleiten. Im Rahmen dieser Beratungen
können dann auch die Reformvorschläge mit eingebracht werden, die damals als sinnvoll und erörterungswürdig angesehen wurden. Dies gilt für manche formalen Erleichterungen und Entbürokratisierungsvorschläge, die im Entwurf des Bundesrates enthalten waren.
Das gilt in gleicher Weise für die vorgeschlagene Erweiterung der Einstellungsmöglichkeiten durch Gericht und Staatsanwaltschaften. Ich warne aber vor Illusionen: Bereits heute werden die bestehenden Einstellungsmöglichkeiten in der Praxis sinnvoll und auch recht
großzügig genutzt, so daß ich mir von weiteren Erleichterungen nur äußerst begrenzte zusätzliche Entlastungseffekte verspreche.
Sicherlich sind die bisherigen Regelungen zur Unterbrechung der Hauptverhandlung einer kritischen
Überprüfung mit dem Ziel zu unterziehen, handhabbarere Regelungen für die Praxis zu finden. Vernünftige
Unterbrechungsregelungen sind sicherlich von erheblicher praktischer Bedeutung für die Strafrechtspflege.
Wir sollten dabei aber nicht außer acht lassen, daß die
bisherigen - zugegebenermaßen recht strengen - Regelungen auch dem rechtsstaatlichen Prinzip der Konzentration des Verfahrens Rechnung tragen und dienen sollen.
Gegen die zentralen Vorschläge Ihres Gesetzentwurfes haben wir allerdings erhebliche Bedenken, gerade
auch aus rechtsstaatlicher Sicht. Dabei sollten wir uns
darüber einig sein, daß die Ausgestaltung des Strafverfahrensrechtes auch in seinen Details - denken wir zum
Beispiel an das Beweisantragsrecht oder das Rechtsmittelverfahren - von kaum zu überschätzender rechtsstaatlicher Relevanz ist. Deshalb sind wir gut beraten, wenn
wir alle Eingriffe in das gewachsene rechtsstaatliche
Strafverfahrensrecht nur mit größter Behutsamkeit vornehmen. Straf- und Strafverfahrensrecht vertragen es
nicht, ständig in Frage gestellt und geändert zu werden.
Ruhe und Kontinuität müssen gerade in hektischen Zeiten beim Herangehen an rechtsstaatlich gewachsenes
Straf- und Strafverfahrensrecht gewahrt werden.
({1})
Lassen Sie mich nunmehr einige meines Erachtens
recht bedenkliche Vorschläge aus Ihrem Entwurf aufgreifen, die auch schon in der erwähnten Sachverständigenanhörung von kompetenter Seite heftig kritisiert
worden sind.
Es spricht manches dafür, die Regelvereidigung im
Hauptverfahren abzuschaffen, zumal diese Regelung
mittlerweile ohnehin aus durchaus berechtigten Gründen
zur Ausnahme geworden ist. Auf keinen Fall darf aber
die Abschaffung der Regelvereidigung im Hauptverfahren mit einer Erweiterung der Vereidigungsmöglichkeiten im Vorverfahren einhergehen. Liest man dazu die
Begründung Ihres Gesetzentwurfes, wird man hellhörig.
Dort heißt es wörtlich:
Damit können künftig Zeugen im vorbereitenden
Verfahren häufiger vereidigt werden als in der
Hauptverhandlung. Dies ist jedoch vielfach im Interesse der Verfahrenssicherung geboten und gewährleistet zudem eine zügige und straffe Durchführung der Hauptverhandlung.
Wer in dieser fast militärischen Sprache von einer
Hauptverhandlung in einem Strafprozeß spricht, der hat
offensichtlich wenig Ahnung, worum es hierbei geht.
({2})
Sollen etwa die Zeugen im Vorverfahren möglichst
weitgehend durch Vereidigung festgelegt werden, damit
sie später in der Hauptverhandlung an ihre zuvor gemachte Aussage gebunden sind? Mit einer derartigen
Regelung, die letztlich zu einer erheblichen Entwertung
der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung führt,
können und werden wir uns keinesfalls einverstanden
erklären. Sie wären gut beraten, Ihren Vorschlag noch
einmal gründlich zu überdenken.
Schon nach der geltenden Rechtslage kann ein Beweisantrag dann abgelehnt werden, wenn er zum
Zwecke der Prozeßverschleppung gestellt wird. Die
Gerichte, die bisher bei der Anwendung dieser Vorschrift begreiflicherweise zurückhaltend sind, sollen
jetzt durch eine neue Formulierung, wonach die Prozeßverschleppungsabsicht nur - wie es heißt - „nach der
freien Würdigung des Gerichts“ vorliegen muß, ermuntert werden, doch öfter als bislang Beweisanträge der
Verteidigung abzulehnen. Nach meinen bisherigen Erfahrungen glaube ich nicht, daß diese von Ihnen gewollte Ermunterung funktionieren würde. Ich wehre
mich aber auch grundsätzlich gegen diese Absicht und
bitte Sie, doch folgendes zu bedenken: Das Beweisantragsrecht der Verteidigung hat den alleinigen Sinn, das
Gericht zu Beweiserhebungen zu veranlassen, die das
Gericht selbst nicht für sinnvoll, nicht für zielführend
und deshalb letztlich für prozeßverschleppend hält.
Denn: Hielte das Gericht die Beweiserhebung selbst für
sinnvoll, würde es nach dem Amtsermittlungsgrundsatz
diese Beweise schon selbst oder wenigstens auf Anregung der Verfahrensbeteiligten erheben. Das Beweisantragsrecht ist aber ein essentielles, wenn nicht gar das
wichtigste Verteidigungsrecht des Angeklagten und seines Verteidigers. Wir sollten es dem Angeklagten nur
dann absprechen, wenn eindeutig belegt ist, daß es nur
zum Zwecke der Prozeßverschleppung genutzt wird.
({3})
Ich habe auch große Zweifel, ob Strafprozesse dadurch beschleunigt werden können, daß man bewährte
Rechtsmittel abschafft. Wir alle wissen, daß es einer
rechtsstaatlichen Rechtspflege gut bekommt, wenn
möglichst alle Entscheidungen von Gerichten durch eine
weitere Instanz überprüft werden können. Aus meiner
eigenen Erfahrung weiß ich, daß der blaue Himmel über
erstinstanzlichen Entscheidungen die Qualität der
Rechtsfindung nicht gerade verbessert, sondern erhebliche Gefahren in sich trägt.
Wir sollten daher vorsichtig sein, wenn wir Rechtsmittel einschränken oder abschaffen. Dies gilt für alle
Strafsachen - egal, welche Strafe auch immer droht. Die
Verhängung einer Strafe, auch wenn sie gering ist, ist
niemals eine Bagatelle und wird von den Betroffenen
auch nicht als Bagatelle empfunden. Die weitaus größte
Zahl der Angeklagten kommt nur einmal im Leben unter
anderem wegen Alltagsverfehlungen, vor allem im Straßenverkehr, mit den Gerichten in Berührung. Oftmals
haben diese Verkehrsstrafverfahren, bei denen sehr häufig die Fahrerlaubnis auf dem Spiel steht, erhebliche
Auswirkungen auf den weiteren Lebens- und Berufsweg
der Betroffenen, auch wenn die Geldstrafen vergleichsweise niedrig sind. Wir sollten uns daher davor hüten,
den von diesen Verfahren Betroffenen nur ein rechtsstaatlich amputiertes Strafverfahren zur Verfügung zu
stellen.
Wir haben schon immer Bedenken gegen die bereits
im Bundesratsentwurf vorgesehenen erweiterten Anwendungsmöglichkeiten für das Strafbefehlsverfahren
vorgetragen, insbesondere auch außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Amtsgerichte. Es ist vorhersehbar,
daß insbesondere Beschuldigte im Bereich der Umwelt-,
Steuer- und sonstiger Wirtschaftskriminalität aus einer
erweiterten Anwendung des Strafbefehlsverfahrens ihren Nutzen ziehen würden. Die möglichen Verfahrensabsprachen werden vor allem Beschuldigte nutzen können, denen die entsprechenden Ressourcen und Mittel
zur Verfügung stehen. Der Gerechtigkeit im Strafverfahren wäre dies nicht gerade dienlich.
Der Entwurf schlägt außerdem eine Einschränkung
der Rechtsmittelbefugnis der Nebenkläger vor, die nur
noch im Falle des Freispruchs des Täters ein Rechtsmittel haben sollen. Auch dies halten wir nicht für richtig. Zu Recht haben wir alle inzwischen im Bereich des
Opferschutzes eine höhere Sensibilität als in früheren
Zeiten, in denen Opfer lediglich als Zeugen im Strafprozeß auszusagen hatten. Ich glaube, daß wir uns alle Fallkonstellationen vorstellen können, in denen Opfer von
Straftaten ein durchaus berechtigtes Interesse daran haben können, Rechtsmittel gegen ein Strafurteil einzulegen. Wir sollten diesem legitimen und berechtigten Interesse auch bei der Rechtsmittelbefugnis Rechnung tragen.
Lassen Sie mich als Fazit festhalten: Wir können an
diesem Gesetzentwurf nichts entdecken, was wir im
Vorgriff auf die zu erwartenden Vorschläge der Bundesregierung vorwegnehmen sollten. Verfahrensbeschleunigung durch Abbau von Verteidigungsrechten und
durch Einschränkung von Rechtsmitteln für ganz bestimmte Strafverfahren ist für uns kein sinnvoller und
richtiger Weg, das Strafverfahrensrecht rechtsstaatlich
vertretbar zu modernisieren. Wir müssen bei allen Reformmaßnahmen auch darauf achten, daß alle Verfahrensbeteiligten und insbesondere auch die einem Strafverfahren ausgesetzten Betroffenen ihre legitimen
Rechte tatsächlich ausüben können. Diesem Anliegen
werden Ihre Vorschläge ganz überwiegend nicht gerecht.
Herzlichen Dank.
({4})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Beschleunigung von Strafverfahren ist ein wichtiges Ziel in der Rechtspolitik, insbesondere deshalb, weil wir wissen, daß die Strafe eine
nachhaltige Wirkung auf den Täter und damit letztendlich auch eine bessere Wirkung auf die Opfer von Straftaten hat, wenn die Strafe der Tat sehr schnell folgt. Ein
Täter, der sehr schnell spürt, daß es eine Reaktion auf
seine Tat gibt, wird sehr viel intensiver darüber nachHermann Bachmeier
denken, ob er erneut Straftaten begeht, wodurch Menschen Opfer seiner Taten werden.
({0})
Wer geglaubt hat, daß die Vorschläge, über die wir
heute abend diskutieren, hilfreich sind, der wird bei einer fachlichen Prüfung feststellen, daß es eigentlich
wieder ein Herumdoktern ist, also etwas, was wir überhaupt nicht brauchen;
({1})
was wir brauchen, ist eine Reform aus einem Guß, wenn
wir wirklich zu Verbesserungen kommen wollen.
Trotz dieser kritischen Bemerkungen will ich andeuten, daß wir uns in dem einen oder anderen Bereich
durchaus Änderungen vorstellen können. Das ist zum
Teil bereits angesprochen worden. So gibt es in der
Strafprozeßordnung immer noch die Verpflichtung, einen Zeugen in der Hauptverhandlung zu vereidigen,
obwohl das, wie wir alle wissen, eigentlich nicht mehr
geschieht, ohne daß dadurch ein Nachteil für die Wahrheitsfindung einträte. Wenn das ohnehin schon Praxis
ist, dann darf und muß darüber diskutiert werden, ob
man die entsprechende strafprozessuale Vorschrift der
Wirklichkeit anpaßt. Das ist ein Beispiel für das, worüber man sicherlich reden kann.
Auf der anderen Seite ist für uns als F.D.P. der Opferschutz, eine klarere Wahrnehmung der Interessen des
Opfers ganz besonders wichtig.
({2})
Ich muß sagen, da haben wir in der letzten Legislaturperiode in der alten Koalition ganz erhebliche Fortschritte
erzielt. Ich glaube, daß sich inzwischen ein Mentalitätswandel dergestalt vollzieht, daß im Mittelpunkt der
Überlegungen im Strafrecht das Opfer stehen muß.
({3})
Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion
sieht zum Beispiel Beschränkungen der Rechtsmittel des
Nebenklägers, also auch des Opfers einer Straftat, vor.
Das scheint uns genau der falsche Weg zu sein.
({4})
Wir brauchen nicht weniger Rechte für das Opfer, sondern eindeutig mehr Rechte für das Opfer. Deshalb werden wir alle Überlegungen, die in Richtung Reduzierung
des Opferschutzes gehen, mit Sicherheit ablehnen.
Ich glaube, wir sind in dieser Legislaturperiode aufgerufen, zu einer Verbesserung, insbesondere zu einer
Beschleunigung von Strafverfahren zukommen. Es gibt
konkrete Beispiele dafür, daß die Umsetzung von Überlegungen wirklich Früchte getragen hat. So hat zum Beispiel die Förderung des beschleunigten Verfahrens, die
wir unter unserem Kollegen Schmidt-Jortzig als Bundesjustizminister erreicht haben, in Stuttgart dazu geführt, daß der dortige, von der F.D.P. gestellte Justizminister Goll dafür gesorgt hat, daß es nach den Kurdenkrawallen in Stuttgart - dort wurden im Gegensatz zu
Hamburg damals die Personalien festgestellt - möglich
war, diese Gewalttäter im beschleunigten Verfahren innerhalb kürzester Zeit rechtskräftig zu verurteilen und
damit ein klares Signal für die Rechtsordnung in unserem Land zu setzen.
({5})
- Es war vom Gesetzgeber genau dafür gedacht, Herr
Kollege Danckert. Wenn Sie sich die Materialien anschauen, dann werden Sie feststellen, daß wir unter anderem an solche Verfahren gedacht haben.
Ich wiederhole: Alle in diesen Verfahren verhängten
Urteile sind rechtskräftig geworden. Das macht deutlich,
daß sie offensichtlich auch aus Sicht der Angeklagten und dann Verurteilten - in einer rechtsstaatlichen Weise
ergangen sind. Das ist der richtige Weg. Diesen Weg
wollen wir als F.D.P. beschreiten, wobei wir das Opfer
im Mittelpunkt unserer Interessen sehen.
({6})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege HansChristian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! So sehr viele scheinen hinter diesem Gesetzentwurf nicht mehr zu stehen. Und von der CDU/CSUFraktion sitzen auch nicht mehr so besonders viele dahinter. Ich weiß nicht, ob das in der letzten Legislaturperiode anders gewesen ist.
Die erste Frage, die sich stellt, wenn man zum soundsovielten Mal einen Gesetzentwurf vorlegt, um Strafverfahren zu beschleunigen, ist doch die: Ist das überhaupt
erforderlich? Gibt es da Handlungsbedarf? Müssen die
Hauptverhandlungen von Strafverfahren beschleunigt
werden, damit die Beschuldigten, die Angeklagten
schneller abgeurteilt werden können, oder hat das ganz
andere Ursachen?
Sie behaupten, die Strafverfahren dauerten zu lange.
Die Justizministerin hat im August zwei Untersuchungen vorgelegt, aus denen sich ergibt, daß die Strafverfahren in den letzten zehn Jahren überhaupt nicht länger
geworden sind. Da ist auch mit einer Fehlmeldung aufgeräumt worden. Denn durch die Presse wird häufig
vermittelt, es seien die bösen Rechtsanwälte, die Strafverteidiger, die die Strafverfahren durch völlig überflüssige und unsinnige Anträge in der Hauptverhandlung
verzögern würden, nur weil sie mehr Geld verdienen
oder den Prozeß verzögern wollten.
In insgesamt nur 1,7 Prozent der Fälle hat das Verteidigerverhalten Auswirkungen auf die Dauer von
Hauptverhandlungen gehabt. Das ist wirklich äußerst
wenig. Es muß also ganz andere Gründe geben. Die
Gründe dafür, warum Verfahren oft so lange dauern,
sind nicht in den Hauptverhandlungen zu suchen. Sie
liegen vielmehr in den langen Vorverfahren bei der
Staatsanwaltschaft und der Polizei, betreffen also die
Zeit zwischen dem Fassen eines Beschuldigten und dem
Zeitpunkt, in dem er vor Gericht gestellt wird.
Mehr als 80 Prozent der Fälle, die in erster Instanz
vor dem Landgericht stattfinden, bei denen es sich also
um schwierige Verfahren handelt, werden in ein bis drei
Tagen abgehandelt. Die Hauptverhandlungen dauern in
30 bis 40 Prozent dieser Fälle einen Tag und in den
weiteren zirka 40 Prozent bis zu drei Tagen. All das,
was die Medien berichten, ist einfach nicht richtig. Man
braucht hier nicht nachzubessern.
Man darf vor allen Dingen nicht mit der Begründung,
die Strafverfahren beschleunigen zu wollen, die Rechte
der Angeklagten und Beschuldigten verkürzen. Das
kann in sehr vielen Fällen dazu führen, daß ungerechte
Urteile gefällt werden. Unsere Gesetze, insbesondere
unsere Strafprozeßordnung, sind nicht dazu da, Staatsanwälten, Richtern oder Verteidigern die Möglichkeit zu
verschaffen, sich gegenseitig zu ärgern, sondern sie dienen dazu - ich weiß, wovon ich rede; ich bin in sehr
vielen dieser langen Strafverfahren tätig gewesen -, die
Rechte der Angeklagten zu sichern. Diese formalen
Rechte sind dazu da, den Angeklagten die Möglichkeit
zu verschaffen, selbst oder durch ihren Verteidiger darauf hinzuwirken, daß ihre Rechte nicht verkürzt werden.
Wenn ich mir diesen Gesetzentwurf ansehe, stelle ich
fest - der Kollege Bachmaier hat darauf hingewiesen -,
daß Sie in Zukunft verhindern wollen, daß ein Richter
auch noch nach dem letzten Wort des Angeklagten abgelehnt werden kann. Das ist eine theoretische Möglichkeit, die vielleicht alle zehn Jahre einmal zum Tragen
kommt. Das heißt, selbst dann, wenn Sie diese Vorschrift in die StPO einfügen würden, würden Sie damit
nichts erreichen, würden Sie in den nächsten zehn Jahren in keinem Verfahren eine Verkürzung erreichen.
Nehmen Sie ein anderes zentrales Recht, auf das hingewiesen worden ist: Ein Angeklagter bzw. sein Verteidiger kann auf den Gang der Hauptverhandlung im wesentlichen nur dadurch einwirken, daß er Beweisanträge
stellt, also sagt, er habe noch einen Zeugen, ein Papier,
eine Filmaufnahme oder einen Sachverständigen; nach
dessen Anhörung bzw. Ansicht sehe die Sachlage ganz
anders aus, dann sei klar, daß der Angeklagte mit der
Sache nichts zu tun habe oder sich der Sachverhalt ganz
anders darstelle. Genau das wollen Sie erschweren bzw.
verhindern. Sie wollen den Richtern - es geht in Gerichtssälen häufig sehr kontrovers zu - die Möglichkeit
verschaffen, allein nach ihrem Ermessen einem Beweisantrag nicht stattzugeben, wenn sie meinen, daß der Beweisantrag nur zur Prozeßverschleppung gestellt worden
sei. Wenn ein Richter das allein nach seinem Ermessen
entscheiden kann, hat das zur Folge - das kann nur ein
Jurist wissen -, daß die revisionsrechtliche Überprüfung
durch die nächste Instanz so gut wie unmöglich ist.
Auch für weitere Punkte Ihres Vorschlages gilt: Viele
Vorschläge sind völlig ungeeignet. Wenn Sie zum Beispiel die Fristen, in denen Strafverfahren ausgesetzt oder
unterbrochen werden können, verkürzen wollen, dient
das nicht der Beschleunigung der Verfahren, aber es
verkürzt die Rechte der Angeklagten.
Deshalb sage ich: Für uns Bündnisgrüne ist der Gesetzentwurf, so wie er hier vorliegt, überflüssig. Er ist
ungeeignet, weil er die Rechte der Angeklagten und Beschuldigten verkürzt. Deshalb ist er sogar doppelt überflüssig, deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
Wir können darüber beraten und sehen, ob das eine oder
andere in eine andere Reform übergeleitet werden kann.
So jedoch darf der Gesetzentwurf nicht verabschiedet
werden.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Evelyn Kenzler von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Beschleunigungsgrundsatz wird zu Recht als eine Maxime des Strafverfahrens angesehen, denn eine zeitnahe Hauptverhandlung führt zu einer qualitativen Verbesserung der Strafrechtspflege. Die präventiven Momente des Strafrechts
können dadurch besser zur Geltung gebracht werden als
bei einem großen zeitlichen Abstand zwischen der
Straftat und der Verhandlung. Es gab in der Vergangenheit bekanntlich mehrere Versuche, durch eine Vielzahl
von Justizentlastungsgesetzen die Verfahrensdauer zu
verkürzen. Gezeigt hat sich jedoch, daß nur punktuelle
Änderungen zu kurz greifen.
Mit dem vorliegenden Entwurf will die CDU/CSUFraktion offenbar durch eine Vielzahl kleiner Änderungen große Wirkung erzielen. Einige der Vorschläge,
zum Beispiel die Abschaffung der Regelvereidigung in
der Hauptverhandlung oder Vereinfachungen im Ermittlungsverfahren, können Entlastungseffekte bewirken. Bei anderen Regelungen wie Eingriffen in das
Recht der Richterablehnung oder in das formelle Beweisantragsrecht habe ich jedoch auf Grund der Unbestimmtheit und der Einschränkung von Verfahrensrechten erhebliche Bedenken, weil die Gefahr besteht, daß
sich einzelne Richter, beispielsweise wegen ihrer permanenten Arbeitsüberlastung, zu einer sachwidrig
extensiven Auslegung verleiten lassen könnten. Auch
bei der Einschränkung des Begründungszwangs von gerichtlichen Entscheidungen plädiere ich sehr für Vorsicht. Denn wo Begründungen fehlen oder unzureichend
sind, wird es der Entscheidung auch an Überzeugungskraft mangeln und ein unsicherer Rechtsfrieden bestenfalls kraft Autorität, jedoch nicht kraft rechtsstaatlicher
Argumente eintreten. Wegen dieser methodischen und
inhaltlichen Bedenken können wir dem vorliegenden
Entwurf nicht zustimmen.
Für wichtig und notwendig halte ich Änderungen im
Rechtsmittelbereich. Die vorgeschlagenen Änderungen
reichen jedoch nicht aus und sind zum Teil rechtsstaatlich bedenklich. Darauf hat bereits der Kollege Bachmaier ausführlich hingewiesen. Es geht vielmehr um ein
stimmiges Konzept der Funktionsdifferenzierung und
der Straffung der Instanzen. Der bisherige Instanzenzug
hat in der Vergangenheit gerade auf Grund der Zeitdauer
bis zur Rechtskraft eines Urteils immer wieder für Kritik
gesorgt.
Ich erwarte daher mit Spannung das von der Bundesjustizministerin angekündigte Reformmodell. Bekanntlich liegt seit Sommer dieses Jahres ein ausführliches Gutachten über die Dauer von Strafverfahren vor.
Dieses Gutachten hat meines Erachtens sehr deutlich
gemacht, daß die Rechtsmittelfrage in eine grundlegende
Reform des Verfahrens - von der Einleitung polizeilicher Ermittlungen bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung - eingebettet werden muß. Die größten zeitlichen
Reserven liegen nämlich in der Regel nicht im Hauptverfahren und auch nicht in der Hauptverhandlung, sondern im Ermittlungsverfahren.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1714 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L.
Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht
- Drucksache 14/1335 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als ersten Redner rufe ich den Kollegen Dirk Niebel
von der F.D.P.-Fraktion auf. Bitte schön, Herr Niebel.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Bei diesem bedeutenden
Thema wäre es sehr wichtig, daß auch das BMA vertreten wäre. Ich finde es schade, daß das nicht der Fall
ist.
({0})
Nichtsdestotrotz müssen wir uns mit der Frage der Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht zwingend beschäftigen. Denn die Arbeitserlaubnispflicht hat sich zu
einem Arbeitsverhinderungsrecht verändert.
Wir verfolgen mit unserem Antrag fünf Ziele: Wir
wollen die Schwarzarbeit vermindern, die Besetzung offener Stellen erleichtern oder zumindest beschleunigen,
die öffentlichen Haushalte entlasten, die Verwaltung
vereinfachen und nicht zuletzt die Menschenrechte der
betroffenen Personen stärken.
({1})
Meine Damen und Herren, ich schildere Ihnen - auch
aus meinem Erleben als ehemaliger Arbeitsvermittler kurz das Verfahren, wie eine Arbeitserlaubnis erteilt
wird. Hinterher werden Sie mir zustimmen müssen, daß
dieses Verfahren zumindest hinterfragt werden muß.
Ein Ausländer, der sich legal in diesem Land aufhält
- es geht also nicht um Touristen oder um illegal Eingereiste -, läuft durch die Gegend, weil er den ganzen Tag
lang nichts zu tun hat. Er findet einen Arbeitgeber, der
einen Arbeitsplatz zu besetzen hat. Er würde diesen Arbeitsplatz gern annehmen, und die beiden werden sich
einig. Dann sagt der Arbeitgeber allerdings: Du mußt
noch zum Arbeitsamt gehen, du brauchst eine Arbeitserlaubnis.
Nun geht der arme Mensch zum Arbeitsamt und sagt,
er habe einen Arbeitsplatz gefunden - von diesem Arbeitsplatz hat der Arbeitsvermittler vielleicht noch gar
nichts gewußt -, und bittet um eine Arbeitserlaubnis.
Daraufhin sagt der Arbeitsvermittler: So geht das nicht,
wir müssen erst einmal einen Vermittlungsauftrag haben, weil wir mindestens vier Wochen lang prüfen müssen, ob es nicht eventuell bevorrechtigte Arbeitnehmer
gibt. Der Arbeitsvermittler ruft den Arbeitgeber an und
erklärt ihm, er brauche einen Vermittlungsauftrag. Der
Arbeitgeber fragt natürlich, wozu ein Vermittlungsauftrag nötig sei, da er jemanden für diesen Arbeitsplatz
habe. Er stellt dann aber ziemlich schnell fest, daß der
Arbeitserlaubnisantrag wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt werden würde, wenn er diesen Standpunkt weiter verträte, woraufhin er den Vermittlungsauftrag erteilt.
Gesetzt den Fall, es handelt sich um eine Stelle als
Spülhilfe oder als Lagerhelfer, wird es bei der gegebenen Arbeitsmarktsituation einige Bewerber im Computer
des Arbeitsamtes geben, die diese Tätigkeit theoretisch
ausüben könnten. Der Arbeitsvermittler macht Vorschläge und schickt in der Prüffrist, die, wie gesagt,
mindestens vier Wochen läuft, 10, 20, 40, 50 bevorrechtigte Bewerber zu dem Arbeitgeber, Bewerber, die diese
Tätigkeit vielleicht gar nicht ausüben wollen, sondern
nur hingehen, weil sie hingehen müssen und Angst um
ihren Leistungsbezug haben. Der Arbeitgeber wird natürlich mit der Besichtigung dieser Personen beschäftigt;
guckt er sie sich nicht ordentlich an, kommt er seiner
Mitwirkungspflicht nicht nach, und der Arbeitserlaubnisantrag wird abgelehnt.
Wenn bis dahin alle Beteiligten keinen Fehler gemacht haben, kann der Arbeitsvermittler nach frühestens
vier Wochen sagen, aus arbeitsmarktlicher Sicht bestehe
keine Veranlassung, die Arbeitserlaubnis abzulehnen.
Danach geht das Ganze seinen verwaltungstechnischen
Verfahrensgang, was natürlich auch noch einige Zeit in
Anspruch nimmt, bis dann dieser arme Ausländer seinen
Arbeitsplatz bei dem Arbeitgeber, falls er diesen für ihn
so lange freigehalten hat, einnehmen kann.
Bei diesem Verfahren, meine Damen und Herren,
können Sie sich gut vorstellen, daß sich in nicht ganz
wenigen Fällen der Arbeitgeber und der Arbeitsuchende tief in die Augen schauen und andere Wege finden, wie sie miteinander ins Geschäft kommen, was zur
Folge hat, daß sich der Ausländer, da er sich legal in unserem Land aufhält und irgendeinen Leistungsanspruch
an irgendeine öffentliche Kasse hat - sei es nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz, sei es nach irgendeiner
anderen Regelung -, als Schwarzarbeiter dort nicht abmeldet. Das heißt, er zahlt nicht nur keine Steuern und
keine Sozialabgaben, sondern bezieht auch selbstverständlich weiterhin Sozialleistungen. Das könnten wir
mit der Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht verhindern.
({2})
Wir könnten auch verhindern, wenn wir die Arbeitserlaubnispflicht endlich abschafften, weil sie anachronistisch ist, daß Arbeitsplätze nicht oder nicht zeitgerecht
besetzt werden. Wir könnten verhindern, daß allein bei
der Bundesanstalt für Arbeit im Kernbereich der Erteilung von Arbeitserlaubnissen 685 Beschäftigte mit
dieser Aufgabe zu tun haben, wobei die Arbeitsvermittler, die das gesamte Verfahren der Arbeitsmarktprüfung
durchführen, noch nicht mitgezählt sind. Wir könnten
verhindern, daß diese Menschen unnötig absorbiert und
von ihrer eigentlichen Aufgabe abgehalten werden. Wir
könnten verhindern, daß bei diesem abstrusen Verfahren, das übrigens auch bei der Verlängerung von Arbeitserlaubnissen gilt, also in bestehende Beschäftigungsverhältnisse eingreift, das Verhältnis zwischen
Arbeitsvermittler und Arbeitgeber so sehr geschädigt
wird, daß der Arbeitgeber vielleicht gar keine Lust mehr
hat, die Bundesanstalt irgendwann noch einmal einzuschalten. Wir könnten verhindern, daß Menschen, die in
diesem Land arbeiten wollen und können, gezwungen
werden, am Tropf der Sozialkassen zu hängen. Wir
könnten schließlich dafür sorgen, daß diese Menschen in
einem Land, in dem sie sich legal aufhalten dürfen, für
die Dauer ihres legalen Aufenthaltes ein Stück mehr
Menschlichkeit verspüren. Wir könnten mit einem einzigen Antrag fünf wichtige Ziele erreichen.
Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß
die Bundesregierung einen Arbeitskreis eingerichtet hat,
der sich mit der Frage der Arbeitserlaubnis für
Flüchtlinge beschäftigt. Ich fordere Sie auf, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, springen Sie über
Ihren Schatten, beschäftigen Sie sich nicht nur mit einem Segment, gehen Sie den ganzen Weg und sorgen
Sie dafür, daß zum Beispiel der Familiennachzügler, der
hier vier Jahre lang Sozialhilfe beziehen darf, auch arbeiten kann. Heute darf er es nicht. In Amerika darf man
sofort arbeiten, bekommt aber vier Jahre lang keine Sozialleistungen. Das ist vernünftiger.
({3})
Lassen Sie den Menschen, wenn sie hierher kommen,
die Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen. Keinem einzigen Deutschen - seien wir ehrlich - wird dadurch der
Arbeitsplatz weggenommen. Wenn wir die Kollegen in
den Arbeitsämtern einmal zur Seite nehmen und mit ihnen unter vier Augen sprechen, dann wird deutlich, daß
das ein Stammtischgerücht ist. Ein anderes Stammtischgerücht würde dadurch auch beseitigt: Die Ausländer
schaffet ja nix, aber Geld krieget se. Nein: Se dürfet nix
schaffe!
({4})
Das bekommen wir auch weg. Deswegen hoffe ich auf
eine sehr breite Unterstützung über alle Fraktionsgrenzen in diesem Haus, weil das wirklich eine sinnvolle Sache ist.
Vielen Dank.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Olaf Scholz von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich glaube, daß es zu der Frage, die wir hier
zu diskutieren haben, zwei Zugänge gibt. Der eine Zugang ist, daß man über Integrationspolitik diskutiert, der
andere ist, daß man über Arbeitsmarktpolitik spricht.
Der Zugang, den die F.D.P. gewählt hat, ist eine bestimmte Vorstellung vom Arbeitsmarkt. Das ist in der
Tat nichts, was mit der Situation von Ausländern in unserem Lande zu tun hat.
Diese arbeitsmarktliche Sicht hat auch dazu geführt,
daß Sie ganz verquere Ansichten in diesen Antrag hineingeschrieben
({0})
haben und deshalb zu sehr eigenwilligen Ansichten gekommen sind. Wenn man sich das einmal anguckt, was
Sie hier schreiben, dann merkt man: Sie verbrämen das
in dem Antrag, den Sie geschrieben haben, nicht. Es
heißt gleich zu Anfang:
Die Abschaffung ist weiterhin eine effektive Maßnahme zur Deregulierung des Arbeitsmarktes.
({1})
Dort ist sie die liebe Göttin der F.D.P.: die heilige Deregulierung. Das macht den eigentlichen Sinn und Inhalt
dieses Antrages aus. Ich glaube, daß das der Grund ist,
warum man mit dem Vorgehen, das Sie hier vorschlagen, nicht zurechtkommen kann und warum es abzulehnen ist.
({2})
Wenn man sich im übrigen anschaut, was Sie uns
über deutsche Arbeitslose mitteilen, dann ist das sehr
interessant. Es heißt hier, die Deutschen oder inländischen Arbeitskräfte seien nicht geeignet, weil sie zu wenig motiviert oder zu wenig qualifiziert seien, weil die
Arbeit zu geringe intellektuelle Ansprüche erfülle, zu
hohe körperliche Belastungen mit sich bringe,
({3})
der Lohn auf die Sozialleistungen angerechnet werde
oder es keinen angemessenen Abstand zwischen Lohn
und Sozialleistungen gebe.
Das sind sehr deutliche Aussagen und Vorstellungen
über den Arbeitsmarkt, die Sie hier vorbringen. Das sind
Aussagen, die man bewerten muß, weil dadurch nämlich
deutlich wird, worum es Ihnen hier geht: Sie wollen eine
weitere Möglichkeit schaffen, Einfluß auf das Lohn- und
Gehaltsgefüge in unserem Lande, auf die Möglichkeiten
und Arbeitsbedingungen in unserem Lande zu nehmen,
({4})
und das reiht sich letztendlich in die Sachen ein, die Sie
in diesem Lande mit Ihrer Politik schon immer gemacht
haben.
({5})
Herr
Kollege Scholz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
({0})
Ja.
Bitte
schön, Herr Niebel.
Herr Kollege Scholz, ich bin
über Ihre bisherigen Ausführungen ein bißchen enttäuscht. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, weil ich diesen
Antrag selbst geschrieben habe ({0})
- nun warten Sie einmal, wie es weitergeht -, wenn Sie
mir in diesem Antrag die Passagen, auf die Sie sich beziehen, zeigen könnten, in denen nämlich steht, daß
Nichtdeutsche geringer entlohnt werden sollen als Deutsche.
Ich habe Ihnen die Passage, um
die es geht, gerade vorgelesen und halte es im Sinne eines zügigen Ablaufs für hilfreich, daß ich es nicht wiederhole. Da Sie den Antrag selbst geschrieben haben,
können Sie es selber nachschauen. Es ist der vierte Absatz in Ihrer Begründung.
({0})
Ich will noch einmal auf das zurückkommen, was Sie
hier an arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen haben,
und will durchaus darauf hinweisen, daß sich das, was
hier geschieht, in eine längere Tradition einreiht. Wir
haben mit den Werkvertragsarbeitsverhältnissen eine
Situation in diesem Lande, die nicht unproblematisch ist
und bei der uns schon aufgefallen ist, daß der eine oder
andere sie nicht aus den einen oder anderen hehren Erwägungen gefördert hat, etwa um die neuen osteuropäischen Demokratien zu unterstützen, sondern daß es darum ging, Einfluß auf das Lohn- und Gehaltsgefüge einer
ganz konkreten Branche zu nehmen, nämlich der Bauindustrie.
Wenn man sich heute die Wirtschaft in diesem Bereich anschaut, dann wird man feststellen, daß das, was
damals unternommen worden ist, erfolgreich war. Es ist
gelungen, einen ganz substantiellen Arbeitsmarkt mit
Ausländern und Deutschen, gewissermaßen Inländern,
zu zerstören, viele arbeitslos zu machen. Sie müssen
gleichzeitig mit ansehen, daß die auf diese Weise dem
Arbeitsmarkt zugeführten Werkvertragsarbeitskräfte
auf den Baustellen tätig sind. Dies ist meistens nicht
alleine der Fall, denn um diese ganze Struktur herum
gruppiert sich doch ein ganz erhebliches Maß an
Schwarzarbeit.
Ähnlich kann man auch einen anderen Fall betrachten, nämlich die Diskussion über das Entsendegesetz.
Diese Diskussion ist wichtig gewesen. Uns ging es
darum, sicherzustellen, daß derjenige, der hier im Lande
arbeitet, gleich welcher Nationalität er ist, Löhne bekommt, die hierzulande erforderlich und üblich sind.
Diesen Gesetzen haben Sie nie etwas abgewinnen
können, schon gar nicht den Neuregelungen, die wir
jetzt zustande gebracht haben und die, wie erste Berichte
zeigen, sehr wohl positive Wirkungen auf die Arbeitsmarktsituation am Bau haben. Auch in diesem Fall haben Sie das Ausländerrecht und die Möglichkeiten, die
dort bestehen, benutzt, um auf die Arbeitsmarktsituation
Einfluß zu nehmen. Es hat Sie nichts motiviert, was in
irgendeiner Weise mit Integration zusammenhängt.
Vielmehr haben Sie eine ganz klare Vorstellung davon,
was auf dem Arbeitsmarkt in diesem Lande geschehen
soll.
Deshalb ist es mir wichtig, einmal darauf hinzuweisen, daß die Überlegungen, die Sie anstellen, keineswegs ausländerfreundlich sind. Denn die Hauptbetroffenen einer vollständig ungeregelten Lösung in diesem
Bereich sind Ausländer, die hierzulande leben, die zwar
über geringe Qualifikationen verfügen, die aber bereit
sind, Arbeit mit geringen Löhnen in bestimmtem Rahmen nachzufragen und die sehr wohl auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind. Diesen verschaffen Sie durch
eine unkluge Politik in solchen Fragen im Regelfall eine
zusätzliche Konkurrenz. Ihre Vermittelbarkeit auf dem
Arbeitsmarkt wird eingeschränkt.
Insofern kann man Ihren Vorschlag keineswegs unter
Ausländerfreundlichkeit oder Integration verbuchen.
Das ist mein eigentliches Argument: Der F.D.P.-Antrag
ist eigentlich ein Antrag zur Veränderung des deutOlaf Scholz
schen Arbeitsmarktes und kein Antrag zur Integration
von Ausländern.
({1})
Wie weit Sie gehen wollen, kann man am Ende Ihres
Antrages sehen,
({2})
wo der Antrag - übrigens fachlich abweichend von dem,
was Sie am Anfang schreiben - besagt: Alle Ausländer,
die sich nicht als Touristen oder illegal in Deutschland
aufhalten, sollen arbeitserlaubnisfrei gestellt werden.
Man darf sich, egal wie man zu diesen Fragen eingestellt
ist, nicht die Vorstellung machen, daß das keine Auswirkung auf das hätte, was in unserem Lande geschieht.
Denn dadurch würde ein ganz gewaltiger Zuwanderungsdruck, ein Interesse an den verschiedenen Möglichkeiten, Zuwanderung zu organisieren, sich hierzulande aufzuhalten und auf den Arbeitsmarkt zu gelangen, entstehen. Auch dabei ist Ihre Absicht sehr deutlich.
Herr
Kollege Scholz, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
({0})
Eine weitere Zwischenfrage,
bitte.
({0})
Bundestagsabgeordneter, Frau
Kollegin.
({0})
Herr Kollege Scholz, Sie haben eben eines der Argumente genannt, die immer wieder gegen die Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht vorgebracht werden,
nämlich eine eventuelle Erhöhung der Sogwirkung, nach
Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten. Würden
Sie mir zustimmen, daß für jemanden, der sich in wirtschaftlicher Not befindet und der nach Deutschland
kommen wollte, schon die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Anreiz sein könnten, und
würden Sie mir weiter zustimmen, daß dieses Gesetz,
das eine Zuwanderung verhindern sollte, das offenkundig nicht geschafft hat?
Es gibt sicherlich den einen oder
anderen, der wegen Leistungen, die er hier bekommen
kann, hierher kommt. Darüber macht sich niemand etwas vor. Viele, die sich hierzulande aufhalten und Asyl
beantragen, kommen aber deshalb, weil sie dafür einen
guten Grund haben. Das darf in den Diskussionen nie
untergehen. Insofern gibt es sehr unterschiedliche Motive.
Aber es ist ganz offensichtlich, daß es Folgen für
Zuwanderungsinteressen hat, wenn jemand sich hier als
Asylbewerber aufhalten kann und relativ schnell die Berechtigung bekommt, hier einer Arbeit nachzugehen.
Darüber muß man sich nichts vormachen. Das spricht
sich überall herum. Ein ehrlicher, ernster und integrationsorientierter Ausländerpolitiker würde deshalb Vorschläge dieser Art nicht entwickeln.
({0})
Ich will deshalb sagen, worum es uns geht. Uns geht
es eben nicht darum - was den Inhalt des F.D.P.Antrages ausmacht -, den Versuch einer weiteren Veränderung der Lohnstrukturen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu machen.
({1})
Uns geht es darum, Integrationsbemühungen zu fördern.
In der Tat sind die gegenwärtigen Regelungen - die
nicht wir erfunden haben, um das hinzuzufügen - nicht
in jeder Hinsicht dazu geeignet. Ganz offensichtlich bestehen viele bürokratische Hemmnisse, die nicht nötig
sind. Offenkundig ist es so: Man muß ganz unterschiedliche Zeiten abwarten, bis man sich auf dem deutschen
Arbeitsmarkt bewegen kann.
Aus diesem Grunde muß es darum gehen, hier zu einer Rationalität zu kommen und eine Lösung voranzubringen, die beides erfüllt: einerseits keine zusätzlichen
Veränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt darzustellen und andererseits denjenigen, die sich dauerhaft
hier in Deutschland aufhalten und von denen wir wissen,
daß sie sich trotz eventuell ungesicherten Aufenthaltsstatus über längere Zeit hier aufhalten werden, einfacher
die Möglichkeit zu geben, am deutschen Arbeitsmarkt
teilzunehmen.
({2})
An einer solchen Lösung, die integrationsorientiert und
nicht arbeitsmarktorientiert ist, arbeiten wir, und darüber
denken wir nach.
({3})
Aber diese Arbeit verlangt sorgfältige Überlegungen.
Eine solche Lösung kann man nicht so einfach machen.
Abschließend möchte ich zusammenfassen: Der Antrag der F.D.P. hat mit Ausländerpolitik und mit Integration nichts zu tun. Mit dem Antrag soll bezweckt
werden, daß Einfluß auf den deutschen Arbeitsmarkt
genommen werden kann. Dies lehnen wir ab. Deshalb
werden wir auch Ihren Antrag ablehnen.
({4})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Heinz
Schemken von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem Antrag „Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht“ spricht die
F.D.P.-Fraktion einen Konflikt an, mit dem wir leben
und - davon bin ich fest überzeugt - auch noch lange leben müssen. Auf der einen Seite gibt es eine große Zahl
von Arbeitslosen, die saisonbereinigt - ich möchte hier
nicht eine Diskussion über den Arbeitsmarkt entfachen sogar steigt. Auf der anderen Seite gibt es Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge, die
sicherlich auch gerne einen Arbeitsplatz einnehmen
möchten. Vor Ort bitten uns Unternehmer, Handwerker,
Händler und die Gastronomen ständig: Helft uns bei einer Genehmigung. Auf der anderen Seite ist es so, daß
von der großen Zahl der Arbeitslosen auch welche vermittelt werden sollen. Auf diesen Konflikt möchte ich
hinweisen. Zu diesem Konflikt - so sehe ich es wenigstens - ist festzustellen, daß der Frust bei den Unternehmern groß ist. Diese sagen: Ich habe hier eine Frau
und einen Mann an der Maschine beschäftigt, die gute
Arbeit leisten. Diese Arbeitskräfte kann ich nicht ersetzen, und die Arbeitsverwaltung schickt niemanden.
Deshalb wird - ich sage dies ausdrücklich - oft auf qualifizierte arbeitssuchende Asylbewerber und Flüchtlinge
zurückgegriffen. Ich sehe das nicht nur unter Lohngesichtspunkten.
({0})
- Ja, ich sage das hier.
Vor Ort wenden sich die Betroffenen - verständlicherweise - mit der Bitte an einen - diese Erfahrung
wird jeder in seinem Wahlkreis gemacht haben -: Helfen Sie mir doch! Ja, ich möchte arbeiten! Die Unternehmer sagen dagegen: Ich habe eine gute Arbeitskraft,
die ich nicht einfach durch einen anderen Arbeitslosen
ersetzen kann, weil dieser möglicherweise nicht dieselbe
Leistung bringt. Das sind zwei legale Interessen,
({1})
die hier aufeinandertreffen. Die Situation vor Ort ist
nicht einfach. Ich sage ausdrücklich: Das, was zusammengehört, müßte auch zusammenkommen. Aber das ist
nicht so. Der eine hat bereits Arbeit. Der Chef ist mit
ihm zufrieden und möchte mit ihm weiter zusammenarbeiten. Beide haben ihre legitimen Interessen. Das
stimmt. Aber es gibt auch noch das große Heer der arbeitslosen Deutschen, EU-Bürger und der lange hier ansässigen ausländischen Mitbürger. Zur Zeit kann dieser
Konflikt zwischen den Interessen, die hier aufeinanderprallen, nicht einfach gelöst werden, auch nicht durch
den Antrag der F.D.P.-Fraktion, Herr Niebel, so nett und
lieb er auch formuliert ist. Ich gehe davon aus, daß Sie
auch auf die Initiative des Flüchtlingsrats von NRW Bezug genommen haben. Vor diesem Hintergrund könnte
man ja darüber reden.
({2})
Schon über 1,2 Millionen Menschen haben in
Deutschland schon einen Arbeitsplatz gefunden, sei es
über Saisonarbeit, über Zeit- oder Werkverträge. Diese müssen wir in einem Arbeitsmarkt verkraften, der ohnehin durch die hohe Arbeitslosigkeit unter Druck steht.
- Ich will das Thema einmal darstellen. Insofern lassen
Sie sich das doch gefallen, wenn ich argumentiere.
Die Zahl derer, um die es in diesem Konflikt geht, ist
wirklich gering; sie liegt weit unter 100 000, weit darunter. Diese Zahl bezieht sich auf die in dem Verfahren
beschiedenen Anträge; das Verfahren sehe ich im übrigen auch so wie Sie. Wir brauchen nicht in diesem Maße
Arbeitskräfte von außen, solange wir Menschen von innen, wie ich soeben dargestellt habe, in Arbeit zu bringen haben.
Vorrang hat die Vermittlung der Arbeitslosen. Es
wäre natürlich zu wünschen - das sage ich hier allerdings auch -, daß die Arbeitslosen, damit es nicht zu
dem Frust von Arbeitgebern, von Handwerkern, von Gastronomen und anderen kommt, die ihnen angebotene
Arbeit auch annehmen. Ich sage das ausdrücklich: Das
wäre sehr gut. Das wäre für die Betroffenen gut, das wäre auch für die Unternehmen gut. Dadurch würde nämlich dieser Konflikt nicht so hervortreten.
Diese Zusammenhänge kann man dem Bürger draußen kaum erklären; ich sage das ausdrücklich. Auf der
einen Seite steht die große Zahl der vorhandenen Arbeitslosen, auf der anderen Seite plagen wir uns hier
damit herum, weitere Menschen in den Arbeitsmarkt
einzuführen. Da fragen auch die Bürger draußen - Herr
Niebel, Sie haben es soeben für die andere Seite gesagt -,
ob wir das eigentlich nicht regeln. Sie fragen: Regeln
Sie nicht, daß die, die jetzt schon über lange Zeit arbeitslos sind, dann, wenn sie einen Arbeitsplatz angeboten bekommen, diesen auch annehmen?
({3})
Dies ist auch ein Thema.
Deswegen sage ich: Angesichts der Logik und angesichts der vier Millionen Arbeitslosen, die wir nach wie
vor in der Bundesrepublik Deutschland haben, bleibt uns
augenblicklich keine andere Wahl - man kann über Modifizierungen sprechen -, als dieses Gesetz und diese
Regelung, auch wenn wir sie uns vor Ort auch immer
wieder genauer anschauen müssen, nämlich die Arbeitserlaubnispflicht, beizubehalten. Ich kann deshalb, Herr
Niebel, für die CDU/CSU-Fraktion sagen, daß wir diesem Antrag so nicht folgen können.
({4})
- Ja. - Herr Präsident, Sie gestatten das, weil das Herr
Gilges war. Herr Gilges, wir machen so etwas gründlicher. Das wollte ich Ihnen auch einmal sagen. Die Menschen draußen sprechen nämlich gerade auf diesem Felde eine sehr einfache Sprache, und es wäre bedauerlich,
Herr Gilges, wenn ich die Sprache hier in Ihrem Beisein
übernehmen würde. Das tue ich nicht. Ich wollte das,
was ich sagte, begründen.
Schönen Dank.
({5})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marieluise Beck
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Im deutschen Arbeitsgenehmigungsrecht spiegelt sich
sehr genau die Geschichte der Zuwanderung nach
Deutschland wider: von der gezielten Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer zum Anwerbestopp, von den
Ausnahmen zum Anwerbestopp bis hin zu den Werkvertragsabkommen, von der Zulassung von Saisonarbeit
zu den Regelungen des Asylkompromisses.
Dieses historisch gewachsene Recht ist entsprechend
differenziert, und das heißt zugleich auch, es ist unübersichtlich. Unter der alten Bundesregierung und mit Ihrer
Beteiligung, meine Damen und Herren von der F.D.P.,
wurde das Arbeitsgenehmigungsrecht eine Wissenschaft
für sich, die nicht nur die betroffenen Ausländer, sondern auch die durchschnittlichen mittelständischen Unternehmer überfordert. Die Unübersichtlichkeit und die
Unsicherheit bei den Arbeitgebern führt immer wieder
dazu, daß auch Ausländer, denen der deutsche Arbeitsmarkt an sich offensteht, nicht eingestellt werden. So
wirkt das Recht in der Tat oft diskriminierend.
Vor diesem Hintergrund hat der Vorschlag der
F.D.P., das Arbeitsgenehmigungsrecht einfach abzuschaffen, durchaus einen gewissen Charme.
({0})
Dies würde zumindest einen beträchtlichen Abbau an
Bürokratie bedeuten. Aber man kann diesen Vorschlag
nicht ohne den gleichfalls von der F.D.P. eingebrachten
Entwurf für ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz lesen.
({1})
Dieser Gesetzentwurf, der ja wesentlich unverstellter argumentiert als der Antrag, der uns heute vorliegt, hat
seine Tücken.
Die Liberalen können das Arbeitsgenehmigungsrecht
nämlich nur so freiweg abschaffen, weil sie den Zugang
zum deutschen Arbeitsmarkt sehr rigide über die Quotierung von Zuwanderung regeln wollen. Sie tun dies auf
eine Art und Weise, die nun ganz und gar nicht mehr
liberal, geschweige denn sozial ist.
({2})
Über die Quoten wollen sie die wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik mit den humanitären Verpflichtungen und der Verpflichtung zum Schutz der Familie verrechnet wissen. Diesen Weg gehen wir nicht
mit.
Richtig bleibt die Einsicht, daß im Arbeitsgenehmigungsrecht etwas passieren muß. Dabei können wir uns
nicht so einfach über die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt hinwegsetzen. Wir können nicht einfach die
Grenzen öffnen und jeden, der Arbeit sucht, ins Land
bitten. Das hieße, die Augen vor den Realitäten des Arbeitsmarktes zu verschließen.
Aber - dieses Aber möchte ich sehr groß geschrieben
wissen - wir müssen bei einer Revision des Arbeitsgenehmigungsrechtes die Idee der Integration in den
Mittelpunkt rücken; wir müssen diese Idee zum zentralen Kriterium auch im Arbeitsgenehmigungsrecht machen.
Der größte Teil der in Deutschland beschäftigten
Ausländer hat schon jetzt einen unbeschränkten Zugang
zum Arbeitsmarkt: Neben Unionsbürgern sind dies vor
allem Ausländer mit verfestigtem Aufenthaltsstatus, die
schon lange hier leben, und Jugendliche, die hier einen
Schulabschluß oder eine Ausbildung gemacht haben. Es
sind aber auch Menschen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge gelten, Asylberechtigte,
und es sind Ehegatten, die zu Deutschen nachziehen. Bei
all diesen Menschen geht man richtigerweise davon aus,
daß, wer langfristig hier lebt, auch hier arbeiten können
soll.
Es gibt jedoch Gruppen, die gezielt außen vor gehalten werden. Es geht vor allem um Asylbewerber, um geduldete Flüchtlinge und um Flüchtlinge aus Bürgerkriegsregionen wie dem Kosovo. Für diese Gruppen ist
der Arbeitsmarktzugang im Arbeitsgenehmigungsrecht
gleich mehrfach beschränkt: erstens durch Wartefristen,
zweitens durch den Grundsatz der Nachrangigkeit und
drittens durch den globalen Arbeitsmarktvorbehalt, der
den Arbeitsverwaltungen die Möglichkeit eröffnet, auf
Grund von Arbeitsmarktdaten die Schotten dichtzumachen. Hier reicht das Motto „doppelt genäht hält besser“
offensichtlich nicht aus.
Hinzu kommt der sogenannte Clever-Erlaß von
1997, benannt nach einem Abteilungsleiter im BMA.
Diese Weisung an die Arbeitsverwaltung, die noch immer in Kraft ist, verwehrt seit Mai 1997 allen neu einreisenden Asylbewerbern und Geduldeten jeglichen Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie wirkt in der Tat wie ein
Zwang zur Sozialhilfe und läuft damit nicht nur den
Zielen des Asylkompromisses von 1993 zuwider. Sie
nimmt Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, jegliche Möglichkeit der eigenständigen Unterhaltsicherung und damit jegliche Perspektive. Hier bedarf es kurzfristig einer Korrektur, die wir vornehmen
werden.
Wir brauchen ein geändertes Arbeitsgenehmigungsrecht als Teil einer Integrationspolitik; denn ohne einen
Zugang zum Arbeitsmarkt ist Integration nicht zu erreiHeinz Schemken
chen. Dies werden wir von der Koalition in den nächsten
Monaten angehen.
Schönen Dank.
({3})
Die
Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion hat ihre Re-
de zu Protokoll gegeben.*) Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1335 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Dehnel, Dr.-Ing. Joachim
Schmidt ({0}), Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 14/544 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 14/1517 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, Joachim Günther ({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 14/1540 ({4})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
- Drucksache 14/1876 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wieland Sorge
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
*) Anlage 3
Als erster Redner hat der Kollege Wolfgang Dehnel
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Auch im verkehrspolitischen
Bereich hat das Versagen der jetzigen Bundesregierung
Methode. Sie hat schlicht vergessen, daß das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zum Jahresende ausläuft.
({0})
Wie können Sie sonst den Bürgern und uns in diesem
Haus erklären, daß erst jetzt, sechs Monate nach dem
Einbringen des CDU/CSU-Entwurfs und nach heftigen
Auseinandersetzungen mit dem grünen Regierungspartner, ein völlig unzureichender Gesetzentwurf des Bundesrats zur Gesetzesverlängerung vorgelegt wird? Der
Aufbau Ost und die schnelle Verbesserung der Infrastruktur haben doch angeblich höchste Priorität. Angesichts dieses Vorgehens bezüglich der Verlängerung des
von der Regierung unter Helmut Kohl und der
CDU/CSU-Fraktion 1991 beschlossenen Gesetzes zur
Beschleunigung der Verkehrsplanungen in den neuen
Bundesländern wird offenbar, daß unser IC-Tempo bei
der Entwicklung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern einem Bummelzugtempo weichen soll.
({1})
Anders gesagt: Die Verkehrsinfrastruktur soll einer
Bimmelbahn mit viel Geläute gleichen, aber von Station
zu Station im Schneckentempo vorankommen.
({2})
Genauso ist es, Herr Kollege Grund.
Mit uns in der CDU/CSU-Fraktion ist dies nicht zu
machen. Ich will Ihnen dazu auch eine sehr sachliche
Begründung geben.
Erstens. Von der Wiedervereinigung bis 1998 hat die
Bundesregierung insgesamt rund 165 Milliarden DM in
die Verkehrsinfrastruktur Deutschlands investiert,
davon rund 72 Milliarden DM in die neuen Bundesländer. Das sind 43 Prozent der Investitionen in die Zukunft
der neuen Bundesländer.
({3})
5 200 Kilometer Schiene sowie 173 000 Kilometer
Straßen wurden um-, neu- oder ausgebaut. Etwa 400
Kilometer Autobahnen wurden erweitert bzw. neugebaut
und 23 Ortsumgehungen fertiggestellt. Nie zuvor ist in
so kurzer Zeit die Infrastruktur einer ganzen Region in
einem solchen Umfang modernisiert worden. Dieses
Tempo war nur mit der gesetzlichen Grundlage für eine
beschleunigte Planung möglich.
Der zweite Punkt, warum die CDU/CSU-Fraktion
den Bundesratsvorschlag zur Verlängerung des Gesetzes
um weitere 10 Jahre Laufzeit unterstützt, ist die eindeutige Beschlußlage aller Landesregierungen und des
Bundesrates, dort auch mit Unterstützung der SPDgeführten Länder. Deshalb haben wir unseren eigenen
Antrag für erledigt erklärt. Wir wollten sozusagen eine
Brücke für SPD und Grüne bauen. Aber Sie gehen
wahrscheinlich lieber durch die Täler von Wahlniederlagen als über derartige Brücken. Dies spricht seine eigene Sprache. Sowohl die SPD-Fraktion als auch die
Fraktion der Grünen fallen also mit ihrem Vorschlag,
um drei Jahre zu verlängern, den Landesregierungen in
den neuen Bundesländern in den Rücken. Ich finde, das
ist ein ganz schäbiges Verhalten.
({4})
Damit Sie nicht denken, daß dies billige Polemik ist,
werde ich Ihnen vorlesen, was eine Zeitung heute dazu
von einigen Ministern schreibt. Es sind Ihre Minister,
Minister SPD-geführter Länder:
Ins gleiche Horn stieß Hartmut Meyer, SPDVerkehrsminister von Brandenburg: „Drei Jahre
sind zu kurz. Das führt dazu, daß eine Vielzahl von
wichtigen Infrastrukturprojekten ohne die Beschleunigungsinstrumente nicht zeitgerecht realisiert werden können. Die drastische Verringerung
der Investmittel des Bundes für die nächsten Jahre
verschärft das Problem.“ Je länger das Gesetz in
den neuen Ländern gelte, um so langfristiger könne
die Bedarfsplanung wichtiger Verkehrsinfrastrukturprojekte sichergestellt werden. Rolf Eggert,
Meyers … und Amtskollege aus Schwerin, ergänzte: „Das ist zu kurz, da die Mehrzahl der Ortsumgehungen noch nicht linienbestimmt ist“.
Der CDU-Minister aus Thüringen - Herr Sorge, hören Sie zu; er ist zwar von unserer CDU, aber er sagt das
gleiche - sagt, daß er absolut für eine zehnjährige Verlängerung eintrete. Das ist die Stimmung in den Ländern, und Sie haben das einfach so gekippt. Dieser Zeitungsartikel von heute liegt auf der Linie dessen, was ich
für meinen Redebeitrag zuvor schon vorbereitet hatte.
Drittens. Der vom Bundesministerium für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen nach langer Verzögerung
und vielen Versprechungen nun endlich vorgelegte Investitionsplan für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen
sieht einen Großteil dieser Maßnahmen erst nach dem
Jahre 2002 vor. Aus den Regierungspapieren geht demnach eindeutig hervor, daß der Angleichungsprozeß der
Planungen für die Verkehrsinfrastruktur in den neuen
Bundesländern noch mindestens zehn Jahre dauern wird.
Genau diesem auch von Verkehrsexperten der Länder
und der Verbände geteilten Standpunkt wird der von
Sachsen eingebrachte Bundesratsentwurf gerecht.
Meine Damen und Herren, wem schadet also das
Tauziehen um eine Nichtverlängerung, wie sie die Grünen sowie die PDS wollen - letztere spricht gar von
„kannibalischen“ Verkehrsprojekten; so gestern im Ausschuß geschehen -,
({5})
und um eine zehnjährige Verlängerung, wie es der Bundesrat, vernünftige SPD-Politiker und die CDU/CSUFraktion wollen?
Es schadet der weiteren Infrastrukturentwicklung in
den neuen Bundesländern. Die Quittung für das Querstellen geben die Bürger in Ostdeutschland bei allen
Wahlen seit 1994. Die Grünen sind als Verhinderer einer
modernen und umweltfreundlichen Infrastruktur längst
erkannt und werden als Partei praktisch kaum noch
wahrgenommen. Die PDS hat sich vor Ort derartige Äußerungen gegen den Aufbau Ost und eine moderne Infrastruktur bisher nicht geleistet. Es ist also an der Zeit,
dieses Verhalten in der Öffentlichkeit und in den Medien aufzuzeigen.
({6})
Meine Damen und Herren, vor 10 Jahren startete die
Bundesregierung einen gewaltigen Aufholprozeß zur
Beseitigung der katastrophalen Hinterlassenschaft aus
40 Jahren SED-Diktatur. Gerade in der Verkehrsinfrastruktur waren besonders große Schäden entstanden. Es
begann 1989/90 nicht mit Verkehrsprojekten „Deutsche
Einheit“, es begann mit 168 Grenzübergangsstellen auf
rund 480 Kilometern Grenze zwischen Ost und West.
Wer hat das nicht noch alles in Erinnerung? Man muß
das an einem Tag wie heute in Erinnerung rufen.
Die Begeisterung und die Euphorie der Menschen
über die nahe Einheit Deutschlands kannte im bildlichen
und menschlichen Sinne wirklich keine Grenzen mehr.
Diese Szenen der Freude und das Aufatmen der eingesperrten Menschen kommen mir nun wieder in den
Sinn, wenn ich an die folgenden Jahre des unglaublichen Aufschwungs gerade bei der Verkehrsinfrastruktur
denke.
Noch haben wir aber im Osten Deutschlands einen
gewaltigen Rückstand an Ortsumgehungen, Autobahnanbindungen und Vernetzungen der Großstädte gegenüber den alten Bundesländern. Ob dieser weiterhin so
schnell aufgeholt werden kann, liegt an der Entscheidung für eine längerfristige Planungsbeschleunigung, an
der Bereitstellung genügender Mittel und an der Bereitschaft dafür, dies mit ganzem Herzen zu wollen und diese Maßnahmen nicht nur mit dem Attribut „höchste
Priorität“ zu kennzeichnen, sondern auch voranzutreiben.
Beides kann man leider auf Grund der enormen
Haushaltskürzungen im Verkehrsbereich - vor allem
Sachsen ist hier betroffen - und auf Grund des heutigen
halbherzigen Vorschlags zur Verlängerung der Geltung
des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes der
Bundesregierung nicht erkennen.
({7})
In diese Herzlosigkeit muß man leider auch den Satz
in einem Ministerbrief aus Nordrhein-Westfalen einordnen, der wörtlich lautet:
Es ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Privilegierung der neuen Länder und der Verkehrsprojekte
Deutsche Einheit, an denen NRW in keinem einzigen Fall trotz seiner Bedeutung für Ost-WestVerkehre partizipiert, in Frage zu stellen ist.
Für mich ist das nicht nur unrichtig dargestellt,
({8})
wenn ich vor allem an die Millionen Lkw denke, die von
Westfirmen kommen und im Osten anliefern, dann ist
diese Äußerung nicht nur herzlos, sondern skandalös. Das ist ein Minister aus Nordrhein-Westfalen.
({9})
- Er ist von der SPD, man muß das schon sagen. Das ist
ja bekannt.
({10})
Ich kann Ihnen das auch zeigen, ich habe das wortwörtlich vor mir liegen, aber der Name spielt keine Rolle.
({11})
Ich hoffe und wünsche nur, daß die großartigen Leistungen im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit
nicht durch solche unsinnigen Aussagen in den Schatten
gestellt werden. Dazu rufe ich alle Kolleginnen und
Kollegen in diesem Haus auf.
({12})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wieland Sorge, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Dehnel, wenn
man Sie so hört, dann hat man den Eindruck, als ob ab
heute im Hinblick auf die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur im Osten das Licht ausgeht.
({0})
Ich möchte zu Beginn auf einige von Ihnen genannte
Punkte kurz eingehen, ehe ich mich dem eigentlichen
Thema zuwende. Ihrer Beurteilung des Landes Nordrhein-Westfalen zum Schluß Ihrer Rede kann ich entgegensetzen, daß Herr Teufel einen Brief an Herrn Müntefering geschrieben hat, in dem gestanden hat, daß die
Bevorzugung des Ostens aufhören müsse und daß man
endlich dazu übergehen müßte, wieder an die Westländer zu denken. Ähnlich hat sich Herr Stoiber geäußert.
Was sollen also diese Tränen über die Herzlosigkeit von
SPD-Landesministern?
In einem sind wir uns doch alle einig, nämlich darin,
daß die Verkehrsinfrastruktur im Osten noch unbedingt
verbessert werden muß.
({1})
Ich habe mit Vertretern aller neuen Bundesländer gesprochen und einmal ganz ernsthaft folgende Frage gestellt: Glauben Sie wirklich, daß wir das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz noch zehn Jahre benötigen? Oder ist es, wenn wir die Projekte jetzt beschleunigt angehen, nicht möglich, das gesetzte Ziel in einer
kürzeren Frist zu schaffen?
({2})
Eine Schiffahrtsdirektion beispielsweise hat gesagt: Mit
einer Verlängerung der Geltung dieses Gesetzes um drei
Jahre können wir leben. Andere Einrichtungen haben
sich dazu ähnlich geäußert. Ich könnte Ministerpräsidenten nennen - das will ich jetzt aber nicht tun -, mit
denen ich gesprochen habe und die gesagt haben: Wir
sehen in einer dreijährigen Verlängerung eine Chance.
Am Ende werden wir sehen, ob es notwendig ist, einer
weiteren Verlängerung zuzustimmen.
({3})
Das Hauptziel des wiedervereinigten Deutschlands
bestand darin, die Lebensverhältnisse im Osten so
schnell wie möglich denen des Westens anzugleichen.
Dies galt - ähnlich wie in anderen Bereichen - auch für
das Gebiet der Verkehrsinfrastruktur. Um dieses Ziel zu
erreichen, wurde 1991 das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz erlassen. Die Planungsdauern für
Großprojekte des Bundes wurden damit erheblich verkürzt. Die damalige Bundesregierung ging davon aus,
daß eine zeitliche Befristung bis Ende 1999 ausreichen
würde.
Die entscheidende Frage lautet jetzt: Ist das Ziel einer
Angleichung der Verkehrsinfrastruktur an das Niveau im Westen schon erreicht? Hier die klare Antwort:
Nein. Trotz großer Fortschritte bei der Realisierung der
insgesamt 17 Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, trotz
der Wiederherstellung und Erweiterung bestehender
Straßen- und Schienenverbindungen sind die Verkehrswege im Osten dem Bedarf noch längst nicht gewachsen.
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ursachen sind
zum einen die völlig desolate Situation der Verkehrsinfrastruktur im Osten kurz nach der Wende, zum weiteren
die fehlenden personellen und institutionellen Kräfte, die
notwendig gewesen wären, um die Umsetzung der Regelungen schnell voranzutreiben und zum anderen die
Rechtsunsicherheit, die durch die ungelösten Eigentumsfragen immer wieder auftauchte. Es fehlte den Personen,
die in den zuständigen Stellen plötzlich neu eingestellt
worden sind, an Erfahrung. Es fehlten eine Reihe von
rechtlichen Grundlagen, die erst geschaffen werden
mußten, um dieses Beschleunigungsgesetz überhaupt
zur Anwendung zu bringen.
Die zweite Frage lautet nun: Hat sich das Beschleunigungsgesetz in den letzten acht Jahren, in denen es zur
Anwendung kam, bewährt? Hier muß ich klar sagen: Ja.
Ich will dabei nicht verschweigen, daß die Fraktion der
SPD seinerzeit Bedenken gegen dieses Gesetz angemeldet hatte, hauptsächlich deswegen, weil der Klageweg
gegen geplante Projekte auf nur eine Instanz, nämlich
das Bundesverwaltungsgericht, beschränkt wurde.
({4})
In der Praxis hat sich aber gezeigt, daß die Einbeziehung des Bürgerwillens in den Planungsgang durch
dieses Gesetz nicht beschränkt oder gar ausgehebelt
wurde. Ich selbst habe an einzelnen solcher Veranstaltungen teilgenommen und habe immer wieder
gestaunt, wie sich die Bürger eingebracht haben. Ich
kenne einige Beispielsfälle, in denen der jeweilige Bürgermeister es fertiggebracht hat, die Strecken noch einmal zu verändern. Die Planungsdauer der Verkehrsprojekte konnte dadurch aber erheblich gesenkt werden, so
daß wir den heutigen Planungs- und Ausbaustand ohne
diese Sonderregelung mit Sicherheit nicht erreicht hätten.
Wir sind deshalb dafür, die Geltungsdauer des Gesetzes zu verlängern. Wir wollen aber keine unbefristete
Verlängerung, wie es die CDU/CSU-Fraktion fordert;
denn es geht hier um eine Sonderregelung, nicht um eine
allgemeine Verlängerung im Planungsrecht. Wir wollen
auch keine Ausdehnung dieser Regelung auf das gesamte Bundesgebiet, wie es die Kollegen von der F.D.P.
vorgeschlagen haben; denn ein Großteil der Regelungen
des Beschleunigungsgesetzes wurde bereits 1993 durch
das Planungsvereinfachungsgesetz für das gesamte Bundesgebiet übernommen.
Wir wollen eine vernünftige und maßvolle Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes. Eine Begrenzung
der Gültigkeitsdauer ist notwendig, um so früh wie
möglich zu einer bundeseinheitlichen gesetzlichen Regelung zurückzukommen und nicht auf Dauer ungleiches Recht in Ost und West zu etablieren.
({5})
Den Ländern muß dabei ein bedarfsgerechter Zeitraum
zur Verfügung gestellt werden, um die Planungsmaßnahmen voranzutreiben.
Aus diesen Gründen stimmen wir dem Gesetzentwurf
des Bundesrates zwar grundsätzlich zu, halten aber eine
Verlängerung der Geltung dieser Ausnahmeregelung um
drei Jahre für ausreichend. Ob danach eine weitere Verlängerung notwendig ist - dazu haben wir gestern einen
Beschluß gefaßt -, entscheidet sich, wenn ein Jahr vor
Ablauf der Verlängerung der Bericht vorliegt, aus dem
dies klar hervorgehen soll. Die SPD hat signalisiert, daß
sie bereit ist, einer weiteren Verlängerung zuzustimmen,
wenn dies notwendig erscheint.
({6})
Lieber Herr Dehnel, Sie haben gesagt, daß die Verkehrsinfrastruktur im Rahmen des Investitionsprogramms durch die Verlängerung der Geltungsdauer um
drei Jahre gefährdet sei. Alle Projekte, die im Investitionsprogramm für die Zeit von 1999 bis 2002 enthalten
sind, sind bereits vom Gesetz erfaßt. Diesen Projekten
kann also überhaupt nichts mehr passieren.
({7})
- Ich komme gleich darauf zu sprechen. - Wir haben
doch festgelegt, daß die Projekte bereits mit Antragstellung auf Linienbestimmung, auf Planfeststellung oder
Plangenehmigung automatisch von diesem Gesetz erfaßt
werden.
Nun zu Ihrem Zuruf, Herr Dehnel, „2002“. Wir hatten vor Inkrafttreten dieses Gesetzes eine ungünstige
Situation - ich habe sie schon geschildert -: Viele Voraussetzungen, um dieses Gesetz schnell in die Praxis
umzusetzen, waren nicht gegeben. Heute, acht Jahre
nach Inkrafttreten dieses Gesetzes, sind die Voraussetzungen natürlich viel besser. Heute haben wir Juristen,
die in der Lage sind, einen solchen Vertrag auch bestandsrechtlich zu prüfen und einzubringen. Heute haben
wir eine Verwaltung, die in der Lage ist, auch kurzfristig
die Genehmigung zu erteilen - natürlich nicht unter
Ausschluß der Bestimmungen, die dafür notwendig sind.
Heute haben wir natürlich auch größere Planungsbüros,
so daß diese Aufgabe gelöst werden kann.
Wir wollen noch eines erreichen, Herr Dehnel, nämlich daß sich die Länder ganz intensiv dieser Aufgabe
widmen. Wenn sie davon überzeugt sind, daß die Projekte in der nächsten Zeit schnell umgesetzt werden
können, dann wollen wir die Länder etwas unter Druck
setzen, indem wir sie, wenn die Kapazität nicht ausreicht, um die restlichen Projekte aufzunehmen, zwingen
wollen, das Personal aufzustocken, die technischen Kapazitäten zu erweitern und in den Verwaltungen noch
intensiver zu arbeiten.
({8})
- Richtig, ich kann natürlich bestätigen, daß die Leute in
den einzelnen Ämtern vor allen Dingen am Anfang, als
es für sie ganz schwierig war und sie völlig verunsichert
waren, oft keine Entscheidung fällten, weil sie Angst
hatten, entlassen zu werden. Es handelte sich bei ihnen
sozusagen um Neueinstellungen, und jeder Fehler, der
ihnen hätte nachgewiesen werden können, hätte die
Möglichkeit eröffnet, sie zu entlassen. Aus dem Grunde
waren sie bei Entscheidungen sehr zögerlich.
In diesem Bereich hat man aber sehr viel gelernt, und
man muß den Leuten heute ein Kompliment machen, gerade da die Voraussetzungen jetzt viel besser sind.
Überlegen Sie einmal: Es mußten Planungen für die 17
beschlossenen Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ mit
über 2 000 Kilometer Schienen- und Straßenstrecken erstellt werden. Es steckt doch eine wahnsinnig umfangreiche Arbeit dahinter. Heute, nach acht Jahren, kann
man sagen, daß die Hauptplanungen durchgeführt wurden. Es ist richtig, jetzt noch die ausstehenden Ortsumgehungen und Anbindungen von Autobahnen - Sie erwähnten es ja - in Angriff zu nehmen. Wir sind der
Meinung, daß das mit den uns heute zur Verfügung stehenden Mitteln in drei Jahren zu schaffen ist.
Wir wollen doch die Trennung der beiden Teile nicht
zementieren, sondern die Einheit herbeiführen.
({9})
Deshalb wollen wir so schnell wie möglich, daß gleiches
Recht in Gesamtdeutschland gilt. Damit werden natürWieland Sorge
lich die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Lebensverhältnisse in den beiden ehemaligen Teilen Deutschlands einheitlich zu gestalten.
Ich danke.
({10})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fast auf den
Tag genau vor zehn Jahren wurden die Voraussetzungen
für ein einheitliches Deutschland geschaffen. Die DDR
hatte uns damals eine desolate Infrastruktur hinterlassen.
Diejenigen, die die damalige Zeit erlebt haben, wissen,
wie beschwerlich es war, mit dem Trabant oder dem
Wartburg über die damaligen DDR-Fernverkehrsstraßen
zu fahren. Vor diesem Hintergrund ist es um so beeindruckender, zu sehen, welche Leistungen beim Aufbau
des Straßen-, Schienen- und Wasserstraßennetzes in den
neuen Bundesländern bisher erbracht worden sind.
Darüber hinaus haben alle neuen Bundesländer entweder ihren Flughafen ausgebaut oder neu gebaut. Der
zügige, wenn auch kostenaufwendige Ausbau der Verkehrsinfrastruktur war und wird auch in Zukunft der
Schlüssel zum Aufbau einer leistungsstarken Wirtschaft
sein. Neben hohen materiellen Aufwendungen war es
das Verdienst der früheren Bundesregierung, für den
Aufbau der Infrastruktur Sonderregelungen zu erlassen,
die den Ablauf der vereinigungsbedingten Verkehrswegeplanung erleichterten. So wurden durch das bereits
1991 auf den Weg gebrachte Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz strenge Fristen für Behörden vorgegeben, vereinfachte Verfahren für die Enteignung bei
ungeklärten Eigentumsverhältnissen festgelegt sowie die
gerichtliche Überprüfung von Planungsbeschlüssen auf
eine Instanz beschränkt.
Die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des
Bundesverwaltungsgerichts für die Anfechtungsklagen
gegen Planfeststellungsbeschlüsse oder Planungsgenehmigungen führt zweifellos zur Verkehrswegeplanungsbeschleunigung. Gerade diese prozessuale Vereinfachung könnte für die verschiedenen noch anstehenden
Projekte - hier erinnere ich an den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld - von großer Bedeutung sein.
({0})
In den neuen Bundesländern gibt es derzeitig 180 bekannte Verkehrsprojekte, bei denen die Anmeldung des
Planfeststellungsverfahrens bereits erfolgt oder erst nach
dem Auslaufen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes Ende dieses Jahres erfolgt. Um den weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mittels der neuen Verkehrsprojekte zu beschleunigen und um die guten
Erfahrungen, die in den letzten acht Jahren gesammelt
worden sind, zu nutzen, spricht sich die F.D.P.Bundestagsfraktion für eine weitere Verlängerung der
Geltung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um zehn Jahre aus.
({1})
Die Bundesregierung wird gebeten, dem Bundestag
ein Jahr vor dem Auslaufen des in seiner Gültigkeit
verlängerten Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes einen Erfahrungsbericht vorzulegen, der Aufschluß über die nach diesem Gesetz geplanten Verkehrsprojekte und die beschleunigenden Effekte auf
Grund dieses Gesetz gibt.
Danke.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Albert Schmidt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Warum hat die Regierung Helmut Kohl
1991 das Beschleunigungsgesetz eigentlich befristet?
({0})
- Hören sie einmal zu, Herr Fischer! - Sie hat dieses
Gesetz befristet, weil es eine ganze Reihe von Sonderregelungen beinhaltet, die die Beteiligungsrechte und
auch die persönlichen Rechte im Bereich des Eigentumsschutzes sowie die Wahrnehmung von Rechtswegen faktisch zumindest verkürzt oder einschränkt.
Ich will Ihnen diese Beschränkungen ganz konkret
nennen: Die erste Beschränkung ist, daß es nur noch
eine Instanz für Anfechtungsklagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse gibt. Die zweite Beschränkung umfaßt
die Sonderregelung für ungeklärte Eigentumsverhältnisse, und die dritte Beschränkung die gesetzliche Anordnung der Sofortvollziehung für Planfeststellungsbeschlüsse. Diese Beschränkungen haben den Charakter
von Sonderregelungen, der uns immer dazu veranlaßt
hat, gegen diese Regelungen mit großen politischen Bedenken zu argumentieren. Diese Bedenken waren auch
der früheren Regierung offenbar nicht ganz fremd, sonst
hätte sie das Gesetz nicht befristet.
Nun liegen die Gesetzentwürfe von CDU/CSU und
F.D.P. auf dem Tisch des Hauses. Der Gesetzentwurf
der CDU/CSU sieht vor, eine unbefristete Verlängerung,
also eine unbefristete Geltungsdauer dieses Beschleunigungsgesetzes, einzuführen. Man muß sich dies einmal
vor Augen führen: Der Charakter der Sonderrechte, den
die alte Regierung noch erkannt hat und der für sie Anlaß war, eine Befristung einzuführen, wird nun nicht
mehr zur Kenntnis genommen. Die Partei, die sich - übrigens mit einem gewissen Recht - als Partei der Einheit
bezeichnen kann, will in Sachen Verkehrswegeplanung
offenbar für immer und ewig ein geteiltes Rechtsgebiet
in Deutschland haben. Das ist geradezu absurd.
({1})
Die F.D.P. setzt mit ihrem Gesetzentwurf aber noch
eins drauf. Die ehemaligen Liberalen, die früher einmal
für Bürgerrechte und Beteiligungsrechte standen, wollen
nicht nur die Verlängerung der Gültigkeitsdauer des
Gesetzes um weitere 10 Jahre, sondern sogar die Ausdehnung des Geltungsbereiches auf das gesamte Bundesgebiet. Das muß man sich einmal vorstellen: Die Beschleunigung der Verkehrswegeplanung, die damals
ausdrücklich mit der Zusammenführung höchst ungleicher Lebensverhältnisse und Verkehrsverhältnisse begründet wurde, wird nun umgekehrt, also geradezu auf
den Kopf gestellt, als ob die Verhältnisse des Westens
an die Verhältnisse des Ostens angeglichen werden
müßten. Was sollte sonst die Begründung sein?
({2})
Eine materielle Begründung sucht man im F.D.P.Gesetzentwurf vergeblich. Das ist Billige-Jakob-Politik
nach dem Motto: Wir setzen noch eins drauf. Wer bietet
mehr?
({3})
Warum aber befristet die Bundesregierung jetzt die
Verlängerung dieses Gesetzes auf drei Jahre? Herr Kollege Sorge hat dies ja schon plausibel begründet. Ich
will noch einmal die aus unserer Sicht wichtigsten drei
Gründe in Erinnerung rufen:
Erstens. Eine Befristung auf nur drei Jahre ist ein Signal, sich eben nicht zehn Jahre oder gar länger Zeit zu
lassen, um die noch nicht auf den Weg gebrachten Maßnahmen endlich auf den Weg zu bringen, sondern jetzt
unverzüglich die so beschleunigsbedürftigen Projekte
tatsächlich zu beschleunigen und wirklich mit den Planungen anzufangen. Der Beginn der Planungen ist für
die Geltungsdauer entscheidend. Ein Projekt, das im
Rahmen der Geltungsdauer dieses Gesetzes auf den Weg
gebracht worden ist, genießt die Regelungen dieses Gesetzes bis zur Fertigstellung. Das heißt, faktisch geht es
nicht um drei Jahre, sondern um einen wesentlich größeren Zeitraum.
Der zweite Grund ist, daß wir den Charakter der
Sonderregelung ernst nehmen und dieses gespaltene
Rechtsgebiet nicht auf immer und ewig in Deutschland
zementiert haben wollen. Vielmehr wollen wir eine Vereinheitlichung der Rechte im Sinne einer Zusammenführung der Rechtsverhältnisse herstellen.
Dritter Grund. Wir wollen damit deutlich machen,
daß das Planungsvereinfachungsgesetz, das seit 1993
gilt und einige Elemente dieses Beschleunigungsgesetzes bundesweit in Kraft gesetzt hat und das nicht befristet ist, ausreicht, um künftig im gesamten Rechtsgebiet
der Bundesrepublik Deutschland für ein adäquates Planungs- und Verwirklichungstempo zu sorgen.
({4})
Letzter Punkt, der deutlich macht, daß Ihre Aufregung ziemlich künstlich ist. Sie waren doch diejenigen ich komme zum Anfang meiner Ausführungen zurück -,
die 1991 geglaubt haben, man müsse, wenn man schon
etwas macht, was verfassungsrechtlich bedenklich ist,
dies befristen. Wir tun das jetzt auch, tun also genau
dasselbe, was Sie damals getan haben. Wir setzen allerdings eine andere Frist, weil wir nicht mehr 1991
schreiben, sondern 1999.
Wenn denn künftige Generationen der Auffassung
sein sollten - der Kollege Sorge hat das angesprochen -,
daß in drei Jahren wieder darüber diskutiert werden
muß, ob die Befristung ausreichend ist, so ist es dem
Parlament unbenommen, eine neue Entscheidung zu
treffen.
Wir tragen den Entscheidungsvorschlag der Bundesregierung mit, obwohl uns das aus persönlichen, politischen und rechtlichen Gründen sehr schwerfällt. Aber
wir stehen dazu und halten die jetzt vorgeschlagene Regelung für ausreichend und angemessen.
({5})
Als
letzter Redner in dieser Aussprache hat das Wort der
Kollege Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um ehrlich
zu sein: Ich halte die Debatte um dieses Gesetz für ein
gewolltes großes Mißverständnis, wobei auf die Gutgläubigkeit der Ossi-Bürger und die Profitwütigkeit von
Wessi-Baukonzernen spekuliert wird.
({0})
Gleichzeitig wird - wie gerade gesagt wurde - die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung über alle Maßen
strapaziert. Dazu drei Argumente.
Erstens. Aus verfassungsrechtlicher Sicht handelt es
sich um ein ausgesprochenes Sondergesetz. Es schafft
ein Sonderrecht für einen Sonderraum, nämlich die
neuen Länder. Unter anderem gibt es wie gerade ausgeführt wurde, falls Bürger rechtliche Schritte gegen eine
Trasse unternehmen wollen, nur eine einzige erste und
letzte Instanz.
Dieses Gesetz wurde mit dem Vorliegen einer besonderen Situation, nämlich der fehlenden Verkehrsinfrastruktur bzw. deren mangelhafter Qualität in den neuen
Ländern begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat
sich mit der Rechtmäßigkeit dieses Sondergesetzes befaßt und dabei explizit entschieden, dies sei nur für eine
begrenzte Zeit hinnehmbar.
Es ist nicht einzusehen, weshalb die Geltungsdauer
eines Gesetzes, das ursprünglich fünf Jahre Bestand haben sollte, nach zehn Jahren erneut verlängert werden
soll, nach einem gestern vorgelegten Antrag der
CDU/CSU sogar auf unbefristete Zeit, zumal nach
diesem Gesetz alle begonnenen Verkehrswege, Herr
Kollege Sorge, und alle vorliegenden Planungen für den
Verkehrswegebau vollendet werden können, also auch
dann, wenn das Gesetz ausläuft.
Albert Schmidt ({1})
Zweitens. 1991 argumentierten Grüne, Umweltverbände und Teile der SPD gegen dieses Gesetz. Der
BUND nannte das Ganze - vielleicht war das überzogen
- ein „Ermächtigungsgesetz gegen Mensch und Natur“.
Zu Recht wiesen die Grünen damals auf den grotesken
Tatbestand hin, daß selbst eine Klage beim Bundesverfassungsgericht keine aufschiebende Wirkung habe, daß
während des Verfahrens trotz Klage weitergebaut werden könne und am Ende gelte: Operation gelungen, Patient tot. Was sollte sich an dieser Sachlage, an diesen
Argumenten bis heute geändert haben außer der Tatsache, daß in den vergangenen zehn Jahren einige tauschend Kilometer neue Straßen gebaut wurden, aber so
gut wie keine Schienen in den neuen Ländern?
Drittens. Bei dem Gesetz geht es nicht um mehr Verkehrswege und schon gar nicht um mehr Arbeitsplätze.
Es geht ausschließlich um schnellere Planung durch Reduktion von Bürgerbeteiligung.
Kollege Dehnel, ich habe nicht von einer Kannibalisierung von Projekten gesprochen, sondern von einer
Kannibalisierung des Planungsrechts. Das sagt die
F.D.P. überall, das gleiche die CDU/CSU immerfort und
SPD und Grüne bis zur Abwahl dieser Regierung wahrscheinlich auch.
Die Planungszeiten entscheiden nur darüber, ob etwas
gründlich geplant wird und ob dabei die Interessen von
Mensch und Natur gewahrt bleiben. Der Umfang dessen,
was gebaut wird, wird an anderer Stelle festgelegt, nämlich im Investitionsetat für Straße, Schiene, Binnenschiffahrt und Luftverkehr. Hier - das wurde gesagt weisen die Begehrlichkeiten in eine andere Richtung.
Die Westländer klagen nun, daß zu viele Mittel gen
Osten flössen und das wieder mehr im Westen gebaut
werden solle. Siehe dazu die Aussage des Kollegen Sorge zu Teufel und Stoiber und deren unchristliche Eigenliebe in den einheimischen Beton.
Herr
Kollege Wolf, kommen Sie bitte zum Schluß.
Das Ganze ist ein großes
Mißverständnis. Es verhält sich so wie im Film „Jour de
Fête“, „Schützenfest“, von Jacques Tati: Der wahnwitzig radelnde Briefträger brüllt: „Rapide, rapide!“, also
„Schnell, schnell!“. Er liefert aber deswegen nicht mehr
Post und keine höheren Rentenbescheide aus, sondern er
stürzt in die Gosse und verpaßt ab und zu den richtigen
Briefkasten. Deshalb glaube ich, daß wir das Gesetz in
jeder Art der Verlängerung ablehnen sollten.
({0})
Der
Kollege Helmut Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen
hat um eine Kurzintervention gebeten. Ich bitte allerdings, die fortgeschrittene Zeit zu beachten. Bitte schön,
Herr Wilhelm.
Ich gehe selbstverständlich davon aus, daß
wir alle hier auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.
Allerdings fällt mir schon auf, daß von seiten der F.D.P.
und der CDU die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend beachtet wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen wenn auch nicht im Tenor, so doch inzidenter - erklärt,
daß es sich hierbei angesichts der Folgen der deutschen
Einheit und der Notwendigkeit der Herstellung gleichartiger Lebensverhältnisse nur um ein Ausnahmerecht
handeln könne.
Daß die F.D.P. dem Ganzen noch eines draufsetzt
und noch nicht einmal verfassungsrechtliche Bedenken
bekommt, nicht nur den Rechtsweg auf eine Instanz zu
verkürzen, sondern nur noch ein einziges Gericht, nämlich das Bundesverwaltungsgericht in Berlin, für ganz
Deutschland, von Flensburg bis Berchtesgaden, von
Freiburg bis Stralsund, für zuständig zu erklären, verwundert mich sehr. Meine Damen und Herren von der
F.D.P., die Idee ist ausbaufähig: nur noch ein Sozialgericht, nur noch ein Finanzgericht, nur noch ein Zivilgericht für Deutschland. Machen wir weiter so. Ob sich
das noch Rechtsstaat nennt, weiß ich nicht.
({0})
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes, Drucksachen 14/1517 und
14/1876 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Bei Zustimmung der SPD-Fraktion und der großen Mehrheit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Gegenstimmung der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und
der PDS-Fraktion ({0})
- Bitte? - Gegenstimmen. ({1})
- bei einigen Zustimmungen aus der F.D.P.-Fraktion,
wenn ich das richtig gesehen habe, angenommen.
Ich komme damit zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({2})
Wer enthält sich? - Damit ist die Lage wieder geklärt.
Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung bei Zustimmung
der Fraktion der SPD und der großen Mehrheit von
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS bei zwei Enthaltungen aus
der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der F.D.P. zur Änderung des Ver-
kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auf Druck-
sache 14/1540. Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/1876
unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse
über den Gesetzentwurf der F.D.P. auf Drucksache
14/1540 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetz-
entwurf bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion und einiger
Kollegen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen aller
anderen Fraktionen und der Mehrheit der CDU/CSU-
Fraktion abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen zu dem Gesetzentwurf der
Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Verkehrswe-
geplanungsbeschleunigungsgesetzes. Der Ausschuß emp-
fiehlt auf Drucksache 14/1876 unter Nr. 3, den Gesetz-
entwurf auf Drucksache 14/544 für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser
Beschlußempfehlung einstimmig Folge geleistet wor-
den.
Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlußempfehlung
auf Drucksache 14/1876 die Annahme einer Entschlie-
ßung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist
dieser Beschlußempfehlung bei Enthaltung der PDS-
Fraktion sowie zweier Abgeordneter von Bündnis 90/
Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen
zugestimmt worden.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 11a und 11b
auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Besteuerung von Luxusgegenständen
- Drucksachen 14/27, 14/1613 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Barbara Höll
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Fraktion der PDS
Wiedererhebung der Vermögensteuer
- Drucksachen 14/11, 14/1614 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Barbara Höll
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die
Aussprache eine namentliche Abstimmung durchführen
werden. Ich denke, die PDS bleibt bei ihrer Forderung
nach namentlicher Abstimmung.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Als erste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde beraten wir
heute in zweiter und dritter Lesung einen Antrag der
PDS zur Vermögensbesteuerung. Wir demokratischen
Sozialistinnen und Sozialisten schlagen vor, daß der
Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern
möge, einen Gesetzesvorschlag zur Wiedererhebung der
Vermögensteuer auf reformierter Bemessungsgrundlage
vorzulegen.
Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben ein
Jahr nach dem Regierungswechsel das Recht, zu erfahren, wie ernst es der rotgrünen Regierungskoalition mit
der Umsetzung ihrer eigenen Wahlaussagen ist.
Die SPD formulierte wie folgt:
Im Sinne eines gerechten Lastenausgleichs werden
wir dafür sorgen, daß auch die sehr großen Privatvermögen wieder einen gerechten Beitrag leisten,
um Bildung und andere öffentliche Dienstleistungen finanzieren zu können.
({0})
Ihr Koalitionspartner war da sogar noch etwas genauer: Sie wollten die Vermögensteuer in Höhe von 1 Prozent wieder einführen. Vermögen bis zu 400 000 DM
sollten steuerfrei bleiben.
Politikerinnen und Politiker sind in der Pflicht, deutlich zu machen, wie jeder und jede einzelne von ihnen
gewillt ist, diese ihre Wahlversprechen tatsächlich einzulösen. Aus diesem Grund hat die PDS für heute abend
eine namentliche Abstimmung beantragt.
Ich weiß natürlich, daß Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben, eine Sachverständigenkommission einzuberufen, die die Grundlage für eine wirtschaftlich und
steuerpolitisch sinnvolle Vermögensbesteuerung schaffen sollte. Diese Kommission arbeitet, leider jedoch ohne Zeitvorgabe.
Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mußten allerdings im Laufe des letzten Jahres schmerzhaft erfahren,
daß sowohl der Bundeskanzler als auch Herr Eichel
ganz genau zu wissen scheinen, wo sie einsparen können
und dabei der Masse der Bevölkerung neue Massen aufbürden können, ob das durch die Ökosteuer war oder ob
es die Abkoppelung der Rentenentwicklung von der
Nettolohnentwicklung ist. Arbeitslose sollen allein im
nächsten Jahr mit rund 7 Milliarden DM zur Konsolidierung des Bundeshaushalts beitragen. Dies war und bleibt
sozial ungerecht.
({1})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir möchten heute von Ihnen wissen, ob Sie überhaupt noch gewillt sind, nun endlich auch die wirklich
Vermögenden zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen. Herr Schröder disqualifizierte die Diskussion um die Vermögensbesteuerung als eine Diskussion
um Symbole, und Herr Metzger von den Grünen hält die
Vermögensteuer inzwischen für ideologischen Quatsch.
In einer Situation, in der die Bundesrepublik auf einem
Schuldenberg von 2,1 Billionen DM, also 2 100 Milliarden DM, sitzt, wird sehenden Auges auf eine Einnahmequelle verzichtet.
Dies ist konsequent: konsequent sozial ungerecht und
die Fortführung eines eingeschlagenen Weges; denn bereits mit der Veränderung der Einkommensteuer zum
1. Januar 2000 werden die Bezieher großer Einkommen
sogar überproportional entlastet. Durch die Absenkung
des Spitzensteuersatzes von 53 auf 51 Prozent gehen der
öffentlichen Hand etwa 2 Milliarden DM verloren,
durch die weitere Absenkung im nächsten Schritt sogar
noch einmal 2,5 Milliarden DM.
Sagen Sie heute klipp und klar, ob Sie bereit sind, die
ungerechte Lastenverteilung zwischen den wirklich
Reichen und den Millionen Menschen mit kleinen und
mittleren Einkommen zu korrigieren. Verweisen Sie
nicht auf den Leitantrag des SPD-Parteitages im Dezember; denn die vorgeschlagene schwammige Formulierung ist eine bloße Wiederholung des, wie sich heute
zeigt, unverbindlichen Wahlprogramms. Genau ein Jahr
nach der Regierungsübernahme erwartet die Bevölkerung eine klare Position und konkrete Vorschläge, aber
keine Feigenblätter.
Armut und Reichtum sind zwei Seiten einer Medaille.
Der letzten Erhebung - solche Erhebungen sind jetzt ja
leider nicht mehr möglich - konnte man entnehmen, daß
1995 1 Prozent derjenigen Menschen, die zur Vermögensbesteuerung veranlagt waren, über 28 Prozent des
Gesamtvermögens, nämlich über knapp 300 Milliarden
DM, verfügten. 1995 gab es mehr als 155 000 Vermögensmillionäre; ihre Zahl erhöhte sich innerhalb von drei
Jahren um 18 Prozent. 296 Haushalte in der Bundesrepublik verfügen jeweils über ein Vermögen von über
100 Millionen DM. Allerdings stieg auch die Zahl der
Sozialhilfeberechtigten in den letzten Jahren rasant an.
Beides hängt zusammen: Je ärmer ein Großteil der Bevölkerung wird, desto mächtiger und reicher wird eine
sehr kleine Gruppe.
Als wir vor Jahren hier über die Aussetzung der
Vermögensteuer diskutiert haben, haben Sie noch davon
geredet, daß der Wegfall durch die Erbschaftsbesteuerung aufgefangen werden sollte. Aber das war weit gefehlt. Schaut man sich die realen Zahlen an, so stellt
man fest, daß das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer
1997 4,06 Milliarden DM und 1998 4,8 Milliarden DM
betrug, also bei weitem nicht die fehlenden 6,7 Milliarden DM, die die Vermögensteuer noch 1992 erbrachte.
Frau
Kollegin Höll, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum Schluß.
Der öffentlichen Armut steht ein immenser privater
Reichtum gegenüber: Die privaten Geldvermögen
werden auf über 5 000 Milliarden DM geschätzt.
Während die Belastung aus der Lohnsteuer und aus
Sozialabgaben stetig stieg, wurden die Empfänger
von Einkommen aus Unternehmertätigkeit und
Vermögen systematisch entlastet.
Das stammt aus dem Wahlprogramm der Grünen.
Genau das ist das Problem: Es geht weder um einen
Neidkomplex noch um einen Selbstzweck. Es geht um
eine gerechte Lastenverteilung, um das Verfassungsgebot des Ausgleichs sozialer Gegensätze sowie darum,
wirklich Vermögende gleichermaßen und gerecht an der
Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen.
Ich bedanke mich.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute
über zwei PDS-Anträge zu debattieren. Der erste bezieht sich auf den Vorschlag, einen dritten Mehrwertsteuersatz für sogenannte Luxusgegenstände einzuführen. Dazu möchte ich ein paar kurze Bemerkungen
machen.
Wie Sie dem Bericht des Ausschusses entnehmen
können, haben die Koalitionsfraktionen diesen Antrag
vor allem aus einem Grunde abgelehnt, weil es nämlich
nahezu unmöglich ist, abzugrenzen: Was sind normale
Güter? Was sind Luxusgüter?
Frau Kollegin Höll, vielleicht ist das aus der Sicht der
PDS ein bißchen anders, weil es eventuell eine nostalgische Erinnerung an das gibt, was jederzeit einigermaßen
verläßlich in der „Kaufhalle“ zu bekommen war und
was es nur im „Exquisit“-Laden, vielleicht auch nur im
„Intershop“ gab, das aber auch nicht immer ganz verläßlich.
({0})
Ich zähle einmal ein paar Beispiele auf: Pulverkaffee,
Taschenrechner oder, was besonders schwierig war,
Südfrüchte.
({1})
Oder es gab manchmal das große Problem, daß der eine
oder andere Wandfliesen haben wollte. Ein ganz großes
Problem waren übrigens Weckgummis. Weckgummis
gab es weder in den „Exquisit“-Läden noch im „Intershop“. Das war ein ausgesprochener Luxusgegenstand.
Insofern war das schwierig. Dafür gab es darauf aber
keinen zusätzlichen Umsatzsteuersatz in einstigen klaren
Zeiten.
({2})
Herr
Kollege Spiller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
Gerne.
Bitte
schön, Herr Gysi.
Ich habe nur die eine Frage,
ob Ihnen außerhalb des Kabarett-Programms bekannt ist,
daß der Finanzgerichtshof in München, als wir noch eine
Vermögensteuer hatten, Luxus ausreichend definiert hat,
so daß es sehr wohl eine Grundlage gibt, festzustellen,
wo Luxus beginnt und was nicht darunter fällt.
({0})
Ich weiß nicht, ob Sie sich
mit Ihrem Antrag näher befaßt haben. Wir haben jedenfalls in der Debatte im Ausschuß festgestellt: Auch der
antragstellenden Fraktion fiel es ausgesprochen schwer,
auf konkrete Fragen konkret zu antworten, wie man das
abgrenzt. Ich glaube, wir sollten uns diesem Thema
nicht weiter widmen.
Das andere Thema, die Vermögensteuer, ist ein zu
ernstes Thema, um daraus einen Schaufensterantrag zu
machen.
({0})
Auch da darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten,
in den Bericht des Ausschusses zu schauen. Wir haben
als Koalitionsfraktionen sehr ernsthaft darauf hingewiesen, daß das Thema Vermögensbesteuerung nicht von
einem korrekten Verfahren zur Bewertung des Vermögens zu trennen ist.
Deswegen wird völlig zu Recht in dem Bericht dargelegt, daß wir für eine saubere Behandlung im Deutschen Bundestag bei der Gesetzgebung zunächst einmal
eine deutliche Klärung brauchen: Wie gehen wir mit den
Vorgaben des Verfassungsgerichtes um?
Ich erinnere daran: Das Bundesverfassungsgericht
hat 1995 in seinem Urteil die Anwendung der bestehenden Vermögensteuer nicht deswegen außer Kraft gesetzt, weil es die Besteuerung von Vermögen für falsch
erachtet hat, sondern weil die Ungleichbehandlung zwischen Grundvermögen und Geldvermögen ein solches
Ausmaß angenommen hatte, daß der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes verletzt war. Das war eine sehr eindeutige Begründung des Bundesverfassungsgerichtes.
Vielleicht erlauben Sie mir, daß ich ein paar Sätze aus
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Juni 1995 zitiere: Die Vermögensteuer belastet einheitswertgebundenes Vermögen und nicht einheitswertgebundenes Vermögen unterschiedlich. Die Einheitswerte
für Immobilien waren zuletzt mit dem Stichtag 1. Januar
1964 in der alten Bundesrepublik ermittelt worden. Für
Ostdeutschland sind die Einheitswerte, wenn sie überhaupt existierten, auf Bewertungen in den 30er Jahren
zurückzuführen. Daß eine solche Ungleichbehandlung
nicht tragbar ist, leuchtet jedem ein.
Herr
Kollege Spiller, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Gysi?
Ich möchte jetzt gerne im
Zusammenhang vortragen.
Gut.
Keine Zwischenfrage.
Meine Damen und Herren,
ich möchte auch daran erinnern, daß der Grundsatz, daß
das Vermögen ein Maßstab für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und für Wirtschaftskraft ist und deswegen auch ein Maßstab für eine Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit sein kann, davon überhaupt nicht berührt wird.
({0})
Im Gegenteil, es ist geradezu eine Tradition Europas,
nicht nur Deutschlands, daß Vermögen zur Finanzierung
von öffentlichen Aufgaben herangezogen wird.
Ich darf mit Ihrer Erlaubnis aus der Ausgabe „Unsere
Steuern von A - Z“ aus dem Jahre 1995 zitieren. Wenn
man diese Broschüre aufschlägt, blickt einem zunächst
ein sehr freundlich dreinschauender damaliger Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel entgegen. In dieser Broschüre vom Bundesfinanzministerium aus dem Jahre
1995 heißt es zum Stichwort „Vermögensteuer“:
Die fortlaufende Erhebung einer Vermögensteuer
trägt dem Gedanken Rechnung, daß Vermögen als
solches eine zusätzliche Besteuerung rechtfertigt,
und zwar nicht nur wegen der laufenden Vermögenserträge, sondern weil bereits das Vorhandensein von Vermögen eine eigene zusätzliche Leistungsfähigkeit begründet. ... Insgesamt führt dies
zu einer besonderen steuerlichen Leistungsfähigkeit, deren zusätzliche Besteuerung auch aus sozialund gesellschaftspolitischen Gründen gerechtfertigt
und notwendig erscheint.
Das schrieb Bundesfinanzminister Waigel 1995.
({1})
Im übrigen, Frau Kollegin Frick, ist das keine neue
Erfindung.
({2})
Vermögensbesteuerung gab es in Deutschland unter
Wilhelm II., unter dem Liberalen Gustav Stresemann,
unter Konrad Adenauer, unter Ludwig Erhard und auch
bis 1997 unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Bloß haben
Sie damals nichts getan, um diese verfassungswidrige
Ungleichbehandlung von Grundvermögen und Geldvermögen aufzuheben.
({3})
Nur eine faire, gleiche Bewertung von Vermögen bietet
die Grundlage für eine Besteuerung von Vermögen nach
dem Grundsatz „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“.
Ich will zum Stichwort „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“ noch auf eines mit besonderer Deutlichkeit hinweisen: Diese Koalition war es, die bei der
Einkommensbesteuerung endlich wieder den Grundsatz
in Kraft gesetzt hat, daß starke Schultern mehr zu tragen
haben als schwache.
({4})
Denn das, was in den vergangenen 16 Jahren Praxis war,
war die Durchlöcherung dieses guten alten Prinzips im
tatsächlichen Leben dadurch, daß es eine ganze Reihe
von Schlupflöchern gab, die es bestverdienenden Bürgern erlaubte, sich vor dem Finanzamt armzurechnen.
({5})
Dies haben wir beseitigt.
({6})
Wir haben zugleich dafür gesorgt, daß bei der laufenden Besteuerung des Einkommens nicht nur, wie Sie,
Herr Kollege Hauser, es auch jetzt mit dem CSUVorschlag tun, über die Spitzensteuersätze geredet wird.
({7})
Dabei vernachlässigen Sie, Herr Kollege Hauser, daß
unter Ihrer Regierung die höchste Spitzenbelastung bei
Arbeitnehmern mit einem Einkommen in der Nähe der
Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung - also bei einem Durchschnittseinkommen - lag, weil bei
Ihnen von jeden zusätzlich verdienten 100 DM mehr als
die Hälfte an Abgaben und Steuern abgezogen wurden.
Das, was wir mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999,
2000 und 2002 erreicht haben, möchte ich an ein paar
Beispielen, die der Kollege Fritz Schösser kürzlich in
seiner Anfrage an die Bundesregierung aufgelistet hat,
illustrieren. In der Antwort der Bundesregierung heißt
es: Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von
55 000 DM brutto - fast zwei Drittel aller Arbeitnehmer
beziehen Einkommen bis zu dieser Höhe - beträgt die
Entlastung in der Endstufe der Steuerreform - also im
Jahr 2002 - gegenüber 1998 für eine Familie mit zwei
Kindern rund 2 800 DM.
({8})
Dies entspricht einer Ermäßigung von 56 Prozent im
Vergleich zur Steuerschuld von 1998.
Alleinstehende ohne Kinder werden im Jahre 2002
bei gleichem Einkommen um rund 13 Prozent weniger
belastet. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringerem Einkommen werden prozentual noch deutlich
höher entlastet. Ich möchte bekräftigen, daß dies ein
großer Erfolg ist, den wir nicht verstecken müssen.
({9})
Die Entlastung war überfällig. Wir haben sie gegen heftigsten Widerstand auch von Ihrer Seite durchgesetzt.
({10})
- Manches muß man denen zweimal in der Woche sagen; denn ihre Fraktionskollegen im Finanzausschuß
haben beispielsweise sehr schnell vergessen, daß sie
selbst vor zwei Jahren die Schließung von Steuerschlupflöchern gefordert haben. Heute erleben wir, daß
Sie bei fast jeder konkreten Gesetzesregelung sagen:
Dies ist kein Steuerschlupfloch! Es muß bestehenbleiben!
({11})
Ich komme zum Schluß. Die SPD-Fraktion ist stolz
darauf, daß sie dem Gedanken der Steuergerechtigkeit
in der Praxis wieder zum Durchbruch verholfen hat.
({12})
Wir nehmen nach wie vor das Prinzip ernst, daß das
Vermögen ein Maßstab für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist. Ich möchte hinzufügen: Natürlich versteht es
sich von selbst, daß Freibetragsgrenzen zeitnah festgelegt werden müssen und daß sich in ihnen auch die Lebenswirklichkeit widerspiegeln muß, insbesondere in
den Regelungen, die das selbstgenutzte Wohneigentum
betreffen. Daß das Prinzip, Vermögen als Maßstab für
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit heranzuziehen, bei
der Besteuerung nicht einfach vergessen worden ist, ist
voll gerechtfertigt.
Ich danke Ihnen.
({13})
Ich erteile nun dem Kollegen Gregor Gysi das Wort für eine
Kurzintervention. Ich weise darauf hin, daß dies auf
Grund der fortgeschrittenen Zeit die letzte Kurzintervention ist, die ich heute abend zulasse.
Herr Präsident! Der Kollege
Spiller hat behauptet, unser Antrag sei ein Schaufensterantrag. Bevor ein Antrag eingebracht werde, müßten die
Verfassungsgrundsätze sehr genau geprüft werden. Ich
darf darauf hinweisen, daß wir die Bundesregierung in
unserem Antrag lediglich aufgefordert haben, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Ich nehme an, der Kollege
Spiller traut der Bundesregierung zu, die verfassungsrechtliche Frage zu klären, bevor sie einen GesetzentJörg-Otto Spiller
wurf vorlegt. Insofern spräche die gesamte Begründung,
die Sie abgegeben haben, dafür, daß Sie zustimmen.
Wenn Sie dennoch nein sagen, dann müssen Sie irgendwann einmal klar bekennen, ob Sie nun dafür oder
dagegen sind. Wenn Sie in Wirklichkeit dagegen sind,
dann waren die Gefechte, die Sie im vorigen Jahr gegen die anderen Parteien geführt haben, Polemik. Wenn
Sie dafür sind, dann müssen Sie heute auch dafür stimmen.
({0})
Herr
Spiller, bitte schön.
Herr Kollege Gysi, Sie
überschätzen die Bedeutung Ihres Antrages.
({0})
Das, was Sie in diesen Antrag hineingeschrieben haben, war die schlichte Aufforderung, daß innerhalb weniger Monate ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt werden
soll. Sie wissen ganz genau, daß die entscheidende Frage
die einer ordentlichen Bewertung der Verfassungsmäßigkeit ist und daß eine Prüfung dieser Frage nicht so
nebenbei zu machen ist. Deshalb darf ich, weil Sie danach gefragt haben, noch einmal bekräftigen. Wir werden dabei bleiben, Ihrem Antrag nicht zuzustimmen.
Wir lehnen ihn ab.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In
diesen Wochen erleben wir Steuerchaos, keine Steuergerechtigkeit, Herr Spiller, und wir erleben vor allem in
der Wirtschafts- und Finanzpolitik durch die Regierungskoalition einen einmaligen Zickzackkurs.
({0})
Fast jeden Tag gibt es neue Steuererhöhungsvorschläge. Inzwischen gibt es für die deutschen Steuerzahler einen Horrorkatalog mit immer neuen Folterwerkzeugen.
({1})
Herr Spiller, Sie reden hier von Schaufensteranträgen,
führen einen Eiertanz vor und fressen geradezu Kreide.
Ich frage Sie: Kennen Sie die Vorschläge der Kollegen
aus Ihrer Fraktion? Wissen Sie eigentlich, was sie alles
ankündigen? - Ich sage es Ihnen: Wiedererhebung der
Vermögensteuer, Erhebung einer Vermögensabgabe,
Erhöhung der Erbschaftsteuer durch Verschärfung der
Bewertungsmethoden.
({2})
Halbierung des Sparerfreibetrags und Aufhebung des
Bankgeheimnisses, Abschaffung des Ehegattensplittings, Erhöhung der Ökosteuer,
({3})
Ertragsbesteuerung von Kapitallebensversicherungen,
Verschärfungen der Afa-Tabellen und der Abgabenordnung, Belastungsprobe der Wirtschaft durch Scheingewinnbesteuerung mit den berüchtigten Gegenfinanzierungen, Einschränkung der Verlustverrechnung, Abschaffung der Ansparabschreibung für den Mittelstand,
Abschaffung des halben durchschnittlichen Steuersatzes
bei Betriebsveräußerungen, unbegrenzte Rückwirkung
des Wertaufholungsgebotes, Abschaffung des Schuldzinsenabzuges und so weiter und so weiter.
({4})
Meine Damen und Herren, das ist Steuermartyrium
nach linker Ideologie zu Lasten der Verbraucher und der
Wirtschaft, was Sie hier betreiben!
({5})
Verunsicherung, Verschlechterung der Steuermoral
und Investitionsattentismus sind die Folgen. Nichts ist
für unsere Arbeitsplätze so schädlich wie diese rotgrüne
Steuerideologie, für Bürger, Betriebe und Arbeitslose
ein Schaden ohne Ende, meine Damen und Herren. Eine
Belastungsprobe der Wirtschaft, nicht Wiedereinführung
des Prinzips starker Schultern, sondern Belastungsprobe
der Arbeitsplätze - das ist die Wirklichkeit in der Steuerpolitik dieses Landes.
({6})
Meine Damen und Herren, mir scheint, es geht Ihnen
überhaupt nicht um die Senkung der Arbeitslosigkeit,
sondern um eine ideologische Korrektur der Verteilung.
Die Konsequenzen sind Wachstumseinbruch, steigende
strukturelle Arbeitslosigkeit, über 500 000 weniger Erwerbstätige innerhalb eines Jahres und zunehmende
Haushaltslücken.
Das ist die falsche Auffassung von sozialer Gerechtigkeit. Sozial ist vor allem, was Arbeitsplätze schafft.
Nur ein Mitbürger, der Arbeit hat und etwas erwirtschaftet, kann dauerhaft Solidarität mit den wirklich Bedürftigen üben. Deshalb wäre eine Wiedereinführung
der Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe oder die Erhöhung der Erbschaftsteuer ein absoluter Irrweg für Deutschland.
({7})
Es wäre ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm durch
weniger Direktinvestitionen, eine leistungsmindernde
Doppelbelastung des schon einmal versteuerten Einkommens, eine Substanzbesteuerung auch in ertragsschwachen Jahren, ein neuer Weg zu mehr Steuerbürokratie und auch ein neuer Anschlag auf die Steuermoral,
weil die Vermögensteuerbelastung 1996 ja schon einmal
auf die Erbschaftsteuer aufgeschlagen wurde. Es wäre
letzten Endes ein völlig falsches Signal, das nicht mehr
soziale Gerechtigkeit schafft, sondern nur Belastungen
für Investitionen und Beschäftigung.
Rotgrün ist in der Finanz- und Steuerpolitik auf einem grundsätzlich falschen Kurs: Orientierungslosigkeit, Widersprüchlichkeit und Inkompetenz.
({8})
Dazu kommt Ihre innere Zerrissenheit in der Steuerpolitik. Eine Schlagzeile in der „FAZ“ von heute: „Grüne
lehnen Eichels Unternehmensteuerpläne ab“. Was muten
Sie uns überhaupt noch zu? Sie versuchen, jede neue
Steuerart einzuführen. Kaum haben Sie ein Konzept angekündigt, nehmen Sie das alles am nächsten Tag zurück. Ich kann Ihnen nur sagen: Damit nehmen Sie Verunsicherung und Arbeitsplatzverlust in Kauf.
Wir brauchen eine breite und echte Entlastung wohlgemerkt - aller Steuerzahler; wohlgemerkt: aller
Steuerzahler.
({9})
Wir brauchen keine verfassungswidrige Vermögensbesteuerung, keine verfassungswidrige Spreizung zwischen Einkommen- und Körperschaftsteuersatz, keine
Teilung zwischen „guten Unternehmern“ und „bösen
Unternehmern“. Das ist die schädliche Fortsetzung Ihrer
Steuerideologie. Wir brauchen eine substantielle Senkung der Steuersätze mit einem Niedrigsatzsteuertarif
und einer wirklichen Nettoentlastung von über
30 Milliarden DM.
({10})
Das wird einen deutlichen Wachstums- und Beschäftigungsschub auslösen. Die Umverteilungspolitik und
die Buchhaltermethode von Herrn Eichel bieten in diesem Sinne keine Zukunftsperspektive für unser Land
und auch überhaupt keine Zukunftsperspektive für die
Arbeitslosen in diesem Land.
Die SPD ist anscheinend bereit, ihre Politik danach
auszurichten, ihre an die PDS verlorenen Wähler zurückzugewinnen. Herr Spiller hat um diese ganze Sache
gewissermaßen einen Eiertanz veranstaltet. Ich bin sicher, er will die Vermögensabgabe, die Wiedererhebung
der Vermögensteuer oder die Erhöhung der Erbschaftsteuer nicht mit dem Sparpaket verbinden. Diese Steuererhöhungen werden die Bürger im Jahr 2000 präsentiert
bekommen. Ich kann deutlich sagen: Man ist bereit, bis
an die Grenzen der Verfassung und darüber hinaus zu
gehen.
In steuerlichen Fragen scheint die SPD-Fraktion den
Schutz des Bürgers vor dem Zugriff des Staates, den die
Verfassung garantiert, nicht sehr ernst zu nehmen. Die
Erhebung einer einmaligen Vermögensabgabe ist nach
Meinung vieler Experten verfassungsfraglich. Nahezu
keine der Voraussetzungen für eine solche Abgabe genügt den verfassungsrechtlich strengen Anforderungen.
Weder liegt eine existenzbedrohende finanzielle Notlage
vor, noch soll das Aufkommen gruppenspezifisch verwendet werden.
Da die Vermögensabgabe von ihrer Ausgestaltung
her zudem wie eine Vermögensteuer konzipiert werden
soll, wird der Eindruck erweckt, daß sich die Bundesregierung die Gesetzgebungskompetenz erschleicht; denn
bei der Wiedererhebung der Vermögensteuer wäre die
Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Um das zu
umgehen, setzen Sie auf eine Vermögensabgabe. Auf
Grund des letzten Wahldebakels haben Sie im Bundesrat
keine Mehrheit. Deswegen wollen Sie allein über die
Erhebung einer Vermögensabgabe entscheiden, so wie
Sie jetzt das Sparpaket auseinandernehmen, um Dinge
durchzusetzen, die letzten Endes nicht durchzusetzen
sind und die unseren Bürgern schaden.
Die Bemühungen um die Erhöhung der Vermögensbesteuerung über die Erbschaftsteuer durch eine Änderung der Bewertungsmethoden ist ebenfalls ein Generalangriff auf die notwendige Generationenbrücke. Andere
europäische Länder haben zum Teil erbschaftsteuerfreundliche Regelungen eingeführt. Insbesondere in den
USA und in Japan überlegt man sich, die Erbschaftsteuer völlig abzuschaffen. Großbritannien hat eine weitgehende Regelung für die Generationenbrücke eingeführt.
Bei uns will die Regierungskoalition jetzt eine Erbschaftsteuererhöhung durch die Hintertür einführen. Die
Grundstücksneubewertungskommission soll es geradezu
richten. Das leistungsbezogene Ertragswertverfahren
soll durch das Sachwertverfahren ersetzt werden. Das
Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit
wird durch die Abschaffung der Ertragswertmethode geradezu mit Füßen getreten. Durch das geplante Sachwertverfahren soll das automationsgerechte sogenannte
Berliner Verfahren eingeführt werden, das nur ein neues
Abkassiermodell bedeutet und das große Einfallstor für
neue Steuererhöhungen darstellt.
({11})
Wir, meine Damen und Herren, müssen den Bürgern
draußen sagen, was Sie in Wirklichkeit planen, nämlich
eine Bewertungsgrundlage nach dem Sachwertverfahren, weg vom Ertragswert, weg von der Besteuerung
nach der Leistungsfähigkeit, hin zu einer Bewertung für
eine Erhöhung der Grundsteuer, der Grunderwerbsteuer,
der Erbschaftsteuer, der Vermögensbesteuerung insgesamt. Dies steht bei uns ins Haus, und davor müssen wir
kräftig warnen, weil das zu Lasten der Arbeitsplätze in
Deutschland geht!
({12})
Meine Damen und Herren, das Vorgehen der Regierungskoalition ist entlarvend. Man macht es leise und
heimlich in einer Kommission, hinter verschlossenen
Türen. Es soll Kasse gemacht werden, und man will auf
der anderen Seite der Emotionalisierung von Wählerschichten dienen. Zur Befriedigung der Neidgefühle das ist das besonders Verwerfliche daran - werden von
Ihnen, von der SPD, Arbeitsplatzverluste in Kauf genommen.
({13})
Die Neiddiskussion, nur um nach den Wahlverlusten
wieder auf neuen Stimmenfang zu gehen, schadet dem
Gemeinwohl in Deutschland. Ihre Partei hat schon einmal durch eine Blockade bei der Steuerpolitik dem Gemeinwohl in Deutschland geschadet. Das gleiche machen Sie jetzt wieder. Gegen die ökonomische Vernunft
wollen Sie eine stärkere Vermögensbesteuerung, eine
stärkere Belastung der Arbeitsplätze in Deutschland einführen. Eine solche Politik müssen wir ablehnen, meine
Damen und Herren. Ich darf Ihnen sagen: Neid ist und
bleibt der Ausdruck von politischer Unfähigkeit. Das ist
die Situation, die Sie zu verantworten haben!
({14})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, vor der namentlichen Abstimmung liegen mir noch zwei Wortmeldungen vor. Ich
bitte, den Rednern wenigstens soweit zu folgen, daß diese ihr eigenes Wort verstehen können.
({0})
Der Kollege Müller vom Bündnis 90/Die Grünen ist
der nächste Redner. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Michelbach, Sie und Gemeinwohl - ich
glaube, das verträgt sich schlecht.
({0})
Aber ich will der Aufzählung am Anfang Ihrer Rede
noch einiges hinzufügen. Denn Sie haben einige Steuern, die wir planen, vergessen. Ich erwähne die Steuer
auf Weißwurst. Ich erwähne die Steuer auf Bier. Ich erwähne die Steuer auf süßen Senf. Und wir nehmen auch
noch eine Steuer auf Lederhosen und Dirndl. Davon
können wir Ihnen einiges sagen.
Mir fällt sicherlich noch mehr für Sie ein. Ich würde
gerne auch eine Steuer auf LWS und Herrn Sauter erheben,
({1})
eine Steuer auf dumme, unsoziale Vorschläge wie den
Ihres Fraktionskollegen Protzner, einen Monat Arbeitslosengeld zu streichen. Ich erinnere an den Vorschlag
aus Ihren Reihen, 20 DM für jeden Krankenhausbesuch
zu erheben. Ich erinnere an die Empfehlung, doch Koalitionen mit einem Rassisten von der österreichischen
FPÖ zu bilden. Auch darauf können wir eine Steuer erheben. Und ich erinnere an Ihren Vorschlag, doch bitte
schön eine Steuerreform durchzuführen, und zwar mit
50 Milliarden DM - nein, was sage ich? -, mit 60, 70,
80 Milliarden DM Nettoentlastung. Auch darauf können
wir eine Steuer erheben.
({2})
Wenn wir nun zu einer etwas ernsthafteren Debatte
kommen, dann können wir uns darüber unterhalten, daß
es sich die PDS mit ihrem Antrag etwas einfach macht.
Denn, liebe Kollegin Höll, Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, über die Instrumente zu reden. Sie haben
sich hingestellt und gesagt: Liebe Bundesregierung, mache einmal! - Ich muß leider sagen, daß es für das parlamentarische Verfahren etwas einfach ist, wenn Sie
nicht zwischen einer privaten und einer betrieblichen
Vermögensteuer unterscheiden, wenn Sie sich nicht die
Mühe machen zu entscheiden, ob wir tatsächlich in die
Substanzbesteuerung hineingehen, und zu fragen, ob
dies sinnvoll oder ob dies nicht sinnvoll ist.
Ich glaube, daß Sie es sich ein wenig einfach machen,
indem Sie nicht unterscheiden, ob eine Vermögensabgabe verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist. Einfach nur zu sagen, wir geben das Problem der Instrumentendebatte an die Bundesregierung ab, kann nicht
richtig sein, das ist etwas dürftig.
Herr
Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Gerne.
Herr Kollege Müller,
könnten Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen, daß wir von
Ihnen wissen möchten, ob Sie sich auf eine Diskussion
über die Vermögensbesteuerung einlassen? Wir können
dann, wenn wir das eindeutige Votum dafür haben, welches in den letzten Wochen durch verschiedenste Äußerungen aus den beiden Regierungsfraktionen arg
bestritten wurde, sehr gern in die konkrete Diskussion
einsteigen.
Könnte es sein, daß Sie selbst nicht ganz logisch argumentieren, wenn Sie meinen, jetzt noch einmal die
Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu müssen? Ich darf
Sie doch daran erinnern, daß in der vergangenen Legislaturperiode sowohl die SPD als auch die Grünen einen
Gesetzentwurf zur Neuregelung der Vermögensbesteuerung vorlegten. Da dies nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geschah, nehme ich an, daß Sie bereits
damals die Verfassungsmäßigkeit überprüft haben.
({0})
Sehr geehrte Kollegin Höll, ich sehe ein,
daß meine Stimme etwas angeschlagen ist; vielleicht
war ich auch nicht deutlich genug. Die Vermögensteuer
ist verfassungsgemäß, keine Frage. Die Frage ist, ob sie
politisch und ökonomisch sinnvoll ist. Darüber streiten
wir. Die von Ihnen präferierte Form hin zu einer privaten Vermögensteuer ist nicht sinnvoll, so die Ausschußberatungen. Bei der Vermögensabgabe habe ich
darauf hingewiesen, daß ich hier erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel habe, ob diese möglich, sinnvoll und
rechtlich zulässig ist.
Ich möchte aber auch etwas zu den Alternativen sagen. Der Kollege Spiller hat zu Recht darauf hingewiesen, daß wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt
haben, zu einer Besteuerung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit zurückzukehren. Unsere Einkommensteuerreform ist nicht im Sande verlaufen wie die der
alten Koalition, die sozial ungerecht und unverantwortlich war und eine höhere Mehrwertsteuer bedeutet hätte. Wir haben unsere Einkommensteuerreform
realisiert, die untere Einkommen und Familien entlastet
und Steuerschlupflöcher schließt. Das ist die richtige
Politik.
({0})
Ich möchte aber auch an den Koalitionsvertrag anknüpfen, in dem wir uns auf eine sinnvolle Vermögensbesteuerung geeinigt haben. Ich finde sehr wohl, daß wir
im kommenden Jahr eine Debatte darüber führen müssen, was dafür die sinnvollen Instrumente sind. Ich
möchte an dieser Stelle nur zwei nennen. Das eine ist die
Frage der Kapitalertragsbesteuerung, zu der der Kollege Merz von der CDU vor ungefähr vier Wochen einen sehr viel konstruktiveren Redebeitrag gehalten hat
als der Kollege Hauser vor fünf Minuten. Auch der
Kollege Merz hat darauf hingewiesen, daß ein Problem
bei der Besteuerung von Arbeitseinkünften und Kapitaleinkünften besteht und wir im Hohen Hause bei SPD,
Grünen und mindestens der CDU Handlungsbedarf sehen.
Das zweite ist ein Instrument, zu dem Bündnis 90/Die
Grünen bereits in der letzten Legislaturperiode einen
Gesetzentwurf vorgelegt haben: Ich meine das Stiftungsgesetz. Ich glaube, es ist sehr klug, darüber nachzudenken, welche Anreize wir geben könnten, um privates Vermögen in gemeinnützige Zwecke fließen zu
lassen, und wie wir sowohl zivilrechtlich als auch steuerrechtlich vorgehen könnten, um Vermögen für ökologische, kulturelle und wissenschaftliche Zwecke zu mobilisieren.
Die jetzige Koalition wird im Gegensatz zur alten
Koalition, die sich das zwar vorgenommen, aber in den
letzten vier Jahren nicht gebacken bekommen hat, in
dieser Legislaturperiode das Stiftungsgesetz reformieren
und damit viel mehr für die Gemeinnützigkeit und das
Gemeinwohl in Deutschland tun, als Sie das in den
letzten vier Jahren getan haben.
Vielen Dank.
({1})
Als
letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die
Kollegin Professor Gisela Frick, F.D.P., das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte noch um
Aufmerksamkeit für diese vier Minuten.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es wird Sie nicht verwundern, daß ich im
Namen der F.D.P.-Fraktion beide Anträge der PDS ablehne, und zwar eindeutig.
({0})
Ich nehme an, daß meine Begründung mit dem Verhalten meiner Fraktion in Einklang zu bringen ist, Herr
Spiller. Denn wo Kollege Gysi recht hat, hat er recht.
Sie haben mit all dem, was Sie in Ihrer Redezeit von
zwölfeinhalb Minuten gesagt haben, ein glühendes Plädoyer für die Vermögensteuer gehalten. Am Ende haben
Sie dann zur großen Überraschung gesagt: Wir stimmen
dem Antrag der PDS nicht zu. - Ein solches Verhalten
paßt schlicht und einfach nicht.
({1})
Alles das, was wir von Ihnen gehört haben, paßt auch
nicht zu Ihrer Politik. Ich habe leider keine so lange Redezeit wie Herr Michelbach. Deshalb kann ich nicht auf
all das Widersinnige eingehen, was aus Ihrer Fraktion zu
hören ist. Aber nach all dem, was Sie gesagt haben,
müßten Sie heute eigentlich den Anträgen der PDS mit
wehenden Fahnen zustimmen. Denn es ist ja alles klar.
Herr Müller, zu Ihnen ist zu sagen: Der erste Teil Ihrer Rede war sehr satirisch aufgezogen. Vielleicht ist Ihnen ja aufgefallen, daß das außer Ihnen keiner hier lustig
fand. Denn Ihre Phantasie, was alles zu Besteuerungsgegenständen gemacht werden kann, ist leider eher erschreckend.
({2})
Wenn man die Finanz- und Steuerpolitik der Koalition
beobachtet, dann ist Ihre Phantasie von der Realität gar
nicht soweit entfernt. Deshalb bleibt einem das Lachen
tatsächlich im Halse stecken.
({3})
Zur Luxussteuer brauche ich nicht viel zu sagen.
Das meiste ist schon gesagt worden. Hier gibt es in allererster Linie Abgrenzungsschwierigkeiten. Die Einführung einer neuen Steuer lehnen wir im übrigen ab.
Zur Vermögensteuer: Herr Spiller, was bei Ihnen vor
allem gefehlt hat, war ein Hinweis auf den Halbteilungsgrundsatz.
({4})
Sie haben nur etwas zur Bewertung gesagt. Der Halbteilungsgrundsatz besagt aber: Die Besteuerung darf in
der Summe nur in die Nähe einer hälftigen Teilung zwischen öffentlicher und privater Hand kommen. Den haben Sie völlig unter den Tisch fallen lassen. In der
Nichtbeachtung dieses Grundsatzes liegt aber das hauptsächliche verfassungsrechtliche Problem. Dies werden
Sie auch mit einer realitätsnäheren Bewertung der Immobilien, so wie Sie sie planen, nicht erreichen.
Dies haben wir im übrigen in der Vergangenheit nicht
hinbekommen. Dies war mit ein Grund für die Abschaffung der Vermögensteuer. Das war doch kein böser
Wille, sondern zeigt, wie schwer es ist, Immobilien zeitKlaus Wolfgang Müller ({5})
nah immer wieder richtig zu bewerten. Schon allein deshalb müssen wir von der Vermögensteuer wegkommen.
({6})
Nun zur Begründung der PDS zur Einführung einer
Vermögensteuer: Da Sie gebetsmühlenartig wiederholen
- diese Forderung ist auch im Leitantrag für den SPDBundesparteitag enthalten -, daß auch große Vermögen
endlich einmal zur Finanzierung des Gemeinwohls herangezogen werden sollten, muß ich feststellen, daß dies
doch geschieht. Es wird immer wieder vergessen, daß
Erträge aus Vermögen - seien es Kapitalerträge oder
Miet- bzw. Pachterlöse - der Einkommensteuer unterliegen, und zwar nach einem progressiven Tarif, wonach
die starken Schultern wahrhaftig wesentlich mehr tragen
müssen als die schwachen. Tun Sie doch bitte nicht immer so, als ob es bei uns eine Belastung stärkerer
Schultern nicht gäbe!
({7})
Bei uns werden die Erträge aus Vermögen sehr wohl
einer Besteuerung unterzogen. So wie Sie argumentieren, hört sich das immer so an, als ob Vermögen im
Hinblick auf die Besteuerung überhaupt keine Rolle
spielten. Das stimmt nicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat im übrigen darauf
hingewiesen, daß die Vermögensbesteuerung als Substanzbesteuerung nicht wirklich in die Substanz des
Vermögens eingreifen darf. Auch dazu kam von Ihnen
kein Wort. Nur aus den sogenannten Sollerträgen darf
die Vermögensteuer erhoben werden. Das ist nicht nur
bei den Sollerträgen so, sondern auch bei den tatsächlichen Erträgen aus der Einkommensteuer.
Insofern haben wir im derzeit geltenden Steuerrecht
jede Möglichkeit, auch die Vermögenden zu einer gerechten progressiven Besteuerung heranzuziehen. Deshalb lehnen wir beide vorliegenden Anträge ab.
Danke schön.
({8})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS
zur Besteuerung von Luxusgegenständen, Drucksache 14/1613. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/27 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS
zur Wiedererhebung der Vermögensteuer, Drucksache 14/1614. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/11 abzulehnen. Ich weise noch einmal
ausdrücklich darauf hin: Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses, diesen Antrag
abzulehnen, ab. Wer also der Beschlußempfehlung zustimmen will, muß mit Ja stimmen.
Die Fraktion der PDS hat namentliche Abstimmung
beantragt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle
Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekanntgegeben.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Verarbeitung
und Nutzung der zur Durchführung der Verordnung ({0}) Nr. 820/97 des Rates erhobenen
Daten und zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes ({1})
- Drucksache 14/1856 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
({3})
- Das ist eine freudige Nachricht. - Insofern darf ich Ih-
nen mitteilen, daß die Redner aller Fraktionen ihre Re-
den zu Protokoll geben.*)
({4})
Ich schließe damit die Aussprache. Eine Liste der
Redner gebe ich ebenfalls zu Protokoll.
Interfraktionell ist eine Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/1856 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vereinbart. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen morgen bekanntgegeben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. Oktober 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.