Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/28/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet. ({0}) Mit Bestürzung haben wir die Nachricht aufgenommen, daß das Parlament von Armenien Ziel eines brutalen Terroranschlages geworden ist. Eine Gruppe von Terroristen ist gestern in das Parlament eingedrungen und hat mit automatischen Waffen das Feuer auf Abgeordnete und Regierungsmitglieder eröffnet. Nach letzten vorliegenden Meldungen starben durch die Kugeln mindestens zehn Menschen, darunter der Parlamentspräsident Karen Demirtschjan und Ministerpräsident Wasgen Sarkisjan. Weitere 30 Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt. Es ist ein unfaßbarer Bruch der elementaren Grundlagen politischer Kultur, daß ein Parlament, die Stätte gewaltloser Auseinandersetzung, zum Ort eines Blutbades geworden ist. Als Parlamentarier verurteilen wir den Terroranschlag auf das schärfste und geben unserer Solidarität mit den Abgeordneten des Parlaments von Armenien Ausdruck. Den Angehörigen der getöteten Parlaments- und Regierungsmitglieder sprechen wir unser tiefes Mitgefühl aus. Danke schön. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zu der heutigen Tagesordnung. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die folgenden, Ihnen in einer Liste vorliegenden Zusatzpunkte zu erweitern: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 22 bis 25 in Drucksache 14/1836: Rente mit 60 und Bündnis für Arbeit ({1}) 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Lötzer, Carsten Hübner, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Zukunftsfähiger Handel und umfassende Reform der WTO - Drucksache 14/1834 3. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Kohärenz von EUAgrarpolitik und Entwicklungspolitik im Rahmen der WTOII-Verhandlungen - Drucksache 14/1860 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sigrid SkarpelisSperk, Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Margareta Wolf ({2}), Dr. Uschi Eid, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenz, offene Märkte, Fairness und nachhaltige Entwicklung: Für eine umfassende Weiterentwicklung des Welthandelssystems - Drucksache 14/1861 5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Düngemittelgesetzes - Druck- sache 14/1857 - b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weiterentwicklung der deutschtschechischen Beziehungen - Drucksache 14/1873 6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Forderungen, das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit zu streichen 7. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verarbeitung und Nutzung der zur Durchführung der Verordnung ({4}) Nr. 820/97 des Rates erhobenen Daten und zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes ({5}) - Drucksache 14/1856 8. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit - Drucksache 14/1855 9. Vereinbarte Debatte zur Entscheidung des US-Senats zum Atomteststoppvertrag 10. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung der Bundesregierung zu einer möglichen Lieferung von Kampfpanzern an die Türkei Außerdem wurde vereinbart, die Beratungen zu Tagesordnungspunkt 10 - Änderung insolvenzrechtlicher und kreditwesenrechtlicher Vorschriften -, zu Tagesordnungspunkt 15 - Änderung der Strafprozeßordnung sowie zu Tagesordnungspunkt 16 - Zwangsarbeiterentschädigung - abzusetzen. Des weiteren mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 53. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innen5570 ausschuß und Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ({6}) - Drucksache 14/1515 überwiesen: Ausschuß für Gesundheit ({7}) Innenausschuß Rechtsausschuß Der in der 55. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Zusatzprotokoll vom 22. September 1998 zu dem Übereinkommen vom 5. April 1973 ({8}) zwischen den Nichtkernwaffenstaaten der Europäischen Atomgemeinschaft, der Europäischen Atomgemeinschaft und der Internationalen Atomenergie-Organisation in Ausführung von Artikel III Absätze 1 und 4 des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen - Drucksache 14/1416 überwiesen: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({9}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich nicht vergessen, der Kollegin Gabriele Iwersen die besten Glückwünsche des Hauses zu ihrem 60. Geburtstag auszusprechen, den sie am 25. Oktober gefeiert hat. ({10}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der Sondertagung des Europäischen Rates in Tampere am 15./16. Oktober 1999 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den wir im Anschluß an die Aussprache abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Jahr 1999 wird als ein äußerst wichtiges Jahr in die Geschichte der Ausgestaltung der europäischen Integration eingehen. Nach dem historischen Schritt der Einführung der gemeinsamen Währung ist es während der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr trotz der Doppelkrise durch Kosovo-Krieg und Rücktritt der Europäischen Kommission gelungen, im europäischen Integrationsprozeß einen bedeutenden Schritt nach vorne zu tun. Die Agenda 2000, die Beschlüsse zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion, zur Grundrechtscharta und zur neuen Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen sind wichtige Bausteine auf dem Weg zu dem großen Ziel einer erweiterten und zugleich politisch handlungsfähigen Europäischen Union. Der Europäische Rat in Tampere markiert nun nach Binnenmarkt und gemeinsamer Währung den Einstieg in ein neues, weitreichendes und ehrgeiziges Integrationsprojekt: den Aufbau eines gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dies zeigt, daß niemand die Integrationskraft des alten Kontinents Europa unterschätzen sollte. Im Bewußtsein der enormen Herausforderungen, die vor uns liegen, ist der Wille zur Gestaltung der gemeinsamen Zukunft, des gemeinsamen europäischen Hauses ungebrochen. Mit dem gemeinsamen Rechtsraum rückt das Europa der Bürger in greifbare Nähe. Der Alltag der Bürger ist durch Reisen und durch berufliche und familiäre Beziehungen längst europäisch geworden. Zugleich haben sich aber auch viele ihrer Probleme europäisiert. Ein einzelner Staat kann heute nicht mehr aus eigener Kraft mit der Herausforderung durch die organisierte Kriminalität oder - wie wir es im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg erlebt haben - mit starken Flüchtlingsbewegungen fertig werden. Die EU muß dieser Realität gerecht werden. Die Bürger müssen wirklich spüren, daß sich durch die Europapolitik ihre alltägliche Lebenssituation verbessert. Nur so werden wir ihre für die weitere Integration unverzichtbare Akzeptanz auf Dauer sichern können. Die Bedeutung dieses neuen Integrationsprojektes geht aber noch darüber hinaus. Gemeinsames Recht kann eine enorme integrative Kraft entfalten. Der Code Napoléon und die deutsche Einigungsgeschichte nach 1870/71 sind eindrucksvolle Beispiele hierfür. Die wirkliche Bedeutung des gemeinsamen Rechtsraums besteht deshalb darin, daß sich mit seiner Verwirklichung Europa mit Nachdruck zu einer echten politischen Union entwickeln kann. Mit der Verabschiedung von rund 50 konkreten, verbindlichen Arbeitsaufträgen und der Vereinbarung eines ehrgeizigen Zeitzieles zu deren Realisierung - für mich ist wichtig, dies zu betonen; es handelt sich um das Jahr 2004 - hat der Europäische Rat die politische Priorität unterstrichen, die er dem Projekt eines gemeinsamen Rechtsraums - eines verbesserten Zugangs zum Recht, einer gemeinsamen Asyl- und Integrationspolitik sowie einer wirksameren Verbrechensbekämpfung - beimißt. Daß dieser politische Startschuß möglich wurde, ist in hohem Maße das Verdienst der Innen- und Justizminister, die den Gipfel zusammen mit dem Auswärtigen Amt vorbereitet und mitgestaltet haben. Mein besonderer Dank geht daher auch an die Bundesministerin Däubler-Gmelin und an den Bundesminister Schily. ({0}) Meine Damen und Herren, die europäischen Rechtsräume sind das Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklungen. Sie gehören zum gemeinsamen europäischen Kulturgut. Ihre Integration wird alles andere als einfach sein, weil das gewachsene Recht ein wichtiger und zugleich ein im Alltag erlebter Identifikationspunkt ist. Das Ziel kann deshalb nicht eine Homogenisierung dieser vielfältigen Rechtskulturen sein. Wohl aber kann es das Ziel sein, Inseln des gemeinsamen Rechts zu schaffen und diese dort, wo es für erforderlich erachtet wird, auszubauen. Wir haben uns in Tampere, um mit den Worten Romano Prodis, dem neuen Präsidenten der Kommission, zu sprechen, in dieser Frage auf „einen langen Marsch der Arbeit“ begeben. Das Projekt des gemeinsamen Rechtsraums steht noch am Anfang. Entscheidend ist aber, daß jetzt ein konkreter inhaltlicher und zeitlicher Rahmenplan vorliegt, wie er sich etwa beim Binnenmarkt bewährt hat. Damit kann sich das Ergebnis von Tampere mehr als sehen lassen. ({1}) Ein gemeinsamer Rechtsraum muß heißen, daß ein Bürger der Europäischen Union künftig in jedem Mitgliedstaat so einfach vor Gericht gehen kann wie in seinem Heimatland. Dazu müssen bürokratische Hürden beseitigt und die Abläufe vereinfacht und beschleunigt werden. Zivilrechtliche Urteile werden in der Europäischen Union schon heute in der Regel gegenseitig anerkannt. Schwierig für den einzelnen bleibt jedoch die Durchsetzung seines Rechts. Um diesen Mißstand zu beseitigen, soll nun auf deutsche Initiative ein europäischer Vollstreckungstitel eingeführt werden. Im Familienrecht soll eine Angleichung des Kollisionsrechts sicherstellen, daß überall in Europa zweifelsfrei feststeht, welches nationale Recht zur Anwendung kommt, wenn eine binationale Ehe geschieden wird oder wenn Fragen im Zusammenhang mit dem Sorgerecht zu klären sind. Dies sind Fragen, die auch und gerade im deutsch-französischen Verhältnis immer wieder eine belastende Rolle spielen. Zum europäischen Rechtsraum muß eine europäische Grundrechtscharta gehören. Der Europäische Rat in Tampere hat sich auf die Modalitäten der Einsetzung des Gremiums verständigt, das die Grundrechtscharta ausarbeiten wird. Dieses Gremium wird sich im Dezember konstituieren und soll bis Ende nächsten Jahres einen Entwurf vorlegen. Als Beauftragter des Bundeskanzlers wird ihm der frühere Bundespräsident Roman Herzog angehören. Bundestag und Bundesrat werden jeweils einen Vertreter entsenden. Ein besonderer Erfolg gemeinsamer Anstrengungen von Bundestag und Bundesregierung ist, daß sich das Gremium seinen Vorsitzenden selbst wählen wird. Mit dem Vorschlag für die Grundrechtscharta will Deutschland nicht die europäischen Grundrechte neu erfinden. Aber wer durch Organe oder Institutionen der Europäischen Union in seinen Grundrechten verletzt wird - es wird in Zukunft immer wichtiger, eine positive Antwort auf dieses Problem zu finden; denn wir wollen gerade in dieser Säule eine verstärkte Integration, eine verstärkte Vergemeinschaftung haben -, der muß dagegen wirksamer vorgehen können als bisher. Das Demokratiegebot erzwingt es, daß wir eine europäische Grundrechtscharta ausarbeiten und diese dann Schritt für Schritt in das Vertragswerk der Europäischen Union implementieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Manfred Müller [Berlin] ({2}) Die geltenden Grundrechte müssen für den Bürger transparenter und sichtbarer gestaltet werden. Wir versprechen uns von der Grundrechtscharta einen Impuls nicht nur für die Menschenrechte, sondern vor allem auch für die Identität und die Legitimität der Europäischen Union. Dies ist eine unverzichtbare Grundlage für den weiteren Integrationsprozeß, das heißt, ohne eine Stärkung des Demokratieprinzips in der Europäischen Union wird eine weitere Vergemeinschaftung und Vertiefung der Integration sehr schwer werden. Insofern kommt jetzt der konkret begonnenen Arbeit an der europäischen Grundrechtscharta eine weit über dieses grundsätzliche Rechtsgebiet hinausgehende integrationspolitische Bedeutung zu. ({3}) Die Europäische Union wird eine gemeinsame Asylund Migrationspolitik entwickeln. Ihr Kernstück, ein gemeinsames Asylsystem, wird garantieren, daß Verfolgten auch zukünftig Schutz in der Europäischen Union gewährt wird. Dieser Beschluß, zu dem eine Initiative der deutschen, französischen und britischen Innenminister wesentlich beigetragen hat, macht nochmals deutlich, worum es der Union geht - das wurde von allen, die sich in dieser Diskussion in Tampere gemeldet haben, unterstrichen -, nämlich um den Schutz von Flüchtlingen und nicht um den Schutz vor Flüchtlingen. Die Europäische Union ist und darf keine abgeschottete Festung werden. ({4}) In der Deutschland besonders betreffenden Frage einer europäischen Lastenteilung hat sich der Europäische Rat gerade auch auf deutsches Drängen hin für einen solidarischen Ausgleich zwischen den Mitgliedstaaten ausgesprochen, der allerdings noch konkretisiert werden muß und der angesichts der Interessendifferenz auch alles andere als einfach werden wird. Die Europäische Union wird künftig die Bekämpfung der Fluchtursachen - Elend, Not und politische Verfolgung - zu einem wichtigen Ziel ihrer gemeinsamen Außenpolitik machen. Entsprechende Aktionspläne für die wichtigsten Herkunftsländer wurden gebilligt und müssen jetzt umgesetzt werden. Die Europäische Union wird zudem eine energischere Integration dauerhaft in der Europäischen Union lebender Ausländer anstreben. In Tampere wurde ferner eine Verbesserung der Verbrechensbekämpfung auf europäischer Ebene vereinbart. Am 1. Juli hat Europol seine Arbeit aufgenomBundesminister Joseph Fischer men. Dennoch müssen wir darauf achten, daß die Verbrechensbekämpfung Schritt hält mit der organisierten Kriminalität, die heute mit modernen technischen Mitteln über die Grenzen hinweg operiert. Die Polizeizusammenarbeit in Europa muß so effizient und reibungslos funktionieren wie innerhalb eines Staates. Auch deswegen wird übrigens der Grundrechtsschutz sehr wichtig; denn das gehört zu einem innerstaatlichen Ausgleich unter demokratischen Bedingungen heute selbstverständlich dazu. Gemeinsame Ermittlungsdienste unter Beteiligung - möglichst Leitung - von Europol sind ein nächster wichtiger Schritt dorthin. Polizei und Justiz müssen auch auf europäischer Ebene parallel miteinander aufgebaut werden. Dies ist eine Grundfrage der Gewaltenteilung. Mit der Einrichtung von Eurojust als Ergänzung von Europol soll zunächst eine enge Zusammenarbeit der Staatsanwälte erreicht werden. Auf längere Sicht kann Eurojust die Keimzelle für eine europäische Staatsanwaltschaft werden. Ich komme zum zweiten großen Thema. Auch für die Erweiterung der Union wurden in Tampere auf der Grundlage der jüngsten Fortschrittsberichte der Kommission wichtige Weichen gestellt. Für den Europäischen Rat in Helsinki zeichnet sich nun in den zentralen, die Erweiterung betreffenden Fragen folgendes Einvernehmen ab: Die Beitrittsverhandlungen sollen - wie von der Kommission vorgeschlagen - im nächsten Jahr mit allen sechs Ländern der zweiten Gruppe aufgenommen werden. Zugleich soll bei den Verhandlungen stärker als bisher nach den individuellen Fortschritten der Beitrittsländer entlang den objektiven Kriterien differenziert werden. Es läßt sich vorhersehen, daß dieser Ansatz zu einer stärkeren Auffächerung des Kandidatenfeldes führen wird als bisher. Nur so ist aber sichergestellt, daß bisherige Nachzügler faire Aufholchancen erhalten und daß alle Kandidaten allein nach ihren Verdiensten beurteilt werden, ohne daß die Kopenhagener Kriterien aufgeweicht werden. Die Europäische Union beabsichtigt, in Helsinki eine politische Verpflichtung einzugehen, bis zum 1. Januar 2003 aufnahmebereit zu sein. Hiermit hat die Bundesregierung ihre Initiative für einen Erweiterungszeitplan konkretisieren können. Ein solches Datum wird die Berechenbarkeit des Erweiterungsprozesses für die Beitrittsländer signifikant erhöhen. Sie haben deshalb das Signal von Tampere einhellig begrüßt. Die Zeit arbeitet nicht unbedingt für die Erweiterung, meine Damen und Herren. Dies zeigt der besorgniserregende Rückgang der Zustimmung zum EU-Beitritt in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern. Gerade deshalb ist es so wichtig, daß wir das Momentum nicht verlieren. Die Erweiterungsfragen sind heute aber keine symbolischen Fragen mehr. Es sind Fragen, die konkreter Entscheidungen, die konkreter praktischer Verhandlungsfortschritte und auch konkreter Vorbereitung innerhalb der Europäischen Union bedürfen. Der erste Schritt, die Agenda 2000, wurde erfolgreich abgeschlossen. Der zweite Schritt, die Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen, soll spätestens mit der französischen Präsidentschaft abgeschlossen werden. Wenn man dann noch das eine Jahr einrechnet, das notwendig ist, um die entsprechenden Ratifizierungsprozesse in den Parlamenten durchlaufen zu können, erreicht man das Zieldatum des 1. Januar 2003. Der im nächsten Jahr stattfindenden Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen - ich habe es schon erwähnt - kommt eine entscheidende Bedeutung für die Erweiterung und das Funktionieren der künftigen Union zu. Die „drei Weisen“, angeführt von Richard von Weizsäcker, haben hierfür gute und wichtige Vorschläge gemacht. Wir müssen allerdings darauf achten, daß wir die Regierungskonferenz nicht überfrachten; denn sie muß rechtzeitig im kommenden Jahr unter der französischen Präsidentschaft abgeschlossen werden, damit das Zeitziel, die Erweiterungsfähigkeit zum 1. Januar 2003, erreicht werden kann. Dies wird der Maßstab der Bundesregierung bei den konkreten Festlegungen der Inhalte der Regierungskonferenz sein. Ich sage hier ganz offen: Wir halten es für nicht sinnvoll, in die Regierungskonferenz Inhalte hineinzunehmen, die den Abschluß der Regierungskonferenz letztendlich auf eine längere Bank schieben würden. Die Bundesregierung wird deshalb Frankreich, unseren engsten und wichtigsten Partner, mit allem Nachdruck bei seinen Bemühungen unterstützten, die Regierungskonferenz rechtzeitig und mit einem substantiellen Reformpaket abzuschließen. Meine Damen und Herren, in Tampere sind auch die Meinungsbildungen zum Kandidatenstatus der Türkei weiter angenähert worden. Dies war ebenfalls ein Anliegen der Bundesregierung. Ich will hier noch einmal unterstreichen: Beitrittsverhandlungen mit der Türkei können erst dann beginnen, wenn diese - wie die anderen Beitrittskandidaten - die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt hat. Dies ist keine Lex Türkei, sondern dies gilt für alle Kandidaten, die sich um Aufnahme in die EU bewerben. ({5}) Die Türkei weiß sehr genau - dies zeigt der Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Schröder und Ministerpräsident Ecevit -, wie weit sie hiervon entfernt ist. Für uns ist entscheidend, daß die Europäische Union der Türkei eine Perspektive eröffnet, die die Türkei aus der Isolation herausholt und Spannungen abbaut. ({6}) Wir können doch trotz aller Kritik heute schon sehen - lesen Sie die Berichte vom heutigen Tage -, daß das griechisch-türkische Verhältnis im Zusammenhang mit der neuen Türkei-Politik auf dem Weg zu einer entscheidenden Verbesserung ist. Das ist eines der ersten positiven Resultate dieser neuen Politik, während die drei Jahre, in denen die Türkei in die Isolation gedrängt wurde, das Gegenteil von konstruktiver und positiver Politik mit sich gebracht haben. Meine Damen und Herren, für uns ist entscheidend, daß die Europäische Union der Türkei eine Perspektive eröffnet, damit dort Demokratie, Menschenrechte, der Schutz von Minderheiten und die inneren Reformen gefördert werden können. Der Europäische Rat in Tampere fiel mit dem Amtsantritt von Javier Solana als Hohem Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik zusammen. Dies ist ein weiteres wichtiges Datum in diesem Jahr. Mit der Schaffung dieses Amts ist eines der ehrgeizigsten und weittragendsten Vorhaben der europäischen Politik Wirklichkeit geworden. Die Europäische Union gewinnt mit Javier Solana einen zentralen Ansprechpartner nach außen und einen wichtigen Impulsgeber nach innen. Dies ist ein echter Schritt nach vorne auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vertretung europäischer Interessen. Der gemeinsame Brief von Bundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac hat in Tampere zu einer Festigung der Rolle Solanas im Verhältnis zu Präsidentschaft und Kommission geführt. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie eng Deutschland und Frankreich entgegen einem fälschlichen Eindruck - in allen europäischen Fragen zusammenarbeiten. Wir werden uns gemeinsam mit Frankreich weiterhin mit allen Kräften dafür einsetzen, daß Solana sein politisches Gewicht und seine Erfahrungen in seinem neuen Amt voll zum Tragen bringen kann, gerade wo es um die Gestaltung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geht. Die Beschlüsse von Tampere stehen in einem engeren Zusammenhang, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Akzeptanz der Beitritte, der Erweiterung, wird wesentlich davon abhängen, ob die zukünftigen Mitgliedstaaten in der Justiz- und Innenpolitik an die in Tampere vereinbarten Maßnahmen anknüpfen können. Wir müssen vor der Erweiterung bei der Vertiefung, in der Justiz- und Innen- wie in der Außen- und Sicherheitspolitik soweit wie möglich vorankommen; denn zu 25 werden Fortschritte kaum einfacher zu erzielen sein als zu 15. Der Dreiklang von Tampere bei Recht, Erweiterung und Außenpolitik war insofern ein wichtiger und in sich ausgewogener Zwischenschritt auf dem Weg zu einer erweiterten Politischen Union. Die Chancen, daß in Helsinki die nächste wichtige Etappe gemeistert werden kann, sind deswegen gut. Die Bundesregierung will den Erfolg des sogenannten „Erweiterungsgipfels“ von Helsinki und wird dafür alles in ihrer Kraft Stehende tun. Ich bedanke mich. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Jürgen Rüttgers, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als ich der Regierungserklärung zugehört habe, habe ich mich gefragt: Was will der Außenminister uns mit dieser Regierungserklärung eigentlich sagen, was wir nicht schon in den letzten 14 Tagen durch regierungsamtliche Verlautbarungen zur Kenntnis genommen haben? Was will der Dichter uns eigentlich sagen? Wahrscheinlich gar nichts. Er will nur davon ablenken, daß er in dieser Woche eine verheerende Niederlage erlitten hat. ({0}) Er ist angeschlagen, und das ist der Grund, weshalb er hier geredet hat. ({1}) Herr Außenminister, was haben Sie vor einem guten Jahr - damals noch als Oppositionspolitiker - im Parlament nicht alles kritisiert! Aber jetzt merken Sie: Man muß nicht nur regieren wollen, sondern man muß es auch können. Aber Sie können es offensichtlich nicht. ({2}) Dieser Außenminister bringt es tatsächlich fertig, einen Staat wie die Türkei zum offiziellen Beitragskandidaten für die Europäische Union - immerhin ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts - zu befördern und ihn zugleich für nicht vertrauenswürdig genug zu halten, ihm als NATO-Partner einen Testpanzer zu übersenden. ({3}) Dieser Widerspruch, Herr Außenminister, ist auch durch noch soviel diplomatische Finesse Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht aufzulösen. Es ist wohl wahr: Die Menschenrechtslage in der Türkei ist zu kritisieren, ebenso die mangelnde demokratische Verfaßtheit. Aber gerade deshalb ist die Entscheidung für den Beitrittskandidatenstatus so riskant und kann in der Türkei zu einer noch größeren Enttäuschung führen. Sie spielen ein doppeltes Spiel, und das weiß die Türkei. Deshalb muß sie mißtrauisch sein ob der Ernsthaftigkeit des Beitrittskandidatenstatus und der Rüstungskooperation. Ihre Türkei-Politik, Herr Außenminister, ist jedenfalls nicht nur ohne Konzept, sie ist nach dieser Woche nur noch ein Trümmerhaufen. ({4}) Sie haben auch Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit zutiefst geschadet, und zwar nicht nur durch Ihr Verhalten im Bundessicherheitsrat. Was hat sich Joschka Fischer früher bei jedem Rüstungsexport hier aufgeregt! Noch nie hat es ein Außenminister geschafft, innerhalb eines Jahres zunächst gegen eine Verschärfung der Exportrichtlinien für Kriegswaffen im Bundessicherheitsrat zu sein und dann einen Beschluß des gleichen Bundessicherheitsrats in Frage zu stellen, solange diese Exportrichtlinien nicht verschärft sind. Zu guter Letzt erklärt die Koalition: Wir liefern zwar einen Testpanzer; ob wir aber bereit sind, der Türkei Panzer zu verkaufen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Einladender, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht's nimmer! Der Automann Schröder weiß ja sicherlich, daß man dann, wenn man einen Wagen anbietet, auch bereit sein muß, ihn zu verkaufen. So verspielt man auf jeden Fall außenpolitische Glaubwürdigkeit, Herr Außenminister. ({5}) Nun war Tampere ein innenpolitischer Gipfel. Die insgesamt mageren und enttäuschenden Ergebnisse dieses Sondergipfels - das sage ich ausdrücklich - sind nicht nur dem Innenminister anzulasten. Die Zeiten, in denen es auf das, was Deutschland sagte, ankam und in denen der deutsch-französische Motor Impulse für die europäische Entwicklung gegeben hat, sind vorbei. ({6}) Die Zeiten, in denen Kanzler wie Helmut Kohl und Helmut Schmidt bei ihrer Vision einer immer engeren Union der Völker Europas ihre Kollegen mitgerissen haben und sie dafür begeistern konnten, sind ebenso vorbei. Sie sind vorbei, seit Rotgrün Deutschland in Europa repräsentiert. ({7}) Es reicht eben nicht, statt einer funktionsfähigen Regierung eine regierende Bastelgruppe zu haben. ({8}) Werte Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heute vor einem Desaster in den deutsch-französischen Beziehungen. Generationen von Kanzlern und Außenministern haben hierauf besonders geachtet. Mißverständnisse, Desinteresse und Ärger bestimmen die Beziehungen zwischen Schröder und Jospin. ({9}) - Ich wäre vorsichtig, hierüber nur zu lachen. Ich halte Ihnen nur einmal vor, was „Die Woche“ gerade geschrieben hat: „Die Kernachse Europas steht vor dem Zusammenbruch.“ Und Ihr ehemaliger Bundeskanzler Helmut Schmidt spricht in der „Zeit“ vom 12. August 1999 von einer „gefährlichen Entwicklung“. ({10}) Das ist leider die Realität. Angesichts dessen nützt es auch nichts, daß der Außenminister versucht, nach einem Treffen mit seinem französischen Kollegen so zu tun, als sei alles wieder im Lot. Die Zeit des Einflusses, die Zeit der Impulse ist leider vorbei. Die Europapolitik droht unter dieser Regierung zu einem europapolitischen Klein-Klein zu werden. Schade! Selbst auf die Gefahr hin, daß ich mir vom Kollegen Schily wieder die erregte Zwischenfrage einhandle, ob ich bereit sei, zur Kenntnis zu nehmen, daß in a, b, c, d, e, f und g kleine Fortschritte erzielt worden seien, daß in Tampere hier und da eine etwas gewagtere Formulierung gefunden worden sei und daß die SchröderRegierung auch nichts dafür könne, daß in Europa alles so kompliziert sei, möchte ich hier feststellen: Viel war ja nicht in Tampere, nicht wahr? Zwei konkrete Punkte: Eurojust und Grundrechtekonvent; ansonsten nur Absichtserklärungen und Arbeitsaufträge, aber keine Vereinbarung für eine gerechte Lastenverteilung in der Flüchtlingsfrage, keine Harmonisierung der asylrechtlichen Standards, sondern nur noch Mindestbedingungen, kein europäisches System zur Registrierung von Fingerabdrücken, keine europäische Staatsanwaltschaft. ({11}) Das Projekt Grundrechtekonvent gehört in meinen Augen zu den positiven Aspekten von Tampere - ich unterstreiche das ausdrücklich -, und meine Fraktion will in diesem Projekt mitarbeiten. Es stellt eines der großen Ziele dar, die wir uns in den letzten Jahren gesetzt haben. Doch schon beim Thema „burden sharing“ konnte keinerlei Einvernehmen mit den Partnern über eine gerechte Lastenverteilung erzielt werden. Mit der immer proklamierten Berücksichtigung deutscher Interessen hat das Ergebnis von Tampere in dieser Frage nun wahrlich nichts zu tun. Es sollte ja ein europäischer Rechtsraum geschaffen werden; so hat man vor diesem Gipfel regierungsamtlich angekündigt. Wir hatten, um noch einmal daran zu erinnern, in den Art. 61 ff. der Amsterdamer Verträge Regelungen zum Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts eingefügt. Leider ist in Tampere nichts Konkretes hinzugekommen. Ich überfliege jetzt einmal mit Ihnen, wenn Sie gestatten, den Text in Abschnitt VI der Schlußfolgerungen von Tampere im Bereich der Verben: „würden“, „sollte“, „sollte“, „fordert“, „sollte“, „würden“, „könnte“, „sollten“, „sollten“, „ersucht“, „sollte“, „sollten“. ({12}) Ich kann mir schon richtig vorstellen: Da zittern die Kriminellen Europas, wenn sie das lesen. ({13}) Viel Wortgeklingel, aber nichts Konkretes im Bereich der inneren Sicherheit. Es ist gut, daß Europol jetzt seine Arbeit aufgenommen hat. Aber wir dürfen bei dem Erreichten nicht stehenbleiben. Das muß weiterentwikkelt werden. Am Ende der Entwicklung - da bin ich ganz sicher - muß es so etwas wie ein europäisches FBI geben. Europol muß operative Befugnisse haben. Es muß operationell tätig werden, vor allem im Sinne einer Koordinierung und Initiierung von konkreten nationalen und grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen. Das heißt, ausländische Ermittlungskräfte müssen sich unter nationaler Leitung aktiv an Ermittlungsmaßnahmen beteiligen dürfen, an Durchsuchungen, an Beschlagnahmen, an Auswertungen von Gesprächen im Rahmen einer Telefonüberwachung usw. Die deutsche Strafprozeßordnung muß insofern europäisch ergänzt und geöffnet werden. Dazu hat es keine nennenswerten Initiativen unter der deutschen Präsidentschaft gegeben. Eingefahren wurde also die Ernte, die wir gesät haben, ansonsten herrscht Stillstand. ({14}) Ein weiteres Thema - der Außenminister hat es angesprochen - war die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten des östlichen Mitteleuropa, übrigens ein Punkt, der sehr viel mit innerer Sicherheit zu tun hat. Denn die Europäische Union greift mit der Osterweiterung in Regionen ein, die Herkunfts- und Transitländer organisierter Kriminalität und illegaler Migration sind. Ich will die Risiken, die diese Öffnung der Europäischen Union nach Osten für die innere Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union birgt, nicht überzeichnen. Aber ich finde, wir müssen ganz deutlich sagen: Wir werden nicht erwarten können, daß die Beitrittskandidaten die Verpflichtungen, die sich zum Beispiel aus dem Schengener Vertragswerk zur inneren Sicherheit und zur Grenzsicherheit ergeben, aus dem Stand und ohne Hilfestellung erfüllen können. Zu den größten Herausforderungen der Mitgliedstaaten gehört es deshalb, die Beitrittskandidaten auf diesem Weg aktiv zu begleiten und zu fördern, ja - das ist ein Vorschlag, den ich hier heute unterbreite -, sie bereits jetzt zu beteiligen und einzubeziehen, damit sie die Chance haben, überhaupt dieses Niveau zu erreichen. Die Bundesregierung hat sich während der deutschen Präsidentschaft dieser Aufgabe nicht gestellt. Das Versäumte ist wahrscheinlich schwer nachholbar. Aber es gibt natürlich gerade auch in diesem Zusammenhang wichtige, ja, zentrale Fragen. Wir wollen an der Schwelle zur Erweiterung der Europäischen Union nicht vergessen, daß die Frage der europäischen Flüchtlingskonzeption nicht gelöst, noch nicht einmal in der Sache angegangen ist. Wir wissen aus unseren Debatten über die Innenpolitik und die Ausländerpolitik, wie wichtig es ist, ein konkretes Integrationskonzept zu erarbeiten, dafür zu sorgen, daß ein Konzept vorliegt, das eben nicht zu ungeordneter Zuwanderung und Überbelastung führt, sondern verhindert, daß bei uns die Integrationsbereitschaft sinkt und damit die Integrationsbedingungen schwieriger werden. Es kann nicht dabei bleiben, daß es kein europäisches Flüchtlingskonzept gibt, das nicht Deutschland den Hauptteil der Lasten und Kosten beläßt und zugleich das humanitärste Land der Union, nämlich die Bundesrepublik Deutschland, als Ort der Fremdenfeindlichkeit erscheinen läßt. Es hat nennenswerte Fortschritte zu einer europäischen Lastenverteilung in bezug auf Flüchtlinge in Tampere nicht gegeben. Nun lese ich heute mit großem Interesse, daß der Bundesinnenminister in einem Interview an seiner Auffassung festhält, in Deutschland seien die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung überschritten. Ja, dann frage ich: Warum haben Sie in Tampere nicht versucht, konkreter weiterzukommen, anstatt hier in Deutschland Interviews zu geben, in denen Sie die Zuwanderung beklagen und sagen, die Grenze der Belastbarkeit sei überschritten? ({15}) Wahrscheinlich werden wir die Frage auch einmal von der anderen Seite betrachten müssen. Ich glaube, nach den Erfahrungen von Tampere ist es an der Zeit, zu fragen, woran es denn eigentlich liegt, daß Deutschland in diesem Bereich in Europa sehr, sehr einsam dasteht. Unsere europäischen Partner haben doch nicht in jeder Hinsicht Unrecht, wenn sie zögern, Deutschland Lasten in der Asyl- und Flüchtlingspolitik abzunehmen. Ist es denn, werte Kolleginnen und Kollegen, so falsch, wenn unsere europäischen Partner sagen: „Wenn Deutschland den größten Teil aller Asylbewerber und Flüchtlinge der Europäischen Union abbekommt, dann lockt es offenbar mehr als andere Staaten diese Menschen an? Deutschland ist selbst schuld, daß durch sein Sozialhilferecht für Asylbewerber der größte Teil nach Deutschland kommt.“ ({16}) Alle unsere europäischen Partnerländer sind, wie wir wissen, Gott sei Dank, offene westliche Demokratien und Rechtsstaaten. Wenn es trotzdem den überwiegenden Teil aller nach Europa kommenden Asylbewerber nach Deutschland zieht, dann muß das doch andere Gründe haben. Das hat offensichtlich etwas mit unserem Leistungsniveau zu tun. ({17}) Wieso eigentlich sollen die anderen Europäer ihr jeweiliges Asylrecht dem deutschen Recht anpassen oder Teile der deutschen Lasten übernehmen? „Burden sharing“, Lastenteilung, ist ja für die weniger Belasteten Lastenaufbürdung. Nicht das Recht der anderen EUPartner führt zu Problemen, sondern das deutsche, und nicht die europäischen Partner bringen das europäische Gleichgewicht durcheinander, sondern Deutschland mit seinem überaus großzügigen Asyl- und Sozialrecht. ({18}) Müßte man nicht umgekehrt geradezu fordern, daß Deutschland von seinen europäischen Nachbarn lernt und die Sozialleistungen für Asylbewerber endlich dem europäischen Standard anpaßt? Niemand wird die Art, wie Staaten wie Dänemark oder Österreich, wie Portugal oder Irland, wie Frankreich oder Großbritannien mit Flüchtlingen umgehen, als inhuman bezeichnen. Warum kann Deutschland sich das denn nicht zum Vorbild nehmen? frage ich. Wir müssen uns endlich freimachen von dem Ansatz, am deutschen Asylrechtswesen müsse die Welt genesen. Ich glaube, das wird noch zu einer schwierigen Debatte führen. Denjenigen, die jetzt auf der linken Seite des Hauses Zwischenrufe gemacht haben, empfehle ich, das Interview des Herrn Bundesinnenministers zu lesen. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist er bereit, über die Leistungen für Asylbewerber nicht nur kontrovers zu diskutieren und sie auf europäisches Niveau herunterzufahren, sondern gleichzeitig im Bereich des Asylrechts auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention über die Frage der Grundrechtsabsicherung nachzudenken. Wir sind bereit, diese Diskussion zu führen, weil es zu einer europäischen Angleichung bei der Belastung mit Flüchtlingen und Asylbewerbern kommen muß. ({19}) Meine Damen und Herren, diese Debatte findet ja in einer Woche statt, in der auch über einen Jahrestag diskutiert wird, nämlich über ein Jahr rotgrüne Regierung. Ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, daß der Bundeskanzler auf einer Krisenveranstaltung der SPD am Dienstag in Moers gesagt hat: Das ist schon ein ziemlich schwerer Job. Ich frage mich manchmal, warum ich damals am Tor des Kanzleramts gerüttelt habe. Richtig, Herr Bundeskanzler! Das fragt sich das deutsche Volk seit einem Jahr. ({20}) Hätten Sie sich das früher gefragt, wäre Deutschland manches erspart geblieben. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beim Anhören der Rede des Vorredners drängte sich mir immer wieder die Frage auf, ob Sie, Herr Kollege Rüttgers, überhaupt zur Europapolitik oder Tampere reden wollten. ({0}) Nichts zum Amtsantritt von Solana, nur pauschale und neben der Sache liegende Kritik an den großen Fortschritten beim Aufbau eines gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und sonst fast nichts, außer einer erstaunlichen Urheberrechtsbehauptung zur Grundrechtscharta. Herr Kollege Rüttgers, denken Sie doch bitte einmal in Ruhe darüber nach, ({1}) ob es den Interessen unseres Landes dient, wenn Sie - im Gegensatz zur früheren Opposition - die Europapolitik zum Schlachtfeld innenpolitischer Streitereien und landespolitischer Profilierungsversuche machen. ({2}) Übrigens zeigt Ihre Sprachkritik an den Formulierungen von Tampere, daß Sie bis vor kurzem und während all der Jahre der Kohl-Regierung keine europäischen Texte gelesen haben können. ({3}) In einem Punkt allerdings stimmen wir überein: Der Beschluß des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte ist eines der erfreulichsten Ergebnisse von Tampere. Ich will meine Ausführungen auf dieses Thema konzentrieren. Zu den einzelnen Schlußfolgerungen für die europäische Justiz- und Innenpolitik werden sich die beiden zuständigen Ressortminister ausführlich äußern. Es ist das Verdienst von Otto Schily und Herta Däubler-Gmelin und auch von Außenminister Joschka Fischer, daß Tampere insgesamt ein großer Erfolg geworden ist. ({4}) Der Beschluß des Europäischen Rats zur Grundrechtscharta führte die im März 1999 unter deutscher Präsidentschaft verabschiedeten Schlußfolgerungen des Kölner Gipfels aus. Dadurch ist ein großer Schritt zur Verwirklichung einer Forderung gelungen, die im Deutschen Bundestag erstmals im Juni 1995 von der SPDFraktion erhoben und ausführlich begründet worden ist. Erfreulicherweise haben sich bereits im Dezember 1995 alle Fraktionen des Deutschen Bundestages dieser Forderung angeschlossen. Wir hatten damals auf die verbreitete Europamüdigkeit hingewiesen und die Frage gestellt, ob nicht eine Vision notwendig sei, mit der wir der Union neue Ausstrahlung geben könnten. Deshalb haben wir gefordert, dem EU-Vertrag eine Charta europäischer Menschen- und Bürgerrechte oder - in unserer deutschen Terminologie - einen europäischen Grundrechtskatalog voranzustellen. Damit haben wir versucht, eine Diskussion wiederzubeleben, die es seit Jahren im Europäischen Parlament immer wieder einmal gegeben hatte. Ich erinnere nur daran, daß das Europäische Parlament 1984 in seinem Spinelli-Entwurf die Verabschiedung eines Grundrechtskatalogs gefordert hatte. Fünf Jahre später verabschiedete das Parlament einen ersten Beschluß eines einheitlichen Grundrechtskatalogs, in dem sich Menschenrechte, demokratische und soziale Grundrechte wiederfinden. Die Geschichte und Theorie der Grundrechte zeigt, daß es sich bei dem nunmehr unwiderruflich eingeleiteten Prozeß nicht um folgenlose Grundrechtsrhetorik handelt. Ein Gemeinwesen, das sich ausdrücklich zum Schutz der Grundrechte verpflichtet, gewinnt eine tiefe Legitimation. Nur ein solches Gemeinwesen kann mit Solidarität und Akzeptanz rechnen. Aber vor allem haben Grundrechte eine Konsensfunktion. In ihnen werden gemeinsame Wertvorstellungen zum Ausdruck gebracht. Eine dem Grundrechtsschutz ausdrücklich und sichtbar verpflichtete Europäische Union wird mehr noch als in der Vergangenheit eine Signalwirkung nach außen, aber auch nach innen hinsichtlich der weiteren Integration Europas haben. Vor der erwähnten Bundestagsdebatte hatte ich im Frühjahr 1995 einen vorläufigen Diskussionsentwurf einer Grundrechtscharta erstellt, der in der Folgezeit zum Thema von Workshops und Diskussionsveranstaltungen wurde, auf denen ich wertvolle Kritik und viel Zustimmung erhalten habe. Aber wir haben darauf verzichtet, einen solchen Entwurf im Bundestag einzubringen und zu einer Bundestagsdrucksache zu machen, weil wir den Eindruck vermeiden wollten, daß sich die Deutschen als Oberlehrer in Fragen der Menschen- und Bürgerrechte aufspielen wollen. Diesen Eindruck sollten wir tunlichst vermeiden. Ich habe keinen Zweifel daran, daß sich das einzusetzende Gremium auch mit unserem Grundgesetz und den Grundrechtskatalogen der Verfassungen nicht zuletzt der neuen Bundesländer beschäftigen wird. Dieselbe Aufmerksamkeit werden auch die Grundrechtskodifikationen anderer europäischer Mitgliedstaaten finden. So hat etwa Finnland 1995 einen umfangreichen Grundrechtskatalog verabschiedet. Ich nenne als weiteres Beispiel die Verfassung der Republik Portugal von 1992, die in 68 Artikeln eine ganze Reihe eindrucksvoll formulierter Grundrechte und Grundpflichten enthält. Der Gedanke, daß es nicht nur Grundrechte, sondern auch mit ihnen korrespondierende Grundpflichten gibt, bedarf nach meiner Überzeugung vertiefter Erörterungen. Die praktische Bedeutung erschließt sich jedem ohne weiteres, der sich zum Beispiel für die Einführung eines sozialen Grundrechts auf Arbeit einsetzt. Wir alle wissen, daß die skizzierten Forderungen im Amsterdamer Vertrag, an den wir 1995 eigentlich gedacht hatten, nicht realisiert wurden. Es gab lediglich eine gewisse Konkretisierung und Erweiterung des früheren Art. F des EU-Vertrags im heutigen Art. 6 des Amsterdamer Vertrags. Von einer Grundrechtscharta konnte noch keine Rede sein. Der Durchbruch - hier gebührt Bundeskanzler Gerhard Schröder ein besonderes Verdienst - gelang erst auf dem Kölner Gipfel. Dies ist ein bleibendes Verdienst der deutschen Präsidentschaft, das auch vom Bundestag vorbehaltlos anerkannt werden muß. ({5}) Wir haben dann vor wenigen Wochen durch einen Beschluß nach § 93a unserer Geschäftsordnung der Regierung für Tampere Aufträge erteilt, die mit der Verbindlichkeit nach Art. 23 unserer Verfassung ausgestattet waren. Was ist aus diesen Aufträgen geworden? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Auch hier gebührt der Bundesregierung uneingeschränktes Lob. Das hätte der Kollege Rüttgers fairerweise auch einmal zum Ausdruck bringen können. ({6}) Ich gehe auf unseren Beschluß ein. Die Anzahl der Mitglieder des nunmehr vorgesehenen Gremiums entspricht bis auf einen zusätzlichen Abgeordneten des Europaparlaments, was wir nur begrüßen können, exakt unseren Vorstellungen. Die von uns gewünschte Beteiligung der Beitrittskandidaten wird durch den vorgesehenen Gedankenaustausch zwischen dem Gremium oder dem Vorsitzenden und den Beitrittsländern sichergestellt. Die von uns allen geforderte Transparenz der Beratungen ist dadurch gewährleistet, daß die Sitzungen des Gremiums und die in diesen Sitzungen unterbreiteten Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen. Außerdem ist vorgesehen, daß neben den Beobachtern der beiden europäischen Gerichte sowie des Europarates auch sonstige Gremien, gesellschaftliche Gruppen oder Sachverständige gehört werden. Am schwierigsten war aber die Durchsetzung unserer Forderung, daß das Gremium selbst seinen Vorsitzenden wählen sollte. Mit unserer ergänzenden Forderung, der Vorsitz solle während der Ausarbeitung der Charta in einer Hand bleiben, hatten wir uns gegen einen wechselnden Vorsitz der jeweiligen Präsidentschaft gewandt. Deshalb ist es nach anfänglichen Schwierigkeiten noch im vorbereitenden allgemeinen Rat äußerst erfreulich, daß sich beim Gipfel im Tampere unsere Forderung durchgesetzt hat. Das ist von ganz zentraler Bedeutung vor allem auch wegen der außerordentlich weitreichenden Rechte, die der Vorsitzende erhalten soll. Er soll nämlich bereits dann den Entwurf der Charta dem Europäischen Rat im Wege des üblichen Verfahrens zuleiten, wenn er im engen Benehmen mit seinen Stellvertretern zu der Auffassung gelangt, daß der von dem Gremium ausgearbeitete Entwurf für alle Seiten zustimmungsfähig ist; ein gewiß ungewöhnliches Verfahren, das die Stellung des Vorsitzenden außerordentlich stark macht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unseren Beschluß, wonach dem Europäischen Parlament und den nationalen Gesetzgebungsorganen eine hervorragende Bedeutung bei der Ausarbeitung der Grundrechtscharta zukomme - ich zitiere aus unserem Beschluß -, „weil es sich hierbei um eine Aufgabe der Volksvertretungen handelt“. Daraus folgt für mich, daß das Gremium, das aus 46 Parlamentariern und aus 16 weiteren Mitgliedern, also zu etwa drei Vierteln aus Abgeordneten besteht, auch einen Abgeordneten zum Vorsitzenden wählen sollte. Nach meiner persönlichen Meinung sollte dies ein Abgeordneter des Europäischen Parlaments sein. ({7}) Bei aller Freude über das in Tampere Erreichte bleiben selbstverständlich noch etliche Fragen offen. Ich will einige nennen. Bei einem kürzlichen Treffen von Abgeordneten der Europaausschüsse, der nationalen Parlamente der EU und des Europaparlaments wurde von einigen Kollegen die Auffassung vertreten, es reiche doch eigentlich aus, den insbesondere durch die Europäische Menschenrechtskonvention erreichten Grundrechtsschutz nebst der dazu ergangenen Rechtsprechung der beiden Europäischen Gerichtshöfe in einem gut lesbaren Dokument zusammenzufassen. Zwar habe der Europäische Gerichtshof festgestellt, daß die EU mangels eigener Rechtspersönlichkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht beitreten könne. Das verhindere aber nicht, daß man diese Konvention gewissermaßen zu einem nur leicht modifizierten EU-Vertragsdokument macht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es kann nach meiner Auffassung nicht zweifelhaft sein, daß die Konvention eine wichtige Grundlage der zu erarbeitenden Charta sein wird, aber sie reicht keineswegs aus. Erstens ist der Grundrechtsschutz der Europäischen Menschenrechtskonvention lückenhaft. Sie garantiert beispielsweise nicht die Unantastbarkeit der Menschenwürde oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder die für eine Kulturgemeinschaft nach meiner Auffassung konstitutive Kunst- und Forschungsfreiheit oder das Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung oder gar Dr. Jürgen Meyer ({8}) Grundrechte der sogenannten dritten Generation wie etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zweitens. Die Europäische Union kann durch die mehr oder weniger unveränderte Annahme einer Konvention des Europarates von 1950 kaum eine unverwechselbare und eigenständige Legitimation gewinnen. Drittens. Es geht in der Charta selbstverständlich nicht nur um Menschenrechte, sondern auch um Bürgerrechte der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union. Als Beispiel nenne ich nur das aktive und passive Wahlrecht oder die Freizügigkeit. Eine weitere noch klärungsbedürftige Frage betrifft die Verbindlichkeit der in der Charta niedergelegten Grundrechte. Ohne die Öffnung eines Rechtsweges zum Europäischen Gerichtshof in Luxemburg würde das ganze Unternehmen zunächst Hoffnungen wecken und am Ende in tiefer Enttäuschung enden. Der historische Beleg dafür ist die Geschichte der Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung, die bekanntlich nicht in diesem Sinne einklagbar waren. Zur Verbindlichkeit der Charta gehört selbstverständlich auch, daß es nicht eine bloße Resolution wird. Die Charta sollte deshalb zum ersten Teil des EUVertrages gemacht werden. Die praktische Folge wäre, daß die europäischen Verträge, wie wir es nennen, verfassungskonform, also chartakonform ausgelegt werden müssen. In diesem Zusammenhang muß auch die Reichweite der Grundrechtscharta reflektiert werden. Neben der bereits erwähnten Funktion als Auslegungsinstrument der europäischen Verträge stellt sich nämlich die Frage, wer in erster Linie durch die Charta als deren Adressat verpflichtet werden soll. Es wird nach meiner Auffassung wahrscheinlich hilfreich sein, klarzustellen, daß dies die europäischen Institutionen sind. Mit der Forderung, die Bürokratie in Brüssel besser als bisher zu kontrollieren, findet man jedenfalls auch bei denen, die dem Unternehmen Grundrechtscharta skeptisch gegenüberstehen, nachhaltige Zustimmung. Wer Transparenz fordert, der muß sich auch selbst bemühen, sie herzustellen. Diese Aufforderung richtet sich nicht nur an das einzurichtende Gremium; vielmehr ist es auch Sache der Parteien, der Gewerkschaften, der Kirchen und der gesellschaftlichen Institutionen, einen öffentlichen Diskussionsprozeß anzustoßen und zu führen. Im Bundestag sollten wir eine überfraktionelle Gesprächsrunde einrichten, die allen daran interessierten Abgeordneten Gelegenheit gibt, ihre Beiträge einzubringen. Nach einem derartigen öffentlichen Diskussionsprozeß könnte es durchaus sinnvoll sein, ein EU-weites Referendum über die Grundrechtscharta durchzuführen. ({9}) Damit könnten alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zum Ausdruck bringen: Wir sind nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft; vielmehr sind wir alle Bürgerinnen und Bürger einer europäischen Wertegemeinschaft. ({10}) Ich danke Ihnen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der polnische Präsident hat nach dem Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin in einer Rede in dieser Stadt darauf hingewiesen, daß europäische Fortschritte immer davon abhängig waren, daß in der deutschen Innenpolitik Geschlossenheit herrschte und daß große Projekte gemeinsam unterstützt wurden. Er warnte vor der großen Gefahr, Europa falle international zurück, wenn aus Deutschland nicht weiterhin starke Integrationsimpulse kämen. Das letzte große Projekt, die Vollendung der Währungsunion - ein Glanzstück der früheren Regierung aus Union und F.D.P. -, wurde trotz massiver Warnungen von Herrn Schröder, Herrn Biedenkopf und Herrn Stoiber pünktlich verabschiedet. Am Ende dieses Jahres kann man sagen: Der Euro ist nach innen stabil; er ist nach außen auf dem Weg zu einer zweiten Weltwährung neben dem Dollar, und - darin folge ich Herrn Fischer der Euro als Währungsunion bedarf der Vertiefung und der politischen Integration. Professor Issing, der Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, und auch das Bundesverfassungsgericht haben immer darauf hingewiesen: Ohne weitere Vertiefung, ohne weitere Fortschritte der politischen Union ist eine Währungsunion auf Dauer nicht legitimiert. ({0}) Der Sondergipfel in Tampere war eine Chance zur weiteren Vertiefung, zur Stärkung des dritten Pfeilers. Aber diese muß, unabhängig von Prüfaufträgen, Aufforderungen und Absichtserklärungen, mit der gleichen Durchschlagskraft vorangetrieben werden wie damals die Vollendung des Binnenmarktes und die Währungsunion. ({1}) Das Ergebnis ist offen. Meine Kollegin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wird darauf eingehen. Wie steht es sonst um wichtige deutsche Europaprojekte? Wir erinnern uns an eine sehr gute Rede von Ihnen, Herr Fischer, im Mai 1999 vor dem Europaparlament: Vision von Paneuropa, schnelle Osterweiterung, schnelle Vertiefung, politische Verfassung, politische Union als Ziel. Heute hat die Europapolitik der neuen Dr. Jürgen Meyer ({2}) Regierung wenig Ergebnisse, wenig Substantielles vorzuweisen. ({3}) Das deutsch-französische Verhältnis ist gestört, auch wenn es immer wieder Treffen von Intellektuellen und Künstlern gibt. Die Hinwendung von Herrn Schröder zu Herrn Blair hat weder uns in Deutschland innere Reformen noch hat sie England dem Euro-System näher gebracht. Sie hat im Grunde nur Mißtrauen in Frankreich gesät, Herr Fischer. ({4}) Dies ist auf Dauer für die weitere Integration von großem Nachteil. Derzeit gibt es kein großes gemeinsames deutsch-französisches Projekt, was wir sonst immer hatten. Zuletzt war dies die Währungsunion. ({5}) Die Liste der Konflikte wird immer größer. Das beginnt in der Agrarpolitik und bei den Verhandlungen in der WTO. ({6}) Die Franzosen haben zum ersten Mal nicht unterstützt, daß die deutsche Sprache Verhandlungssprache ist. Der Rüstungskonzern - im Fernsehen haben wir es erlebt - war von der Industrie vorbereitet. Herr Schröder und Herr Jospin waren die Notare von wirtschaftlichen Veränderungen in Europa, aber dies war nicht politisch vorangetrieben. - In Zukunft wird vom deutschfranzösischen Verhältnis gerade auch aus Polen sehr viel mehr erwartet werden. Das andere wichtige Projekt ist die Osterweiterung. Sie hat strategische Bedeutung. Leider ist es unter der deutschen Präsidentschaft nicht gelungen, entscheidende Verhandlungserfolge zu erzielen. Das gilt auch für die Frage des Datums, Herr Fischer, ich habe es immer gesagt. Sie nähern sich jetzt der Datumfrage langsam an, aber das Ziel, am 1. Januar 2002 erweiterungsfähig zu sein, haben Sie noch nicht erreicht. Das Problem ist, daß der Widerstand in den Reformländern zunimmt. Schauen Sie sich nur einmal die innenpolitische Situation in Polen an! Ohne Datum wird auch in Deutschland der Widerstand gegen die Osterweiterung zunehmen. Das Menetekel der PDS, die Erfolge von Herrn Haider und von Herrn Blocher zeigen europaweit, daß wichtige europäische Integrationsprojekte wie der Euro oder wie der Binnenmarkt mit der Unterstützung der Eliten zu einem bestimmten Datum schnell vollendet werden müssen, wenn der Widerstand nicht zunehmen soll. Es wird eine große Aufgabe der Eliten in Deutschland sein - nicht nur der Politiker, sondern auch der Wissenschaftler, vor allem auch der Industrie -, für die Osterweiterung zu werben und deutlich zu machen, daß sie im besten strategischen Interesse Deutschlands ist, ({7}) daß die Angst vor dem Wettbewerb eben nicht gerechtfertigt ist, daß die Agrarreform durchgeführt werden muß, und zwar nicht wegen Polen, sondern damit die Westeuropäer in sich wieder handlungsfähiger werden und mehr Geld für Forschung und Innovation ausgeben können. Darin sehe ich auch eine große Aufgabe aller demokratischen Parteien. Die Bevölkerung muß darauf vorbereitet werden, daß die Osterweiterung europapolitisch geboten und wirtschaftlich sinnvoll ist und daß sie den Menschen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa Sicherheit gibt. ({8}) Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren. Das Verhältnis zur Türkei. Herr Fischer, Sie können nicht einerseits den Beitrittsstatus ankündigen und andererseits keine Verhandlungen aufnehmen. In der Türkei wird natürlich registriert, daß jetzt gleichzeitig mit Ländern wie Bulgarien und Rumänien konkret verhandelt wird, während die Verhandlungen mit der Türkei überhaupt nicht beginnen. Meine Damen und Herren, entweder hat man Vertrauen in die innere Entwicklung der Türkei, dann muß man auch zu einer militärischen Zusammenarbeit im Rahmen der NATO bereit sein, oder aber man muß generell ehrlicher gegenüber der Türkei sein, sonst führt das Ganze zum jetzigen Zeitpunkt zu weiteren Enttäuschungen. ({9}) Ich schließe, indem ich sage: Die Osterweiterung und die Vollendung der politischen Union bleiben Ziele meiner Fraktion. Je mehr Sie hier erreichen, um so größer wird unsere Unterstützung sein. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rüttgers, ich muß zuallererst auf Ihre Äußerungen zur Türkeipolitik des Außenministers reagieren. Diese Äußerungen waren wirklich schwer zu ertragen, lieber Herr Rüttgers; denn in der Vergangenheit war doch gerade Ihre Türkeipolitik doppelbödig und heuchlerisch. Von Menschenrechten war immer nur dann die Rede, wenn es politisch opportun war. Gleichzeitig haben die Rüstungsgeschäfte floriert. Es wurden der Türkei ja sogar die alten NVA-Gerätschaften in einem großen Akt der Freundschaft geschenkt, weil das billiger war, als diese NVA-Geräte hier zu verschrotten. Das ist heuchlerisch, Herr Rüttgers. ({0}) Dr. Helmut Hausmann Über 30 Jahre lang wurde der Türkei keine glaubwürdige Beitrittsperspektive eröffnet. ({1}) In Luxemburg wurde ihr die rote Karte gezeigt. ({2}) - Hören Sie einmal zu! ({3}) Es wurde gerade in Ihren Kreisen, Herr Rüttgers, laut darüber spekuliert - ich finde das gar nicht so amüsant -, ob ein Land, dessen Bevölkerung in der Mehrheit moslemisch ist, überhaupt Platz in der Europäischen Union hat, ob also die Europäische Union der Hort des christlichen Abendlandes ist. Ich glaube, die Europäische Union basiert nicht auf der Religion, sie basiert auf Laizismus, auf Demokratie, auf Menschenrechten und auf Rechtsstaatlichkeit. Ihre Politik war heuchlerisch, deswegen Vorsicht mit solchen Bemerkungen. ({4}) Es geht also darum, verspielten Einfluß zurückzugewinnen, um in der Türkei wieder eine Dynamik der Veränderung hin zu Demokratie und Menschenrechten zu schaffen. Genau das soll der Kandidatenstatus verdeutlichen. Es geht darum, daß Einfluß zurückgewonnen wird, daß dieser Status Impulse in der Türkei für den Demokratisierungsprozeß gibt. Der Kandidatenstatus ist nicht der Beitritt. Der Kandidatenstatus ist keinesfalls der Stempel, mit dem die Türkei zur Demokratie erklärt wird. Deswegen besteht kein Widerspruch zu einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Das war meine Anmerkung, Herr Rüttgers. Ich kann es Ihnen, wenn Sie einmal nicht telefonieren, auch persönlich erklären. ({5}) Als Europaabgeordnete konnte ich viele Jahre lang leidvoll erfahren, wie weit Europa von den Menschen weg ist. Spätestens bei den Europawahlen hat sich mein Eindruck bestätigt, daß Europa in ziemlich schlechter Verfassung ist. Die Wahlbeteiligung war auf einem historischen Tiefpunkt angekommen. Dabei sind die Europäerinnen und Europäer keineswegs demokratiemüde, wie so oft beklagt wird. Ich glaube, das Problem liegt woanders: Die Demokratie in Europa wurde bislang noch gar nicht richtig geweckt. Die europäische Demokratie schläft, und wenn sie alle fünf Jahre einmal an einem Sonntag aufwacht, kann man nicht erwarten, daß alle Leute parat stehen, um sie jubelnd zu begrüßen. Die Zukunft dieses Europas basiert eben nicht auf dem Wechselkurs des Euro, sondern darauf, daß die Bürgerinnen und Bürger beim Zusammenwachsen Europas ihre Ideen und ihre Kreativität überhaupt einbringen können. Dafür braucht die Europäische Union schon sehr lange eine regelrechte Demokratieoffensive. Sie braucht ein bürgerrechtliches Fundament, und sie braucht einen verfassungsgebenden Prozeß, der identitätsstiftend wirken kann. Die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union sind eben nicht nur eine Frage der Quantität der teilnehmenden Länder, sondern sie sind auch eine Frage der Qualität - der Qualität dessen, was man an Werten postuliert und was man den Bürgerinnen und Bürgern an Rechten garantiert. Das wird dann dazu beitragen, daß die Menschen wieder wissen, warum sie dieses Europa überhaupt wollen sollen. Wann ist ein Gipfel erfolgreich? Ich messe den Erfolg von Tampere nicht nur daran, ob man in feierlichen Erklärungen und Reden bzw. in den Präambeln von Schlußfolgerungen der Verwirklichung des Europas der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich näherkommt, sondern auch daran, ob er ganz konkrete Schritte hin zum Europa der Bürgerinnen und Bürger macht. In Tampere ging es, wie es die Vorredner schon angesprochen haben, um die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem „die Grundsätze der Transparenz und der demokratischen Kontrolle tragende Elemente sein sollen“ und in dem „ein offener Dialog mit der Bürgergesellschaft über die Ziele und Grundsätze dieses Raums entwickelt werden muß, um eine bessere Akzeptanz und mehr Unterstützung seitens der Bürger zu erreichen“. - Die Herausforderungen und die Anforderungen sind richtig beschrieben. Denn Partizipation, demokratische Teilhabe und Demokratie sind in Europa keine Vision, sondern eine Überlebensfrage. Der Weg dorthin ist noch sehr weit. Ich glaube, auf Grund wichtiger Entscheidungen in Richtung Demokratisierung kann Tampere wirklich Erfolge vermelden. Die Grundrechtscharta zum Beispiel bedeutet ein gemeinsames Bewußtsein von Rechten. Professor Meyer hat sich bei Bundeskanzler Schröder bedankt; lassen Sie mich nachdrücklich die Initiative von Joschka Fischer in Köln erwähnen - wir danken also beiden -, die dazu beigetragen hat, daß es zu einem Ja zur Erarbeitung einer solchen Charta gekommen ist und daß nun in Tampere sehr konkrete Strukturen beschlossen worden sind, der Startschuß also gemacht worden ist. Ich habe fünf Wünsche, die bei der konkreten Ausarbeitung dieser Charta verwirklicht werden sollten. Erstens. Sie muß glasklar, verständlich und einklagbar sein. Sie sollte allen EU-Vertragswerken vorangestellt werden, und sie sollte die Europäische Menschenrechtskonvention zur Basis haben. Zweitens. Für die Demokratisierung der EU ist es unerläßlich, daß dem EuGH auch in den eingriffsintensiven Bereichen der polizeilichen Kooperation und im Ausländer- und Flüchtlingsrecht uneingeschränkt Kontrollrechte eingeräumt werden. Ich finde es sehr überlegenswert, den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof in den Instanzenweg des Grundrechtsschutzes der EU mit Claudia Roth ({6}) einzubinden, wie es Professor Simitis jüngst vorgeschlagen hat. Drittens. Die Grundrechte müssen für alle Menschen in der Europäischen Union gelten. Es darf keine Hierarchisierung in Menschen erster, zweiter und dritter Klasse geben. Alle Menschen in der Europäischen Union müssen gleich sein. Die Unionsbürger sind nicht gleicher. ({7}) Viertens. Die Grundrechtscharta darf den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht hinterherhinken. Sie darf nicht als geschlossenes, statisches Projekt begriffen werden. Grund- und Menschenrechte sind weiterzuentwickeln, zum Beispiel in den Bereichen der ökologischen Rechte oder der neuen Technologien, wo es keine hinreichenden Schutzinstrumente gibt. Fünftens. Alte Fehler dürfen nicht wiederholt werden: Die Ausarbeitung einer solchen Charta kann nicht nur Sache von Regierungsvertretern, Abgeordneten und Verfassungsrichtern sein. Sie muß vielmehr von einer breiten europäischen Öffentlichkeit geschrieben werden. Sie muß Ergebnis eines großen Diskussions- und - im besten Sinne des Wortes - Aneignungsprozesses sein. Vorgesehen ist leider lediglich, daß das Erarbeitungsgremium gesellschaftliche Gruppen oder Sachverständige anhören kann. Die mit diesem Thema befaßten Ausschüsse im Bundestag waren in ihren Empfehlungen weitergegangen. Lassen Sie mich kurz einige Punkte zur europäischen Flüchtlingspolitik nach Tampere erwähnen. Ende letzten Jahres hat der Europäische Rat die sogenannte „Hochrangige Gruppe Asyl und Migration“ eingesetzt, die jetzt Ergebnisse in Form von Aktionsplänen präsentiert hat. Der Aktionsplan Irak wurde unter Federführung des deutschen Auswärtigen Amtes erarbeitet. Er ergänzt den letztjährigen Aktionsplan der EU durch begrüßenswerte Eckpunkte für eine humane Flüchtlingsund Migrationspolitik dadurch, daß Menschenrechte in den Herkunftsländern ebenso gestärkt werden sollen wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Konfliktprävention und Versöhnungsarbeit sollen unterstützt, und die soziale und wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder soll gefördert werden. Darin wird eine Politik beschrieben, die an den Fluchtursachen ansetzt, die die Fluchtursachen bekämpfen will und die sich auf das individuelle Grundrecht auf Asyl und auf das Prinzip der Schutzgewährung zurückbesinnt. Ich möchte zum Schluß herzlich darum bitten, daß wir uns nicht in ein paar Stunden zurückzulehnen und sagen: Der Gipfel ist vorbei. Wir haben eine gute Europadebatte geführt. Zurück zur eigentlichen Politik! Gut ist eine Europadebatte nämlich nur dann, wenn wir es schaffen, das auf nationaler Ebene umzusetzen, was wir von Europa verlangen: eine Renaissance, eine Neuwertigkeit der Grundrechte. Europa fängt zu Hause an. Wer nämlich von den Rechten aus dem Grundgesetz nicht begeistert ist, wird sich auch für Grundrechte in Europa nicht begeistern lassen. In diesen Zeiten wird häufig von Modernität gesprochen. Diese Grundrechte sind das Allermodernste, was wir haben. Ohne sie ist Europa nicht zukunftsfähig. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Roth, natürlich teile ich Ihre Kritik an den Scharfmacherthesen, die Herr Rüttgers heute morgen vorgetragen hat. Sie sind aber gleichzeitig in einem Spagat dem Außenminister zur Seite gesprungen, obwohl gerade die grüne Partei bezüglich der ersten Lieferung von Leopard-Panzern - nicht zu vergessen die deutsche Hilfe bei der Herstellung von chemischen Waffen - an die Türkei eingeknickt ist. Das ist kein Ruhmesblatt für diese rotgrüne Bundesregierung. ({0}) In der Antwort auf eine Kleine Anfrage zum Einsatz chemischer Waffen in der Türkei ist nachzulesen, wo Herr Fischer gelogen hat. Er hat gesagt, daß er von der deutschen Beteiligung nichts wußte. All das konnte man gestern abend an Hand der Recherchen von „Kennzeichen D“ verfolgen. Manchmal muß man sich fragen, über welche Konferenz wir hier eigentlich diskutieren. Die Konferenz hatte sich die Aufgabe gestellt, einen einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union in Angriff zu nehmen. Was hat der Gipfel tatsächlich gebracht? Ich beginne mit dem Beschluß zur Grundrechtecharta. Eine solche Grundrechtecharta ist meines Erachtens längst überfällig. Deshalb ist es wichtig, daß sie erneut beschlossen wurde. Ich möchte einmal aus der „Süddeutschen Zeitung“ zitieren. Dort hieß es: Solange die EU so konstruiert ist, dass sie, wenn sie Beitrittskandidat wäre, mangels demokratischer Verfasstheit abgelehnt werden müsste, kann man ihr guten Gewissens Straf- und Eingriffsrechte nicht geben. Ich komme noch einmal zur Grundrechtecharta, weil ich meine, daß es wichtig wäre, eine breite öffentliche Beteiligung und Mitwirkung gesellschaftlicher Organisationen an der Erarbeitung dieser Charta zu erreichen. Wir wollen verhindern, daß am Ende eine feierliche Deklaration herauskommt, wie es beispielsweise noch auf dem Gipfel in Köln geheißen hat. Die EU-Charta der Grundrechte muß vielmehr für alle in der EU lebenden Menschen soziale und politische Grundrechte verbindlich und einklagbar festschreiben. Sie muß also Bestandteil der EU-Verträge werden. So weit, so gut. Der Schwerpunkt auf dem Gipfel in Tampere war jedoch ein anderer. Im Vordergrund stand die Migrations- und Flüchtlingspolitik. Hier dominierte eine reClaudia Roth ({1}) pressive Politik, nämlich der Ausbau des Repressionsapparates und letztendlich die Verfolgung von Flüchtlingen. In Tampere war es Aufgabe, eine Harmonisierung der Flüchtlings- und Migrationspolitik in der EU, wie sie im Amsterdamer Vertrag festgeschrieben ist, in Angriff zu nehmen. Für uns heißt das: Verbesserung der wirtschaftlichen und rechtlichen Situation der Flüchtlinge in Europa sowie offene Grenzen für Menschen in Not. Das bedeutet ganz konkret: keine Abschiebungshaft für Flüchtlinge, Aufhebung des Arbeitsverbots für Flüchtlinge, Verbesserung der Situation von Kindern und jugendlichen Flüchtlingen, Anerkennung frauenspezifischer Fluchtgründe, Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung als Fluchtgrund - also entsprechende Änderung des § 51 des Ausländergesetzes. Wie groß der deutsche Handlungsbedarf gerade hier ist, zeigt auch die Kritik anderer Länder an der Bundesrepublik Deutschland. Die Zeitschrift „Neue Juristische Wochenschrift“ berichtet zum Beispiel, daß das höchste britische Berufungsgericht am 23. Juli dieses Jahres die Bundesrepublik für Flüchtlinge, die vor nichtstaatlicher Verfolgung fliehen, als kein sicheres Drittland eingestuft hat. Wir hoffen, daß die Revision dieses Urteil bestätigt, damit sich die deutsche Bundesregierung endlich Gedanken über diese Kritik macht. Hat nun Tampere auf irgendeinem Gebiet eine Verbesserung für Flüchtlinge gebracht? Sicher, denn in Tampere wurde beschlossen, die Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt und allumfassend anzuwenden. Man höre und staune! Eine Haltung, die eigentlich seit Jahren selbstverständlich sein sollte, wird in Tampere noch einmal durch einen Beschluß bekräftigt. Ich habe Ihnen aber schon gestern im Innenausschuß gesagt, daß das nicht alles gewesen sein darf. Auf dem praktischen Gebiet der Flüchtlingspolitik sollen nach Tampere nun die Arbeiten an einem System der Identifizierung - wir haben es heute schon gehört, Herr Rüttgers - fortgesetzt werden. Dadurch werden einige weitere Verschärfungen vorgenommen. Die Fingerabdrücke der Asylbewerber sollen nämlich jetzt auch über Europol mit der Datenbank Eurodac erfaßt werden. In Deutschland werden Deutsche dieser erkennungsdienstlichen Behandlung eigentlich nur dann unterzogen, wenn sie für Verbrecher gehalten werden. Das schürt nach unserer Meinung Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Wir lehnen die Anwendung dieser Methoden im Umgang mit Flüchtlingen entschieden ab. ({2}) Ich frage Sie: Warum schaffen Sie eigentlich keine EU-weite Datei gegen Konkursbetrüger, Steuerflüchtlinge und Börsenschinder? Nein, solche Systeme - ich wiederhole es - gibt es nur für den Umgang mit Flüchtlingen. Nichts dokumentiert deutlicher, daß Tampere für die Flüchtlingspolitik keine Besserung gebracht hat, sondern statt dessen das Konzept der Abschottung der Festung Europa leider weiter Bestand hat. Auch die weiteren in Tampere beschlossenen Maßnahmen zur Flüchtlingspolitik sind in erster Linie repressiv ausgelegt und dienen der Stärkung der Abschottungspolitik. Ich nenne die stärkere Kontrolle der Außengrenzen durch ausgebildete Fachkräfte und den Auftrag an die Kommission, Rücknahmeübereinkommen mit Drittländern auszuhandeln, um Flüchtlinge schneller abschieben zu können. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat im Zusammenhang mit Tampere erklärt, daß das deutsche Asylrecht besonders großzügig sei. Ich möchte Sie daran erinnern: Allein in diesem Jahr sind 38 Menschen an der Ostgrenze zu Tode gekommen. Sie ertranken in der Oder, erfroren im Gebirge oder verunglückten irgendwo in Wäldern oder auf Straßen. Wie kann man da von einem großzügigen Asylrecht sprechen? ({3}) Wie die Situation bei von nichtstaatlicher Verfolgung Betroffenen aussieht, ist in diesen Tagen wieder in Thüringen deutlich geworden. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel bringen: Eine in Lettland lebende Frau, die sich um KZ-Überlebende kümmerte, selbst als Kind in einem deutschen Konzentrationslager überlebte, deren Vater von den Nazis in Bergen-Belsen ermordet wurde, war nach Deutschland geflohen, weil sie in Lettland von Neonazis verfolgt wurde. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, weil keine staatliche Verfolgung erkennbar sei. Diese 57 Jahre alte Frau wäre nächsten Montag gewaltsam von der Polizei abgeschoben worden, wenn sie nicht aus panischer Angst ihre freiwillige Ausreise bekanntgegeben hätte. Auch in bezug auf die Migrationspolitik sind die Ergebnisse unbefriedigend. Immerhin wurde in Tampere beschlossen, die Rechtsstellung von Drittstaatangehörigen an die von EU-Bürgerinnen und -Bürgern anzugleichen. 30 Jahre und länger leben diese Menschen zum Teil in Europa. Trotzdem hat man sie noch nicht gleichberechtigt integriert. Wir werden weiterhin dafür kämpfen, daß diese Menschen wirklich die gleichen Rechte und nicht, wie es heißt, annäherungsweise diese Rechte erhalten. Trotzdem reicht auch hier das Beschlossene bei weitem nicht aus. Wir werden noch viel Arbeit vor uns haben. Daß in der Innen- und Rechtspolitik der EU die repressive Seite dominiert, zeigen auch die Beschlüsse zu Europol. Wie es zu befürchten war, wird Europol weiter ausgebaut. Die Behörde soll künftig auch bei Verdacht auf Geldwäsche tätig werden. Bei verschiedenen Strafvorwürfen sollen gemeinsame Ermittlungsteams unter Einschluß von Europol-Beamten gebildet werden. Sogar eine Task-Force der europäischen Polizeichefs soll es geben. Nebenbei frage ich mich, wer eigentlich der deutsche Polizeichef ist. Dabei gibt es bis heute keine Rechtsschutzlinie für das Schengener Durchführungsabkommen von 1990. Die EU-Datenschutzrichtlinie von 1995 ist noch nicht in das deutsche Recht umgesetzt worden. Die Beratung all dieser Punkte wäre auf dem Gipfel von Tampere eigentlich wichtig gewesen. Wie soll sich künftig eine EU-Bürgerin oder ein EU-Bürger zur Wehr setzen, wenn ihre oder seine Daten unberechtigt in den Speicher von Europol geraten sind? Wo bleibt die parlamentarische Kontrolle, die gerade die Parteien der jetzigen Regierungskoalition gemeinsam mit uns und mit Teilen der F.D.P. in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder eingefordert haben? Über all diese Punkte gab es keine Beschlüsse auf dem Gipfel von Tampere. Wir hoffen, daß die nächsten Konferenzen diese Punkte auf die Tagesordnung setzen. Ich fasse zusammen. Wer sich von Tampere einen Fortschritt für die Bürger- und Menschenrechte erhofft hatte, der ist im großen und ganzen enttäuscht worden. Das Demokratiedefizit der EU dauert an. Die Situation von Flüchtlingen wurde nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die Abschottungspolitik der EU gegen Menschen, die aus sozialer und politischer Not zu uns fliehen, wurde fortgesetzt. Dieses Ergebnis können und werden wir nicht akzeptieren. Deswegen haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt, dem Sie hoffentlich zustimmen werden. Danke. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun der Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gipfel von Tampere war ganz unbestreitbar ein Erfolg: ein Erfolg für Europa und auch für die deutsche Regierungspolitik, aber vor allem ein Erfolg für das Europa der Bürgerinnen und Bürger und für das Europa des Rechts, das wir wollen. ({0}) Meine Damen und Herren von der Opposition, ich bin ganz sicher, Sie wären froh, Sie hätten in den vergangenen 16 Jahren die Ergebnisse der Gipfel von Köln und Tampere erzielen können. ({1}) Lassen Sie mich gleich eine Bemerkung zu dem machen, was Sie Herr Kollege Rüttgers, gesagt haben. Von innenpolitisch, nur mit Blick auf das Tagesgeschäft agierenden Politikern kann Europa zwar keinen Dank, aber doch etwas mehr Ernsthaftigkeit erwarten. ({2}) Ich bin der Auffassung, daß man peinliche Wortverdrehungen, mit denen man die Türkei vom Beitrittskandidaten zum „Beitragskandidaten“ abstempelt, möglichst unterlassen sollte. Man sollte auch nicht - ich zitiere den Kollegen Rüttgers nochmals - den „Verlust von Größe“ bejammern. Ich war immer der Meinung, daß im Bundestag parteiübergreifender Konsens darin besteht, daß sich unser Land durch Kooperation und durch gute Nachbarschaft in Europa auszeichnen soll. Man sollte auch nicht in dem flapsigen Stil eines Jahrmarktredners über Europa sprechen. Wer so mit Europa und mit den Ergebnissen des Gipfels, den die finnische Präsidentschaft ausgerichtet hat, umgeht, der zeigt, daß es ihm nicht um Europa geht. Der praktiziert doch, was der Kollege Rüttgers dann kritisiert, nämlich „teutonische Arroganz“, und genau die führt zu Einsamkeit in Europa, Kollege Rüttgers, die wir uns auf keinen Fall leisten können und auch gar nicht leisten wollen, wenn es uns mit Europa ernst ist. ({3}) Der Gipfel von Tampere - ich sagte es schon - war für Europa und für die deutsche Politik ein Erfolg, vor allem aber war er ein Erfolg für das Recht und das Rechtsdenken in Europa. Der deutliche Fortschritt in dem Bereich der Innen- und Rechtspolitik wird durch den Beschluß des Gipfels von Köln zur Grundrechtscharta, durch die Neuregelung der Voraussetzungen für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rechts- und Innenpolitik, die mit dem Amsterdamer Vertrag in Kraft getreten ist, und durch den Wiener Aktionsplan markiert. Das ist aber nicht alles. Wir haben auch einen Fortschritt bezüglich der Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums in Europa erzielt. Wir haben damit eine neue Stufe auf dem Weg zu einem Europa erreicht, das nicht alleine durch einen gemeinsamen Wirtschaftsraum und eine gemeinsame Währung gekennzeichnet ist, sondern auch durch eine demokratische und soziale Rechtsordnung, die wir alle wollen. Gerade deshalb ist das so wichtig, worüber Außenminister Fischer geredet hat und was auch der Kollege Meyer bereits angesprochen hat, nämlich die Entscheidung, eine Grundrechtecharta nicht nur zu erstellen, sondern sie im Jahre 2000 feierlich zu deklarieren, das heißt in Kraft zu setzen. Ich füge hinzu: Selbstverständlich entspricht es der deutschen Politik und insbesondere dem, was diese Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hauses wollen, daß diese Grundrechtecharta als erster Teil den europäischen Verträgen vorangestellt wird. ({4}) Das, meine Damen und Herren, bedeutet nämlich dreierlei: Das macht deutlich, daß nicht nur bei uns in Deutschland, gebunden an unsere Verfassung und an unsere Rechtsordnung, sondern eben auch in Europa der Mensch im Mittelpunkt steht. Das stärkt zum zweiten das Grundrechtedenken und damit auch die Grundrechtsbindung in Europa. Darüber hinaus schafft das - das ist gerade jetzt ein ganz wichtiger Punkt - mehr Bürgerbewußtsein und damit mehr europäische Identität. Meine Damen und Herren, die Fortschritte im Justizbereich, - ich würde den Kollegen Rüttgers gerne bitten, sich etwas mehr mit diesen Fragen zu befassen - sind ganz praktisch. ({5}) - Sie haben es gerade nötig! - Natürlich ist es so, Herr Kollege Rüttgers, daß dies alles umgesetzt werden muß. Daß ausgerechnet Sie das kritisieren, habe ich allerdings nicht verstanden. Wenn Sie hier um der billigen Effekte willen Verben vorlesen, dann haben Sie wahrscheinlich noch gar nicht erkannt, daß gerade im Bereich der Innen- und Rechtspolitik Ihre Regierung alles dafür getan hat, jede einzelne nationale Kompetenz so sorgfältig gehütet hat, wie ihren Augapfel. Das heißt, die Tendenz, nationale Vorbehalte zu betonen und sie beizubehalten, war ein Kennzeichen Ihrer Politik. ({6}) Ich habe das übrigens zum Teil verstanden, weil ich der Meinung bin, daß alles, was im Bereich der Innenund Rechtspolitik vergemeinschaftet werden soll, und auch die Harmonisierung die strenge Bindung berücksichtigen muß, die wir aus unserem Rechtsstaatsprinzip und aus der Grundrechtebindung abzuleiten gewohnt sind. Aber jetzt, wo es zum erstenmal wirklich gelungen ist, nicht nur das Ziel des gemeinsamen europäischen Rechtsraums zu beschreiben, sondern auch Schritte zu formulieren, zu kritisieren, das sei alles nur „könnte, wollte und sollte“, und das müsse alles noch umgesetzt werden, zeugt nicht direkt davon, daß Sie es ernst meinen mit der Aufgabe, die wir auf dem Weg zu einem einheitlichen Europa des Rechts noch vor uns haben. ({7}) Wir werden diesen Weg gehen. Wir verlassen uns darauf, daß diejenigen Teile der Opposition, die es ernst mit Europa meinen und die es auch ernst meinen mit einer demokratischen und sozialstaatlichen Rechtsordnung, uns darin unterstützen. Tampere hat aber auch ganz praktische Fortschritte für die Bürgerinnen und Bürger gebracht. Ich will, damit es überhaupt keinen Zweifel daran gibt, fünf aufzählen. Das fängt damit an, daß die Europäische Kommission verpflichtet wurde, bessere Informationen über die Justiz der jeweiligen Mitgliedstaaten zu erstellen. Man fragt sich wirklich, warum das nicht schon längst passiert ist. Natürlich bedeutet das, daß sich jedes einzelne Land daran beteiligen muß - jawohl, das ist so - und daß das alles dann in eine Form gebracht werden muß, die Bürgerinnen und Bürger einen Nutzen bringt, zum Beispiel dann, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat in Verkehrsunfälle verwickelt werden, wenn es Familienstreitigkeiten über die Grenzen hinweg gibt, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat irgend etwas kaufen und es entweder dort oder dann, wenn sie aus den Ferien zurück sind, kaputtgeht, aber natürlich auch dann - auch das kommt ja vor -, wenn sie in einem anderen Staat Opfer von Straftaten werden. Dann stellen sich die Fragen: An wen kann ich mich wenden? Wo bekomme ich Hilfe? Wie ist das Justizsystem in den anderen Ländern aufgebaut? Wer hilft mir bei der Durchsetzung meiner berechtigten Ansprüche? Darum geht es bei dem, was in Tampere beschlossen worden ist. Und genau hier haben wir eine Menge erreicht. Es steht noch eine Menge vor uns. Aber wir kommen auf diesem Weg weiter. Weitere - das ist der zweite Punkt - wichtige praktische Auswirkungen sind beschlossen worden. Es geht nicht nur um das Wissen über den Umgang mit der Justiz des anderen Staates. Man muß vielmehr auch die nötigen finanziellen Mittel haben, um Zugang zu den Gerichten zu bekommen. Ich spreche hier von der Prozeßkostenhilfe, die es in Deutschland gibt, aber in anderen Ländern bisher nicht. Wir haben erreicht, daß es jetzt einheitliche Mindestregelungen in jedem Land Europas geben soll. Dies ist schwierig; das wissen wir ganz genau. Hierbei geht es weniger um nationale Vorbehalte, sondern es geht um Geld. Daß es in unserer Zeit schwer ist, dies zu erreichen, ist klar. Aber die Verpflichtung ist seit Tampere auch Teil des europäischen Rechts. Das ist gut. Es geht weiterhin - das ist der dritte Punkt - um die Anerkennung und die Vollstreckung von Gerichtsurteilen und anderen Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen. Das klingt gut, ist aber schwer durchzusetzen, was nötig wäre. Wer ein Gerichtsurteil in Frankreich, Finnland oder in Portugal erstritten hat, möchte natürlich, daß dieses hier bei uns anerkannt wird und auch vollstreckt werden kann. Umgekehrt legen wir ebenso großen Wert darauf, daß es dann, wenn zum Beispiel ein Portugiese einen Deutschen in Portugal verklagt hat, einheitliche Mindeststandards an Verfahrensgarantien und an Rechtsstaatlichkeit gibt und diese auch eingehalten werden. Das macht jeden Fortschritt ziemlich kompliziert und schwierig. Aber es ist richtig, die Zielvorstellung in den Vordergrund zu rücken. Es ist auch richtig zu sagen: Wir brauchen dazu Zeit. Die Staaten müssen hierfür eine ganze Menge an Vorarbeit leisten, ehe wir weiterkommen. Die Einführung eines europäischen Mahnverfahrens - das ist der vierte Punkt - wird wahrscheinlich sehr viel kurzfristiger gelingen, und für die Geschäftswelt in ganz Europa erhebliche Fortschritte mit sich bringen. Deswegen, meine Damen und Herren, lassen Sie es nicht zu, daß die Bürgerinnen und Bürger meinen, es würde hier nur mit Worten wie „sollen“, „würden“, „können“ geklingelt oder mit kleiner Münze gehandelt. Nein, es geht um ganz praktische Dinge, wenn wir von dem einheitlichen Rechtsraum Europa reden. Wir sind in Tampere ein gutes Stück weitergekommen. Das ist auch bei dem fünften Punkt, nämlich der Errichtung der Zentralstelle Eurojust, so. Sie soll der Kriminalitätsbekämpfung dienen. Das ist ganz wichtig; keine Frage. Sie soll der Zusammenarbeit und der Koordinierung von Staatsanwaltschaften und Gerichten der verschiedenen Mitgliedstaaten dienen. Dies ist wichtig, weil dadurch Rechtshilfeersuchen, Auslieferungsersuchen und die Entscheidung von Rechtsfragen in Europa künftig viel schneller gehen. Wir sind der Meinung, daß die justitiellen Netze, die wir heute haben, auf eine gute Weise durch Eurojust ergänzt werden. Das ist ein Fortschritt. Aber wir meinen auch, daß die Kompetenzen von Eurojust erweitert werden können und müssen. ({8}) Hierin sind wir uns mit anderen EU-Mitgliedstaaten einig. Es ist nicht so, daß wir die Einsamen sind. Das wird man nur durch Arroganz. Es gibt hier entsprechende Absprachen mit anderen Staaten, die dies auch wollen und deutlich sagen. Zum Ziel: Wir in Deutschland haben als Ausfluß unseres Rechtsstaatsprinzips und der Rechtsstaatsbindung in unserem Land die Trias von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten. Das macht einen Teil unseres Rechtsstaats aus. Wir wollen, daß auch Europa Schritt für Schritt durch diese Ordnung, durch diese Rechtsstaatlichkeit geprägt wird. Dieses Ziel haben wir vor Augen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt noch einmal darauf zurückkommen, warum dies alles so wichtig ist und warum es auch wichtig ist, daß wir uns mit dem Respekt, den auch ein kleines Land wie Finnland verdient, Herr Rüttgers, mit Europa und seinen Fortschritten befassen. Wir brauchen Europa, weil wir eine friedliche, eine freiheitliche und eine wirtschaftlich gute Zukunft für unsere Region wollen. Daran besteht kein Zweifel. Es geht nicht, daß wir uns dabei auf ein Europa der Wirtschaft, ein Europa der Währung oder ein Europa anderer Politikbereiche begrenzen. Es muß vielmehr ein Europa des Rechts und der Bürgerrechte sein. ({9}) Lassen Sie mich deutlich sagen: 1999 ist und war ein Jahr, in dem wir uns an besonders viele Ereignisse unserer Geschichte erinnern, die mit der Bindung von politischer Macht an Recht und der Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte in Staat und Gesellschaft zu tun haben. Das ist nicht nur das Grundgesetz, das dafür ja die Grundlage geschaffen hat, sondern beispielsweise auch die Paulskirchenverfassung von vor 150 Jahren. Diese Ereignisse haben unser Rechtsdenken, unser Gefühl für Recht und Gerechtigkeit und unsere Rechtskultur in Deutschland ganz entscheidend geprägt. Wir wollen sie in ein einheitliches Europa mitnehmen, in ein Europa der Bürger und ein Europa des Rechts. ({10}) Ich möchte gerne mit den Worten eines jener Großen - Carlo Schmid - schließen, die damals dafür gesorgt haben, daß sich die nationale Entwicklung bei uns in der Bundesrepublik Deutschland so glücklich vollziehen konnte, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. Denn Carlo Schmid hat auch zum Thema Europa gesagt, was wichtig ist. Er hat zugleich all die Zauderer, die meinen, man könne sich in Details verirren, sich damit begnügen, billig darüber zu spotten, damit zur Ordnung gerufen. Er hat gesagt: Wir alle irren, wenn wir glauben, wir könnten Europa schaffen, indem wir es halb schaffen. Wenn Europa werden soll, dann muß man aufs Ganze gehen, dann muß man Europa zu einer ökonomischen, politischen und konstitutionellen Einheit machen. Carlo Schmid hat auch in diesem Punkt recht. Wir arbeiten weiter an diesem Ziel, und Tampere war ein wichtiger, ein erfolgreicher Schritt. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Manfred Kanther, CDU/CSU-Fraktion.

Manfred Kanther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002694, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen! Meine Herren! Nach Tampere, nach den G-8-Begegnungen, nach einem Jahr, in dem die deutsche Europapolitik und die europäische Sicherheitspolitik, was die deutsche Mitwirkung angeht, ganz besonders wichtig waren, nach einem Jahr SchengenPräsidentschaft, EU-Präsidentschaft und G-8-Präsidentschaft möchte ich einige Anmerkungen zur europäischen Sicherheitspolitik machen - ein Thema, das die Menschen außerordentlich interessiert, ein Thema, das Sorgen auslöst, ein Thema, das für die europäische Glaubwürdigkeit, für die Akzeptanz des europäischen Gedankens von höchster Bedeutung ist und emotional vor mancher Frage aus dem Wirtschaftsbereich rangiert. Herr Außenminister, ich halte Ihnen nicht vor, daß in internationalen Begegnungen und internationalen Vereinbarungen Flockigkeiten vorhanden sind, daß es dort Phrasen gibt, daß man einen Dissens zunächst verbirgt und manches auf die lange Bank schiebt. Man muß nur wissen, daß man das getan hat. Das Papier strotzt von diesen Dingen. Ein Beispiel: Der Europäische Rat betont, wie wichtig es ist, das Drogenproblem auf umfassende Weise anzugehen. - Richtig. Aber die dort Versammelten sollten sich dem Problem der verheerenden holländischen Drogenpolitik stellen! ({0}) Aber kommt Zeit, kommt Rat. Ich will Sie nicht überfordern; wir haben es ja auch nicht ändern können. Das Problem besteht jedoch. Deshalb meine erste Forderung: Die Bundesregierung muß jetzt diese Obersätze, von denen ich nicht viele falsch finde, mit Leben erfüllen. Sie muß ihnen nachgehen. Es gibt gute Richtungsweisungen, aber es muß Fleisch an den Knochen. Es darf nicht bei den Phrasen bleiben. Ich will noch einen kleinen Punkt herausgreifen: Eurodac, das Flüchtlinge betreffende Identifizierungsverfahren als Erfüllung Dubliner Verpflichtungen, ist offenkundig auf dem gleichen Stand wie vor zwei Jahren, als ich es mühsam auf die Birminghamer Agenda im Hinblick auf die weiteren Präsidentschaften geboxt habe. Es ist noch immer nicht konsentiert; Ziffer 17 weist dies aus. Dranbleiben, selbst an kleinen Dingen, ist also alles! Zweite Bemerkung. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß vieles, was an Phraseologie in der rotgrünen Politiklandschaft zum Thema Asyl- und Flüchtlingswesen jahrelang hier umgegangen ist - die Justizministerin ist, wenn es um den Austausch von Verbalinjurien in dieser Frage ging, kaum zu überbieten gewesen -, wohl hinter uns liegt. Sei es drum: Sollte es tatsächlich hinter uns liegen, wäre ich darüber froh. Angesichts dessen, was etwa in den Ziffern 23 und 24 zur Bedeutsamkeit der Grenzsicherung gesagt wird, fordere ich Sie, Herr Außenminister, auf, sich von der Phrase zu trennen, die da lautet: „Wir wollen keine Festung Europa.“ Das war ein völlig fehlerhafter Begriff aus vergangenen Zeiten, und das will auch überhaupt niemand. Aber eine Sicherung der Grenzen von EUEuropa wollen wir ganz entschieden. ({1}) Das erwächst einem nicht aus Worten, sondern aus Taten: zum Beispiel aus der Unterstützung der südosteuropäischen Regierungen hinsichtlich ihrer Justiz- und Polizeisysteme. Das kostet Geld, Aus- und Fortbildung und tatkräftige Unterstützung - es ist richtig, Herr Innenminister, daß Sie dies in einem kleinen Punkt in Mazedonien gerade getan haben -, und das zeigt, daß diese Bundesregierung Antworten und nicht nur Obersätze schuldet. Wenn man das Papier liest und die Regierungsmitglieder, die, wie Frau Däubler-Gmelin, eine Fachverantwortung haben, dazu reden hört, dann gelangt man zu der Auffassung, daß es keine Richtungsangaben für die deutsche Politik gibt. Was wird denn jetzt daraus? Ist sich Rotgrün darin einig, daß ihre frühere Politik zum Thema Asyl, Flucht- und Wanderungsbewegung mitsamt der Reflexe für die innerdeutsche Situation, was Kriminalität und insbesondere organisierte Kriminalität angeht, falsch war und jedenfalls von Tampere an auch nicht mehr Konsens in EU-Europa ist? Die vereinigten Sozialdemokraten aller europäischen Länder, die sich ja auch in Tampere getroffen haben, soweit sie den nationalen Regierungen angehören, sind nicht der Glaubensmeinung, die früheren rotgrünen Absprachen zu diesem Thema zugrunde lag. Die Gewährleistung von Grenzsicherheit ist ein elementarer Punkt auch für die innenpolitische Situation in Deutschland. ({2}) Ich werfe Ihnen, Herr Schily, nicht vor, daß Sie das Thema „burden sharing“ bislang nicht weiterbringen konnten, als wir es auch konnten. Es ist nicht verwunderlich, daß andere europäische Staaten die Tatsache, daß im wesentlichen die Deutschen, die Österreicher und - außerhalb der EU - die Schweizer die Lasten schultern, für einen bequemen Zustand halten. Man muß weiter daran bohren und zugleich dafür sorgen, daß im Inland die Konditionen dafür geschaffen werden, daß die Illegalität nach Kräften gedämpft wird. ({3}) Man muß also wirksame innenpolitische Systeme gegen den Asylmißbrauch aufbauen, der ja nach wie vor ein zehntausendfacher ist. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung habe ihren Frieden mit 100 000 Asylbewerbern pro Jahr gemacht. Man hört gar nichts mehr davon, wie diesbezüglich die Bemühungen weitergehen sollen. Sie fordern in dem Papier mit Recht Anstrengungen der südeuropäischen Nachbarn und Bündnis- und EUPartner. Es taucht die Frage nach der Sicherung der südeuropäischen Seegrenzen auf. Papier ist geduldig; das sieht man auch am Adria-Abkommen zwischen Italien und Griechenland. Wie geht die Bundesregierung vor, um das Papier sachlich zu unterfüttern und daran mitzuhelfen, daß die Seegrenzsicherung besser wird? Ich verlasse diesen Punkt und sage nur, daß es hier Vollzugsanforderungen an die deutsche Politik gibt. Die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen ist ein höchst wichtiger Punkt, ebenso die Forderung nach gemeinsamen Rechtsvorschriften. Dazu gibt es viele Einzelfragen: verbessertes Auslieferungsverfahren, einfache Überstellungsverfahren, Eilverfahren in der Überstellung. Ich stelle auch die Frage nach der Vollstrekkung von Haftbefehlen in Europa, nach der Nutzung von Erkenntnissen aller Polizeien durch alle Polizeien und in allen Strafverfahren, nach europäischen Vollstreckungstiteln und nach der Verbesserung der Situation von Europol; bei letzterem geht es um gemeinsame Teams und operative Kompetenzen. Ziehen wir darunter einen Schlußstrich, gelangen wir zu der Frage an die Bundesregierung und an meinen geschätzten Nachfolger im Amte des Innenministers: Wie lauten die Zeitpläne und Handlungsabsichten der Bundesregierung? Haben Sie vor, einen gemeinsamen Arbeitsstab zwischen Justiz- und Innenministerium zur Abarbeitung des Gipfels von Tampere einzurichten? Haben Sie dafür einen Zeitplan? Werden Sie den Handlungsbedarf in gesetzgeberischer, administrativer und fiskalischer Hinsicht erfüllen? Wie halten Sie es mit den Haushaltsfolgen von Tampere, wenn es um die Unterstützung osteuropäischer Länder beim Aufbau tauglicher Justiz-, Polizei- und Grenzsicherungssysteme geht? Sie fordern verschämt - Ziffer 25 - speziell ausgebildete Grenzsicherungseinheiten. Richtig! In manchen Ländern gibt es nur drei oder vier, in manchen sogar gar keine derartigen Einheiten. Wie halten wir es mit der EU-Finanzierung? Was war es für eine Mühsal, eine auskömmliche Europol-Finanzierung durchzusetzen! Wo sind jetzt entsprechende Ansätze der Bundesregierung in einer langfristigen Planung? - Das sind entscheidende Fragen. Wenn Sie gestatten, Herr Präsident, jetzt noch zwei Aspekte, die mir ein besonderes Anliegen sind. Der erste Aspekt: Bevor nicht auf diese Fragen Antwort gegeben ist, bevor nicht der Tatsache Rechnung getragen ist, daß wir als Deutsche unter vielen Aspekten mangelnder Sicherheit in Europa leiden, kann auf diesem Sektor nicht das Mehrheitsprinzip gelten. Das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip in diesem Sektor ist noch auf längere Sicht notwendig. Die zweite Bemerkung: Es darf keinen „Rabatt“ in Sicherheitsfragen geben, nur weil das diplomatisch geschickt erscheint und das Handeln in anderen Bereichen, etwa ökonomischen Fragen, erleichtert. Es geht nicht, daß man im Bereich der Sicherheit, zum Beispiel in der Frage der Freizügigkeit, Rabatt gewährt, bloß weil das der Diplomatie dient. Denn die Bürger messen an dieser Frage die Leistungsfähigkeit des EU-Systems. ({4}) Eine letzte Bemerkung: Zu Recht stellen die Schlußziffern 61 und 62 die Bedeutsamkeit einer konsistenten Außenpolitik für die Sicherheitspolitik fest. Das finde auch ich; das muß ganz undogmatisch festgestellt werden. Ich glaube, daß man Grenzsicherheit und Schutz vor illegalen Wanderungsbewegungen - mit all den damit verbundenen Nachfolgeerscheinungen im Inland nicht gewährleisten kann ohne ein schrittweises Mitwirken der Türkei als der Drehscheibe vieler dieser Illegalitäten. Auch bei der Einbeziehung von Nicht-EUAspiranten sollte man undogmatisch auf die Sicherheitsphilosophie von Schengen schauen. 1 200 Kilometer zu sichernde slowakische Grenze - wenn dieser Balkon weiter so nach EU-Europa hineinragt - reduzieren sich auf 200 Kilometer, wenn nur noch zur Ukraine hin gesichert werden muß. Das sind die praktischen Fragen, um die es geht. Zu diesen praktischen Fragen erwarten wir - wenn auch nicht sämtlich heute - in den nächsten Monaten von Ihnen nachhaltige Antworten. Wir werden sie bei Ihnen abfragen. Danke. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kanther, ich muß mich schon sehr über Ihre Rede wundern. Haben Sie sich mit Herrn Rüttgers überhaupt nicht abgesprochen? Herr Rüttgers erzählt uns, daß Tampere ein riesiger Flop ist. Nichts sei passiert, nichts sei erreicht worden. Herr Kanther dagegen verlangt von der Bundesregierung die Umsetzung der vielen konkreten Beschlüsse von Tampere. Einer von beiden muß sich irren. ({0}) Mit seiner Einschätzung, daß Tampere ein Erfolg war und daß viele konkrete Dinge vereinbart wurden, muß ich dem Kollegen Kanther Recht geben, wenn ich einmal das Match in Ihrer Fraktion entscheiden darf. Allerdings muß ich sagen: Herr Kanther hat das Papier nicht gelesen. ({1}) Denn in vielen Punkten ist die Akzentsetzung nicht so finster und sinister, wie es in seiner Schreckensrede zum Ausdruck kam. Vielmehr sind viele fortschrittliche Ansätze enthalten. Da wird nicht einseitig auf Repression, auf eine Abschottung der Festung Europa gesetzt. Prävention bei der Kriminalpolitik wird ausdrücklich als ein wichtiger Ansatz erwähnt - etwas, was unter der alten Regierung jahrelang vernachlässigt wurde. Die Rechte der Opfer von Menschenhandel werden in den Mittelpunkt gerückt, nicht die Frage, wie man das Schlepperunwesen bekämpft. Wie hilft man den betroffenen Menschen und macht sie zu Bündnispartnern, anstatt gegen sie vorzugehen, so daß sie Menschenhändler und Strafverfolgungsbehörden gegen sich gerichtet sehen? Bei Ihren langen Ausführungen zur Asylpolitik habe ich kein Wort darüber gehört, daß der Europäische Rat die Bedeutung bekräftigt, die die Union und deren Mitgliedstaaten der unbedingten Achtung des Rechts auf Asyl beimessen. Es wird ausdrücklich betont, daß man sich auf die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt, und dies findet sich auch in den einzelnen Maßnahmen und Vereinbarungen. Diese Perspektive haben Sie verschwiegen, weil Sie das Grundrecht auf Asyl auf europäischer wie auf nationaler Ebene angreifen. Ich finde es bei einer Partei, die das „C“ im Namen führt, äußerst verwunderlich, daß Ihnen die Grundrechte von Menschen, die vor Verfolgung flüchten, überhaupt nichts wert sind. ({2}) Meine Damen und Herren, Europa befindet sich auf dem richtigen Weg hin zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger. Die Beschlüsse von Tampere haben erfreulicherweise deutlich gemacht: Eine europaweite kompatible und für die Bürger transparente Rechtsordnung rückt allmählich näher. Das Europa der Märkte kann so endlich zu einem Europa der Bürger werden, und ein Europa der Bürger braucht ein solides Fundament der Bürgerrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Hier war Tampere ein Durchbruch. Meine Fraktion begrüßt es, daß die EU sich nach der Schaffung des Binnenmarktes und der Einführung des Euro nun endlich auch verstärkt der Vereinheitlichung von Mindeststandards in der Innen- und Rechtspolitik zuwendet. Ich sage bewußt „endlich“; denn die Bürgerinnen und Bürger erleben sich doch schon länger, ob im Beruf, auf Reisen, über familiäre Beziehungen oder im Sport, als Unionsbürger in vielen Lebensbereichen. Im Bereich der Justizpolitik ist jedoch die Entwicklung hin zu einer harmonischen europäischen Rechtseinheit in den letzten Jahren, um es vorsichtig zu sagen, etwas schleppend verlaufen - und dies nicht immer zum Vorteil der Bürgerinnen und Bürger, im Gegenteil. Nicht zuletzt die Wahlbeteiligung bei den letzten Europawahlen - das wurde auch schon angesprochen hat gezeigt: Die Bürger haben das Europa, wie es sich jetzt darstellt, nämlich als Europa der Bürokratien, als Europa der Konzerne noch nicht in dem Maße angeManfred Kanther nommen, wie wir es uns wünschen. Akzeptanz schafft man aber nicht nur durch offene Grenzen und durch Freizügigkeit innerhalb der EU für Geldströme und auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch indem man die Bürger von einem anständigen europäischen Rechtsschutzsystem überzeugt, einem Rechtsschutz, der den veränderten Realitäten gerecht wird. Das Europa der Bürger und nicht nur der Märkte ist das hat Tampere ganz deutlich gemacht - nicht nur ein Europa der EU-Bürger. Es ist in dieser Vereinbarung auch die Frage der Drittstaatler ausdrücklich thematisiert worden. Ich bin sehr froh, daß man hier die Perspektive mit der Annäherung hin zur Gleichberechtigung auch der Drittstaatler im EU-Raum eröffnet und deutlich gemacht hat: Europa ist keine Festung. Vielmehr verpflichten wir uns auf die Genfer Flüchtlingskonvention und nehmen die Menschen auch auf, die vor Verfolgung aus anderen Ländern fliehen. Wir müssen das auf europäischer Ebene besser regeln - aber nicht, um die Menschen hinauszudrängen, sondern um einen gleichen Mindeststandard innerhalb der Europäischen Union zu schaffen. Wenn wir die Genfer Flüchtlingskonvention so ernst nehmen, wie das in diesem Papier geschieht, dann wird das auch Auswirkungen auf das deutsche Asylrecht haben müssen. ({3}) Unser Fluchtbegriff des politischen Asyls ist viel enger als der Fluchtbegriff, den wir in der Genfer Flüchtlingskonvention vorfinden. ({4}) Bündnis 90/Die Grünen haben schon immer eine verbindliche und einklagbare Grundrechtscharta als Grundlage und Maßstab für die Europäisierung der Rechts- und Innenpolitik gefordert. Eine europäische Verfassung schafft Transparenz und Rechtssicherheit, und sie unterstreicht, daß die Bürger Rechtssubjekte des Gemeinschaftsrechts sind. Wir freuen uns deshalb auch, daß ausgerechnet unter bundesdeutscher Ratspräsidentschaft in Köln die Weichen hierzu gestellt wurden und jetzt in Tampere die Lokomotive endlich unter Dampf gesetzt wurde. Man hat den Geist von Köln aufgegriffen. Die Zusammensetzung der Verfassungskommission steht. Es gibt auch Vorhaben mit konkreten Terminen: Ende 2000 soll die Charta verabschiedet werden - ein ehrgeiziges Ziel. Ich hoffe, wir erreichen es. Eine Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit innerhalb des Gebildes Europäische Union würde zeigen die Kollegin Jelpke hat es auch schon angesprochen -: So, wie die Europäische Union heute verfaßt ist, würden wir ihr die Aufnahme in die Europäische Union als Mitgliedsstaat nicht gestatten. Das, was man von den Beitrittskandidaten erwartet, muß die Europäische Union auch ihren eigenen Bürgern im europäischen Recht gewähren. ({5}) Rechtsvereinheitlichung darf es nicht um jeden Preis geben. Sie muß differenziert angegangen werden. Wir müssen aufpassen, daß ein harmonisiertes Recht auch angemessenen rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt. In diesem Zusammenhang möchte ich Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ zitieren: Bisher ist es in der EU so, daß Rechtsstaat, mit 15 multipliziert, nicht mehr, sondern erheblich weniger Rechtsstaat ergibt. Darin bestand in der Vergangenheit das Problem. Das muß im Rahmen der weiteren Entwicklung auf der Grundlage der EU-Charta anders werden. Vor allem bei der Vereinheitlichung sensibler Bereiche wie der inneren Sicherheit und der Kriminalitätsbekämpfung ist deshalb ein behutsames Vorgehen geboten. Sicher, nicht das Verbrechen, sondern seine effektive Verfolgung scheitert häufig an manchen überflüssigen bürokratischen Hürden, die in den einzelnen Nationalstaaten bestehen. Hier ist mehr Kooperation gefragt. Die Erweiterung der Kompetenzen von Europol zur Bekämpfung von Geldwäsche und Geldfälschung kann für eine wirkungsvollere Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität absolut erforderlich sein. Aber das Handeln von Europol muß wie das polizeiliche Handeln im Einzelstaat auch jederzeit juristisch und datenschutzrechtlich überprüfbar sein. ({6}) Gleiches gilt auch für die neugeschaffene europäische Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit Eurojust. Auch hier ist die Grundrechtscharta von entscheidender Bedeutung. Im Hinblick auf Europol ist es notwendig, in der Grundrechtscharta ein verbrieftes Recht der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf informationelle Selbstbestimmung zu verankern. Dieses Recht ist bei Europol gegenwärtig nicht hinreichend durch Kontrollbefugnisse gewährleistet. Die Voraussetzungen dafür, daß Europol zukünftig auch Eingriffsbefugnisse erhält, sind die Abschaffung der heute geltenden Immunitätsregelung und die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof wie ein nationales Gericht bei ungerechtfertigten Eingriffen in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger anzurufen. Ich wünsche mir ohnehin, daß der Europäische Gerichtshof bei der Weiterentwicklung des Europarechts im justiziellen Bereich dieselbe Rolle spielen wird wie das Europäische Parlament bei der Weiterentwicklung der Demokratie in Europa. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tampere war dringend notwendig, aber Tampere hat auch Vorläufer. Ohne den Vertrag von Amsterdam hätte es den Gipfel in Tampere mit solchen Themen nicht gegeben. ({0}) Volker Beck ({1}) Erlauben Sie mir, an Ihre Erinnerung zu appellieren; denn die heutigen Regierungsfraktionen haben sich über den Vertrag von Amsterdam äußerst zurückhaltend, zögerlich und teilweise ablehnend geäußert. ({2}) Zur Bewertung des Gipfels von Tampere gehört aber die Einbeziehung des Vertrags von Amsterdam unverzichtbar. Sie wird den Blick auf das lenken, was tatsächlich in den 62 Punkte umfassenden Schlußfolgerungen formuliert ist. Einige Passagen der Schlußfolgerungen sind mit Art. 61, 62 und 63 des Vertrags von Amsterdam identisch. Den Vertrag von Amsterdam, der einen Stufenplan mit einer Frist von fünf Jahren für die Umsetzung enthält, sollte man sich noch einmal vor Augen führen, um sich die notwendigen Grundlagen für das gegenwärtige Handeln zu vergegenwärtigen. Vor diesem Hintergrund - damit wird das Bild wieder zurechtgerückt - kann man sagen, daß einige der ganz wenigen konkreten Entscheidungen richtig sind. ({3}) Das betrifft natürlich die Entscheidung zur Grundrechtscharta. Die F.D.P. hat die Grundrechtscharta immer als einen Schritt hin zu einer langfristigen Vision eines zusammenwachsenden Europas und einer europäischen Verfassung formuliert und gefordert. Ich finde es gut, daß man sich auch hier im Bundestag, der ja leider nur durch einen Abgeordneten in diesem Gremium vertreten sein wird, fraktionsübergreifend mit diesen Fragen befaßt. Herr Meyer, ich greife gern Ihren Vorschlag auf, hier eine fraktionsübergreifende Gruppe zu bilden, in der wir uns beim Einbringen unserer eigenen Formulierungsvorschläge austoben können, die aber auch folgenden Zweck erfüllen muß: Wir brauchen Öffentlichkeit für diese wichtige Frage. Wenn wir Bewußtsein für Grundrechte schaffen wollen, dann müssen wir dafür begeistern, dann müssen die Bürger in Deutschland erkennen, was wir damit verbinden und wie wir Europa in dieser Hinsicht als Wertegemeinschaft gestalten wollen. Ich denke, das gehört dringend auf die Tagesordnung, denn auch die heutige Debatte verfällt mit Blick auf diese Schlußfolgerungen immer wieder in Technik, in eurobürokratische Formulierungen und allgemeine Absichtserklärungen und Äußerungen. Das reicht nicht aus, im Gegenteil, das gefährdet die anstehende notwendige Integration Europas und gerade das Nahebringen dieser Entwicklung in der Innen- und Justizpolitik in Europa. ({4}) Die F.D.P. hat in den letzten Jahren natürlich an vielen Weichenstellungen bewußt, zielorientiert und initiativ mitgewirkt, gerade auch an wichtigen Übereinkommen in der dritten Säule und gerade auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Natürlich ist Europol im Bereich der inneren Sicherheit und des Vorgehens gegen Kriminalität wichtig und unverzichtbar. Wichtige Weichenstellungen dafür sind mit dem Übereinkommen, das erst in diesem Jahr in Kraft getreten ist, vorgenommen worden. Aber es ist ganz klar: Eine Weiterentwicklung von Europol hin zu einem operativ handelnden Organ Europas muß natürlich von ganz anderen rechtsstaatlichen, justitiellen und parlamentarischen Kontrollen begleitet werden. ({5}) Dazu gibt es gerade in diesem anachronistischen Immunitätenprotokoll wenigstens einige Verfahrensschritte, die deutlich machen, daß man diesen Prozeß sehr wohl eröffnen muß und dazu verpflichtet ist, wenn man dafür eintreten will, daß Europol mehr Befugnisse als jetzt erhält. Ich glaube, daß es richtig ist, wenn Europol mehr tun kann, aber nur unter diesen unverzichtbaren Konditionen. Weil wir alle wissen, wie schwierig die Meinungsbildung dazu innerhalb der europäischen Mitgliedstaaten ist, wäre es auch wichtig zu hören, mit welcher Perspektive, mit welchen Forderungen, mit welchen konkreten Vorschlägen der Bundesinnenminister in diese Gespräche hineingehen wird. Natürlich ist auch die Grundsatzentscheidung zu Eurojust - etwas, was die Bürger überhaupt nicht verstehen; sie werden fragen, was das denn sei - für die Fachkenner etwas Richtiges, denn dahinter verbirgt sich endlich ein stärkeres Zusammenführen europäischer Staatsanwaltschaften, europäischer Richter, also endlich ein Ausbau der Organe, die zur rechtsstaatlichen Kontrolle berufen sind. Aber man darf sich dabei nicht auf den gleichen Weg begeben, den man in vielen anderen Bereichen beschreitet, nämlich in Koordinierung, in informationeller Zusammenarbeit, in Austausch von Informationen zu verharren. Vielmehr muß dieser Prozeß letztendlich natürlich in den europäischen Staatsanwalt als Einrichtung, als ein Organ münden, denn nur das ermöglicht uns mit Blick auf Europol und die Zusammenarbeit der Polizei und der Verwaltungsbehörden einen entsprechenden ersten Schritt der Kontrolle. Natürlich müssen dann weitere Schritte folgen: Natürlich brauchen wir für ein Europa der Bürger, für ein Europa des Rechtsraums der Freiheit, der Sicherheit einen leichteren und unmittelbareren Zugang der Bürger zu Gerichten und zum Rechtsschutz. Von daher besteht für mich die entscheidende langfristige Aufgabe darin, den Zugang zum Europäischen Gerichtshof zu erleichtern, die Doppelwegigkeit zwischen Europäischem Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verbessern, zu versuchen, Parallelitäten zu vermeiden, und dem Bürger deutlich zu machen, wohin er sich unmittelbar zu wenden hat, wenn er sich von rechtswidrigem Handeln verletzt fühlt. ({6}) Vision unserer Arbeit für das Zusammenwachsen einer politischen Europäischen Union muß sein, daß Grundrechte, Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit das Entscheidende im ausgehenden 20. Jahrhundert sein werden. Die F.D.P. wird - gerade in der Opposition - diese von ihr immer vertretenen GrundsätSabine Leutheusser-Schnarrenberger ze ganz entscheidend in die Diskussion einbringen. Wir werden versuchen, anhand konkreter Stadien der Verhandlungen in Europa diese Grundsätze durchzusetzen. Soweit es im engen Rahmen des Europaausschusses des Bundestages möglich ist, werden wir unsere politischen Vorschläge formulieren. Da müssen wir überhaupt nichts ändern. Im Gegenteil, wir werden gerade, was die Frage der europäischen Grundrechtscharta angeht, sehr viel lauter werden. Vielen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich empfinde es als einen erfreulichen Sachverhalt, daß es unter den demokratischen Parteien in Deutschland einen lebhaften Wettbewerb um den Einsatz für die europäische Einigung gibt. Dieser Wettbewerb ist um so positiver zu werten, als leider in einigen unserer Nachbarstaaten besorgniserregende Tendenzen einer Rückkehr zu nationalistisch-antieuropäischen Positionen sichtbar werden. Im Rahmen eines Wettbewerbs um die beste Europapolitik ist es durchaus legitim, daß die Opposition die Regierung zu noch mehr europäischem Engagement auffordert und Kritik an vermeintlichen Versäumnissen übt. Aber Kritik sollte nicht anmaßend werden. Ich sage das vor allem deshalb, weil die Kritik, die Sie, Herr Kollege Rüttgers, an den Ergebnissen von Tampere üben, sich zugleich gegen die finnische Präsidentschaft und alle übrigen Mitgliedstaaten Europas richtet. Das müssen Sie sich einmal vor Augen führen. ({0}) Entschuldigen Sie, daß ich folgendes sage: Ich glaube nicht, daß sich irgend jemand in Europa für den Redebeitrag heute morgen von Herrn Rüttgers interessieren wird. ({1}) Falls dennoch jemand in Europa Ihre Rede nachlesen sollte - das ist unwahrscheinlich -, wird der fatale Eindruck entstehen, daß die CDU/CSU ihre beachtenswerte europapolitische Kompetenz eingebüßt hat. ({2}) Das wäre zu bedauern; denn viele in der CDU/CSU kennen sich besser aus als Sie, Herr Kollege Rüttgers. Der von mir sehr geschätzte Kollege Kanther hat heute morgen bewiesen, wie man aus der Opposition heraus einen sachlichen Beitrag leisten kann, ohne der Regierung zuzujubeln. Herr Kollege Rüttgers, Sie haben einige Dinge angesprochen, die ich zurechtrücken will. Sie haben die Behauptung aufgestellt, es gebe eine Vereinsamung der Bundesregierung auf der europäischen Ebene, und zwar bei denjenigen Feldern, die in Tampere zu bestellen waren. Ich weiß nicht, ob Sie sich über Ihre Äußerungen vergewissert haben. Wir, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Deutschland, haben für Tampere ein gemeinsames Papier vorgelegt zu einem wichtigen Thema, nämlich Asyl-, Migration- und Bürgerkriegsflüchtlinge. Ist das Ausdruck von Vereinsamung? Ich weiß aus vielen Gesprächen, die ich auf den Konferenzen der Innen- und Justizminister der Europäischen Union geführt habe, welches Lob und welche Anerkennung die Bundesregierung für ihre Staatsangehörigkeitsreform erworben hat. Auch das ist kein Ausdruck von Vereinsamung, sondern Ausdruck einer gemeinsamen europäischen Politik, wie sie die Bundesrepublik vertritt - aber in einer modernen und nicht in einer rückwärtsgewandten Form, wie Sie sie vertreten. ({3}) Ich komme im Laufe meines Beitrages auf einige Themen zurück, zu denen Sie weitere Unwahrheiten und Unrichtigkeiten vorgetragen haben. Meine Damen und Herren, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert steht Europa wahrlich vor richtungweisenden und weitreichenden Entscheidungen, die bestimmend und gestaltend für unsere Zukunft wirken werden. Im Zeitalter der Globalisierung und der von ihr ausgehenden Dynamik wird immer deutlicher, daß der nationalstaatliche Rahmen für die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben und die Gestaltung der Zukunft nicht mehr ausreicht. Die Verwirklichung des vereinten Europa, zu der uns bereits das Grundgesetz verpflichtet, ist die notwendige, erfolgreiche und zugleich faszinierende Antwort auf Umbruch und Wandel in Europa und in der gesamten Welt. Bereits in unserer Koalitionsvereinbarung haben wir die herausragende Bedeutung der Einbindung Deutschlands in die Europäische Union und die Notwendigkeit unterstrichen, den europäischen Integrationsprozeß mit neuen Initiativen voranzutreiben, um der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union neue Impulse zu verleihen. Auch im Bereich der Innenpolitik ist die Bedeutung der europäischen Politik und des europäischen Rechts in den vergangenen 50 Jahren stetig gewachsen und zu einem überragenden Faktor geworden. Die Ergebnisse des Europäischen Rates in Tampere haben in eindrucksvoller Weise unterstrichen, welche erhebliche Intensivierung die bisherige innenpolitische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam am 1. Mai 1999 erfahren hat. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich habe überhaupt kein Problem damit, die Verdienste der alten Bundesregierung am Zustandekommen des Vertrages von Amsterdam, dem meine Fraktion ausdrücklich zuSabine Leutheusser-Schnarrenberger gestimmt hat, anzuerkennen. Die Fairneß sollte es auch gebieten, daß wir nicht alles, was Sie in der alten Regierung gemacht haben, einer Kritik unterziehen. Ich habe auch keine Probleme anzuerkennen, daß mein sehr geschätzter Kollege Kanther wichtige Vorarbeiten zu Dingen geleistet hat, die wir während der deutschen Präsidentschaft abschließen konnten. Der Europäische Rat in Tampere hatte das Ziel, dem im Amsterdamer Vertrag niedergelegten Arbeitsprogramm zur Errichtung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb von fünf Jahren zu einem guten Start zu verhelfen. Dieses Ziel hat er erreicht. Die in Tampere gefundenen europäischen Lösungen für den Bereich der Innenpolitik machen von den neuen Möglichkeiten des Amsterdamer Vertrages umfassend Gebrauch und stellen, wie bereits Außenminister Fischer einleitend dargestellt hat, neben dem Binnenmarkt und der einheitlichen europäischen Währung ein neues, weitreichendes Integrationsprojekt dar. Die vom Europäischen Rat in den Bereichen Asyl, Migration und Kriminalitätsbekämpfung erteilten Arbeitsaufträge an die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten sind wahrlich wichtige Bestandteile zur Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa. Mir war besonders daran gelegen, daß wir zu Ergebnissen kommen, die den Mehrwert der europäischen Zusammenarbeit für die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar erkennbar werden lassen. Angesichts der schwierigen Fragen in den Bereichen Asyl, Migration und Kriminalitätsbekämpfung muß es unbedingt eine engere Zusammenarbeit in Europa geben. ({4}) Mit dem Amsterdamer Vertrag haben wir bereits für den Bereich Asyl, Migration mit der Vergemeinschaftung, das heißt Europäisierung, begonnen, auch wenn dies für einen Übergangszeitraum noch in einer bestimmten Verfahrensweise aufgehoben ist. Diese Möglichkeiten müssen wir nun offensiv nutzen. Tampere hat dafür die Richtung vorgegeben. Aus innenpolitischer Sicht möchte ich auf folgende Leitlinien und Aufträge des Europäischen Rates besonders eingehen: Eine der prioritären Maßnahmen ist die Bekämpfung der politischen und wirtschaftlichen Fluchtursachen durch eine starke Verzahnung der Einwanderungspolitik mit anderen Politikfeldern wie der Außen- und Sicherheitspolitik oder, wie man im europäischen Vokabular sagt, durch einen säulenübergreifenden Ansatz. Dazu hat gerade das Papier von Frankreich, Großbritannien und Deutschland wichtige Vorarbeiten geleistet. Denn wir kommen bei diesem Thema nicht voran, wenn wir nicht eine Differenzierung des Problems nach Asylsuchenden, Migranten und Bürgerkriegsflüchtigen erreichen. Der Europäische Rat in Tampere hat die von der Hochrangigen Gruppe Asyl und Migration für zunächst fünf Staaten ausgearbeiteten Aktionspläne ausdrücklich begrüßt und stimmte auch der von der Bundesrepublik geforderten Verlängerung des Mandats sowie der Ausarbeitung weiterer Aktionspläne zu. Die Berichte über die Umsetzung der Aktionspläne soll der Europäische Rat in Paris im Dezember 2000 entgegennehmen. Das ist der genau richtige Ansatz, ein Ansatz übrigens, der aus einem holländischen Vorschlag entstanden ist. Wir wollen die sogenannten Push- und Pullfaktoren ins Auge fassen und darangehen, die Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern der Menschen, die Beweggründe haben, ihr Heimatland zu verlassen, zu verbessern und das Geld lieber dort einzusetzen, als teure Sozialprogramme in Deutschland aufzulegen. Auf der anderen Seite wollen wir aber auch dafür sorgen, daß die Pullfaktoren - das sind die Faktoren, die dazu führen, daß die Menschen nach Deutschland oder in andere Länder kommen - verändert werden. Selbstverständlich schließt das, Herr Kollege Kanther, die Grenzsicherung und die Verhinderung illegaler Zuwanderung ein. Weil Herr Rüttgers und leider auch Herr Kanther - in diesem Punkt sind Sie nicht ganz auf dem laufenden Eurodac angesprochen haben, möchte ich sagen: Es ist eine große Leistung der deutschen Präsidentschaft und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Innenministeriums, das früher Sie geleitet haben und heute ich leite, daß Eurodac abgeschlossen werden konnte. Es geht jetzt nur noch um die Frage der rechtlichen Umsetzung - es gehört in die erste Säule -, die wir während unserer Präsidentschaft nicht mehr erreichen konnten. Sie ist aber bereits konsentiert; das war eine schwierige Aufgabe, aber wir haben sie erfolgreich abgeschlossen. Der vorübergehende Schutz für Flüchtlinge ist entsprechend der Auffassung der Bundesregierung auch nach den Dokumenten von Tampere weiterhin an den Grundsatz der Solidarität der Mitgliedstaaten gekoppelt. Das ist die berühmte Frage des Solidarausgleichs. Das ist eine schwierige Frage. Herr Kanther war so fair, zu sagen, daß es auch der alten Bundesregierung nicht gelungen ist, dort zu Vereinbarungen zu kommen. Es ist deshalb eine so schwierige Frage - da soll man sich nichts vormachen -, weil jedes Land in seiner spezifischen geographischen Situation mit spezifischen Problemen zu kämpfen hat. Spanien denkt über solche Probleme natürlich ganz anders nach als Deutschland. Deutschland hat seine Probleme; Sie kennen die Hauptherkunftsländer der Menschen, die nach Deutschland kommen. Spanien hat mit illegaler Zuwanderung aus den nordafrikanischen Staaten zu kämpfen. Für Frankreich gilt das gleiche, und Italien ist der Zuwanderung aus dem Balkan und aus Nordafrika ausgesetzt. Meine Damen und Herren, wir kommen in Europa nicht weiter, wenn wir nicht Verständnis für die Probleme der anderen entwickeln, sondern immer nur Nabelschau betreiben und unsere eigenen Schwierigkeiten hervorheben. ({5}) Dazu gehört auch, Herr Rüttgers, daß wir uns das Verhältnis zwischen der Zahl der Zuwanderungen von Flüchtlingen und der Zahl der Bevölkerung ansehen. Da werden Sie ganz merkwürdige Entdeckungen machen. Es ist nämlich nicht ganz so, wie Sie es geschildert haben; vielmehr sind auch in anderen Staaten Probleme vorhanden. Ich kann im Rahmen meines kurzen Beitrags nicht auf alle Einzelheiten eingehen. Ich wollte nur einige Stichworte zum Bereich der Migrations-, Flüchtlingsund Asylpolitik nennen. Das ist sicher eine Aufgabe, die vor uns steht. Die Kommission hat dabei eine besondere Rolle zu spielen. Ich will jetzt einige Sätze zu der mir sehr wichtigen Frage sagen, die die Kriminalitätsbekämpfung betrifft. Hier ist Tampere ein großer Erfolg und ein Schritt nach vorn gewesen; denn in einem Raum, der den Bürgerinnen und Bürgern mehr Freizügigkeit erlaubt, in dem die Grenzen ihre Bedeutung verloren haben, hat die Bekämpfung von Kriminalität einen anderen Rahmen und einen anderen Ansatz als zuvor. Es war immer die Idee von Schengen - sie war richtig -, daß wir in der Frage der Kriminalitätsbekämpfung eine Kompensation brauchen. Deshalb ist das, was auf diesem Gebiet geschieht und geschehen wird, von großer Bedeutung. Ich glaube, auch hier ist von Herrn Rüttgers völlig übersehen worden, was wir an diesem Punkt während der deutschen Präsidentschaft erreicht haben. Es ist uns nämlich nach schwierigen Vorarbeiten gelungen, daß Europol seine Arbeit am 1. Juli aufnehmen konnte. Ich habe keinen Anlaß zu zögern, Herrn Kanther für die Vorarbeiten, die von der alten Bundesregierung zu diesem Thema geleistet worden sind, meinen Dank zu sagen. Das gebietet die Fairneß. Aber Sie sollten umgekehrt die Fairneß aufbringen zu sagen, daß es ein Erfolg der deutschen Präsidentschaft ist, daß Europol seine Arbeit aufnehmen konnte. ({6}) Herr Kollege Kanther, dazu muß ich eines bemerken: Die Finanzierungsgrundlagen haben wir zustande gebracht. Die haben Sie leider nicht erreicht. Das tadle ich nicht; verstehen Sie mich nicht falsch. Aber daß eine Finanzierung gesichert ist, ist uns gelungen. Frau Jelpke, Sie haben gesagt, es gebe einen Informationsaustausch nur über illegale Zuwanderung. Eine illegale Zuwanderung ist übrigens sehr stark mit Kriminalität vermischt. Das wissen vielleicht auch Sie. Schleuserbanden sind Schwerkriminelle; damit das klar ist. Aber es gibt natürlich auf europäischer Ebene längst einen Informationsaustausch im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung. Dazu gehört auch Europol. Wichtig ist, daß wir uns in Tampere mit dem Vorschlag durchsetzen konnten, eine europäische Polizeiakademie zu errichten. Man sollte die Bedeutung dieses Vorhabens nicht unterschätzen. Denn es kommt sehr wesentlich darauf an, daß die europäische Polizei gemeinsam ausgebildet wird. Wir haben bei der Bekämpfung der Geldwäsche Fortschritte erreicht. Wir haben erreicht - das ist sehr zu begrüßen -, daß es in Zukunft eine operative Task Force der europäischen Polizeichefs geben wird. Es gibt eine Vielzahl von anderen Details, die wir nicht geringschätzen sollten. Sie fahren mit Ihrer Kritik dann am besten, wenn Sie konstruktive Vorschläge machen. Solche Vorschläge sind immer willkommen. Aber Sie sollten das in einer gemeinsamen Anstrengung erreichte Ergebnis dieses Gipfels - dies war ein Gipfel, der sich zum erstenmal nur der Innen- und Justizpolitik auf europäischer Ebene gewidmet hat - wahrlich nicht geringschätzen, sondern es in seiner Bedeutung anerkennen. Wenn Sie noch an der Regierung wären, würden Sie heute ganz anders von diesem Pult aus sprechen, als Sie es heute getan haben. Aber daß Sie jetzt so darüber sprechen, liegt daran, daß Sie von der Regierung in die Opposition gewechselt sind. Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Ich bin ein Mensch, der Superlative normalerweise scheut. Aber die Europäische Union ist für mich - das ist mein voller Ernst - die größte Erfolgsgeschichte des ausgehenden Jahrhunderts. ({7}) Deshalb haben wir Grund, dankbar zu sein, daß Europa zu einem Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit geworden ist. Die deutsche Bundesregierung fühlt sich der Verantwortung verpflichtet, diesen Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit zu erhalten und auszubauen. Vielen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesinnenminister Schily, niemand hat heute bestritten, daß in Tampere gerade auch im Bereich der Rechtspolitik eine ganze Reihe von positiven Dingen erreicht worden ist. Sie können aber mit noch so viel wortreichen Erklärungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß in dem entscheidenden Bereich der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen, wo Sie seit vielen Monaten gebetsmühlenartig die Forderung nach einer Quotenregelung nach Lastenteilung und „burden sharing“ vor sich hertragen, kein einziger wirklicher Fortschritt erreicht worden ist. Der einzige diesbezügliche Satz in den Schlußfolgerungen, nämlich der, daß über irgendeine Form von Finanzreserve nachgedacht werden soll, birgt das Risiko, daß möglicherweise ein Fonds eingerichtet wird, in den im wesentlichen Deutschland einzahlt und der zum allergrößten Teil in anderen Ländern ausgezahlt wird. Sie haben in diesem Bereich keine Erfolge nach Hause gebracht, und Sie sollten wenigstens den Mut haben, dies vor diesem Hohen Hause auch zuzugeben. ({0}) Meine Damen und Herren, daß der Gipfel von Tampere überhaupt möglich war und daß wir heute wie selbstverständlich über eine europäische Innen- und Rechtspolitik diskutieren, das hat einen ganz entscheidenden Grund: Das hängt mit einer Entscheidung zusammen, die vor 15 Jahren von Francois Mitterrand und von Helmut Kohl herbeigeführt worden ist, nämlich mit der Entscheidung, die europäischen Grenzen zu öffnen und die Grenzkontrollen abzuschaffen. Gerade als Abgeordneter aus einer Grenzregion, aus dem Saarland, kann ich beurteilen, wie wichtig es für die europäische Identität der Menschen ist, daß in einem Zeitraum von 15 Jahren Grenzkontrollen, Stacheldraht und Schlagbäume völlig verschwunden sind. Dieser Prozeß, der Schengen-Prozeß, war der Ausgangspunkt dafür, daß wir heute überhaupt darüber sprechen, wie wir auf europäischer Ebene grenzüberschreitende Banden- und Drogenkriminalität, Schleuserkriminalität und vieles andere wirksam bekämpfen können. Der Beschluß zur Abschaffung der Grenzkontrollen war historisch genauso wichtig wie die Beschlüsse über die Einführung des Euro oder des Binnenmarktes. ({1}) Natürlich hat nicht die Abschaffung der Grenzkontrollen dazu geführt, daß Europa unsicherer geworden ist. Das hat seine Ursache in der Internationalisierung der Kriminalität durch technischen Fortschritt und Globalisierung. Aber der Wegfall der Grenzkontrollen hat uns gezwungen, darüber nachzudenken, wie wir die Sicherheit der Bürger in der Europäischen Union effektiv gewährleisten können. Es geht nicht nur um die Sicherheit vor Kriminalität. Es gehört zu den entscheidenden Errungenschaften des modernen Rechtsstaats, daß die Bürger nicht nur bestimmte Rechte haben, sondern diese auch geltend machen und einklagen können, und zwar in einem angemessenen Zeitraum. Genau dies ist im europäischen Binnenmarkt eben nicht mehr gewährleistet. Wir können keinem Bürger in Europa verständlich machen, warum ein Prozeß mit Beteiligten aus Maastricht und Aachen, wo die Entfernung ganze 30 Kilometer beträgt, zweibis dreimal so lange dauert wie ein Prozeß mit Beteiligten aus Hamburg und München, wo die Entfernung 800 Kilometer beträgt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Altmaier, Sie haben beklagt, auf dem Gebiet des Solidarausgleichs sei nichts gelungen. Was die Quotenregelung angeht, ist das sicherlich richtig. Ist Ihnen aber nicht aufgefallen, daß es während der Kosovo-Krise gerade durch den Einsatz der deutschen EU-Präsidentschaft gelungen ist, einen durchaus beachtenswerten Lastenausgleich zu erreichen, indem von den insgesamt 94 000 aus Mazedonien evakuierten Kosovo-Flüchtlingen etwa 15 000 nach Deutschland gekommen sind, also rund 80 000 von anderen Ländern aufgenommen wurden? Können Sie dies anerkennen? Ist Ihnen bekannt, daß auch der UNOFlüchtlingskommissar die deutsche Bundesregierung ausdrücklich dafür gelobt hat, daß es auf Grund ihres Einsatzes gelungen ist, andere Länder zu animieren, beachtliche Anstrengungen für die Unterbringung dieser Flüchtlinge auf sich zu nehmen? ({0})

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister Schily, ich bin der Auffassung, daß die gesamte Art und Weise, wie wir den Kosovo-Konflikt bewältigt haben, eine großartige Leistung der Europäer insgesamt als auch der NATO ist. Auch daß es bei der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus den Gebieten der ehemaligen Republik Jugoslawien gelungen ist, ein Verfahren zu praktizieren, das den Problemen in etwa angemessen war, ist eine gemeinsame Leistung der Europäer. Dazu haben wir Deutsche unseren Beitrag geleistet, und zwar parteiübergreifend, daß heißt: mit Unterstützung von CDU und CSU. Genau dies ist anerkannt worden. Worum es aber geht, Herr Bundesinnenminister, ist - das haben Sie persönlich eingefordert -, daß wir in der Europäischen Union zur Kenntnis nehmen müssen, daß zu einer zusammenwachsenden Union auch das prinzipielle Anerkenntnis gehört, daß die Lasten, die sich aus solchen Bewegungen ergeben, geteilt werden. Mit Ausnahme des vagen Hinweises auf einen eventuellen Fonds ist in diesem Dokument mit 62 Einzelpunkten leider Gottes kein einziges Wort dazu zu finden. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Altmaier, gestatten Sie eine zweite Frage des Abgeordneten Schily?

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit Vergnügen.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Altmaier, ich widerspreche Ihnen nicht: Eine Quotenregelung ist nicht gelungen. Wahrscheinlich sind die Möglichkeiten auch nicht allzu groß, dies zu erreichen. Das hat bereits die alte Bundesregierung feststellen müssen. Ich möchte mit meiner zweiten Frage vor einem Mißverständnis warnen: Ist Ihnen bekannt, daß es gerade die deutsche Bundesregierung war, die in Tampere verhindert hat, daß es einen Flüchtlingsfonds gibt, weil wir nicht zu dem Ergebnis kommen wollen, daß es einerseits keine Quotenregelung gibt und wir die höchste Zahl der Flüchtlinge aufnehmen, wir gleichzeitig aber in einen Flüchtlingsfonds das meiste Geld einzahlen?

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das sind allgemein bekannte Feststellungen, Herr Bundesminister. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, daß wir in der eigentlichen Frage, die deutschen Interessen betreffend, nichts erreicht haben. Nun zwingen Sie mich, auch zu einem Punkt, den ich eigentlich nicht ansprechen wollte, Stellung zu nehmen: Es ist kein Zufall, daß Sie in den entscheidenden Fragen der Innenpolitik, im Gegensatz etwa zu Fragen aus dem Bereich der Rechtspolitik, in Tampere sehr wenig erreicht haben. Die Unfähigkeit der Bundesregierung, eine kohärente Linie etwa im Hinblick auf ein künftiges europäisches Asylrecht zu formulieren, hängt mit den völlig unterschiedlichen Auffassungen zwischen SPD, Grünen und ihren diversen Flügeln zusammen. Diese Uneinigkeit im Innern macht sie unfähig, nach außen eine kohärente Linie zu verfolgen. Deshalb haben Sie in Tampere bei der Durchsetzung Ihrer Interessen keinen Erfolg gehabt. ({0}) Meine Damen und Herren, ich möchte auf die Notwendigkeit zurückkommen, den europäischen Binnenmarkt, den wir in wesentlichen Teilen vollendet haben, durch einen europäischen Rechtsraum zu ergänzen. Dieses Vorhaben steckt bislang noch in den Kinderschuhen. Wir müssen den Nachweis erbringen, daß die europäische Integration nicht nur zu nicht weniger Rechtsschutz führt, sondern tatsächlich auch zu besserer Verbrechensbekämpfung und zu mehr Rechtsgewährung für die Bürger beiträgt. Um das zu erreichen, brauchen wir nicht alle Bereiche der Innen- und Rechtspolitik einheitlich zu regeln, die bisher in die nationale Zuständigkeit fallen. Wir brauchen kein einheitliches europäisches Strafgesetzbuch, wir brauchen kein europäisches BGB. Wir müssen nicht vom Mundraub bis zum Nießbrauch alles über einen Kamm scheren. Wir sollten es auch nicht tun, weil unterschiedliche rechtliche Regelungen auch Ausdruck von unterschiedlichen Mentalitäten, Traditionen und historischen Gegebenheiten sind. ({1}) Deshalb sollten wir in diesem Bereich das Subsidiaritätsprinzip anwenden. Das heißt, es kommt nicht so sehr darauf an, daß wir das Recht selbst vereinheitlichen, sondern es kommt darauf an, daß wir die Anwendung des Rechts vereinheitlichen. Es darf keine EuropaDividende für Kriminelle und keine europäischen Strafbarkeitslücken geben. Deshalb muß zum Beispiel feststehen, welches Land für die Verfolgung von Straftätern zuständig ist. Es muß feststehen, welches Recht angewandt wird, und es muß anerkannt werden, daß Dokumente, die in einem Land ausgestellt werden, auch in anderen Mitgliedstaaten Gültigkeit haben. Leider wurden, Frau Bundesjustizministerin, bei dem wichtigen Vorhaben des europäischen Rechtshilfeübereinkommens gerade während der deutschen Präsidentschaft kaum Fortschritte erreicht. Es stand ja auf der Prioritätenliste Ihrer Präsidentschaft weit oben, konnte aber bislang leider nicht zum Abschluß geführt werden. Die Bilanz der Bundesregierung im Bereich der europäischen Innen- und Rechtspolitik ist - Herr Kollege Rüttgers hat es schon gesagt - in der Tat eher ernüchternd. Sie haben keine einzige neue Idee, keinerlei Visionen und kein Strukturprinzip in die Debatte eingeführt, das uns in irgendeiner Weise vorangebracht und über das hinaus geführt hätte, wozu in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam der Grund gelegt worden ist oder was Sie bei Amtsantritt in den Schubladen der alten Bundesregierung vorgefunden haben. ({2}) Der einzige Punkt, den wir vorbehaltlos unterstützen und an dem alle Fraktionen dieses Hauses von Anfang an mitgearbeitet haben, ist die europäische Grundrechtscharta. Wir glauben in der Tat, daß es sich um ein bahnbrechendes Vorhaben für die europäische Einigung handelt, daß es Sinn macht, unsere gemeinsamen europäischen Werte und Überzeugungen in einem herausragenden Dokument zusammenzufassen, das dann nicht nur für die Europäische Union Bedeutung hat, sondern weit darüber hinaus auch international für Menschenrechtsbewegungen, für junge Demokratien, für unterdrückte Völker in Diktaturen ein Beispiel ist, an dem man sich in Sachen Menschenrechtsschutz orientieren kann. Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind europäische Erfindungen, die sich inzwischen zu einem weltweiten Exportschlager entwickelt haben. Wir können mit der europäischen Grundrechtscharta dazu beitragen, daß dies so bleibt und in Zukunft noch deutlicher wird. Herr Bundesaußenminister - er ist im Augenblick leider nicht hier -, entscheidend ist nicht so sehr, wie man zu den Panzerlieferungen an die Türkei steht, von denen Sie ja ganz offensichtlich etwas überrollt worden sind. Es ist aber ein starkes Stück, daß die Menschenrechtspolitik der rotgrünen Bundesregierung inzwischen offenbar auf die Ebene von Geheimdiplomatie herabgesunken ist. Sie trauen sich ja gar nicht mehr, öffentlich Position zu beziehen, weil der Bundeskanzler bei jeder Gelegenheit den Eindruck erweckt, daß er derartige Fragen nicht als Herzensanliegen, sondern eher als unliebsames Hindernis für den Außenhandel betrachtet. Wir begrüßen und unterstützen die europäische Grundrechtscharta auch deshalb, weil wir glauben, daß sich mit Blick auf die Zusammensetzung des Konvents, der zu ihrer Erarbeitung eingesetzt wurde, für die Europäische Union die Möglichkeit bietet, neue Wege zu beschreiten. Wir haben erreicht - Herr Kollege Meyer, ich möchte Ihr Engagement in diesem Bereich ausdrücklich positiv würdigen und hervorheben; wir haben im Rechtsausschuß und im Europaausschuß seit vielen Jahren gemeinsam für dieses Ziel gekämpft -, daß bei diesem Konvent insbesondere auch die Parlamente eine wichtige Rolle spielen und eben nicht nur die Regierungen wie üblicherweise auf Regierungskonferenzen. Über die Parlamente werden auch die Bürger einbezogen. Dies ist ein neues Element und kann Modell für die zukünftige Arbeit der Europäischen Union insgesamt sein. Im übrigen werden wir im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Grundrechtscharta auch darüber nachzudenken haben, wie wir in der künftigen Europäischen Union die Kompetenzen verteilen. Die Grundrechtscharta, die Regierungskonferenz zu institutionellen Reformen, die anstehende Erweiterung der Union sind Themen, die uns unmittelbar zur Frage führen: Wie soll denn die Europäische Union in 10 oder 20 Jahren aussehen? Es gibt viele Bürger, die Angst vor einem europäischen Superstaat haben, der alle Entscheidungen zentral in Brüssel trifft. Andere wollen unverPeter Altmaier hohlen eine Renationalisierung, indem sie die Europäische Union zu einer großen Freihhandelszone machen wollen. Wir wollen weder das eine noch das andere. Deshalb ist es notwendig, daß wir uns im Rahmen eines europäischen Verfassungsvertrages - dies ist seit langem eine Forderung der CDU und wird auch in dem Bericht der Herren Dehaene, Richard von Weizsäcker und Lord Simon angeregt - Klarheit darüber verschaffen, was wir auf europäischer Ebene, auf der Ebene der Mitgliedstaaten und der Ebene der Bundesländer und Gemeinden tun. Ein solches Vorgehen wäre gut für die Europäische Union und auch gut für die Mitgliedstaaten. Ich möchte Sie ausdrücklich auffordern, daß Sie Ihren Widerstand in dieser Frage aufgeben und mit uns gemeinsam auf einen europäischen Verfassungsvertrag hinarbeiten. Der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird kommen - durch den Vertrag von Maastricht und den Vertrag von Amsterdam sind die Grundlagen dafür gelegt -, unabhängig davon, wie erfolgreich oder erfolglos die Bundesregierung in den einzelnen Bereichen agieren wird. ({3}) Wir möchten Ihnen anbieten, daß wir am Zustandekommen dieses Vertrages gemeinsam arbeiten. Es gibt eine Tradition in diesem Haus, daß wir bei allen grundlegenden europäischen Fragen an einem Strang ziehen und daß wir diese Fragen im Konsens behandeln. Diesen Konsens sollten wir auch beim Thema Grundrechtscharta und beim Thema europäische Innen- und Rechtspolitik im Interesse unserer Bürger praktizieren. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Tampere hat im Bereich der Migrationspolitik wichtige und richtige Signale ausgesandt. Wichtig ist das Signal, daß sich die Europäische Union um die Integration der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Ausländer bemühen will. Dies ist tatsächlich eine gesamteuropäische Aufgabe. Es geht auf Dauer nicht an, daß Waren und Dienstleistungen zwar die europäischen Grenzen problemlos überschreiten können, daß dies aber Arbeitnehmern aus Drittstaaten verweigert wird. Warum sollte sich ein türkischer Arbeitnehmer, der zum Beispiel seit 20 Jahren in Deutschland arbeitet, nicht eine Arbeit in Frankreich suchen? Wenn wir am gemeinsamen Haus Europa bauen, sollten wir die Menschen, die seit Jahren zu uns gehören, nicht als Angehörige von Drittstaaten außen vorlassen, sondern in das europäische Haus mit hineinnehmen. ({0}) Noch wichtiger ist ein zweites Signal. Flüchtlingspolitik ist für die Europäische Union Menschenrechtspolitik und keine Politik der Abschottung. In diesem Zusammenhang gibt es auch hier in Deutschland noch sehr viel zu tun. Wir brauchen einheitliche materielle Standards im europäischen Asylrecht. Flüchtlinge aus Algerien, Somalia und Afghanistan bekommen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Asyl, so zum Beispiel in Großbritannien, in Norwegen, in Schweden und Österreich, aber auch in der Schweiz. In der Bundesrepublik Deutschland hingegen ist eine Anerkennung dieser Flüchtlingsgruppen so gut wie ausgeschlossen. Sie laufen sogar Gefahr, daß das Asylgesuch mit dem für die Betroffenen niederschmetternden Urteil „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wird. Das darf nicht mehr sein! ({1}) Dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen ein einheitliches Asylrecht in Europa. Das, was hier von der PDS als Befürchtung geäußert wurde, nämlich daß sich der Standard des Asylrechts dann nach unten bewegen würde, ist, wie ich gerade an diesem Beispiel gezeigt habe, nicht richtig. Die Harmonisierung des Asylrechts ist kein Selbstzweck. Sie ist ein wichtiger Schritt zu einem Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes. Eine Harmonisierung muß aber auch der Verwirklichung von Menschenrechten dienen. Eine Harmonisierung darf sich deshalb nicht in der Regelung von Verfahren und Zuständigkeiten erschöpfen, sondern muß auch eine verbindliche Vereinbarung über Kriterien für die Anerkennung von Flüchtlingen beinhalten. Ich begrüße deshalb das klare und völlig uneingeschränkte Bekenntnis des Europäischen Rates in Tampere zur Genfer Flüchtlingskonvention und zu anderen Menschenrechtsübereinkünften. Daß dies nicht selbstverständlich ist, wissen wir seit Erscheinen des unglückseligen Strategiepapiers aus Österreich, das eine Zeitlang in Europa herumgegeistert ist. Die materielle Harmonisierung des Asylrechts bietet zugleich die Chance für dringend erforderliche Verbesserungen auch in Deutschland. Die Genfer Flüchtlingskonvention und ihre Interpretation durch den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen bieten eine verbindliche, bewährte und gute Grundlage. Dabei geht es dann nicht darum, ob die Europäische Union das deutsche Asylrecht akzeptiert oder nicht. Vielmehr geht es um die Frage: Haben wir in Deutschland, gerade auch im europäischen Vergleich, Lücken beim Schutz von Flüchtlingen? Ich meine, wir haben solche Lücken, und möchte dies anhand von zwei Punkten deutlich machen. Nichtstaatliche Verfolgung muß asylrelevant sein. ({2}) Sie muß im Asylverfahren berücksichtigt werden und sollte in vielen Fällen zu einer Anerkennung als FlüchtPeter Altmaier ling führen. Dies ist in Deutschland bislang nicht der Fall. Asylanträge von Opfern schwerster Menschenrechtsverletzungen werden abgewiesen, weil diese - so die Rechtsprechung bei uns - nicht von staatlichen, sondern von quasistaatlichen Autoritäten mißhandelt worden sind. Deswegen erhalten Schutzsuchende zum Beispiel aus Somalia, Afghanistan oder Algerien bei uns in Deutschland kein Asyl. Dies führt im Einzelfall oft zu unerträglichen Ergebnissen. Der Bundesinnenminister hat dies in einem Interview im „Spiegel“ zu Recht als bizarr bezeichnet. Die mangelnde Berücksichtigung nichtstaatlicher Verfolgung in deutschen Asylverfahren - auch im Zusammenhang mit der Verfolgung von Frauen - wird noch in diesem Herbst Gegenstand einer Anhörung im Menschenrechtsausschuß des Deutschen Bundestages sein. Ich freue mich auf diese Anhörung; denn wir brauchen sie, um uns in sorgfältiger Weise auf Grundlagen zu verständigen, die wir gemeinsam tragen wollen. Der asylrechtliche Schutz von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren, die sich völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen wollen, sollte ebenfalls verbessert werden. Der Europäische Rat hat in einem Gemeinsamen Standpunkt vom März 1996 zur Auslegung des Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention in dieser Richtung erfreuliche Zeichen gesetzt. Ich erwarte eine entsprechende Verankerung auch in dem Rechtsinstrument der Europäischen Union zur materiellen Harmonisierung des Asylrechts. Ich habe sehr bedauert, daß sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union während des Kosovokrieges nicht dazu durchringen konnten, Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aus Jugoslawien ein großzügiges Asylangebot zu machen. Ein solches Angebot hätte helfen können, die jugoslawische Armee auch ohne Waffeneinsatz zu schwächen. Die Regelungen zur Gewährung vorübergehenden Schutzes dürfen nicht zu einer Aushöhlung des Asylrechts führen. Wir alle wissen, daß wir gut beraten sind, wenn wir über ein Institut des vorübergehenden Schutzes nachdenken. Allerdings, wie gesagt, dürfen wir uns damit nicht auf die schiefe Bahn begeben, die Genfer Flüchtlingskonvention oder das Asylrecht auszuhebeln. Es geht nicht darum, eine Festung Europa zu bauen. Das müssen wir in den wohlhabenden europäischen Staaten immer wieder deutlich machen, und dies hat der Bundeskanzler in der Pressekonferenz zu Tampere sehr deutlich herausgestellt. Es geht darum, ein europäisches Asylrecht zu schaffen, das die menschenrechtliche Tradition Europas sichtbar fortführt. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Schutzsuchende aus Somalia, Algerien und Afghanistan sollten in der Europäischen Union dauerhaften Schutz erhalten, egal, ob sie ihren Asylantrag in Porto oder in Pankow stellen. Schönen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Letzten werden die Ersten sein! Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gehört zum üblichen Ritual nach Regierungskonferenzen wie der, die jetzt in Tampere stattgefunden hat, daß alle Regierungschefs mit ihren Ministern in ihr Land zurückfahren und dort Erklärungen abgeben, wie wichtig dieser Gipfel war, wie erfolgreich die Beschlüsse waren, daß natürlich die nationalen Interessen zu nahezu 100 Prozent durchgesetzt worden sind und daß dieser Gipfel insbesondere durch ihren Beitrag so erfolgreich geworden ist. Die Debatten, die danach in allen nationalen Parlamenten der Europäischen Union stattfinden, laufen immer so ab, daß die Regierung diese Erklärung abgibt und daß versucht wird, die Kritik der Opposition daran als reine Mäkelei abzutun. So ist das Ritual. Das habe ich vor dem Regierungswechsel als Koalitionsabgeordneter auch jahrelang erlebt. Ich möchte dies in einem Punkt durchbrechen: Ich möchte feststellen, daß der Regierungsgipfel in Tampere insgesamt ein wichtiger Gipfel war. Er ist - das ist schon mehrfach gesagt worden - durch den Amsterdamer Vertrag angelegt worden. Es gab wichtige zielführende Beschlüsse. Er hätte in vielen Punkten weiter gehen und konkreter sein können. Aber es ist normal, daß sich 15 Regierungschefs nicht hundertprozentig auf das einigen können, was eine Nation als wichtig und entscheidend ansieht. Allerdings möchte ich auch darauf hinweisen, daß viele konkrete Beschlüsse und konkrete Ziele, die erreicht werden konnten, entscheidend mit der Vorbereitungsarbeit der Regierung unter Helmut Kohl zu tun haben. Ich möchte darauf eingehen, daß dort die Beschlüsse des Amsterdamer Vertrages zu Europol in klarer Form, wie es notwendig war, und in der Hoffnung, daß sie umgesetzt werden, weitergeschrieben werden. Für mich ist besonders wichtig, daß Europol in die Lage versetzt werden soll, operative Daten von Mitgliedstaaten zu erhalten, die Mitgliedstaaten um Ermittlung ersuchen und gemeinsame Ermittlungsteams einzurichten. Beim Regierungsgipfel in Tampere sind die Rechte Europols als zentraler Stelle bei der Prävention, Ermittlung und Analyse von Straftaten gestärkt worden. Wenn diese Beschlüsse so, wie es dort vorgegeben worden ist, bald umgesetzt werden, wird die europäische Verbrechensbekämpfung effizienter gestaltet werden können. Dies ist ein wichtiges Anliegen der Europäischen Union und ihrer Bürger. Wir unterstützten dieses Anliegen. ({0}) Marieluise Beck ({1}) Allerdings werden wir als Parlamentarier auch darauf achten, daß diese Beschlüsse möglichst bald umgesetzt werden. In einem anderen wesentlichen Bereich der Beschlüsse von Tampere, nämlich bei der Gewährung von Asyl und der Migration Drittstaatsangehöriger, teile ich allerdings die Auffassung des Bundesinnenministers nicht. Die Ergebnisse, die dort erzielt worden sind, sind im wesentlichen nur eine Wiederholung dessen, was längst auf der Innen- und Justizministerkonferenz 1995 beschlossen worden ist. Weiter vorangebracht worden ist letztlich nichts. Seit dieser Zeit ist nichts passiert. Diese Beschlüsse sind auch nicht sehr zielführend und relativ unkonkret. Selbst bei den Zeiträumen, die für die Umsetzung gesetzt worden sind, weiß man überhaupt nicht, in welchem Rahmen und mit welcher Zielsetzung etwas umgesetzt werden soll. ({2}) Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, den Sie, Herr Bundesinnenminister, angesprochen haben, und zwar ist das die für die Bundesrepublik Deutschland wirklich entscheidende Frage der gerechten Lastenverteilung, des sogenannten „burden sharing“. Meine These, die ich begründen will, ist: Es gab auf dem Gipfel nicht nur kein Ergebnis im Sinne einer Verbesserung der Situation, sondern die Bundesregierung hat sogar einem Ergebnis zugestimmt, das die Situation für Deutschland letztlich verschlechtern wird. Das ist die Hauptproblematik in diesem Bereich. Lassen Sie mich das kurz begründen und zunächst ein paar Worte zur Problemanalyse sagen. Seit Beginn der Jugoslawien-Krise, also seit ungefähr sechs Jahren, ist der überwiegende Teil der Flüchtlinge von dort nach Deutschland gekommen. Nun habe ich eine Statistik vom Mai dieses Jahres hinsichtlich des KosovoKonflikts. Aus dieser Statistik ergibt sich, daß die Verteilung der Flüchtlinge aus dem Kosovo in der Tat viel besser für Deutschland ist, aber das Mißverhältnis ist noch immer eklatant. Deutschland hat bis zum Mai faktisch knapp 10 000 Flüchtlinge aufgenommen, Frankreich unter 2 000 und Großbritannien - man höre und staune - 330. Damit hat Großbritannien weniger als die Hälfte der Flüchtlinge aufgenommen, die ein Land mit wirklich großen Problemen, nämlich Polen, aufgenommen hat; in Polen waren es 670 Flüchtlinge. Das Mißverhältnis bei der Verteilung der Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, der Srpska und Kroatien war noch wesentlich größer. Dieses Thema ist also von entscheidender Bedeutung. Nach allgemeinen Schätzungen haben wir noch heute in Deutschland ungefähr 180 000 Flüchtlinge jugoslawischer Herkunft. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, daß es noch deutlich mehr sind. Das ist auch ein Kostenpunkt, der wirklich alles andere als unerheblich ist. In den anderen großen Mitgliedsländern der Europäischen Union gibt es gerade einmal ein paar hundert oder maximal ein paar tausend Flüchtlinge, die versorgt werden müssen. Weil dieses Problem bekannt ist, ist in Art. 63 2b des Amsterdamer Vertrages festgehalten worden, daß in dieser Frage möglichst bald, innerhalb von fünf Jahren, Regelungen für eine „ausgewogene Verteilung der Belastung“, wie es dort wörtlich heißt, gefunden werden müssen. ({3}) - Darauf möchte ich jetzt eingehen und das kurz begründen. Dann gehe ich gerne auf Ihre Zwischenfrage ein. Wenn wir jetzt lesen, was in Tampere verabschiedet worden ist, müssen wir feststellen, daß das eine Abkehr von dieser richtigen Zielstellung ist. Da steht nämlich wörtlich: Der Europäische Rat ist der Ansicht, daß geprüft werden sollte, ob nicht bei massivem Zustrom von Flüchtlingen zwecks vorübergehender Schutzgewährung irgendeine Form von Finanzreserve bereitgestellt werden könnte. Die Kommission soll entsprechende Möglichkeiten sondieren. Das Problem ist folgendes: Wir können in der jetzigen Situation eigentlich nur hoffen, daß die Kommission bei ihrer Suche nach irgendeiner Finanzreserve nicht fündig wird. Denn wird sie fündig, läuft das nach dem üblichen europäischen Modell so ab: Diese Finanzreserve wird durch das europäische Finanzierungssystem gespeist. Der Nettosaldo Deutschlands beträgt dort über 60 Prozent. Deutschland trägt also im Prinzip die Belastung mit dieser Reserve zu über 60 Prozent, bekommt aber nur vielleicht 20 oder 30 Prozent zurück. Das heißt, wenn die Beschlüsse so, wie diese Bundesregierung ihnen zugestimmt hat, umgesetzt werden, wird es zu einer finanziellen Mehrbelastung in Deutschland kommen, nicht zu einer Entlastung. ({4}) Dies halte ich für problematisch, obwohl ich durchaus weiß, wie schwer es ist, in dieser Frage andere Beschlüsse herbeizuführen. Auch aus Ihrer Koalition sind andere Gesichtspunkte bekannt. Herr Kollege Meyer, Sie haben das Problem bei der letzten COSAC in Helsinki vorgetragen. Wir haben beide gemerkt, daß wir kein positives Echo bei den anderen Delegationen hatten. Auch Frau Kollegin Roth hat von notwendigen Ausgleichszahlungen der Länder, die wenige oder keine Flüchtlinge aufnehmen, für die Länder, die viele Flüchtlinge aufnehmen, gesprochen. Dort gibt es eine falsche Weichenstellung.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Stübgen, bevor Sie jetzt mit den einzelnen Kolleginnen und Kollegen in einen Dialog treten, frage ich Sie jetzt, ob Sie die Frage des Kollegen Schily zulassen.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wollte das gerade tun. Bitte schön.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stübgen, weil Sie Ihren Beitrag in sehr sachlicher Form halten, wollte ich Ihnen die Frage stellen, ob Sie bei Ihrem Zahlenstudium auch entdeckt haben, daß andere Länder im Vergleich zur Bundesrepublik sehr viel mehr Flüchtlinge aufgenommen haben, wenn man zum Beispiel die Zahl der Flüchtlinge aus dem Kosovo ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl setzt. Österreich hat beispielsweise mehr Flüchtlinge aufgenommen als Bayern. Sind Sie mit mir einer Meinung, daß es ein wichtiges Ergebnis einer erfolgreichen Krisenbewältigung war, daß es uns gelungen ist, in Europa gemeinsam dafür zu sorgen, daß die aus dem Kosovo vertriebenen Flüchtlinge in erster Linie in den angrenzenden Ländern untergebracht worden sind? Können Sie mir auch zustimmen, daß wir - bei aller Kritik hinsichtlich der Quotenregelung, die ich verstehen kann - bei dieser Krise, was die Belastung Deutschlands angeht, ein sehr viel besseres Ergebnis erreicht haben als die damalige Bundesregierung, was Bosnien-Herzegowina angeht? Ich tadele das nicht; nicht, daß Sie mich mißverstehen. Vielleicht war die Situation damals eine andere; ich will da nicht selbstgerecht sein. Aber im Vergleich zu der damaligen Situation haben wir eine sehr viel bessere Verteilung erreicht.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich beginne mit der dritten Frage: Hier stimme ich dem, was Sie gesagt haben, zu. Zur zweiten Frage: Die von Ihnen angesprochene Zielsetzung - sie ist von der CDU/CSU immer unterstützt worden -, die Flüchtlinge, soweit es geht, im engeren Raum unterzubringen, ist ebenfalls völlig richtig. Zur ersten Frage aber noch eine kurze Anmerkung: Auf Grund der kurzen Redezeit habe ich dieses Problem nicht genannt. Es gibt in der Europäischen Union in der Tat Länder, die durch die Aufnahme von Asylbewerbern, aber auch von Bürgerkriegsflüchtlingen pro Kopf etwas stärker belastet sind. Es kommt ja auf den ProKopf-Vergleich an; man kann von Luxemburg nicht verlangen, genauso viele Flüchtlinge wie Deutschland aufzunehmen. Aber mir kommt es in erster Linie - das kann ich als einfacher Abgeordneter und Oppositionspolitiker vielleicht leichter sagen - auf große Länder der Europäischen Union an, die nicht Ziel-1-Gebiete sind, also verhältnismäßig reiche Länder sind, und sich in dieser Angelegenheit bislang enorm zurückhalten. Ich habe die beiden Länder, um die es geht, vorhin schon genannt. ({0}) Deshalb ist die Bundesregierung, wie ich glaube, gut beraten - wir werden dieses Thema auch noch im Innenund im Europaausschuß erörtern -, die Verbündeten dort zu suchen, wo die Belastungen pro Kopf zum Teil sogar noch höher als in Deutschland sind. Allerdings wundert mich, daß Sie bisher nicht erreicht haben, daß diese Länder mit uns zusammen an diesem Thema arbeiten. Man sollte versuchen, das noch zu erreichen. ({1}) Österreich unterstützt uns seltsamerweise in dieser Angelegenheit nicht; zumindest habe ich noch nichts davon bemerkt. Wie gesagt, es ist wichtig, in dieser Frage Verbündete zu suchen und mit ihnen zusammen offen und klar die Länder kritisch zu benennen, die sich hier zurückhalten. Sie müssen notfalls auch mit einer Drohkulisse dazu geführt werden, ihre solidarischen Pflichten zu erfüllen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Stübgen, gestatten Sie eine zweite Frage?

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Bitte, Herr Kollege Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stübgen, ich weiß nicht, was Sie mit „Drohkulisse“ meinen. ({0})

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß auch nicht, welche Druckkulisse Sie da aufbauen wollen. Meine Erfahrung lehrt mich, daß Druckkulissen nicht weiterhelfen. Ist Ihnen bekannt, daß Österreich ausdrücklich die Position Deutschlands in der Frage des Solidarausgleichs unterstützt und daß ich mit meinem Kollegen Schlögl in dieser Frage sehr eng zusammengearbeitet habe? Ist Ihnen auch bekannt, daß ein Land wie Frankreich - Sie wissen, daß die deutsche Bundesregierung eine besonders enge Zusammenarbeit mit Frankreich sucht; das findet seinen Ausdruck auch in dem gemeinsam mit Herrn Kollegen Chevènement erarbeiteten Papier - mit einem gewissen Recht darauf hinweist, daß es aus anderen Weltgegenden mit Belastungen versehen ist, die wir nicht zu tragen haben, und daß es für einen guten europäischen Geist ausschlaggebend ist, jeweils Verständnis für die Probleme aufzubringen, die ein anderes Mitgliedsland in seiner speziellen geographischen Situation hat?

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin bereit, Ihnen im wesentlichen zuzustimmen; es war ja weniger eine Frage als eine Darstellung. Aber in einem Punkt möchte ich konkretisieren, was ich meine und was ich an dem Ergebnis von Tampere kritisiere. Nach dem Schlußdokument des Rates von Tampere - ein anderer Nachweis ist nicht erbracht, jedenfalls nicht in der heutigen Debatte; vielleicht kann man das später nachholen - wird aus der solidarischen Teilung schlimmstenfalls ein Ergebnis herauskommen, durch das Deutschland wieder überproportional belastet wird und letztlich offensichtlich sogar mehr zahlen muß, als wenn es überhaupt keinen Ausgleich gäbe. Das halte ich für eine falsche Weichenstellung, und meine dringende Bitte ist, zu versuchen, diese falsche Weichenstellung zurückzunehmen. ({0}) - Das ist kein völliger Quatsch. Sie sollten sich einmal das Finanzierungssystem der Europäischen Union genauer anschauen. Möglicherweise haben Sie auch zugestimmt oder zustimmen lassen, weil Sie nicht verstanden haben, worum es im Einzelfall geht. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, da ich wegen der Zwischenfragen Gelegenheit hatte, wesentlich länger zu reden, als ich es ursprünglich wollte, beschränke ich mich jetzt darauf, noch eine kurze Bemerkung zur Drittstaatsangehörigkeit zu melden. Wir sind uns im Bundestag einig - auch im Europaausschuß -, daß die jetzige Situation nicht auf Ewigkeit erhalten bleiben kann. Die Situation ist folgende: In einem Mitgliedsland legal lebende Drittstaatsangehörige haben im Moment nicht einmal Reisefreiheit. Daß das nach Beseitigung der Schlagbäume an den Grenzen nicht aufrechtzuerhalten ist, ist klar. Aber bei dieser Problematik bitte ich künftig zu bedenken: Deutschland muß - wenn es zu einer Regelung kommt, wie sie in dem Gipfelpapier vorgeschlagen wird, wenn die Rechte der Drittstaatsangehörigen möglichst nah an die Rechte der EU-Bürger angelehnt werden - verhindern, daß es zu einem Sozialtransfer kommt. Dann würden nämlich nicht nur die Niederlassungsfreiheit, das Arbeitsrecht und dergleichen gelten, sondern auch der Zugriff auf die Sozialsysteme wäre voll möglich. Solange die sozialen Leistungsniveaus in der Europäischen Union erhebliche Unterschiede aufweisen, müssen wir dieser Gefahr begegnen. Die Zielrichtung ist, wie gesagt, grundsätzlich richtig. Aber wir müssen aufpassen, daß es hier nicht zu einer zusätzlichen Verschlechterung der finanziellen Situation Deutschlands kommt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Entschließungsantrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1854 vorgeschlagen. An welche Ausschüsse der Antrag überwiesen werden soll, müßten die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer noch nachreichen, da dies kurzfristig entschieden wurde. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf: 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, Wolfgang Börnsen ({0}), HansJürgen Doss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für eine umfassende multilaterale Verhandlungsrunde über eine weitere Liberalisierung im Welthandel - Drucksache 14/1664 Überweisungsvorschlag: Auschuß für Wirtschaft und Technologie ({1}) Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Lötzer, Carsten Hübner, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Zukunftsfähiger Handel und umfassende Reform der WTO - Drucksache 14/1834 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({2}) Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Verbesserung der Kohärenz von EU-Agrarpolitik und Entwicklungspolitik im Rahmen der WTO-II-Verhandlungen - Drucksache 14/1860 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Margareta Wolf ({4}), Dr. Uschi Eid, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenz, offene Märkte, Fairneß und nachhaltige Entwicklung: Für eine umfassende Weiterentwicklung des Welthandelssystems - Drucksache 14/1861 Michael Stübgen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die SPD-Fraktion die Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Füllhorn der Glücksgöttin oder Büchse der Pandora - zwischen diesen beiden Extremen werden derzeit die Themen Globalisierung und weitere Liberalisierung des Welthandels in der Öffentlichkeit diskutiert. Auch die uns vorliegenden Anträge der Oppositionsparteien CDU/CSU und PDS sind in diesem Spannungsbogen angesiedelt, der Antrag der CDU/CSU am optimistischen, der der PDS am pessimistischen Ende. Dabei sollte es doch möglich sein, sich bei der Diskussion der Weltwirtschaft auf einige gemeinsame Einschätzungen zu einigen, auf deren Grundlage wir die Diskussion in der kommenden Welthandelskonferenz in Seattle und der darauffolgenden Milleniums-Runde führen können. Nach Meinung von uns Sozialdemokraten sind das folgende: Offene Märkte, Globalisierung durch zunehmenden Handel, Direktinvestitionen und technische Entwicklung haben in Deutschland und Europa zu Wohlstandsgewinnen und zu zusätzlichem Wachstum geführt. Das hat insgesamt zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen beigetragen. Deutsche Unternehmen - zunehmend sind es auch kleinere und mittlere Unternehmen - sind stark auf weltweite Märkte ausgerichtet und profitieren von ihnen, sind aber auch stark von den Veränderungen auf den Weltmärkten abhängig. Mehr Liberalisierung hat zu mehr Wettbewerb und zu schnellerem Strukturwandel geführt, der in einer Reihe von Branchen trotz großer Anpassungsbereitschaft hohe Arbeitsplatzverluste zur Folge hatte, zum Beispiel in der Textilindustrie. Dennoch zeigt die Gesamtbilanz der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte: Wir haben uns im Globalisierungsprozeß gut behauptet, und wir werden es auch künftig tun, wenn wir Innovationen konsequent fördern und soziale Stabilität bewahren und weiterentwickeln. Aber nicht alle Länder haben von diesem Prozeß profitiert. Vor allem die ärmsten Länder sind immer weiter zurückgefallen. Der Abstand zwischen den ärmsten und reichen Ländern, gemessen am Sozialprodukt pro Kopf, hat sich in den letzten 15 Jahren von 1:30 auf 1:74 vergrößert. Ohne eine angemessene Teilhabe auch der armen Länder an den Gewinnen einer größeren internationalen Arbeitsteilung ist aber die gemeinsame Zukunft der Welt nicht nachhaltig zu sichern. Wenn das keine Lippenbekenntnisse bleiben sollen, müssen wir sowohl bei der Entwicklungshilfe als auch bei der Entschuldung und der Marktöffnung vor allem für die ärmsten Länder mehr tun. ({0}) Die Bundesregierung hat sich auf dem Gipfel in Köln bei der Entschuldungsfrage und bei der Erarbeitung einer gemeinsamen EU-Position für die Ministerkonferenz in Seattle nachdrücklich für die ärmsten Entwicklungsländer eingesetzt und verdient dafür ausdrücklich die Unterstützung des Deutschen Bundestages. ({1}) In Seattle werden wir auch die Grundlagen für eine neue multilaterale Welthandelsrunde festlegen. In manchen Bereichen sind wir durch vorangegangene Verpflichtungen aus dem Marrakesch-Abkommen aber nicht mehr frei. Auf der Tagesordnung stehen da zum Beispiel Landwirtschaft sowie Handel und Dienstleistungen. Zusätzlich müssen vereinbarungsgemäß zahlreiche wichtige Abkommen über Anti-Dumping, Streitschlichtungsverfahren, Importlizenzen, Ursprungsregeln, sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen, technische Handelshemmnisse und vieles mehr überprüft werden. All dieses hat erhebliche Konsequenzen auch für unser Land und seine Arbeitsplätze. Deswegen kann die Weiterentwicklung der Welthandelsordnung nicht, wie das bei früheren Abkommen vielfach der Fall war, als bloß handelstechnische Abkommen angesehen werden - was sie nie waren -, die am besten in den Händen der Experten bleiben. Nein, wir, das gesamte deutsche Parlament und seine Ausschüsse, müssen uns, anders als in der Uruguay-Runde, intensiv mit den Vorbereitungen befassen, und ihre Ergebnisse und die Ausarbeitung des EU-Verhandlungsmandats müssen wir in einen zentralen Punkt unserer parlamentarischen Arbeit verwandeln. ({2}) Nach der Ministerkonferenz in Seattle, wenn wir wissen, was genau auf der Tagesordnung stehen wird, wird es an der Zeit sein, sich detailliert mit der Vorbereitung eines Verhandlungsmandats der Europäischen Union zu befassen. Dies jetzt schon zu tun - ich habe dazu in einem Antrag schon viele Details gesehen - erschiene mir auch verhandlungstaktisch verfrüht. Man muß nicht schon vor Beginn einer Pokerrunde alle Karten auf den Tisch des Hauses legen. ({3}) Gleichwohl muß der Deutsche Bundestag seine Grundsätze für eine Weiterentwicklung des Welthandelsystems definieren und diese dann unserer Regierung für den Brüsseler Ministerrat und die Konferenz in Seattle mitgeben. Dabei müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß es in Wirtschaft und Gesellschaft unseres Landes nicht nur Befürworter einer weiteren Liberalisierung und eines immer rascheren Strukturwandels gibt, sondern daß viele Menschen in unserem Land - nicht nur diejenigen, die unmittelbar ihre Arbeitsplätze bedroht sehen - mit steigendem Unbehagen darauf reagieren. Das hat meines Erachtens vier Gründe, über die wir offen reden sollten. Erstens. Es gibt eine weitgehende Unkenntnis in der Öffentlichkeit über die vergangenen Handelsrunden und ihre Konsequenzen. Vizepräsidentin Petra Bläss Zweitens. Globalisierung wird in der Öffentlichkeit vielfach als ein unentrinnbares Schicksal begriffen, die wie ein Naturgesetz wirkt. Das ist sie definitiv nicht. Der Globalisierungsprozeß war ein politisch gewollter Prozeß. Er war politisch gestaltbar, und er wird auch in der Zukunft politisch gestaltbar sein. Drittens. Ein Problem ist auch, daß der Globalisierungsprozeß als Instrument zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer, sozialpolitischer und tarifpolitischer Zielsetzungen benutzt wird. Viertens. Der weitgehende Ausschluß der breiten Öffentlichkeit von den Verfahrensweisen und vom Inhalt der internationalen Wirtschaftsverhandlungen in der Vergangenheit war nicht vertrauensbildend. Das Schicksal des Multilateralen Abkommens über Investitionen, MAI, der OECD ist ein Beleg dafür, daß Verhandlungen in Geheimkabinetten unter Ausschluß der Öffentlichkeit und der Parlamente schließlich zum Scheitern verurteilt sind. ({4}) Deswegen muß die Bundesregierung erstens eine grundlegende Bestandsaufnahme und Analyse der bestehenden Verträge und Konsequenzen der vergangenen Handelsrunde, der Uruguay-Runde, vornehmen und die bereits vorhandenen Analysen lesbar zusammenfassen die bisher veröffentlichten dickleibigen Bände helfen normalen Menschen nicht -, um sie einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Zweitens. Nicht nur der Deutsche Bundestag, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit, insbesondere Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und andere Nichtregierungsorganisationen, muß umfassend informiert werden. Wir brauchen einen intensiven Dialog, um die Partizipation einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu gewährleisten. Dafür müssen die Transparenz der Welthandelsorganisation deutlich erhöht und die Beteiligungsrechte der Nichtregierungsorganisationen deutlich ausgebaut werden. Drittens. Wir müssen darauf drängen, daß darauf verzichtet wird, Globalisierung als Totschlagargument zum allfälligen Gebrauch zu verwenden. Wer unter Berufung auf den Globalisierungsprozeß Angst macht, muß sich nicht wundern, wenn Abwehrhaltungen und Denkblokkaden entstehen. Blockaden können wir uns in Zeiten zunehmender weltweiter Interdependenzen und vertiefter regionaler Integration wirklich nicht mehr leisten. Außerdem kennen der weltweit erhöhte Wettbewerb und der umfassendere und immer schneller verlaufende Strukturwandel - seien wir ehrlich - auch zukünftig nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Dies muß Widerstände und Bedenken auslösen. Viele dieser Bedenken sind nicht berechtigt, wie ich anfangs schon erklärte; denn wir haben uns im Globalisierungsprozeß gut behauptet und können dies mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik auch weiterhin schaffen. Deswegen ist eine „Politik des stillen Kämmerleins“ erst recht nicht sinnvoll; vielmehr müssen wir einen Dialog über unsere zentralen, unmittelbaren Interessen im Hinblick auf Arbeitsplätze, Branchen, Regionen und Bedürfnisse der Konsumenten, die wir in der bevorstehenden Milleniumsrunde vertreten wollen, ebenso führen wie über die Zukunftsfragen des Welthandelssystems, die ja weit über die klassischen Instrumente wie Zölle und Marktzugang hinausgehen. Gesellschaftspolitische Wertvorstellungen und Ziele wie Schutz der Umwelt und Gesundheit, soziale Gestaltung der Gesellschaft, Sicherung des Wettbewerbs und kulturelle Vielfalt müssen bei der Gestaltung einer globalen Ökonomie gleichrangig behandelt werden. ({5}) Die Wirtschaft ist nicht das Ziel; sie ist letztlich Dienerin zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen. Wenn sie das nicht ist, verfehlt sie ihren Zweck. Deswegen unterstützen wir Sozialdemokraten die Anstrengungen der EU-Kommission, eine umfassende neue Welthandelsrunde ins Leben zu rufen, die insbesondere eine weitere Ausweitung des Handels zum Nutzen aller Länder, für mehr Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerb bewirken soll, die aber auch mit einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung in Einklang stehen sollte. ({6}) Wir unterstützen eine Welthandelsrunde, die zu mehr Transparenz, Fairneß und Verläßlichkeit durch die Stärkung der WTO-Regeln und -Verfahren führt und die sicherstellt, daß die vorhandenen weltweiten Abkommen über Umwelt- und Sozialstandards nicht Sonntagspredigten bleiben, sondern Schritt für Schritt in das Welthandelssystem integriert werden. ({7}) Deswegen begrüßen wir es, daß die neue Bundesregierung fest zur Forderung nach einer Arbeitsgruppe „Handel und Kernarbeitsnormen“ steht. Der vorgestern abend in der EU gefundene Kompromiß eines ständigen Arbeitsforums zwischen Internationaler Arbeitsorganisation und Welthandelsorganisation kann uns nicht so recht befriedigen. Wichtig ist, daß wir endlich konkrete Umsetzungsschritte von der längst etablierten Arbeitsgruppe „Handel und Umwelt“ verlangt haben. ({8}) Nur wenn eine weltweite Liberalisierung eine nachhaltige Entwicklung fördert und die Risiken der Globalisierung ökologisch und sozial abgefedert werden, wird die Welthandelsrunde mit einer breiten Unterstützung der Menschen rechnen können. Deswegen war und ist es wichtig, daß die Bundesregierung und die EU erfolgreich darauf gedrängt haben, die neue Welthandelsrunde unter das Motto besserer Entwicklungsmöglichkeiten für möglichst viele Menschen auch in den Entwicklungsländern zu stellen. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wir allerdings parallel zu den Verhandlungen der Welthandelsrunde auch die Ursachen der permanenten und massiven Währungs- und Finanzkrisen angehen, die in den vergangenen Jahren zu enormen WechselkursDr. Sigrid Skarpelis-Sperk schwankungen, zu Abwertungswettläufen und zu einer unglaublichen Verarmung von hunderten Millionen Menschen in Asien, Lateinamerika und Rußland geführt haben und die übrigens durch geringere Wachstumsraten auch die Europäische Union negativ betroffen haben. Nur mit einer neuen Weltfinanzarchitektur, zu der erste Schritte auf dem G-7-Gipfel in Köln im Juni dieses Jahres gemacht wurden - man kann die Bundesregierung nur in ihrem Ziel unterstützen, andere Länder daran zu erinnern, ihre dort eingegangenen Verpflichtungen in den nächsten Jahren auch wirklich umzusetzen -, werden wir eine Weiterentwicklung des Welthandelssystems im Interesse aller bewirken und die Gefahren von Protektionismus und Handelskriegen abbauen können. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben eingangs die Frage gestellt: Wo stehen wir eigentlich zwischen Hoffnung und Angst? Ich stelle mit Freuden fest, daß Sie eher auf der Seite der Zuversicht sind. Dies war nicht in allen Teilen Ihrer Fraktion immer ganz selbstverständlich. Ich möchte sagen, wir sind hier in der Tat auf der Seite der Zuversicht, denn wir haben im nächsten Jahrhundert eigentlich nur zwei Chancen für eine friedliche Entwicklung einer wachsenden Menschheit; einerseits die Chance des Aufbaus der Wissensgesellschaft, des Wachstums aus Intelligenz, des klugen Umgangs mit begrenzten Ressourcen und andererseits die Chance der Globalisierung, des Zusammenwachsens zu einer einzigen Welt, in der jeder in der Verantwortung auch für die anderen steht. Hier hat uns die Entwicklung der vergangenen Jahre bestätigt, und das ermutigt uns. Die Entwicklungshilfe ist nur sehr begrenzt gewachsen. ({0}) - Ich sage es mit Behutsamkeit und ohne jede Polemik. Die Wirtschaft ist gewachsen, gerade in jungen Ländern über lange Zeiten mit beachtlichen Raten. Stärker noch als die Wirtschaft ist der Welthandel gewachsen; stärker als der Welthandel mit Gütern ist der Welthandel mit Dienstleistungen gewachsen. Alles das hat zu einem wachsenden Wohlstand in dieser Welt beigetragen. Das gilt für die reichen Länder. ({1}) - Ich kann hier nur eines nach dem anderen ansprechen, lieber Kollege; Entschuldigung. ({2}) Eines Tages bekommt man vielleicht ein kleines Knopflochmikrophon. Dann bekommen wir eine andere und herzlichere Form der Debatte mit menschlicher Nähe und größerer Präzision. Ich wiederhole: Das gilt für die reichen Länder. In einer Welt, in der die Zahl der Produkte, die Vielfalt der Dienstleistungen immer weiter zunimmt, erwächst die Chance, an dieser Entwicklung teilzuhaben, nur aus dem Handel. Das gilt auch für viele Entwicklungsländer, Schwellenländer, die in den vergangenen Jahren zunehmend Wohlstand aufgebaut haben. Die Direktinvestitionen übersteigen schon längst die Entwicklungshilfe. Der Zufluß von Geldern aus OECD-Ländern in NichtOECD-Länder hat sich in fünf Jahren verdoppelt. Die Chance, Wohlstand über Investitionen aufzubauen und über Investitionen auch Technologietransfer vorzunehmen und Verständnis für neue Wirklichkeiten zu gewinnen, liegt im freien Handel. Natürlich - Frau Skarpelis-Sperk hat zu Recht darauf hingewiesen - gilt dies auch für die ärmsten Länder. Ihre Hoffnung ist in der Tat die Beteiligung am Welthandel, und eines der Ziele der WTO-Konferenz ist ja gerade, daß sie an den Welthandel herangeführt werden, daß man ihnen spezielle Chancen gibt, daß man sie schützt, soweit ihnen daran liegt, und daß sie einen offeneren Zugang bekommen als andere. Die WTO-Konferenz in Seattle wird mit einem außerordentlichen Katalog an Vorschlägen einen Ausschnitt der Entwicklungschancen unserer Welt verhandeln. In diesem Ausschnitt ist eine Vielfalt einzelner Themen enthalten. Vor allem aber steht eine Vision dahinter. Daß die Anträge von Grünen, SPD und CDU/CSU in wichtigen Bereichen übereinstimmen, zeigt nichts anderes als die Faszinationskraft dieser Idee - eine der wenigen Visionen, die von armen und reichen Ländern geteilt wird. Es ist die Idee einer Welt, in der die Völker der Erde aus eigener Tüchtigkeit ihre Zukunft aufbauen: in Kooperation und Konkurrenz, mit dem Recht für den Starken, aber in Fairneß gegenüber dem Schwachen, ein Schutz für alle durch das Recht. Es ist die Idee einer Welt, in der die Chance zur Nachhaltigkeit deshalb entsteht, weil wir Welthandel nicht nur als ökonomischen Vorgang betrachten; vielmehr sehen wir durchaus, wo der Welthandel in einen größeren Zusammenhang einzuordnen ist. Es ist die Idee einer Welt, in der die Chance auf Frieden besteht; denn man führt mit seinen Kunden keinen Krieg. Je intensiver der Handel Menschen und Völker verbindet, desto größer ist die Chance - es ist nicht mehr als eine Chance auf eine friedliche Welt. Dies sind die Ideen, von denen wir ausgehen, und die Ziele, auf die wir zugehen. Der heilige Thomas sagte: In den Grundsätzen ist man sich immer einig; schwierig wird es, wenn es um die konkrete Einzelentscheidung geht. ({3}) Natürlich hat er recht. ({4}) - Verehrte Frau Skarpelis-Sperk, wenn wir hier über Thomismus diskutieren wollen, dann stehe ich Ihnen zur Verfügung - aber bitte nicht im Rahmen meiner Redezeit. ({5}) Wir haben es mit nichts anderem als mit der Konkurrenz um die Erreichung eines Zieles zu tun, zugunsten dessen ein jeder etwas dranzugeben hat. In der Spannung zwischen - durchaus berechtigten - nationalen Interessen und dem großen Ziel bestand die Schwierigkeit der Vorbereitung. In der Europäischen Gemeinschaft haben wir in dieser Frage weitgehend Übereinstimmung. Es ist eine große Leistung, daß wir weitgehend eine gemeinsame Verhandlungsposition haben erarbeiten können. Einige unserer Partner - auch wir selber - haben Themen zurückstellen müssen. Die jetzt von der Kommission vorgeschlagene Formulierung zu den Arbeitsnormen scheint mir ein realistischer Vorschlag zu sein. Diese Formulierung weicht von dem ab, was die Bundesregierung ursprünglich im Sinn hatte. Frankreich wollte im audiovisuellen Bereich die Eigenständigkeit der Kulturgüter schützen - ein hohes Ziel. Aber der jetzige Text weist aus, daß wir alle nicht mehr daran glauben, man könne die Kulturgüter durch Protektionismus und Abschottung schützen. Nein, man kann die Kulturgüter fördern und stützen; aber sie müssen sich in einer offenen Welt im Wettbewerb der Besten bewähren. Wir haben ein gemeinsames Konzept erarbeitet, mit dem wir in die Verhandlungsrunde gehen wollen. Das Charakteristikum dieses Konzepts ist, daß die Gemeinschaft eine umfassende Verhandlungsrunde will - umfassender, als dies in den anderen Konzepten gefordert wird. Die Verhandlungsrunde muß umfassend sein; denn sämtliche Märkte hängen zusammen, sie stützen und sie bedingen einander. Die Gemeinschaft listet in ihrem Papier mehr als ein Dutzend verschiedene Sachthemen auf. Diese Sachthemen haben jeweils ihr eigenes spezifisches Gewicht: Es geht unter anderem um Landwirtschaft. Wir wissen, daß im Beschluß sowohl im Äußeren die Senkung der Zölle als auch im Inneren der Abbau von Subventionen festgelegt ist. Aber wir wissen auch, daß die Landwirtschaft für uns mehr als eine Güterproduktion ist. Sie ist, wie die Fachleute sagen, multifunktional, das heißt, sie ist ein Teil unserer Kulturlandschaft und ein Teil unseres Landes. Es geht darum, den weisen Kompromiß zu finden. Für die Entwicklungsländer ist der Zugang zu den Agrarmärkten eine essentielle Angelegenheit, die viel Klugheit und viel Fingerspitzengefühl verlangt. ({6}) Wir werden über Dienstleistungen, der schnellstwachsende Markt, zu reden haben - über Dienstleistungen nicht nur als Dienstleistungen. Dienstleistungen öffnen zusammen mit der jetzt zur Verfügung stehenden Hardware erst die Märkte. Es geht also nicht nur um die Frage des stärkeren Wachstums der Dienstleistungsmärkte. Erst die Tatsache, daß man Dienstleistungen anbieten kann, öffnet zunehmend die Märkte für Hardware, in BOT- und BOOT-Modellen, in maßgeschneiderten Umweltanlagen unterschiedlichster Bereiche. Beiläufig gesagt: Die Marge bei Dienstleistungen ist wesentlich höher als die Marge bei Hardware. Investitionen sind die eigentliche Triebkraft für die Entwicklung der armen Länder, und zwar Investitionen unter Bedingungen, die nicht in 1 600 bilateralen Abkommen unterschiedlicher Art, sondern in einem einzigen multilateralen System festgelegt werden, so daß gleiches Recht für alle gilt und der Mächtigere nicht auf Grund seiner Machtposition bilaterale Verträge erzwingen kann. Es muß ein gemeinsames Konzept für alle entstehen. Wettbewerb und die Senkung der Zölle: Die öffentliche Beschaffung macht in vielen Ländern fast 15 Prozent der relevanten Märkte aus. Die Zugänge zu den einzelnen Bereichen, das geistige Eigentum: Wenn wir es nicht schützen, wird es nicht entstehen, oder es entsteht, geht aber nicht in die Länder, die es brauchen. Der Schutz des geistigen Eigentums ist nicht die Abschottung gegenüber denen, die es noch nicht haben, sondern ermöglicht es erst in diesen Ländern, daß es dort wirksam wird. ({7}) Wenn wir hier über die Aufnahme von China in die WTO sprechen, wird man solche Fragen von vornherein einbeziehen müssen. China ist nicht das klassische arme Entwicklungsland. China hat ganz andere Strukturen, Funktionen und Möglichkeiten auf den Weltmärkten, so daß es zu Bedingungen kommt, die eine dauerhafte und fruchtbare Mitgliedschaft ermöglichen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe nur einige der Punkte aufgegriffen, über die wir reden. Dies sind gewaltige Ziele. Der Rahmen von drei Jahren, den wir uns gesetzt haben, ist ein begrenzter Rahmen. Ich hoffe, daß unsere Ziele in dieser Zeit erreichbar sein werden. Niemand kann das garantieren. Bei diesen gewaltigen Zielen sollte man - da stimme ich zu - nicht von vornherein Abstriche machen. Churchill sagt: Setzt keine kleinen Ziele! „They do not have the magic to stir the people’s mind.“ - Sie haben nicht die Magie, die Herzen der Menschen zu bewegen. Dennoch muß man sich in der realen Welt darüber im klaren sein, daß mit dem Weg, den wir vor uns haben, nicht alles und nicht alles zu 100 Prozent erreicht werden kann. Wir müssen mit unseren amerikanischen Freunden reden. Ich halte es für eine vorzügliche Sache, daß Herr Prodi die Initiative ergriffen hat und jetzt das Gespräch mit Präsident Clinton sucht, um von Mann zu Mann zu klären, was nicht allein auf der Ebene unserer hervorragenden, tüchtigen und achtenswerten Beamten zu klären ist. Manchmal muß von oben entschieden werden. Dies ist eine Idee, die bei manchen Regierungen etwas ungewöhnlich klingt. ({8}) Aber daß dies notwendig ist, um Probleme zu lösen, steht außer Streit. Seattle wird wahrscheinlich die letzte Möglichkeit sein, mit den USA zu einer gemeinsamen Strategie zu kommen. Danach ist Wahlkampf. Wir haben für diese Agenda auch die Länder der Dritten Welt zu gewinnen. Dies ist in keiner Weise trivial. Wir haben in der ASEM-Vision-Group mit 25 europäischen und asiatischen Ländern über das diskutiert, was für unsere gemeinsame Zukunft wichtig sein kann. Das Faszinierende dabei war das feste Vertrauen, die tiefe Zuversicht dieser Länder in die eigene Tüchtigkeit, sofern man ihnen faire Bedingungen auf den Märkten einräumt. Aber spürbar war auch das tiefe Mißtrauen, daß die reichen Länder sie mit Protektionismus und unter dem Vorwand von Sozialnormen und Arbeitsnormen von den Märkten fernhalten, daß sie ihnen nicht erlauben, sich zu entwickeln. Wir treten nicht für den Welthandel als Wert an sich ein. Wir treten genauso für Werte jenseits von Angebot und Nachfrage ein. ({9}) - Hören Sie mal; das ist aber eine besonders lustige Bemerkung! Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich sie zerpflücken. ({10}) Die opportunistische Politik der derzeitigen Regierung mit der Nichtabsehbarkeit dessen, was morgen geschieht, ist sicherlich keine Politik, die sich an Grundsätzen orientiert. Sonst wären diese gelegentlich erkennbar. ({11}) Wir wünschen ihr allen Erfolg - im Geist der offenen Märkte, im Geist von Wettbewerb und Konkurrenz, im Geist von Kooperation und Partnerschaft und in einem Geist des Rechts, das für alle gleich ist. Schon allein die Existenz der Schiedsgerichtsbarkeit ist friedensstiftend für alle, die sich in der WTO versammelt haben, und das sind 135 Nationen. Komplementär dazu gilt ein Zweites: Wir wollen den offenen Wettbewerb, wir wollen offene Märkte, aber Deutschland muß in diesen Märkten auch bestehen können. Die zweite Hälfte der Sache ist, daß wir im schärferen Wind des Wettbewerbs überprüfen müssen, was alles zu geschehen hat, damit wir stark und erfolgreich sein können. Da gelten im Grunde die gleichen Prinzipien wie für die Verhandlungen der WTO. Wir wollen natürlich die Zölle senken. Wir wollen in Deutschland aus genau den gleichen grundsätzlichen Überlegungen die Steuern für Unternehmen und Unternehmer senken. Die aberwitzige Unterscheidung zwischen Unternehmen und Unternehmern - das eine ist gut; der andere wird diskriminiert ist für das Selbstbewußtsein derer, die wir brauchen, verhängnisvoll. ({12}) Wir wollen deregulieren, und wir wollen feste Rahmenbedingungen schaffen. Dabei ist es nicht uneingeschränkt hilfreich, daß gestern im Ausschuß die Korrekturvorschläge zum Korrekturgesetz über die Scheinselbständigkeit in einer neuen Vorlage vorgelegt wurden. Es ist nicht hilfreich, wenn die Probleme der 630-Mark-Jobs und der Scheinselbständigkeit über Monate hinweg mit großer Liebe diskutiert werden. Der Staat vollbringt schon eine großartige Leistung, wenn er die Menschen nicht mehr als nötig bei der Arbeit stört. ({13}) Herr Müller, ich glaube, Sie denken genauso: Ob Sie es zugeben, ist eine andere Frage. Ob das mit der Regierungspolitik übereinstimmt, ist eine weitere Frage. Wir müssen dafür sorgen, die Sache so aufzubauen, daß der Mutige ermutigt und der Tüchtige tüchtiger wird und der Staat sie nicht bremst. Ein Letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren: Ich stimme in herzlichem Einvernehmen mit der derzeitigen Regierungsfraktion der SPD dem zu, was Frau Skarpelis-Sperk gesagt hat. Wir erwarten von der Regierung, daß sie für diese Ideen wirbt. Die Angst ist ein gefährlicher Ratgeber. Der Glaube, die Umwelt würde durch Handel zerstört, ist irreführend, gefährlich und kontraproduktiv. Bevölkerungswachstum und Armut zerstören die Umwelt, während der Handel die Möglichkeit gibt, Armut zu überwinden. Das ist die Idee. ({14}) Diese Idee aber auch zu zeigen und ihre Strahlkraft sichtbar zu machen ist die Aufgabe der Bundesregierung, die sich bisher noch nicht durch besondere Strahlkraft auszeichnet. Saint-Exupéry sagte: Willst du ein Schiff bauen, dann sammle nicht Nägel und Werkzeug und Holz

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, außerdem müssen Sie auf die Uhr sehen.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich bitte um Nachsicht, ich bin sofort fertig -,

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es fällt mir schwer, Sie zu bremsen.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- sondern sammle Männer, und lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer. Ein bißchen mehr Faszination, die die Herzen der Menschen bewegt, Freude an dem, was wir tun können, ein bißchen weniger Verstrickung in das Elend der einzelnen bürokratischen Gesetzlichkeiten, ein bißchen mehr Mut für das, was für ein zuversichtliches Deutschland in der Gemeinschaft der Völker getan werden kann - das ist das, was dieses Land braucht. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Riesenhuber, angesichts der Tatsache, daß Sie mir als PräDr. Heinz Riesenhuber sidentin eine völlig neue Perspektive eröffnet haben, nämlich im Interesse der Stenographinnen und Stenographen aufpassen zu müssen, daß der Redner halbwegs am Pult bleibt, habe ich ausnahmsweise die Augen ein Stückchen zugedrückt, was die Redezeit betrifft. Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege Reinhard Loske.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mir ist noch immer warm ums Herz nach den schönen Worten von Herrn Riesenhuber. Ich habe auch aus Überzeugung und Anteilnahme geklatscht. Ich bin wirklich sehr froh, Herr Riesenhuber, daß wir auf der einen Seite von der Dämonisierung, daß die Globalisierung die Wurzel allen Übels sei, und auf der anderen Seite von der Idealisierung weggekommen sind. Sie klang bei Ihnen, am Schluß jedenfalls, noch etwas an. Auch ich bin im Sinne von Saint-Exupéry für die große Vision. Aber man sollte in diesem Zusammenhang eine Haltung einnehmen, die so lautet: Zuversicht gepaart mit Gestaltungswillen und Realitätssinn. Realitätssinn ist natürlich wichtig. Die Schere zwischen Arm und Reich beispielsweise hat sich in den 90er Jahren weiter geöffnet; sie ist nicht kleiner geworden. Auch das ist Realität. Das kann man nicht durch Reden aus der Welt schaffen. Zu denken ist auch an die globale Umweltsituation. Ihr Parteifreund Klaus Töpfer hat hier in Berlin vor wenigen Wochen auf sehr eindrucksvolle Weise den jüngsten UNO-Bericht zur Lage der Umwelt in der Welt vorgestellt: Sie hat sich verschlechtert. Das heißt - so wunderbar ich Ihren Vortrag fand und so wunderbar Ihre Emphase war -, zum Schluß sind Sie etwas über das Ziel hinausgeschossen. Denn die Realitäten sind etwas komplexer. Nun zu der Frage, wie Staaten auf die Globalisierung reagieren können. Ich möchte, bevor ich auf die WTO zu sprechen komme, ganz kurz ein paar allgemeine Dinge ansprechen. Ich glaube, es gibt drei Wege, als Staat auf die Globalisierung zu reagieren: erstens mit Abschottung, zweitens mit Anpassung und drittens mit einem gemeinsamen Gestaltungswillen. Was das erste betrifft, sind wir uns, glaube ich, einig: Abschottung ist nicht nur unrealistisch, sondern in den Ländern, in denen man dies versucht hat, historisch grandios gescheitert, zum Beispiel in den Entwicklungsländern, nämlich in den 70er Jahren in Tansania mit dem Versuch selektiver Abkoppelung usw., - ich will hier nicht Nordkorea nennen -, ganz zu schweigen von dem großen Experiment in Osteuropa. Insofern kann das für uns keine realistische Perspektive sein. Dennoch will ich hinzufügen, daß in bestimmten Bereichen Regionalisierungsstrategien, die mehr auf die Region als auf den Weltmarkt setzen, wichtige Beiträge sind und keineswegs als Abkoppelung vom Weltmarkt denunziert werden sollten. Was das zweite betrifft, die Anpassung an die neuen Realitäten, so ist festzustellen, daß daran kein Weg vorbeiführt. Diese neuen Realitäten sind so, wie sie sind. Es gibt für die Unternehmen eine freie Wahl des Standortes. Es gibt den freien Fluß von Waren, Dienstleistungen, Informationen und Kapital. Das sind die Realitäten. Wer diese Realitäten ignoriert, der verliert seine Wettbewerbsfähigkeit und letztlich Wohlstand sowie Arbeitsplätze. Ich glaube, da besteht zwischen uns überhaupt kein Dissens. Daß man auch in der Politik gewisse Anpassungsreaktionen an den Tag legen muß, zum Beispiel bei den Tarifparteien im Hinblick auf die Gestaltung der Arbeitswelt sowie allgemein im Hinblick auf den Abbau überzogener Bürokratie und die Sicherstellung eines leistungsfähigen Staates und leistungs- sowie wettbewerbsfähiger Steuersysteme, ist richtig. Aber die grundsätzliche Frage lautet: Reicht Anpassung aus? Ich glaube, die dritte Dimension, der Gestaltungswille, ist von zentraler Bedeutung und unverzichtbar. Gerade unter ordoliberalen Ökonomen war es völlig unstrittig, daß wir einen Wettbewerbsrahmen, einen Sozialrahmen und einen ökologischen Rahmen brauchen. Denn was der Markt kann, ist, Ressourcen effizient zu allozieren. Was er aber definitiv nicht kann, ist, soziale Gerechtigkeit herzustellen oder Umweltstandards zu gewährleisten. Das müssen wir Politiker schon selber machen. ({0}) Wenn es so ist, daß sich die Ökonomie globalisiert, also den nationalen bzw. europäischen Handlungsraum verläßt, dann besteht die Aufgabe, den Versuch zu wagen, einen globalen Ordnungsrahmen sicherzustellen, der Wettbewerbsregeln, Sozialstandards und Umweltstandards beinhaltet. Das ist die Aufgabe, die Herausforderung, vor der wir stehen. Wenn einem das manchmal als Herkulesaufgabe vorkommt, so ist an folgendes zu erinnern: In Deutschland hat es sehr lange gedauert, bis wir vernünftige Wettbewerbsregeln, einen einigermaßen tragfähigen Sozialstaat und Umweltregeln hatten. Dies hat auch in Europa sehr lange gedauert. Wir sind ständig dabei, diese Dinge zu verbessern. Auch im Weltmaßstab, im Rahmen der WTO und der anderen Systeme, wird es sehr lange dauern, bis wir ähnliches erreichen. Aber die Bewältigung dieser Aufgabe - mag es auch eine Herkulesaufgabe sein - muß angegangen werden; sonst würden wir vor der Geschichte versagen. Das steht in bester kontinentaleuropäischer Tradition. Deshalb bin ich froh, daß die EU in die entsprechenden Verhandlungen mit einer geschlossenen Position geht. Wir Grünen unterstützen diese Position und auch die der Bundesregierung ausdrücklich. Ich möchte jetzt zu den Verhandlungen im engeren Sinne kommen und einige Punkte gesondert herausheben, die uns besonders wichtig sind: Das betrifft erstens die Öffnung der Märkte auch für die Entwicklungsländer, zweitens den Umweltschutz, drittens die soziale Dimension, viertens die Verbraucherinteressen - das ist ganz wichtig; darüber wurde bislang noch gar nicht gesprochen - und fünftens und letztens die Gestaltung einer Wettbewerbsordnung. Zum ersten, zu den Entwicklungsländern. In diesem Zusammenhang muß man jenseits der großen Worte feststellen, daß in unserem Verhalten gewisse Abweichungen von diesem großen Ziel zu erkennen sind. Ich nenne das Bananenbeispiel. Weitere Beispiele gibt es im Textilbereich, wo nach wie vor Zölle bestehen, die es den Entwicklungsländern objektiv erschweren, Handel zu treiben. Darauf wird jedoch meine Kollegin KösterLoßack gleich eingehen. Zweiter Punkt: Umweltschutz. Ich glaube, es ist ganz wichtig, daß wir das bislang völlig unverbunden neben dem Umweltrecht stehende internationale Handelsrecht mit dem Umweltrecht verzahnen müssen. Wenn die beiden Bereiche nur nebeneinander stehen, dann ist ganz klar, welcher Bereich sich durchsetzt, nämlich das Handels- und Wirtschaftsrecht. Die Verzahnung ist also eine ganz wichtige Aufgabe. Eine zweite wichtige Aufgabe ist der Abbau ökologisch kontraproduktiver Subventionen, auch der Exportsubventionen. Es kann nicht sein, daß wir einerseits von den Chancen der Entwicklungsländer auf unseren Agrarmärkten reden, andererseits aber Agrarexporte in die Entwicklungsländer subventionieren und damit die Strukturen in diesen Ländern kaputtmachen. Das ist auf gar keinen Fall nachhaltige Politik. Das muß aufhören. Der dritte Punkt in diesem Zusammenhang ist die Landwirtschaft insgesamt. Ich glaube sehr wohl, daß die Landwirtschaft eine Sonderrolle einnimmt. Herr Riesenhuber hat es schon angesprochen: In der Landwirtschaft geht es eben nicht nur um die Erzeugung von Nahrungsmitteln. Gerade in Europa geht es auch um die Kulturlandschaft. Es gilt, eine vernünftige Balance zwischen den Interessen für eine Marktöffnung und den Interessen des Landschaftsschutzes herzustellen. Das halte ich für sehr zentral; denn die Landwirtschaft ist mehr als nur Nahrungsmittelproduzent. Was die Sozialstandards betrifft, so glaube ich, daß die Lösung, die sich jetzt abzeichnet, nämlich eine gemeinsame Arbeitsgruppe von ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation, und Welthandelsorganisation, zwar nicht besonders weitgehend und anspruchsvoll ist; gleichwohl ist dies ein erster Schritt in die richtige Richtung. Besser wäre es - das ist bislang auch noch Position der EU -, in der WTO eine Arbeitsgruppe einzurichten. Viertens: Verbraucherinteressen. Das ist ein ganz zentraler Punkt, der nach meinem Gefühl viel zuwenig zur Sprache kam. Wir haben es heute in den Industrieländern, aber auch weltweit mit der Situation zu tun, daß die Verbraucher viel besser informiert sein wollen und viel bewußter sind, was die Kaufentscheidung angeht. Deswegen ist es völlig unakzeptabel, daß man sich beispielsweise gegen die Kennzeichnung von genetisch veränderten Lebensmitteln sperrt. Ich halte dies für unmöglich. ({1}) Der selbstbewußte Verbraucher braucht Informationen. Aufgabe internationaler Vereinbarungen ist es, dem Verbraucher diese Informationen zu geben. Ich komme in diesem Zusammenhang zum letzten Punkt. In unserer Gesellschaft gibt es bestimmte Traditionen. Wir wollen kein Hormonfleisch, wir wollen keine Genprodukte, und wir wollen keine Turbokühe. Das müssen die Vereinigten Staaten akzeptieren. ({2}) Zum Schluß noch ein Wort zu den Interessen der Entwicklungsländer. Wie gesagt, wird meine Kollegin gleich ausführlich darauf eingehen. Ich glaube, hier wandern wir auf einem sehr schmalen Grat: Auf der einen Seite wollen wir, daß ökologische Standards, möglichst auch Sozialstandards in das Handelsregime einbezogen werden. ({3}) Auf der anderen Seite müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, daß sich gerade die Entwicklungsländer mit Händen und Füßen dagegen wehren, und zwar aus der Sorge heraus, daß hier einem grünen oder Sozialprotektionismus Vorschub geleistet werden soll. Der Schlüssel dafür, dies auf die Agenda setzen zu können und bei den Entwicklungsländern auf Akzeptanz zu stoßen, ist die Glaubwürdigkeit des eigenen Handelns. ({4}) Insofern besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem, was wir bei uns tun, und dem, wofür wir international eintreten. Danke schön. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Brüderle.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die anstehende WTO-Konferenz in Seattle muß ein Erfolg werden. Wir brauchen ein klares Signal. Nur so kommt die notwendige Liberalisierung des internationalen Handels voran. Wer die Zusammenhänge kennt, weiß: Teilhabe am Ausbau der internationalen Arbeitsteilung bedeutet Wohlstandsmehrung und Chance für alle. Das ist kein Nullsummenspiel, hier entsteht Zusätzliches. Grundvoraussetzung für einen Erfolg ist, daß die Europäische Union mit einer starken Stimme spricht. Was wir brauchen, sind klare Linien und Positionen und kein mit einzelstaatlichen Sonderinteressen überfrachtetes Verhandlungsprogramm. Im Gegensatz zu den traditionellen Freihandelsnationen wie Großbritannien und die Niederlande hat die Dr. Rainer Loske grünrote Bundesregierung hier leider eine wenig förderliche Rolle gespielt. Zwar will sie auf der einen Seite zügig zu Ergebnissen kommen. Auf der anderen Seite werden von der Bundesregierung aber zahlreiche Einzelforderungen gestellt. Ich appelliere deshalb an Sie: Lassen Sie uns lieber in drei Jahren zu konkreten Ergebnissen in wenigen wichtigen Punkten kommen und nicht in acht Jahren alles zerreden! ({0}) Wir begrüßen ausdrücklich das gemeinsame Ziel der Welthandelsrunde, die Entwicklungsländer beim Freihandel einzubeziehen. ({1}) Dann aber müssen Sie die Belange der Entwicklungsländer auch tatsächlich berücksichtigen. Es ist wenig hilfreich, wenn Sie die Länder der Dritten Welt durch die Forderung unterschiedlichster Mindeststandards verunsichern. Wir dürfen die Entwicklung dieser Länder nicht bremsen, indem wir ihre Wettbewerbsfähigkeit schwächen, ({2}) sondern wir müssen auch bereit sein, uns umgekehrt diesem auf dem Papier gewünschten Wettbewerb zu stellen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung möchte trotz der vorgetragenen Bedenken unbedingt die Sozialstandards auf die Agenda der WTO setzen. ({3}) Dabei nimmt sie offensichtlich nicht zur Kenntnis, daß es bereits Empfehlungen der OECD - wissen Sie, wer schreit, hat immer Unrecht, Frau Kollegin -, ({4}) zum Thema Mindeststandards für multinationale Unternehmen gibt. Es gibt außerdem verschiedene Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Auch Sie wissen, wie es um die Ratifizierung dieser Konventionen bestellt ist. Wenn bestimmte Länder solche Konventionen unterzeichnen, ist das wahrlich keine Garantie dafür, daß die Konventionen von diesen Ländern auch eingehalten werden. ({5}) Wenn umgekehrt Großbritannien oder die Niederlande solche Konventionen nicht unterzeichnen, bedeutet dieses nicht, daß in diesen Ländern unzumutbare soziale Zustände herrschen würden. Deshalb frage ich Sie: Welchen Sinn macht es, jetzt weitere Runden zu diesem Thema innerhalb der WTO zu installieren, zumal die Bundesregierung für ihr Anliegen nicht einmal innerhalb der Europäischen Union eine solide Mehrheit hat? Wollen Sie damit vom Versagen in der nationalen Politik ablenken? Ist es denn nicht irreal zu meinen, die anderen würden sich unseren überdrehten Standards anschließen, ihre Wettbewerbsvorteile und ihre komparativen Vorteile aufgeben, die sie dadurch haben, daß wir uns in Deutschland nicht bewegen und notwendige Anpassungsprozesse nicht vornehmen wollen? Davon träumen nur Sie. ({6}) Das erinnert mich an Aussagen wie „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ bzw. „Der deutsche Oberlehrer weiß alles besser; der Rest der Welt hat sich danach zu richten, strammzustehen - zack, zack - und die Empfehlung entgegenzunehmen“. So kann man es nicht machen. Die WTO ist zu wichtig, um PlaceboPolitik zu betreiben. Sie müssen auch sagen, welchen Preis Sie letztlich zu zahlen bereit sind, damit über internationale Mindeststandards geredet wird. Die Entwicklungsländer werden sich natürlich mit Händen und Füßen gegen solche Diskussionen wehren. Wenn sie sich doch darauf einlassen, wollen sie dafür entgolten werden. Sie müssen dem deutschen Steuerzahler klar sagen, was das kostet. Die Forderung nach Mindeststandards darf nicht zu einer bloß symbolischen politischen Forderung verkommen. Dazu ist das Thema zu wichtig. ({7}) Es muß an der richtigen Stelle und in den richtigen Gremien diskutiert werden. In die Welthandelsrunde paßt es nicht. Es wundert mich übrigens sehr, welche Nebenrolle Sie dem Thema Handel und Wettbewerb zuweisen. Auch internationale Kartelle und Zusammenschlüsse sind eine greifbare Bedrohung für den Freihandel. ({8}) Wir leben in einer Zeit der internationalen Unternehmenskonzentrationen. Es entstehen neue Dinosaurier. Im vergangenen Jahr haben weltweit Unternehmen mit einem Wert von 2,1 Billionen Dollar fusioniert. Dieser Wert liegt sechsmal so hoch wie 1992. Die Tendenz hierbei ist weiter steigend. Die Entwicklung auf den Märkten im Bereich der Automobile, der Versicherungen, der Banken, des Öls, der Telekommunikation und der Luftfahrt bestätigen leider die Warnung des scheidenden deutschen Kartellamtspräsidenten Wolf, der sagte, daß die gemeinschaftliche Kontrolle des Weltmarktes durch wenige Konzerne aus seiner Sicht nicht mehr allzufern sei. ({9}) Hier muß man gegenhalten und etwas machen. Die Marktmacht, die durch diese grassierende Fusionitis gebündelt wird, ist erheblich. Hier entstehen geradezu neofeudalistische Strukturen. Deshalb lobe ich die Pläne der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union: Beide wollen einen gemeinsamen Ausschuß gründen, der sich künftig regelmäßig um transatlantische Wettbewerbsfragen kümmert. Wir brauchen - nebenbei bemerkt - dringend eine europäische Kartellbehörde. ({10}) Es ist doch ein Witz, daß für kleinere Zusammenschlüsse das einigermaßen funktionierende deutsche Kartellrecht gilt. Je größer sie aber sind, desto weniger Kontrolle darüber existiert, was sich tut und welche Konzentrationen ablaufen. Diese Entwicklungsprozesse registriert scheinbar weltweit überhaupt niemand. Es fehlt ein weltweites Regelwerk, in dem die elementaren Grundsätze des Wettbewerbs verbindlich festgeschrieben werden. ({11}) Hier greifen bilaterale Vereinbarungen zu kurz. Wir brauchen hier Rechtssicherheit. Die WTO ist die geeignete Institution, um ein Problem dieser Art anzugehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Loske?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne. ({0}) - Wissen Sie, Ihre Bemerkung: „Der schwätzt nur“, Frau Kollegin, hat Niveau. Gratulation dazu!

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Brüderle, in Ihrer Rede finden sich durchgängig zwei Auffassungen: Zum einen gibt es eine große Skepsis bis zur Ablehnung von Normen im Bereich Umwelt und Soziales im Rahmen des WTO-Regimes. Zum anderen gibt es die Einsicht in die Notwendigkeit, den Wettbewerb im globalen Maßstab zu ordnen. Meine Erfahrung im internationalen Bereich ist, daß diese beiden Standpunkte sehr wohl zusammenpassen. Können Sie sich nicht vorstellen, daß beispielsweise deutsche oder europäische Unternehmen, die weltweit agieren, Interesse daran haben, daß alle Wettbewerber in dem Land, in dem sie Investitionen tätigen - zum Beispiel in Südafrika -, auf der Basis der gleichen Normen agieren? Liegt es nicht sogar im Interesse unserer Wirtschaft, daß beispielsweise im Bereich der Umwelt einheitliche Standards sichergestellt werden?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Politik ist immer die Kunst des Machbaren. Man könnte natürlich auch 10 Jahre lang träumen und nichts zustande bringen, obwohl man relativ schnell zu Entscheidungen gekommen ist. ({0}) - Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, und blöken Sie nicht in meine Antwort hinein! Wenn Sie eine Frage stellen, dann bekommen Sie eine passende Antwort. ({1}) Der Wunsch ist irreal, der Traum könne sich erfüllen, daß sich alle in Richtung deutscher Standards bewegen. Mit diesem Traum werden Sie gar nichts erreichen. Anstatt den Träumen nachzuhängen, ist es deshalb richtiger, sich auf Kernpunkte zu konzentrieren, die konsensfähig sind und die man umsetzen kann. Ich weiß, in Deutschland war die Romantik immer populärer als die Aufklärung. Ich bevorzuge die Aufklärung. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brüderle, es gibt den Wunsch des Kollegen Loske nach einer zweiten Zwischenfrage.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte schön.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mir ist Ihre Antwort etwas zu billig.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das habe ich vermutet.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Man kann es sich nicht so einfach machen. Die Realität hinsichtlich der Probleme, vor denen die Unternehmen stehen, ist komplexer. Deswegen will ich nachfragen. Liegt es nicht im Interesse der deutschen Unternehmen, daß weltweit - wenigstens in der Tendenz einheitliche Standards gelten? Im anderen Fall wäre es so, daß beispielsweise diejenigen, die sich nicht an diese Standards halten, Wettbewerbsvorteile gegenüber denjenigen haben, die sich daran halten. Diese Tatsache muß doch selbst für einen Wirtschaftsliberalen nachvollziehbar sein - oder nicht?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es liegt im Interesse unserer Unternehmen, daß wir mit der Liberalisierung in den Punkten, die wir umsetzen können, vorankommen. Es liegt nicht im Interesse der Unternehmen, auf Wolke sieben zu träumen, aber nichts zu erreichen. Ich weiß, daß Ihre Politik so angelegt ist. Aber die Welt ist leider anders, als Sie sie sich sozusagen backen möchten. ({0}) - Es ist klar, Herr Ströbele, daß ich Sie nicht zufriedenstellen kann. Das können ja nicht einmal Ihre eigenen Leute, weil Sie in Ihrem eigenen Verein Außenseiter sind.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brüderle, es gibt noch einen Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich freue mich darauf.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Brüderle, Sie haben vorhin vehement darauf hingewiesen, daß WTO-Verhandlungen für den Steuerzahler Kosten verursachen. Sie haben uns in diesem Zusammenhang aufgefordert, zu sagen, was es kostet, wenn man solche Standards durchsetzen will. Meine Gegenfrage lautet: Wären Sie auch bereit, dem deutschen Steuerzahler mitzuteilen, welche Kosten auf ihn zukommen, wenn 80 Prozent der Menschheit keine Chance hat, an einer nachhaltigen Entwicklung zu partizipieren?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, gerade weil ich diesen Menschen eine Chance geben will, bin ich dafür, Regelungen zu finden, die für diese Länder akzeptabel sind. Aber wenn Sie diese Regelungen gemäß deutschen Vorstellungen den Entwicklungsländern in Afrika, deren Bewohner sich in der untersten Einkommenskategorie befinden, überstülpen wollen, dann muß ich sagen, daß diese Länder dann keine Chance haben, sich zu entwickeln. ({0}) Wir müssen diese Regelungen so dosieren, daß sie am Take-off der Entwicklungsprozesse teilnehmen können. ({1}) Sie aber behindern diese Länder, indem Sie ihnen keinen Freiraum geben, sondern durch eine Überreglementierung sozusagen Handschellen anlegen. Ich möchte aber, daß diese Handschellen abgelegt werden. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brüderle, es gibt noch einen letzten Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Büttner.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist erfreulich, weil ich so ein bißchen länger reden kann.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Brüderle, ich möchte Sie nur folgendes fragen: Sind Ihnen eigentlich die Arbeitsgesetze der meisten Staaten im südlichen Afrika bekannt? In diesen Gesetzen sind Mindeststandards für Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und Arbeitsschutz geregelt. Halten Sie es nicht für richtig, daß man diesen Staaten dabei hilft, daß sie im Rahmen der internationalen Regelungen ihre gesetzlichen Bestimmungen einhalten können, anstatt sie aufzufordern, ihre eigenen Gesetze zu brechen?

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß nicht, wie Sie zu der Exegese kommen, ich hätte diese Staaten aufgefordert, ihre Gesetze zu brechen. Ich warne nur: Wer meint, er könne der ganzen Welt deutsche Vorstellungen überstülpen, der wird nichts erreichen. Gerade deshalb sind wir Deutschen in der Welt so „populär“ und so „angesehen“. Wenn nämlich drei Deutsche im Ausland auftreten, gibt es vier Oberlehrer, die jedem erklären, was er machen muß. ({0}) Geben Sie doch den Menschen die Chance, sich selbst zu entwickeln, und schreiben Sie ihnen nicht alles vor! Die Vorstellung, man könne alles planerisch steuern, ist doch letztlich gescheitert. Deshalb sage ich: Laßt den Ländern die Chance, zu Wohlstand zu kommen, und meint nicht, ihr wüßtet alles besser. Vielleicht kennen Sie die Arbeitsgesetzgebung von Gambia und auch die Realität vor Ort im Detail und können gelegentlich einmal dazu rezitieren. Ich will, da es bedauerlicherweise keine weiteren Fragen gibt, ({1}) die mir verbleibende Redezeit nutzen, um darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung - Herr Kollege Riesenhuber hat es angesprochen - eine Bringschuld nicht erfüllt hat. Sie hat es nämlich, auch wenn sie Öffentlichkeitsarbeit sonst sehr gern macht, versäumt, der breiten Öffentlichkeit die Zusammenhänge zwischen Öffnung des Handels, Ausbau der Arbeitsteilung, Arbeitsplätzen, Produktivität und Fortschritt im eigenen Land zu verdeutlichen. Das gehört ebenfalls dazu. Sie muß dann auch erklären, was für einen Sinn eine Bananenmarktordnung in Europa macht, durch die die Bananen eben teurer sind und andere Länder keine Chance haben. Sie muß erklären, welche Zölle sie weiter senken will. Sie muß erklären, welche Zusammenhänge sie sieht. Sie muß, wenn sie gegen Dumping vorgehen will, sagen, ob sie auch die Sonderangebote bei Aldi für Fahrräder made in China unterbinden will. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Lötzer.

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist dann jetzt wohl an mir, die Zuversicht etwas zu dämpfen und die Büchse der Pandora zu öffnen. Im EU-Mandat wie in den Anträgen von SPD bis CDU/CSU wird eine umfassende Liberalisierungsrunde angestrebt. Sie begründen dieses Mandat mit den Fortschritten im Welthandel, dem Beitrag zum Wohlstand, zur Entwicklung und der Hebung des Lebensstandards. Jedoch verteilen sich die positiven und die negativen Wirkungen sehr ungleich. Es gibt Gewinner, und es gibt Verlierer. Die USA, Japan und die EU haben dabei gewonnen; gerade die ärmsten Entwicklungsländer aber haben verloren. Der Einkommensunterschied - darauf hat Frau Kollegin Skarpelis-Sperk schon hingewiesen - zwischen dem reichsten und ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung hat sich seit 1960 mehr als verdoppelt. Für die Uruguay-Runde stellte eine OECD-Studie einen Gewinn von 213 Milliarden Dollar fest. Davon entfiel ein Drittel auf die Entwicklungsländer, der größte Teil auf die Schwellenländer. Die afrikanischen Länder, insbesondere die Nahrungsmittelimporteure mit niedrigem Einkommen, haben auf Grund des Verlusts von Handelspräferenzen dabei draufgezahlt. Zahlen zur Zunahme des Handels und Exportwachstums allein sagen wenig über die sozialen Folgen und Wirkungen aus, genausowenig über die Akteure und darüber, wie sich denn die Gewinne und Verluste verteilen. Die eindeutigen Gewinner sind die multinationalen Konzerne. Der Marktanteil der jeweils zehn größten Konzerne wuchs bis 1998 im Bereich Telekommunikation auf 86 Prozent, im Bereich Computer auf 70 Prozent. Demgegenüber nimmt die Arbeitslosigkeit von Mexiko bis Magdeburg zu. Gerade die exportintensiven Unternehmen mit einer Außenhandelsabhängigkeit von mehr als 40 Prozent haben in Deutschland seit 1980 massiv Beschäftigung abgebaut. Nicht nur die ungleiche Verteilung des Reichtums zwischen den armen und reichen Ländern steigt, sondern auch die ungleiche Verteilung innerhalb der Länder. Wenn Sie von der CDU/CSU in Ihrem Antrag die Regierung zur weiteren Steuerentlastung der Unternehmen, zur Fortsetzung der Privatisierung und zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes aufrufen, um auf die verschärfte Konkurrenz durch eine weitere Liberalisierung im Dienstleistungsbereich im Rahmen der WTO-Runde vorzubereiten, dann machen Sie die weiteren Folgen nur allzu deutlich. Ihre Forderungen unterstreichen die Dringlichkeit, daß das Recht jeder Regierung, spezielle Dienstleistungen - wie Bildung und Gesundheit - aus der Liberalisierung herauszunehmen, zwingend in eine solche Verhandlung aufgenommen werden müßte. Das gleiche gilt für Regelungen zur Positivdiskriminierung im öffentlichen Beschaffungswesen. Im EU-Mandat fehlen solche Regelungen. Diese Entwicklungen unterstreichen auch die Dringlichkeit einer Einigung auf soziale und gewerkschaftliche Mindeststandards. Das von der EU vorgesehene Forum der WTO mit der ILO trägt kaum zur Lösung bei. Die Stärkung der Verhandlungsmacht von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die Sanktionsfähigkeit bei Verletzung von Standards und die Einbindung der UN-Sonderorganisationen halten wir für unverzichtbar. Es geht um die Menschen, Herr Brüderle, nicht um die Länder, um die Menschen in Sonderwirtschaftszonen, um ihren Schutz, um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Rechte. Allerdings setzt das die Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Realisierung voraus, und zwar nicht nur durch Entschuldung und Entwicklungshilfe, sondern insbesondere auch dadurch, daß IWF und Weltbank Hilfen bei der Umsetzung geben, statt - wie bisher - den Entwicklungsländern die Deregulierung der Sozialsysteme aufzuzwingen. ({0}) Die umfassende Demokratisierung der WTO ist eine zwingende Vorbedingung einer erneuten Verhandlungsrunde. Die WTO verfügt im Gegensatz zu anderen internationalen Großorganisationen wie zum Beispiel der ILO mit dem Streitschlichtungsverfahren über starke Sanktionsmechanismen. Länder, gegen die eine Entscheidung getroffen wird, können nicht einmal mehr ein Veto einlegen. Wie damit Regulierungen für den Gesundheitsschutz außer Kraft gesetzt werden können, machte das Verfahren der USA gegen die EU wegen des Importverbots für Rindfleisch mit Wachstumshormonen deutlich. Trotz formaler Gleichheit sind die Entwicklungsländer nicht in der Lage, das Streitschlichtungsverfahren gleichberechtigt zu nutzen. Vergeltungsmaßnahmen von Mali gegen die USA geraten zur Karikatur, während der umgekehrte Vorgang die Lebensgrundlagen vieler Menschen zerstören kann. ({1}) Mit den Entscheidungen der WTO werden völkerrechtlich verbindliche Normen geschaffen, die nicht ausreichend von demokratischen Instanzen gestaltet und kontrolliert werden. Mehr als 20 WTO-Mitglieder haben keine Vertretung in Genf, sechs nicht einmal in Europa. Eine gleichberechtigte Teilnahme der Entwicklungsländer an Entscheidungen ist damit bei aller formellen Gleichheit ad absurdum geführt. Öffentlichkeit, Parlamente und NGOs müssen in die Entscheidungen eingebunden werden. Die Einrichtung einer zweiten Kammer aus Parlamentariern und NGOVertretern sowie die zwingende Ratifizierung von WTO-Verträgen durch die Parlamente wären notwendige Schritte dazu. Eine Verankerung im System der Vereinten Nationen und ihren Organisationen, die sich mit den politischen und sozialen Menschenrechten beschäftigen, halten wir ebenfalls für zwingend. Kolleginnen und Kollegen, das vorgelegte EUMandat ist nicht das MAI. Aber wesentliche Fragen sowohl aus Sicht der Entwicklungsländer als auch der Mehrheit der Menschen in den Industrieländern werden damit nur unzureichend oder gar nicht beantwortet. In unserem Antrag gehen wir auf die einzelnen Punkte ein. Gerade weil wir für eine politische Gestaltung der Globalisierung, Kollegin Skarpelis-Sperk, und nicht für Abschottung oder gegen den Handel sind, fordern wir Sie zusammen mit mehr als 1 000 NGOs und vielen Entwicklungsländern auf, keine Verhandlungsrunde, sondern statt dessen mit einer umfassenden Evaluierung der bisherigen Ergebnisse der Liberalisierung für die soziale Situation, die Umwelt, die Lage von Frauen und Kindern, die Menschen- sowie Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte und die Entwicklungsperspektiven der Länder des Südens und der Reform der WTO zu beginnen. Erst diese Ergebnisse als Voraussetzung können unserer Meinung nach die Basis einer an sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit orientierten Reform werden. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Bundesminister für Wirtschaft, Werner Müller.

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele der Bundesregierung ist es, gemeinsam mit unseren EU-Partnern eine neue, umfassende Welthandelsrunde auf der 3. WTO-Ministerkonferenz in Seattle Ende November/Anfang Dezember einzuleiten. Die Bundesregierung hat hierbei, lieber Herr Professor Riesenhuber, ein völlig klares Konzept, das ebenso klar von den Regierungsparteien getragen wird. Es gibt dabei weit weniger Differenzen, als Sie vermuten, sagen wir: weit weniger Differenzen als etwa zwischen Ihnen und dem Rednerpult. ({0}) Trotzdem habe ich eben mit Sympathie beobachtet, wie Sie entweder auf die Regierungsparteien oder auf den Wirtschaftsminister zugegangen sind. Beides fand ich sehr gut. Es zeigt auch, daß wir bei diesem Thema eine deutliche Übereinstimmung in den wesentlichen Punkten haben. Die über 50jährige Geschichte von GATT und WTO stellt insgesamt eine der großen Erfolgsgeschichten der internationalen Wirtschaftspolitik in diesem Jahrhundert dar. Die Zölle der Industriestaaten für Industrieerzeugnisse konnten mittlerweile in acht Verhandlungsrunden von etwa 40 Prozent auf durchschnittlich 4 Prozent gesenkt werden. Der Welthandel hat sich wie schon gesagt worden ist - im gleichen Zeitraum etwa versiebzehnfacht, die Weltproduktion hat sich vervierfacht, und das weltweite Pro-Kopf-Einkommen hat sich immerhin verdoppelt. Wir erwarten von einer neuen Runde frische Impulse für Wirtschaft und Wachstum und damit auch für Arbeitsplätze, insbesondere in unserem Land. Wir brauchen die neue Runde auch unter dem Gesichtspunkt, hier und da erkennbaren protektionistischen Tendenzen durch Multilateralisierung entgegenzuwirken. Schließlich stellt sich in Zeiten zunehmender Globalisierung und internationaler Arbeitsteilung immer mehr die Frage nach der Kohärenz der Handelspolitik mit anderen Bereichen der Politik wie Investitionen, Wettbewerb, Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik, Arbeitsnormen und Sozialstandards. ({1}) Hier bedarf es deshalb neuer Regeln zum Zusammenspiel dieser verschiedenen Politikbereiche. Dies alles zeigt, daß eine neue WTO-Runde nach Vorstellungen der Bundesregierung eine Vielzahl von Themen umfassen muß. Ich freue mich ausdrücklich, daß - wie zum Beispiel in Ihrer Rede, Herr Professor Riesenhuber, deutlich wurde - die CDU/CSU mit der Bundesregierung hinsichtlich der Chancen und Notwendigkeiten sowie der Gestaltung einer neuen Welthandelsrunde grundsätzlich übereinstimmt. So stimme ich auch Frau Skarpelis-Sperk und Herrn Riesenhuber ausdrücklich in dem Punkt zu, daß wohl ausschließlich eine breitangelegte Runde mit einer Paketlösung zu allen Themen nach möglichst nur dreijähriger Verhandlungsdauer zu einem ausgewogenen Ergebnis für alle Teilnehmer führen wird. Schließlich soll die neue Runde auch dazu führen, die Entwicklungsländer stärker in die Weltwirtschaft und das weltweite Handelssystem zu integrieren. ({2}) Die Entwicklungsländer konnten zwar in den letzten 30 Jahren ihren Anteil an den weltweiten Ausfuhren um fast 50 Prozent erhöhen, die Wirtschaftsleistung blieb jedoch von Region zu Region unterschiedlich, so daß die Bekämpfung der Armut unverändert eine der großen weltpolitischen Aufgaben bleibt. ({3}) Mitunter heißt es, eine umfassende Runde komme für die Entwicklungsländer zu früh; sie hätten noch nicht ausreichend die Ergebnisse der vorausgegangenen Uruguay-Runde „verdaut“. Dazu sage ich: Die Vorteile der Handelsliberalisierung sind nicht nur auf die Industrieländer beschränkt, sondern auch die Entwicklungsländer werden davon profitieren. Aber wir müssen ihnen natürlich dabei helfen, die Ergebnisse der Uruguay-Runde umzusetzen und die Vorteile der Handelsliberalisierung tatsächlich zu nutzen. Dies geht nicht allein mit Mitteln der Handelspolitik; hier müssen auch entwicklungspolitische Maßnahmen greifen. Der Ausbau des WTORegelwerkes kann im übrigen gerade den vielleicht schwächeren Partnern auf der internationalen Bühne Rechtssicherheit und damit Stärke geben. Um welche Themen und Sektoren handelt es sich bei der neuen Runde im einzelnen? Ich will sechs Bereiche nennen. Es sind, Herr Brüderle, doch ein paar mehr, denn die WTO ist etwas mehr als die Organisation eines Winzerfestes. ({4}) Erstens. Noch in der Uruguay-Runde sind neue Liberalisierungsverhandlungen zu Agrar- und Dienstleistungen ab dem 1. Januar 2000 beschlossen worden. Bei den Agrarverhandlungen wird es darum gehen, notwendige Reformen im Weltagrarhandel mit den defensiven Interessen der EU in Einklang zu bringen. Ich nenne hier nur die Stichworte Verteidigung der multifunktionalen Rolle der Landwirtschaft, Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier, Pflanzen- und Umweltschutz, Nahrungsmittelsicherheit sowie Verbraucherschutz. Nach den Erfahrungen der Uruguay-Runde muß man kein Prophet sein, um beim Agrarthema schwierige Verhandlungen für die EU vorauszusehen. ({5}) Bei den Dienstleistungsverhandlungen streben wir ein höheres Verpflichtungsniveau sämtlicher WTO-Länder, insbesondere unserer wichtigsten Drittlandspartner, an. Sämtliche Dienstleistungssektoren sind ausnahmslos in die Verhandlungen einzubeziehen, wobei ihren Besonderheiten allerdings Rechnung getragen werden muß. Zweitens. Auf unser Interesse an einer umfassenden Senkung der Industriezölle habe ich bereits hingewiesen. Drittens. Neben dem Zollabbau ist für uns auch der Abbau von nichttarifären Handelshemmnissen von ganz erheblicher Bedeutung. Viertens nenne ich nur als Stichwort unser Interesse an der weiteren Öffnung der öffentlichen Beschaffungsmärkte. Fünftens. Die sogenannten neuen WTO-Themen werden in der nächsten Runde eine wichtige, wenn nicht sogar die zentrale Rolle spielen: Zunächst ist das Thema „Handel und Umwelt“ zu nennen. Handel und Umweltpolitik sollten einander im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung ergänzen. Dieser Aspekt sollte sich in allen Verhandlungsbereichen niederschlagen. Bei der Behandlung des Investitionsthemas in der WTO müssen wir die Erfahrungen aus den gescheiterten Verhandlungen über ein multilaterales Investitionsabkommen in der OECD berücksichtigen. Mit der zunehmenden globalen Verflechtung zwischen Handel und Investitionen wird die Notwendigkeit der Ausarbeitung eines multilateralen Regelwerkes für einen Marktzugang bei Investitionen und insbesondere deren Schutz immer dringender. Zum Thema „Handel und Wettbewerb“ streben wir eine WTO-Rahmenvereinbarung über multilaterale Wettbewerbsregeln zur Ausgestaltung durch die WTOMitgliedstaaten an. Es geht also ausdrücklich nicht darum, die WTO als supranationale Kartellbehörde zu konstituieren, wie es in Ihrem Vortrag, Herr Brüderle, als Forderung anklang. ({6}) Die Bundesregierung mißt den sozialen Aspekten des internationalen Handels hohe Bedeutung bei. ({7}) Dank des klaren Festhaltens an dieser Position kann ich nunmehr feststellen, daß die EU einvernehmlich - Herr Brüderle, ich wiederhole: einvernehmlich - die Einrichtung eines Ständigen Arbeitsforums der WTO gemeinsam mit der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, anstrebt, in dem das Verhältnis zwischen Handel, Handelsliberalisierung, Arbeitnehmergrundrechten und Entwicklung näher untersucht und über die Zusammenhänge verhandelt wird. ({8}) An diesem Dialog sollen auch wichtige gesellschaftspolitische Gruppen wie Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter beteiligt werden. ({9}) Sechstens. Für die bessere Integration der Entwicklungsländer in das Welthandelssystem wird es entscheidend auf einen verbesserten Marktzugang für Produkte der Entwicklungsländer in den Industrieländern ankommen, ({10}) was im Einzelfall für die Industrieländer auch durchaus schmerzhaft sein kann. Zu allererst sollten alle Industrieländer und möglichst auch fortgeschrittene Entwicklungsländer schon in Seattle eine Zusage an die am wenigsten entwickelten Staaten geben, ab dem Jahre 2003 zollfreien Zugang für im wesentlichen alle Produkte zu gewähren. Dies ist eine Initiative, für deren Unterstützung die EU schon seit einiger Zeit bei den WTO-Partnern wirbt. Diese Initiative kann wichtige Hilfestellung für die ärmsten Entwicklungsländer bieten und ist ein Beweis, daß es uns mit der stärkeren Einbeziehung dieser Länder in das Welthandelssystem ernst ist. Außerdem treten wir für eine spezielle, besser mit anderen internationalen Organisationen koordinierte handelsbezogene technische Hilfe sowie für eine Verfeinerung der die Entwicklungsländer begünstigenden WTO-Sonderregeln ein. Unsere zugegebenermaßen ehrgeizigen Erwartungen an die neue Runde werden auch von den EU-Partnern geteilt, in dieser Breite allerdings nicht von allen WTOPartnern. ({11}) Die Entwicklungsländer äußern starke Vorbehalte gegen Themen wie Sozialstandards, Umwelt und Investitionen, hinter deren Wunsch zur Einbeziehung in die Runde sie protektionistische Absichten der Industrieländer vermuten. Insgesamt stehen wir in Seattle vor außergewöhnlich schwierigen Beratungen. Auch die EU-Kommission hat inzwischen vor allzu hohen Erwartungen gewarnt. Wir werden daher noch erhebliche Überzeugungsarbeit insbesondere bei den Entwicklungsländern leisten müssen, damit es in Seattle gelingt, das Momentum weiterer umfassender Marktöffnung sowie zur Stärkung und Erweiterung der WTO-Regeln über das Jahr 2000 hinaus zu erhalten. Herzlichen Dank. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Erich Fritz, CDU/CSU-Fraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als der ehemalige EU-Kommissar Leon Brittan vor drei Jahren eine neue Welthandelsrunde forderte, da stand er alleine, da haben das alle weit von sich gewiesen. Jetzt stehen wir doch vor einer neuen Runde. Es geht also nicht nur um die Abarbeitung der aus der Uruguay-Runde übriggebliebenen Punkte. In Seattle soll endlich die Entscheidung darüber fallen, was auf die Tagesordnung kommt und was nicht. Die Europäische Union - Minister Müller hat das gerade vorgestellt - hat sich vorgestern auf einen Vorschlag für den Ministerrat geeinigt. Diese Position, Herr Brüderle, finde ich nicht so abartig, wie Sie sie dargeBundesminister Dr. Werner Müller stellt haben. Im Vergleich zu dem, was nach den Diskussionen der letzten Jahre zu befürchten war, halte ich das sogar für eine sehr vernünftige und an der Sache orientierte Position. Sie dient dazu, sich mit den anderen auseinanderzusetzen. Denn es wird nicht alles das auf die Tagesordnung kommen, was in Europa formuliert worden ist. Ja, wir sind für eine umfassende Runde. Wir sind auch für weitere Liberalisierung, weil wir der Überzeugung sind, daß sich dieser Weg als richtig erwiesen hat. Diesen Antrag, in dem wir uns für eine neue Liberalisierungsrunde aussprechen, haben wir gestellt, Frau Skarpelis-Sperk, weil wir wollten, daß der Deutsche Bundestag über die Vorbereitung dieser Konferenz diskutieren kann. Das haben wir erreicht, und das hat dazu geführt, daß auch andere Position bezogen haben. Das finden wir sehr gut; denn wir brauchen für diesen Prozeß mehr Öffentlichkeit, als das in der Vergangenheit der Fall war. Das MAI ist mehrfach angesprochen worden. Ich glaube, daß die bisherigen Erfahrungen, die gezeigt haben, daß es im heutigen Kommunikationszeitalter so etwas wie eine internationale Öffentlichkeit gibt, in die Überlegungen einbezogen werden müssen und deshalb keine fertigen Ergebnisse präsentiert werden können, sondern bereits auf dem Weg dorthin Information und Diskussion nötig sind. Der richtige Platz dafür ist hier bei aller Anerkennung der Bemühungen, gesellschaftliche Gruppen einzubeziehen und Kommunikationsfelder aufzubauen, die bereits im Vorfeld einen Teil der Widerstände auflösen oder zumindest in vernünftige Bahnen lenken. Die öffentliche Auseinandersetzung in den letzten Jahren war von großem Mißtrauen geprägt. Weil das so war, freut mich der Antrag der Koalitionsfraktionen. Mit ihm war so nicht zu rechnen, hat doch die SPD noch im vergangenen Jahr mit der Angst vor den Folgen der Globalisierung und der Liberalisierung des Handels Wahlkampf gemacht und auf Ängste spekuliert, die in der Bevölkerung natürlich vorhanden sind, weil - darauf ist zu Recht hingewiesen worden - die Zusammenhänge noch nicht richtig dargestellt worden sind. ({0}) Weil Sie sich jetzt dafür aussprechen, stehen Sie stärker als in der Vergangenheit in der Pflicht, dafür zu sorgen, daß erklärt wird, warum die Veränderungen in der Weltwirtschaft Anpassungsleistungen auch von uns verlangen. Ich wünsche mir nur, daß Sie aus dieser Erkenntnis, die in dem Antrag deutlich wird, jetzt die Konsequenzen ziehen und auch dafür sorgen, daß die nötigen Reformen in Deutschland durchgeführt werden, die den Standort Deutschland in diesem schärfer werdenden Wettbewerb verbessern. ({1}) Bis jetzt haben Sie ja nur Dinge rückgängig gemacht, verzögert, verhindert und haben andere Dinge angekündigt, die vielleicht kommen werden. Meine Damen und Herren, es muß verantwortliche Wege geben, das internationale Regelwerk transparent, fair und wirksam weiterzuentwickeln. Dieses Regelwerk muß akzeptiert sein. Deshalb muß man auch darüber breit diskutieren. Es muß auch andere Instrumente geben, mit denen man die Wirklichkeit in dieser Welt ein wenig erfassen kann. Die Finanzkrise in Asien war sicher nicht das Ergebnis der Liberalisierung der Finanzmärkte. ({2}) - Moment. - Es wäre schon hilfreich gewesen, wenn man in der Lage gewesen wäre, durch entsprechende Indikatoren vorweg festzustellen, wer denn welchen Veränderungsbedarf hat, damit der Betreffende dann mit dieser Situation besser fertig geworden wäre. Es ist eben erst durch diese Krise offengelegt worden, daß es „good governance“ in diesen Ländern nicht gibt, ({3}) daß die Finanzarchitektur dort nicht stimmt, daß das Bankensystem dort nicht stimmt. Deshalb meine ich, daß man sich auch beim Fortgang der Diskussion in der WTO über Veränderungen solche Gedanken machen muß und daß wir integriert denken müssen. Das heißt aber nicht, daß man alles und jedes in der WTO auch regeln kann und muß. Insgesamt hat die Liberalisierung einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, daß es in der Welt Wohlstand gab und Entwicklung stattfand. Richtig ist aber auch - das ist hier mehrfach betont worden -: Das ist nicht überall in gleichem Maße geschehen. Vielmehr gibt es Verlierer, und gibt es Gewinner, und es gibt auch in bezug auf die Direktinvestitionen, deren Höhe, wie schon richtig gesagt worden ist, mittlerweile die Entwicklungshilfe überschreitet und die die eigentlichen Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung sind, große Unterschiede, und zwar reicht das von Null bis zu einer wirklich erkennbaren positiven Entwicklung. Ich glaube, daß wir deshalb gut daran tun, das, was die Entwicklungsländer in den letzten Wochen an vielen Stellen deutlich gemacht haben, ernst zu nehmen, nämlich daß es einen Fortschritt in der Liberalisierung nicht gibt, wenn ihre Interessen nicht besser als in der Vergangenheit berücksichtigt werden. Da gibt es schlicht und einfach einige Dinge, die die Industrieländer und auch wir zur Kenntnis nehmen müssen. Wir müssen auch hier in unserem Land die Anpassungen und Strukturveränderungen vertreten, die bei uns nötig sind, damit wir das gewährleisten können. Damit tun sich manche sehr schwer. Der Hintergrund ist: Alle Anforderungen hinsichtlich Sozialstandards und Umweltstandards werden doch von den Entwicklungsländern nicht pauschal abgelehnt. ({4}) Sie sind doch selbst daran interessiert, daß es eine zukunftsfähige Entwicklung gibt. Aber der pakistanische Wirtschaftsminister sagte neulich: „Pakistan ist ein armes Land; wir wollen keine Kinderarbeit; wir wollen eine intakte Umwelt, aber ihr müßt uns die Chancen geben, daß wir unsere Produkte verkaufen können, damit Kaufkraft entsteht und die Mittel für Gesundheit, Erziehung und die Entwicklung unseres Landes vorhanden sind. Dann werden wir uns auch den Standards nähern.“ ({5}) - Da hat sich in der Zwischenzeit ein bißchen geändert. Das ändert nichts an der grundsätzlichen Tatsache und daran, daß das ein Beispiel für viele andere Entwicklungsländer ist. Wenn Sie ein anderes Beispiel haben wollen, dann nenne ich den Namen Tofail Ahmed, dem Sie ja von seiner ganzen Biographie und politischen Geschichte her nicht unterstellen wollen, daß er etwas gegen Menschenrechte hat. Er sagt im Prinzip genau das gleiche und tritt dafür ein, daß diese Probleme jetzt stärker berücksichtigt werden. Deshalb bin ich sehr wohl der Meinung, daß man mit gutem Recht sagen kann: Wir müssen uns in der nächsten Runde auch einmal anschauen: Welche internationalen Regelwerke gibt es in bezug auf die drei Säulen von Nachhaltigkeit, nämlich Umwelt, Soziales und Ökonomie? Wir müssen aber auch danach fragen: Wie finden wir Instrumente, um Kohärenz herzustellen, ohne die Welthandelsorganisation jetzt zum Allheilmittel zu erklären? Das kann sie nämlich nicht sein. Wenn sie nämlich hinsichtlich ihrer Ausgestaltung beliebig wird, dann wirkt sie nicht mehr. Wir haben da, glaube ich, einen ganz gesunden Ansatz. Herr Kollege Loske, ich finde, man muß einfach vernünftig mit diesen Fragen umgehen. Sie haben dazu ja eingangs einige vernünftige Bemerkungen gemacht. Das heißt auch, zu akzeptieren, daß wir mit einigen Schritten, die seit Rio gemacht wurden, nicht zufrieden waren. Aber man muß auch akzeptieren, daß Handelssanktionen als Mittel für die Durchsetzung der Rio-Beschlüsse sicherlich niemandem nützen werden. Deshalb müssen die Auseinandersetzungen über die Themen innerhalb der WTO-Runde so geführt werden, wie es Frau Yolanda Kakobadse, die equadorianische Umweltministerin, formuliert hat: Wir müssen alles in allen Organisationen denken, aber wir müssen alles getrennt bearbeiten. Wir müssen hinterher sehen, wie die einzelnen Ergebnisse zusammenpassen. Dies ist der richtige Weg. Die neue WTO-Runde, in deren Rahmen nicht nur die alten Tagesordnungspunkte aufgegriffen werden, sondern auch das, was Herr Minister Müller gerade dargestellt hat - das muß nicht wiederholt werden -, bietet uns ausgesprochen gute Chancen, auch in Zukunft einerseits unsere wirtschaftlichen Vorteile zu nutzen - vorausgesetzt, wir sind bereit, unsere Hausaufgaben zu machen - und andererseits einen wesentlichen Beitrag dazu zu leisten, daß auch andere bessere Chancen zur Nutzung ihrer wirtschaftlichen Interessen erhalten. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich den Ansatz, die Interessen der ärmsten Länder innerhalb der WTO-Runde in den Vordergrund zu stellen und ihnen Chancen auf einen Marktzugang zu eröffnen. Ohne solche Chancen helfen alle WTO-Regelungen nichts. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die in Seattle beginnende Welthandelsrunde hat sich zum Ziel gesetzt, durch eine stärkere Liberalisierung den Wohlstand aller Menschen zu fördern. Davon sollen insbesondere die Entwicklungsländer profitieren; denn es ist unbestritten, daß die bisherigen Regelungen und deren Umsetzung vor allem den Industrieländern und zum Teil auch den Schwellenländern zugute gekommen sind. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß eine Öffnung der Märkte nicht automatisch zu steigendem Wohlstand für alle führt. ({0}) Wir müssen vielmehr die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen politisch gestalten, wenn soziale und ökologische Fortschritte im Sinne aller Beteiligten erzielt werden sollen. Die WTO muß Regelungen festlegen, die uns und auch die Menschen in den Entwicklungsländern insbesondere vor einem ungezügelten Umweltverbrauch und den fatalen Auswirkungen von Sozialdumping schützen. Gleichzeitig gilt es, den Ländern des Südens Entwicklungschancen zu eröffnen. Hier scheint im Vorfeld ein Gegensatz zu bestehen; denn die Entwicklungsländer fürchten - auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen auch nicht zu Unrecht -, daß hinter dem Wunsch nach einer stärkeren Berücksichtigung von Umwelt- und Sozialstandards protektionistische Bestrebungen der Industrieländer stehen könnten. Die Lösung dieses Problems besteht weder darin, diese Bedenken einfach vom Tisch zu wischen, noch darin, auf die Einbeziehung von Umwelt- und Sozialnormen in die internationalen Handelsbeziehungen zu verzichten. Eine saubere Umwelt ist nicht nur ein Anliegen der Menschen in den Industrieländern. Der Schutz vor elementarer Ausbeutung ist vor allem in den sogenannten Entwicklungsländern - egal, in welchem Entwicklungsstadium sie sich befinden - dringend notwendig. ({1}) Die EU wird Zugeständnisse machen müssen, gerade dann, wenn sie die für uns wichtigen Beschlüsse über die Themen „Handel und Umwelt“ und „Handel und Sozialstandards“ erzielen möchte. Es wird nicht ausreichen, die Notwendigkeit der Einbeziehung multilateraler Umweltabkommen und der ILO-Kernstandards mit dem Interesse aller Menschen global zu begründen. Die Industrieländer müssen zeigen, daß sie bereit sind, ihren Wohlstand langfristig mit den Menschen im Süden zu teilen. ({2}) Deshalb müssen die Märkte gerade für die Produkte der Entwicklungsländer geöffnet werden, die diese Länder im Moment überhaupt exportieren können, also vorrangig im Agrar- und Textilbereich. Dies ist der richtige Zusammenhang von Chancen durch Liberalisierung und notwendigen Regulierungen. Deren Gestaltung ist die zentrale politische Aufgabe in Seattle. Die Verhandlungen über den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten wurden schon im Rahmen der UruguayRunde fest vereinbart. Vor allem die Entwicklungsländer drängen auf stärkere Zugeständnisse insbesondere der EU. Natürlich ist es so, daß nicht alle Entwicklungsländer identische Interessen haben. Die nahrungsmittelexportierenden Länder haben selbstverständlich ein viel größeres Interesse an Liberalisierungen im Agrarhandel als diejenigen, die auf Nahrungsmittelimporte angewiesen sind. Dennoch: Exportsubventionen und geschlossene Märkte im Norden führen nicht nur zur Verringerung von Exportchancen der Entwicklungsländer, sondern auch zu Marktverzerrungen auf den internen Märkten der Entwicklungsländer, auch in den Ländern, die nach wie vor auf die Einfuhr von Lebensmitteln angewiesen sind. Oft wird gerade die Existenzgrundlage von Kleinbauern durch subventionierte Produkte gefährdet. Wir alle kennen die Auswirkungen der Rindfleischexporte aus der EU insbesondere nach West- und Südafrika. Deswegen müssen wir die Exportsubventionen weiter abbauen ({3}) und außerdem die „blue box“ auf ihre Entwicklungsverträglichkeit hin prüfen sowie die „green box“ erweitern. Mit der Verabschiedung der Agenda 2000 hat sich die EU in die richtige Richtung bewegt, wenn auch noch nicht ausreichend. Vor allem die Maßnahmen, die in der sogenannten „blue box“, also produktgebundene direkte Zahlungen und Marktpreisstützungen, zusammengefaßt sind, müssen weiter reduziert werden. Zu begrüßen ist der EU-Vorschlag, daß alle Industrieländer in der WTO Nullzollsätze für die Exporterzeugnisse aus den am wenigsten entwickelten Ländern ab 2003 anwenden sollen. ({4}) Neben diesen Liberalisierungsschritten bedarf es aber vor allem regulierender Maßnahmen zur Ernährungssicherung. Die Entwicklungsländer müssen selbst in die Lage versetzt werden, dafür notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Wir sollten gerade nicht eine undifferenzierte Liberalisierung fördern, sondern vorrangig Maßnahmen ergreifen, die allen Menschen das Überleben sichern. Die Einführung einer „bread box“ stellt hier ein geeignetes Mittel dar. Diese enthält genau definierte Programme im Grundnahrungsmittelbereich, die der Ernährungssicherung und Hungerbekämpfung dienen. Im Vorfeld der WTO-Verhandlungen gibt es unterschiedliche Sichtweisen bei Entwicklungs-, Agrar-, Umwelt- und Wirtschaftspolitikern. Entscheidend für die Akzeptanz der Seattle-Runde wird sein, daß es zu einem fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Entwicklungsländer, den Verbraucherinteressen und auch den Interessen der europäischen Landwirtschaft kommt. Eine zentrale Forderung in unserem Antrag bezieht sich auf die Verhandlungsmacht bzw. -ohnmacht der Entwicklungsländer bei den WTO-Verhandlungen. Wir wollen dafür sorgen, daß diese Länder wirksame Mitsprache-, Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten in der WTO bekommen. So können regionale Kooperationen der Entwicklungsländer in diesem Bereich gefördert und kann bei der Rechtsberatung und -durchsetzung Unterstützung gewährt werden. Es wäre auch sinnvoll, wenn Deutschland überlegte, sich der Initiative anderer Länder anzuschließen, ein unabhängiges Institut für WTO-Recht mitzutragen. In diesem Zusammenhang finde ich es ausgesprochen wichtig, daß das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etwa 4 Millionen DM für Qualifizierungsmaßnahmen bereitstellt. Dieser Weg sollte weitergegangen werden. Diskutieren wir also hier nicht nur über die Interessen, die die Entwicklungsländer haben, sondern sorgen wir dafür, daß sie diese Interessen selbst formulieren und vertreten können! Ich danke Ihnen. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zuerst meiner Fraktion danke schön sagen, daß sie mir noch ein paar Minuten Zeit gegeben hat, damit ich zu dem sehr schwierigen Bereich der Agrarfragen doch noch einige Worte sagen kann. Die Fragen der Agrarwirtschaft, die sich in Fortsetzung der Uruguay-Runde stellen, sind natürlich sehr konkret zu fassen. Hier geht es um sehr konkrete Auswirkungen, unter anderem auf unsere Landwirtschaft und die vor- und nachgelagerten Bereiche. Die Agrardiskussion wird sich im Spannungsfeld zwischen den Cairnsländern, den USA, Europa, aber auch den Entwicklungsländern abzeichnen. Das ist der Bogen, der hier zur Diskussion steht. In diesem Spannungsfeld legen wir natürlich sehr großen Wert darauf, daß das EUAgrarmodell nicht unter die Räder kommt, daß das EUAgrarmodell erhalten bleibt, weil es vielfältige Aufgaben erfüllt. Man muß einfach sagen: Es geht nicht nur um die Produktion von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sondern auch - weit darüber hinaus - um den vor- und nachgelagerten wirtschaftlichen Bereich. Es geht um die Pflege der Kulturlandschaft, und es geht um eine nachhaltige Bewirtschaftung. ({0}) Eine nachhaltige Bewirtschaftung praktiziert eben nicht den Raubbau an der Natur, wie es in vielen Teilen der Erde, übrigens auch in Nordamerika, leider Gottes der Fall ist. Wir betreiben in Europa eine nachhaltige Agrarbewirtschaftung. Zur Agenda 2000 muß man klar und deutlich sagen sie hat die Voraussetzungen für die WTO-Runde schaffen sollen -, daß einiges versäumt worden ist. Ich spreche zum Beispiel den Milchsektor an. Er wurde nicht geregelt; vielmehr wurde seine Regelung ins Jahr 2005 verschoben. Wenn es darum geht, die aufgehäuften Überschüsse bei Milch und Rindfleisch auf den Weltmärkten absetzen zu müssen, dann kommen wir automatisch in eine sehr schwierige Diskussion. Das wird das Thema Nummer eins in den WTO-Verhandlungen sein, bei denen die europäische Landwirtschaft unter Druck kommen wird. Wir werden erklären müssen, was es für einen Sinn macht, Nahrungsmittel zu produzieren, die auf dem europäischen Markt nicht absetzbar sind, die gelagert werden müssen und letztendlich mit Steuergeldern in die Dritte Welt exportiert werden, wo sie zum Teil verheerenden Schaden anrichten. Dieser Schaden ist finanzpolitisch, agrarpolitisch, aber auch entwicklungspolitisch nicht zu verantworten. Er ist erst recht so nicht weiter zu finanzieren. Auf die hiermit verbundenen Fragen hat die Agenda 2000 keine Antwort gegeben. Bei aller Kritik an der europäischen Agrarpolitik muß man auch sehen, daß mehr Länder im Glashaus sitzen, zum Beispiel die USA. Sie verstehen es, in einer vorzüglichen Art und Weise die Förderung ihrer Agrarsektoren, ihrer Landwirte in vielerlei Programmen zu verstecken. Wenn es darauf ankommt, dann schieben die USA 13 Milliarden über den Tisch und leisten zusätzliche Hilfe - was in Europa überhaupt nicht denkbar ist. Wir haben gesetzlich klar fixierte Regelungen über die Abläufe, die für jeden leicht erkennbar und somit ob unserer Politik - auch leicht einklagbar sind. Die Politik der Amerikaner in dieser Frage ist ausgesprochen verwaschen; deshalb kommt sie etwas eleganter über die Diskussion hinweg. Herr Minister Müller, die Aufgabe der Europäer wird es sein, dafür zu sorgen, daß eine klare Diskussion zum Beispiel über die Förderregelungen in den USA geführt wird. Wir dürfen uns in diesem Punkt nicht über den Tisch ziehen lassen. ({1}) Ich hätte mir selbstverständlich gewünscht, daß wir im Hormonstreit mit den USA einen Schritt weitergekommen wären und daß endlich einmal die schon lange in Aussicht gestellten Gutachten auf dem Tisch liegen, damit wir, wissenschaftlich begründet, wissen, ob dieses Hormonfleisch Nachteile für die menschliche Gesundheit bringt. Ich habe die Sorge, daß dieser Streit die WTO-Verhandlungen zusätzlich belastet. Deshalb richte ich von hier aus die Aufforderung an die Kommission, möglichst schnell einen wissenschaftlich begründeten Bericht vorzulegen. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Kommen Sie bitte zum Schluß, Herr Kollege.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ziel der WTO-Runde muß es sein, daß bei einer weiteren Liberalisierung weder die Entwicklungsländer noch das europäische Agrarmodell, das heißt die europäische Landwirtschaft, unter die Räder kommen dürfen. Es muß hart gehandelt und hart verhandelt werden; denn - ich habe das schon eingangs gesagt - es sind Maßstäbe anzulegen, die man verteidigen muß und die für unsere Einkommen in der Landwirtschaft ausschlaggebend sind.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie mich noch einen Satz sagen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Einen Satz, aber bitte keinen ganzen Gedanken mehr.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wie hart die Verhandlungen sein werden, zeigt sich daran, daß Kommissar Lamy bereits gesagt hat: Die Europäer werden im Agarbereich nachgeben müssen. Er stellt ein Nachgeben also schon in Aussicht. Ich wünsche uns allen ein gutes Standing. Ich bedanke mich. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Rolf Hempelmann, SPD-Fraktion.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorbereitung der dritten WTO-Ministerkonferenz - dies ist heute in verschiedenen Debattenbeiträgen deutlich geworden hat die Bundesregierung, hat aber auch die Europäische Union eine führende Rolle übernommen. Ich denke, dies ist eine Erwähnung wert, weil sich dies auch deutlich dagegen abgrenzt, wie ernst diese Dinge in früheren Jahren von früheren Regierungen genommen worden sind. Ich möchte ausdrücklich das gute Zusammenspiel zwischen der Europäischen Kommission und der finnischen Ratspräsidentschaft erwähnen, die über mehrere Monate hinweg an einer gemeinsamen Position der Europäischen Union gearbeitet haben. Die Union hat sich also intensiv auf die neue WTO-Runde vorbereitet. Sie hat damit auch ihrer gestiegenen Verantwortung nicht nur in Europa, sondern in der gesamten Welt Rechnung getragen. Die Stärke der Europäischen Union als großer Handelsmacht liegt vor allen Dingen in der gemeinsamen Interessenvertretung ihrer 15 Mitgliedstaaten. Diese haben es verstanden, ihre Interessen noch stärker zu bündeln als in der Vergangenheit. Nun müssen sie sie auch erfolgreich nach außen vertreten. ({0}) All das garantiert natürlich noch nicht, daß die von uns nun gemeinsam festgelegten Ziele in den WTOVerhandlungen auch tatsächlich erreicht werden können. Auch dies ist von verschiedenen Rednern bereits angedeutet worden. In den wenigen Wochen bis Seattle wird es deswegen darauf ankommen, daß in Vorgesprächen mit anderen nichteuropäischen WTO-Mitgliedern Annährungsprozesse organisiert werden, insbesondere mit den Entwicklungsländern, aber zum Beispiel natürlich auch mit der Weltwirtschaftsmacht Nummer 1, den USA. Wie wichtig Vorgespräche sind, zeigt das gestern zwischen dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi, geführte Gespräch, in dem offensichtlich eine erste Annäherung in unterschiedlichsten Positionen erreicht werden konnte. Dies heißt natürlich noch nicht, daß dies von seiten der USA auch zu einer gemeinsamen Position wird. Wir alle kennen die komplexen Zusammenhänge und insbesondere auch den Einfluß des Kongresses. Besondere Bedeutung - dies ist hier ebenfalls mehrfach gelobt worden - hat die Europäische Kommission den Entwicklungsländern beigemessen. In diesem Zusammenhang ist heute eine ganze Reihe von Zielen genannt und diskutiert worden. Ich will sie nicht im einzelnen wiederholen. Klar ist: Die WTO-Konferenz wird nur dann zu einem erfolgreichen Abschluß gelangen, wenn sich alle Teilnehmerländer in den Ergebnissen wiederfinden. Das bedeutet, daß sich die Interessen der Entwicklungsländer auch in den Ergebnissen von Seattle und auch in der Tagesordnung der Millenniumsrunde wiederfinden müssen. Wer sich mit der Materie beschäftigt hat, wird wissen, daß es sich hierbei um einen langwierigen und schrittweise zu vollziehenden Prozeß des gegenseitigen Gebens und Nehmens handelt wird. Insofern, Herr Brüderle, ist es eine unzulässige Verfälschung - keine Vereinfachung, sondern eine Verfälschung -, wenn Sie davon sprechen, daß es nicht im Interesse der Entwicklungsländer liege, schrittweise zu einer Übernahme von modernen Arbeits- und Sozialnormen zu kommen. ({1}) Es geht nämlich nicht nur um Länder, es geht auch um Menschen. ({2}) Komparative Vorteile sind, wenn sie dazu dienen, Menschen auszubeuten, keine Vorteile, die zu unterstützen sind. Im übrigen ist aber klar - ich glaube, ich habe das eben auch deutlich gemacht -, daß wir den Entwicklungsländern selbstverständlich die Chance geben müssen, an den Märkten teilzunehmen und teilzuhaben. Dann wird auch dort die Bereitschaft wachsen, sich auf das Thema Arbeits- und Sozialstandards einzulassen. ({3}) Im übrigen hat man gemerkt, Herr Brüderle, daß Ihre Rede schon etwas abgelagert war. Sie müßten wissen, daß es inzwischen - seit vorgestern nämlich - eine gemeinsame Position in der Europäischen Union gibt. ({4}) Es ist klar, daß es ein Arbeitsforum geben soll. Das wird jedenfalls der Vorschlag sein, den die EU mit nach Seattle nehmen wird. Es wird ein Arbeitsforum von WTO und ILO geben. Ich denke, das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung; die deutsche Handschrift ist eindeutig zu erkennen. Der Begriff des Arbeitsforums - um das deutlich zu machen -, auf den sich die Union geeinigt hat, dokumentiert Ziel- und Ergebnisorientiertheit. Meine Damen und Herren, klar ist in diesem Zusammenhang, daß den Entwicklungsländern Marktzugang und Marktöffnung angeboten werden müssen. Ich habe das schon angedeutet: Nur so werden sie ihrerseits einen schrittweisen Annäherungsprozeß an westliche Arbeitsund Sozialstandards vollziehen. Das am Dienstag dieser Woche in Lausanne stattgefundene Vorbereitungstreffen für die WTO-Konferenz hat im übrigen deutlich werden lassen, daß es weltweit natürlich noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den unterschiedlichen Handelsnationen gibt, und zwar insbesondere in bezug auf die Frage der Millenniumsrunde. Bislang hat sich insbesondere die Regierung der USA auf einige wenige Themenbereiche beschränkt, die ihrer Ansicht nach im November/Dezember in Seattle Aussicht auf Erfolg haben. Das Interesse der USA ist natürlich doppelt motiviert: Einerseits stehen sie als Gastgeberland unter einem gewissen Erfolgsdruck, andererseits werfen die im nächsten Jahr stattfindenden Präsidentschaftswahlen ihre Schatten voraus. Aber diese amerikanische Interessenlage gibt natürlich anderen, die am Verhandlungstisch sitzen, entsprechende Verhandlungsspielräume.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Sie überziehen bereits seit 40 Sekunden.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber Sie rechnen mir nicht die Zeit von anderen Fraktionen an?

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nein.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Insofern will ich deutlich machen, daß es wichtig ist, daß wir, gerade weil die InRolf Hempelmann teressenlage auch der anderen so deutlich ist, an dem Prinzip des „single undertaking“ festhalten. Das Prinzip „Nichts ist beschlossen, bevor nicht alles beschlossen ist“ muß gelten. Nur so kann sichergestellt werden, daß die Konferenz am Ende ein Erfolg wird. Ich wollte noch das eine oder andere hinzufügen und wundere mich ein bißchen, daß die Zeit schon um ist.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sie können das doch sehen, Sie müssen nur hinschauen.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich verzichte deswegen auf das, was ich mir sonst noch vorgenommen habe. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Göhner, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, diese Debatte und auch die Anträge der Regierungskoalition wie der CDU/CSU weisen in den Grundzügen zur Welthandelspolitik eine erfreuliche und beachtliche Gemeinsamkeit auf. Die im Entwurf formulierte Position der Europäischen Union für das Verhandlungsmandat von Seattle findet auch unsere Zustimmung, das will ich hier ausdrücklich festhalten. Ich will mich aber mit den unterschiedlichen, sagen wir: Akzenten beschäftigen, die in dieser Debatte eine Rolle gespielt haben, insbesondere im Zusammenhang mit der Frage der Umwelt- und Sozialstandards. Ich glaube nämlich, daß diese Debatte ein Stück illusionär ist und einige Unehrlichkeiten beinhaltet. Aus unserer Sicht, aus europäischer Sicht, unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Interessen ist natürlich die Schaffung etwaiger Umwelt- und Sozialstandards als Bestandteil des WTO-Regimes eine feine Sache; denn solche Standards werden meilenweit unter dem EU-Level bleiben. Aber der Grat zum Protektionismus gegenüber solchen Bestrebungen ist sehr schmal. Das muß man bedenken. Die WTO wird - Kollege Hempelmann, Sie haben das vorhin im gleichen Atemzug mit Marktöffnung und Arbeits- und Sozialstandards genannt - die mit dieser Verhandlungsrunde beabsichtigte notwendige Öffnung vor allem hinsichtlich der Entwicklungs- und Schwellenländer nicht vornehmen können, wenn sie sich gleichzeitig als eine Art Weltgesetzgeber für Umweltund Sozialstandards aufschwingen würde. Das wird nicht klappen. ({0}) Unter dem Vorwand, weltweit mehr für Umwelt und Soziales tun zu wollen, lassen sich eben auch sehr leicht protektionistische Neigungen fördern. Ich bin etwas skeptisch, wenn ich höre, wer diese Forderungen erhebt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin SkarpelisSperk?

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Frau Kollegin.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Göhner, darf ich Sie darüber informieren, daß die Internationale Arbeitsorganisation bei der Forderung nach Kernarbeitsnormen mittlerweile nur mehr einen Kernbestand verlangt, der unter anderem ein Verbot der Arbeit von Kindern unter zehn Jahren sowie ein Verbot der Arbeit von älteren Kindern, soweit sie nicht mit einer Ausbildung verbunden werden kann, das Verbot der Lohnsklaverei und das Verbot der gewalttätigen Unterdrükkung von Gewerkschaften enthält? Wenn wir diese drei zentralen Punkte als selbstverständliche Grundnormen der Menschen in eine Welthandelsordnung einbringen wollen, dann ist zu fragen, was daran Protektionismus ist. Sind das, zum Beispiel das Verbot der Lohnsklaverei, nicht selbstverständliche Werte, die immer und überall durchgesetzt werden sollten? ({0})

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich kann Ihre Fragen mit Ja beantworten und Ihnen ausdrücklich zustimmen. Deshalb stimme ich auch der Position der EU zu - Sie offensichtlich nicht -, die diese Dinge jetzt nicht zum Bestandteil des WTO-Regelwerks machen will, sondern die darüber in einem Arbeitsforum - so heißt das jetzt - mit der ILO einen Dialog führen will und die Zuständigkeit sowohl für die Normensetzung als auch für die Durchsetzung bei der ILO beläßt. Dafür trete ich ein; das halte ich für richtig. Ich glaube nämlich, daß die jetzt gefundene EU-Position ein guter Kompromiß ist. Die Bundesregierung hat ihre vorherige Position aufgegeben. Das war vernünftig. Der beste Beitrag, den die WTO gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern zur Schaffung von Umwelt- und Sozialstandards leisten kann, besteht darin, eine Marktöffnung für diese Länder zu ermöglichen. ({0}) Nur wenn diese Länder die Chance haben, sich ökonomisch nachhaltig zu entwickeln, werden sie ihre sozialen und ökologischen Standards verbessern. Ich wiederhole: Ich unterstütze deshalb die gemeinsame EU-Position, wie sie als Entwurf vorliegt. Minister Müller hat soeben erklärt, daß die Bundesregierung diese Position ebenfalls unterstützen wird. Im Antrag der Regierungsfraktionen ist die Rede davon, daß man im Rahmen der Schaffung von Umweltstandards in den WTO-Regelwerken zum Beispiel Rücknahmeverpflichtungen verankern sollte. Ich will dies jetzt nicht ins Lächerliche ziehen; aber Sie glauben doch nicht im Ernst, daß es tatsächlich WTO-Regeln geben könnte, die unseren Pfand- bzw. Rücknahmeregelungen, unserem dualen System oder unserer Verpackungsordnung ähnlich wären. ({1}) Das wäre völlig überzogen. Das ist die Illusion eines Weltgesetzgebers, die Sie nicht verbreiten sollten. ({2}) Für die nächste WTO-Runde muß es ein breites Themenspektrum geben. Darin sind wir uns alle einig. Das, was dort verhandelt werden soll, muß paketfähig werden. Rolf Langhammer hat in der heutigen Ausgabe des „Handelsblattes“ zu Recht geschrieben, daß die Welthandelsordnung vor Überfrachtung geschützt werden muß. Dies muß gerade im Interesse der Länder aus dem Bereich der Entwicklungs- und Schwellenländer geschehen, die nach einem Marktzugang fragen und die den Vorwurf artikuliert haben, daß es zu viele Marktbarrieren gibt. Wir müssen ein Stückchen mehr verinnerlichen, daß die Bundesrepublik Deutschland in Seattle nicht am Verhandlungstisch sitzt, sondern daß die EU-Kommission bzw. die EU Partner der WTO ist. ({3}) Wir haben in Form des EU-Binnenmarktes ein besonderes Beispiel dafür gesetzt, wie man durch Marktöffnung, durch die Abschaffung von Zöllen, die Beseitigung von nichttarifären Handelshemmnissen und durch die Schaffung gemeinsamer Rechtsgrundlagen für Investitionen und - Herr Brüderle hat völlig recht - für Wettbewerb erfolgreiche Ansätze für Wachstum und Beschäftigung entwickeln kann. Das haben wir innerhalb der Europäischen Union umgesetzt. Dies war ein großartiges Programm im Hinblick auf Wachstum und auf eine nachhaltige ökologische Entwicklung. Um ähnliche Ziele geht es primär bei dieser WTORunde. Wir brauchen dazu eine umfassende Agenda. Das vorrangige Ziel der weiteren Liberalisierung des Welthandels ist, Märkte zu öffnen und Hindernisse sowie Bremsklötze im Hinblick auf den Marktzugang zu beseitigen. Noch immer gibt es in wichtigen Produktbereichen - auch in Industrieländern - Zölle bis zu einer Höhe von 20 Prozent. Es gibt große Entwicklungs- und Schwellenländer, die Zölle von durchschnittlich bis zu 39 Prozent haben. Der Marktzugang wird häufig durch nichttarifäre Handelshemmnisse behindert, insbesondere bei technischen Standards und Normen. Diese Hindernisse sind auszuräumen. Das aber geht nicht durch eine separierte Behandlung von Teilmärkten, wie es offenbar in den USA geschieht, sondern nur, indem man Industriegüter, Dienstleistungen und Agrarprodukte, den Welthandel insgesamt, zum Gegenstand der Agenda macht. Ich denke aber, daß man nach dem Gespräch zwischen Prodi und Clinton zuversichtlich sein kann, daß es gelingt, für Seattle eine gemeinsame Tagesordnung, eine paketfähige Agenda zustande zu bringen. Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Landwirtschaft sagen. Der Kollege Heinrich hat völlig recht: Das ist ein besonders wichtiger und aus europäischer Sicht problematischer Bereich. Ich verstehe die Sorgen der europäischen Landwirtschaft, insbesondere der deutschen Landwirtschaft nach dem Kahlschlag, wie er in den letzten Monaten durch die steuer- und sozialpolitischen Vorschläge der Bundesregierung auch gegen wettbewerbsfähige Betriebe betrieben wurde. Ich kann deshalb nachvollziehen, wenn diesem Projekt bei der nächsten WTO-Runde große Skepsis entgegengebracht wird. Ich glaube aber, daß die Interessenunterschiede zwischen den USA und der EU überschätzt werden. Auch in Sachen Landwirtschaft gibt es gemeinsame Interessen. Es ist ja nicht so, als hätten die USA für ihre Landwirtschaft kein Subventionssystem. Im Gegenteil, quantitativ übertrifft es das der EU gewaltig. Meiner Ansicht nach ist das, was in der Verhandlungsposition der EU zum Ausdruck kommt, richtig: Die Landwirtschaft ist multifunktional. Auch in Zukunft muß eine flächendeckende Landwirtschaft möglich sein. Flächenbezogene Unterstützungsleistungen - diese gibt es in verkappter Form auch in den USA - müssen daher erhalten bleiben. Der Veränderungsdruck auf den europäischen Agrarmarkt durch die von uns allen gewünschte und betriebene Erweiterung der Europäischen Union wird viel gravierender sein als der Veränderungsdruck, der sich aus der WTO-Runde ergibt. Bei der WTO-Runde wird man die EU-Erweiterung mit im Blick haben müssen, damit nach dem Kahlschlag, den Sie als Koalition gegen die Landwirtschaft in Angriff genommen haben, wettbewerbsfähigen, zukunftsträchtigen, gut strukturierten Betrieben bei uns nicht jede Chance genommen wird. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhold Hemker, SPD-Fraktion.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daß die nächste WTORunde schwierig wird, ist nicht erst in der heutigen Debatte deutlich geworden. Nur, eines muß klar sein - das sage ich insbesondere an die Adresse der Kollegen Göhner und Heinrich -: Eine Verhandlungsgrundlage ist vorhanden, nämlich die Agenda 2000, die für die europäischen Mitgliedstaaten hilfreiche Wege in die richtige Richtung vorgegeben hat. Wir haben mit dem Antrag auf Drucksache 14/1860 bewußt einen wichtigen Aspekt dieses gesamten Bereiches herausgegriffen, nämlich die Kohärenzproblematik, insbesondere bezogen auf das bis heute schwierige Verhältnis von EU-Agrarpolitik und Entwicklungspolitik, bilateral oder multilateral verankert. Wenn jetzt der „Rat Landwirtschaft“ auf EU-Ebene darauf hinweist, daß die Europäische Union vorgeschlaDr. Sigrid Skarpelis-Sperk gen hat, daß die in Seattle tagenden WTO-Minister die Verpflichtung - ich zitiere - „eingehen sollen, spätestens am Ende der neuen Verhandlungsrunde für im wesentlichen alle Erzeugnisse, die von den am wenigsten entwickelten Länder ausgeführt werden, einen abgabefreien Marktzugang sicherzustellen“, dann ist das bereits ein Erfolg auch der deutschen Verhandlungsführung auf EU-Ebene, insbesondere des Ministers Funke und der Ministerin Wieczorek-Zeul. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit zur Steigerung der Agrarproduktion in den genannten Ländern und auch die im Rahmen der Strukturanpassung geforderte Ausweitung der Exporte werden daher eher zum Erfolg führen als in der Vergangenheit. Dies gilt im Zusammenhang mit der Festlegung des Agrarteils in der Agenda 2000 wegen der Preisgestaltung auch für die europäischen Landwirte. Das ist meiner Ansicht nach ebenfalls ein Erfolg für die Festlegung der Verhandlungsposition mit Blick auf die Konferenz in Seattle. Dabei wurden und werden aber auch nicht die Anliegen - das will ich deutlich sagen der deutschen und europäischen Landwirte vergessen, die im Zuge der Umsetzung des Agrarteils der Agenda 2000 unter anderem wegen der Neugestaltung der Preise, die sich am Weltmarktniveau orientieren sollen, neue Chancen für ihre Produkte mit sehr hohem Qualitätsstandard bekommen. Es geht also, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer auch um ein faires Ausloten der jeweiligen Interessen. Dabei muß man sich bemühen, politische Maßnahmen und Programme so zu gestalten, daß positive Entwicklungen in einem Bereich nicht durch Maßnahmen in anderen Bereichen behindert werden. Ein Problem ist und bleibt dabei die Subventionierung von EU-Exporten in Entwicklungsländer, durch die es zu Marktstörungen und zur Schwächung der dortigen Produzenten kommt. Auch hier hat der deutsche Beitrag zur Gestaltung der Agenda 2000 den richtigen Weg vorgezeichnet. ({1}) Im Gegensatz zur immer wieder geäußerten Einschätzung sage ich, daß sich das Ergebnis sehen lassen kann, auch wenn noch, Kollege Heinrich, Regelungsbedarf bei der Umsetzung hier in Europa und bei den Verhandlungen in Seattle besteht. Besonders wichtig ist mir in der jetzigen Situation der Hinweis, daß die Bundesregierung darauf hinwirken soll, die sozialen und ökologischen Standards bei den Verhandlungen verstärkt zum Thema zu machen. Man sollte hier doch nicht so tun, als ob es das nicht schon in der Vergangenheit bei anderen internationalen Organisationen auf UNO-Ebene gegeben hat. Das ist nicht neu. Für die Verhandlungen muß auf jeden Fall noch ein klarer Auftrag für die Verhandlungsführer formuliert werden. Konkret heißt das - wir haben das in dem von mir genannten Antrag auch so formuliert -: Die Grundlagen für die Beschlüsse mit einer Beschreibung ihrer Auswirkungen sind in zwei gesonderten Arbeitsgruppen „Handel und Sozialnormen“ und „Handel und Umwelt“ zu beraten. Dabei - auch das ist Bestandteil unserer Vorstellungen - muß die besondere Bedeutung der Kohärenz durchgängig Gegenstand der Erläuterungen sein. Die WTO-Verhandlungen müssen auch immer den Aspekt der Ernährungssicherung, der Entwicklungsverträglichkeit und der Nachhaltigkeit zum Gegenstand haben. Dabei geht es - Frau Kollegin Köster-Loßack hat schon darauf hingewiesen - um die richtige Einordnung der Blue-box-Maßnahmen und die nachhaltige Unterstützung der Green-box-Maßnahmen. Es wird sehr darauf ankommen, welcher Stellenwert diesem Bereich bei den Verhandlungen eingeräumt wird und daß das Thema Handel im Zusammenhang mit den Strukturanpassungsprogrammen nicht allein in den Vordergrund gestellt wird. Dies geschieht leider immer wieder. ({2}) Das Ziel der Ernährungssicherung muß neben dem Schutz des Lebens und der Gesundheit als weiteres schützenswertes Rechtsgut aufgenommen werden. Ferner wird es darum gehen, daß die WTO durch ihre Regeln und ihre Schiedsgerichtsverfahren garantiert, daß die möglichen Zielkonflikte zwischen Handel und beispielsweise Ernährungssicherung, Umwelt, Verbraucherschutz, Regionalentwicklung oder ländlicher Beschäftigung angemessen berücksichtigt werden. Bei einer Güterabwägung genießt dabei der Handel nicht automatisch Vorrang. Es geht um eine klare Regelung des Verhältnisses von WTO-Regeln und internationalen Abkommen. Die Ergebnisse der neuen WTO-Runde müssen dazu führen, daß faire Partnerschaft im Rahmen globalisierter Märkte entstehen kann. Wer will, daß die weniger entwickelten Staaten stärkere Partner werden, muß ihnen mehr Chancen zur Entwicklung und zur Beteiligung am Weltmarkt einräumen. ({3}) Handel und Entwicklungszusammenarbeit sind insbesondere im Bereich der Agrar- und Ernährungswirtschaft zwei Seiten einer Medaille. Wir haben entsprechende Vorstellungen und Forderungen entwickelt. Wenn die in Aussicht stehende weitere Liberalisierung die Nahrungsmittelsicherung für die Ärmsten der Welt be- oder sogar verhindert und keine Maßnahmen im Sinne einer Food-security-Box ergriffen werden, dann spaltet man die Welt noch mehr. Auch darauf wurde heute mehrfach hingewiesen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Kommen Sie bitte zum Schluß, Herr Kollege.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Forderungskatalog unseres Antrages zur Kohärenz konkretisiert die Forderungen des Antrages zur Weiterentwicklung des Welthandelssystems unter diesem Aspekt und führt sie unter den anderen angesprochenen speziellen Aspekten weiter. Herzlichen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu einer umfassenden Weiterentwicklung des Welthan- delssystems auf Drucksache 14/1861. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange- nommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/1664, 14/1834 und 14/1860 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17a bis 17i sowie Zusatzpunkt 5 auf: 17. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Mai 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Kuwait zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Belebung der wirtschaftlichen Beziehungen - Drucksache 14/1841 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({0}) Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ({1}) - Drucksache 14/1830 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({2}) Innenausschuß Rechtsausschuß c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statistiken der Schiffahrt und des Güterverkehrs - Drucksache 14/1829 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) Innenausschuß Rechtsausschuß d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ver- einbarung vom 19. Mai 1998 zwischen der Re- gierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Fürstentums Liechtenstein über das Verwaltungsverfahren bei der An- meldung neuer Stoffe - Drucksache 14/1710 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Win- fried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Bau- und Betriebsordnung für Regionale Ei- senbahnstrecken - Drucksache 14/998 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Christian Schmidt ({4}), Karl Lamers, Peter Hintze und der Fraktion der CDU/ CSU Versöhnung durch Ächtung von Vertreibung - Drucksache 14/1311 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({5}) Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuß für Kultur und Medien g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({6}), Kerstin Müller ({7}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Verbot des Mitführens von Radar- und Laserwarngeräten in Kraftfahrzeugen - Drucksache 14/1351 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Rechtsausschuß h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Zeitweilige Aussetzung der Möglichkeit zur Erhöhung der Nutzungsentgelte - Drucksache 14/1718 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({9}) Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Wirkungen der Nutzungsentgeltverordnung sowie zu notwendigen Änderungen - Drucksache 14/1479 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({10}) Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Düngemittelgesetzes - Drucksache 14/1857 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({11}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weiterentwicklung der deutsch-tschechischen Beziehungen - Drucksache 14/1873 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({12}) Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuß für Kultur und Medien Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zu Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 a auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 91/440/EWG zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 95/18/EG über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Zuweisung von Fahrwegkapazitäten, die Erhebung von Wegeentgelten im Eisenbahnverkehr und die Sicherheitsbescheinigung Arbeitsunterlage der Kommission Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln des Vorschlags für eine Richtlinie über die Zuweisung von Fahrwegkapazität, die Erhebung von Wegeentgelten im Eisenbahnverkehr und die Sicherheitsbescheinigung - Drucksachen 14/74, Nr. 2.102, 14/1332 ({14}) Berichterstattung: Abgeordneter Albert Schmidt ({15}) Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/1332 ({16}) in Kenntnis der EU-Vorlage 11375/98, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 b auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({17}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung ({18}) des Rates Festlegung der Modalitäten und Bedingungen für die Strukturmaßnahmen im Fischereisektor - Drucksachen 14/488 Nr. 2.3, 14/1570 Berichterstattung: Abgeordnete Christel Deichmann Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 14/1570 in Kenntnis der EU-Vorlage 13605/98, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 c auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 84 zu Petitionen - Drucksache 14/1722 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 84 ist bei einigen Gegenstimmen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 d auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 85 zu Petitionen - Drucksache 14/1723 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 85 ist bei Gegenstimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 e auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 86 zu Petitionen - Drucksache 14/1724 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 86 ist bei Enthaltung der PDS angenommen. Vizepräsidentin Anke Fuchs Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 f auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 87 zu Petitionen - Drucksache 14/1725 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der PDS angenommen. Wir kommen noch einmal zum Tagesordnungspunkt 3. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1854 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Innenausschuß, den Rechtsausschuß und den Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: Bericht des Petitionsausschusses ({23}) Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 1998 - Drucksache 14/1390 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion.

Christel Deichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002638, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben wir in einer - wie ich finde - sehr würdigen Feststunde das 50jährige Bestehen des Petitionsausschusses im Deutschen Bundestag gefeiert. Ich möchte im Namen meiner Fraktion als erstes den Festrednern, Frau Professor Süssmuth und Herrn Dr. Hans-Jochen Vogel, sehr herzlich danken. Sie haben uns sehr deutlich vor Augen geführt, wie groß die Bedeutung dieses Ausschusses und die Erwartungshaltung ihm gegenüber ist. ({0}) Vor diesem Hintergrund sehe ich es als eine besondere Ehre an, heute zum Jahresabschlußbericht 1998 sprechen zu dürfen. Das Petitionsrecht ist eines der wichtigsten verfassungsrechtlich verankerten Rechte der Menschen in unserem Land. Auch im Jahre 1998 machten viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes hiervon Gebrauch. Die große Bedeutung dieses Rechts liegt im direkten Kontakt der Bürgerinnen und Bürger mit einem parlamentarischen Gremium. Was die Menschen über Petitionen an uns Volksvertreter herantragen, hat einen besonders hohen Stellenwert. Die knapp 17 000 Eingaben im Jahre 1998 zeigen sehr deutlich, daß die Sorgen und Nöte der Menschen nicht weniger geworden sind. Sie zeigen aber auch, daß die Menschen trotz der häufig proklamierten Politikverdrossenheit beachtliches Vertrauen und immer wieder Hoffnung in die Politik setzen, bei der Bewältigung der Sorgen und Nöte Unterstützung zu finden. Die alte Bundesregierung hat die Arbeit des Petitionsausschusses - so meine ich - nicht immer so positiv unterstützt, wie man es eigentlich hätte erwarten müssen. Die Bürgerinnen und Bürger haben es wohl genauso gesehen; denn in den drei Monaten vor der Bundestagswahl ging die Zahl der Eingaben drastisch zurück. Dies ist aber auch ein deutliches Zeichen dafür, daß die Erwartungshaltung der Menschen in diesem Land gegenüber der neuen Regierung groß ist und sie sich von ihr die Veränderungen versprechen, zu denen die alte Regierung nicht fähig war. Das ist eine hohe Erwartungshaltung. Ich möchte an dieser Stelle sagen, daß in der relativ kurzen Zeit seit der Regierungsübernahme schon Verbesserungen spürbar geworden sind. ({1}) Signifikant ist zum Beispiel, daß, wenn wir einen Regierungsvertreter laden, die Auskünfte doch schon eine andere Qualität haben. ({2}) - Das muß nicht sein. Bevor ich auf den vorliegenden Bericht zu sprechen komme, möchte ich den fleißigen und zuverlässigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußsekretariats meinen besonderen Dank sagen. ({3}) Sie bewältigten, wie es in den gesamten zurückliegenden 50 Jahren der Petitionsgeschichte im Deutschen Bundestag der Fall war, 1998 nicht nur die enorme Zahl von Neueingaben, sondern auch die zahlreichen Nachträge. Abschließend konnten wir im letzten Jahr 21 237 Petitionen behandeln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sekretariats leisteten umfangreiche Vorarbeit und halfen auch jederzeit sehr geduldig, Sonderwünsche der Berichterstattterinnen und Berichterstatter nach zusätzlichen Stellungnahmen und anderen Recherchen für die Vorbereitung der Beschlußempfehlungen zu erfüllen. Herzlichen Dank dafür auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen! In diesen Dank schließe ich auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein, die an dieser Stelle auch einmal genannt werden müssen. ({4}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Interessant ist die Verteilung der Petitionen auf die einzelnen Ministerien. Auf das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung entfiel mit 5 292 Petitionen die größte Zahl der Eingaben. Hieran wird deutlich, daß die sozialen Belange das Problem Nummer eins sind. Kein anderes Ressort erreichte annähernd eine so hohe Anzahl von Eingaben. Auffällig bleibt neun Jahre nach der Wende die unterschiedliche Verteilung der Petitionen auf die einzelnen Bundesländer. Aus dem Freistaat Bayern kamen mit Abstand die wenigsten Eingaben, nämlich nur 114 pro eine Million Einwohner. ({5}) - Warten Sie doch zu Ende ab! Im Vergleich dazu wurden in Thüringen 467 Petitionen, bezogen auf dieselbe Bevölkerungszahl, gezählt. ({6}) Durch die zahlreichen Eingaben zeigen die Bürger aus den neuen Ländern einerseits, wie groß und breit gestreut die Probleme in diesen Regionen immer noch sind. Andererseits sind dies auch deutliche Rufe an die Bundesebene nach mehr und vor allem effektiverer Unterstützung bei der Lösung dieser Probleme, den die alte Bundesregierung unserer Auffassung nach nicht ernst genug genommen hat. Der Historiker Fritz Stern hat anläßlich seiner Auszeichnung mit dem diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gesagt: Die innere Wiedervereinigung ist Vorbedingung für politische Stabilität in Deutschland. Es darf in diesem Land keine Bürger zweiter Klasse geben. Diese mahnenden Worte sollten wir sehr beherzigen. Vorreiter beim Gebrauch des Petitionsrechts ist und bleibt Berlin mit 468 Eingaben pro eine Million Berliner. Es bleibt nun spannend zu beobachten, ob sich hieran durch den Umzug des Parlaments und der Regierung nach Berlin etwas ändern wird. ({7}) - Das ist durchaus möglich. Viele Anfragen aus den neuen Ländern beziehen sich nach wie vor auf Grundstücks- und Liegenschaftsangelegenheiten. So ging im November 1997 die Bitte eines Ehepaares aus Mecklenburg-Vorpommern beim Ausschuß ein, in der das Ehepaar schildert, daß es 1975 eine Arbeit in einer LPG aufgenommen und hier eine Mietwohnung in einem Doppelhaus erhalten habe. Die Familie freute sich, als sie 1990 die Wohnung und dazu auch Grund und Boden von eben dieser LPG erwerben konnte. Erst nach dem Kauf erhielt die Familie die Flurstückskarte vom Katasteramt und mußte jetzt leider feststellen, daß sie das Nachbargrundstück erworben hatte. Diese Tatsache zeigt, wie schwierig die ersten Schritte in der Nachwendezeit waren. Auf diesem Gebiet ist auch heute noch nicht alles aufgearbeitet. Die Petenten baten den Ausschuß, auf die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben einzuwirken, um einen Grundstückstausch zu ermöglichen. Dem Anliegen konnte entsprochen werden. Ich denke, es ist sehr erfreulich, wenn solch ein Mißgeschick aus der Welt geschaffen werden kann und dem Petenten geholfen wird. ({8}) Sehr häufig erreichen uns immer noch Petitionen zum Vertriebenenzuwendungsgesetz. Ein Petent, geboren in Schlesien, beschwerte sich beispielsweise über die Stichtagsregelung dieses Gesetzes. Der Petent hatte bis 1989 in der ehemaligen DDR gelebt und wurde einen Monat vor dem Fall der Mauer ausgebürgert. Da der Stichtag in dem Gesetz aber der 3. Oktober 1990 ist und der Vertriebene laut Gesetz bis zu diesem Zeitpunkt in der ehemaligen DDR gewohnt haben muß, wurde ihm mitgeteilt, daß er keinen Anspruch auf die einmalige Zuwendung in Höhe von 4 000 DM habe. In den Augen des Petenten liegt hier eine große Ungerechtigkeit vor. Er fühlte sich quasi doppelt vertrieben und vom Gesetzgeber benachteiligt. Eine Gesetzesänderung konnte dem Petenten nicht in Aussicht gestellt werden, aber die Petition wurde dem Bundesministerium der Finanzen zugeleitet, um in künftige Überlegungen mit einbezogen werden zu können. Außerdem wurden die einzelnen Fraktionen von dieser Petition in Kenntnis gesetzt. Ich erwähne dies, weil wir mit den Unzulänglichkeiten von Stichtagsregelungen immer wieder konfrontiert werden. Dies muß für uns aber auch Anlaß sein, die Gründe dafür den Bürgerinnen und Bürgern besser zu verdeutlichen. Für die Mitglieder des Ausschusses bedeutet die Bearbeitung von Petitionen - gestatten Sie mir diese Bemerkung - viel beharrliche und intensive Arbeit; in aller Stille, oft nach 22 Uhr. Die Ausschußsitzungen beginnen oft mittwochs 7.30 Uhr. Nun sind wir alle auch noch in anderen Fachausschüssen tätig. Die Sitzungen des Petitionsausschusses werden so anberaumt, daß sie nicht mit anderen Terminen kollidieren können. Leider nimmt aber die Unsitte wieder zu, daß sich Arbeitsgruppen und Ausschüsse nicht an diese Übereinkunft halten und ebenfalls Beratungen mittwochs um 8 Uhr anberaumen. Ich denke, hier könnte wieder einmal Ordnung einkehren. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche, daß die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auch in Zukunft vom Petitionsrecht zahlreich Gebrauch machen, denn darin ist nicht nur Kritik an bestehenden Verhältnissen zu sehen; es ist vielmehr der direkte Kontakt des einzelnen Menschen in unserem Land zum Gesetzgeber. Es ist für uns eine Chance zur Kommunikation und zur Veränderung. Vielen Dank. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Hubert Deittert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Hubert Deittert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir unterhalten uns heute über den Jahresbericht 1998 des Petitionsausschusses des Bundestages. Gestern haben wir in einer eindrucksvollen Feier Rückblick auf 50 Jahre des Bestehens dieses Ausschusses genommen. Ich denke, uns allen ist bei dieser Feier die Bedeutung dieses Ausschusses noch einmal vor Augen geführt worden. Dieser Ausschuß ist das Bindeglied zwischen den Bürgern im Lande, dem Parlament und der Regierung. Ich denke, man muß sehr großen Wert darauf legen, diese Verbindung zu pflegen. In den fünf Jahrzehnten, die vergangen sind, haben die Mitglieder des Petitionsausschusses und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußdienstes einen unvorstellbaren Berg an Akten und persönlichen Schicksalen bewegt. Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes herzlich für die gewissenhafte Zuarbeit danken! ({0}) Für mich selbst ist die Arbeit im Petitionsausschuß ein ganz wichtiger Bestandteil meiner parlamentarischen Arbeit; denn hier ist eine schnelle Rückkoppelung der gesetzgeberischen Entscheidungen mit den Auswirkungen im Lande gegeben. Ich war langjährig Kommunalpolitiker und 20 Jahre Bürgermeister. Da ist es so, daß eine Entscheidung, die den Bürger belastet, am dritten Tag wieder auf dem Schreibtisch liegt. Ähnlich ist es im Petitionsausschuß. Die Rückkoppelung funktioniert hervorragend. Ich denke, daß gerade der Petitionsausschuß mithelfen kann, da ein Stück Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen, wo es verlorengegangen ist. Auch da sehe ich für mich eine wichtige Aufgabe. Aber zurück zu unserem Jahresbericht. Nach unserem Grundgesetz hat jeder Bürger das Recht, sich mit Anregungen und Beschwerden an den Deutschen Bundestag zu wenden. In den letzten Jahren haben im Schnitt etwa 20 000 Bürger von diesem Recht Gebrauch gemacht. Es ist erfreulich, festzustellen, daß es sich dabei nicht immer nur um persönliche Probleme handelt, sondern daß durchaus auch Anregungen für Gesetzesänderungen im allgemeinen Interesse gegeben werden. Das ist ein sehr positives Zeichen: Neben der Politikverdrossenheit gibt es eine große Zahl von Frauen und Männern, die bereit sind, konstruktiv mitzudenken und Anregungen zu geben. Nun zur Herkunft der einzelnen Petitionen. Es ist in der Tat so - wie auch Frau Kollegin Deichmann angedeutet hat -, daß überproportional viele Petitionen aus den neuen Bundesländern kommen. Das ist nach den gewaltigen Umbrüchen, die im Zuge der deutschen Einheit vollzogen werden mußten, verständlich. Ich will aber auf Einzelheiten nicht eingehen. Das wird meine Kollegin Frau Katherina Reiche im weiteren Verlauf der Debatte übernehmen. Interessant ist allerdings die unterschiedliche regionale Verteilung in den alten Bundesländern. Dazu möchte ich folgende Beispiele anführen: Im Freistaat Bayern gibt es 114 Petitionen pro 1 Million Einwohner, in Nordrhein-Westfalen sind es 177 Eingaben pro 1 Million Einwohner. Mich würde es reizen, einmal nachzuforschen, ob die politische Farbe der jeweiligen Landesregierung Einfluß auf Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Bürger in dem betreffenden Bundesland hat. ({1}) Die von mir genannten Beispiele lassen das jedenfalls vermuten. Die Petitionen selbst betreffen im Grunde alle Lebensbereiche der Bevölkerung. Einen besonderen Schwerpunkt nehmen hier die Bereiche der Sozialversicherung ein, insbesondere Krankenversicherung und Rentenversicherung. Diese Tatsache verwundert nicht; denn wir haben hier ein außerordentlich kompliziertes Rechtsystem, das nicht für jeden Bürger auf den ersten Blick nachvollziehbar ist. Es ist vor allem so, daß der Bürger in manchen Fällen, auch wenn sie nach den Buchstaben des Gesetzes korrekt abgewickelt sind, die Entscheidung nicht nachvollziehen kann. Hier liegt eine Aufgabe des Petitionsausschusses. Es gilt hier, nachzuforschen, ob im Laufe des Verfahrens wirklich irgendwo ein Fehler gemacht worden ist oder ob es möglicherweise einen Ermessensspielraum gibt, den man zugunsten des Petenten nutzen kann. Ich denke, da geht es den Kolleginnen und Kollegen genau wie mir: Wenn man jemandem konkret helfen kann, dann ist das ein tolles Erfolgserlebnis, das dafür entschädigt, daß man morgens um halb acht mit den Ausschußsitzungen beginnen muß. Meine Damen und Herren, im Bereich Sozialversicherung gibt es natürlich auch eine Reihe von Bitten um Gesetzesänderungen, denen der Ausschuß aber nur in wenigen Fällen entsprechen kann. Mein persönlicher Schwerpunkt in der Arbeit des Petitionsausschusses liegt in den Bereichen Verkehr und Landwirtschaft. Ich stelle zwei kurze Beispiele dar, zunächst eines zum Bereich Verkehr. Der Lärmschutz beschäftigt uns sehr häufig. So hat eine Bürgerinitiative in ihrer Eingabe zusätzlichen Lärmschutz an der Autobahn A 1 begehrt. Die Rechtslage verlangt allerdings, daß beim Lärmschutz auf den Zeitpunkt der Planfeststellung abgestellt wird. Die A 1 wurde 1981 gebaut; damals fuhren auf ihr pro Tag 39 000 Kraftfahrzeuge. Die Prognose für 1990 war 57 000. Allerdings fuhren in diesem Jahr dort tatsächlich schon 64 000, und im zweiten Quartal 1997 sage und schreibe 73 430 Fahrzeuge. Der Bürger hat in diesem Fall keinen Rechtsanspruch auf eine Anpassung des Lärmschutzes. Wir haben diese Petition der Regierung zur Erwägung überwiesen. Der Verkehrsminister vertritt aber die Auffassung, hier bestehe kein Anspruch. Damit sind wir nicht einverstanden. Wir werden daher das Problem weiter verfolgen. Auch bei knapper Kassenlage müssen diese Lebensbereiche der Menschen gesehen werden. Meine Damen und Herren, aus dem Bereich Landwirtschaft ebenfalls ein kurzes Beispiel: Im vergangenen Jahr hat sich ein großer Teil der Petitionen auf die Themen Tierschutz und Tiertransporte bezogen. Bei diesen Themen ist erfreulicherweise eine wesentliche Verbesserung erfolgt, vor allem beim Thema Tiertransportzeiten. Hier sollte man unserem ehemaligen Landwirtschaftsminister Borchert für seine Initiativen im Rahmen des Europäischen Ministerrates herzlich danken. ({2}) Ich danke den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen für die Zusammenarbeit im Petitionsausschuß. In diesem Ausschuß ist es möglich, eine sachliche Diskussion über Parteigrenzen hinweg zu führen und nach der für den Petenten besten Lösung zu suchen. An dieser Stelle möchte ich aber auch ein kritisches Wort an die Vertreter der Regierungskoalition anfügen. Ich bitte Sie, in den Bereichen Asyl- und Aufenthaltsrecht den Asylkompromiß aus der 12. Wahlperiode als geltendes Recht zu respektieren. Es kann nicht angehen, daß man sich im Ausschuß als guten Menschen darstellt und dann die Ausführenden in Regierung und Verwaltung mit den Problemen sitzen läßt; denn diese haben überhaupt keine andere Möglichkeit, als nach Recht und Gesetz zu entscheiden. ({3}) Ich fordere Sie auf, sich entweder an das geltende Recht zu halten oder aber mit der neuen Mehrheit, die Sie hier haben, die Gesetze zu ändern. Dann können Sie natürlich auch im Ausschuß die entsprechenden Beschlüsse fassen. Bei dem, was ich eben sagte, mache ich allerdings einen kleinen Unterschied zwischen den beiden Koalitionsfraktionen, denn die SPD ist auf einem guten Wege, sich an die Wirklichkeit heranzutasten, während die Grünen damit noch erhebliche Probleme haben. ({4}) Wenn Sie den Mut dazu haben und in der Lage sind, im Bundestag und im Bundesrat die entsprechende Mehrheit zu organisieren, dann ändern Sie die Gesetze. Das jedenfalls wäre ein Gebot der Ehrlichkeit. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluß und danke abschließend den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes herzlich für ihre gewissenhafte Zuarbeit. Trotz mancher Meinungsverschiedenheiten bedanke ich mich auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen. Ich freue mich auf eine weitere Zusammenarbeit und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir können in diesem Jahr - meine beiden Vorredner haben darauf hingewiesen - auf 50 Jahre Tätigkeit des Petitionsausschusses zurückschauen. Ich denke, daß man diese 50 Jahre als Erfolgsgeschichte bezeichnen kann. Diesen Erfolg haben wir gestern abend in einer Veranstaltung entsprechend gewürdigt. Im Namen der F.D.P.-Bundestagsfraktion möchte auch ich mich bei Frau Professor Dr. Süssmuth und Herrn Dr. Vogel für die hervorragenden Festreden bedanken. In diesen Dank beziehe ich auch den Bundestagspräsidenten ein, der gestern noch einmal die besondere Bedeutung des Petitionsausschusses beschrieben und den Mitgliedern des Petitionsausschusses ausdrücklich seine Unterstützung zugesagt hat. Von daher hätte ich mir gewünscht, daß der Herr Bundestagspräsident bis zum Schluß der Veranstaltung hätte bleiben können, um noch die Dankesworte der Frau Vorsitzenden zu hören. Meine Damen und Herren, das Petitionsrecht hat in Deutschland eine lange Tradition. Schon im Preußen des 18. Jahrhunderts gab es ein Eingaberecht. 1848 wurde dann durch die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche die Basis für das heute geltende Petitionsrecht geschaffen. Rund 100 Jahre später wurde ihm schließlich der Rang eines Grundrechts eingeräumt, nachdem dieses Recht Jahre zuvor von den Nationalsozialisten abgeschafft wurde. Hier ist schon der besondere Status des Petitionsrechts vorgetragen worden: Das Petitionsrecht haben alle Menschen in Deutschland, auch Ausländer, Minderjährige und Strafgefangene. Wie wichtig dieses Recht für die Bürger ist, zeigt die aufgeführte große Anzahl der Eingaben in den letzten 50 Jahren: mehr als 4 Millionen Petitionen. Diese große Anzahl bestätigt sich auch für das letzte Jahr, für 1998. Insgesamt gingen fast 17 000 Petitionen beim Ausschuß ein. Meine beiden Vorredner haben schon auf den hohen Anteil - 40 Prozent - von Eingaben aus den östlichen Bundesländern hingewiesen. Dies freut mich ganz besonders, weil wir daran sehen, daß gerade die mit großen Problemen belasteten ostdeutschen Mitbürger auch weiterhin viel Engagement zeigen, um unser Land voranzubringen. Die Menge der Eingaben verdeutlicht auch, daß eine große Anzahl unserer Mitbürger - entgegen dem allgemeinen Trend der Politikverdrossenheit - auf diesem Weg ihre Möglichkeit zur Einflußnahme auf die Politik wahrnehmen und so unser Land mitgestalten wollen. Das Petitionsrecht ist daher ein empfehlenswertes und gutes Instrumentarium für unsere Bürgergesellschaft, die wir Liberalen wollen. Zu den schon genannten fast 17 000 Eingaben kamen noch einmal 13 000 Nachträge der Petenten, von denen die meisten Erläuterungen oder Klarstellungen waren. Es hat mehr als 8 000 Stellungnahmen der Regierung gegeben. Mehr als 3 000 Schreiben von Behörden und Abgeordneten wurden verarbeitet. Nahezu 70 000 Briefe verließen 1998 den Petitionsausschuß. Dies alles zu bearbeiten war möglich, weil 80 Mitarbeiter des Ausschußdienstes - ich sage: nur 80 Mitarbeiter - diese Arbeit vorbereitet und koordiniert haben. Auch ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes im Namen der F.D.P.-Fraktion für diese Arbeit herzlich danken. ({0}) In diesen Dank möchte ich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unseren Büros mit einbeziehen, die uns eine Menge Arbeit abnehmen. ({1}) Auf den Bereich Arbeit und Soziales entfielen mit fast 40 Prozent wieder die meisten Eingaben. Eine große Anzahl von Petitionen hier setzte sich mit der geplanten schrittweisen Absenkung des Rentenniveaus auseinander. Vor dem Hintergrund der jetzt von der Bundesregierung geplanten Abkopplung der Renten von Lohn- und Gehaltserhöhungen zwingen diese Zahlen zum Nachdenken. Ich fordere die Bundesregierung auf, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen. ({2}) Ein nennenswerter Rückgang ist im Geschäftsbereich des Gesundheitsministeriums zu verzeichnen. Ein erheblicher Anteil der Eingaben betraf die Verbesserungen des Nichtraucherschutzes, wobei oft ein generelles Rauchverbot am Arbeitsplatz gefordert wurde. Wir haben gerade gestern gehört, daß es bereits - wenn ich das richtig in Erinnerung habe - 1952 eine ähnliche Eingabe gab. Allerdings wurde damals, im Jahr 1952, diese Petition unter der Rubrik „Kuriositäten“ abgelegt. Ich denke, auch hieran zeigt sich, wie sich die Einstellung der Bevölkerung zu diesem Thema verändert hat. Auch im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung gingen die Eingaben im Jahr 1998 gegenüber dem Vorjahr zurück. Schwerpunktmäßig wurden hier, wie in der Vergangenheit, auch Eingaben von Soldaten und zivilen Mitarbeitern zu Personalproblemen gemacht. Viele Wehrpflichtige schrieben den Petitionsausschuß zu Fragen der Einberufung zum Grundwehrdienst an, um ihre Ausbildung in Betrieben und Universitäten mit der Ableistung ihres Grundwehrdienstes nicht kollidieren zu lassen. Wir haben auch Petitionen in diesem Bereich gehabt, in denen um eine vollständige Befreiung vom Wehrdienst gebeten wurde, weil die Betreffenden nach großen Bemühungen endlich einen Arbeitsplatz gefunden oder es geschafft hatten, ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Aber auch Besoldung und Versorgung waren Gegenstand verschiedener Eingaben. Es gingen auch Eingaben zum Thema „Frauen in der Bundeswehr“ ein, ein Thema, das gerade in diesen Tagen durch die Klage einer Frau vor dem EuGH wieder an Aktualität gewinnt. ({3}) Die Frau hatte sich für den Dienst in den Streitkräften beworben, wurde aber nur wegen ihres Geschlechts abgelehnt. ({4}) Im Frühjahr wird die Entscheidung des EuGH im Fall der deutschen Klägerin gefällt. ({5}) Die Chancen für die Klägerin stehen gut, nachdem sich der Generalanwalt beim EuGH in ihrem Sinne geäußert hat. Diesem Votum stimmt die F.D.P.-Bundestagsfraktion ausdrücklich zu. ({6}) Es ist nicht nachvollziehbar, daß Frauen einerseits bei Polizei, beim Bundesgrenzschutz und in zivilen Wachdiensten Dienst an und mit der Waffe tun dürfen, dieses ihnen aber in der Bundeswehr nicht gestattet sein soll. ({7}) Wenn Frauen freiwillig Dienst an und mit der Waffe leisten wollen, dann soll ihnen das nicht verwehrt bleiben. Es paßt einfach nicht mehr in unsere Zeit, Frauen derart zu bevormunden, zumal Deutschland heute unter der Mehrheit der NATO-Staaten das Schlußlicht bei der Öffnung der Streitkräfte für freiwillige weibliche Bewerber bildet. Ich verweise bei dieser Gelegenheit noch einmal auf den von der F.D.P.-Bundestagsfraktion eingereichten Gesetzentwurf zur Klarstellung des Art. 12a des Grundgesetzes und hoffe insbesondere, daß die Fraktionen von CDU/CSU und SPD der Grundgesetzänderung zustimmen werden, ({8}) so wie Sie das ja zum Teil auch schon in der Öffentlichkeit angekündigt haben. Herr Kollege, ich freue mich dann auf Ihre Unterstützung, so daß wir dann hier eine Mehrheit für unseren Antrag bekommen. ({9}) Ich will eine Petition noch besonders erwähnen: Ein Wehrdienstleistender bat um eine Versetzung an einen heimatnahen Standort, weil seine Mutter schwer an Krebs erkrankt war und daher der täglichen Hilfe in der Verrichtung einfachster Tätigkeiten bedurfte. Der Vater war beruflich so stark eingebunden, daß er diese Hilfe nicht übernehmen konnte. Die Versetzung des jungen Mannes wurde mit der Begründung abgelehnt, daß seine persönliche Situation für eine Versetzung nicht ausreiche. Auf Drängen des Petitionsausschusses ist er dann letztlich doch an einen heimatnahen Standort versetzt worden. Diese Petition stellt meines Erachtens ein gutes Beispiel für die vielen Fälle dar, in denen der Petitionsausschuß im Einzelfall fraktionsübergreifend - ich betone ausdrücklich: fraktionsübergreifend - dem Bürger helfen konnte. Der Petitionsausschuß befindet sich nach wie vor an der wichtigen Nahtstelle zwischen der korrekten Anwendung unserer Gesetze durch Behörden und andere Institutionen einerseits und den Einzelfällen andererseits, die leider nicht immer alle vom Gesetzgeber berücksichtigt werden können. Den Kollegen und Kolleginnen, die in der Vergangenheit diese Arbeit geleistet haben - gleich aus welcher Fraktion; auch das betone ich noch einmal -, möchte ich namens der F.D.P.-Bundestagsfraktion danken. Nach den ersten 50 Jahren erfolgreicher Arbeit wünsche ich auch allen zukünftigen Mitgliedern und Mitarbeitern des Ausschusses immer eine glückliche Hand - und dies im Interesse der Petenten. Vielen Dank. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unabhängig von den jeweiligen politischen Mehrheiten nutzt eine enorm große Zahl der Bürgerinnen und Bürger das Petitionsrecht seit nunmehr 50 Jahren. Von Atombombe bis Zahnplombe: Auch 1998 wurden über 16 000 Bitten und Beschwerden aus allen Politik- und Lebensbereichen an den Petitionsausschuß herangetragen. Der vorliegende Jahresbericht fällt zusammen mit dem 50jährigen Jubiläum des Petitionsausschusses des Bundestags. Aber ist das nicht ein merkwürdiges Jubiläum, das wir feiern? Wir feiern eine Institution, die sich mit dem befaßt, was nicht funktioniert, was falsch ist oder was besser funktionieren könnte, eine Institution, bei der sich die Bürger beschweren und an die sie sich wenden, weil sie sich ärgern oder weil etwas ungerecht ist. Sie ärgern, beklagen und beschweren sich seit nunmehr 50 Jahren über die Behörden sowie über den Staat und seine Gesetze. 50 Jahre Ärger, Wut und Enttäuschung! Wäre dies nicht eher ein Grund zur Trauer und Verdrossenheit? - Nein! ({0}) - Dann ist es ja gut. - Nein, die vielen Eingaben sind tatsächlich ein Vertrauensbeweis für unser Parlament und unsere Demokratie. ({1}) Das Petitionsrecht ist ein „Lichtstrahl in den Grauzonen des Rechtsstaats und des demokratischen Systems“, so der Rechtsgelehrte Schefold. Ein Grund zu ernster Sorge wäre es vielmehr, wenn sich die Bürger nicht mit ihren Problemen und Verbesserungsvorschlägen an ihre Volksvertretung wenden würden. Die große Zahl der Eingaben beweist, daß sie dem Parlament, dem demoraktischen System, die Lösung ihrer individuellen Probleme zutrauen. Die große Zahl der Bitten zur Gesetzgebung belegt auch, daß viele Bürgerinnen und Bürger engagiert bereit sind, bei der Gestaltung unseres Gemeinwesens aktiv und mit guten Vorschlägen mitzuwirken. Auch der Jahresbericht 1998 läßt den Willen zur Mitsprache erkennen. Mit 6 186 Petitionen haben die Bürger auf die Gesetzgebung des Bundes Einfluß zu nehmen versucht. Das Petitionsrecht ermöglicht Bürgerinnen und Bürgern, die Politik zu verändern. „Mit Petitionen Politik verändern“, so lautet auch der Titel des pünktlich zum 50jährigen Jubiläum des Petitionsausschusses von der Vereinigung zur Förderung des Petitionsrechts in der Demokratie herausgegebenen Handbuchs zur Geschichte, Gegenwart, Praxis und Zukunft des Petitionsrechts. In dieser Bremer Initiative haben sich engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammengeschlossen, die sich nach ihren eigenen Erfahrungen als Petenten das Ziel gesetzt haben, Ansehen und Achtung des Petitionsrechts in Parlament und Gesellschaft zu vergrößern. Seit 1986 ist die Vereinigung ein kritischer, kompetenter und überparteilicher Begleiter unserer Arbeit. Ich bin sicher, daß sie auch diese Debatte mit Argusaugen verfolgen wird und uns mit ihrer konstruktiven Kritik auch weiterhin auf Trab halten wird. Ich möchte mich bei dieser Vereinigung für ihr außerordentlich fruchtbares Wirken ausdrücklich bedanken. Mit ihrer Arbeit erweist sie unserer Demokratie einen großen Dienst. Mit ihrem Buch hat sie dem Parlament ein Geschenk gemacht. An dieser Stelle möchte ich einige Punkte aufgreifen, die die Vereinigung zum diesjährigen Jahresbericht kritisch angemerkt hat: Der Jahresbericht 1998 sei spät vorgelegt worden, nämlich erst Ende 1999. In der Tat sollte der Jahresbericht in Zukunft wieder zeitnah vorgelegt werden. Die bearbeiteten Petitionen wären dann noch frisch im Bewußtsein der Abgeordneten, und die parlamentarische Umsetzung der Beschlüsse könnte auf Grund der Aktualität besser nachvollzogen werden. Die Vereinigung wünscht sich ferner eine informativere und pointiertere Darstellung und Präsentation des Jahresberichts. Auch ich bin der Meinung, daß die Präsentation des Jahresberichts ein Musterbeispiel dafür ist, wie man mit großer Sorgfalt und Mühe sein Licht unter den Scheffel stellen kann. In einer Welt, in der sich Realität über Medien vermittelt, verstecken wir unsere gute Arbeit in trockenen Drucksachen. Der Bundestag leistet im Petitionsausschuß viel gute Arbeit für den Bürger. Das sollte der Bürger meines Erachtens aber auch angemessen zur Kenntnis nehmen können. Bescheidenheit ist eine Zier, aber die erfolgreiche Bürgerarbeit in bürgerunfreundlicher Weise zu präsentieren ist nicht ganz klug. Darum sollte die Bundestagsverwaltung tatsächlich über Mittel und Wege nachdenken, wie das Beschwerdebuch der Nation bürgerfreundlicher und lesbarer gestaltet werden kann. Dies kann selbstverständlich der ohnedies bis zur Halskrause in Arbeit steckende Ausschußdienst des Petitionsausschusses - auch von mir recht herzlichen Dank - allein nicht leisten; da braucht es professionelle Unterstützung. Darüber hinaus beklagt die Vereinigung, daß die Beschlüsse „Fraktionen zur Kenntnis“ oder „als Material“ in der Regel ins Leere laufen, weil sie die Bundesregierung zu nichts verpflichteten. So pessimistisch sehe ich das allerdings keineswegs. Bei den Materialbeschlüssen ist die Bundesregierung immerhin gehalten zu berichten, in welcher Weise sie mit diesem Beschluß umgegangen ist. Für unsere Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kann ich zumindest sagen, daß wir für die Beschlüsse „Fraktionen zur Kenntnis“ ein internes Wiedervorlagesystem haben und regelmäßig abfragen, ob und was in der Angelegenheit unternommen worden ist. ({2}) Was die Umsetzung der Beschlüsse zur Berücksichtigung und Erwägung angeht, hat die Frau Vorsitzende bei der Pressekonferenz darauf hingewiesen, daß die bisherige Bilanz der neuen Bundesregierung zu Beginn der 14. Wahlperiode positiv auffalle. Kritisch angemerkt wird von der Bremer Initiative, der Petitionsausschuß mache zu wenig von seinen weitreichenden Ermittlungsbefugnissen Gebrauch: lediglich 7 Anhörungen von Regierungsvertretern, 2 Ortstermine und 1 Akteneinsichtnahme. Ich glaube, daß wir im nächsten Berichtszeitraum die Zahl der Anhörungen von Regierungsvertretern weit übertreffen werden. Ich möchte dabei ausdrücklich darauf hinweisen, daß dieses Verlangen, einen Regierungsvertreter vor den Ausschuß zu laden, nicht allein ein Anliegen der Oppositionsfraktionen ist. In der laufenden Legislaturperiode waren und sind es gerade die Abgeordneten der Regierungsfraktionen, die ihre eigene Regierung in die Pflicht nehmen, wenn der Eindruck entsteht, daß dem Anliegen der Bürger und des Petitionsausschusses nicht oder nur unzureichend Rechnung getragen wird. Wenn die Regierung einem Beschluß des Petitionsausschusses nicht folgen will, sind wir sehr empfindlich und über die Fraktionsgrenzen hinweg einig. ({3}) Das sei auch als Warnung an die hier sitzenden Regierungsvertreter ausgesprochen. ({4}) Mein Fraktionskollege und Staatsminister im Auswärtigen Amt Ludger Volmer kann wahrscheinlich schon ein Lied davon singen, wie hartnäckig wir sein können. ({5}) Insgesamt stellt aber auch die Vereinigung dem Jahresbericht 1998 und der Arbeit unseres Ausschusses ein gutes Zeugnis aus. Der Jahresbericht ist - ich zitiere „ein spannendes, lesenswertes, in der Öffentlichkeit und der Presse zu gering beachtetes Dokument“. Besonders hervorgehoben wird die gelungene Wiedergabe petitionsrechtlicher Reformbestrebungen. Dies bezieht sich auch auf die Debatte zu den reformorientierten petitionsrechtlichen Gesetzentwürfen meiner Fraktion aus der letzten Legislaturperiode. Ich meine, unsere Vorschläge von damals für ein bürgerfreundlicheres und moderneres Petitionsrecht sind eine gute Grundlage zur weiteren Diskussion auch in dieser Legislaturperiode. Der Jahresbericht des Petitionsausschusses ist ein „Leitfaden für besseres Regieren“, wie die Zeitung „Die Woche“ formulierte. Deshalb sollte sich auch unsere Regierung diesen Bericht gut ansehen, denn als letzter Jahresbericht, dessen Tätigkeitszeitraum zum größten Teil noch vor den Bundestagswahlen lag, dokumentiert er auch die Sorgen und Wünsche der Bürger vor der Wahl, und in ihm finden sich daher viele Gründe, warum sie eine neue Bundesregierung wollten. So bietet der Jahresbericht 1998 reichlich Material für das Parlament und die neue Regierung, wie eine bessere Politik im Sinne der Bürgerinnen und Bürger aussehen kann. So freuen wir uns besonders über die Beispiele, in denen Eingaben an den Petitionsausschuß schon jetzt zu konkreten Formulierungen in Gesetzesvorlagen der neuen Bundesregierung geführt haben. Ein Beispiel dafür ist der Gesetzentwurf, der es den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung, die Anspruch auf Krankenversorgung aus Bundesmitteln haben, ermöglicht, sich auch noch nachträglich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen. Der Gesetzentwurf schließt mit dem Satz: „Dies entspricht einem Anliegen des Petitionsausschusses.“ Man sieht: Petitionen sind der Stoff, aus dem die Gesetze sind. ({6}) Der Jahresbericht 1998 hat der Bundesregierung und dem Parlament weitere noch nicht gelöste Hausaufgaben mitgegeben. Ich nenne die zahlreichen Eingaben zum Thema frauenspezifischer Fluchtgründe im Asylverfahren. Der Ausschuß hält weitere Anstrengungen für erforderlich, um Opfer von geschlechtsspezifischen Verfolgungen besser zu schützen. Der Ausschuß rühmt sich, in den meisten Fällen fraktionsübergreifend und einvernehmlich um die besten Lösungen zu ringen. Aber es gibt offensichtlich auch Unterschiede im Verständnis der Arbeit des Petitionsausschusses. Ein Kollege der CDU hat uns, den Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, auf der Helmut Wilhelm ({7}) Pressekonferenz zur Übergabe des Jahresberichtes den Vorwurf der - ich zitiere - „ideologischen Großherzigkeit“ gemacht. Herr Kollege Deittert hat es gerade so ähnlich formuliert. Ich bin gewiß kein Ideologe - aber wenn, dann möchte ich ein Verfechter der Großherzigkeit sein. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Kommen Sie bitte zum Schluß, Herr Kollege Wilhelm.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Großherzigkeit ist allemal besser als rein politische oder juristische Enge. Großherzigkeit zu üben ist doch gerade die Funktion des Petitionsausschusses: An wen sonst sollten sich die Bürger wenden, wenn alle Rechtsmittel erschöpft sind und dennoch keine Lösung des Problems gegeben ist? Die Bürger wenden sich dann an uns, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Im Petitionsausschuß sind wir keine Richter. Als ehemaliger Richter kenne ich den Unterschied wohl. Wir sollen dort nicht Recht sprechen oder über Bürger richten. Im Gegenteil, wenn sich ein Bürger an den Petitionsausschuß wendet, dann erwartet er Hilfe und Unterstützung, und die sollten wir ihm geben. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile der Kollegin Heidemarie Lüth, PDS-Fraktion, das Wort.

Heidemarie Lüth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002727, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich bedanke mich ganz ausdrücklich dafür, daß ich als Vorsitzende des Petitionsausschusses schon an dieser Stelle und nicht eventuell als letzte sprechen darf. ({0}) Zum Jahresbericht 1998 sagte Kollege Wilhelm eben: recht verspätet. Auch die Bremer Initiative nennt es so. Wir haben den heutigen Tag ganz bewußt gewählt, und wir sind dankbar, daß die Debatte heute wirklich stattfinden kann, weil wir von dem Glanz des gestrigen Abends ein bißchen in den Saal dieses Parlamentsgebäudes scheinen lassen wollten. Wir meinen, daß dieses Scheinen im Parlament für den Petitionsausschuß eine gute Angelegenheit ist. 50 Jahre sind immerhin ein schönes Alter. Soziologisch gesehen, ist der Petitionsausschuß eigentlich eine junge Alte. ({1}) Das ist er tatsächlich. Kompetent, kämpferisch und ideenreich setzen sich die bisher mehr als 400 Mitglieder dieses Ausschusses seit 1949 für Belange der Petentinnen und Petenten ein. Die Ergebnisse der Arbeit der Ausschußmitglieder des Jahres 1998 sind Grundlage dieses Jahresberichtes. Die Gesamtzahl der behandelten Petitionen betrug 21 237 - eine Arbeitsleistung, die von den Abgeordneten nicht allein zu bewältigen war und auch niemals allein zu bewältigen ist. Daher gilt mein Dank auch ganz besonders den Kolleginnen und Kollegen im Ausschußdienst, die mit größtem Engagement, mit viel solidem Wissen und mit vielfältigen Ideen diese unsere Leistungen, die wir hier darstellen können, überhaupt erst möglich gemacht haben. ({2}) 5 292 Petitionen gingen zum Bereich Arbeit und Sozialordnung ein - ein Signal zum Nachdenken über die Wirkung der von uns beschlossenen Gesetze. Ich darf daran erinnern: Es handelte sich um das Rentenreformgesetz, das für 1999 beschlossen war. Es handelt sich um die Regelung des Wachstums- und Beschäftigungsgesetzes, das Frauen ein höheres Renteneintrittsalter bescherte und gleichzeitig die Altersrente für langjährig Versicherte und Arbeitslose entsprechend anhob. Es brachte Schwierigkeiten für die Erwerbsunfähigkeitsrentner. 1 300 Eingaben aus den neuen Ländern betrafen das Renten-Überleitungsgesetz und Überführungslücken. Diese Eingaben will ich nicht unerwähnt lassen. Einige davon wurden jetzt durch die Möglichkeit auf Grund des Bundesverfassungsgerichtsurteils verändert. 1 938 Petitionen betrafen den Geschäftsbereich des BMI. Auch dies möchte ich ganz besonders hervorheben. Im vergangenen Jahr wandten sich recht viele Petentinnen und Petenten - abgelehnte Asylbewerber aus dem Kosovo -, noch bevor wir im Bundestag über die dortigen Ereignisse gestritten haben, an den Ausschuß, und zwar mit dem Signal, daß sie einen Asylantrag gestellt haben und auf Grund der bestehenden Lage Asyl haben wollen. Des weiteren wandten sich Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina an uns, aber auch Eingaben aus dem Bereich des Staatsbürgerschaftsrechts, der Einbürgerung und der doppelten Staatsbürgerschaft erreichten den Ausschuß. Nicht zu vergessen: Viele, die noch die Möglichkeit haben wollen, über das Vertriebenengesetz als Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler anerkannt zu werden und nach Deutschland zu kommen, wenden sich an uns. Was signalisieren eigentlich diese schlichten Zahlen? Petentinnen und Petenten wenden sich häufig schon während der politischen Debatten zu Gesetzesverfahren an den Petitionsausschuß. Nicht nur die mit den Themen befaßten Fachausschüsse und die Fraktionen, sondern alle Abgeordneten des Hohen Hauses erhalten Kenntnis davon, wenn Petitionen als Material oder den Fraktionen zur Kenntnis überwiesen worden sind. Im vergangenen Jahr lautete der Beschluß 412mal „Material“ und 47mal „den Fraktionen zur Kenntnis“. Wie ernst nehmen wir diese Überweisungen, und wie ernst nehmen wir damit Helmut Wilhelm ({3}) eigentlich auch die Beschlüsse des Bundestages? Wie oft wird in den Fachausschüssen tatsächlich über die überwiesene Petition so sachlich und so intensiv beraten, wie wir es im Petitionsausschuß tun? „Den Fraktionen zur Kenntnis“ ist eigentlich ein ungeheuer hohes Votum, weil hierdurch dem Gesetzgeber etwas direkt zur Kenntnis gebracht wird. Für meine Fraktion gibt es da - ich darf schlicht sagen - entscheidende Reserven. Aber bei Ihnen ist das sicherlich alles ganz anders, wenn die Petitionen zu Ihnen in die Fraktionen kommen. Aus den Anträgen kann jedenfalls in den seltensten Fällen abgelesen werden, daß eine Petition Grundlage einer parlamentarischen Initiative ist. Dennoch gab es im vergangenen Jahr 3 588 Legislativpetitionen zu Fragen der Verwaltung, 2 645 zu Finanzfragen und über 1 000 zur Sozialversicherung und weiteren Fragen. Wir sind also schon längst nicht mehr der Kummerkasten der Nation. Vielmehr machen selbstbewußte, politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger sachlich von ihrem verfassungsmäßig verbrieften Recht Gebrauch. Sie wollen sich ganz bewußt in Politik einmischen. Hier jedenfalls gibt es keine Politikverdrossenheit. Sie erfassen ihr Recht auf Petitionen als Bindeglied zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Bundestag als direkte Teilhabe an Politik. Wenn sich Politik daran orientieren soll, wie die Menschen heute leben wollen, dann ist die Kenntnis von dem, was Menschen im Wege der Petition an den Bundestag herantragen, für uns von besonderer Bedeutung. Im vergangenen Jahr hat der Bundestag auf Empfehlung des Petitionsausschusses achtmal zur Berücksichtigung und 61mal zur Erwägung überwiesen. Angesichts über 21 000 behandelter Petitionen werden Sie sicherlich auch sehen, daß wir mit den höchsten Voten sehr sparsam umgegangen sind. Um so erstaunlicher ist es nach wie vor für mich, daß keiner dieser Berücksichtigungsbeschlüsse und nur 20 Erwägungsbeschlüsse verwirklicht wurden. Machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen auf der damaligen Regierungsbank, aber auch Sie, die Sie heute hier sitzen, sich auch einmal klar, wie schwer es uns fällt, wenn wir einem Petenten oder einer Petentin gerade den Beschluß „zur Erwägung überwiesen“ übermittelt haben, sechs Wochen später sagen zu müssen: Die Regierung will diesen Beschluß des Bundestages aber nicht umsetzen. Diese Petentinnen und Petenten haben dann erst einmal die Nase voll. Daß die Ladung eines Ministers oder eines Staatssekretärs im Einzelfall hilfreich sein kann, zeigen die Anhörungen, die wir in den letzten Jahren durchgeführt haben. Ungeachtet der Tatsache, daß Beschlüsse des Petitionsausschusses rechtlich keine Bindung entfalten, achtet der Petitionsausschuß im Interesse einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit der Volksvertretung darauf, daß die Bundesregierung alle ihr gebotenen Mittel und Möglichkeiten ausschöpft, um den ihr zur Berücksichtigung oder zur Erwägung überwiesenen Petitionen nachzukommen. Petitionen sind und bleiben eben Gradmesser dafür, wie sich gesetzliche Regelungen im Leben der Bürgerinnen und Bürger auswirken. Es ist schon mehrfach betont worden, daß die Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern in weit größerem Maße an den Petitionsausschuß schreiben als die aus den alten Bundesländern. Ich darf nur darauf verweisen, daß das so ist. Ich meine aber auch, daß die vielen Petitionen, die die Bürgerinnen und Bürger an uns senden - ähnlich hat es Herr Nolting gesagt -, ein wirklicher Vertrauensbeweis in die Demokratie sind. Viele Zuschriften aus den neuen Bundesländern enthalten genauso wie die aus den alten Bundesländern Vorschläge zu Gesetzesänderungen. ({4}) Petitionswesen meint aber auch Kontrolle über die Exekutive, im Parlament konkret durch die Opposition. Die Koalitionsfraktionen verstehen sich eher als Unterstützer der Regierung oder auch als deren Verteidiger. Zwar wird der Vorsitz des Ausschusses meist aus den Reihen der Opposition besetzt, aber in den einzelnen Angelegenheiten bemühen sich alle Ausschußmitglieder - für diese kollegiale Zusammenarbeit möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses ganz herzlich bedanken - in der Regel um Konsens und lassen so eher das in der Verfassung angelegte Spannungsfeld zwischen Volksvertretung und Bundesregierung und weniger das zwischen Opposition und Koalition erkennen. Die Festredner des gestrigen Abends haben mich persönlich in dem Bemühen um mehr Transparenz in der Arbeit, mehr Öffentlichkeit und stärkeres Bemühen, mit den Petenten in direkten Kontakt zu treten, bestärkt. Direktes Hören und Sehen sind wichtig, und unsere Befugnisrechte geben uns dazu grundsätzlich die Möglichkeit. Eine monatliche Sprechstunde, die ich als Vorsitzende ab November in Berlin anbiete, kann eine solche Möglichkeit sein. Sie und ich brauchen ja nicht - wie vor 1 200 Jahren Harun al Raschid - verkleidet durch die Bundesrepublik zu laufen, wenn wir Fehler in der Verwaltung, Lücken in den Gesetzen oder irgendeine Not innerhalb des Volkes entdecken wollen; denn die Petentinnen und Petenten kommen mit ihren Anliegen zum Glück ganz bewußt zu uns. Es ist kontraproduktiv, daß die Zahl der Ausschußmitglieder auf 29 herabgesetzt wurde. Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob sich diejenigen, die das beschlossen haben, darüber im klaren waren, daß das heißt, etwa 1 000 Berichterstattungen zusätzlich auf diese 29 Mitglieder aufteilen zu müssen. Ich komme zum Schluß. Im Berichtszeitraum gab es einen durch die Bundestagswahl begründeten Wechsel im Ausschußvorsitz. Bis November 1998 stand die Kollegin Nickels dem Ausschuß als Vorsitzende vor. Ich darf Ihnen, liebe Kollegin Nickels, für Ihre Arbeit, für Ihren Mut, in der Umsetzung keinen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, und für Ihre Ideen danken, mit denen Sie den Ausschuß geleitet haben. Es ist schwer, das Amt nach Ihnen zu bekleiden. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort nunmehr der Kollegin Marlene Rupprecht, SPDFraktion.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für viele Menschen, die noch keine Petition an den Ausschuß gerichtet haben, ist die Arbeit des Petitionsausschusses so etwas wie eine Black box. Was darin geschieht, ist für sie nicht nachvollziehbar. Deshalb will ich wie einige Vorrednerinnen und Vorredner an konkreten Beispielen die Vielfalt der Eingaben und deren mögliche politische Umsetzung kurz skizzieren. Ich finde es schade - vielleicht macht es der Raum, vielleicht macht es die Anwesenheit des Publikums aus, wir sind ja hier wie im Schaufenster -, daß hier auf einmal ein anderes Klima und eine andere Art des Umgangs miteinander als sonst vorherrschen. Wir haben über 90 Prozent einstimmige Beschlüsse, wir hebeln keine Gesetze aus, sondern wir achten sie. Wir loten nur die Spielräume, die wir haben, aus und versuchen, Einzelschicksale zu sehen und Problemlösungen anzubieten. Daher möchte ich auf das zurückkommen, was wir eigentlich tun: Kärrnerarbeit im Verborgenen. Sonst tagen wir nämlich in einem abgeschiedenen dunkelblauen Raum. Vielleicht macht es das aus, daß wir miteinander normal umgehen. Vielleicht vertragen wir das Schaufenster nicht. ({0}) - Ja, das stimmt, Herr Nolting. Da ich dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angehöre, will ich ein paar diesbezügliche Beispiele nennen: 1998 gab es in diesem Bereich 201 Petitionen. Die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger bezogen sich in überwiegender Weise auf Gleichstellungsfragen, auf die Seniorenpolitik sowie auf Fragen der Kinder- und Jugendhilfe. Man sieht, daß diese 201 Petitionen nicht die Mehrheit der Petitionen darstellten, aber auch da haben wir versucht, zu helfen. Mehrere Eingaben in diesem Bereich betrafen die Förderung des sozialen Ehrenamtes. Es wurde gefordert, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so auszugestalten, daß die Ausübung eines Ehrenamtes möglich ist. Dabei ging es vor allem um Verbesserungen im Hinblick auf die berufliche Freistellung, um das Ehrenamt ausüben zu können, und um den Ersatz der damit verbundenen Aufwendungen. Die neue Bundesregierung und auch die Fraktion der SPD hat diese Anregung bereits aufgegriffen, indem unter anderem der bisher begünstigte Personenkreis erweitert wird und die bisher steuerbefreite sogenannte Übungsleiterpauschale von 200 DM in eine steuerbefreite Ehrenamtsförderung von monatlich 300 DM umgewandelt wird. ({1}) Da uns der Bericht von 1998 vorliegt, muß ich dazu doch einen kleinen Schlenker machen: Die Vorgängerregierung und die Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P. loben jetzt immer das Ehrenamt. Sie hätten eigentlich Zeit genug gehabt, etwas zu tun und nicht nur Sonntagsreden zu halten. ({2}) Weil aber nichts getan worden ist, müssen wir jetzt berechtigte Forderungen umsetzen. ({3}) - Ich bin gleich wieder freundlich. Beruhigen Sie sich! Ein weiterer Fall, den ich hier erwähnen möchte, betrifft eine Petentin, die sich im Frühjahr 1998 an den Ausschuß mit der Bitte wandte, ihr nach Ende ihres Erziehungsurlaubes im Herbst 1998 bei der Suche nach einer Teilzeitbeschäftigung zu helfen. Sie war mit zwei Kindern und wegen hoher Mietkosten auf eine Teilzeitbeschäftigung angewiesen. Der Angestellten wurde von ihrem bisherigen Arbeitgeber mitgeteilt, daß die dort zu erledigende Tätigkeit von einer Teilzeitbeschäftigten nicht zu bewältigen sei. Bemühungen bei anderen Dienststellen waren ebenso erfolglos. Der Petitionsausschuß - da sieht man, welchen Ermessensspielraum er hat - konnte hier schnell und unbürokratisch helfen. Das zunächst bestehende Hindernis, die Aussage des Arbeitgebers, die zu erledigende Arbeit könne von einer Teilzeitbeschäftigten nicht geschafft werden, konnte durch die Genehmigung der Besetzung des Arbeitsplatzes mit einer weiteren Teilzeitkraft ausgeräumt werden. Der Petitionsausschuß konnte dafür sorgen, daß die Petentin an ihrem bisherigen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt wird. An diesem Fall wird sehr deutlich, welche Hürden Frauen nach wie vor überwinden müssen, wenn sie Familie und Erwerbsarbeit unter einen Hut bringen wollen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist deshalb das zentrale Anliegen im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und vor allem auch das unserer Ministerin, die dies in dem Aktionsprogramm „Frau und Beruf - Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ niedergelegt hat. - Es freut mich sehr, daß wir hier gemeinsam sehr schnell und unbürokratisch helfen konnten. Häufig konnten und können wir im Einzelfall auf Grund der Gesetzeslage nicht helfen. Es bedurfte und bedarf vieler Eingaben von Bürgern, bis bei den zuständigen Stellen die Notwendigkeit zum Handeln gesehen wird. So war es auch bei den Petitionen, die den Problemkreis Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen betrafen. Viele Bürgerinitiativen haben Petitionen geschrieben. Die Betroffenen haben darunter gelitten und wurden krank. Die berechtigten Wünsche nach Schutz ihrer Gesundheit wurden von den zuständigen Stellen jedesmal mit dem Hinweis zurückgewiesen, daß es für Lärmsanierung keine Rechtsgrundlage und keine Haushaltsmittel gebe und daß man der Deutschen Bahn AG als selbständiger Aktiengesellschaft außerdem nicht vorschreiben könne, Lärmschutzmaßnahmen zu treffen. Die Mitglieder des Petitionsausschusses haben diese Auffassung nicht geteilt und die Petitionen an das damalige Bundesministerium für Verkehr und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen. Das Ziel war, durch entsprechende Interpretation vorhandener oder auch durch Schaffung neuer Rechtsnormen das Eisenbahn-Bundesamt in die Lage zu versetzen, die Deutsche Bahn AG dazu anzuhalten, Lärmschutz, wo immer im Interesse der Bürger nötig, zu installieren. Von wegen „keine Bundesmittel“! Die neue Bundesregierung hat noch im Bundeshaushalt 1999 den Titel „Maßnahmen zur Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes“ eingerichtet und für dieses Jahr mit 100 Millionen DM dotiert. ({4}) Es werden also bereits Lärmschutzwände gebaut. Weiterhin erstellt die DB AG derzeit ein Lärmbelastungskataster, das als wichtige Entscheidungsgrundlage für die Frage, ob ein Härtefall vorliegt, dienen soll. Hier brachte das Handeln nach der Devise „Steter Tropfen höhlt den Stein“ den Erfolg. Die Leute haben also so lange „gebimst“, bis endlich gehandelt wurde. ({5}) Viele Petitionen betreffen nicht ganz konkrete, persönliche Anliegen einzelner Bürgerinnen und Bürger. Auch allgemeine oder ethische Fragen sind Gegenstand der Eingaben. Ich komme zu einem nächsten Beispiel. Nach Bekanntwerden des erfolgreichen Klonens eines Schafs in Schottland befürchteten viele Menschen, daß damit der erste Schritt in Richtung Klonen des Menschen getan sei. Die Petenten forderten ein klares und lückenloses Verbot der Klonierung von Menschen. Die Bundesregierung bekräftigte damals in ihrer Stellungnahme, daß Klonierung in Deutschland verboten sei, jedoch stets Mißbrauchs- und Umgehungsmöglichkeiten verhindert werden müßten, um Unklarheiten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Petitionsausschuß begrüßte die Haltung der Bundesregierung - da ist wieder das Versöhnliche - und vor allem das Engagement der Petenten für ein weltweites Verbot der Klonierung von Menschen. Die im Grundgesetz verankerte Würde des Menschen - das war uns sehr wichtig - muß auch im Rahmen moderner Reproduktionstechnologien unbedingt gewährleistet sein. Ein Mensch darf nicht wie ein technisches Produkt hergestellt werden. Durch die Zuweisung bestimmter Erbanlagen werden an den Klon Erwartungen gestellt, die die Selbstbestimmung und die freie Entfaltung des Menschen einschränken. Wir hielten es für wichtig, daß diese Petition im weiteren Meinungsbildungsprozeß beachtet wird, und haben deshalb empfohlen, sie der Bundesregierung als Material zu überweisen und den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis zu geben. Ich denke, daß es im Augenblick gärt, daß etwas daraus entsteht. Es ist noch nichts spruchreif. Aber wie ich meine Fraktion und auch andere Kollegen kenne, wird sich daraus etwas entwikkeln. Ich möchte noch einige Anmerkungen aus Sicht eines Petitionsausschußmitglieds machen, das erst in dieser Legislaturperiode in dieses Gremium gekommen ist. Die Arbeitsweise und den Umgang der Parlamentarier und Parlamentarierinnen in diesem Ausschuß empfinde ich als fair, an der Sache und an den Menschen orientiert. Hätten die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, diese demokratische Praxis zu erleben, wäre viel getan, um das Negativbild von Politikern zu korrigieren. ({6}) Ich bedanke mich an dieser Stelle bei meinen Kolleginnen und Kollegen und bei der Frau Vorsitzenden ({7}) - ich hätte keine Probleme gehabt, Sie vorzulassen - für die gute Zusammenarbeit und spreche auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes für die geleistete Arbeit meinen Dank aus. Zum Schluß möchte ich den Petentinnen und Petenten für ihre Geduld danken; denn die sorgfältige Bearbeitung der Eingaben beansprucht oft viel Zeit. Dank auch dafür, daß sie Verständnis haben, daß wir trotz großer Anstrengungen für ihre Anliegen nicht immer die gewünschten Lösungen finden können! Danke schön. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nunmehr die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSUFraktion.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte meinen Ausführungen über die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 1998 zwei persönliche Bemerkungen voranstellen. Zunächst ist es mir ein Bedürfnis, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes meinen herzlichen Dank für die kollegiale Zusammenarbeit auszusprechen. Die professionelle Arbeitsweise des Ausschußdienstes hat mir als einer jungen Abgeordneten den Einstieg in die nicht immer einfache Materie sehr erleichtert. Zweitens will ich eine Lanze für die Reputation des Ausschusses brechen. Es gibt immer wieder die eine oder andere Stimme, die dem Petitionsausschuß eine nicht ganz so hohe Bedeutung beimißt. Dementsprechend schätzen diese Stimmen auch die Mitgliedschaft von Abgeordneten in diesem Gremium als gering ein. Auch ich habe solche Stimmen vernommen. Nach einem Jahr Arbeit im Petitionsausschuß kann ich sagen, daß diese Beurteilung nicht zutrifft. Die aktive Beteiligung der Menschen am politischen Geschehen ist Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Den Mitgliedern des Ausschusses kommt dabei die verantwortungsvolle Aufgabe zu, diese Beteiligung nicht zu einer hohlen Hülse verkommen zu lassen; dies wäre der Fall, wenn die Bürger den Eindruck gewönnen, ihre Anliegen würden nicht ernst genommen oder gar inkompetent bearbeitet werden. Dieser Eindruck darf auf keinen Fall entstehen. Wir müssen begreifen, daß der Petitionsausschuß eine doppelte Chance bietet: eine Chance für den Bürger, direkt mit dem Parlament zu kommunizieren und gegebenenfalls Hilfe zu erlangen, und eine Chance für das Parlament, eine direkte und praxisnahe Rückkopplung über seine Gesetzgebung zu bekommen. Ein Jahresbericht ist immer eine Sternstunde für Statistiker. Auch der Jahresbericht des Petitionsausschusses gibt reichlich Gelegenheit für die Betrachtung zahlenmäßiger Verhältnisse und Veränderungen. Für mich als Abgeordnete aus den neuen Ländern sticht dabei eine Zahl ganz besonders hervor: Bei einer sinkenden Gesamtzahl von Petitionen erhöht sich der eh schon große prozentuale Anteil von Petitionen aus den neuen Ländern in diesem Jahr auf über 30 Prozent. Worin liegt es begründet, daß sich besonders viele Bürger aus den neuen Ländern an den Petitionsausschuß wenden? Vermutlich gibt es dafür eine ganze Reihe von Gründen, und viele von ihnen sind positiv zu bewerten. Nach Jahrzehnten staatlicher Willkür und Allmacht nehmen viele Menschen aus der ehemaligen DDR ihr Recht wahr, Entscheidungen zu hinterfragen und überprüfen zu lassen. Viele wollen mit ihren Vorschlägen die Demokratie aktiv mitgestalten und suchen auf diesem Weg einen Dialog mit der Politik. Manche Gründe spiegeln auch die Zeichen der Zeit wider: Auch im Jahre 9 der deutschen Einheit müssen wir uns weiterhin für die materielle Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Ländern einsetzen. Es ist nicht in allen Bereichen so, wie wir es uns wünschen. Häufig steckt der Teufel bei der Herstellung der inneren Einheit im Detail. Die Anrufung des Petitionsausschusses konnte hier in den letzten Jahren in vielen Fällen Abhilfe schaffen. Es gibt aber auch Gründe dafür, die mich ärgern und nicht sein müßten: Der Prozentsatz der Eingaben, die durch Auskunft und Verweisung erledigt werden, liegt bei über 30 Prozent. Die Eingaben aus den neuen Ländern haben daran einen nicht unerheblichen Anteil. Aus diesen Eingaben läßt sich häufig eine Unkenntnis der politischen, wirtschaftlichen und administrativen Strukturen unseres Staates ableiten. Dies bestätigt meine Auffassung, daß der politischen Bildung in den neuen Ländern noch sehr viel mehr Bedeutung beigemessen und mehr Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden müssen. Wir müssen gemeinsam Wege finden, politische Bildung allen Generationen in Ostdeutschland besser zu vermitteln und die Bürger erfolgreich zu motivieren, politische Bildung auch anzunehmen. Vielleicht würde sich eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit des Ausschusses positiv auswirken. Der Ausschuß sollte offen bekunden, wenn er helfen konnte, die Lage eines Petenten zu verbessern. - Dies wären für mich wichtige Schlußfolgerungen aus der statistischen Betrachtung des Jahresberichtes. Auf der inhaltlichen Ebene möchte ich aus der ostdeutschen Perspektive zwei Vorgänge ganz besonders beleuchten: Der Ausschuß hat im vergangenen Jahr mit einer Empfehlung einen wichtigen Beitrag zu Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit in den neuen Ländern geleistet. Er hat sich klar für die Verlängerung der Verjährungsfristen für mittelschwere DDR-Regierungskriminalität ausgesprochen. Die Petenten hatten mit dem Hinweis auf eine angebliche Unterwerfung der DDR durch die Bundesrepublik ein sogenanntes Strafverfolgungsbeendigungsgesetz gefordert. Dies wäre ein fatales Signal gewesen und hätte den Rechtsfrieden in den neuen Ländern gefährdet. In einem anderen Fall ging es um Schäden, die auf den von der Westgruppe der russischen Streitkräfte genutzten Flächen entstanden sind. Viele Bürger erhielten ihre Grundstücke zurück, allerdings durch Munition verseucht. Den Geschädigten wurde eine Frist von drei Monaten eingeräumt, um Schadenersatz für die Räumungskosten zu beantragen. Das Problem des Petenten war es aber nun, daß er gar nicht wußte, daß sein Grundstück mit Munition verseucht war. Als er dann von dem Zustand erfuhr, hätte er entweder die Räumungskosten selber tragen oder das Grundstück zu einem sehr geringen Preis an die Stadt veräußern müssen. Der Ausschuß empfahl, dem Betroffenen an Stelle einer objektiven eine subjektive Frist einzuräumen, die nicht mit dem Zeitpunkt der Rückgabe, sondern mit dem Zeitpunkt der Kenntnis der Schäden beginnt. Der Petent bekam eine neue Frist zugesprochen. Ich finde, daß mit dieser Empfehlung die besondere Lage derjenigen Menschen berücksichtigt wurde, deren Grund und Boden während des kalten Krieges von den damaligen Sowjetstreitkräften genutzt wurde. Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Bemerkung. Innerhalb des Berichtszeitraumes hat es einen Regierungswechsel gegeben. Früher haben die Kollegen, die heute der Regierungskoalition angehören, die Ministerien und insbesondere das Auswärtige Amt hart kritisiert und mehr Menschlichkeit gerade in Fragen von Visa-Anträgen und Familienzusammenführungen angemahnt. Es überrascht mich deshalb, daß derselbe Personenkreis, der nunmehr in den Ressorts die Verantwortung trägt, von seiner damaligen Kritik offenbar nichts mehr wissen will. Ging es damals etwa nicht um die Sache, sondern nur um bloße Polemik? ({0}) Auch wenn in wenigen Einzelfällen Eingaben zum Schmunzeln angeregt haben - es ging etwa einmal um die Frage, ob ein Gericht entscheiden kann, ob Rehe Mais verzehren können oder nicht -, so war doch die Arbeit des Petitionsausschusses im vergangenen Jahr und in den vorhergehenden Jahren wichtig und erfolgreich. Ich freue mich auf das nächste Jahr. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Reiche, Sie haben zwar Ihre Rede gerade beendet, aber vielleicht gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Frau Jutta Müller.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir uns nach der Debatte unterhalten könnten. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe also nunmehr der Parlamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit, Christa Nickels, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das Wort.

Christa Nickels (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001601

Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das 50jährige Jubiläum des Petitionsausschusses haben wir gestern gefeiert. In der heutigen Zeit ist das Petitionsrecht für uns ein ganz selbstverständliches Recht, das Bürgerinnen und Bürger sehr intensiv und ungezwungen in Anspruch nehmen. Die Zahlen wurden ja schon genannt: Innerhalb von 50 Jahren gab es 4,5 Millionen Petitionen. Für mich ist es wichtig, daran zu erinnern, daß dieses Petitionsrecht als Bestandteil der demokratischen Teilhabe ein erkämpftes Freiheitsrecht ist. Im Kampf um eine freiheitliche Verfassung im 19. Jahrhundert standen die Forderungen der Bürgerinnen und Bürger für das freie Petitionsrecht gleichberechtigt neben der Forderung nach Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit. Das Petitionsrecht wurde in Deutschland von Anfang an eben nicht nur zum Vorbringen individueller Wünsche oder von Sorgen und Beschwerden genutzt. Es hatte immer schon eine politisch gestalterische Dimension. Es drückt damit den Willen aus, etwas politisch aktiv zu gestalten. Die Bürger waren von Anfang an sehr davon überzeugt, daß es ihr gutes Recht ist, sich an der parlamentarischen Willensbildung und an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen. In dem Willen, ein bürgerliches Freiheitsrecht wirklich in Anspruch zu nehmen, liegt das eigentliche Geheimnis des Erfolges des Petitionsrechts. Für das Recht, sich mit Petitionen in die eigenen Angelegenheiten einmischen zu können, sind die Menschen damals auf die Barrikaden gegangen. Wenn den Menschen die Gelegenheit gegeben wird, sich kreativ in die Gestaltung ihres Gemeinwesens einzumischen, dann packen sie diese - sonst viel zu seltene Gelegenheit auch heute noch energisch beim Schopf. Es ist schon auf folgenden Punkt hingewiesen worden: Die hohe Zahl der Eingaben ist ein Vertrauensbeweis der Bürgerinnen und Bürger an das Parlament. Diese Tatsache kann man nicht hoch genug einschätzen in einer Zeit, in der immer wieder von Politikverdrossenheit die Rede ist. Das Vertrauen in die demokratischen Verfahren und vor allem der Wille zur Mitgestaltung gehören zu den wichtigsten Grundlagen und Ressourcen unseres Landes. Damit dürfen wir ebenso wenig Raubbau treiben wie mit den natürlichen Lebensgrundlagen. Der Mensch braucht saubere Luft und sauberes Wasser zum Leben. Eine demokratische Gesellschaft braucht ebenso unabdingbar - Menschen, die sich einmischen, mitdenken, auf Mängel hinweisen und Verbesserungsvorschläge machen. Das ist ein wesentlicher Beitrag, unsere Zivilgesellschaft auf Dauer zu erhalten und weiterzuentwickeln. ({0}) Für mich ist diese Debatte zum Jahresbericht 1998 nicht nur wegen der gestrigen Feierstunde interessant, die in allen Debattenbeiträgen erwähnt wird. Sie hat für mich auch eine ganz persönliche Dimension. Ich bin in der vierten Legislaturperiode Mitglied des Parlamentes und war 12 Jahre - Bernd Reuter gehörte die ganze Zeit ebenfalls dazu - mit Leib und Seele, mit Kopf und Verstand Mitglied des Petitionsausschusses. ({1}) Ich war vier Jahre lang Vorsitzende dieses Ausschusses. Wir wissen alle, daß die Arbeit im Petitionsausschuß ein mühsames Bohren dicker Bretter im Interesse der betroffenen und engagierten Menschen ist. Wir haben oft erlebt, daß es manchmal 10 Jahre dauerte, bis sich im Parlament etwas Grundsätzliches bewegte. Ich erinnere an die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Dazu gab es vor vier bis fünf Jahren 1,5 Millionen Unterschriften von Menschen, die eine Änderung wollten. Man sieht in vielen Bereichen deutlich, daß es zwar lange dauern kann, daß sich aber letztendlich etwas grundlegend positiv verändert, was in den Entscheidungen des Parlaments dann seinen Niederschlag findet. Als ich ins Gesundheitsministerium kam und dann meinen Antrittsbesuch bei den Abteilungen machte, saß da ein Beamter, der mich mit funkelnden Augen anguckte und sagte: Sie sind jetzt die neue PSt. Sie haben uns früher immer die vielen Petitionen geschickt, die uns so viel Arbeit gemacht haben. Ich war der Beamte, der sie bearbeiten mußte. Jetzt sind Sie diejenige, die Sie mit mir zusammen beantworten und zurückschicken muß. Dann habe ich ihm gesagt: Das ist mir schon klar. Es freut mich sehr, daß Sie sich gleich vorgestellt haben. Wir werden das jetzt intensiv und engagiert angehen. Ich hoffe, daß wir mit viel Kreativität viel für die Betroffenen erreichen können. Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, daß es auf der Regierungsseite genauso ein Bohren dikker Bretter ist, daß man dort aber erfreulich viel leisten kann. Ich will einmal einige Sachen nennen, für die wir lange gekämpft haben. Sie alle kennen den furchtbar tragischen Fall eines ehemaligen NS-Opfers, das im KZ gesessen hat. Sie nicken alle. Wir haben fünf Jahre lang daran gearbeitet. Wir haben im Rahmen der Strukturreform eine Regelung getroffen, durch die wir hoffen, diesen Menschen helfen zu können. Es kann nämlich nicht sein, daß Opfer aufgrund einer rechtlichen Besserstellung hinterher im Grunde genommen weniger Geld erhalten. Wir haben zur Entlastung chronisch Kranker im letzten Jahr über das Solidaritätsstärkungsgesetz entscheidende Maßnahmen ergriffen, die gerade jetzt wirken. Die Leute haben den entsprechenden Nachweis erbracht, so daß Leistungen für sie jetzt fast vollständig zuzahlungsfrei sind. Das ist für viele Alte und Kranke, die nur eine kleine Rente haben, eine ganz erhebliche Verbesserung. ({2}) Ich könnte eine ganze Reihe von Beispielen aufzählen. Ich werde auch die Anregung, die, glaube ich, Sie, Frau Reichard, gegeben haben, aufgreifen und einmal das, was wir positiv erledigen konnten, auflisten und Ihnen zur Verfügung stellen. Ich glaube, es ist wichtig, daß die Ministerien dies tun. Natürlich gibt es auch hochrangige Überweisungen, bei denen es lange dauert. In einem Fall habe ich als Vorsitzende noch einen Vorschlag unterschrieben und bin jetzt diejenige, die das beantworten muß. Leider Gottes muß ich einen negativen Bescheid geben. ({3}) Aber Sie können sicher sein, daß ich mich hier sehr engagiert einsetze; das tut unser ganzes Haus. Sie können auch sicher sein, daß Sie immer ein offenes Ohr finden. Sie können mich selbstverständlich gern morgens in den Ausschuß einladen, wenn wir das zu diskutieren haben. Ich setze auf eine gute Zusammenarbeit und freue mich sehr, Frau Vorsitzende Lüth, daß Sie in der kurzen Zeit schon feststellen konnten, daß von den hochrangigen Beschlüssen, die in dieser Legislaturperiode gefaßt worden sind, 50 Prozent umgesetzt worden sind. In der vergangenen Legislaturperiode waren es lediglich 10 Prozent. Über diese Veränderung freue ich mich; das stecke ich mir gerne ans Revers. Ich hoffe, daß wir das halten können. Vielen Dank für Ihre Arbeit! ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es spricht nun der Kollege Aribert Wolf, CDU/CSU-Fraktion.

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rund 17 000 Eingaben gingen beim Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages im Jahre 1998 ein. Mehr als 21 000 Petitionen wurden 1998 vom Petitionsausschuß abschließend behandelt. Die Zahlen sind heute bereits genannt worden. Ich meine, diese Daten machen deutlich - hinter jeder dieser Eingaben steht ein persönliches Schicksal -, daß wir keine neuen Institutionen, Bürgerbeauftragte oder ähnliches brauchen, um Bürgeranliegen unmittelbar an das Parlament bzw. an den Gesetzgeber heranzutragen. Hier funktioniert unsere Demokratie. Darauf können wir alle miteinander ein wenig stolz sein. Bei den Diskussionen draußen wird das ja nicht immer so dargestellt, wie es im Plenarsaal des Deutschen Bundestages geschieht. Auch ich möchte mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes ganz herzlich bedanken; denn vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Bundestages haben dafür gesorgt, daß das wichtigste plebiszitäre Element in unserer repräsentativen Demokratie nicht nur auf dem Papier steht, sondern Sitzungswoche für Sitzungswoche mit Leben erfüllt wird. Für diese fachliche Arbeit ein herzliches Dankeschön! Als neues Mitglied im Bundestag und auch im Petitionsausschuß will ich aber nicht nur eine Jubelarie und ein Loblied anstimmen und deutlich machen, wie wichtig uns allen im Bundestag die Arbeit des Petitionsausschusses ist. Das klingt in Feierstunden und Debatten wie dieser immer ganz gut. Die gelebte Wirklichkeit im Deutschen Bundestag und auch die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung sieht allerdings ein bißchen anders aus. So habe ich bei Beginn der 14. Legislaturperiode zunächst festgestellt, daß die Mitgliedschaft im Petitionsausschuß nicht gerade zu den begehrtesten Ausschußmitgliedschaften gehört. Er hielt sich in allen Fraktionen in sehr überschaubaren Grenzen, wenn ich auch zubilligen muß, daß es einige wenige Mitglieder dieses Hauses gibt, die sich sehr nachdrücklich für ihre Mitgliedschaft im Petitionsausschuß stark gemacht haben. Viel Arbeit und wenig Öffentlichkeit - das zeichnet die Tätigkeit in diesem Ausschuß aus. Um so mehr gebührt fraktionsübergreifend all den Kolleginnen und Kollegen Dank und Anerkennung, die allesamt - so habe ich es jedenfalls erlebt - ihre Arbeit im Petitionsausschuß mit großem Einsatz, Engagement und Fleiß machen. Vielen Dank! ({0}) Wo den Bürger der Schuh am häufigsten drückt, wo aber vielleicht auch die Regelungsdichte des Staates am höchsten ist, zeigen die Rekordhalter unter den Ressorts, die von Eingaben an den Petitionsausschuß betroffen sind. Einsamer Spitzenreiter ist das Bundesarbeitsministerium mit über 5000 Petitionen oder 38 Prozent der Eingaben. Es folgen das Innenministerium mit 1900 Petitionen, das Finanzministerium mit 1800 Petitionen, das Gesundheitsministerium mit 1200 Petitionen und das Justizministerium mit 1100 Petitionen. Alle anderen Ressorts sind weit abgeschlagen. Werden die Anliegen im Petitionsausschuß beraten, gibt es stets ein intensives Ringen um fraktionsübergreifende Voten. Wir haben überwiegend einstimmige Beschlüsse gefaßt. Das gelingt nicht immer, muß aber auch - so meine ich - nicht sein. Wir sind gewählt worden, damit wir im Parlament unterschiedliche Standpunkte einbringen. Es macht gerade den Kern der Demokratie und des Parlamentarismus aus, daß diese Unterschiede zum Ausdruck kommen. ({1}) Es ist immer wieder die Bereitschaft zu spüren, die Anliegen der Bürger als berechtigt anzusehen und ihnen Hilfe und Unterstützung zu gewähren. Wenn es um das Wohl des einzelnen und um die Herstellung von Gerechtigkeit, um das anzuwendende Recht geht, dann darf der Bürger nicht das Gefühl haben, er sei einer undurchsichtigen Schreibtischherrschaft ausgesetzt, die sich der parlamentarischen Kontrolle völlig entziehe. Hier können wir beruhigt feststellen, daß diese Einsicht auf allen Seiten des Hauses, zumindest im Petitionsausschuß, vorhanden ist. Aber hier gilt es auch, Kritik anzubringen. Denn was gibt es eigentlich für ein parlamentarisches Gremium Schlimmeres, als bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern hohe Erwartungen zu wecken, obgleich von vornherein klar ist, daß diese Erwartungen nicht erfüllt werden können? Auch das habe ich im Petitionsausschuß immer wieder erlebt. Diese Kritik richtet sich vorwiegend an die Vertreter der rotgrünen Regierungskoalition. Gerade bei den Beschlüssen im Sozialbereich haben wir immer wieder erleben müssen, wie Sie auch im Petitionsausschuß dem Motto Ihrer sonstigen Regierungsarbeit treu bleiben: viel versprechen und wenig halten. Ich rede hier nicht von den acht Petitionen, die der Ausschuß der Bundesregierung 1998 zur Berücksichtigung überwiesen hat und von denen die Bundesregierung bis heute keine einzige positiv erledigt hat. Ich rede auch nicht von den 61 zur Erwägung überwiesenen Petitionen, von denen die Bundesregierung bisher nur 20 positiv erledigt hat. Ich rede vielmehr von einer ganzen Reihe von Bürgeranliegen und -wünschen im Bereich des Rentenrechts, der Kranken- und Pflegeversicherung sowie des Asyl- und Ausländerrechts - um nur einige Beispiele zu nennen -, die Sie, also Rotgrün, zwar im Petitionsausschuß unterstützt haben, von denen wir aber hier im Deutschen Bundestag, wenn es darum geht, daß Sie im Rahmen Ihrer Regierungsarbeit entsprechende Gesetze auf den Weg bringen, nichts sehen. ({2}) - Es ist doch so! Da können Sie gern „Na, na!“ rufen. Bei der sozialen Schieflage Ihrer Rentenkürzungen und Ihrer Gesundheitsreform, angesichts Ihrer Plünderung der Rücklagen der Pflegeversicherung und dessen, was Sie den Menschen hier zumuten, müßten Sie eigentlich auch im Petitionsausschuß die einzelnen Bürgeranliegen ablehnen. ({3}) Aber Sie tun es nicht, meine Damen und Herren. Sie beruhigen damit Ihr schlechtes Gewissen und überweisen diese Wünsche immer wieder an die Regierungsfraktionen, obwohl Sie wissen, daß eh nichts dabei herauskommt. Ich denke - um es konkret zu machen - zum Beispiel daran, daß wir im Petitionsausschuß alle dafür eingetreten sind, die Leistungen der Pflegeversicherung für Demenzkranke zu verbessern. Dies gilt auch für den Stellenschlüssel in Pflegeheimen. Aber wie wollen Sie diese Voten erfüllen, wenn Sie mit Ihrem rotgrünen Sparpaket künftig Jahr für Jahr der Pflegeversicherung 500 Millionen DM entziehen? ({4}) Wenn Ihr Kanzler schon bei den Schwächsten sparen will, sollten Sie entweder die Courage haben, Ihr rotgrünes Sparpaket wegen seiner sozialen Schieflage im Bundestag und in Ihrer Fraktion zu stoppen, oder zumindest den Mut aufbringen, den Menschen in Einzelfällen im Petitionsausschuß zu sagen, daß Sie bei diesem BrioniKanzler keine Chance auf Verwirklichung sehen. ({5}) Auch beim Asylverfahren sind es immer wieder die Grünen, die glauben, den Petitionsausschuß zu einer Art Superrevisionsinstanz machen zu können. Das ist der falsche Weg! Ich kann Ihnen sagen, daß ich stolz darauf bin, daß Bayern mit 114 Eingaben pro 1 Million Einwohner am wenigsten Petitionen hat. Dies zeigt, daß die Bayerische Staatsregierung die Gesetze in unserem Land vernünftig umsetzt und die Bürger deswegen wenig Anlaß sehen, sich an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags zu wenden. ({6}) Die bürgerfreundlichste Politik ist diejenige, die dazu beiträgt, daß überhaupt keine Petitionen eingereicht werden. Ich bedanke mich. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Wenn ich, Frau Kollegin Nickels, Ihr Verhalten richtig interpretiere, melden Sie sich, da Ihre Frage nicht zugelassen worden ist, zu einer Kurzintervention. - Ich gebe Ihnen das Wort.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir sind uns, glaube ich, alle darüber klar, daß es im Bereich der Pflege der dementen und verwirrten alten Menschen noch Nachhol- und Nachbesserungsbedarf gibt. Das ist bekannt, seit die Pflegeversicherung etabliert ist, das hat die alte Bundesregierung in vielen Bereichen sehr umgetrieben. Es ist zweitens bekannt, daß in diesem Bereich Hast, Leichtsinn und Leichtfertigkeit nichts zu suchen haben. Denn wenn man hier mit leichter Hand oder womöglich mit falschen Zahlenschätzungen vorgeht - ich beziehe mich hier auf einen Gesetzentwurf, der Anfang dieses Jahres von Bayern und Baden-Württemberg im Bundesrat eingebracht worden ist und der von Rücklagen in der Pflegeversicherung von über 12,3 Milliarden DM ausgeht, obwohl klar ist, daß wir nur 9,3 Milliarden DM haben -, vertragen das weder die betroffenen pflegebedürftigen Menschen noch diejenigen, die in der Pflege ihr Bestes leisten. Das heißt, es ist richtig, daß hier unter Einbeziehung allen Sachverstandes intensiv geprüft werden muß, wo und wie man hier zur Verbesserung gerade der Pflege der Dementen beitragen kann. Sie wissen, Herr Wolf, daß das Gesundheitsministerium in Zusammenarbeit mit den anderen Häusern darüber intensive Gespräche führt und zahlreiche Fachrunden einberufen hat. Allerdings muß man sich auf die seriösen und soliden Zahlen beschränken und darf den Leuten nicht etwas vorgaukeln, was die Zahlen nicht hergeben: weder bei der Höhe der Rücklagen, die in dem Bundesratsentwurf falsch eingeschätzt worden ist, noch auf der Ausgabenseite, wo man viel zu ungenau ausgerechnet hat, was das Ganze kostet. Jetzt komme ich zur Sparleistung: Es ist für uns als Gesundheitsministerium schmerzlich, daß wir in der Pflegeversicherung jedes Jahr in der Größenordnung von ungefähr 300 bis 400 Millionen DM zur Sparleistung beitragen müssen. Unser Haus hat alles getan, um das im Rahmen zu halten. Ich möchte daran erinnern, daß Herr Seehofer seinerzeit ganz andere Zahlenoperationen vorhatte, um den Anstieg der Lohnnebenkosten einzudämmen. Da ging es um mehrere Milliarden DM, die von der Opposition damals mit Mühe und Not abgewehrt werden konnten. Die Zahl, die jetzt im Sparpaket enthalten ist, führt nicht dazu, daß die Reserven geplündert werden. Die Reserven werden im Schnitt nie unter 8 Milliarden DM liegen und in einigen Jahren wieder sukzessive steigen. Das enthebt uns aber nicht der Mühe wir werden das auch tun -, intensiv zu versuchen, die Situation der Pflege der Dementen solide und langfristig zu verbessern. Da werden Sie von dieser Regierung in dieser Legislaturperiode noch einiges hören. Allerdings werden wir keine Schnellschüsse machen. Das ist diesem Bereich absolut abträglich; das darf man nicht machen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Kollege Wolf möchte erwidern. Bitte schön.

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, Sie werden mir trotzdem recht geben müssen, daß es die rotgrüne Bundesregierung ist, die die angesparten Spargroschen der Bedürftigsten der Bedürftigen Jahr für Jahr um 500 Millionen DM plündert, ({0}) indem sie die Bemessungsgrundlage für die Zahlungen von Beiträgen an die Pflegeversicherung bei Arbeitslosen entsprechend senkt, und daß es schon heute so ist, daß die Pflegeversicherung auf der Einnahmen- und Ausgabenseite eine leicht negative Bilanz hat. Das heißt, wenn Sie 500 Millionen DM wegnehmen, plündern Sie die Rücklage der Pflegeversicherung, die sich heute - da gebe ich Ihnen recht - auf rund 9 Milliarden DM beläuft. Wenn Sie das Geld in den Haushalt und die Sanierung der Staatsfinanzen stecken, dann gilt ein altes Wort, das Franz Josef Strauß einmal in diesem Plenum damals noch in Bonn - gesagt hat, nämlich daß eher ein Hund einen Wurstvorrat anlegt, als daß eine rote Regierung - damals war es noch keine rotgrüne Regierung eine Sparrücklage unangetastet läßt. ({1}) Ich empfinde es als beschämend - das muß ich wirklich sagen -, wenn ich miterlebe, was Sie den Menschen im Wahlkampf versprochen haben und was Sie im Petitionsausschuß immer wieder an Beschlüssen fassen. Bei Ihnen gibt es einen Widerspruch zwischen Ihren Lippenbekenntnissen und der Tatsache, daß Sie die notwendigen Finanzmittel nicht zusammenhalten können. Von Horst Seehofer und Norbert Blüm ist die Pflegeversicherung als Versicherung ausgestaltet und eben nicht steuerfinanziert worden. Sie aber wollen jetzt mit einem Trick den Pflegebedürftigen das Geld wegnehmen und in den allgemeinen Haushalt transferieren. Das werden wir kritisieren, auch wenn Sie noch so viel aufschreien und Rabatz machen; denn diese Mittel fehlen den Schwächsten der Schwachen in unserer Gesellschaft. Wir werden Ihnen das nicht widerspruchslos durchgehen lassen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nun der Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Wort.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetzt schwierig, angemessen und ernsthaft zur Arbeit des Petitionsausschusses zurückzukommen. ({0}) Aber Ihnen schenke ich nachher auch noch aus, Herr Wolf. Ich komme noch zu Ihnen. Auch ich möchte hier zunächst meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß nach der gestrigen würdigen Feier zum 50jährigen Bestehen des Petitionsausschusses heute erneut das besondere Augenmerk des Parlaments und auch der Bevölkerung - Herr Präsident, erlauben Sie mir, daß ich in diesem Zusammenhang die Besuchergruppen besonders begrüße - auf den Petitionsausschuß gelenkt wird. ({1}) - Nein, ich habe keine Besuchergruppe. Mir ist aber jede Besuchergruppe der Kolleginnen und Kollegen genausoviel wert. ({2}) In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch für die Oktober-Ausgabe von „Blickpunkt Bundestag“ bedanken, in der getitelt wurde: „50 Jahre Petitionsausschuß - Frühaufsteher für die Bürgerrechte“. Das sind wir gerne, und wir werden uns dieser Arbeit auch weiterhin mit großem Engagement zuwenden. ({3}) Wegen des besonderen Ereignisses des 50jährigen Jubiläums möchte ich weitere Dankesworte anbringen: zunächst an unsere stellvertretende Ausschußvorsitzende Jutta Müller, die mit ihren treffenden Analysen so manche Argumentation der Kollegen auf der Gegenseite im Obleutegespräch und im Ausschuß zum Guten brechen und wenden kann, zum anderen an unseren Arbeitsgruppenvorsitzenden Bernd Reuter, für den dasselbe gilt und der darüber hinaus manchmal die Koralle lachen läßt. ({4}) - Das verstehen nur Insider. Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen zur Linken und zur Rechten, die Sie als Abgeordnete im Petitionsausschuß und somit in Ombudsmanfunktion für die Bürgerinnen und Bürger tätig sind. Herzlichen Dank dem Ausschußdienst und unseren Referenten, ohne die das Mammutprogramm des Petitionsausschusses nicht zu bewältigen wäre. Nun zu unserer Arbeit: Das Recht der Bürgerinnen und Bürger, nicht nur durch Wahlen, durch Mitarbeit in den Parteien und durch Kontakt zu den örtlichen Abgeordneten Einfluß zu nehmen und ihre Anliegen vorzubringen, sondern auch durch das Recht, sich mit einer persönlichen Eingabe direkt an das Parlament zu wenden, wird von vielen Menschen anerkannt und in Anspruch genommen. Daß diese Inanspruchnahme im Berichtszeitraum 1998, also in einem Bundestagswahljahr, um, wie der Bericht ausweist, mehr als 15 Prozent zurückgegangen ist, liegt an der besonderen Beobachtungsgabe und Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger, die sich von einer alten Regierung nicht mehr viel und von einer neuen Regierung sicherlich nicht alles, aber dennoch notwendige Veränderungen versprechen. Und Recht haben die Bürgerinnen und Bürger; ({5}) denn nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 konnten viele Petitionen insbesondere im Bereich Arbeitnehmerrechte, etwa bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und bei der Reduzierung der Zuzahlungen bei Arzneimitteln und Kuren, positiv erledigt werden. ({6}) Eine hohe Eingabedichte gab es im Bereich der Pflegeversicherung. Die Entwicklung der Pflegeversicherung ist eine fortwährende Aufgabe und braucht nicht Ihre Polemik, Herr Kollege Wolf. Ich danke der Parlamentarischen Staatssekretärin Nickels für die Darlegung der Notwendigkeit - die wir alle sehen -, gerade im Bereich der Demenzkranken weiterzuhelfen. ({7}) Das ist eine fortwährende Aufgabe, und ich setze große Hoffnung in diese Regierung, daß sie das erledigt, was die alte Regierung nicht geschafft hat. Notwendige Veränderungen im Bereich der Pflegeversicherung werden aber auch durch die Petitionen herbeigeführt: Die Petenten stellen uns die schwierige Situation, in der sie sich als Pflegende oder Pflegebedürftige befinden, dar - das ist ganz wichtig für unsere Arbeit -, und diese Anliegen transportieren wir natürlich weiter an den Gesundheitsausschuß. So konnte es auf Grund von Petitionseingaben auch zu einer Verbesserung der Akzeptanz der Pflegepflichteinsätze kommen. Dem Wunsch von Petenten, auf die Pflegepflichteinsätze ganz zu verzichten, da diese als Kontrolle verstanden werden, konnte mit dem Argument begegnet werden, daß gerade diese Pflichteinsätze Defizite in der häuslichen Pflege aufzeigen und Hilfestellung leisten können. Die Beibehaltung der Pflegepflichteinsätze bei Kostenübernahme durch die Pflegeversicherung - dafür haben wir uns entschieden - dient insgesamt der Fortentwicklung der Pflegeversicherung im Sinne der Petenten. Eine weitere Vielzahl von Eingaben betrifft den Bereich der Rentenversicherung. In dem Fall einer Ordensfrau, die 50 Jahre als Krankenschwester tätig war und dann aus ihrem Orden ausgetreten ist, konnte eine Nachversicherung erreicht werden. Dagegen konnten wir wegen einer Gesetzesgrundlage aus dem Jahre 1996, nämlich des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes, vielen Petitionen nicht abhelfen. Das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von Freitag, den 13. September 1996 - einem Schwarzen Freitag, den ich, 600 Petenten und Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürger nicht vergessen werden -, führte dazu, daß bei der Rentenberechnung ganz gravierende Einschnitte verankert wurden, die zu drastisch reduzierten Rentenansprüchen geführt haben. ({8}) Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat mich am 13. September 1996 aufgeregt, das hat mich bei jeder Petition aufgeregt, und das regt mich noch heute auf. Denn es ist ein eklatanter Mißstand: Je kleiner die Rente, um so drastischer die Auswirkung. Das ist christlichsoziale Politik! ({9}) Die entsprechende Begründung des Ministeriums lautete damals, daß mit der Neuregelung Wachstum und Beschäftigung gefördert und die Dynamik der Wirtschaft gestärkt werden sollten. 600 Petenten und Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern sehen das anders - ich auch. Diese Rentenentscheidung zu Lasten der Kleinrentnerinnen und -rentner konnte vom Petitionsausschuß nicht mehr korrigiert werden. Sie zeigt uns, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, für unsere weitere politische Arbeit die dringende Notwendigkeit einer sozialen Grundsicherung auf, um durch eine moderne Sozial- und Rentenpolitik zähe Kämpfe um unterschiedliche Leistungsansprüche im Alter unnötig zu machen. Hohe Erwartungen werden an uns im Bereich der Ausländer- und Asylpolitik gestellt. Herr Deittert, wir haben unsere Voten nicht vergessen. Ist Herr Deittert noch da? ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich weiß nicht, ob Sie mich ansprechen wollten, verehrte Frau Kollegin. Das wäre einmal etwas Neues hier im Parlament. Ich finde das ganz schön. Ich darf nur leider nicht antworten.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hätte mich auch gewundert, wenn Herr Deittert nicht mehr dagewesen wäre. Aber Frau Reiche zum Beispiel, die erst anprangert und dann nicht zuhört, was wir zu diesem Bereich zu sagen haben, ist nicht mehr da. Ich war beim Asyl- und Ausländerrecht. In Nord und Süd, in großen Kirchengemeinden und selbst in kleinen bayerischen Kommunen kümmern sich Bürgerinnen und Bürger um Menschen, die seit langen Jahren ihre Nachbarn sind, deren Kinder miteinander zur Schule gehen, die aber seit Jahren nicht wissen, wo sie hingehören, wo man ihnen Zuflucht und Bleibe gewährt. Ich spreche hier von der ungelösten Situation der Altfälle. Mangels positiver Abklärung in der Innenministerkonferenz kam es bislang nicht zu größeren Handlungsspielräumen. Die Festlegung in der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 - ich zitiere: „Wir wollen gemeinsam mit den Ländern eine einmalige Altfallregelung erreichen“ - wurde zur unüberwindbaren Hürde und somit auch zum Knebel für die Entscheidungen im Petitionsausschuß. Ich meine, daß der Druck für eine humanitäre Altfallregelung aus dem Petitionsausschuß endlich auch zu einem positiven Handeln der Innenministerkonferenz führen muß. Langjährig und integriert hier lebenden Flüchtlingen ein dauerndes Aufenthaltsrecht zu gewähren entlastet nicht nur den Petitionsausschuß, sondern Gerichte, Verwaltungen, Flüchtlingsorganisationen und engagierte Bürgerinnen und Bürger in der ganzen Republik. Ich weiß: Der Druck der Betroffenen, der Druck einer engagierten Bevölkerung und der Druck aus dem Petitionsausschuß werden hier nicht nachlassen. Wir sind im Petitionsausschuß das Bohren dicker Bretter gewohnt; wir werden hier weiterbohren und dem Innenminister und der Innenministerkonferenz unsere Voten nicht ersparen. ({0}) Mein Appell zum Schluß: So wie die Arbeit im Petitionsausschuß oft die Interessen derer, die im Dunkeln stehen, behandelt, wollen wir, nicht nur heute, Licht ins Dunkle bringen. ({1}) Wir wollen unser Licht, das Licht derer, die im Petitionsausschuß tätig sind, nicht unter den Scheffel stellen. Insbesondere wollen wir Mißstände beleuchten, deren Beseitigung unsere gesamte Parlamentsarbeit in einem guten Licht erscheinen lassen wird. Ich danke sehr. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es spricht nun der Kollege Axel Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Wright, Sie haben eben kritisiert, daß die Kollegin Reiche nicht da ist. Ich muß Ihnen sagen: Wenn eine junge Mutter geht, um ihr Kind zu stillen, finde ich das gut. ({0}) Wenn Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als eines Ihrer Ziele hochhalten, dann sollten Sie so etwas akzeptieren. ({1}) - Ich sage es Ihnen hiermit: Sie ist weggegangen, um ihr Kind zu stillen. Damit dürfte das geklärt sein. Ich denke, wenn Sie die Kollegin Reiche öffentlich kritisieren, sollte man das hier auch öffentlich klarstellen. ({2}) Seit nunmehr einem Jahr arbeite ich im Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags mit. Der Grund, warum ich mich für diesen Ausschuß entschieden habe, war, daß ich bürgernah arbeiten will. Ich kann wohl sagen - das kam in den Reden sowohl der Regierungsfraktionen als auch der Oppositionsfraktionen so zum Ausdruck -: Wir alle fühlen uns im Petitionsausschuß als Anwälte der Belange der Bürger. Wir wollen mithelfen, bürokratische Hemmnisse zu überwinden und - bei berechtigten Beschwerden - den Bürgern zum Erfolg zu verhelfen. Dazu gibt es auch allen Grund. Denn in dem jahrzehntelang gewachsenen Dickicht aus Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften bleibt es nun einmal nicht aus, daß verschiedene Gesetze im Ergebnis im Einzelfall vom Gesetzgeber nicht gewollte Wirkungen zeigen. Diesen steht der einzelne Bürger teilweise hilflos gegenüber. Leider viel zu oft sieht er sich einer Bürokratiemaschinerie ausgesetzt, die ihm bei der Lösung seiner Probleme nicht hilft. Auf der anderen Seite sind die eingehenden Petitionen auch ein guter Gradmesser für die Stimmung in der Bevölkerung. Warum, glauben Sie eigentlich, kommen die meisten Petitionen aus dem Bereich Arbeit und Soziales und von denen wiederum viele aus dem Bereich der Alterssicherung? Der Kollege Wolf ist darauf schon ausführlich eingegangen. ({3}) - Sie auch, ja. Die Petitionen zeigen uns allen die Bereiche auf, in denen der Gesetzgeber und die Bundesregierung dringend Handlungsbedarf haben. Schauen Sie sich die heutige Demonstration der Rentner an, die nur ein paar Meter von hier stattfindet. Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben. ({4}) Genauso verhält es sich auch im Bereich der friedlichen Nutzung der Kernenergie, einem Bereich, in dem wir mehrere Eingaben zu behandeln hatten. Dabei standen Sicherheitsfragen immer im Vordergrund. Hier zeigt sich deutlich Handlungsbedarf, vor allem auf der Seite der Bundesregierung.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lüth?

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gerade mitten in einem Gedanken; danach. Ich erinnere mich an die Petition einer Grundschulklasse. Sie wollte defekte Kernkraftwerke abschalten lassen. Hier konnte der Petitionsausschuß dem Anliegen der jungen Petenten weitgehend entsprechen. Wir haben diese Petition der Bundesregierung und dem Bundesumweltminister zugeleitet. Weil in Deutschland keine defekten Kernkraftwerke betrieben werden, sollte diese Petition bei zukünftigen internationalen Verhandlungen und Vereinbarungen in die Erwägungen der Bundesregierung einbezogen werden. Zu meinem großen Bedauern konnten die Vertreter der Bundesregierung bei ihrem Besuch in der Ukraine im Sommer dieses Jahres dem nicht Rechnung tragen. Statt - wie ursprünglich vorgesehen - eine Abschaltung des Kernkraftwerks in Tschernobyl herbeizuführen, kam der Bundeskanzler mit leeren Händen zurück. ({0}) Er hat dort absolut versagt. Es ist darüber hinaus bezeichnend, daß die Handlungen der Bundesregierung in diesem Fall nicht vom Geist der Petenten getragen wurden. Im Gegenteil: Die Bundesregierung betreibt weiterhin eine unfruchtbare, ideologiegeprägte Ausstiegsdebatte, mit der das Ziel verfolgt wird, die sichersten Kernkraftwerke der Welt abzuschalten. Das in Deutschland vorhandene Know-how wird für nichts und wieder nichts leichtfertig verspielt. Ganz offensichtlich kümmern sich Ideologen weder um Klimaprobleme noch um die Sicherheitsbelange der Bevölkerung. Die industrielle Führerschaft, die im Zeichen der Globalisierung die wichtigste Voraussetzung für eine florierende Volkswirtschaft ist und hochproduktive sowie zukunftsfähige Arbeitsplätze sichert, soll offensichtlich auf dem Altar technikfeindlicher 68er geopfert werden. Real existierende Probleme werden dadurch nicht gelöst. Lieber betreibt die Bundesregierung ideologische Spielchen und nutzt die Hilflosigkeit der Menschen aus, deren Mehrzahl nicht in der Lage ist, bestehende Risiken im Bereich der Kernkraft abzuschätzen. ({1}) Andere Petitionen wurden leider schon von der rotgrünen Ausschußmehrheit abgelehnt. Zum Beispiel forderte ein Petent die Entlassung von Bundesumweltminister Trittin. Er hatte begründet - hören Sie zu; hier können Sie noch etwas lernen! -, daß die Art und Weise, in der der Bundesumweltminister den Ausstieg aus der Kernenergie vorantreibe, gegen dessen Amtseid verstoße. Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe würden vernichtet. Humankapital in Gestalt des Wissens Tausender deutscher Physiker werde entwertet. Ohne in den Willensbildungsprozeß der Bundesregierung eingreifen zu wollen, muß ich feststellen, daß mir die Argumente dieses Petenten eingeleuchtet haben. ({2}) Die aktuelle Ausstiegsdiskussion, die wir derzeit hautnah erleben, bestätigt genau die Argumente des Petenten. Leider folgte die rotgrüne Ausschußmehrheit diesen Argumenten nicht und legte die Petition ad acta. Dies zeigt für mich nicht zuletzt auch die politischen Grenzen auf, die trotz weitgehender Einigkeit in Sachfragen die Ausschußarbeit erschweren. Eine weitere Beobachtung hat mich sehr nachdenklich gemacht: Mittlerweile erreichen uns vermehrt Petitionen, in denen Bürger für Umgehungsstraßen kämpfen. Überlastete Straßenabschnitte führen zu unnötigem Lärm, zu Abgasbelastungen, Erschütterungen und weiteren Einschränkungen. Letzter Ausweg ist für viele Bürger heute offenbar die Petition. Gleichzeitig sehe ich, daß viele deutsche Kommunen, die nach eigenem Bekunden finanziell stark gebeutelt sind, Millionen D-Mark für den Rückbau von Straßen, die Aufstellung von Blumenkübeln und für andere verkehrsbeschränkende Maßnahmen ausgeben. Straßen sollen jedoch als Verkehrswege verbinden und das Mobilitätsbedürfnis der Bürger unterstützen. ({3}) Ich kann deshalb nur hoffen, daß die Bundesregierung wie die betroffenen Kommunalparlamente schleunigst ihre Ideologie und ihre beschränkende Politik aufgeben und zu einer bürgerfreundlichen Politik zurückkehren, in deren Rahmen das Erziehungsanliegen einzelner hinter das Gemeinwohl zurücktritt. In diesem Sinne hoffe ich auf eine weiterhin konstruktive Arbeit im Petitionsausschuß. Ich danke dem Ausschußdienst sowie allen Kolleginnen und Kollegen. Ich wünsche dem PetitionsausAxel E. Fischer ({4}) schuß auch für die nächsten Jahre, daß die Regierung den Petitionen Rechnung trägt. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Heidemarie Lüth.

Heidemarie Lüth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002727, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte zu Ihrer Rede, Herr Kollege Fischer, drei kurze Anmerkungen machen. Ich kann verstehen, daß Sie in der Opposition Ihre Redezeit nutzen wollen, um zu zeigen, wie die neue Regierung arbeitet. Aber wir sollten auch den Jahresbericht 1998 debattieren. 1998 war die neue Koalition erst drei Monate in der Pflicht. ({0}) Die Beschlüsse, von denen wir hier sprechen - sowohl die Erwägungs- wie die Berücksichtigungsbeschlüsse -, gingen alle an die alte, also an die von Ihren Parteien gestellte Regierung. ({1}) Auch wenn wir diesen Bericht des Petitionsausschusses ganz im Gegensatz zu unseren sonstigen Gepflogenheiten erst etwas später behandeln - wir haben alle schon begründet, warum wir das heute tun -, ist es, glaube ich, nicht gerade glücklich und auch nicht im Interesse der Petentinnen und Petenten, die sich im vergangenen Jahr an uns gewandt haben, heute schon auf Petitionen dieses Jahres hinzuweisen und darauf, wie heute die Mehrheiten sind. ({2}) Ein dritter Gedanke, mit dem ich Ihnen, Herr Kollege Fischer, wirklich sehr beipflichten möchte. Es ist tatsächlich so, daß dieser Ausschuß von einer sehr hohen Konstruktivität getragen ist. Ich weiß es ganz besonders zu schätzen, daß auch die Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition, obwohl sie die Mehrheit haben, um Konsens ringen, damit wir bestimmte Dinge dann in Gemeinsamkeit entscheiden können. Ich finde es auch ganz normal, daß Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Regierungsfraktionen im Ausschuß eine andere Meinung vertreten können als die, die bei Erwägungsoder Berücksichtigungsbeschlüssen durch die Regierung zum Tragen kommt. ({3}) Aber darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir im kommenden Jahr diskutieren. Im Moment kann diese Regierung jedenfalls immerhin noch sagen, daß sie Erwägungs- und Berücksichtigungsbeschlüsse in hohem Maße erfüllt hat, ganz im Gegensatz zum Jahr 1998. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Erwiderung hat Herr Kollege Fischer das Wort.

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Lüth, Sie haben einige Dinge angesprochen. Ich bin neu im Bundestag. Aber wir haben über die Petitionen des Jahres 1998 gesprochen. Diese Petitionen, die ich auf dem Tisch hatte, wurden teilweise auch schon 1998 im Petitionsausschuß und im Bundestag verabschiedet, weil wir immerhin von Oktober bis Dezember Zeit hatten. Deshalb denke ich, daß es, wenn man hier über die Arbeit des Petitionausschusses berichtet, schon interessant ist, einzelne Punkte herauszugreifen und auch einmal auszuführen, zu welchen Sachverhalten unterschiedliche Meinungen bestehen. Das ist genauso interessant oder sogar noch interessanter als die Punkte, bei denen wir alle einer Meinung sind. ({0}) Gerade wenn man aktuelle politische Themen anspricht, ist es doch auch wichtig zu zeigen, daß es viele Bürgerinnen und Bürger gibt, die mit der Arbeit der jetzigen Bundesregierung unzufrieden sind. Dieser Aufgabe bin ich nachgekommen, und ich denke, das ist so auch in Ordnung. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich nunmehr dem Kollegen Dieter Dzewas von der SPD-Fraktion das Wort.

Dieter Dzewas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003110, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Herrn Deittert im Rücken, der mir ja sonst gegenübersitzt, kann eigentlich nichts schiefgehen. Leider verfüge ich nicht wie Herr Kollege Nolting über prophetische Gaben, mit Hilfe derer er in der Lage ist, aus dem Jahresbericht 1998 Schlüsse auf das Zukunftsprogramm des Jahres 2000 im Bereich des Rentenrechts zu ziehen. Ich verfüge über diese Gabe, wie gesagt, nicht; ({0}) ich hoffe aber trotzdem, daß meine Mitarbeit im Petitionsausschuß nicht darunter leidet. ({1}) Ich habe in diesem Ausschuß die wohltuende Erfahrung gemacht, daß man sich über Parteigrenzen hinweg Axel E. Fischer ({2}) sachlich an den Anliegen von Petentinnen und Petenten orientiert. Redebeiträge wie die des Kollegen Wolf und des Kollegen Fischer sind dort glücklicherweise eine Ausnahme. ({3}) Eine lebendige Demokratie ist darauf angewiesen, daß Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die Möglichkeit haben, in sehr persönlicher Form auf Gesetzgebungsverfahren Einfluß zu nehmen. Petitionen sind in vielen Fällen der letzte Ausweg, aus den Mühlen bürokratischer Zwänge herauszukommen. Eine unverständliche, manchmal sogar unsinnige Rechtsprechung läßt manchen verzweifeln - da ich selbst lange Jahre in einer Behörde gearbeitet habe, weiß ich, wovon ich spreche -, wenn es darum geht, manchen EDV-Bescheid zu lesen und ihn dann auch noch zu verstehen. ({4}) Jeder, der sich in einem solchen Dschungel einmal verfangen hat, macht die Erfahrung festgefahrener Bürokratie und von Paragraphenreiterei. Die 50jährige erfolgreiche Arbeit des Petitionsausschusses ist heute schon mehrfach erwähnt worden, und sie ist in großen Teilen ein Verdienst der Ausschußmitarbeiterinnen und -mitarbeiter - das möchte ich an dieser Stelle doch noch einmal betonen -, denn sie haben in diesen fünf Jahrzehnten unermüdlich Aktenberge bearbeitet, damit wir sachgerechte Entscheidungen treffen konnten. ({5}) Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch all den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß danken, die immer wieder durch Beharrlichkeit so manch dickes Brett durchbohrt haben. Ich möchte jetzt die Gelegenheit ergreifen, das eine oder andere Brett direkt vorzustellen. Ich möchte allgemein vorausschicken: Manches eigenverantwortliche Handeln und mehr Sachverstand in der Behörde hätten uns viel Arbeit und damit auch Geld und Kosten ersparen können. Es ging zum Beispiel um den Koch eines Altenpflegeheims, der mit der gesamten Heimbewohnerschaft Opfer einer solchen bürokratischen Entscheidung zu werden drohte. Er sollte zu einer Wehrübung einberufen werden genau zu einem Zeitpunkt, als dieses Heim mit seinen Bewohnerinnen und Bewohnern, mit Personal und Angehörigen eine Urlaubsreise machen wollte. Alles war geplant, alles war gebucht; nur das Kreiswehrersatzamt war nicht bereit, dem Antrag auf Unabkömmlichkeit dieses Mitarbeiters Rechnung zu tragen. Erst nach Intervention des Petitionsausschusses war ein Einsehen und ein Einlenken möglich. Nicht viel anders verlief die Erfahrung eines Schäfers, der aus Existenzgründen keinen Wehrdienst leisten wollte und konnte und statt dessen einen Einsatz im Bereich des Katastrophen- und Brandschutzes in Erwägung gezogen hatte. Dummerweise hatte er die dafür notwendige Bewerbungsfrist, die ihm nicht bekannt war, versäumt. Daraufhin hat er den Petitionsausschuß in einer wirklich existentiellen Frage um Hilfe gebeten. Die Bemühungen des Petenten, eine angemessene Ersatzkraft zu beschaffen, blieben erfolglos. Angelernte Kräfte konnten den Betrieb nicht führen. Auch an dieser Stelle ist es gelungen, durch gemeinsames Engagement ein Einlenken des Kreiswehrersatzamtes zu erreichen. Letztendlich wurde der Einberufungsbescheid sogar aufgehoben. Wie im ersten Fall stellt sich allerdings die Frage, warum und nach welchen Kriterien Behörden Abwägungsentscheidungen treffen. Manchmal wäre aus meiner Sicht ein gesunder Schuß Menschenverstand sinnvoller, als Akten und Paragraphen zu wälzen. ({6}) Ich möchte jetzt eine Petition vorstellen, die sicherlich etwas zum Schmunzeln Anlaß gibt. Ich tue das aber nicht deshalb, weil ich mich selbst einmal an der Geige versucht habe. Frau Professor Süssmuth hat diese Petition schon gestern einmal kurz vorgestellt. Es ging um einen Studenten, der nach einem Stipendiumaufenthalt in den USA mit dem Ziel nach Deutschland zurückgekehrt ist, mit einer sehr wertvollen Geige - sie hatte einen Wert von 250 000 DM - eine CD-Aufnahme zu machen. Die Zollbehörden wollten von ihm eine Einfuhrabgabe von 37 000 DM, die er nicht hatte. Daher drohte die Versteigerung der Geige. Glücklicherweise hat er sofort den Petitionsausschuß angerufen. Wir konnten erreichen, daß diese Angelegenheit im BMF mit Dringlichkeit behandelt wurde. Dann stellte sich heraus - das ist das Interessante an dieser Stelle -, daß es durchaus möglich gewesen wäre, die Geige nachträglich für die beabsichtigte Verwendung beim Zoll anzumelden. Warum die Zollbehörden auf diese Möglichkeit allerdings nicht vorher hingewiesen haben, wird wohl ein ewiges Rätsel bleiben. ({7}) Ebenfalls aus dem Zuständigkeitsbereich des Finanzministeriums kommt eine andere Petition - das sollte uns alle interessieren -: Es ging nach Ausführungen des Petenten darum, daß ihm seine EC-Karte gestohlen wurde und daß er insgesamt mehr als 8 000 DM auf seinem Konto vermißte. Die persönliche Identitätsnummer war nach eigenen Angaben niemandem mitgeteilt worden; aber das betroffene Kreditinstitut weigerte sich, entsprechenden Ersatz zu leisten. Da es sich um ein zivilrechtliches Problem handelte, konnten wir leider nicht direkt für den Petenten tätig werden. Wir haben ihm aber geraten, sich mit einem Rechtsbeistand vor Gericht zu bemühen, den Schadenersatz zu realisieren. Bei vielen eingehenden Petitionen von Bürgerinnen und Bürgern ist offensichtlich immer wieder die Illusion vorhanden, wir könnten auf Banken und Sparkassen direkten Einfluß nehmen. Das können wir aber nicht. Wir können lediglich prüfen, ob das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen seine Pflicht erfüllt hat oder nicht. Dennoch war diese Petition für uns sehr wichtig, da sie exemplarisch gezeigt hat, wie notwendig ein sicheres Verschlüsselungsverfahren für diese persönlichen Identitätsnummern ist. Wir haben aus diesem Grunde dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen die Petition als Material mit dem Ziel überwiesen, daß zukünftig die Schwachstellen in diesem Verschlüsselungsverfahren genau beobachtet und, wenn möglich, behoben werden. Ich möchte als letztes eine Petition aus dem Zuständigkeitsbereich des Arbeitsministeriums schildern, die sicherlich ebenfalls etwas Anlaß zum Schmunzeln gibt. Dies trägt vielleicht zu einem etwas versöhnlicheren Ausklang der Debatte bei. Diese Petition betraf das alljährliche Sternsingen - auch Frau Professor Dr. Süssmuth hat es gestern angedeutet -, bei dem Kinder katholischen Glaubens am Dreikönigstag Gelder für karitative Zwecke sammeln. Der Petent beschwerte sich über dieses Vorgehen, da er hierin eine Verletzung des Jugendarbeitsschutzgesetzes sah. ({8}) Statt dessen plädierte er für Sammelmethoden, die ansonsten auch für humanitäre Zwecke angewandt werden. - Hier erlauben Sie mir bitte eine kurze Zwischenbemerkung: Dabei ist manche Methode, die mir persönlich sehr zuwider ist. Der Ausschuß prüfte das Anliegen und kam zu folgendem Ergebnis: Die Bewertung, ob Sternsingen Kinderarbeit ist, hänge zum einen von der Prüfung arbeitsschutzrechtlicher Kriterien ab, zum anderen aber eben auch von dem im Grundgesetz verbrieften Recht der kirchlichen Selbstbestimmung. Demnach darf staatliches Recht die Religionsausübung - hierzu gehören auch solche karitativen Veranstaltungen - nicht einschränken. Das heißt, daß Kinder und Jugendliche selbstverständlich bei solchen karitativen Tätigkeiten nicht behindert werden sollen. Auf der anderen Seite sind Gesundheitsvorschriften immer einzuhalten. Deshalb aus unserer Sicht: Sternsingen ist keine Kinderarbeit. Deshalb konnten wir dieser Petition nicht abhelfen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beispiele zeigen, daß die Bezeichnung „Kummerkasten der Nation“ tatsächlich nur die passive Seite unserer Petitionsarbeit beschreibt. Die andere Seite wird von der Ausschußarbeit repräsentiert, in der wir bei Problemen konsequent nachhaken und uns eben nicht mit Fensterreden über diese oder jene Angelegenheit aufhalten. Dabei geht es um die konkreten Anliegen der Petentinnen und Petenten und darum, auf der Grundlage von erkannten Mißständen Korrekturen an der Gesetzgebung anzubringen. Ich hoffe, daß wir in dieser Hinsicht auch zukünftig entsprechend zusammenarbeiten können. Denn zusammen mit den Petitionsausschüssen der Länder - diese sind übrigens in ihrer Qualität sehr unterschiedlich; aber das möchte ich jetzt nicht politisch werten - und des Europäischen Parlamentes ist es tatsächlich häufig gelungen, sinnvolle Korrekturen an Gesetzesvorhaben vorzunehmen. In diesem Sinne, denke ich, können wir auch in Zukunft effektiv und gut zusammenarbeiten und uns hoffentlich auch bei der Diskussion des Jahresberichts 1999 auf die konkreten Fakten aus dem Bericht beziehen. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe nun Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Haltung der Bundesregierung zu Forderungen, das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit zu streichen Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke, SPDFraktion.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Christunion hat gefordert, das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu streichen. Hätte das irgendein ahnungsloser Hinterbänkler der CDU oder CSU getan, dann hätte man darüber hinweggehen können. Dann hätte man sagen können: Schwamm drüber; da weiß jemand offensichtlich nicht, worüber er redet. Aber es war nicht irgend jemand, der diesen Unsinn gefordert hat; vielmehr hat dies der CDU-Parteivorsitzende und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag im „Stern“ zum besten gegeben. ({0}) Ausgerechnet dieses so überaus erfolgreiche Programm steht also ganz oben auf der Streichliste von CDU und CSU, ein Programm, in das bis Ende September rund 188 000 Jugendliche eingetreten sind. Vier Fünftel von diesen Jugendlichen waren vorher arbeitslos. Das sind junge Menschen, die in ihrem Leben noch nie einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz hatten. Viele sind dabei, die Angst hatten, keine Chance zu bekommen, die Angst hatten, nie mehr einen Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis! Ich weiß ja, daß Sie alles, was wir tun, grundsätzlich miesmachen und niedermachen wollen. Aber nehmen Sie doch bitte zumindest die Fakten zur Kenntnis! Nehmen Sie zumindest die Erfolgsbilanz zur Kenntnis, die Bernhard Jagoda, der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, erst in der vergangenen Woche gezogen hat! ({1}) Das ist kein Sozialdemokrat; das ist ein Christdemokrat. Aber die Christdemokraten in diesem Parlament sind mit Fakten offenbar nicht zu beeindrucken. Das Ganze hat offensichtlich System. Ihnen geht es nicht um Fakten. Ihnen geht es nur darum, jeden Erfolg kaputtzumachen. Erst hat Herr Schäuble das Programm im vergangenen Februar als „Programm, um Jugendliche ohne Beschäftigung ruhigzustellen“ verhöhnt. Jetzt denunziert er das Programm als „völlig ineffektiv“ und verlangt seine Streichung. Herr Dr. Schäuble hat nicht etwa irgendein Detail des Programms kritisiert; er hat auch keine konstruktiven Verbesserungsvorschläge gemacht. Er will es ganz einfach kaputtmachen. Daraus spricht eisige Kälte, daraus spricht der unerträgliche Zynismus eines Mannes, der offenbar nur ein einziges Ziel verfolgt: ({2}) jede, aber auch jede Leistung der Bundesregierung in den Dreck zu ziehen, ganz egal, worum es geht. Dabei ist ihm jedes Mittel recht. Da werden alle Register gezogen. Mit parlamentarischer Opposition hat das nichts zu tun. ({3}) Die Jugendarbeitslosigkeit, die wir mit diesem Programm bekämpfen, ist eine der schlimmsten Hinterlassenschaften Ihrer Regierungszeit. ({4}) Das ist der eine Skandal. Der andere, vielleicht noch schlimmere Skandal besteht darin, daß Sie sogar aus der Opposition heraus die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit torpedieren wollen. Das ist einfach unerträglich. ({5}) Ich erwarte ja gar nicht, daß jemand von Ihnen uns öffentlich lobt; aber ich hatte schon erwartet, ich hatte schon gehofft, daß jemand aus Ihren Reihen aufstehen würde, um zu sagen: Nein, in dieser speziellen Frage hat mein Fraktions- und Parteivorsitzender Schäuble nicht recht. Aber keiner von Ihnen ist aufgestanden, und keiner von Ihnen hat das gesagt. Wo ist denn die famose CDA des Herrn Pfarrer Eppelmann? ({6}) Es geht mir nicht nur um parlamentarische Fairneß. Es geht bei einer solchen Frage auch um Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit. Es müßte doch wirklich unser gemeinsames Anliegen sein, die jungen Leute von der Straße zu holen. Uns allen steht doch die geschichtliche Erfahrung vor Augen, und wir wissen alle, was aus einer Jugend werden kann, die keine Perspektive mehr für sich sieht. Wir in Deutschland wissen doch, welche Folgen das haben kann. Ich meine, zumindest wir hier sollten das alle wissen. Ich habe einmal geglaubt, es würde in diesem Parlament einen parteiübergreifenden Konsens geben, wenn es um so existentielle Probleme geht. ({7}) Ich habe einmal geglaubt, die katholische Soziallehre würde in der Union noch irgendeine Rolle spielen. Ich habe einmal geglaubt, es gäbe noch ein paar Ziele, die wir gemeinsam verfolgen und aus dem Parteienstreit heraushalten könnten. Offenbar habe ich mich da getäuscht, und das finde ich ziemlich bedrückend. ({8}) Aber eines kann ich Ihnen versichern: Wir lassen uns von solch primitiven und unverschämten Behauptungen nicht irritieren. Wir machen im Interesse der Jugendlichen in unserem Land weiter. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Hermann Kues.

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was hat Wolfgang Schäuble wirklich gesagt? Er hat gesagt, das 2 Milliarden DM teure Programm sei zwar teuer, aber völlig uneffektiv, und deswegen könnten die 2 Milliarden DM für ein solches Programm im Prinzip eingespart werden. Ich sage ausdrücklich: Er hat mit seiner Aussage vollkommen recht. ({0}) Je länger das Programm dauert und je mehr Jubelgesänge zu den angeblichen Erfolgen angestimmt werden, desto mehr wird deutlich, daß das Sonderprogramm der Bundesregierung nichts anderes als eine teure Mogelpackung zur Bereinigung der Arbeitslosenstatistik ist. Sie fördern im Endeffekt „Maßnahmekarrieren“, Sie holen die Jugendlichen aus der Realität, und das ist vom Ansatz her grundfalsch. ({1}) Der Grund ist völlig klar: Ihnen geht es nicht in erster Linie um die Jugendlichen. Nein, Ihnen geht es um Erfolgsmeldungen, koste es, was es wolle. ({2}) Die Jubelgesänge haben schon im Januar begonnen, und sie nehmen kein Ende. Jetzt schauen wir uns einmal die Zahlen an. Die Bundesanstalt für Arbeit verweigert der Öffentlichkeit diese Zahlen ({3}) - ich nenne sie Ihnen -, sie verweigert sie aus gutem Grunde. Sie tut das, weil die Bilanz dieses Programms verheerend ist. Rund 82 000 Jugendliche haben inzwischen das Programm verlassen, davon sind gerade einmal 9 500 in reguläre Ausbildungsverhältnisse gekommen. Darüber hinaus haben lediglich 3 000 Jugendliche eine Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufgenommen. Wenn Sie die Zahlen addieren, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß rund 12 500 Jugendliche das Programm erfolgreich absolviert haben. Das sind gerade einmal 15 Prozent der gesamten Teilnehmer. ({4}) Dagegen sind 25 500 ehemalige Teilnehmer des Programms schon heute wieder arbeitslos. In der betreffenden Statistik heißt es bei 33 000 Absolventen, der Verbleib sei unbekannt, bzw. es steht dort: sonstiger Verbleib. Die Wahrscheinlichkeit ist also groß, daß auch diese Jugendlichen nach Abschluß der Teilnahme an diesem Programm wieder auf der Straße stehen. Wenn ich jetzt alle Zahlen addiere, dann komme ich zu dem Ergebnis, daß bei fast 60 000 von 82 000 Jugendlichen, also etwa bei drei Viertel der Jugendlichen, das Programm ein Mißerfolg gewesen ist. Das sind die Tatsachen und Fakten. ({5}) Jetzt nenne ich Ihnen den finanziellen Aufwand: Für jeden Jugendlichen, der durch dieses Programm in reguläre Arbeit oder Ausbildung gekommen ist, sind rund 160 000 DM ausgegeben worden. ({6}) Sie können allein damit die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung um 0,1 Prozentpunkte entlasten. Sie würden damit die Lohnnebenkosten senken. ({7}) Ich glaube, daß Sie irgendwann merken werden, daß man die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht allein mit Geld lösen kann. Es müssen Strukturen verändert werden, und es müssen Anreize geschaffen werden. ({8}) Es gibt nach wie vor keine Kuh, die im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird. Die haben auch Sie noch nicht erfunden. ({9}) Die Kritik ist erst recht begründet, wenn Sie sich anschauen, wer im einzelnen von diesem Programm profitiert. Walter Riester hat kürzlich die SPD-Fraktion darüber informiert. ({10}) - Die entsprechenden Unterlagen werden ja mittlerweile bundesweit herumgeschickt; auch ich habe sie erhalten. - Da hat er geäußert, es sollten diejenigen motiviert werden, die aus einem schwierigen sozialen Umfeld kämen, die keinen Schulabschluß hätten usw. Wenn Sie sich diese Zielgruppen genauer ansehen, dann stellen Sie fest: Der Anteil der benachteiligten Jugendlichen, die an diesem Programm teilnehmen, beträgt nicht einmal 20 Prozent. Das sind die Fakten. Dagegen können fast 83 Prozent der Teilnehmer einen Schulabschluß vorweisen; davon 38 Prozent sogar einen höheren, das heißt das Abitur oder die mittlere Reife. ({11}) Solche Jugendliche nehmen also am Programm für benachteiligte Jugendliche teil. Wenn Sie sagen, das Programm wende sich an benachteiligte Jugendliche, dann streuen Sie der Öffentlichkeit Sand in die Augen. ({12}) - Frau Kollegin, zur katholischen Soziallehre gehört ein gewisses Maß an Wahrhaftigkeit. Man muß sich dazu mit den Fakten auseinanderzusetzen. Das tun Sie aber nicht. ({13}) Die Maßnahmen dieses Programms sind teuer. Sie verschaffen einer Minderheit hochsubventionierte Vorteile, und sie helfen den Betroffenen im Endeffekt überhaupt nicht weiter. Statt teuere Programme aufzulegen, sollten Sie sich um die jugendlichen Problemgruppen kümmern. ({14}) Bei Ihnen ist eben alles Schau. Alles richtet sich nach Mediengesichtspunkten. Die Zeche zahlt der Beitragszahler, und das wissen Sie ganz genau. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Christian Simmert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003237, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kues, entweder haben Sie Zahlen vorliegen, oder Sie haben keine Zahlen vorliegen. ({0}) Aber man kann nicht erst sagen, es würden keine Zahlen veröffentlicht, und dann auf Zahlen herumreiten. ({1}) - Vielleicht können Sie uns noch einmal erklären, woher Sie diese Zahlen haben. Wahrscheinlich haben Sie sich die ausgedacht. Die Bundesregierung bzw. die Koalition hat kein Programm für benachteiligte Jugendliche namens JUMP aufgelegt. Wir haben das Programm JUMP, das Programm „Jugend mit Perspektive“, vielmehr aufgelegt, um erwerbslosen Jugendlichen zu helfen. ({2}) Sie sollten berücksichtigen, daß der Arbeitsmarkt mittlerweile sehr eng geworden ist. Daß mittlerweile auch Schülerinnen und Schüler mit Abitur und mittlerer Reife an diesem Programm teilnehmen, zeigt doch wohl, wie es momentan auf dem Arbeitsmarkt aussieht. Deshalb können Sie uns nicht unterstellen, wir würden billigen Populismus betreiben. ({3}) Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 180 000 junge Menschen sind im Sofortprogramm oder haben es durchlaufen. 28 000 Jugendliche haben einen außerbetrieblichen Ausbildungsplatz gefunden. Die Resonanz auf das Programm ist höher, als wir es beim Inkrafttreten des Programms erwartet haben. JUMP ist für uns, aber nicht nur für uns - auch Herr Jagoda hat dies in einer Pressemitteilung, die Ihnen vorliegt, gesagt - ein Erfolg, und zwar auf der ganzen Linie, auch wenn wir es an der einen oder anderen Stelle verbessern wollen. ({4}) JUMP ist auch deshalb ein deutlicher Erfolg, weil es ein erster guter Schritt ist, um die Jugenderwerbslosigkeit zurückzudrängen, sogar so weit, daß wir trotz mehr Schulabgängerinnen und Schulabgängern - 19 000 in diesem Sommer - erstmals die Erwerbslosenquote unter die des Vorjahres drücken konnten. ({5}) Entscheidend wird sein, wie viele junge Frauen und Männer dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können. ({6}) - Das ist entscheidend, und wir sind bereits auf dem Weg. - Dazu reicht es natürlich nicht, wenn der Staat alleine handelt. Es müssen auch betriebliche Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Junge Leute brauchen eine wirkliche Perspektive, einen zukunftsfähigen Job. Machen wir uns nichts vor: Die strukturellen Probleme auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt bestehen nach wie vor. JUMP hat aber für eine spürbare Entlastung gesorgt. Dies alleine wird jedoch nicht ausreichen. Wer sich aber jetzt hinstellt, wie Sie von der CDU, und sagt: „Alles Quatsch, was brauchen wir Programme, sparen wir doch lieber das Geld“, der hat wirklich Tomaten auf den Augen, ({7}) wenn er sich in dieser Republik die Realität für die jungen Leute, die wir verbessern wollen, anguckt. Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein, wie die Jugenderwerbslosigkeit am effektivsten bekämpft wird. Man kann aber nicht der Auffassung sein, man könne Jugendliche ins arbeitsmarktpolitische Nirwana entlassen, wie Sie von der CDU es tun wollen. ({8}) Was die alte Bundesregierung unter der Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit verstanden hat, ist uns hinlänglich bekannt: das Prinzip Hoffnung als tragende arbeitsmarktpolitische Säule, ({9}) ein verpatztes „Bündnis für Arbeit“ ({10}) und einen konzeptionslosen Maßnahmensalat - etwas wenig, um berufliche Perspektiven zu bieten! Mit uns ist eine Hände-in-den-Schoß-Politik nicht drin. Die rotgrüne Koalition wird sich weiter für die jungen Menschen einsetzen. ({11}) Wir wollen, daß das Programm in die nächste Runde geht; es wird JUMP II geben. ({12}) Natürlich werden wir - ich spreche hier für meine Fraktion - Verbesserungsvorschläge machen. Für Bündnis 90/Die Grünen steht schon jetzt fest, daß wir eine stärkere Ausrichtung der Maßnahmen für junge Frauen sowie für Migranten und Migrantinnen benötigen. ({13}) Auch die BA sieht dies so. Von daher glaube ich, daß wir entsprechende Veränderungen vornehmen können. Arbeits- und Sozialämter, Schulen, Betriebe und Jugendämter sind aufgefordert, das Bewußtsein junger Frauen für ihre Wahlmöglichkeit in der gesamten Palette der Berufsbilder zu öffnen. Junge Frauen müssen in diesem Programm eine Stärkung erfahren. Dies gilt in besonderem Maße für die Berufsberatung. Zielgerichtete, kombinierte Förderinstrumente für junge Migrantinnen müssen in JUMP II fester Bestandteil der Förderung werden. Darüber hinaus flankiert die Bundesregierung ihr Engagement gegen Jugenderwerbslosigkeit - hören Sie jetzt zu! - mit einem weiteren Programm, nämlich mit dem Programm für benachteiligte Jugendliche in sozialen Brennpunkten. Wenn etwa 1 Million Unternehmen ausbilden können, dies aber nur gut die Hälfte wirklich macht, dann muß etwas getan werden. Es kann nicht sein, daß der Staat durch ein Programm dafür sorgt, daß die Jugenderwerbslosigkeit zurückgedrängt wird, und die Arbeitgeber das Sofortprogramm als wenig hilfreich kritisieren, obwohl es doch letztendlich an ihnen hängt, Ausbildungsplätze in ausreichendem Maße zur Verfügung zu stellen. ({14}) Ich komme zum Schluß. Die rotgrüne Koalition wird auch in Zukunft die beruflichen Perspektiven junger Menschen in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Dieser Herausforderung wird das Sofortprogramm der Bundesregierung gerecht. Mit dieser Verantwortung werden wir nicht so fahrlässig umgehen wie Sie von der Opposition. Wir werden weiterhin daran arbeiten, den Jugendlichen eine Perspektive zu geben. Sowohl die Bundesregierung als auch die Koalitionsfraktionen sind ernsthaft darum bemüht. Vielen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich immer, wenn ich an dieses Rednerpult treten kann, ({0}) weil offenkundig die Meinungen, die die Liberalen in diesem Hause vertreten, Sie genau da treffen, wo es weh tut und Sie Ihre Fehler machen. ({1}) Ich habe aber Verständnis für diese Bundesregierung. Ich habe Verständnis dafür, daß die Redner der Koalition dieses Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit als großen Erfolg bezeichnen. Ich habe Verständnis dafür, daß der Bundesarbeitsminister und die Bundesbildungsministerin das tun. Ich kann Ihnen auch sagen, warum das so ist. Erstens. Es ist das einzige konkrete Ergebnis - ob gut oder schlecht, sei dahingestellt -, das bisher aus dem „Bündnis für Arbeit“ herausgekommen ist. ({2}) Zweitens. Bei dem ganzen Murks, den Sie machen, und den Mißerfolgen, die Sie haben, müssen Sie doch geradezu jeden kleinen Teilerfolg wie eine Monstranz vor sich hertragen. ({3}) - Angenehm, Niebel. Dennoch haben wir zu keinem einzigen Zeitpunkt der Diskussion gefordert, dieses Programm zu streichen. Wir haben immer nur auf die Fehler dieses Programms hingewiesen und wollten dazu beitragen - das werden wir auch in Zukunft tun -, dieses Programm effektiver zu machen, weil wir wissen, daß es Jugendliche gibt, die ohne Förderung und ohne Unterstützung niemals ansprechbar sein werden. Es ist eigentlich das einzig Positive dieses Programms, ({4}) daß es sich auch an Jugendliche wendet, die ihre Ausbildung abgebrochen oder schwierige Ausbildungsbiographien haben. Das verbessert mit Sicherheit die individuellen Chancen dieser Jugendlichen. Es muß aber die Frage erlaubt sein, inwieweit Kosten und Nutzen in einer vernünftigen Relation stehen. Diese ist in diesem Fall nicht gegeben. ({5}) - Selbstverständlich geht es um Jugendliche, aber wenn ich Geld für Jugendliche einsetze, liebe Kollegin, dann sollte es vorzugsweise so eingesetzt werden, daß damit die Effekte erzielt werden, die der Gesetzgeber beabsichtigt hat. Sie werden nur dann Erfolge auf dem Ausbildungsmarkt erreichen und Arbeits- und Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen können, wenn Sie die Rahmenbedingungen für die Betriebe verbessern und sie überhaupt erst einmal in die Lage versetzen, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Die Betriebe haben schon das Ihre getan, die Verbände und Gewerkschaften haben zwar das Ganze engagiert begleitet, aber sie werden auch in Zukunft nicht in der Lage sein, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Das Herbstgutachten der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sagt, daß es immer noch fundamentale Probleme in der Wirtschaft und damit auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt gibt, und fordert einen Kurswechsel Ihrer Steuer- und Finanzpolitik. Die Masse aller Maßnahmen dieses Programmes sind Qualifizierungs-, Bewerbungstrainings- und ähnliche Maßnahmen. Die wenigsten Maßnahmen zielen tatsächlich auf ein Einmünden in den ersten Arbeitsmarkt oder in den Ausbildungsmarkt. Sie haben die eine oder andere Qualifikation - die Zahl 28 000 wurde vorhin genannt - im überbetrieblichen Bereich ermöglicht. Wenn aber dieses Instrument sintflutartig genutzt wird, gefährden Sie das duale Bildungssystem. Sie haben viele wirklich gravierende Fehlentwicklungen im Rahmen dieses Programms bisher nicht abgestellt. So sind mir - ich habe das der Staatssekretärin Niehuis, die jetzt leider nicht mehr da ist, konkret nachgewiesen - Fälle jugendlicher Aussiedler bekanntgeworden, die aus Deutschkursen, die aus dem Garantiefonds der Bundesregierung finanziert wurden, unter Androhung des Wegfalls der Leistungen zum Lebensunterhalt herausgeholt wurden, um an Betriebspraktika im Rahmen dieses Sofortprogrammes teilzunehmen. Es kann doch wohl nicht der Sinn des Ganzen gewesen sein, nur um die Quote zu erreichen, Leute ohne Sprachkenntnisse aus einer Maßnahme herauszulösen und in eine Maßnahme einmünden zu lassen, die kurze Zeit später beendet ist. Hinterher haben diese Leute dann keine Chance auf dem Ausbildungsmarkt. Die Studie des Bildungsministeriums, die kürzlich bekannt gemacht worden ist, stellt fest, daß 11,6 Prozent aller Jugendlichen unter 26 Jahren keinen Berufsabschluß haben. Fehlende Schul- und Berufsausbildung ist heutzutage immer noch der bei weitem überwiegende Grund für Erwerbslosigkeit. ({6}) - Warten Sie noch einen Moment ab, Kollegin Nahles. 65 Prozent der Jugendlichen ohne Schulabschluß haben hinterher auch keinen Berufsabschluß. Jeder dritte Jugendliche ohne Schulabschluß bemüht sich nach eigenen Angaben nicht um einen Ausbildungsplatz. 12,3 Prozent treten die Ausbildung nicht an und 35,9 Prozent dieser Jugendlichen brechen die Ausbildung ab. Wenn sich aber nun herausstellt, daß der Kern des Problems in der fehlenden Schulausbildung liegt, dann möchte ich darum bitten, auch die Länder in die Verantwortung zu nehmen. Wir müssen uns dann Gedanken darüber machen, wie die Schulausbildung, für die Vertreter der großen Parteien, die in diesem Hause vertreten sind, federführend verantwortlich sind, verbessert werden kann, damit hinterher eine erfolgversprechende Möglichkeit zur beruflichen Ausbildung eröffnet werden kann. 187 900 Jugendliche sind nach Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit durch dieses Programm gefördert worden. Man könnte daher meinen, all diese Jugendlichen seien in eine Ausbildung gegangen. Das ist aber nicht der Fall. Die wenigsten dieser Jugendlichen sind in eine betriebliche Ausbildung oder in den Arbeitsmarkt eingetreten. Die Masse der Maßnahmen beinhaltet nämlich Kurzlehrgänge, Bewerbungstraining und Betriebspraktika. Hinterher haben die Jugendlichen aber keinen Deut mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wenn Sie Gelder zur Verfügung stellen wollen, dann sollten Sie sich bemühen, diese Maßnahmen, die wir bisher auf kommunaler Ebene, auf Länder- und auch auf Bundesebene schon immer gehabt haben, besser zu koordinieren und zu vernetzen. In diesem Bereich können Sie Mittel bündeln, zielgerichtet einsetzen und damit den jungen Menschen tatsächlich helfen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die PDSFraktion spricht die Kollegin Sabine Jünger.

Sabine Jünger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003156, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe es ehrlich zu: Ich bin schon ein wenig erstaunt über die Aufsetzung dieser Aktuellen Stunde. Das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit wird nicht erst in den letzten 14 Tagen massiv kritisiert. Auch der Kollege Schäuble ist in diesem Zusammenhang schon sehr früh recht deutlich geworden. Der Grund muß also woanders liegen. Vielleicht sollte lediglich die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde zum Thema „Testpanzer für die Türkei“ weggedrückt werden. ({0}) Wir alle wissen, daß der Regierungskoalition zur Zeit von allen möglichen Seiten ein recht kalter Wind ins Gesicht bläst: Proteste von verschiedensten Berufs- und Bevölkerungsgruppen gegen die unsoziale Sparpolitik, dazu interne Koalitionsstreitereien am laufenden Band. Ein wenig Eigenlob, ein wenig Sich-gegenseitig-auf-dieSchulter-Klopfen kommt da für die eigene Moral und für die Öffentlichkeit wahrscheinlich ganz gelegen. Was also liegt näher als eine Aktuelle Stunde zum JUMPProgramm, dem vermeintlichen Aushängeschild der rotgrünen Regierung? ({1}) Es ist bekannt, daß auch wir das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit in seiner Durchführung kritisieren. Für viele der geförderten Jugendlichen brachte das JUMP-Programm lediglich kurzfristige Trainingsmaßnahmen oder eine weitere Etappe in der Maßnahmenkarriere. Jugendliche werden durch befristete Maßnahmen nur zeitweilig von der Straße geholt. Oder es wurden gut qualifizierte und damit eigentlich gut vermittelbare Jugendliche in Maßnahmen des Sofortprogramms untergebracht. Entgegen der ursprünglich guten Absicht wurden auch im JUMP-Programm wieder Jugendliche aus Familien von Migrantinnen und Migranten, Mädchen und junge Frauen oder schlechter qualifizierte Jugendliche benachteiligt; dabei sollten doch gerade diese unterstützt werden. ({2}) Das Ziel, die Hälfte der Maßnahmen Mädchen zugute kommen zu lassen, ist deutlich verfehlt worden. Bei den Lohnkostenzuschüssen und bei den QualifizierungsABMs wurde nicht einmal ein Anteil von einem Drittel Mädchen erreicht. Selbst die Verantwortlichen in der Bundesanstalt für Arbeit mußten einräumen, daß spezielle Maßnahmen für Mädchen schlichtweg fehlen. Durch das Sofortprogramm sind zwar Jobs - viele davon befristet -, nicht aber wahre Zukunftsperspektiven für Jugendliche geschaffen worden. Noch immer sind fast eine halbe Million Jugendliche arbeitslos gemeldet. Die Forderung der Christdemokratinnen und Christdemokraten, die Mittel für das JUMP-Programm im nächsten Jahr einzusparen, finde ich in diesem Zusammenhang allerdings hochgradig peinlich. Als die CDU/CSU-Fraktion noch an der Regierung beteiligt war, hat sie das Problem der Jugendarbeitslosigkeit und nicht nur dieses - schlicht und ergreifend ignoriert oder ausgesessen, frei nach dem Motto: Augen zu und durch. Bis heute ist mir kein konstruktiver Vorschlag der CDU/CSU bekannt, der sich ernsthaft mit dieser Problematik auseinandersetzt und der Jugendlichen auch nur Ansätze einer Perspektive bietet. Trotz aller Kritik: Wir begrüßen es, daß auch im nächsten Jahr wieder 2 Milliarden DM zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit bereitgestellt werden. Das heißt aber nicht, daß man nicht kritisieren darf. Wir erwarten allerdings, daß die Fehlentwicklungen des Sofortprogramms nicht in das nächste Jahr mitgenommen werden. ({3}) - Ob das bei Ihnen immer so logisch ist, weiß ich nicht. - Darüber hinaus müssen endlich strukturelle Veränderungen politisch angegangen werden, die über laue Versprechungen und Absichtserklärungen im „Bündnis für Arbeit“ hinausgehen. Über die Hälfte der ausbildungsberechtigten Betriebe bildet nicht aus und schiebt damit eine so zentrale Aufgabe wie Ausbildung und Qualifikation der Jugend auf andere Betriebe, in zunehmendem Maße aber auch auf den Staat ab. Die Tendenz zur außerbetrieblichen und zur staatlich finanzierten Ausbildung wird durch das Sofortprogramm letztendlich sogar noch gestützt. An dieser Stelle liegt aus unserer Sicht die strukturelle Fehlentwicklung. Wir fordern, statt dessen die Wirtschaft in die Verantwortung zu nehmen und eine Ausbildungsplatzabgabe für nicht ausbildende Betriebe einzuführen. Eine gesetzlich geregelte Umlagefinanzierung würde zu einer Steigerung des Ausbildungsplatzangebotes und zur Entlastung der Staatskasse führen. ({4}) Dann könnten zum Beispiel die 2 Milliarden DM des Sofortprogramms gegen Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt werden, um die Jugendlichen nach der Ausbildung zu beschäftigen, also um feste Stellen für arbeitslose Jugendliche zu fördern oder im öffentlichen Sektor feste Stellen zu schaffen. In Frankreich schafft man sogar beides. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die Bundesregierung hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel des Sofortprogramms war es, 100 000 Jugendliche in Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung zu bekommen. Es ist kein Benachteiligtenprogramm, sondern es ist ein Programm, das genau dieses Ziel hat. Dieses Ziel ist bei weitem übertroffen worden. ({0}) Meine Herren von der Opposition, ich habe mich bei Ihren Beiträgen die ganze Zeit gefragt ({1}) - bisher haben nur die Herren geredet -, wo denn eigentlich Ihre Alternative bleibt ({2}) - Sie haben keine einzige Alternative genannt -, die Alternative angesichts der Erblast, die wir von Ihnen übernommen haben, von weit mehr als einer halben Million jugendlichen Arbeitslosen. ({3}) - Das ist die Erblast, die wir von Ihnen übernommen haben. Das ist das Ergebnis Ihrer jahrelangen Untätigkeit. ({4}) Nach der bisherigen Debatte am heutigen Tage - ich hoffe, daß sich das noch ändert - kann ich nur zu der Schlußfolgerung kommen, daß Ihre Alternative darin besteht, daß die Jugendlichen arbeitslos bleiben. Das muß ich einmal so hart formulieren. ({5}) Offenkundig ist Ihnen das lieber, als 2 Milliarden DM dafür einzusetzen. ({6}) Uns geht es darum, etwas für die Menschen zu tun. Junge Menschen sind nicht nur eine ökonomische Rechengröße, ({7}) sondern das sind unsere Kinder, die eine Zukunft haben sollen, die in dieser Gesellschaft etwas leisten wollen und die etwas zu ihrer Zukunft beitragen wollen. ({8}) Dafür müssen diese jungen Menschen ausgebildet werden. Dazu müssen Sie auch die Chance auf einen Einstieg oder einen Wiedereinstieg in das Berufsleben haben. Das sind die Zielsetzungen, die wir mit dem Programm verfolgen. ({9}) Wir haben mit diesem Programm viel mehr Menschen erreicht, als wir gedacht haben. Wir haben über 770 000 Jugendliche überhaupt erst einmal motiviert. Sie haben auf die Zahlen teilweise hingewiesen. Viele Jugendliche tauchten in der offiziellen Arbeitslosenstatistik überhaupt nicht mehr auf, weil sie völlig resigniert hatten und dachten: Ich habe keine Chance mehr. Diese Jugendlichen haben wir dadurch wieder motiviert. Wir haben sie erreicht. Deshalb ist der Name des Programms richtig. Die Jugendlichen sind gesprungen. Das ist für mich der wichtigste Erfolg dieses Programms. ({10}) Von den 770 000 Jugendlichen haben über 460 000 Jugendliche ein Angebot für Ausbildung, für Beschäftigung erhalten. Es gab 188 000 Eintritte in das Programm. All das belegt, daß die Initiative weit über das Programm hinaus einen nachhaltigen Motivationsschub bei den Jugendlichen ausgelöst hat. ({11}) - Das ist schlichtweg falsch. Ich werde Ihnen das noch im Detail deutlich machen. Im Ausbildungsteil des Programms läßt sich mit wenigen Beispielen belegen, daß damit nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Fortschritte zur Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation bewirkt worden sind. ({12}) Wir haben mit dem Programm 260 regionale Projekte zur Mobilisierung zusätzlicher betrieblicher Lehrstellen angestoßen und gefördert. Diese regionalen Projekte bleiben bestehen. Wir haben damit eine Struktur geschaffen, die auch in künftigen Jahren eine wichtige Rolle spielen wird. 6 449 neue betriebliche Ausbildungsplätze, vor allem in kleineren Betrieben, sind bereits geschaffen worden. Diese Aktion kommt jetzt erst richtig in Fahrt und wird in den nächsten Jahren noch erheblich verstärkt werden. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung dieser Projekte zeigen, daß es im Zusammenhang mit diesem Programm eine Fülle von innovativen Ansätzen gegeben hat. Diese Ansätze werden exemplarisch dokumentiert, ausgewertet und für einen systematischen überregionalen Erfahrungsaustausch aufbereitet. Wenn Sie mit Fachleuten aus der beruflichen Bildung und aus den Arbeitsämtern reden, hören Sie immer: Genau dies hat uns bisher gefehlt. - Das ist von Ihnen in all den Jahren nicht geleistet worden. ({13}) Diese Erfahrungen werden im übrigen auch für alle Aktivitäten genutzt, die nicht im Zusammenhang mit diesem Programm stehen. Wir wissen nun einfach besser, wie wir Jugendliche erreichen und vermitteln können. Diese haben außerdem Auswirkungen auf die generelle Tätigkeit der Arbeitsämter, aber auch für die Organisationen und Unternehmen, die sich hier engagieren. Fast 20 000 Jugendliche wurden mit neuartigen Trainingsprogrammen gezielt an berufsausbildende oder berufsvorbereitende Maßnahmen herangeführt. Jetzt sage ich Ihnen ganz klar: Ich kann überhaupt nicht verstehen, daß diese Trainingsmaßnahmen diskreditiert werden. ({14}) Angesichts dessen, daß Sie es in all den Jahren nicht hinbekommen haben, einen vernünftigen Weg für die Jugendlichen vorzubereiten, die nicht von vornherein wissen, was sie machen sollen, die in ihrer Region auf den ersten Blick nichts finden, was für sie interessant ist und machbar erscheint, ({15}) halte ich es für einen großen Erfolg, daß wir - in anderen europäischen Ländern ist das im übrigen auch schon mit erheblichem Erfolg gemacht worden - einen Weg entwickelt haben. Ihre Behauptung, daß die Jugendlichen aus der Trainingsmaßnahme in die Arbeitslosigkeit gehen, ist schlichtweg falsch. ({16}) Sie gehen aus der Trainingsmaßnahme entweder in die Berufstätigkeit, in Ausbildung oder Qualifikation. ({17}) - Ich habe die Zahlen gerade genannt. In der außerbetrieblichen Ausbildung im Rahmen des Programms befinden sich zur Zeit gut 23 000 Jugendliche. Die Ausbildung dieser Jugendlichen wird bis zum Ende durchgeführt, wenn sie nicht in der Zwischenzeit einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Auch hierzu kann ich nur sagen: Wenn ein Jugendlicher praktisch aus der Maßnahme ausscheidet, weil er einen betrieblichen Ausbildungsplatz findet, ist mir das sehr recht. Das ist für mich kein Argument dafür, daß das Programm nicht funktioniert. ({18}) - Doch, das ist er. Sie machen genau diese notwendige Differenzierung nicht, Herr Niebel. ({19}) Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen möchten, dann tun Sie das. Dann kann ich darauf eingehen. ({20}) Deshalb sage ich noch einmal deutlich: Unser Ziel ist es, daß diese Jugendlichen in erster Linie einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Nur dann, wenn das nicht gelingt, sollen sie einen außerbetrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Das ist unsere Politik. Knapp 4 000 Jugendliche machen zur Zeit ein bis zu zwölf Monate dauerndes sozialversicherungspflichtiges betriebliches Praktikum mit berufsvorbereitender Qualifizierung. Das sind Jugendliche, die dadurch häufig zum erstenmal eine realistische Chance haben, endlich in Ausbildung oder Beschäftigung zu kommen. ({21}) Mich berührt es schon, wenn ich Jugendliche erlebe das habe ich in den vergangenen Monaten sehr häufig -, die 21, 22 oder 23 Jahre alt sind und sagen: „Ich bin in den letzten Jahren immer hinten heruntergefallen.“ Darunter waren Jugendliche, bei denen ich mich auch gefragt habe, wieso diese eigentlich keinen Ausbildungsplatz bekommen, weil sie zum Beispiel einen durchaus guten Realschulabschluß hatten. Wenn ich konkret nachgefragt habe, habe ich festgestellt, daß dies häufig Jugendliche waren, die bei der Auswahl immer auf dem zweiten oder dritten Platz gelandet sind. Nun kann ich mich doch nicht hier hinstellen und sagen: Die sind überqualifiziert. Was hilft denn das zum Beispiel dem Mädchen in Mecklenburg-Vorpommern? ({22}) Soll ich sagen: Es tut mir leid, da können wir nichts tun? Ich finde, das geht nicht. Deshalb bitte ich darum, sich hierbei etwas sorgfältiger, differenzierter und verantwortungsvoller zu verhalten. ({23}) Unsere Vereinbarungen und Verabredungen im Bündnis haben wesentlich zu dieser Situation beigetragen. Das Bündnis ist unser zweites Standbein. Da muß ich Ihnen einmal deutlich sagen: Wir haben im Bündnis, gerade in der beruflichen Ausbildung, in den vergangenen Monaten erheblich mehr erreicht als Sie in den ganzen Jahren zuvor. ({24}) Das betrifft sowohl die Zahl der Ausbildungsplätze als auch die Vereinbarungen für eine Neuordnung und Modernisierung von Berufen sowie die Förderung und Ausbildung von benachteiligten Berufen, im übrigen unter Einbeziehung der Länder. Das hat die alte Bundesregierung nie geschafft. Ich habe die Länder einbezogen. Sie nehmen daran teil und sind von daher mit in der Verantwortung. Dies ist notwendig. ({25}) Last, not least: Konstruktive Kritik am Sofortprogramm ist nicht nur willkommen, sondern von uns auch immer wieder erbeten worden. Wir werden sie bei der Neugestaltung und der Fortführung des Sofortprogrammes im nächsten Jahr berücksichtigen. Denn es gibt ganz klar einige Punkte, bei denen man etwas besser machen kann. Es ist in Ordnung, wenn man das kritisiert. Aber diffuse Meckerei mit dem Ziel, eine erfolgreiche Aktion ungeachtet der Fakten und ohne jede Rücksicht auf die Jugendlichen zu diskreditieren und damit letztendlich eine politische Debatte auf dem Rükken der Jugendlichen zu führen, die kein positives Ergebnis bringt, ist für mich keine konstruktive Kritik, sondern destruktiv. ({26}) Da machen wir nicht mit. Das verunsichert nämlich die betroffenen Jugendlichen, und das verunglimpft und demotiviert die Menschen, die sich vor Ort in den Arbeitsämtern, in den Betrieben und in den Organisationen engagiert und motiviert dafür eingesetzt haben. Vielen Dank. ({27})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Klaus Hofbauer.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die rotgrüne Bundesregierung ist angetreten, die Arbeitslosigkeit im allgemeinen und die Jugendarbeitslosigkeit im besonderen deutlich abzubauen. ({0}) Wie Herr Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung ausgeführt hat, wollte er sich an der Lösung dieses Problems messen lassen. Heute, ein Jahr nachdem die rotgrüne Bundesregierung in die Verantwortung genommen wurde, ist festzustellen, daß dieses wichtige Ziel, dieses Versprechen deutlich verfehlt wurde. ({1}) Wir stellen fest, daß die rotgrüne Meßlatte zwar sehr hoch gehängt wurde, die Regierung beim Sprungversuch jedoch eingeknickt ist. ({2}) Sie ist ganz einfach unten durchgekrochen, und zwar zu Lasten auch der jugendlichen Arbeitslosen, die bisher weitgehend feststellen mußten, daß den großen Worten nicht genügend richtige Taten gefolgt sind. ({3}) Die Arbeitslosigkeit ist gegenüber September letzten Jahres gleichgeblieben, und bei den Jugendlichen ist eine deutliche Verbesserung nicht festzustellen. Das sind die Fakten. Ein Ziel der Bundesregierung war es, mit einem Sofortprogramm „100 000 Jugendliche so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen“. Das Ziel war nicht, sie in Trainingsmaßnahmen zu bringen. ({4}) Es geht darum, die Jugendlichen in eine betriebliche Ausbildung im Rahmen des dualen Systems zu bringen bzw. ihnen eine Arbeit im ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Ich darf auch feststellen, daß die richtigen Zahlen bisher nicht auf den Tisch gelegt worden sind bzw. daß die Zahl von 15 Prozent von Herrn Kues nicht widerlegt worden ist. ({5}) Auf diese Zahl von 15 Prozent geht weder die Bundesregierung noch diese Regierungskoalition ein. Deswegen sage ich: Dieses Programm ist im großen und ganzen zu einem Flop geworden. ({6}) Die Bundesregierung nennt stets nur die Zahl der Teilnehmer an Sofortprogrammen, die dort eingestiegen sind bzw. sich angemeldet haben, aber nicht die Zahl der Jugendlichen, die anschließend in Arbeit gekommen sind. Auf diese Weise gaukelt man den Menschen in Deutschland etwas vor. Mit einem hohen finanziellen Aufwand ist wenig erreicht worden. Meine Damen und Herren, negativ sind auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit Qualifizierungsanteil zu bewerten. ({7}) Sie erfreuen sich deshalb so großer Beliebtheit, weil die Teilnehmer dort mehr Geld als in normalen Ausbildungsstellen erhalten. Damit erweist man den jungen Menschen einen Bärendienst. ({8}) Das teure 100 000-Job-Programm taugt nur begrenzt für die duale Berufsausbildung, da vor allem betriebsferne Lehrgänge gefördert werden. Die CDU/CSUFraktion fordert eine offene und ehrliche Bilanz dieses Programms. Eine Glorifizierung dieser Initiative hilft den jungen Menschen unseres Landes nicht. Wir müssen das Programm einer kritischen Überprüfung unterziehen. Wir sind bereit, positive Elemente zu unterstützen. Im übrigen sind solche Initiativen bereits von der alten Bundesregierung ergriffen worden. Dort, wo die Maßnahmen richtig eingesetzt waren, und zwar auch, Frau Ministerin, in Zusammenarbeit mit den Ländern - zum Beispiel ist die Jugendarbeitslosigkeit in Bayern relativ gering -, sind Erfolge erreicht worden. ({9}) Im Interesse unserer jungen Menschen müssen weitere zielgerichtete, auf Tiefen- und Breitenwirkung ausgelegte Initiativen ergriffen werden, um die Ausbildungssituation zukunftsorientiert zu verbessern. Dies beginnt bei der schulischen Ausbildung und endet beim ehrlichen Beratungsgespräch mit jungen Menschen, in dem auch darauf hingewiesen wird, daß nicht jeder einen Ausbildungsplatz für seinen Traumberuf bekommen kann. Wir müssen vermeiden, unseren Jugendlichen den Eindruck zu vermitteln, daß der Staat mit vielen Steuergeldern nahezu alles möglich machen kann. Eines ist klar - erlauben Sie mir auch diese Bemerkung -: Trotz des 100 000-Job-Programms zeigen die jungen Menschen in Deutschland offensichtlich kein Vertrauen in diese Bundesregierung. Bei den Landtags- und Kommunalwahlen haben sie dies mit dem Stimmzettel zum Ausdruck gebracht. Sie sind der rotgrünen Koalition in Scharen davongelaufen. Dies sollte die Koalition nachdenklich stimmen. Diese Bundesregierung kann jungen Menschen keine Perspektive aufzeigen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gebe ich der Kollegin Ekin Deligöz das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Hofbauer, wenn Sie hier schon irgendwelche Behauptungen aufstellen, dann sollten Sie sie auch belegen können. Ich hingegen kann Ihnen mit einer Pressemitteilung der Bundesanstalt für Arbeit belegen, daß die Lehrstellenlücke in Deutschland tatsächlich kleiner geKlaus Hofbauer worden ist und daß dies ausschließlich dem Sofortprogramm der Bundesregierung zu verdanken ist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Arbeit ist nicht nur Beschäftigung. Eine Arbeit zu haben steht in unserer Gesellschaft nicht nur für die finanzielle Absicherung, sondern ist auch mit dem Status der Erwerbstätigkeit verbunden. Eine Stelle zu haben bedeutet Verantwortung zu übernehmen, bedeutet Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, bedeutet persönliche Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn wir wollen, daß gerade junge Menschen soziale Verantwortung übernehmen und einen positiven Beitrag für die Zukunft dieser Gesellschaft erbringen, dann müssen wir ihnen dafür die Grundvoraussetzungen ermöglichen: Qualifizierung und eine gute Ausbildung. ({1}) Die allermeisten Jugendlichen unter 25 Jahren haben in der Tat eine Beschäftigung, sei es in Form von Ausbildung oder von Schule oder einer Stelle im Betrieb. Aber dennoch beträgt die Arbeitslosigkeitsquote bei Jugendlichen knapp 10 Prozent. Vorhin haben Sie vorlaut dazwischengerufen, dieses Programm sei eine Katastrophe. Was ist denn die größere Katastrophe, zuzugucken, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun oder tatsächlich aktiv zu werden und sich der Verantwortung zu stellen? ({2}) Sie kritisieren, daß auch gut qualifizierte Realschüler und Gymnasiasten an dem Programm teilnehmen. Daß sie aber an diesem Programm teilnehmen, ist doch nicht ein Zeichen dafür, daß das Programm falsch ist. Es ist vielmehr Beleg dafür, daß die Situation auf dem Lehrstellenmarkt unbefriedigend ist. ({3}) In Anbetracht dieser Tatsache unterscheiden wir in Sachen Jugenderwerbslosigkeit nicht zwischen sozial Benachteiligten, Hauptschülern, Realschülern und Gymnasiasten, sondern wir stellen uns der Gesamtverantwortung und nehmen die Situation für alle Jugendlichen gleichermaßen ernst. ({4}) Die neue Bundesregierung hat in der Tat nicht sehr lange gezögert, sondern gleich mit einem Sofortprogramm wichtige Maßnahmen in Gang gesetzt, um sich dieser Verantwortung zu stellen. Das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen: Mit dem Programm sind außerbetriebliche Lehrstellen geschaffen worden, und insgesamt sind mehr als 100 000 Jugendliche in Maßnahmen des Programms, was die Chance auf Eingliederung in den regulären Arbeitsmarkt tatsächlich nachhaltig verbessert. Die von den Arbeitsämtern nachgezählten Ablehnungen und die vorzeitigen Abbrüche, die Sie so schön aufzählen, hatten vielfach sehr, sehr gute Gründe, wie zum Beispiel den Beginn einer schulischen Ausbildung, die geglückte Aufnahme eines Studiums oder die Festanstellung in einem Betrieb. ({5}) Noch nie war ein Programm in dieser Beziehung so flexibel in der Gestaltung und zugleich so ergebnisorientiert in den Richtlinien. Noch nie sprach ein Programm so viele Jugendliche an. Selbst die Jugendzeitschrift „Bravo“ ({6}) hat uns bestätigt, daß diese Öffentlichkeitskampagne einen wichtigen Bewußtseinsprozeß in Gang gesetzt hat. ({7}) Aber wenn Sie schon unbedingt über dieses Programm sprechen wollen, dann sollten wir diese Debatte hier nutzen, um uns vor allem bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsämter vor Ort zu bedanken, ({8}) die voller Engagement und Kreativität ans Werk gegangen sind, um die Jugendarbeitslosigkeit tatsächlich abzubauen. Sie haben noch nicht einmal das mühsame Klinkenputzen bei Unternehmen gescheut. ({9}) Es ist enorm, was diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus ihrem Handlungsspielraum gemacht und was sie auf die Beine gestellt haben. Schon allein deshalb müssen wir dieses Programm fortsetzen. ({10}) „Chancengleichheit“ ist ein Begriff, den wir in der Regierung ernst nehmen. Dafür tun wir einiges. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten ausnahmsweise einmal die Parteitaktik hintanstellen und uns unterstützen. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt die Kollegin Andrea Nahles, SPD-Fraktion.

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Programm zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und Ausbildungsnot, JUMP, ist schon deswegen ein Erfolg, weil endlich Schluß ist mit dem Totschweigen der Jugendarbeitslosigkeit in diesem Land. ({0}) Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit in einem Jahr um 6,9 Prozent gesenkt. Eine solche Bilanz hatten Sie in 16 Jahren nicht aufzuweisen, meine Herren von der Opposition. ({1}) Wenn Sie, Herr Kues, Herr Schäuble und wie Sie alle heißen, ({2}) von einer „teuren Luftnummer“ sprechen, dann will ich Ihnen sagen: Eine bessere Möglichkeit, in junge Leute zu investieren, kann ich mir für diese 2 Milliarden DM überhaupt nicht vorstellen. ({3}) Herr Kues, gehen Sie mit mir einmal in ein xbeliebiges Arbeitsamt in einem x-beliebigen Berliner Bezirk! Dort sollten wir uns einmal mit einer JUMPKlasse, in der junge Leute sitzen, die 30, 40 Bewerbungen ohne Erfolg abgeschickt haben, treffen. Denen können Sie dann einmal sagen: Leute, ihr sitzt hier in einer Luftnummer. - Ich würde gerne einmal hören, was die jungen Leute dazu sagen. Das ist doch lächerlich, Herr Kues. ({4}) Herr Jork, ich habe gehört, Sie sind der Bildungsexperte der Union. Ist Herr Jork noch da? ({5}) - Da ist er ja. Das ist ja beruhigend. - Es ist schon sehr bemerkenswert, wenn Sie das Programm dadurch diffamieren - auch Herr Schäuble hat dies getan -, daß Sie sagen: Junge Leute lassen gut bezahlte Ausbildungsstellen sausen, um möglichst schnell in dieses Jugendarbeitslosigkeitsprogramm hineinzukommen. Ich will Ihnen einmal die Realität schildern: 27 800 junge Leute bekommen über drei Jahre hinweg pro Monat 500 DM, um im Rahmen einer außerbetrieblichen Maßnahme ihre Ausbildung zu absolvieren. Die machen das, obwohl sie zu einem guten Teil schon über 20 sind und sie, wenn es tolle Möglichkeiten gäbe, weitaus mehr Geld verdienen könnten - von Schwarzarbeit will ich gar nicht reden. Warum sitzen diese Leute da für 500 DM? Weil sie das als Chance begreifen. Also hören Sie mit solchen Diffamierungen auf! Das ist unverschämt. ({6}) Es ist nicht der Erfolg der Bundesregierung, der hier im Mittelpunkt steht. Erfolg haben wir vor allem deswegen, weil uns die jungen Leute im wahrsten Sinne des Wortes die Bude eingerannt haben. Das ist die Wahrheit. ({7}) Ich will Ihnen das an Hand von Zahlen deutlich machen. Wir haben allein auf der Hotline 226 000 Anrufe gehabt. Wir haben 188 000 Leute in Maßnahmen bekommen. Aber wir haben auch Leute erreicht - ({8}) - Das kann ich Ihnen erzählen: die Bundesanstalt für Arbeit und die Landesarbeitsämter in der Vereinbarung mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. ({9}) - Wissen Sie was, Herr Kues? Sie haben lange geschlafen. 16 Jahre lang nichts gemacht und jetzt frech wie Oskar - so etwas habe ich gern. ({10}) Toll ist nicht nur, daß die jungen Leute motiviert werden, sondern auch, daß es in den Arbeitsämtern zu einer Anstrengung gekommen ist, wie wir sie in Deutschland noch nie hatten. Wir haben es tatsächlich geschafft, in den Arbeitsämtern neue Methoden anzuwenden. Wir haben Streetworker eingesetzt. ({11}) Wir haben Internetcafés eingerichtet. Wir haben Callcenter beauftragt. Das hat dazu geführt, daß die Arbeitsämter auch über 30 000 junge Leute erreicht haben, die nicht einmal mehr in der Arbeitslosenstatistik Ihrer Regierung aufgetaucht sind. Das müssen Sie sich einmal klarmachen. ({12}) Ihre Kritik trifft uns nicht. ({13}) Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Wirtschaft stellt genügend Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung - Sie sollten Ihre rhetorischen Fähigkeiten einmal dafür einsetzen, daß das gelingt; ({14}) das ist nämlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht der Fall -, oder wir machen ein Programm, weil wir als Politiker unsere Hausaufgaben machen müssen und nicht einfach nichts tun können. ({15}) Da hat sich diese Bundesregierung anders entschieden, als Sie es 16 Jahre vorgemacht haben: Wir tun etwas. ({16}) Sie haben heute noch die Möglichkeit, Ihre ernstzunehmenden Einwände gewinnbringend einzusetzen. Wir veranstalten landesweit regionale Ausbildungskonferenzen, bei denen es darum geht, eine Nachvermittlungsaktion hinzubekommen. ({17}) Da können Sie dann - hoffentlich positiv - mitmachen. Denn Ihre Nörgelei bringt keinen Jugendlichen in Arbeit und Ausbildung. ({18}) Als letztes appelliere ich an alle Jugendlichen: Meldet euch bitte, wenn ihr noch eine Ausbildungsstelle oder einen Arbeitsplatz sucht! Meldet euch jetzt, damit wir jetzt noch Anstrengungen für euch unternehmen können! An die Unternehmer, die die betrieblichen Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen: Wenn wir es nicht im guten schaffen, dann müssen wir andere Saiten aufziehen. Vielen Dank. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Nahles, Sie werden mit „andere Saiten aufziehen“ und solchen Kraftausdrücken keinen einzigen Handwerksmeister dazu bringen, einen zusätzlichen Ausbildungsplatz anzubieten. ({0}) Ich glaube, es wäre für die Debatte heute gut, wenn wir einmal etwas ruhiger und sachlicher über diese Frage redeten. Es ist doch überhaupt nicht so, daß unsere Zielsetzung eine andere wäre. Wir müssen junge Leute qualifizieren und wieder in Arbeit bringen. Es ist doch auch so, daß es einzelne Teile des Programms schon früher gegeben hat. Auch unter Arbeitsminister Norbert Blüm hat es Maßnahmen für Arbeit und Qualifizierung von Jugendlichen gegeben, weil es sinnvoll ist, junge Leute zu qualifizieren, damit sie Arbeit und Ausbildung bekommen. Viele Teile Ihres Programmes sind überhaupt nichts Neues, sondern Instrumente, die wir in der Arbeitsmarktpolitik seit Jahr und Tag einsetzen. ({1}) Neu ist, daß ein Programm - dies hat die heutige Aktuelle Stunde, wie ich finde, sehr deutlich gezeigt für eine einzigartige PR-Kampagne zugunsten der neuen Regierung herhalten muß, auch deswegen herhalten muß, weil in vielen anderen Bereichen nichts gelaufen ist. ({2}) Wenn ein Programm 2 Milliarden DM kostet - dies ist im übrigen fünfmal soviel wie das, was Sie der Pflegeversicherung durch Ihre Spargesetze wegnehmen -, dann haben wir als Parlamentarier doch die Pflicht, zu fragen, was mit diesem Geld geschieht. ({3}) Wird dieses Geld sinnvoll und effektiv eingesetzt? Erreichen Sie mit diesen Mitteln das Maximum dessen, was man erreichen kann? Oder könnte man den gleichen Effekt mit weniger Geld erzielen? ({4}) Könnte man mit diesem Geld noch mehr Menschen helfen, in Arbeit und Ausbildung zu kommen? ({5}) Wir haben in einigen Bereichen Zweifel, die auch besprochen werden müssen. Das Programm beinhaltet ohne Frage - viele Kurzzeit- und Trainingsmaßnahmen. Die Zahl der Teilnehmer, die Sie mit diesen Maßnahmen erreichen, läßt sich vielleicht gut verkaufen. Aber es ist unser gutes Recht, nach dem Sinn dieser Maßnahmen zu fragen, wenn von 32 100 Menschen, die sich in diesen Maßnahmen befanden, nur 220 - diese Zahl ist bekannt - einen regulären Ausbildungsplatz erhalten haben. Angesichts dieser Zahlen müssen wir fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, die Maßnahmen anders auszurichten und andere Schwerpunkte im Programm zu setzen. ({6}) Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Vor einigen Wochen habe ich einen brandenburgischen Wahlkreis besucht und dort viele Gespräche geführt. Ein Handwerksmeister kam auf mich zu und berichtete: Ich muß noch Schulden abzahlen, weil ich meinen Betrieb erst vor einigen Jahren gegründet habe. Mir fällt es sehr schwer, lukrative Aufträge zu bekommen. Wenn man mir einen kleinen Zuschuß gäbe, würde ich durchaus einen weiteren Lehrling einstellen. Warum unterstützen Sie nicht solche Maßnahmen? Wenn Sie das täten, dann müßte nicht mehr der Staat den Handwerksmeister finanzieren, der einen Jugendlichen ausbildet. ({7}) Mit der Unterstützung der oben beschriebenen Maßnahme könnte man dafür sorgen, daß sich die Ausbildung nahe an der Wirklichkeit des zukünftigen Arbeitsplatzes orientiert. Machen Sie ein bißchen weniger Sozialarbeit! Sorgen Sie lieber ein bißchen mehr für die Unterstützung der Handwerksmeister! ({8}) Es hat mich auch sehr nachdenklich gestimmt, als ich gelesen habe, daß 53 Prozent der Bewerber um einen Ausbildungsplatz mittlere und höhere Schulabschlüsse haben. Der Kollege Kues hat darauf hingewiesen. Es ist unverständlich, daß zwei Drittel der Mittel im Westen und nur ein Drittel der Mittel im Osten ausgegeben werden, obwohl wir alle wissen, daß die Probleme im Osten größer sind, weil die dortigen Strukturen noch nicht so gut entwickelt sind wie im Westen. Im übrigen tragen Sie die Verantwortung dafür, daß es im Osten keinen Mittelstand gibt. Sie haben keinen Mittelstand zugelassen. ({9}) Ihre Partei ist die Mittelstandsvernichtungspartei in Deutschland! Das sollten Sie wissen. ({10}) Man muß die Schwerpunkte auf dem Jugendarbeitsmarkt dort setzen, wo sie katastrophal sind. Die Entscheidung, zwei Drittel der Gelder im Westen, wo es gut läuft, und nur ein Drittel der Gelder im Osten auszugeben, paßt nicht zu den Verhältnissen. Frau Bildungsministerin, Sie haben so engagiert geredet. ({11}) Sorgen Sie dafür, daß auf der Kultusministerkonferenz entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Ich weiß, daß dies sehr schwer zu erreichen ist; denn die Kultusministerkonferenz ist nicht gerade die innovativste Veranstaltung. Der Vatikan ist im Vergleich zur Kulturministerkonferenz neumodisch. Wenn nicht bald bessere Möglichkeiten zur Förderung derjenigen im allgemeinbildenden Schulwesen, die sich mit den neuen Anforderungen sehr schwertun, entwickelt werden, dann kann der Bund auf Dauer nicht die Reparaturkosten bezahlen, die durch eine falsche Schulpolitik der Länder entstehen. ({12}) Weil wir es mit den Menschen gut meinen und weil wir den jungen Leuten die Erfahrung ersparen möchten, von der Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, fordere ich Sie auf: Lassen Sie die Polemik beiseite! Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie die Maßnahmen des Programms zielgenauer ausgerichtet werden können, um das zu erreichen, was wir gemeinsam erreichen wollen. Schönen Dank. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber KarlJosef Laumann, du hast in deiner Rede Unwahrheiten und Fakten miteinander vermischt und alles so verdreht, wie du es brauchst. Der Handwerksmeister aus Brandenburg bekommt das, was er benötigt. Er wird unterstützt. ({0}) Ich finde es schlimm, daß hier eine solche Debatte geführt und damit ein falscher Eindruck erweckt wird. Ich beobachte ja Herrn Kues die ganze Zeit, ({1}) der ständig seine 15 Prozent anbringt. Sie diffamieren ein Programm, und Sie diffamieren wissentlich die jungen Leute, die in diesem Programm stecken. Das tun Sie wissentlich. ({2}) Ich will Ihnen etwas Einfaches sagen. Der Ausgangspunkt für dieses Programm im Herbst des vergangenen Jahres waren 428 000 junge Menschen, die arbeitslos waren. Gleichzeitig waren den Arbeitsämtern noch 35 000 unvermittelte Bewerber um Ausbildungsplätze gemeldet. Herr Kues, ich sage es Ihnen jetzt noch einmal; ich kann es Ihnen auch aufschreiben: Wir machen hier kein Benachteiligtenprogramm, ({3}) sondern wir haben ein Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Nehmen Sie das bitte einmal zur Kenntnis! ({4}) Ein Element dieses Programms ist auf ganz besondere Zielgruppen ausgerichtet. Zu diesen Zielgruppen sage ich Ihnen gleich noch etwas. ({5}) Ich sage Ihnen hier ganz deutlich: Wenn solche Leute wie der hessische Ministerpräsident das Sofortprogramm kritisieren, als Ganzes in Frage stellen und es als Täuschungsaktion gegenüber jungen Menschen diffamieren, so wie er das in einem Interview in der „Sächsischen Zeitung“ vom 15. September 1999 gemacht hat, dann ist das zusammen mit Äußerungen von Herrn Schäuble und anderen, die ich aneinanderreihen könnte, exakt ein Beleg dafür, daß Sie hier eine für meine Begriffe üble Doppelstrategie fahren. Sie sagen: „Über bestimmte Punkte können wir reden“, aber Vorschläge kommen von Ihnen keine. Herr Laumann sagt das auch, ({6}) und der Herr von der F.D.P., der sowieso immer redet und nicht lernfähig ist, macht das auch so. Ich sage Ihnen hier: Dieses Programm der Bundesregierung ist ein voller Erfolg. Da beißt die Maus überhaupt keinen Faden ab. ({7}) Ich frage Sie einmal, wie Sie zu Ihren Ergebnissen kommen, wenn Sie zur Kenntnis nehmen müssen, daß Ende September dieses Jahres immerhin noch 108 000 junge Menschen in Maßnahmen des Programms einbezogen waren. ({8}) Wie kommen Sie denn dazu, hier Ergebnisse mitteilen zu können? Jetzt sage ich Ihnen einmal ein paar einfache Positionen. ({9}) - Passen Sie mal auf; ich nenne Ihnen ein paar einfache Positionen. Hören Sie auf. - Herr Hofbauer hat gesagt: Man muß mal mit den Leuten ordentliche Beratungsgespräche führen. Herr Hofbauer, ich sage Ihnen das zum Mitschreiben. Nehmen Sie einen Kugelschreiber, damit Sie es beim nächsten Mal nicht vergessen haben. ({10}) - Ja, doch, doch. Wissen Sie was? Der Punkt ist, daß man sich das durchlesen und anschauen muß, was man in seinem Fachausschuß an Informationen schriftlicher Art erhält. Dann kann man sich hier nicht hinstellen und solche Positionen in Einzelheiten vertreten. ({11}) 10,6 Prozent der jungen Leute - das sind 19 900 Personen - sind in Beratungsmaßnahmen. Da wird genau das gemacht, was Sie angemahnt haben. Man setzt sich mit dem Beratungssuchenden hin und fragt ihn: Welche Ansprüche hast du? Was möchtest du lernen? Paßt das überhaupt zu deinen Bildungsabschlüssen? Paßt das zu dem, was hier zur Verfügung steht? - Es wird also genau das getan, was Sie angemahnt haben. Jetzt nenne ich eine andere Zahl - die können Sie auch weiter diffamieren -: 32 400 junge Leute sind in Qualifizierungs-ABM. Die Alternative dazu wäre, daß sie arbeitslos sind. ({12}) - Doch! - Und das Dilemma ist, daß viele dieser jungen Leute - deswegen auch Qualifizierungs-ABM - schon einmal eine Ausbildung absolviert hatten, aber zwischenzeitlich arbeitslos waren. Wir müssen nun Möglichkeiten und Chancen nutzen, um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern. Das ist übrigens etwas, was Ihnen bei den beschäftigungspolitischen Leitlinien aus Brüssel wiederbegegnet. Das ist im übrigen etwas, was völlig richtig gesagt - Herr Blüm auch gemacht hat, was aber jetzt von Ihnen systematisch diffamiert wird. Das halte ich für zynisch und schlimm gegenüber den jungen Leuten. ({13}) Nun nenne ich Ihnen den nächsten Punkt. ({14}) - Nein, ich will gar nichts. Ich buchstabiere Ihnen das jetzt hier durch. - Es gab Ende September 23 800 Arbeitsverhältnisse mit Lohnkostenzuschüssen im ersten Arbeitsmarkt. ({15}) Soll ich es noch einmal sagen, sozusagen zum Mitschreiben? Der spannende Punkt ist ein ganz einfacher. ({16}) - Nein, ich bin nicht übermütig. ({17}) Was ich schlimm finde, ist, wie zynisch mit diesem Thema und dieser Situation umgegangen wird. ({18}) Ich könnte Ihnen weitere Zahlen vortragen. Es wurde von den Abbrechern geredet. Es handelt sich hierbei um eine ganz spannende Angelegenheit. In der Tat, es gibt Abbrecher. Wir haben Berichte geliefert, in denen dargestellt wird, warum abgebrochen wird. Es gibt sogar Berichte darüber, warum das Angebot nicht angenommen wird. Wenn die Arbeitsverwaltung einem jungen Menschen etwas anbietet und er sagt: „Passen Sie einmal auf, das macht keinen Sinn, ich habe eine Einberufung und muß in zwei Monaten zur Bundeswehr“, dann wird er in der Arbeitsverwaltung als Ablehner geführt. Wenn ein junger Mensch sagt: „Hören Sie einmal zu, ich habe mich um einen Studienplatz beworben; ich mache das nicht“, dann wird er ebenfalls als Ablehner geführt, ohne daß die Gründe dafür differenziert dargestellt werden. Herr Kues, ich kann Ihnen eines sagen: Ich war heute über die Mittagszeit mit Herrn Jagoda im Haushaltsausschuß. Da hat das Programm eine große Rolle gespielt. Bernhard Jagoda, den man nicht verdächtigen kann, Mitglied der SPD oder der Grünen zu sein oder dieser ganz schlimmen Koalition nahezustehen, hat auf eine Menge von Fragen außerordentlich gut geantwortet und das Programm verteidigt. Er hat dargestellt, daß da, wo leichtfertig abgelehnt wird, Sperrzeiten verhängt werden. Das machen wir relativ konsequent. Ich sage Ihnen eines: Die Bundesregierung hat beschlossen, das Programm konsequent fortzusetzen. Sie können schreien, soviel Sie wollen - wir werden es umsetzen. Dazu haben wir die Mehrheit. ({19}) Wir bieten an, daß wir darüber Punkt für Punkt - das IAB wird eine Auswertung vorlegen - im Ausschuß reden. Da können Sie all Ihre Verbesserungsvorschläge machen, auf die ich schon sehr gespannt bin. Aber wir werden das Programm fortsetzen, weil es den jungen Menschen und ihrer Beschäftigungsfähigkeit in diesem Lande dient und für sie ganz wichtig ist. Schönen Dank. ({20})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Jork, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die jetzt laufende Aktuelle Stunde hat die SPD beantragt, um über das Sofortprogramm zu diskutieren. Da dieses Programm keiner streichen will, steht die Frage im Raum, warum es erneut diskutiert werden soll, obwohl wir es sowohl in Plenum und Ausschuß als auch an anderen Stellen wiederholt beraten haben. Wir haben es kritisiert, gelobt und getadelt. Wir haben Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Frau Ministerin, wir haben auch Alternativen formuliert. Auch der Kollege Staatssekretär Andres darf das zur Kenntnis nehmen. Für mich stellt sich die Frage, welche Gründe hinter diesem SPD-Wunsch stehen. Variante eins: Angesichts der sich täglich wandelnden Aussagen zu Absichten der Bundesregierung und zu Schwerpunkten in der Arbeit der Bundesregierung wollen die Bildungspolitiker der SPD mahnen, hier nicht zu streichen. Dazu dient die Methode „gezieltes Mißverständnis“. Frau Nahles, Sie haben diese Methode angewandt; denn ich habe von etwas ganz anderem als dem gesprochen, was Sie in Ihrem Beitrag behandelt haben. ({0}) Diese Selbstermahnung würde glaubhafter, wenn sie mit Selbstoptimierung verbunden wäre. Vorschläge dafür liegen vor. Variante zwei: Es soll von der bereits selbst beschlossenen Streichung der Förderung der Ausbildungsberater und der Lehrstellenwerber - das ist im Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaft vorgekommen - abgelenkt werden; schließlich war die Streichung dort eine Fehlentscheidung. ({1}) - Richtig, die waren erfolgreich. - Dies könnte durch konstruktive Zusammenarbeit korrigiert werden. Entweder gibt es diese konstruktive Zusammenarbeit zwischen den Ministerien der Bundesregierung nicht, oder die Förderung ist gar nicht gewollt. Variante drei: Die SPD ist selbst unsicher, wie es weitergehen soll. Wenn das so ist, dann kann ich nur sagen: Schauen Sie unsere Vorschläge und unsere Alternativen an! Nehmen Sie uns ernst! ({2}) - Das sage ich Ihnen gerne. Auch Sie waren teilweise dabei, als wir sie dargestellt haben. Variante vier: Die SPD will das Sofortprogramm als besondere Spitzenleistung der Öffentlichkeit darstellen. ({3}) Genau das hat die Ministerin in ihrer Rede gemacht. Es handelt sich aber nicht nur um eine Frage hohen materiellen Einsatzes. Die Ministerin erklärte am 5. Oktober in einer Presseerklärung unter anderem, es gebe noch einiges zu tun. Sie hat recht. Eigentlich in diesem Sinne haben wir im Ausschuß diskutiert. Da hat uns der Staatssekretär Catenhusen übrigens sehr wohl gesagt, daß wir gemeinsam über Vorschläge diskutieren werden. Was soll diese Aktuelle Stunde also? Wir waren uns eigentlich einig, daß Bewertungskriterien für Maßnahmen im Bereich der Berufsbildung und der Lehrstellen folgende Punkte betreffen: Erstens: Die Lehrlinge haben Anspruch auf eine hochqualitative Ausbildung. Zweitens: Sie müssen praxisnah in Betrieben ausgebildet werden. Drittens: Sie müssen eine Chance auf einen Dauerarbeitsplatz haben. ({4}) An dieser Stelle muß ich etwas ergänzen - dies ist wichtig und kam aus meiner Sicht bisher in allen Diskussionen zu knapp weg -: Die Maßnahmen müssen nachhaltig sein. Das, was wir hier konstruieren, darf kein Wahl-Strohfeuer sein. ({5}) Ich habe hierbei bewußt im Hinterkopf, daß jemand einmal von „Wahl-ABM“ gesprochen hat. Ich sehe Parallelen zu den Wahlen in diesem Jahr: Es ist nicht aufgegangen. Des weiteren ist aus meiner Sicht die Spezifik der neuen Bundesländer in viel höherem Maße zu berücksichtigen. In der Argumentation sind verschiedene Fragen völlig durcheinandergebracht worden. Ich kann nicht für die Frage, was Leute machen, die einen mittleren Abschluß haben, einen Fall in Schwerin anführen, wenn die Wirtschaft gar nicht vorhanden ist. ({6}) Nach diesen Maßstäben ist das Sofortprogramm zu bewerten, Frau Schmidt. Ich nenne einige Kritikpunkte. Das Programm ist nicht effektiv, da 53 Prozent der öffentlich finanzierten außerbetrieblichen Lehrstellen von Jugendlichen besetzt werden, die einen mittleren und höheren Abschluß haben. Hier geht es eben um die Differenzen zwischen Ost und West. Im Westen, in den alten Bundesländern, kann man mit ihnen durchaus freie Lehrstellen besetzen. Das Programm ist nicht effektiv, da die Teilnehmer der Qualifizierungs-ABM - Frau Nahles, vielleicht hören Sie einmal zu; darum ging es - 80 Prozent des Tariflohnes als Arbeitsentgelt erhalten. Dies liegt deutlich über den Ausbildungsvergütungen und ist eher ein Anreiz, die Lehre abzubrechen. ({7}) Das Programm ist nicht effektiv, weil etwa ein Drittel Kurzläufer sind. Wir wissen aus den Zahlen, daß das Programm für viele nach drei Monaten beendet ist. Es ist eben nicht nachhaltig. Das Programm ist nicht ausreichend, weil strukturelle Probleme des Ausbildungsstellenmarktes nicht gelöst werden. Ich denke an das Leistungsvermögen der Bewerber und an den Bedarf in der Wirtschaft sowie an die Möglichkeiten der Betriebe. Die echten Problemfälle werden unzureichend getroffen. Dies sind, wie Sie selbst angeben, etwas weniger als 10 000. Die Kriterien sind nicht ausreichend erfüllt. Es wurde nach den Alternativen gefragt. Ich wünsche mir - auch das haben wir schon gesagt - zukunftsfähige Berufsbilder, die Strukturreform, die gezielte Förderung von Handwerk und Mittelstand, Konzepte zur Förderung und Motivierung der Jugendlichen und vor allem eine konzertierte Aktion. ({8}) Es wäre schön, wenn dies einigermaßen liefe. Abschließend eine Bitte: Sorgen Sie für eine Neuauflage des Programms und dafür, daß die Beteiligten mit seriösen Maßnahmen nachhaltig gefördert werden! Sorgen Sie dafür, daß unsere Steuergelder sinnvoll und effektiv genutzt werden! Darum geht es. Danke. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion.

Engelbert Wistuba (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003266, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst möchte ich auf eine Bemerkung des Herrn Dr. Jork bezüglich der Aktuellen Stunde eingehen. Sie wissen sehr wohl, daß diese Aktuelle Stunde nicht wegen JUMP, also nicht wegen des Sofortprogramms für 100 000 Jugendliche, beantragt wurde, sondern weil es Äußerungen Ihres Fraktionsvorsitzenden gab, die darauf abzielten, dieses Programm zu streichen. Das ist ein entscheidender Unterschied. ({0}) Ich muß schon sagen: Ich bin verblüfft, besser gesagt: betroffen von dem, was man in den letzten Wochen alles über das erfolgreiche Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit hören mußte. Da redet Kollege Kues von der CDU/CSU-Fraktion von einer „teuren Mogelpakkung“, sein Fraktionskollege Jork laut „Handelsblatt“ vom 7. Oktober von einer „teuren Luftnummer“, und am gleichen Ort schlägt BDA-Präsident Dieter Hundt am 20. Oktober in die gleiche Kerbe. Ich hätte gerne diese Stimmen gehört, als vor einem guten Jahr die Herren Kohl, Waigel, Schäuble, Gerhardt und Co. kurz vor der Bundestagswahl mit dem Füllhorn viel Geld für ineffiziente Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die sogenannten Wahlarbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ausgeschüttet haben. ({1}) Doch die Bürgerinnen und Bürger waren nicht so dumm, wie Sie sich das erhofft hatten. Sie merkten, daß es sich bei diesen Aktivitäten nicht um durchdachte Maßnahmen mit Perspektiven handelte, sondern daß das grundsätzlich wertvolle Instrument der ABM zum Wahlkampfinstrument degradiert wurde. ({2}) Uns Politikern wird häufig vorgeworfen, wir lebten so abgehoben, daß wir nicht mehr wüßten, welche Sorgen die Menschen umtreiben. Wenn ich mir einige Kommentare zum Sofortprogramm anschaue, muß ich sagen: Für einige Politiker und Verbandsfunktionäre gilt dies - leider - wirklich. ({3}) Ist Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, bei Ihren Gesprächen in den Wahlkreisen noch nicht aufgefallen, wie die Sorge um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz die Menschen umtreibt? Nicht nur die direkt betroffenen Jugendlichen, auch deren Eltern, Geschwister, Freunde und Großeltern leiden darunter. ({4}) Sie haben uns über 400 000 arbeitslose Jugendliche hinterlassen und beschweren sich nun, daß wir tatkräftig darangegangen sind, den Jugendlichen eine Perspektive zu geben. ({5}) - Perspektiven zu geben ist nie Quatsch. Das sage ich nur am Rande. ({6}) Das kann man nicht nur dreist, sondern auch unverschämt nennen. Daß es bei einem Programm dieser Größenordnung an einigen Stellen auch unbeabsichtigte und ungewollte Auswirkungen gibt, halte ich für normal. Die Erfahrungen des ersten Jahres werden selbstverständlich in die Planungen des Programms für das nächste Jahr eingehen. Konstruktive Vorschläge nehmen wir übrigens gern entgegen. ({7}) Staatssekretär Andres hat Ihnen eindrucksvolle Zahlen über den Erfolg des Jugendprogramms vorgelegt; da will ich, von einer Ausnahme abgesehen, vom Präsentieren von Zahlen Abstand nehmen. ({8}) Ihre Argumente - so nennen Sie Ihre Ausführungen gegen das Sofortprogramm stehen zudem auf sehr tönernen Füßen. Ich möchte hier aus Zeitgründen nur auf ein Beispiel eingehen: Es ist wahr, daß knapp 60 000 Jugendliche das Angebot des Sofortprogramms abgelehnt haben. Diese zugegebenermaßen relativ hohe Zahl der Ablehnungen als Ausdruck der Verweigerung zu interpretieren ist schlichtweg falsch. ({9}) Denn darin ist auch die Zahl all derer enthalten, die sich doch noch zu einem Studium entschlossen haben, zur Bundeswehr einberufen wurden oder durch Eigeninitiative einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz gefunden haben. Für 4 400 Jugendliche, die Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe bezogen haben, wurden wegen unbegründeter Ablehnung oder unbegründeten Abbruchs von Maßnahmen Sperrzeiten verhängt. Bei 12 800 Jugendlichen, die Sozialhilfe bezogen, erfolgte aus den gleichen Gründen eine Meldung an das Sozialamt. Damit reduziert sich die Zahl der sogenannten Verweigerer auf ein Viertel der soeben genannten Zahl. Daß durch dieses Programm entdeckte Unwillige Sanktionen hinnehmen mußten, hätte eigentlich, wenn man Ihre sonstige Rhetorik berücksichtigt, eher Zustimmung hervorrufen müssen. Als Wirtschaftspolitiker meiner Fraktion möchte ich noch folgendes grundsätzlich feststellen: Für uns Sozialdemokraten ist es ein vorrangiges Ziel, daß die ausbildungswilligen Jugendlichen eine betriebliche Ausbildung erhalten. ({10}) Es kann und darf nicht zu einem Dauerzustand werden, daß der Staat permanent bzw. in zunehmendem Maße außerbetriebliche Ausbildungsplätze finanzieren muß. ({11}) Im „Bündnis für Arbeit“ hat sich die Wirtschaft verpflichtet, den demographisch bedingten Zuwachs der Nachfrage nach Ausbildungsplätzen durch zusätzliche betriebliche Ausbildungsstellen abzudecken und darüber hinaus mindestens 10 000 weitere Ausbildungsplätze zu schaffen. Dies ist ein großer Erfolg des von Bundeskanzler Schröder initiierten „Bündnisses für Arbeit“. ({12}) Wir werden die Wirtschaft an ihren Taten messen. Wir Sozialdemokraten haben kein Interesse an einer unnötigen Regulierung der Wirtschaft. Im Unterschied zu Teilen der Opposition lehnen wir Vorschriften für die Wirtschaft aber auch nicht ab, wenn sie im Interesse des Gemeinwohls notwendig sind und die Wirtschaft ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung, die ja auch von ihr selber immer wieder betont wird, nicht nachkommt. ({13}) Auf unsere augenblickliche Debatte bezogen heißt das, daß wir keine Ausbildungsplatzabgabe wollen. ({14}) Sollte aber die Wirtschaft auf Dauer nicht in der Lage oder nicht willens sein, genügend Ausbildungsplätze bereitzustellen, wird eine derartige Abgabe, ({15}) wie immer sie dann heißt und aussieht, nicht zu vermeiden sein. ({16}) Schließlich kann den Steuerzahlern nicht dauerhaft zugemutet werden, für die Versäumnisse der Wirtschaft aufkommen zu müssen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, Sie müssen leider zum Schluß kommen. Wir befinden uns in der Aktuellen Stunde.

Engelbert Wistuba (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003266, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin sofort fertig. Ich betone noch einmal: Wir wollen keine Ausbildungsplatzabgabe, aber die Wirtschaft muß ihrer Verantwortung gerecht werden. Da offensichtlich ist, daß es im nächsten Jahr ohne ein Sofortprogramm wieder einen Mangel an Ausbildungsplätzen gäbe, werden wir unser erfolgreiches Sofortprogramm im nächsten Jahr fortsetzen. Dies schulden wir einfach der jungen Generation. Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

So kann man die Präsidentin auch austricksen. Das Wort hat der Kollege Hans Forster, SPDFraktion.

Hans Forster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003121, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Thema beherrscht unsere Arbeit in den Wahlkreisen: die Arbeitslosigkeit, die verzweifelte, oft vergebliche Suche junger Menschen nach Ausbildungsplätzen. Über 200 000 Anrufe bei der Hotline der Bundesanstalt für Arbeit sind ein eindeutiger Beleg für das außerordentliche Interesse an Ausbildungsplätzen und für die großen Probleme, einen solchen zu finden. Das Sofortprogramm der Bundesregierung gegen Jugendarbeitslosigkeit zeigt: Wir finden uns nicht damit ab, daß in Deutschland Hunderttausende von jungen Menschen schon zu Beginn ihres Berufslebens aufs Abstellgleis geschoben werden. ({0}) Die Arbeitsämter ziehen durchweg positive Bilanzen. Allein das in meinem Wahlkreis ansässige Arbeitsamt Emden hat 511 bislang unversorgten Jugendlichen Ausbildungsplätze und Qualifizierungschancen gegeben. Viele Teilnehmer von JUMP waren vorher nicht einmal beim Arbeitsamt registriert, weil sie schon jede Hoffnung aufgegeben hatten. Die Zusage der Bundesregierung, das Sofortprogramm auch im kommenden Jahr wieder aufzulegen, wird vor Ort von den arbeitslosen Jugendlichen, ihren Familien und den Fachleuten der Arbeitsämter ausdrücklich begrüßt. ({1}) Es gibt auch im nächsten Jahr einen dringenden Bedarf. Ich möchte einen weiteren positiven Aspekt hervorheben: Die Vorgaben des Sofortprogramms haben zu einer engen Vernetzung von Arbeitsamt, Maßnahmenträgern und Jugendsozialhilfe geführt. Das ermöglicht eine intensive und individuelle Unterstützung der Jugendlichen. Das Sofortprogramm eröffnet darüber hinaus vielen ausländischen Jugendlichen in Deutschland zusätzliche Integrationschancen. Junge Ausländer, besonders Mädchen, haben - selbst mit guten Noten - große Probleme, eine Lehrstelle zu finden. ({2}) Ausländische Jugendliche sind überproportional häufig ohne Berufsabschluß. Blieben gemäß dem letzten Berufsbildungsbericht 8,1 Prozent der deutschen Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, waren es bei den ausländischen Jugendlichen 32,7 Prozent. Auch diesen Menschen gibt das Sofortprogramm neue Perspektiven. 24 400 ausländische Jugendliche wurden bisher erreicht. Das sind 13 Prozent der Maßnahmenteilnehmer. Damit bietet das Sofortprogramm für ausländische Jugendliche eine Integrationschance, die über die Möglichkeiten des dualen Ausbildungssystems hinausgeht. ({3}) Die breite Palette von Maßnahmen, die im Sofortprogramm angeboten werden, und die Möglichkeit, Maßnahmen zu verbinden, zum Beispiel Trainingsmaßnahmen und eine anschließende außerbetriebliche Ausbildung, gerade das kommt den ausländischen Jugendlichen zugute. Einen innovativen Aspekt sehe ich in Art. 11 des Sofortprogramms: Er schafft die Handhabe, junge Menschen anzusprechen, die durch die bisherige Praxis nicht erreicht wurden. Diese Jugendlichen werden durch die Einrichtung von niedrigschwelligen und sogenannten aufsuchenden Maßnahmen einbezogen. Viele konnten so motiviert werden, Qualifikationsangebote anzunehmen. Es geht uns darum, allen Jugendlichen einen Ausbildungsabschluß zu ermöglichen. Nur so kann soziale Ausgrenzung verhindert werden. Nichts von alledem ist in den Verlautbarungen der Vertreter der CDU/CSU und der Arbeitgeberverbände zu finden. Die alten Regierungsparteien haben tatenlos zugesehen, wie der Verdrängungswettbewerb um Ausbildungsstellen immer härter wurde. Die Jugendlichen mit Haupt- oder Sonderschulabschluß oder Jugendliche ohne Schulabschluß drohten in diesem Wettbewerb als Verlierer auf der Strecke zu bleiben. Diese jungen Menschen gewannen den Eindruck, daß man sie nicht braucht. Viele von ihnen hatten nach etlichen vergeblichen Anläufen die Suche nach einer Lehrstelle resigniert aufgegeben. Allen Fakten zum Trotz bestreitet die Opposition die Notwendigkeit, diesen Jugendlichen eine aktive Unterstützung auf dem Weg in die Arbeitsgesellschaft zu geben. ({4}) - Wie gesagt, wir sehen das anders. Mit dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit hat die Bundesregierung ein klares Zeichen gesetzt. Der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hat für uns allerhöchste Priorität. JUMP hat dazu beigetragen, daß in unserer Gesellschaft ein neues Bewußtsein entstanden ist. Es wäre unverantwortlich, das Projekt zu stoppen bzw. es nicht weiterzuführen. ({5}) Eine qualifizierte Ausbildung ist die wichtigste Investition gegen Jugendarbeitslosigkeit und für die Zukunft der jungen Menschen. Wir werden unser erfolgreiches Programm fortsetzen. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Forster, dies war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses möchte ich Ihnen dazu gratulieren ({0}) und Ihnen als Präsidentin ein Kompliment aussprechen: Sie haben Ihre Redezeit nicht voll ausgenutzt. Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Heinz Schmitt, ebenfalls SPD-Fraktion.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Aktuellen Stunde sehr viel über das Sofortprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gehört. Es steht fest - ich sage es hier noch einmal abschließend -: Das Programm JUMP ist ein voller Erfolg, vor allen Dingen für die jungen Menschen in diesem Lande. ({0}) Ihre Kritik widerspricht allen Erfahrungen, die meine Fraktionskolleginnen und -kollegen und ich in den Arbeitsämtern vor Ort gesammelt haben. ({1}) Sie sollten einmal mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Arbeitsämtern reden. Reden Sie doch einmal mit den Fachleuten! Sie müssen sich mit eigenen Augen davon überzeugen, mit welch hoher Motivation dort gearbeitet wird, mit welchem Engagement das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt wurde. ({2}) Die Arbeitsämter haben nämlich endlich die benötigten Instrumente in der Hand, um mehr Jugendlichen eine echte Chance für eine ordentliche Berufsausbildung zu bieten. ({3}) Natürlich muß das Programm JUMP in einzelnen Punkten auf seine Wirksamkeit und auf mögliche Verbesserungen hin überprüft werden; das ist selbstverständlich. Kommen wir aber einmal zur Kritik der Arbeitgeber. Wenn ich die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit zugrunde lege, resultiert das Mehrangebot von 25 000 Lehrstellen zum 30. September dieses Jahres in erster Linie aus dem Sofortprogramm der Bundesregierung. Im Augenblick sehe ich noch nichts von den zugesagten 16 000 Lehrstellen, deren Schaffung die Arbeitgeber im „Bündnis für Arbeit und Ausbildung“ versprochen haben. Wie es aussieht, haben wir hier das alte Problem: Noch immer bilden zuwenig Betriebe aus, um dem tatsächlichen Bedarf an Lehrstellen gerecht zu werden. Da ist und bleibt die Arbeitgeberseite in der Bringschuld. Es bleiben aber noch einige Wochen, um diese Bilanz zu verbessern. Wenn Sie von der CDU/CSU kritisieren - das war heute mehrfach zu hören -, zuwenig Jugendliche hätten nach Teilnahme an einer Maßnahme tatsächlich einen Arbeits- oder einen Ausbildungsplatz besetzt, dann unterschlagen Sie die Vielschichtigkeit dieses Sofortprogramms. ({4}) Sehr viele Jugendliche haben in den letzten Monaten an berufsvorbereitenden Trainingsmaßnahmen teilgenommen. Die Arbeitgeber haben sich doch immer beklagt, daß es den Ausbildungsplatzsuchenden teilweise an der grundlegenden Qualifikation für eine Lehrstelle fehle. Deshalb gibt es diese Trainingsmaßnahmen. Daß nicht alle Jugendlichen, die an einer solchen Ausbildungs- oder Berufsvorbereitung teilgenommen haben, direkt eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz vermittelt bekommen, ist doch klar. Wir sorgen aber mit diesen Maßnahmen dafür, daß diese Jugendlichen in Zukunft bessere Chancen bei der Vermittlung eines Ausbildungsoder Arbeitsplatzes haben. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, diese Anstrengungen kann man nicht pauschal als überflüssig oder gar als Mißerfolg abtun; das ist nur Polemik. Auch die Arbeitgeberverbände sollten sich angesichts dieser Fakten etwas zurückhalten, was ihre Kritik am Sofortprogramm angeht. ({5}) Wenn der Vorsitzende der größten Oppositionspartei in einem Interview davon spricht, daß das Geld, das wir für die Jugendlichen ausgeben, verschwendet sei, ist das schon ein starkes Stück. ({6}) Die Probleme jugendlicher Arbeitsloser scheinen demnach nicht vorrangige Sorge von Herrn Schäuble und seiner Partei zu sein. Für unsere Regierung jedenfalls ist es lohnenswert, auch in Zukunft um jeden Ausbildungsplatz zu kämpfen. Wir werden dies weiterhin tun. Ich bin sicher, daß die Jugendlichen spüren, daß u n s ihr Schicksal nicht gleichgültig ist. ({7}) Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen Sie es einfach zur Kenntnis: Das Sofortprogramm der Bundesregierung ist ein großer Erfolg. Wir werden dieses Programm fortsetzen. Den Arbeitgebern lege ich sehr nahe: Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die Ausbildung noch ein wenig ernster! Dann, aber nur dann können wir in Zukunft auf Programme wie JUMP verzichten. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit - Drucksache 14/1831 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit 1996 ist das Altersteilzeitgesetz in Kraft. ({0}) Die Bundesregierung will dieses bewährte Instrument nun ausbauen und weiterentwickeln. Unser Grundgedanke dabei ist: Altersteilzeit muß gefördert werden, damit möglichst viele Arbeitslose eine neue Chance erhalten, und Hemmnisse, die bei der Altersteilzeit noch bestehen, müssen abgebaut werden. Dann werden noch mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als bisher Altersteilzeit nutzen. Bei der Weiterentwicklung der Altersteilzeit wollen wir die bisherigen Erfahrungen mit diesem Instrument aufgreifen. Ursprünglicher Geburtshelfer der Altersteilzeit war ja die Idee, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen gleitenden Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand zu ermöglichen und gleichzeitig die freigewordenen Stellen jeweils mit einem Arbeitslosen wiederzubesetzen. An dieser Idee wollen wir weiter festhalten. Allerdings haben uns die Partner im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ klargemacht, daß es derzeit noch rechtliche Hemmnisse gibt, die dazu führen, daß Altersteilzeit noch nicht im gewünschten Ausmaß angenommen wird. Dies ist der Ansatzpunkt für unser Gesetz. Dabei gelten weiterhin zwei Voraussetzungen: Erstens dürfen unsere sozialen Sicherungssysteme finanziell nicht über Gebühr belastet werden. Zweitens kann es eine Förderung auch in Zukunft nur dann geben, wenn durch Altersteilzeit neue Beschäftigung geschaffen wird. Altersteilzeit hat nur dann einen Sinn, wenn Arbeitslosen eine Beschäftigungsperspektive eröffnet wird. Darüber sind wir uns mit den Sozialpartnern einig. Beim letzten Spitzengespräch innerhalb des „Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ im Juli dieses Jahres sind wir in diesen Punkten zu konkreten Ergebnissen gekommen. Bundesregierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften haben gemeinsam beschlossen, die Altersteilzeit auf der Basis dieser Grundvoraussetzungen weiterzuentwickeln. Eine kurze Zwischenbemerkung an den Abgeordneten Niebel: Einen Tagesordnungspunkt weiter müssen Sie sich wieder mit einem Ergebnis des „Bündnisses für Arbeit“ auseinandersetzen. Schauen Sie sich Ihre Rede aus der Aktuellen Stunde noch einmal an; vielleicht müssen Sie da noch etwas korrigieren. Ein wichtiger Punkt des neuen Gesetzes ist es, daß wir den Anwendungsbereich der Altersteilzeit auf Teilzeitbeschäftigte erweitern. Auch sie können künftig vorzeitig in den Ruhestand gleiten. Damit reagieren wir auf die Wünsche von vielen Teilzeitbeschäftigten, die in ihrer Mehrzahl noch immer Frauen sind. Wir berücksichtigen all jene, die das Instrument der Altersteilzeit bisher nicht nutzen konnten. Nach unserer Vorstellung sollen Teilzeitbeschäftigte genauso wie Vollzeitbeschäftigte ihre bisherige Arbeitszeit halbieren. Allerdings dürfen sie nicht nur geringfügig beschäftigt, sondern müssen auch nach der Verminderung ihrer Arbeitszeit voll versicherungspflichtig sein. Damit werden Teilzeitbeschäftigte Vollzeitbeschäftigten gleichgestellt. Das Potential derjenigen, die früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden können, wird größer. Zugleich fördern wir damit den Anreiz, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzustellen. Diese Neuregelung entspricht gerade den Wünschen von vielen teilzeitbeschäftigten älteren Frauen, die zur Zeit noch nicht von der Altersteilzeit profitieren können. Heinz Schmitt ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zu einem weiteren wichtigen Punkt unseres Gesetzes. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vereinfachen wir das geltende Recht. Insbesondere erleichtern wir die Wiederbesetzung einer Stelle. Darauf kommt es schließlich an. Die Wiederbesetzung ist nämlich die wichtigste Voraussetzung, um Altersteilzeit durch das Arbeitsamt zu fördern. Bisher gibt es kein Problem bei der Förderung, wenn ein Arbeitsloser oder ein neu Ausgebildeter unmittelbar für den ausscheidenden Beschäftigten eingestellt wird. Allerdings ist dieser Fall in der Praxis eher selten. Deshalb müssen bisher umfangreiche Wiederbesetzungsketten nachgewiesen werden. Das ist für die Betriebe mit einem erheblichen Aufwand verbunden. Diesen Nachweis bei Wiederbesetzung wollen wir nun erleichtern, zumindest innerhalb eines Unternehmens. So müssen in Zukunft nicht mehr alle Glieder einer Kette nachgewiesen werden, die bei der Umsetzung zwischen den in Altersteilzeit gehenden Mitarbeitern und den neu eingestellten Mitarbeitern eine Rolle spielen. Künftig genügt es, wenn für einen Mitarbeiter, der in Altersteilzeit geht, ein anderer Mitarbeiter in dessen Aufgabenbereich nachrückt. Allerdings muß im selben Funktionsbereich des Unternehmens, also zum Beispiel in der Produktion oder im Vertrieb, ein neuer Mitarbeiter eingestellt werden. Diese Erleichterung ist ohne Gesetzesänderung möglich und hilft allen Unternehmen. ({2}) Für kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 50 Arbeitnehmern bauen wir die Bürokratie noch weiter ab. Für diese Betriebe gilt in aller Regel, daß sie beim Ausscheiden eines Mitarbeiters in Altersteilzeit ersatzweise einen Arbeitslosen einstellen. Der Nachweis der Wiederbesetzung wird hier vom Gesetzgeber einfach unterstellt. Wir fördern diese Unternehmen außerdem auch dann, wenn sie für einen Nutzer von Altersteilzeit einen Auszubildenden einstellen. Diese Regelung galt bisher nur für Unternehmen mit bis zu 20 Arbeitnehmern. Es gibt darüber hinaus noch andere Verbesserungen und Vereinfachungen. So werden die Verfahren, um Altersteilzeit zu beantragen und genehmigen zu lassen, wesentlich erleichtert. Das beseitigt unnötigen Verwaltungsaufwand und schafft Planungssicherheit bei der Anwendung des Rechts. ({3}) Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir der weiteren Entwicklung der Altersteilzeit einen wichtigen Impuls geben. Schon jetzt ist die Altersteilzeit ein fester Baustein der Personalpolitik in den Unternehmen. Das beweisen nicht zuletzt die bereits existierenden über 300 Tarifverträge zur Altersteilzeit in fast sämtlichen Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung. Wir haben ein sehr massives Interesse daran, daß dieses Instrument künftig mehr genutzt wird. Wir wünschen uns, daß nach den gesetzlichen Verbesserungen und Erleichterungen die Tarifvertragsparteien von diesem Instrument noch mehr Gebrauch machen. Natürlich lassen sich zur Zeit keine seriösen Prognosen erstellen, inwieweit Altersteilzeit zukünftig von den Beschäftigten als attraktiv empfunden wird. Dies ist auch eine Frage der materiellen Ausgestaltung. Hier sind nicht zuletzt die Tarifpartner gefordert, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Angebote zu machen. Sicher ist allerdings, daß wir mit dem Gesetzentwurf die Ausgangsbedingungen erheblich verbessern, unter denen Altersteilzeit in höherem Maße als bisher genutzt werden kann. Deshalb gibt es Grund zur Zuversicht, daß das verbesserte Gesetz in der Praxis angenommen wird. Daher hoffe ich, daß unser Gesetzentwurf in diesem Hause eine breite Zustimmung erfährt. Wir befinden uns in der ersten Lesung und werden in den Ausschußberatungen die einzelnen Regelungen ausführlich erörtern und diskutieren. ({4}) Es ist daher nicht notwendig, daß ich jetzt noch länger über die Altersteilzeit spreche. Ich bitte also herzlich um Unterstützung. Dieser vernünftige Gesetzentwurf sollte eine breite parlamentarische Mehrheit finden. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hans-Peter Friedrich.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes ist - der Staatssekretär hat dies ausgeführt - die Verbreiterung der Anwendungsmöglichkeiten aus dem sogenannten Altersteilzeitgesetz. Wenn man dieses Gesetz von 1996 für einen richtigen Politikansatz hält, dann macht es durchaus Sinn, beispielsweise die Teilzeitbeschäftigung einzubeziehen. Ich betone allerdings die Einschränkung: wenn man dieses Gesetz für einen richtigen Politikansatz hält. ({0}) - Liebe Frau Kollegin Dückert, ich möchte darum bitten, daß wir darüber ernsthaft diskutieren. ({1}) Die Zielrichtung war - der Staatssekretär hat es dargestellt -, einen gleitenden Übergang in den Ruhestand aus dem Erwerbsleben heraus zu ermöglichen. Ich halte das für ein wichtiges und richtiges Ziel, vor allem für Menschen, die schon lange im Arbeitsprozeß sind und die es beim Älterwerden einfach verdient haben, daß sie um einige Arbeitsstunden entlastet werden. Das zweite Ziel war, aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ältere Arbeitnehmer durch jüngere zu ersetzen. Über dieses Ziel kann und muß man meines Erachtens diskutieren. Drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes stellen wir allerdings fest, daß beide Ziele eigentlich nicht erreicht worden sind. Das Gesetz ist überwiegend von der Großindustrie genutzt worden, die ältere Arbeitnehmer, anstatt sie in den Unternehmen zu qualifizieren und entsprechend ihren Erfahrungen einzusetzen, mit von der Gemeinschaft finanzierten Instrumenten abgeschoben hat. In einem Großunternehmen läßt sich - Stichwort: Wiederbesetzungskette - nicht genau nachvollziehen, wo welcher jüngere Arbeitnehmer tatsächlich als Ersatz für einen älteren eingestellt worden ist. Es gibt genügend Möglichkeiten, das entsprechend hinzubiegen. Die Altersteilzeit ist also als willkommene Möglichkeit genutzt worden, Ältere auf Kosten der Allgemeinheit abzuschieben. Wenn man dies für richtig hält, dann macht es natürlich Sinn, wenn man jetzt auch dem Mittelstand diese Mitnahmemöglichkeiten stärker eröffnet. Das zweite Ziel, nämlich das des gleitenden Übergangs in den Ruhestand, ist nicht erreicht worden, weil - darauf deutet alles hin - überwiegend die verblockte Variante gewählt worden ist, das heißt, die Menschen zweieinhalb Jahre früher in Rente gegangen sind, als es eigentlich vorgesehen war. Darin liegen im Grunde zwei falsche Signale, die das Gesetz aussendet. Das ist einmal das falsche Signal, daß man Arbeitnehmer mit 55 Jahren zum alten Eisen erklärt, und zwar unabhängig davon, welche Beschäftigung sie ausüben. Man braucht sich eigentlich nicht zu wundern, wenn dann umgekehrt bei den Arbeitgebern die Vorstellung aufkommt, man bräuchte jemanden, der Ende Vierzig ist, nicht mehr zu qualifizieren, weil er wenige Jahre später, nämlich mit 55 Jahren, ohnehin zum sozialrechtlichen Auslaufmodell erklärt wird. Wir werfen vielen Personalchefs in den Unternehmen vor, sie hätten älteren Arbeitnehmern gegenüber eine zu negative Grundeinstellung; dieser Vorwurf ist immer wieder zu hören. Ich denke, daß die Sozialpolitik auf Grund dieser Wertungen daran nicht ganz unschuldig ist. Es wird der Eindruck erweckt, daß es sich nicht mehr lohnt, in diese Arbeitnehmer zu investieren. Umgekehrt wird bei den Arbeitnehmern die Einstellung gefördert, es sei völlig normal, zweieinhalb Jahre früher in Rente zu gehen, und die Sozialgemeinschaft könne sich das auch leisten. ({2}) Ich denke daher, daß wir eine Diskussion über eine neue Philosophie führen müssen, die sich schlicht an den Grundrechenarten orientiert. ({3}) Unser Problem ist, daß das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsbeziehern immer dramatischer wird. Immer weniger Beitragszahler - sei es in der Gesundheitspolitik, sei es in der Rentenpolitik oder bei der Arbeitslosenversicherung - müssen immer mehr Leistungsbezieher finanzieren. Dieser Entwicklung kann man nicht dadurch begegnen, daß man ältere Beitragszahler gegen jüngere auswechselt; denn selbst wenn dies funktionieren würde, wäre es nur ein Nullsummenspiel. Man hätte nicht mehr Beitragszahler und nicht weniger Leute, die nicht beschäftigt sind. Vielmehr kommt es darauf an, die Zahl der Beitragszahler zu erhöhen. Im Klartext heißt das: Die rotgrüne Bundesregierung kann sich um die Aufgabe, für mehr Wachstum, mehr Investitionen und damit für mehr Arbeitsplätze zu sorgen, nicht durch einen Austausch von Arbeitnehmern herummogeln, sondern sie muß die Investitionsbedingungen verbessern. ({4}) Die Schröder-Uhr in der „Wirtschaftswoche“ zeigt wenn Sie die Erkenntnis brauchen, sollten Sie da nachschauen -, ({5}) daß die rotgrüne Regierung dabei völlig versagt hat. Im übrigen geht auch die Rente mit 60 in die gleiche falsche Grundrichtung, wie sie die Gewerkschaften mit der Idee der Arbeitszeitverkürzung verfolgen. Das Umverteilen von Arbeit bringt schon deswegen nichts, weil wir in Deutschland eine strukturelle Arbeitslosigkeit haben. Wenn Sie einen guten Facharbeiter frühzeitig nach Hause schicken, dann brauchen Sie als Ersatz wieder einen guten Facharbeiter. Leider ist es so, daß wir in vielen Branchen und Betrieben schon heute einen Mangel an solchen Fachkräften haben. Wenn Sie Sozialbeitragsstabilität haben wollen, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Leistungsreduzierung oder mehr Beitragszahler. Das ist die einfache Grundwahrheit. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern kann nur durch neue Arbeitsplätze und dadurch verbessert werden, daß man den Beitragszahlern ehrlich sagt, daß in Zukunft eine längere statt einer kürzeren Lebensarbeitszeit erforderlich ist, jedenfalls bei denen, die weniger als 45 Beitragsjahre aufzuweisen haben. Noch wichtiger und angesichts der auf uns zukommenden längeren Lebensarbeitszeiten das richtige Ziel ist es - das habe ich am Anfang gesagt -, einem Arbeitnehmer, der 55 oder 60 Jahre alt ist, zu ermöglichen, daß er vielleicht ein oder zwei Stunden am Tag weniger arbeitet. Denn dem, der 40 Jahre lang in der Mühle malocht hat, muß man einfach die Möglichkeit geben, vielleicht nur noch sechs Stunden am Tag oder nur vier Tage in der Woche zu arbeiten. Der physische und psychische Druck in unserer Arbeitswelt ist in den letzten Jahren in unglaublicher Weise gewachsen. Hauptgrund dafür ist übrigens die falsche Tarifpolitik, die durch Arbeitszeitverkürzung die Arbeit teurer gemacht und die den Produktivitäts- und Leistungsdruck permanent zu Lasten der Menschen erhöht hat. ({6}) Eine echte Altersteilzeit wird möglich, sinnvoll und finanzierbar, Herr Gilges, wenn die Arbeitnehmer in jungen Jahren eine Mehrarbeit erbringen, die sie dann im Alter zur Absenkung der Stundenbelastung nutzen können. Ich denke, diesen Ansatz sollte man diskutieren. So hat etwa der Zentralverband des Deutschen Handwerks vorgeschlagen, eine sogenannte Vorsorgearbeit in Form von Mehrarbeit zu leisten und den Gegenwert der angesammelten Mehrarbeit in Pensionsfonds oder in andere Formen der betrieblichen Altersvorsorge zu investieren. Aus diesen Mitteln kann dann später die Stundenverkürzung finanziert werden. Natürlich weiß ich, daß das eine Lösung für junge Leute ist, die heute 25 Jahre alt sind, aber nicht für diejenigen, die heute 55 Jahre alt sind, denn diese können nicht die Uhr zurückdrehen und die entsprechende Mehrarbeit erbringen. Deswegen muß man darüber diskutieren, wie man eine stundenweise Arbeitsentlastung der älteren Menschen über Beiträge, über Beteiligung der Arbeitgeber oder auch über eine Eigenbeteiligung der Betroffenen finanzieren kann. Ich würde mir wirklich wünschen, daß die Tarifpartner mutiger an diese Sache herangehen. Vielleicht ist dies durchaus eine Möglichkeit für Gewerkschaften, mit solch modernem Denken auch wieder junge Leute für die Gewerkschaftsarbeit zu interessieren. Lassen Sie mich zum Gesetzentwurf zurückkommen. Ich denke - der Herr Staatssekretär hat das auch richtig gesagt -, daß in diesen Gesetzentwurf vieles aufgenommen worden ist, was an Problemen und Verkomplizierungen beklagt worden ist. Insofern liegt in diesem Gesetzentwurf durchaus eine gut gemeinte Fortentwicklung. Ich will nicht schon in der ersten Lesung sagen: Wir lehnen diesen Gesetzentwurf von vornherein ab. Aber wir sollten dann, wenn wir diesen Gesetzentwurf in den Ausschüssen diskutieren, die Chance nutzen, über eine neue Grundphilosophie in dieser Frage nachzudenken. Wir brauchen eine Neuorientierung der Politik im Hinblick auf ältere Arbeitnehmer. Wir brauchen dies auch deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil es gesamtwirtschaftlich falsch ist, auf die Kenntnisse und Erfahrungen von langjährigen Mitarbeitern zu verzichten, nur weil sie gerade nicht das neueste Computerprogramm kennen. ({7}) Ich fordere Sie deswegen auf, den falschen Weg einer Umverteilung der Arbeit nicht länger zu beschreiten. Ich weiß, daß dies nicht populär ist, aber ich denke, das ist ehrlich und fair auch gegenüber einer jungen Generation, die am Schluß alles bezahlen muß. Vielen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Dr. Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Friedrich, ich muß gleich damit beginnen, Ihnen noch einmal zu sagen, daß einer der falschen Wege, nämlich die extensive Ausdehnung des Vorruhestandes, ganz klar auf Ihr Konto geht. ({0}) Wenn wir hier wirklich eine offene Debatte führen wollen, dann sagen Sie das doch dazu. Meine Damen und Herren, wir haben hier einen Vorschlag des Bündnisses für Arbeit vorgelegt bekommen, der zwei Veränderungen des gültigen Altersteilzeitgesetzes beinhaltet. Es geht um zwei wichtige zentrale Punkte. Der erste Punkt ist, daß nun auch Teilzeitbeschäftigte in die Altersteilzeit gehen können. Die Regelung wird für Teilzeitbeschäftigte geöffnet. Der zweite Punkt ist die Lockerung der Wiederbesetzungskette, gerade für kleine und mittlere Unternehmen. ({1}) Die Öffnung der Altersteilzeit für Teilzeitbeschäftigte ist besonders für Frauen ein außerordentlich wichtiger Punkt. ({2}) Gerade Frauen, die bei der bisherigen Regelung ausgeschlossen waren - übrigens auch bei vielen anderen Regelungen ausgeschlossen sind, beispielsweise den Vorruhestandsregelungen -, weil sie vornehmlich in Teilzeit arbeiten, können jetzt in den Genuß der Altersteilzeit kommen. Wir dürfen dabei nicht übersehen, daß für Frauen sicherlich auch weiterhin eine besondere Problematik darin liegt, daß ihr Nettolohneinkommen im Durchschnitt unter dem Nettolohneinkommen der Männer liegt. Da auch dieses Modell mit geringen Lohneinbußen verbunden sein muß, stellt es für Frauen noch immer eine größere Barriere dar. Trotzdem glaube ich, daß wir es erreichen können, daß auch Frauen in Altersteilzeit gehen können. Der zweite Punkt war die Lockerung der Wiederbesetzungskette. Es besteht das Ziel, durch Verwaltungsvereinfachung, quasi durch Entschlackung, zu erreichen, daß das Gesetz in kleinen und mittleren Betrieben besser aufgenommen wird. Wir werden die Wirkung in der Praxis abwarten müssen. Wir werden abwarten müssen, ob die Wiederbesetzung durch diese Lockerung tatsächlich sichergestellt werden kann. Alle Anzeichen, besonders die Rückmeldungen aus den kleinen und mittleren Betrieben, lassen erwarten, daß dies möglich sein wird. Wir werden die Reaktionen jedoch erst ruhig auswerten müssen. Im ganzen ist das Altersteilzeitgesetz - das wird sogar von der Opposition bemerkt - von der Intention und der Idee her ein vernünftiges Gesetz, weil es älteren Menschen die Möglichkeit gibt, sich in den letzten Jahren des Erwerbslebens durch Arbeitszeitverkürzung Erleichterung zu verschaffen. Das ist ein sehr humaner Ansatz. Er ist aber auch beschäftigungspolitisch sinnDr. Hans-Peter Friedrich voll, jedenfalls dann, wenn die Wiederbesetzung sichergestellt wird und wenn wir Wege finden, die tatsächliche Intention der Altersteilzeit, nämlich eine echte Altersteilzeit durchzusetzen, umzusetzen. ({3}) Ich werde später noch einmal darauf zurückkommen. Die wichtige Idee ist, daß hier Ansätze für neue Möglichkeiten gegeben sind, eine lebensphasenübergreifende Gesamtkonzeption der Arbeitszeitgestaltung sicherzustellen. Diese brauchen wir, und Altersteilzeit kann dafür ein Element sein. Wir können es zu diesem Zweck auch weiterentwickeln. Das Ziel ist die Integration in den Arbeitsmarkt und nicht das Aussteuern von Älteren. Die Älteren sollen die Möglichkeit haben, länger im Betrieb zu bleiben. Deswegen wird es nötig sein - darauf spielte ich gerade an -, die echte Altersteilzeit und nicht die Blockbildung voranzubringen, und zwar auch deshalb, weil wir auf Dauer dahin kommen müssen, die extensive Ausnutzung des Vorruhestandes zurückzudrängen, zu welcher die Blockbildung in der Altersteilzeit ein Baustein war. Die Tatsache, daß heute in den westdeutschen Ländern das durchschnittliche Renteneintrittsalter für Männer bei 57 Jahren liegt, ist langfristig hochproblematisch, zum einen für die Rentenkassen - das ist völlig klar -, zum anderen, aber auch für den Arbeitsmarkt, und zwar deshalb, weil wir auf Grund von demographischen Entwicklungen zukünftig mit größeren Qualifikationsproblemen zu tun haben werden, wenn die Älteren so früh aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Deswegen wird es notwendig sein, mittelfristig den Vorruhestand abzubauen. ({4}) Es ist notwendig, vernünftige gleitende Maßnahmen - die Altersteilzeit ist ein solches gleitendes Modell - zu finden, um eine Kultur der Altersarbeit zu entwickeln und nicht eine Kultur des frühzeitigen Aussteuerns. Dieser Umstieg muß an Strategien des lebenslangen Lernens, an Strategien der betriebsnahen Arbeitsmarktpolitik, also an verbesserten Möglichkeiten zur echten Altersteilzeit, und an flexiblen Modellen der Umverteilung der Arbeit über den gesamten Erwerbszyklus gekoppelt sein. Das sind entscheidende Elemente für eine Arbeitsmarktpolitik, die auf Integration setzt. Dänemark hat uns dafür schon vernünftige Wege aufgezeigt; dort werden beispielsweise für Ältere ab 45 gerade in kleinen und mittleren Betrieben besondere Förderungen für Qualifikation und Fortbildung zur Verfügung gestellt. Meine Damen und Herren, das bedeutet, daß wir die Perspektive verändern müssen. Wir müssen auf Integration und nicht auf vorzeitigen Ruhestand setzen, und zwar auch deshalb, weil im nächsten Jahrtausend das alte Modell der Vollzeiterwerbstätigkeit nicht mehr zum Tragen kommen wird. Das, was bislang ohnehin mehr für Männer galt, wird zunehmend durch im Laufe der Lebenszeit mehrfach unterbrochene Erwerbsphasen ersetzt werden. Deswegen müssen wir uns ganz im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Friedrich, vorgetragen haben, ({5}) mit einer Umverteilung von Arbeitszeit, die dann sehr unterschiedliche Elemente aufweisen wird, auseinandersetzen. Die Altersteilzeit ist eines dieser Elemente. Ich habe gestern hier einen anderen Vorschlag unterbreitet und angeregt, auch im „Bündnis für Arbeit“ darüber nachzudenken, dann, wenn Tariffonds gegründet werden, diese für alle aufzumachen, beispielsweise auch für Modelle des Job-sharing, damit wir die Reduzierung von Arbeitszeit unterstützen können, sofern neue Arbeitnehmer nachrücken. Modelle, in denen bei der Wahl von Teilzeitarbeit das adäquate Nachrücken von neuen Arbeitnehmern öffentlich gefördert wird, wären ein Schritt hin zu einer neuen Arbeitsmarktpolitik, die übrigens im Metallbezirk Hannover schon praktiziert wird. Die Altersteilzeit können wir in eine vergleichbare Richtung weiterentwickeln. Diese Debatte müssen wir langfristig führen. Die Altersteilzeit kann ein Einstieg in neue Wege der Arbeitsmarktpolitik sein. Die heutige Praxis - ich sprach es eben schon einmal an - entspricht an manchen Stellen nicht der Intention der Altersteilzeit, weil in den Betrieben immer mehr Blockbildungen stattgefunden haben und die Altersteilzeit letzten Endes zu einer Form des Ausstiegs aus dem Erwerbsleben mit 57 geführt hat. ({6}) Deswegen plädieren wir für eine durchaus variable Modellierung. Dabei wäre zu überprüfen, ob nicht für eine Übergangszeit von fünf Jahren echte Altersteilzeit stärker als Blockbildung gefördert werden kann, um zu erreichen, daß die Altersteilzeit gerade in mittleren und kleineren Betrieben in der Funktion unterstützt wird, einen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu Wege zu bringen. Der zweite Anknüpfungspunkt für eine Zukunftsdebatte über Altersteilzeit ist für uns, daß die einschlägigen Regelungen für Jüngere geöffnet werden sollten. Würde man die Altersgrenze von 55 abschaffen, wäre es nach meiner Vorstellung durchaus möglich, ein Teilzeitarbeitsmodell allen Generationen zu eröffnen. Würde die Teilzeitarbeit an die jetzigen Regelungen des Altersteilzeitgesetzes sowie an verschärfte Wiederbesetzungsbedingungen gebunden, könnte dies dazu führen, daß Modelle einer über alle Generationen verteilten variablen Arbeitszeit unterstützt werden. Diesen Weg müssen wir in Zukunft wählen, da diese Modelle einen hohen Refinanzierungsgrad haben werden und auf die Integration der Erwerbslosen, nicht aber auf die Ausgliederung der älteren Arbeitnehmer setzen. Meine Damen und Herren, der Einstieg zur Suche nach neuen Lösungen ist gerade im „Bündnis für Arbeit“ sehr gut möglich. Wir sollten uns die Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, sehr genau anschauen, um zukunftsfähige Modelle im Bereich einer flexiblen Arbeitszeitgestaltung zu finden. Schönen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand hier im Haus würde, so glaube ich, behaupten, Altersteilzeit an sich sei eine schlechte Sache. Der Gedanke ist ja auch ganz reizvoll, hat seinen Charme: Ältere Arbeitnehmer arbeiten etwas weniger, damit jüngere einen Einstieg in das Berufsleben erhalten und nicht dem Arbeitsamt und damit der Solidargemeinschaft auf der Tasche liegen. ({0}) So weit, so gut! Diesen Ansatz jetzt weiterzuentwickeln scheint entsprechend durchaus löblich und ist sicherlich auch gut gemeint. Doch es zeigt sich, daß „gut gemeint“ auch hier das Gegenteil von gut ist. Es ist wie beim Beton - Sie kennen das aus der Werbung -: Es kommt darauf an, was man daraus macht. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, Staatssekretär Andres - die Kollegin Dückert hat das mit ihren durchaus kritischen Anmerkungen ja auch eingeräumt -, daß von diesen Regelungen in nicht unerheblichem Maße eben nicht arbeitslose junge Menschen profitiert haben, sondern die Unternehmen, insbesondere Großunternehmen, ihre internen Strukturprobleme zu Lasten der Bundesanstalt für Arbeit gelöst haben. ({1}) Ich nehme hier ein Mitglied der Bundesregierung zum Kronzeugen. Herr Minister Müller hat unlängst im Fernsehen erklärt: Bezogen auf alle Frühverrentungen - dazu gehört die Altersteilzeit ja wohl - sei das Verhältnis 7:1, das heißt, auf sieben vorzeitig in den Ruhestand entlassene Arbeitnehmer kommt eine Neueinstellung. Angesichts dessen stellt sich in der Tat die Frage nach der Effizienz. Ich kann mir - ich sage dies, weil Sie hier so stolz waren auf die Ergebnisse des „Bündnisses für Arbeit“ den Konsens im „Bündnis für Arbeit“, in dem der Mittelstand ja nur am Rande eine Rolle spielt, sehr gut plastisch vorstellen. Für mich steht jedenfalls fest: Von dem hier vorgelegten Gesetzentwurf zur Fortentwicklung der Altersteilzeit wird der Mittelstand - wie auch bisher bei der Altersteilzeit - allenfalls am Rande profitieren. Profitieren werden erneut die großen Unternehmen, die mit ihren großen Personalabteilungen in der Lage sind, dieses bürokratische Gesetz zu handhaben. Für den Handwerksmeister mit seinen fünf oder zehn Beschäftigten, der mit Bürokratie ohnehin genug um die Ohren hat, ist das nämlich schlichtweg nicht durchschaubar. Daher wird er niemanden aus seinem Unternehmen in die Altersteilzeit schicken. ({2}) - Das heißt ganz konkret, Frau Kollegin Rennebach, daß durch die komplexen Regelungen der Altersteilzeit die kleinen Unternehmen - und damit die meisten Arbeitnehmer in Deutschland - ausgeschlossen sind. Sie wissen ja hoffentlich noch - ich habe es in diesem Hause jedenfalls oft genug gesagt -, daß der Mittelstand, also mittelständisches Handwerk, freie Berufe, Dienstleistungen, kleinflächiger Einzelhandel, das Gros der Arbeitsplätze in Deutschland stellt. ({3}) - Das ist ja das Problem, Herr Kollege Niebel. Die im Mittelstand beschäftigten Arbeitnehmer dürfen dann zu allem Überfluß über ihre Sozialversicherungsbeiträge und Steuern auch noch die Umstrukturierung der Großunternehmen durch Altersteilzeit bezahlen. ({4}) Wir in der Politik neigen dazu, manchmal ein bißchen zu theoretisch zu diskutieren. ({5}) Deswegen ist, so glaube ich, wichtig: Selbst wenn all dies zu überwinden wäre, besteht für den Handwerker immer noch das Problem, daß er den neu einzustellenden qualifizierten jungen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt nicht findet. Es ist eben ein Unterschied, ob Daimler oder Ford jemanden für das Band einstellen wollen oder ob es um eine qualifizierte handwerkliche Tätigkeit in einem kleinen mittelständischen Unternehmen geht. Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Die grundsätzliche Idee, die hinter der Altersteilzeit steht, ist gut. Deswegen haben wir diese Möglichkeit vor drei Jahren eröffnet. Wir müssen die Regelung jetzt kritisch hinterfragen. Das müssen wir bei der Überarbeitung leisten. Den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf - die Umsetzung, die Sie hier präsentieren - halte ich für verfehlt. Ich kann nur noch einmal sagen: Wenn Ihnen daran liegt, daß die Beschäftigten in kleinen und mittleren Unternehmen in Altersteilzeit gehen, dann müssen Sie gerne mit uns gemeinsam - die Gesetze so machen, daß sie die Chefs dieser Unternehmen auch handhaben können. Sie müssen von der Vorstellung herunterkommen - ich werde sie manchmal nicht los, auch bei Ihren Vorträgen, Herr Staatssekretär Andres -, daß alle Arbeitnehmer tätig sind in Unternehmen mit 10 000 Beschäftigten, mit einem freigestellten europäischen Betriebsrat, mit allen Möglichkeiten der Mitbestimmung und einem Verbindungsbüro der IG Metall direkt neben der Kantine. Nicht alle Arbeitnehmer arbeiten in Wolfsburg. ({6}) Die Realität in den arbeitsplatzschaffenden mittelständischen Unternehmen ist viel einfacher, persönlicher, kleiner und überschaubarer, als Sie sich das vielleicht vorstellen. ({7}) Nebenbei: Die Tatsache, daß Sie vorsehen, die Wiederbesetzung des durch die Altersteilzeit frei werdenden Arbeitsplatzes in der Regel nicht mehr mit der Nachweispflicht zu belegen, ist zugegebenermaßen eine Verwaltungsvereinfachung; sie öffnet aber auch dem Mißbrauch die Türe. Hier gibt es zweifellos - das muß man sehen - ein Dilemma. Das sollten wir bei unseren weiteren Beratungen im Auge behalten. Dann ist da noch die sicher gutgemeinte Neuregelung, nach der auch die Teilzeitbeschäftigten in den Genuß der Altersteilzeit kommen sollen - eine Altersteilteilzeit gewissermaßen. Auch das wird im Mittelstand nicht wirken. Es wird noch viel weniger wirken als die bisherige Regelung. Daimler-Chrysler kann vielleicht eine Viertelstelle oder eine Sechstelstelle - auch das ist theoretisch denkbar - noch produktiv einsetzen. Aber der Fliesenleger Schulze - oder soll ich sagen: der Fliesenleger Gilges? - hätte damit sicherlich Probleme. Für ihn macht das keinen Sinn mehr, sofern er angesichts der Bürokratie überhaupt mit dem Gesetz zurechtkommt. ({8}) Das heißt für mich: Auch damit wird der Mittelstand benachteiligt; auch damit werden große Unternehmen bevorzugt - immer unter der Prämisse, daß derjenige, der in Altersteilzeit geht, noch produktiv im Betrieb tätig sein will und tätig sein kann und das Ganze nicht am Ende doch nur eine Art vorgezogener Ruhestand ist. Meine Damen und Herren, um es zusammenzufassen: Mit dem Entwurf in der jetzt vorliegenden Fassung kann ich mich nicht anfreunden. Er ist zu bürokratisch. Er benachteiligt den Mittelstand und die Beschäftigten im Mittelstand. Er bevorzugt die großen Unternehmen. Frau Kollegin Rennebach, wir sind zur konstruktiven Beratung bereit. Wir werden im Ausschuß konkret sehen können, ob wir uns - mit den Erfahrungen der bisherigen Regelung und dem Ziel, das Sie verfolgen, vor Augen - auf einen gemeinsamen Nenner einigen können. Derzeit ist unsere Stellungnahme jedenfalls kritisch und eher ablehnend. Vielen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Reinhard Göhner, CDU/CSU, das Wort. ({0})

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Kolb, Sie haben die alte Vorruhestandsregelung, die wir als Koalition seinerzeit gemeinsam beschlossen haben und wegen der Fehlentwicklungen wieder außer Kraft gesetzt haben, zu Recht kritisch beleuchtet. ({0}) - Sie waren auch nicht gegen diese Regelung. Nun lassen Sie das einmal! ({1}) Ich wollte allerdings darauf hinweisen, daß die von Ihnen zu Recht in Erinnerung gebrachte geringe Wiedereinstellungsquote von 1 : 7 für diese alte Vorruhestandsregelung in der Tat galt, aber nicht für die von CDU/CSU und F.D.P. gemeinsam, Herr Kollege Kolb, eingeführte Altersteilzeitregelung. Geförderte Altersteilzeit, also die Altersteilzeit, die allein sich finanziell zu Lasten der Versichertengemeinschaft auswirken kann, hat eine Wiederbesetzungsquote von 1 : 1, weil eine Förderung durch die Solidargemeinschaft nur bei Wiedereinstellung stattfindet. Deshalb rechnet Sie sich für die Solidargemeinschaft. Ich meine deshalb nach wie vor, daß die von uns eingeführte Altersteilzeit richtig war. Wie ist es nun mit diesem Gesetzentwurf? Sie haben völlig zu Recht den kritischen Punkt der Handhabbarkeit für den Mittelstand angesprochen. Diese ist - das muß man einräumen - bei dem noch bestehenden Altersteilzeitgesetz für kleinere Betriebe schwierig. Aber deshalb will dieser Gesetzentwurf Erleichterungen bringen. Ich bitte Sie, einfach noch einmal zu überdenken, ob dieser Vorschlag, der gerade in diesem Punkt sehr stark auf den Zentralverband des Deutschen Handwerks zurückgeht, der natürlich vor allem mittelständische Betriebe berücksichtigt, mit den hier vorgesehenen Erleichterungen für Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten nicht insoweit einen Konstruktionsfehler beseitigt, den - das muß man kritisch einräumen - wir selbst bei der Verabschiedung des Gesetzes damals begangen haben. Ich möchte Sie deshalb dazu veranlassen, noch einmal zu überprüfen, ob nicht gerade die von Ihnen genannten Gesichtspunkte - die Möglichkeit, bei der Wiedereinstellung für einen in das flexible Ausscheiden überwechselnden Arbeitnehmer auch einen Auszubildenden zu berücksichtigen, und die Entlastung im Nachweisverfahren - für die mittelständischen Betriebe ein Anlaß sein könnte, diesem Gesetzentwurf etwas positiver entgegenzutreten. Nicht alles, was diese Bundesregierung macht, ist schlecht - dies für meine Begriffe jedenfalls nicht. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung, Herr Kollege Dr. Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Göhner, ich habe nur eine Äußerung des Wirtschaftsministers, Herrn Müller, von vor wenigen Tagen wiedergegeben. Ich weiß nicht, ob er nicht zur Differenzierung fähig war. Er hat in der Fernsehsendung jedenfalls nicht zwischen alten und neuen Regelungen unterschieden. Er hat auf Grund seiner Berufspraxis festgestellt, daß die Quote bei 1 zu 7 liege. Wenn der Bundeswirtschaftsminister so etwas behauptet, dann muß ich es erst einmal hinnehmen und zur Diskussion stellen. Wir haben - ich bin durchaus bereit, das zuzugeben versucht, die Regelung zu verbessern und wasserdichter zu machen. Sie fordern: Die Quote muß heute bei 1 zu 1 liegen. Ich erwidere Ihnen: Ja, formal stimmt das. Aber wir alle wissen, Papier ist geduldig, und die Personalabteilungen großer Unternehmen sind leistungsfähig. Aber man sollte die kritische Frage stellen dürfen, wie es konkret aussieht, bevor man in Beratungen über Veränderungen des Gesetzes eintritt. ({0}) - Herr Kollege Ströbele, ich weiß nicht, wieviel Phantasie Sie haben. Aber das Leben ist voller Überraschungen. Ich möchte nur dem Eindruck entgegentreten, den der Kollege Göhner mit seiner sicherlich gutgemeinten Kurzintervention erweckt hat, nämlich es gebe überhaupt keine Probleme. Die Realität sieht ein bißchen anders aus. Vielleicht liegt die Quote irgendwo zwischen 1 zu 1 und 1 zu 7. Reden wir einfach darüber! Schauen wir uns das Ganze kritisch an! Versuchen wir, gemeinsam eine neue und bessere Lösung zu finden! ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die PDS-Fraktion hat jetzt die Kollegin Monika Balt.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dem vorliegenden Gesetzentwurf sind die bisherigen Erfahrungen mit der Altersteilzeit eingeflossen. Es bietet sich an, zu diesen Erfahrungen resümierend etwas zu sagen. Durch das Altersteilzeitgesetz von 1996 wurde die bis dahin geltende Praxis der Frühverrentung abgelöst. Dies hatte die PDS begrüßt. Aber man muß auch deutlich darauf hinweisen: Das bis dato geltende Altersteilzeitgesetz hat sich als ein sehr großer Flop erwiesen. Bis Ende August 1999 wurden nur 35 186 Anträge auf Altersteilzeit gestellt, von denen 29 433 bewilligt wurden. Selbst dann, wenn man die 40 900 zusätzlichen Anträge auf Vorentscheidungen mitrechnet, bleibt die Bilanz mehr als mau. Die CDU-geführte Bundesregierung erwartete durch die Förderung der Altersteilzeit und die sich anschließende Rente ab 1998 gut 150 000 Beschäftigte in Altersteilzeit. Davon kann bei weitem nicht die Rede sein. Sie ging ferner davon aus, daß für rund 60 000 Menschen Arbeitslosigkeit vermieden werden kann. Auch dieses Ziel ist nicht erreicht worden. Neben dem Bundeswirtschaftsminister bestätigte auch Franz Ruland, daß nur jeder siebte freiwerdende Arbeitsplatz wieder besetzt worden ist. Zwar ist die Altersteilzeit bis Ende August 1999 in mehr als 300 Tarifverträgen verankert gewesen, in deren Geltungsbereich immerhin rund 12,5 Millionen Menschen fallen. Aber es gibt augenscheinlich dringenden Handlungsbedarf; denn das bisherige Altersteilzeitgesetz ist offenkundig ungeeignet, die Arbeit in nennenswerten Größenordnungen anders zu verteilen und Arbeitslosen eine Chance auf einen Job zu verschaffen. ({0}) Angaben darüber, wie viele Menschen zusätzlich die sich durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Altersteilzeit bietende Möglichkeit wahrnehmen werden und wie hoch die Zahl derer voraussichtlich sein wird, die dadurch wieder einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bekommen, werden erst gar nicht gemacht. Viele der vorgeschlagenen Neuregelungen sind Verbesserungen und werden vermutlich dazu beitragen, daß das Gesetz mehr genutzt wird. Außerdem sind einige Vereinfachungen und Präzisierungen, die die Durchführung erleichtern, vorgesehen. So weit, so gut. Aber es gibt einen dicken Pferdefuß im Gesetzentwurf. Wenn es künftig kleinen und mittelständischen Unternehmen mit bis zu 50 Arbeitnehmern ermöglicht wird, Fördergelder auch dann zu erhalten, wenn sie für einen in Altersteilzeit gegangenen Beschäftigten einen Auszubildenden ohne die Garantie der Weiterbeschäftigung nach der Ausbildung einstellen, dann heißt das, daß nicht notwendigerweise ein Arbeitsplatz geschaffen wird. Das ist schlecht, denn ohne Berufserfahrung nach der Ausbildung wird es für die Betroffenen schwer, in angemessener Zeit eine Beschäftigung zu finden, und ohne Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung, zum Beispiel auf Arbeitslosengeld, ist die Gefahr, in die ergänzende Sozialhilfe zu rutschen, sehr groß. Deshalb muß die Bedingung im Gesetz verankert werden, daß nur die Unternehmen die Förderung erhalten, die die entsprechenden Auszubildenden nach ihrer Ausbildung mindestens ein Jahr weiterbeschäftigen. ({1}) Nach den bisherigen Erfahrungen werden aber auch die Verbesserungen der Altersteilzeit nicht in nennenswertem Umfang dafür sorgen, daß Ältere in den wohlverdienten Ruhestand gehen und dafür jüngere Arbeitslose einen Arbeitsplatz erhalten. Die Rente mit 60 scheint ein neuerlicher Versuch, die Arbeitslosen zu verstecken. Die Folge wird eine Zunahme der auf den Löhnen lastenden Abgaben sein, die den Faktor Arbeit verteuert und die Zahl der Arbeitsplätze verringert. Das angestrebte Tariffondsmodell ist ein übler Taschenspielertrick, mit dem zum anderen die Jungen zweifach hinters Licht geführt werden. Das Ganze ist eine verkappte Beitragserhöhung und begründet zudem keinen Leistungsanspruch der Beitragszahler. Für eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ist es politisch mehr als verantwortungslos, zehntausende, wenn nicht gar hunderttausende Arbeitsplätze einfach „wegzuriestern“. Notwendig wäre, daß die Finanzierung der Rente mit 60 nicht zu Lasten der Lohnzuwächse bei den abhängig Beschäftigten geht und daß sie die Kaufkraft von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht beschneidet. Zudem ist es aber auch nicht hinnehmbar, wenn viele erhöhte Beiträge dafür bezahlen, daß nur einige in den Genuß dieser Regelung kommen. Von daher ergibt eine Beschränkung auf nur fünf Jahre überhaupt keinen Sinn. Die meisten Frauen hätten von einer solchen Regelung auch nicht viel. Wegen der Erziehungsjahre und familiärer Pflichten haben sie oft weniger Beitragsjahre und würden leer ausgehen. Nein, die Rente mit 60 muß schon für alle Frauen und alle Männer möglich sein, die das wollen, und zwar ohne Abschläge. ({2}) Wer mit dem sogenannten Sparpaket die Rentenversicherung allein durch die niedrigen Beiträge für Arbeitslose um 4,5 Milliarden DM bringt und nicht bereit ist, Besserverdienende und Bestverdienende wie uns Abgeordnete, Minister, Freiberufler, Beamte und Selbständige in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen, der sollte mit dem Ruf, das sei nicht zu finanzieren, sehr vorsichtig sein. ({3}) In dem uns vorliegenden Gesetzentwurf zur Altersteilzeit werden weder die Entgeltzuschüsse erhöht noch die daraus resultierenden Rentenabschläge vermindert. Es wird immer deutlicher: Ohne Beteiligung und Einbeziehung aller politischen Kräfte einschließlich der PDS sowie der Sozialverbände ist diese Bundesregierung nicht imstande, die Probleme der Massenarbeitslosigkeit und der Rentenpolitik zu lösen. - Danke. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir, bevor ich der Kollegin Rennebach das Wort erteile, eine Anmerkung. Aus dem mir soeben zugeleiteten Stenographischen Protokoll der vorangegangenen Aktuellen Stunde geht hervor, daß der Kollege Dr. Peter Ramsauer gegenüber der Kollegin Andrea Nahles einen tatsächlich unparlamentarischen Zuruf gemacht hat. Ich weise den Ausdruck „Sie unverschämtes Ding“ entschieden zurück. Er entspricht nicht der Kultur des politischen Umgangs, die wir eigentlich in unserem Hohen Hause haben. ({0}) Ich erteile jetzt der Kollegin Renate Rennebach von der SPD-Fraktion das Wort.

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte während der Debatte doch einige Zweifel. Der Kollege Staatssekretär Gerd Andres hat sehr ausführlich die Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, und der Regierung erklärt. Es war sehr einleuchtend. Danach war mir überhaupt nicht mehr klar, wieso Herr Friedrich plötzlich das Gesetz von 1996 nicht mehr für richtig hält, obwohl es das Gesetz der CDU/CSU-F.D.P.Koalition war. ({0}) Er will sich jetzt plötzlich für die Verbesserung der Situation älterer Arbeitnehmer einsetzen. Das hätten wir uns in diesem Hause 16 Jahre lang gewünscht. Herr Kolb sagt: Was gut gemeint ist, hat irgend etwas mit Beton zu tun. Darf ich Sie jetzt als Vertreter der Betonfraktion bezeichnen? Ich finde das alles ganz furchtbar. ({1}) Er bezeichnet einen Entwurf, der einen wirklich bürokratischen Entwurf ablöst, als bürokratisch. Er zitiert einen Wirtschaftsminister, der den alten und nicht den neuen Gesetzentwurf meint, und muß von einem Vertreter der CDU/CSU, einem Arbeitgeber, korrigiert werden. Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe diese Diskussion nicht mehr. ({2}) Ich möchte betonen: Wir reden über einen Gesetzentwurf, der im „Bündnis für Arbeit“ entstanden ist. Wir reden über einen Entwurf zur Altersteilzeit. Auch Altersteilzeit hat nichts mit Frühverrentung zu tun, Herr Kolb. Auch da war ich wieder irritiert. ({3}) - Sie wissen, von welchem Gesetz Herr Müller geredet hat. - Es geht um eine notwendige Anpassung für den gleitenden Übergang in den Ruhestand. Es geht um Arbeitsplätze, damit um die Zukunft von jungen Menschen und im besonderen von Frauen. Es geht nicht zuletzt um Verbesserungen eines Gesetzes, das in seinem jetzigen Zustand enorme Probleme in der Praxis bereitet. Es ist bürokratisch und unwirksam. ({4}) Der vorliegende Gesetzentwurf zur Altersteilzeit ist notwendig, weil er einem richtigen Grundsatz folgt und - das ist entscheidend - die Bedingungen so verändert, daß die Umsetzung sichtbare Vorteile für den Arbeitsmarkt, für Beschäftigte, für Betriebe und nicht zuletzt für fertige Auszubildende bringen wird. Auch das ist ein Problem, mit dem Sie jahrelang nichts anzufangen wußten. Erlauben Sie mir dazu eine kurze Vorbemerkung. Ich möchte feststellen, daß sich Bundesregierung, GewerkMonika Balt schaften und Arbeitgeber im „Bündnis für Arbeit“ in der Frage der Altersteilzeit geeinigt haben. Das ist ein Erfolg. Deswegen betone ich es. Es handelt sich um einen Erfolg, den Sie nicht wegdiskutieren können, verehrte Damen und Herren von der Opposition. Da können Sie reden, wie Sie möchten. Es ist ein Erfolg, und zwar in doppelter Hinsicht: erstens weil sich die Tarifpartner mit der Regierung darauf verständigt haben, die Regelung zur Altersteilzeit in einem ersten Schritt zu verbessern; zweitens, weil Einigung darüber besteht, die Fragen nach weiteren Wegen für den Übergang in den Ruhestand auch zukünftig im Konsens zu lösen. ({5}) Hier liegt der offensichtliche Unterschied zur alten Bundesregierung, die - wir erinnern uns - das „Bündnis für Arbeit“ platzen ließ. ({6}) Herr Kolb hat eine weitere Bemerkung gemacht. Er meinte, das gelte alles nur für die Großunternehmen. ({7}) Warum haben wir den Kreis der betroffenen Betriebe bisher waren es bei Ihnen Betriebe mit 20 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, - auf Betriebe mit 50 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erweitert? Wir haben dies getan, um dem Mittelstand eine Chance zu geben, auch diese Regelung in Anspruch zu nehmen. ({8}) Auch die von uns auf den Weg gebrachten Enthemmnisse dienen nur dazu, dem Mittelstand zu helfen. Überlegen Sie in Zukunft doch bitte einmal, wovon Sie reden, und diffamieren Sie nicht aufs Geratewohl! ({9}) Liebe Opposition, Sie sollten endlich einmal aufhören, Ihren eigenen Presseerklärungen zu glauben. In diesem Zusammenhang schließe ich mich den Worten meines Kollegen Gerd Andres an: Diesem Gesetzentwurf kann man nur zustimmen. Ich hoffe auf fröhliche und konstruktive Diskussionen in den Ausschüssen. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute über Altersteilzeit reden, dann müssen wir uns bewußt sein, daß dieser Bereich mit dem Thema „Rente mit 60“ verbunden ist. Wir müssen dennoch eine differenzierte Bewertung vornehmen. Ich möchte meinen heutigen Beitrag dazu nutzen, ein paar Fragen aufzuwerfen, die wir in der Ausschußberatung behandeln sollten. Herr Staatssekretär, so viel Zeit, wie Sie gesagt haben, ist ja nicht; denn es handelt sich wieder um ein Gesetz, das relativ spät eingebracht wird und daher sehr zügig durch den Ausschuß muß. Gestatten Sie mir also, daß ich meinen heutigen Beitrag nutze, um ein paar Fragen aufzuwerfen, die aus unserer Sicht gestellt werden müssen. Ich finde gut, daß auch Frau Dückert einen Teil dieser Probleme so sieht. Es ist vielleicht eine Möglichkeit, parallel vorzugehen: den Gesetzentwurf im Ausschuß zu beraten und die mit dem Gesetzentwurf mittelfristig verbundenen Fragen im Blick zu behalten. Wir sprechen über die Schnittstellen zwischen Arbeitslosigkeit, Eintritt in das Erwerbsleben, für die die draußen sind, und Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und Renteneintritt für die, die herausgehen, und wir sprechen darüber, wie man dies möglichst so organisiert, daß immer dann, wenn jemand ausscheidet, auch jemand neu eintritt. Das ist eigentlich die klassische Version, die wir erreichen wollen. Wir debattieren das heute nicht unter dem Gesichtspunkt der Rente mit 60. Dazu will ich nicht mehr sagen, als daß dies wirklich nicht finanzierbar ist. Da haben wir unsere Erfahrungen mit anderen Modellen. Wir debattieren über die Fortentwicklung der Altersteilzeit. Wer über Fortentwicklung und über das Gesetz debattiert, das die jetzige Regierung einbringt, der muß auch feststellen, daß es in diesem Bereich schon etwas gibt, nämlich das Altersteilzeitgesetz von 1996. Ich sage auch ganz deutlich - vielleicht erschrecken Sie sich dabei, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen -: Idee und Gesetz über die Altersteilzeit sind Kinder der Union. Wenn Sie es noch deutlicher haben wollen: Der Vater dieser Idee ist Norbert Blüm. ({0}) Die CDU hat sich bereits in ihren Stuttgarter Leitsätzen von 1985 sehr stark für die Flexibilisierung ausgesprochen und konsequent gehandelt. ({1}) Wir haben das neue Arbeitszeitrecht des Jahres 1994 und damit eine flexible und individuelle Arbeitszeitgestaltung ermöglicht. ({2}) Ich weiß nicht mehr, wie Sie sich damals verhalten haben, kann es mir aber denken. - Die Tarifpartner entscheiden über die konkrete Ausgestaltung. Wir haben aber auch Erfahrungen mit der Frühverrentung, mit den damit verbundenen hohen Kosten und auch mit dem Ausnutzen solcher Möglichkeiten durch Großunternehmen vor allem auf Kosten der Allgemeinheit gesammelt und haben daraus Konsequenzen gezogen. Auch 1996 hat es ein „Bündnis für Arbeit“ gegeben. Das ist auch nichts Neues. ({3}) - Nein, nein, Herr Gilges. Das wiederum lasse ich mir nicht von Ihnen kaputtmachen. ({4}) Dieses „Bündnis für Arbeit“ hat genau diesen Bereich mit der Förderung des gleitenden Übergangs in den Ruhestand vereinbart, und wir haben das im August 1996 umgesetzt. Das Gesetz ist auch von uns weiterentwickelt und verbessert worden, und zwar zuletzt 1998 durch das Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen. Hierdurch wurde die Anwendung des Altersteilzeitgesetzes erleichtert und dessen Anwendungsbereich zeitlich gestreckt. Meine Damen und Herren, wenn wir einmal Bilanz ziehen, was bisher passiert ist, so können wir auf der Grundlage des von der CDU-geführten Bundesregierung geschaffenen Altersteilzeitgesetzes festhalten: Das Modell der Altersteilzeit wird von den Tarifparteien gut angenommen. Das belegen mehr als 330 Tarifverträge, die mittlerweile den gleitenden Ausstieg aus dem Arbeitsleben regeln. Ich will das einmal festhalten; das ist eine schwierige Diskussion; lassen Sie uns doch einmal differenzieren - ({5}) - Ich komme gleich zu Ihnen, damit Sie diese Fragen auch noch mitbekommen. Mit dem Erfolg des Modells steigen allerdings auch die Kosten der Bundesanstalt für Arbeit. Ich will ein paar Zahlen, die mir bekannt sind, nennen. - Im Ausschuß müssen wir auch einmal darüber reden, ein paar Zahlen genannt zu bekommen. ({6}) - Ich weiß, es ist schwierig, aber das fordern wir ein. Sie wollen ja auch eine gewisse Zustimmung erhalten. Deshalb muß man über diese Dinge offen und ehrlich miteinander reden. In der ersten Jahreshälfte 1999 gab es 85 Millionen DM Zuschüsse. ({7}) Inzwischen habe ich eine neue Quelle. Darin heißt es, bis August 1999 seien es 130 Millionen DM gewesen. ({8}) - Deshalb will ich ja auch an die Quelle heran, die es wissen muß, und bitte die Bundesregierung darum, diese Quellen freizugeben, damit wir im Ausschuß wirklich einmal darüber diskutieren können. - Im Jahre 1997 waren es nur 16 Millionen DM. Wie viele Personen diese Maßnahmen letztlich in Anspruch nehmen können, ist offen. Ich bin nicht so keck zu sagen, dies seien die 1,5 Millionen, bei denen wir über Rente mit 60 reden; in der Theorie schon, aber in der Praxis wird dies nicht der Fall sein. Es liegt also nahe, meine Damen und Herren, bei diesem Ansatz und bei diesem Ergebnis darüber nachzudenken - das tun Sie ja mit dem heutigen Gesetzentwurf -, ob man das, was wir als Basis geschaffen haben, was Norbert Blüm eingeführt hat, fortentwickeln kann. Wir müssen damit die Frage verbinden, ob man nicht parallel auch Bereiche sehen muß, die möglicherweise aus dem Blick geraten, wenn wir uns nur darauf konzentrieren, wie wir den Ausgleich zwischen denen, denen wir es ermöglichen, in Rente zu kommen, und denen, die neue Arbeitsplätze besetzen, also denen, die draußen stehen, schaffen. Wir müssen auch stärker den Blick für die Frage öffnen, wie es mittel- und langfristig hinsichtlich der älteren Arbeitslosen sein wird, ob wir es uns auf Dauer erlauben können, immer nur den Weg und die Brücke in die Verrentung zu sehen, oder ob wir uns nicht zumindest parallel auch Gedanken über eine stärkere Integration älterer Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt machen müssen. ({9}) - Nein, das ist zu wenig. Wir müssen ein bißchen mehr tun. Meine Damen und Herren, wir möchten wirklich eine genaue Kostenanalyse vornehmen. Nur die Fragen zu stellen, wie das bisher gestiegen ist und wie sich das weiterhin kostenmäßig entwickeln wird, ist zu wenig. In der Gesetzesvorlage wird gesagt, daß die zu erwartende verstärkte Nutzung von Altersteilzeit zu einem nicht quantifizierbaren Mehraufwand führt. Daneben wird gesagt, daß es einen nicht quantifizierbaren Minderaufwand bei im Entwurf vorgesehenen Vereinfachungen gibt. Darüber, daß das von den Größenordnungen her möglicherweise etwas auseinanderläuft, müssen wir aber noch reden. Auch über die Frage - Herr Kolb hat sie angesprochen -, in welchem Umfang die Maßnahmen genutzt werden und wer in den Genuß solcher Regelungen kommt, müssen wir reden. Ich habe auch hier die Bitte an die Bundesregierung, Zahlen darüber vorzulegen, wie das bisher beim Mittelstand und den Großunternehmen war. Welche Erwartungen vorhanden sind, wird ein entscheidender Aspekt der Beratungen sein, denn wir müssen zu mehr Gerechtigkeit zwischen großen, kleinen und mittleren Unternehmen kommen. Der Arbeitsmarkteffekt ist schon mehrfach angesprochen worden. Hier müssen wir fragen, ob er sichergestellt ist und ob Einstellungen von Arbeitslosen auch in dem Umfang erfolgen, in dem ältere Arbeitnehmer in Altersteilzeit gehen. Es gibt generelle Daten - das ist auch von Wirtschaftsminister Müller erwähnt worden -, die davon ausgehen, daß es ein Verhältnis von 7 : 1 gibt. Für sieben ausscheidende ältere Arbeitnehmer erfolgt lediglich eine Einstellung. Es gibt eine zweite Variante: Im günstigsten Fall ist das Verhältnis 3 : 1. Wenn diese Daten stimmen, heißt das, daß Arbeitsplätze abgebaut werden. Unser Ziel muß aber die 1 : 1Regelung sein, die wir in diesem Bereich sicherlich durchsetzen können. Wir müssen uns nur darüber klar sein: Selbst dann, wenn ein Verhältnis 1 : 1, - ein älterer Arbeitnehmer scheidet aus, und ein Arbeitsloser steigt ein - erreicht wird, schafft dieses Instrument keine neuen Arbeitsplätze. Das Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen, besteht trotzdem. Das kann daher nicht die einzige Regelung bleiben. ({10}) Ich will einen letzten Punkt ansprechen, weil er in den nächsten Jahren unsere Debatte entscheidend prägen wird. Wir müssen grundsätzlich stärker darüber diskutieren und vielleicht auch der Frage mehr Beachtung schenken, wie wir das Problem der Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer und der schwierigeren Vermittelbarkeit von älteren Arbeitslosen prinzipiell angehen werden. Lösen wir das Problem allein dadurch, daß wir immer mehr Brücken und immer breitere Wege in die Rente schaffen, oder führen wir zumindest eine offenere und intensivere Diskussion darüber, wie ältere Arbeitslose in den nächsten Jahren in den Arbeitsmarkt integriert und dafür qualifiziert werden, wie sie wieder in Arbeit gebracht werden bzw. von drohender Arbeitslosigkeit verschont werden können? Ich erspare mir aus Zeitgründen, die Zahlen zu nennen. Denn es ist schon erklärbar, daß wir zur Zeit große Probleme mit der Arbeitslosigkeit älterer Menschen haben. Betrachten Sie die Gruppen der 55- bis 65-jährigen im Fünfjahresrhythmus, dann stellen Sie fest, daß sie im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit deutlich über dem Durchschnitt liegen. Das ist ein Problem, das wir auf Dauer nicht nur durch neue Wege in die Altersteilzeit lösen dürfen. Statt dessen müssen wir wegen der demographischen Entwicklung darüber nachdenken, wie wir ältere Arbeitnehmer mittelfristig stärker in den Arbeitsprozeß einbinden können; denn die Daten sagen uns eindeutig, daß wir zukünftig immer mehr ältere und immer weniger jüngere Arbeitnehmer haben werden. Je mehr berufserfahrene und qualifizierte Ältere wir ausscheiden lassen, um so mehr Probleme werden wir zu einem gewissen Zeitpunkt bekommen, weil wir nicht mehr genügend Menschen mit Erfahrung im Berufsleben haben. Das ist ein Punkt, über den man, so bitte ich, wirklich nachdenken sollte. Wenn das auf der Basis erfolgt, daß das Instrument der Altersteilzeit in der gegenwärtigen Situation der hohen Arbeitslosigkeit gerade von Älteren flexibilisiert und weiterentwickelt wird, dann ist das ein gangbarer Weg. Ich habe aber die Bitte, daß wir die anderen von mir aufgeworfenen Fragen dabei nicht vergessen. Schönen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1831 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf: 7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Strafverfahren ({0}) - Drucksache 14/1714 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Die einbringende Rede für die Fraktion der CDU/CSU hält der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Ministerin, die CDU/CSU will dazu beitragen, der Regierung ein wenig Arbeit abzunehmen, damit sie nicht, wie zum Teil in der Vergangenheit geschehen, unausgegorene Gesetze durch die Ausschüsse und den Bundestag peitschen muß. ({0}) Deswegen legen wir heute den Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Strafverfahren, eines Strafverfahrensbeschleunigungsgesetzes, vor, das sich weitgehend auf die Grundlage des Gesetzentwurfes des Bundesrates vom 1. März 1996 stützt, das seinerzeit schon gut ausgearbeitet war und heute durch die Streichung einiger entbehrlicher Teile und einige wenige Ergänzungen noch verbessert wurde. Wir folgen damit auch diesmal den Wünschen der Länder, die auf der 70. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 7. bis 9. Juli 1999 im schönen Baden-Baden festgestellt haben, daß die Strafjustiz bei stetig steigendem Geschäftsanfall ohne Möglichkeit zur weiteren Personalvermehrung ihre Aufgaben künftig nur wird bewältigen können, wenn sie durch gesetzgeberische Maßnahmen nachhaltig entlastet wird. Dies erfordert auch und vor allem eine Straffung des Strafverfahrens, die insbesondere durch die Reform der Rechtsmittel in Strafsachen erzielt werden kann. Diese Feststellung wurde mit dem Stimmenergebnis 16 : 0, das heißt einstimmig, beschlossen. Nun plant, wie wir erfahren haben, die Bundesregierung, verschiedene Gremien einzusetzen, um eine solche Reform vorzubereiten. Dies ist eine unseres Erachtens überflüssige Maßnahme, da dies nach der Vorarbeit durch den Bundesrat, also die Länder, und ergänzt durch die der Experten unserer Fraktion nicht mehr nötig zu sein scheint. Wir laden die Bundesregierung und die Regierungsparteien zu einem fruchtbaren Dialog über den vorliegenden Gesetzentwurf ein. Nichts ist so gut, daß es nicht verbessert werden könnte; aber Arbeitskreise brauchen wir für diese Änderungen nicht mehr. Ich will nicht auf Details eingehen, aber einige wesentliche Punkte ansprechen: Wir haben eine kleine Änderung im Strafgesetzbuch vorgeschlagen, indem die Verurteilung eines Ausländers leichter durchgeführt werden kann, wenn innerhalb angemessener Frist die Auslieferung nicht beantragt worden ist. Die etwas umständliche Fassung des § 25 StPO in bezug auf die Ablehnung eines Richters haben wir kurz und bündig gefaßt, damit durch diese Ablehnung keine unnötigen Verzögerungen innerhalb eines langfristigen Verfahrens eintreten. Ergänzt wird diese Vorschrift durch eine kleine Änderung von § 26 StPO durch Vermehrung der richterlichen Entscheidungsbefugnis im Hinblick auf die Ablehnung. § 59 StPO wird im Grunde genommen nur der Praxis angepaßt, weil schon heute die Vereidigung nach der Vernehmung die Ausnahme und nicht die Regel ist und bei Unterlassen nun nicht mehr begründet werden muß. Auch die Ergänzung, daß die Durchsuchung von Papieren des Betroffenen auf Weisung durch Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden kann, ist lediglich eine Vereinfachung. Bei der Frage der Verteidigerbestellung wird der Staatsanwaltschaft eine bessere Stellung zugedacht. Auch die Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153 und 154 StPO mit ihren Unterabteilungen, zum Beispiel Auslandsstraftaten, werden entsprechend den Vorschlägen des Bundesrates und damit der Länder verbessert, um Verfahren beschleunigt beenden zu können. Um unnötige Wiederholungen von Hauptverhandlungen zu vermeiden, wurde die Unterbrechungsfrist verlängert und die Möglichkeit, eine Unterbrechung der Hauptverhandlung bereits nach sechs Monaten - statt nach zwölf Monaten - zu wiederholen, eingeräumt. Ebenso soll eine Verzögerung durch Erkrankung des Angeklagten bzw. einzelner Mitglieder des Gerichts keine völlige Neuverhandlung erfordern. Die Ablehnung eines Beweisantrages soll durch die Einfügung „nach der freien Würdigung des Gerichts“ erleichtert werden, um eine Prozeßverschleppung zu verhindern. Die Änderung des § 251 StPO, die ein erleichtertes Verlesen von Protokollen ermöglicht, dient unter anderem dem Zeugenschutz. Durch die Verlesung von polizeilichen Feststellungen, Gutachten und Sachverständigenausarbeitungen werden die Strafverfolgungsbehörden nachhaltig entlastet und wird der Unsitte, zum Beispiel die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten zu zweit zu laden und sie damit einen halben oder gar ganzen Tag dem Dienst zu entziehen, ein Ende bereitet. Davon ausgenommen sind Vernehmungsprotokolle, soweit sie nicht bereits nach anderen Vorschriften verlesungsfähig sind. Die Berufungsmöglichkeiten sollen insoweit eingeschränkt werden: Die Annahmeberufung wird auf Verurteilungen bis zu 30 Tagessätzen - einschließlich Fahrverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis bis zu neun Monaten - angehoben. Bei amtsgerichtlichen Verurteilungen soll das Wahlrechtsmittel eingeführt werden, das heißt: entweder Berufung oder Revision. Im Bereich der Annahmeberufung wird die Sprungrevision ausgeschlossen. Diese Einschränkung erscheint vertretbar und könnte zu erheblichen Entlastungen führen. Die Justiz soll weiterhin von erheblichem Formulierungs- und Schreibaufwand entlastet werden, soll möglichst in großem Umfang von der Abfassung von gekürzten Urteilen Gebrauch machen. Dazu dient auch, daß das Ziel der Berufung angegeben wird und die Berufung begründet werden muß. ({1}) Auch die Beschränkung von Rechtsmitteln für den Nebenkläger, außer im Fall des Freispruchs, erscheint gerechtfertigt, Herr Ströbele, weil Strafmaß und Strafhöhe Sache des Staates sein sollen. Dabei wird von dem Grundgedanken ausgegangen, daß der Nebenkläger im ersten Verfahren genügend Möglichkeiten zur Einwirkung auf den Gang des Verfahrens hat. Die Erstreckung der Möglichkeit des Strafbefehls auf alle Gerichtszüge erscheint folgerichtig und zweckmäßig, da es gegebenenfalls auch in größeren Verfahren sinnvoll erscheint, bei Mitangeklagten von diesem Verfahren Gebrauch zu machen. Der Zusatz in § 418 Abs. 1 StPO „Zwischen dem Eingang des Antrags bei Gericht und dem Beginn der Hauptverhandlung sollen nicht mehr als sechs Wochen liegen“ soll nachdrücklich den Willen des Gesetzgebers deutlich machen, möglichst oft im beschleunigten Verfahren zu entscheiden und die Hauptverhandlung zügig anzuberaumen. Auch die Änderungen im Jugendgerichtsgesetz dienen der Beschleunigung, ohne auf die Besonderheiten des Jugendgerichtsverfahrens zu verzichten. Folgerichtig ist bei Einführung des § 59 Abs. 1 StPO der § 49 des Jugendgerichtsgesetzes überflüssig. Um auch bei Jugendlichen das beschleunigte Verfahren durchführen zu können, ist es notwendig, den Jugendlichen bei Nichterscheinen vorführen zu lassen und gegebenenfalls Haftbefehl anzuordnen. Richtigerweise wird das vereinfachte Jugendverfahren im Gesetzentwurf auch auf Heranwachsende ausgedehnt, wenn noch das Jugendstrafrecht Anwendung finden soll. Es ist auch sinnvoll, ein gemeinsames Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende bei gleichem oder ähnlichem Tatvorwurf durchzuführen. Bei allen Gesetzesvorschlägen ist berücksichtigt, daß der Rechtsschutz des Angeklagten oder der Angeklagten oder Beschuldigten ausreichend gegeben ist und die Rechte der ordentlichen Verteidigung nicht eingeschränkt werden. Damit geben wir den Länderjustizverwaltungen die Möglichkeit an die Hand, die Verfahren zu beschleunigen, was nicht nur im Interesse des Rechtsstaates, sondern auch im Interesse der Beschuldigten, oder Angeklagten, aber auch der anderen Verfahrensbeteiligten, zum Beispiel der Zeugen und Gutachter, liegt. Damit eröffnen wir die Möglichkeit einer deutlichen Arbeitsentlastung, die auch vom Kostenstandpunkt her notwendig und zu begrüßen ist. Meine Damen und Herren vom Rechtsausschuß, Frau Ministerin, hoffentlich werden wir in fruchtbaren Berichterstattergesprächen zu einer schnellen Lösung und Verabschiedung kommen und müssen nicht auf eine große Reform warten. Danke schön. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Hermann Bachmaier.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es mutet schon etwas merkwürdig an, wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, heute einen Gesetzentwurf aufgreifen, der das Parlament bereits in der letzten Legislaturperiode beschäftigt hat und der trotz Ihrer damaligen Koalitionsmehrheit im Bundestag nicht abschließend beraten worden ist, geschweige denn beschlossen wurde. Da dieser Gesetzentwurf neben manchem Erörterungswürdigen - dies sei eingeräumt - auch Eingriffe in ein rechtsstaatliches Strafverfahren beinhaltet, die wir nicht für sinnvoll und vertretbar halten, waren wir auch nicht traurig darüber, daß der damalige Entwurf der Diskontinuität anheimfiel. Es ist noch nicht einmal zwei Jahre her, daß gegen wichtige Teile dieses Entwurfes in einer hochkompetenten Sachverständigenrunde des Rechtsausschusses schwere Bedenken vorgebracht worden sind. ({0}) Wir halten es daher nicht gerade für sinnvoll, diesen Entwurf, den Sie, nur geringfügig verändert, wieder einbringen, nochmals zur Grundlage intensiver Beratungen zu machen. Damit befinden wir uns im übrigen in Übereinstimmung mit einem im Juni gefaßten Beschluß der Justizministerkonferenz. Die Justizministerinnen und Justizminister haben sich darauf verständigt, zunächst keine weiteren gesetzgeberischen Maßnahmen über den Bundesrat einzuleiten, sondern die Beratung der nach gründlicher Vorbereitung von der Bundesregierung und der Frau Justizministerin vorzulegenden Vorschläge entsprechend zu begleiten. Im Rahmen dieser Beratungen können dann auch die Reformvorschläge mit eingebracht werden, die damals als sinnvoll und erörterungswürdig angesehen wurden. Dies gilt für manche formalen Erleichterungen und Entbürokratisierungsvorschläge, die im Entwurf des Bundesrates enthalten waren. Das gilt in gleicher Weise für die vorgeschlagene Erweiterung der Einstellungsmöglichkeiten durch Gericht und Staatsanwaltschaften. Ich warne aber vor Illusionen: Bereits heute werden die bestehenden Einstellungsmöglichkeiten in der Praxis sinnvoll und auch recht großzügig genutzt, so daß ich mir von weiteren Erleichterungen nur äußerst begrenzte zusätzliche Entlastungseffekte verspreche. Sicherlich sind die bisherigen Regelungen zur Unterbrechung der Hauptverhandlung einer kritischen Überprüfung mit dem Ziel zu unterziehen, handhabbarere Regelungen für die Praxis zu finden. Vernünftige Unterbrechungsregelungen sind sicherlich von erheblicher praktischer Bedeutung für die Strafrechtspflege. Wir sollten dabei aber nicht außer acht lassen, daß die bisherigen - zugegebenermaßen recht strengen - Regelungen auch dem rechtsstaatlichen Prinzip der Konzentration des Verfahrens Rechnung tragen und dienen sollen. Gegen die zentralen Vorschläge Ihres Gesetzentwurfes haben wir allerdings erhebliche Bedenken, gerade auch aus rechtsstaatlicher Sicht. Dabei sollten wir uns darüber einig sein, daß die Ausgestaltung des Strafverfahrensrechtes auch in seinen Details - denken wir zum Beispiel an das Beweisantragsrecht oder das Rechtsmittelverfahren - von kaum zu überschätzender rechtsstaatlicher Relevanz ist. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir alle Eingriffe in das gewachsene rechtsstaatliche Strafverfahrensrecht nur mit größter Behutsamkeit vornehmen. Straf- und Strafverfahrensrecht vertragen es nicht, ständig in Frage gestellt und geändert zu werden. Ruhe und Kontinuität müssen gerade in hektischen Zeiten beim Herangehen an rechtsstaatlich gewachsenes Straf- und Strafverfahrensrecht gewahrt werden. ({1}) Lassen Sie mich nunmehr einige meines Erachtens recht bedenkliche Vorschläge aus Ihrem Entwurf aufgreifen, die auch schon in der erwähnten Sachverständigenanhörung von kompetenter Seite heftig kritisiert worden sind. Es spricht manches dafür, die Regelvereidigung im Hauptverfahren abzuschaffen, zumal diese Regelung mittlerweile ohnehin aus durchaus berechtigten Gründen zur Ausnahme geworden ist. Auf keinen Fall darf aber die Abschaffung der Regelvereidigung im Hauptverfahren mit einer Erweiterung der Vereidigungsmöglichkeiten im Vorverfahren einhergehen. Liest man dazu die Begründung Ihres Gesetzentwurfes, wird man hellhörig. Dort heißt es wörtlich: Damit können künftig Zeugen im vorbereitenden Verfahren häufiger vereidigt werden als in der Hauptverhandlung. Dies ist jedoch vielfach im Interesse der Verfahrenssicherung geboten und gewährleistet zudem eine zügige und straffe Durchführung der Hauptverhandlung. Wer in dieser fast militärischen Sprache von einer Hauptverhandlung in einem Strafprozeß spricht, der hat offensichtlich wenig Ahnung, worum es hierbei geht. ({2}) Sollen etwa die Zeugen im Vorverfahren möglichst weitgehend durch Vereidigung festgelegt werden, damit sie später in der Hauptverhandlung an ihre zuvor gemachte Aussage gebunden sind? Mit einer derartigen Regelung, die letztlich zu einer erheblichen Entwertung der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung führt, können und werden wir uns keinesfalls einverstanden erklären. Sie wären gut beraten, Ihren Vorschlag noch einmal gründlich zu überdenken. Schon nach der geltenden Rechtslage kann ein Beweisantrag dann abgelehnt werden, wenn er zum Zwecke der Prozeßverschleppung gestellt wird. Die Gerichte, die bisher bei der Anwendung dieser Vorschrift begreiflicherweise zurückhaltend sind, sollen jetzt durch eine neue Formulierung, wonach die Prozeßverschleppungsabsicht nur - wie es heißt - „nach der freien Würdigung des Gerichts“ vorliegen muß, ermuntert werden, doch öfter als bislang Beweisanträge der Verteidigung abzulehnen. Nach meinen bisherigen Erfahrungen glaube ich nicht, daß diese von Ihnen gewollte Ermunterung funktionieren würde. Ich wehre mich aber auch grundsätzlich gegen diese Absicht und bitte Sie, doch folgendes zu bedenken: Das Beweisantragsrecht der Verteidigung hat den alleinigen Sinn, das Gericht zu Beweiserhebungen zu veranlassen, die das Gericht selbst nicht für sinnvoll, nicht für zielführend und deshalb letztlich für prozeßverschleppend hält. Denn: Hielte das Gericht die Beweiserhebung selbst für sinnvoll, würde es nach dem Amtsermittlungsgrundsatz diese Beweise schon selbst oder wenigstens auf Anregung der Verfahrensbeteiligten erheben. Das Beweisantragsrecht ist aber ein essentielles, wenn nicht gar das wichtigste Verteidigungsrecht des Angeklagten und seines Verteidigers. Wir sollten es dem Angeklagten nur dann absprechen, wenn eindeutig belegt ist, daß es nur zum Zwecke der Prozeßverschleppung genutzt wird. ({3}) Ich habe auch große Zweifel, ob Strafprozesse dadurch beschleunigt werden können, daß man bewährte Rechtsmittel abschafft. Wir alle wissen, daß es einer rechtsstaatlichen Rechtspflege gut bekommt, wenn möglichst alle Entscheidungen von Gerichten durch eine weitere Instanz überprüft werden können. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, daß der blaue Himmel über erstinstanzlichen Entscheidungen die Qualität der Rechtsfindung nicht gerade verbessert, sondern erhebliche Gefahren in sich trägt. Wir sollten daher vorsichtig sein, wenn wir Rechtsmittel einschränken oder abschaffen. Dies gilt für alle Strafsachen - egal, welche Strafe auch immer droht. Die Verhängung einer Strafe, auch wenn sie gering ist, ist niemals eine Bagatelle und wird von den Betroffenen auch nicht als Bagatelle empfunden. Die weitaus größte Zahl der Angeklagten kommt nur einmal im Leben unter anderem wegen Alltagsverfehlungen, vor allem im Straßenverkehr, mit den Gerichten in Berührung. Oftmals haben diese Verkehrsstrafverfahren, bei denen sehr häufig die Fahrerlaubnis auf dem Spiel steht, erhebliche Auswirkungen auf den weiteren Lebens- und Berufsweg der Betroffenen, auch wenn die Geldstrafen vergleichsweise niedrig sind. Wir sollten uns daher davor hüten, den von diesen Verfahren Betroffenen nur ein rechtsstaatlich amputiertes Strafverfahren zur Verfügung zu stellen. Wir haben schon immer Bedenken gegen die bereits im Bundesratsentwurf vorgesehenen erweiterten Anwendungsmöglichkeiten für das Strafbefehlsverfahren vorgetragen, insbesondere auch außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Amtsgerichte. Es ist vorhersehbar, daß insbesondere Beschuldigte im Bereich der Umwelt-, Steuer- und sonstiger Wirtschaftskriminalität aus einer erweiterten Anwendung des Strafbefehlsverfahrens ihren Nutzen ziehen würden. Die möglichen Verfahrensabsprachen werden vor allem Beschuldigte nutzen können, denen die entsprechenden Ressourcen und Mittel zur Verfügung stehen. Der Gerechtigkeit im Strafverfahren wäre dies nicht gerade dienlich. Der Entwurf schlägt außerdem eine Einschränkung der Rechtsmittelbefugnis der Nebenkläger vor, die nur noch im Falle des Freispruchs des Täters ein Rechtsmittel haben sollen. Auch dies halten wir nicht für richtig. Zu Recht haben wir alle inzwischen im Bereich des Opferschutzes eine höhere Sensibilität als in früheren Zeiten, in denen Opfer lediglich als Zeugen im Strafprozeß auszusagen hatten. Ich glaube, daß wir uns alle Fallkonstellationen vorstellen können, in denen Opfer von Straftaten ein durchaus berechtigtes Interesse daran haben können, Rechtsmittel gegen ein Strafurteil einzulegen. Wir sollten diesem legitimen und berechtigten Interesse auch bei der Rechtsmittelbefugnis Rechnung tragen. Lassen Sie mich als Fazit festhalten: Wir können an diesem Gesetzentwurf nichts entdecken, was wir im Vorgriff auf die zu erwartenden Vorschläge der Bundesregierung vorwegnehmen sollten. Verfahrensbeschleunigung durch Abbau von Verteidigungsrechten und durch Einschränkung von Rechtsmitteln für ganz bestimmte Strafverfahren ist für uns kein sinnvoller und richtiger Weg, das Strafverfahrensrecht rechtsstaatlich vertretbar zu modernisieren. Wir müssen bei allen Reformmaßnahmen auch darauf achten, daß alle Verfahrensbeteiligten und insbesondere auch die einem Strafverfahren ausgesetzten Betroffenen ihre legitimen Rechte tatsächlich ausüben können. Diesem Anliegen werden Ihre Vorschläge ganz überwiegend nicht gerecht. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beschleunigung von Strafverfahren ist ein wichtiges Ziel in der Rechtspolitik, insbesondere deshalb, weil wir wissen, daß die Strafe eine nachhaltige Wirkung auf den Täter und damit letztendlich auch eine bessere Wirkung auf die Opfer von Straftaten hat, wenn die Strafe der Tat sehr schnell folgt. Ein Täter, der sehr schnell spürt, daß es eine Reaktion auf seine Tat gibt, wird sehr viel intensiver darüber nachHermann Bachmeier denken, ob er erneut Straftaten begeht, wodurch Menschen Opfer seiner Taten werden. ({0}) Wer geglaubt hat, daß die Vorschläge, über die wir heute abend diskutieren, hilfreich sind, der wird bei einer fachlichen Prüfung feststellen, daß es eigentlich wieder ein Herumdoktern ist, also etwas, was wir überhaupt nicht brauchen; ({1}) was wir brauchen, ist eine Reform aus einem Guß, wenn wir wirklich zu Verbesserungen kommen wollen. Trotz dieser kritischen Bemerkungen will ich andeuten, daß wir uns in dem einen oder anderen Bereich durchaus Änderungen vorstellen können. Das ist zum Teil bereits angesprochen worden. So gibt es in der Strafprozeßordnung immer noch die Verpflichtung, einen Zeugen in der Hauptverhandlung zu vereidigen, obwohl das, wie wir alle wissen, eigentlich nicht mehr geschieht, ohne daß dadurch ein Nachteil für die Wahrheitsfindung einträte. Wenn das ohnehin schon Praxis ist, dann darf und muß darüber diskutiert werden, ob man die entsprechende strafprozessuale Vorschrift der Wirklichkeit anpaßt. Das ist ein Beispiel für das, worüber man sicherlich reden kann. Auf der anderen Seite ist für uns als F.D.P. der Opferschutz, eine klarere Wahrnehmung der Interessen des Opfers ganz besonders wichtig. ({2}) Ich muß sagen, da haben wir in der letzten Legislaturperiode in der alten Koalition ganz erhebliche Fortschritte erzielt. Ich glaube, daß sich inzwischen ein Mentalitätswandel dergestalt vollzieht, daß im Mittelpunkt der Überlegungen im Strafrecht das Opfer stehen muß. ({3}) Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion sieht zum Beispiel Beschränkungen der Rechtsmittel des Nebenklägers, also auch des Opfers einer Straftat, vor. Das scheint uns genau der falsche Weg zu sein. ({4}) Wir brauchen nicht weniger Rechte für das Opfer, sondern eindeutig mehr Rechte für das Opfer. Deshalb werden wir alle Überlegungen, die in Richtung Reduzierung des Opferschutzes gehen, mit Sicherheit ablehnen. Ich glaube, wir sind in dieser Legislaturperiode aufgerufen, zu einer Verbesserung, insbesondere zu einer Beschleunigung von Strafverfahren zukommen. Es gibt konkrete Beispiele dafür, daß die Umsetzung von Überlegungen wirklich Früchte getragen hat. So hat zum Beispiel die Förderung des beschleunigten Verfahrens, die wir unter unserem Kollegen Schmidt-Jortzig als Bundesjustizminister erreicht haben, in Stuttgart dazu geführt, daß der dortige, von der F.D.P. gestellte Justizminister Goll dafür gesorgt hat, daß es nach den Kurdenkrawallen in Stuttgart - dort wurden im Gegensatz zu Hamburg damals die Personalien festgestellt - möglich war, diese Gewalttäter im beschleunigten Verfahren innerhalb kürzester Zeit rechtskräftig zu verurteilen und damit ein klares Signal für die Rechtsordnung in unserem Land zu setzen. ({5}) - Es war vom Gesetzgeber genau dafür gedacht, Herr Kollege Danckert. Wenn Sie sich die Materialien anschauen, dann werden Sie feststellen, daß wir unter anderem an solche Verfahren gedacht haben. Ich wiederhole: Alle in diesen Verfahren verhängten Urteile sind rechtskräftig geworden. Das macht deutlich, daß sie offensichtlich auch aus Sicht der Angeklagten und dann Verurteilten - in einer rechtsstaatlichen Weise ergangen sind. Das ist der richtige Weg. Diesen Weg wollen wir als F.D.P. beschreiten, wobei wir das Opfer im Mittelpunkt unserer Interessen sehen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege HansChristian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! So sehr viele scheinen hinter diesem Gesetzentwurf nicht mehr zu stehen. Und von der CDU/CSUFraktion sitzen auch nicht mehr so besonders viele dahinter. Ich weiß nicht, ob das in der letzten Legislaturperiode anders gewesen ist. Die erste Frage, die sich stellt, wenn man zum soundsovielten Mal einen Gesetzentwurf vorlegt, um Strafverfahren zu beschleunigen, ist doch die: Ist das überhaupt erforderlich? Gibt es da Handlungsbedarf? Müssen die Hauptverhandlungen von Strafverfahren beschleunigt werden, damit die Beschuldigten, die Angeklagten schneller abgeurteilt werden können, oder hat das ganz andere Ursachen? Sie behaupten, die Strafverfahren dauerten zu lange. Die Justizministerin hat im August zwei Untersuchungen vorgelegt, aus denen sich ergibt, daß die Strafverfahren in den letzten zehn Jahren überhaupt nicht länger geworden sind. Da ist auch mit einer Fehlmeldung aufgeräumt worden. Denn durch die Presse wird häufig vermittelt, es seien die bösen Rechtsanwälte, die Strafverteidiger, die die Strafverfahren durch völlig überflüssige und unsinnige Anträge in der Hauptverhandlung verzögern würden, nur weil sie mehr Geld verdienen oder den Prozeß verzögern wollten. In insgesamt nur 1,7 Prozent der Fälle hat das Verteidigerverhalten Auswirkungen auf die Dauer von Hauptverhandlungen gehabt. Das ist wirklich äußerst wenig. Es muß also ganz andere Gründe geben. Die Gründe dafür, warum Verfahren oft so lange dauern, sind nicht in den Hauptverhandlungen zu suchen. Sie liegen vielmehr in den langen Vorverfahren bei der Staatsanwaltschaft und der Polizei, betreffen also die Zeit zwischen dem Fassen eines Beschuldigten und dem Zeitpunkt, in dem er vor Gericht gestellt wird. Mehr als 80 Prozent der Fälle, die in erster Instanz vor dem Landgericht stattfinden, bei denen es sich also um schwierige Verfahren handelt, werden in ein bis drei Tagen abgehandelt. Die Hauptverhandlungen dauern in 30 bis 40 Prozent dieser Fälle einen Tag und in den weiteren zirka 40 Prozent bis zu drei Tagen. All das, was die Medien berichten, ist einfach nicht richtig. Man braucht hier nicht nachzubessern. Man darf vor allen Dingen nicht mit der Begründung, die Strafverfahren beschleunigen zu wollen, die Rechte der Angeklagten und Beschuldigten verkürzen. Das kann in sehr vielen Fällen dazu führen, daß ungerechte Urteile gefällt werden. Unsere Gesetze, insbesondere unsere Strafprozeßordnung, sind nicht dazu da, Staatsanwälten, Richtern oder Verteidigern die Möglichkeit zu verschaffen, sich gegenseitig zu ärgern, sondern sie dienen dazu - ich weiß, wovon ich rede; ich bin in sehr vielen dieser langen Strafverfahren tätig gewesen -, die Rechte der Angeklagten zu sichern. Diese formalen Rechte sind dazu da, den Angeklagten die Möglichkeit zu verschaffen, selbst oder durch ihren Verteidiger darauf hinzuwirken, daß ihre Rechte nicht verkürzt werden. Wenn ich mir diesen Gesetzentwurf ansehe, stelle ich fest - der Kollege Bachmaier hat darauf hingewiesen -, daß Sie in Zukunft verhindern wollen, daß ein Richter auch noch nach dem letzten Wort des Angeklagten abgelehnt werden kann. Das ist eine theoretische Möglichkeit, die vielleicht alle zehn Jahre einmal zum Tragen kommt. Das heißt, selbst dann, wenn Sie diese Vorschrift in die StPO einfügen würden, würden Sie damit nichts erreichen, würden Sie in den nächsten zehn Jahren in keinem Verfahren eine Verkürzung erreichen. Nehmen Sie ein anderes zentrales Recht, auf das hingewiesen worden ist: Ein Angeklagter bzw. sein Verteidiger kann auf den Gang der Hauptverhandlung im wesentlichen nur dadurch einwirken, daß er Beweisanträge stellt, also sagt, er habe noch einen Zeugen, ein Papier, eine Filmaufnahme oder einen Sachverständigen; nach dessen Anhörung bzw. Ansicht sehe die Sachlage ganz anders aus, dann sei klar, daß der Angeklagte mit der Sache nichts zu tun habe oder sich der Sachverhalt ganz anders darstelle. Genau das wollen Sie erschweren bzw. verhindern. Sie wollen den Richtern - es geht in Gerichtssälen häufig sehr kontrovers zu - die Möglichkeit verschaffen, allein nach ihrem Ermessen einem Beweisantrag nicht stattzugeben, wenn sie meinen, daß der Beweisantrag nur zur Prozeßverschleppung gestellt worden sei. Wenn ein Richter das allein nach seinem Ermessen entscheiden kann, hat das zur Folge - das kann nur ein Jurist wissen -, daß die revisionsrechtliche Überprüfung durch die nächste Instanz so gut wie unmöglich ist. Auch für weitere Punkte Ihres Vorschlages gilt: Viele Vorschläge sind völlig ungeeignet. Wenn Sie zum Beispiel die Fristen, in denen Strafverfahren ausgesetzt oder unterbrochen werden können, verkürzen wollen, dient das nicht der Beschleunigung der Verfahren, aber es verkürzt die Rechte der Angeklagten. Deshalb sage ich: Für uns Bündnisgrüne ist der Gesetzentwurf, so wie er hier vorliegt, überflüssig. Er ist ungeeignet, weil er die Rechte der Angeklagten und Beschuldigten verkürzt. Deshalb ist er sogar doppelt überflüssig, deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Wir können darüber beraten und sehen, ob das eine oder andere in eine andere Reform übergeleitet werden kann. So jedoch darf der Gesetzentwurf nicht verabschiedet werden. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beschleunigungsgrundsatz wird zu Recht als eine Maxime des Strafverfahrens angesehen, denn eine zeitnahe Hauptverhandlung führt zu einer qualitativen Verbesserung der Strafrechtspflege. Die präventiven Momente des Strafrechts können dadurch besser zur Geltung gebracht werden als bei einem großen zeitlichen Abstand zwischen der Straftat und der Verhandlung. Es gab in der Vergangenheit bekanntlich mehrere Versuche, durch eine Vielzahl von Justizentlastungsgesetzen die Verfahrensdauer zu verkürzen. Gezeigt hat sich jedoch, daß nur punktuelle Änderungen zu kurz greifen. Mit dem vorliegenden Entwurf will die CDU/CSUFraktion offenbar durch eine Vielzahl kleiner Änderungen große Wirkung erzielen. Einige der Vorschläge, zum Beispiel die Abschaffung der Regelvereidigung in der Hauptverhandlung oder Vereinfachungen im Ermittlungsverfahren, können Entlastungseffekte bewirken. Bei anderen Regelungen wie Eingriffen in das Recht der Richterablehnung oder in das formelle Beweisantragsrecht habe ich jedoch auf Grund der Unbestimmtheit und der Einschränkung von Verfahrensrechten erhebliche Bedenken, weil die Gefahr besteht, daß sich einzelne Richter, beispielsweise wegen ihrer permanenten Arbeitsüberlastung, zu einer sachwidrig extensiven Auslegung verleiten lassen könnten. Auch bei der Einschränkung des Begründungszwangs von gerichtlichen Entscheidungen plädiere ich sehr für Vorsicht. Denn wo Begründungen fehlen oder unzureichend sind, wird es der Entscheidung auch an Überzeugungskraft mangeln und ein unsicherer Rechtsfrieden bestenfalls kraft Autorität, jedoch nicht kraft rechtsstaatlicher Argumente eintreten. Wegen dieser methodischen und inhaltlichen Bedenken können wir dem vorliegenden Entwurf nicht zustimmen. Für wichtig und notwendig halte ich Änderungen im Rechtsmittelbereich. Die vorgeschlagenen Änderungen reichen jedoch nicht aus und sind zum Teil rechtsstaatlich bedenklich. Darauf hat bereits der Kollege Bachmaier ausführlich hingewiesen. Es geht vielmehr um ein stimmiges Konzept der Funktionsdifferenzierung und der Straffung der Instanzen. Der bisherige Instanzenzug hat in der Vergangenheit gerade auf Grund der Zeitdauer bis zur Rechtskraft eines Urteils immer wieder für Kritik gesorgt. Ich erwarte daher mit Spannung das von der Bundesjustizministerin angekündigte Reformmodell. Bekanntlich liegt seit Sommer dieses Jahres ein ausführliches Gutachten über die Dauer von Strafverfahren vor. Dieses Gutachten hat meines Erachtens sehr deutlich gemacht, daß die Rechtsmittelfrage in eine grundlegende Reform des Verfahrens - von der Einleitung polizeilicher Ermittlungen bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung - eingebettet werden muß. Die größten zeitlichen Reserven liegen nämlich in der Regel nicht im Hauptverfahren und auch nicht in der Hauptverhandlung, sondern im Ermittlungsverfahren. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1714 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht - Drucksache 14/1335 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Als ersten Redner rufe ich den Kollegen Dirk Niebel von der F.D.P.-Fraktion auf. Bitte schön, Herr Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei diesem bedeutenden Thema wäre es sehr wichtig, daß auch das BMA vertreten wäre. Ich finde es schade, daß das nicht der Fall ist. ({0}) Nichtsdestotrotz müssen wir uns mit der Frage der Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht zwingend beschäftigen. Denn die Arbeitserlaubnispflicht hat sich zu einem Arbeitsverhinderungsrecht verändert. Wir verfolgen mit unserem Antrag fünf Ziele: Wir wollen die Schwarzarbeit vermindern, die Besetzung offener Stellen erleichtern oder zumindest beschleunigen, die öffentlichen Haushalte entlasten, die Verwaltung vereinfachen und nicht zuletzt die Menschenrechte der betroffenen Personen stärken. ({1}) Meine Damen und Herren, ich schildere Ihnen - auch aus meinem Erleben als ehemaliger Arbeitsvermittler kurz das Verfahren, wie eine Arbeitserlaubnis erteilt wird. Hinterher werden Sie mir zustimmen müssen, daß dieses Verfahren zumindest hinterfragt werden muß. Ein Ausländer, der sich legal in diesem Land aufhält - es geht also nicht um Touristen oder um illegal Eingereiste -, läuft durch die Gegend, weil er den ganzen Tag lang nichts zu tun hat. Er findet einen Arbeitgeber, der einen Arbeitsplatz zu besetzen hat. Er würde diesen Arbeitsplatz gern annehmen, und die beiden werden sich einig. Dann sagt der Arbeitgeber allerdings: Du mußt noch zum Arbeitsamt gehen, du brauchst eine Arbeitserlaubnis. Nun geht der arme Mensch zum Arbeitsamt und sagt, er habe einen Arbeitsplatz gefunden - von diesem Arbeitsplatz hat der Arbeitsvermittler vielleicht noch gar nichts gewußt -, und bittet um eine Arbeitserlaubnis. Daraufhin sagt der Arbeitsvermittler: So geht das nicht, wir müssen erst einmal einen Vermittlungsauftrag haben, weil wir mindestens vier Wochen lang prüfen müssen, ob es nicht eventuell bevorrechtigte Arbeitnehmer gibt. Der Arbeitsvermittler ruft den Arbeitgeber an und erklärt ihm, er brauche einen Vermittlungsauftrag. Der Arbeitgeber fragt natürlich, wozu ein Vermittlungsauftrag nötig sei, da er jemanden für diesen Arbeitsplatz habe. Er stellt dann aber ziemlich schnell fest, daß der Arbeitserlaubnisantrag wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt werden würde, wenn er diesen Standpunkt weiter verträte, woraufhin er den Vermittlungsauftrag erteilt. Gesetzt den Fall, es handelt sich um eine Stelle als Spülhilfe oder als Lagerhelfer, wird es bei der gegebenen Arbeitsmarktsituation einige Bewerber im Computer des Arbeitsamtes geben, die diese Tätigkeit theoretisch ausüben könnten. Der Arbeitsvermittler macht Vorschläge und schickt in der Prüffrist, die, wie gesagt, mindestens vier Wochen läuft, 10, 20, 40, 50 bevorrechtigte Bewerber zu dem Arbeitgeber, Bewerber, die diese Tätigkeit vielleicht gar nicht ausüben wollen, sondern nur hingehen, weil sie hingehen müssen und Angst um ihren Leistungsbezug haben. Der Arbeitgeber wird natürlich mit der Besichtigung dieser Personen beschäftigt; guckt er sie sich nicht ordentlich an, kommt er seiner Mitwirkungspflicht nicht nach, und der Arbeitserlaubnisantrag wird abgelehnt. Wenn bis dahin alle Beteiligten keinen Fehler gemacht haben, kann der Arbeitsvermittler nach frühestens vier Wochen sagen, aus arbeitsmarktlicher Sicht bestehe keine Veranlassung, die Arbeitserlaubnis abzulehnen. Danach geht das Ganze seinen verwaltungstechnischen Verfahrensgang, was natürlich auch noch einige Zeit in Anspruch nimmt, bis dann dieser arme Ausländer seinen Arbeitsplatz bei dem Arbeitgeber, falls er diesen für ihn so lange freigehalten hat, einnehmen kann. Bei diesem Verfahren, meine Damen und Herren, können Sie sich gut vorstellen, daß sich in nicht ganz wenigen Fällen der Arbeitgeber und der Arbeitsuchende tief in die Augen schauen und andere Wege finden, wie sie miteinander ins Geschäft kommen, was zur Folge hat, daß sich der Ausländer, da er sich legal in unserem Land aufhält und irgendeinen Leistungsanspruch an irgendeine öffentliche Kasse hat - sei es nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sei es nach irgendeiner anderen Regelung -, als Schwarzarbeiter dort nicht abmeldet. Das heißt, er zahlt nicht nur keine Steuern und keine Sozialabgaben, sondern bezieht auch selbstverständlich weiterhin Sozialleistungen. Das könnten wir mit der Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht verhindern. ({2}) Wir könnten auch verhindern, wenn wir die Arbeitserlaubnispflicht endlich abschafften, weil sie anachronistisch ist, daß Arbeitsplätze nicht oder nicht zeitgerecht besetzt werden. Wir könnten verhindern, daß allein bei der Bundesanstalt für Arbeit im Kernbereich der Erteilung von Arbeitserlaubnissen 685 Beschäftigte mit dieser Aufgabe zu tun haben, wobei die Arbeitsvermittler, die das gesamte Verfahren der Arbeitsmarktprüfung durchführen, noch nicht mitgezählt sind. Wir könnten verhindern, daß diese Menschen unnötig absorbiert und von ihrer eigentlichen Aufgabe abgehalten werden. Wir könnten verhindern, daß bei diesem abstrusen Verfahren, das übrigens auch bei der Verlängerung von Arbeitserlaubnissen gilt, also in bestehende Beschäftigungsverhältnisse eingreift, das Verhältnis zwischen Arbeitsvermittler und Arbeitgeber so sehr geschädigt wird, daß der Arbeitgeber vielleicht gar keine Lust mehr hat, die Bundesanstalt irgendwann noch einmal einzuschalten. Wir könnten verhindern, daß Menschen, die in diesem Land arbeiten wollen und können, gezwungen werden, am Tropf der Sozialkassen zu hängen. Wir könnten schließlich dafür sorgen, daß diese Menschen in einem Land, in dem sie sich legal aufhalten dürfen, für die Dauer ihres legalen Aufenthaltes ein Stück mehr Menschlichkeit verspüren. Wir könnten mit einem einzigen Antrag fünf wichtige Ziele erreichen. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung einen Arbeitskreis eingerichtet hat, der sich mit der Frage der Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge beschäftigt. Ich fordere Sie auf, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, springen Sie über Ihren Schatten, beschäftigen Sie sich nicht nur mit einem Segment, gehen Sie den ganzen Weg und sorgen Sie dafür, daß zum Beispiel der Familiennachzügler, der hier vier Jahre lang Sozialhilfe beziehen darf, auch arbeiten kann. Heute darf er es nicht. In Amerika darf man sofort arbeiten, bekommt aber vier Jahre lang keine Sozialleistungen. Das ist vernünftiger. ({3}) Lassen Sie den Menschen, wenn sie hierher kommen, die Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen. Keinem einzigen Deutschen - seien wir ehrlich - wird dadurch der Arbeitsplatz weggenommen. Wenn wir die Kollegen in den Arbeitsämtern einmal zur Seite nehmen und mit ihnen unter vier Augen sprechen, dann wird deutlich, daß das ein Stammtischgerücht ist. Ein anderes Stammtischgerücht würde dadurch auch beseitigt: Die Ausländer schaffet ja nix, aber Geld krieget se. Nein: Se dürfet nix schaffe! ({4}) Das bekommen wir auch weg. Deswegen hoffe ich auf eine sehr breite Unterstützung über alle Fraktionsgrenzen in diesem Haus, weil das wirklich eine sinnvolle Sache ist. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Olaf Scholz von der SPD-Fraktion das Wort.

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß es zu der Frage, die wir hier zu diskutieren haben, zwei Zugänge gibt. Der eine Zugang ist, daß man über Integrationspolitik diskutiert, der andere ist, daß man über Arbeitsmarktpolitik spricht. Der Zugang, den die F.D.P. gewählt hat, ist eine bestimmte Vorstellung vom Arbeitsmarkt. Das ist in der Tat nichts, was mit der Situation von Ausländern in unserem Lande zu tun hat. Diese arbeitsmarktliche Sicht hat auch dazu geführt, daß Sie ganz verquere Ansichten in diesen Antrag hineingeschrieben ({0}) haben und deshalb zu sehr eigenwilligen Ansichten gekommen sind. Wenn man sich das einmal anguckt, was Sie hier schreiben, dann merkt man: Sie verbrämen das in dem Antrag, den Sie geschrieben haben, nicht. Es heißt gleich zu Anfang: Die Abschaffung ist weiterhin eine effektive Maßnahme zur Deregulierung des Arbeitsmarktes. ({1}) Dort ist sie die liebe Göttin der F.D.P.: die heilige Deregulierung. Das macht den eigentlichen Sinn und Inhalt dieses Antrages aus. Ich glaube, daß das der Grund ist, warum man mit dem Vorgehen, das Sie hier vorschlagen, nicht zurechtkommen kann und warum es abzulehnen ist. ({2}) Wenn man sich im übrigen anschaut, was Sie uns über deutsche Arbeitslose mitteilen, dann ist das sehr interessant. Es heißt hier, die Deutschen oder inländischen Arbeitskräfte seien nicht geeignet, weil sie zu wenig motiviert oder zu wenig qualifiziert seien, weil die Arbeit zu geringe intellektuelle Ansprüche erfülle, zu hohe körperliche Belastungen mit sich bringe, ({3}) der Lohn auf die Sozialleistungen angerechnet werde oder es keinen angemessenen Abstand zwischen Lohn und Sozialleistungen gebe. Das sind sehr deutliche Aussagen und Vorstellungen über den Arbeitsmarkt, die Sie hier vorbringen. Das sind Aussagen, die man bewerten muß, weil dadurch nämlich deutlich wird, worum es Ihnen hier geht: Sie wollen eine weitere Möglichkeit schaffen, Einfluß auf das Lohn- und Gehaltsgefüge in unserem Lande, auf die Möglichkeiten und Arbeitsbedingungen in unserem Lande zu nehmen, ({4}) und das reiht sich letztendlich in die Sachen ein, die Sie in diesem Lande mit Ihrer Politik schon immer gemacht haben. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Scholz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel? ({0})

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Scholz, ich bin über Ihre bisherigen Ausführungen ein bißchen enttäuscht. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, weil ich diesen Antrag selbst geschrieben habe ({0}) - nun warten Sie einmal, wie es weitergeht -, wenn Sie mir in diesem Antrag die Passagen, auf die Sie sich beziehen, zeigen könnten, in denen nämlich steht, daß Nichtdeutsche geringer entlohnt werden sollen als Deutsche.

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe Ihnen die Passage, um die es geht, gerade vorgelesen und halte es im Sinne eines zügigen Ablaufs für hilfreich, daß ich es nicht wiederhole. Da Sie den Antrag selbst geschrieben haben, können Sie es selber nachschauen. Es ist der vierte Absatz in Ihrer Begründung. ({0}) Ich will noch einmal auf das zurückkommen, was Sie hier an arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen haben, und will durchaus darauf hinweisen, daß sich das, was hier geschieht, in eine längere Tradition einreiht. Wir haben mit den Werkvertragsarbeitsverhältnissen eine Situation in diesem Lande, die nicht unproblematisch ist und bei der uns schon aufgefallen ist, daß der eine oder andere sie nicht aus den einen oder anderen hehren Erwägungen gefördert hat, etwa um die neuen osteuropäischen Demokratien zu unterstützen, sondern daß es darum ging, Einfluß auf das Lohn- und Gehaltsgefüge einer ganz konkreten Branche zu nehmen, nämlich der Bauindustrie. Wenn man sich heute die Wirtschaft in diesem Bereich anschaut, dann wird man feststellen, daß das, was damals unternommen worden ist, erfolgreich war. Es ist gelungen, einen ganz substantiellen Arbeitsmarkt mit Ausländern und Deutschen, gewissermaßen Inländern, zu zerstören, viele arbeitslos zu machen. Sie müssen gleichzeitig mit ansehen, daß die auf diese Weise dem Arbeitsmarkt zugeführten Werkvertragsarbeitskräfte auf den Baustellen tätig sind. Dies ist meistens nicht alleine der Fall, denn um diese ganze Struktur herum gruppiert sich doch ein ganz erhebliches Maß an Schwarzarbeit. Ähnlich kann man auch einen anderen Fall betrachten, nämlich die Diskussion über das Entsendegesetz. Diese Diskussion ist wichtig gewesen. Uns ging es darum, sicherzustellen, daß derjenige, der hier im Lande arbeitet, gleich welcher Nationalität er ist, Löhne bekommt, die hierzulande erforderlich und üblich sind. Diesen Gesetzen haben Sie nie etwas abgewinnen können, schon gar nicht den Neuregelungen, die wir jetzt zustande gebracht haben und die, wie erste Berichte zeigen, sehr wohl positive Wirkungen auf die Arbeitsmarktsituation am Bau haben. Auch in diesem Fall haben Sie das Ausländerrecht und die Möglichkeiten, die dort bestehen, benutzt, um auf die Arbeitsmarktsituation Einfluß zu nehmen. Es hat Sie nichts motiviert, was in irgendeiner Weise mit Integration zusammenhängt. Vielmehr haben Sie eine ganz klare Vorstellung davon, was auf dem Arbeitsmarkt in diesem Lande geschehen soll. Deshalb ist es mir wichtig, einmal darauf hinzuweisen, daß die Überlegungen, die Sie anstellen, keineswegs ausländerfreundlich sind. Denn die Hauptbetroffenen einer vollständig ungeregelten Lösung in diesem Bereich sind Ausländer, die hierzulande leben, die zwar über geringe Qualifikationen verfügen, die aber bereit sind, Arbeit mit geringen Löhnen in bestimmtem Rahmen nachzufragen und die sehr wohl auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind. Diesen verschaffen Sie durch eine unkluge Politik in solchen Fragen im Regelfall eine zusätzliche Konkurrenz. Ihre Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt wird eingeschränkt. Insofern kann man Ihren Vorschlag keineswegs unter Ausländerfreundlichkeit oder Integration verbuchen. Das ist mein eigentliches Argument: Der F.D.P.-Antrag ist eigentlich ein Antrag zur Veränderung des deutOlaf Scholz schen Arbeitsmarktes und kein Antrag zur Integration von Ausländern. ({1}) Wie weit Sie gehen wollen, kann man am Ende Ihres Antrages sehen, ({2}) wo der Antrag - übrigens fachlich abweichend von dem, was Sie am Anfang schreiben - besagt: Alle Ausländer, die sich nicht als Touristen oder illegal in Deutschland aufhalten, sollen arbeitserlaubnisfrei gestellt werden. Man darf sich, egal wie man zu diesen Fragen eingestellt ist, nicht die Vorstellung machen, daß das keine Auswirkung auf das hätte, was in unserem Lande geschieht. Denn dadurch würde ein ganz gewaltiger Zuwanderungsdruck, ein Interesse an den verschiedenen Möglichkeiten, Zuwanderung zu organisieren, sich hierzulande aufzuhalten und auf den Arbeitsmarkt zu gelangen, entstehen. Auch dabei ist Ihre Absicht sehr deutlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Scholz, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Niebel? ({0})

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine weitere Zwischenfrage, bitte. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bundestagsabgeordneter, Frau Kollegin. ({0}) Herr Kollege Scholz, Sie haben eben eines der Argumente genannt, die immer wieder gegen die Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht vorgebracht werden, nämlich eine eventuelle Erhöhung der Sogwirkung, nach Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten. Würden Sie mir zustimmen, daß für jemanden, der sich in wirtschaftlicher Not befindet und der nach Deutschland kommen wollte, schon die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Anreiz sein könnten, und würden Sie mir weiter zustimmen, daß dieses Gesetz, das eine Zuwanderung verhindern sollte, das offenkundig nicht geschafft hat?

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es gibt sicherlich den einen oder anderen, der wegen Leistungen, die er hier bekommen kann, hierher kommt. Darüber macht sich niemand etwas vor. Viele, die sich hierzulande aufhalten und Asyl beantragen, kommen aber deshalb, weil sie dafür einen guten Grund haben. Das darf in den Diskussionen nie untergehen. Insofern gibt es sehr unterschiedliche Motive. Aber es ist ganz offensichtlich, daß es Folgen für Zuwanderungsinteressen hat, wenn jemand sich hier als Asylbewerber aufhalten kann und relativ schnell die Berechtigung bekommt, hier einer Arbeit nachzugehen. Darüber muß man sich nichts vormachen. Das spricht sich überall herum. Ein ehrlicher, ernster und integrationsorientierter Ausländerpolitiker würde deshalb Vorschläge dieser Art nicht entwickeln. ({0}) Ich will deshalb sagen, worum es uns geht. Uns geht es eben nicht darum - was den Inhalt des F.D.P.Antrages ausmacht -, den Versuch einer weiteren Veränderung der Lohnstrukturen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu machen. ({1}) Uns geht es darum, Integrationsbemühungen zu fördern. In der Tat sind die gegenwärtigen Regelungen - die nicht wir erfunden haben, um das hinzuzufügen - nicht in jeder Hinsicht dazu geeignet. Ganz offensichtlich bestehen viele bürokratische Hemmnisse, die nicht nötig sind. Offenkundig ist es so: Man muß ganz unterschiedliche Zeiten abwarten, bis man sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt bewegen kann. Aus diesem Grunde muß es darum gehen, hier zu einer Rationalität zu kommen und eine Lösung voranzubringen, die beides erfüllt: einerseits keine zusätzlichen Veränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt darzustellen und andererseits denjenigen, die sich dauerhaft hier in Deutschland aufhalten und von denen wir wissen, daß sie sich trotz eventuell ungesicherten Aufenthaltsstatus über längere Zeit hier aufhalten werden, einfacher die Möglichkeit zu geben, am deutschen Arbeitsmarkt teilzunehmen. ({2}) An einer solchen Lösung, die integrationsorientiert und nicht arbeitsmarktorientiert ist, arbeiten wir, und darüber denken wir nach. ({3}) Aber diese Arbeit verlangt sorgfältige Überlegungen. Eine solche Lösung kann man nicht so einfach machen. Abschließend möchte ich zusammenfassen: Der Antrag der F.D.P. hat mit Ausländerpolitik und mit Integration nichts zu tun. Mit dem Antrag soll bezweckt werden, daß Einfluß auf den deutschen Arbeitsmarkt genommen werden kann. Dies lehnen wir ab. Deshalb werden wir auch Ihren Antrag ablehnen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Heinz Schemken von der CDU/CSU-Fraktion.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem Antrag „Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht“ spricht die F.D.P.-Fraktion einen Konflikt an, mit dem wir leben und - davon bin ich fest überzeugt - auch noch lange leben müssen. Auf der einen Seite gibt es eine große Zahl von Arbeitslosen, die saisonbereinigt - ich möchte hier nicht eine Diskussion über den Arbeitsmarkt entfachen sogar steigt. Auf der anderen Seite gibt es Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge, die sicherlich auch gerne einen Arbeitsplatz einnehmen möchten. Vor Ort bitten uns Unternehmer, Handwerker, Händler und die Gastronomen ständig: Helft uns bei einer Genehmigung. Auf der anderen Seite ist es so, daß von der großen Zahl der Arbeitslosen auch welche vermittelt werden sollen. Auf diesen Konflikt möchte ich hinweisen. Zu diesem Konflikt - so sehe ich es wenigstens - ist festzustellen, daß der Frust bei den Unternehmern groß ist. Diese sagen: Ich habe hier eine Frau und einen Mann an der Maschine beschäftigt, die gute Arbeit leisten. Diese Arbeitskräfte kann ich nicht ersetzen, und die Arbeitsverwaltung schickt niemanden. Deshalb wird - ich sage dies ausdrücklich - oft auf qualifizierte arbeitssuchende Asylbewerber und Flüchtlinge zurückgegriffen. Ich sehe das nicht nur unter Lohngesichtspunkten. ({0}) - Ja, ich sage das hier. Vor Ort wenden sich die Betroffenen - verständlicherweise - mit der Bitte an einen - diese Erfahrung wird jeder in seinem Wahlkreis gemacht haben -: Helfen Sie mir doch! Ja, ich möchte arbeiten! Die Unternehmer sagen dagegen: Ich habe eine gute Arbeitskraft, die ich nicht einfach durch einen anderen Arbeitslosen ersetzen kann, weil dieser möglicherweise nicht dieselbe Leistung bringt. Das sind zwei legale Interessen, ({1}) die hier aufeinandertreffen. Die Situation vor Ort ist nicht einfach. Ich sage ausdrücklich: Das, was zusammengehört, müßte auch zusammenkommen. Aber das ist nicht so. Der eine hat bereits Arbeit. Der Chef ist mit ihm zufrieden und möchte mit ihm weiter zusammenarbeiten. Beide haben ihre legitimen Interessen. Das stimmt. Aber es gibt auch noch das große Heer der arbeitslosen Deutschen, EU-Bürger und der lange hier ansässigen ausländischen Mitbürger. Zur Zeit kann dieser Konflikt zwischen den Interessen, die hier aufeinanderprallen, nicht einfach gelöst werden, auch nicht durch den Antrag der F.D.P.-Fraktion, Herr Niebel, so nett und lieb er auch formuliert ist. Ich gehe davon aus, daß Sie auch auf die Initiative des Flüchtlingsrats von NRW Bezug genommen haben. Vor diesem Hintergrund könnte man ja darüber reden. ({2}) Schon über 1,2 Millionen Menschen haben in Deutschland schon einen Arbeitsplatz gefunden, sei es über Saisonarbeit, über Zeit- oder Werkverträge. Diese müssen wir in einem Arbeitsmarkt verkraften, der ohnehin durch die hohe Arbeitslosigkeit unter Druck steht. - Ich will das Thema einmal darstellen. Insofern lassen Sie sich das doch gefallen, wenn ich argumentiere. Die Zahl derer, um die es in diesem Konflikt geht, ist wirklich gering; sie liegt weit unter 100 000, weit darunter. Diese Zahl bezieht sich auf die in dem Verfahren beschiedenen Anträge; das Verfahren sehe ich im übrigen auch so wie Sie. Wir brauchen nicht in diesem Maße Arbeitskräfte von außen, solange wir Menschen von innen, wie ich soeben dargestellt habe, in Arbeit zu bringen haben. Vorrang hat die Vermittlung der Arbeitslosen. Es wäre natürlich zu wünschen - das sage ich hier allerdings auch -, daß die Arbeitslosen, damit es nicht zu dem Frust von Arbeitgebern, von Handwerkern, von Gastronomen und anderen kommt, die ihnen angebotene Arbeit auch annehmen. Ich sage das ausdrücklich: Das wäre sehr gut. Das wäre für die Betroffenen gut, das wäre auch für die Unternehmen gut. Dadurch würde nämlich dieser Konflikt nicht so hervortreten. Diese Zusammenhänge kann man dem Bürger draußen kaum erklären; ich sage das ausdrücklich. Auf der einen Seite steht die große Zahl der vorhandenen Arbeitslosen, auf der anderen Seite plagen wir uns hier damit herum, weitere Menschen in den Arbeitsmarkt einzuführen. Da fragen auch die Bürger draußen - Herr Niebel, Sie haben es soeben für die andere Seite gesagt -, ob wir das eigentlich nicht regeln. Sie fragen: Regeln Sie nicht, daß die, die jetzt schon über lange Zeit arbeitslos sind, dann, wenn sie einen Arbeitsplatz angeboten bekommen, diesen auch annehmen? ({3}) Dies ist auch ein Thema. Deswegen sage ich: Angesichts der Logik und angesichts der vier Millionen Arbeitslosen, die wir nach wie vor in der Bundesrepublik Deutschland haben, bleibt uns augenblicklich keine andere Wahl - man kann über Modifizierungen sprechen -, als dieses Gesetz und diese Regelung, auch wenn wir sie uns vor Ort auch immer wieder genauer anschauen müssen, nämlich die Arbeitserlaubnispflicht, beizubehalten. Ich kann deshalb, Herr Niebel, für die CDU/CSU-Fraktion sagen, daß wir diesem Antrag so nicht folgen können. ({4}) - Ja. - Herr Präsident, Sie gestatten das, weil das Herr Gilges war. Herr Gilges, wir machen so etwas gründlicher. Das wollte ich Ihnen auch einmal sagen. Die Menschen draußen sprechen nämlich gerade auf diesem Felde eine sehr einfache Sprache, und es wäre bedauerlich, Herr Gilges, wenn ich die Sprache hier in Ihrem Beisein übernehmen würde. Das tue ich nicht. Ich wollte das, was ich sagte, begründen. Schönen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Marieluise Beck von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im deutschen Arbeitsgenehmigungsrecht spiegelt sich sehr genau die Geschichte der Zuwanderung nach Deutschland wider: von der gezielten Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer zum Anwerbestopp, von den Ausnahmen zum Anwerbestopp bis hin zu den Werkvertragsabkommen, von der Zulassung von Saisonarbeit zu den Regelungen des Asylkompromisses. Dieses historisch gewachsene Recht ist entsprechend differenziert, und das heißt zugleich auch, es ist unübersichtlich. Unter der alten Bundesregierung und mit Ihrer Beteiligung, meine Damen und Herren von der F.D.P., wurde das Arbeitsgenehmigungsrecht eine Wissenschaft für sich, die nicht nur die betroffenen Ausländer, sondern auch die durchschnittlichen mittelständischen Unternehmer überfordert. Die Unübersichtlichkeit und die Unsicherheit bei den Arbeitgebern führt immer wieder dazu, daß auch Ausländer, denen der deutsche Arbeitsmarkt an sich offensteht, nicht eingestellt werden. So wirkt das Recht in der Tat oft diskriminierend. Vor diesem Hintergrund hat der Vorschlag der F.D.P., das Arbeitsgenehmigungsrecht einfach abzuschaffen, durchaus einen gewissen Charme. ({0}) Dies würde zumindest einen beträchtlichen Abbau an Bürokratie bedeuten. Aber man kann diesen Vorschlag nicht ohne den gleichfalls von der F.D.P. eingebrachten Entwurf für ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz lesen. ({1}) Dieser Gesetzentwurf, der ja wesentlich unverstellter argumentiert als der Antrag, der uns heute vorliegt, hat seine Tücken. Die Liberalen können das Arbeitsgenehmigungsrecht nämlich nur so freiweg abschaffen, weil sie den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt sehr rigide über die Quotierung von Zuwanderung regeln wollen. Sie tun dies auf eine Art und Weise, die nun ganz und gar nicht mehr liberal, geschweige denn sozial ist. ({2}) Über die Quoten wollen sie die wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik mit den humanitären Verpflichtungen und der Verpflichtung zum Schutz der Familie verrechnet wissen. Diesen Weg gehen wir nicht mit. Richtig bleibt die Einsicht, daß im Arbeitsgenehmigungsrecht etwas passieren muß. Dabei können wir uns nicht so einfach über die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt hinwegsetzen. Wir können nicht einfach die Grenzen öffnen und jeden, der Arbeit sucht, ins Land bitten. Das hieße, die Augen vor den Realitäten des Arbeitsmarktes zu verschließen. Aber - dieses Aber möchte ich sehr groß geschrieben wissen - wir müssen bei einer Revision des Arbeitsgenehmigungsrechtes die Idee der Integration in den Mittelpunkt rücken; wir müssen diese Idee zum zentralen Kriterium auch im Arbeitsgenehmigungsrecht machen. Der größte Teil der in Deutschland beschäftigten Ausländer hat schon jetzt einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt: Neben Unionsbürgern sind dies vor allem Ausländer mit verfestigtem Aufenthaltsstatus, die schon lange hier leben, und Jugendliche, die hier einen Schulabschluß oder eine Ausbildung gemacht haben. Es sind aber auch Menschen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge gelten, Asylberechtigte, und es sind Ehegatten, die zu Deutschen nachziehen. Bei all diesen Menschen geht man richtigerweise davon aus, daß, wer langfristig hier lebt, auch hier arbeiten können soll. Es gibt jedoch Gruppen, die gezielt außen vor gehalten werden. Es geht vor allem um Asylbewerber, um geduldete Flüchtlinge und um Flüchtlinge aus Bürgerkriegsregionen wie dem Kosovo. Für diese Gruppen ist der Arbeitsmarktzugang im Arbeitsgenehmigungsrecht gleich mehrfach beschränkt: erstens durch Wartefristen, zweitens durch den Grundsatz der Nachrangigkeit und drittens durch den globalen Arbeitsmarktvorbehalt, der den Arbeitsverwaltungen die Möglichkeit eröffnet, auf Grund von Arbeitsmarktdaten die Schotten dichtzumachen. Hier reicht das Motto „doppelt genäht hält besser“ offensichtlich nicht aus. Hinzu kommt der sogenannte Clever-Erlaß von 1997, benannt nach einem Abteilungsleiter im BMA. Diese Weisung an die Arbeitsverwaltung, die noch immer in Kraft ist, verwehrt seit Mai 1997 allen neu einreisenden Asylbewerbern und Geduldeten jeglichen Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie wirkt in der Tat wie ein Zwang zur Sozialhilfe und läuft damit nicht nur den Zielen des Asylkompromisses von 1993 zuwider. Sie nimmt Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, jegliche Möglichkeit der eigenständigen Unterhaltsicherung und damit jegliche Perspektive. Hier bedarf es kurzfristig einer Korrektur, die wir vornehmen werden. Wir brauchen ein geändertes Arbeitsgenehmigungsrecht als Teil einer Integrationspolitik; denn ohne einen Zugang zum Arbeitsmarkt ist Integration nicht zu erreiHeinz Schemken chen. Dies werden wir von der Koalition in den nächsten Monaten angehen. Schönen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion hat ihre Re- de zu Protokoll gegeben.*) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1335 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Dehnel, Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({0}), Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes - Drucksache 14/544 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes - Drucksache 14/1517 ({2}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, Joachim Günther ({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes - Drucksache 14/1540 ({4}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) - Drucksache 14/1876 - Berichterstattung: Abgeordneter Wieland Sorge Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. *) Anlage 3 Als erster Redner hat der Kollege Wolfgang Dehnel von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch im verkehrspolitischen Bereich hat das Versagen der jetzigen Bundesregierung Methode. Sie hat schlicht vergessen, daß das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zum Jahresende ausläuft. ({0}) Wie können Sie sonst den Bürgern und uns in diesem Haus erklären, daß erst jetzt, sechs Monate nach dem Einbringen des CDU/CSU-Entwurfs und nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem grünen Regierungspartner, ein völlig unzureichender Gesetzentwurf des Bundesrats zur Gesetzesverlängerung vorgelegt wird? Der Aufbau Ost und die schnelle Verbesserung der Infrastruktur haben doch angeblich höchste Priorität. Angesichts dieses Vorgehens bezüglich der Verlängerung des von der Regierung unter Helmut Kohl und der CDU/CSU-Fraktion 1991 beschlossenen Gesetzes zur Beschleunigung der Verkehrsplanungen in den neuen Bundesländern wird offenbar, daß unser IC-Tempo bei der Entwicklung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern einem Bummelzugtempo weichen soll. ({1}) Anders gesagt: Die Verkehrsinfrastruktur soll einer Bimmelbahn mit viel Geläute gleichen, aber von Station zu Station im Schneckentempo vorankommen. ({2}) Genauso ist es, Herr Kollege Grund. Mit uns in der CDU/CSU-Fraktion ist dies nicht zu machen. Ich will Ihnen dazu auch eine sehr sachliche Begründung geben. Erstens. Von der Wiedervereinigung bis 1998 hat die Bundesregierung insgesamt rund 165 Milliarden DM in die Verkehrsinfrastruktur Deutschlands investiert, davon rund 72 Milliarden DM in die neuen Bundesländer. Das sind 43 Prozent der Investitionen in die Zukunft der neuen Bundesländer. ({3}) 5 200 Kilometer Schiene sowie 173 000 Kilometer Straßen wurden um-, neu- oder ausgebaut. Etwa 400 Kilometer Autobahnen wurden erweitert bzw. neugebaut und 23 Ortsumgehungen fertiggestellt. Nie zuvor ist in so kurzer Zeit die Infrastruktur einer ganzen Region in einem solchen Umfang modernisiert worden. Dieses Tempo war nur mit der gesetzlichen Grundlage für eine beschleunigte Planung möglich. Der zweite Punkt, warum die CDU/CSU-Fraktion den Bundesratsvorschlag zur Verlängerung des Gesetzes um weitere 10 Jahre Laufzeit unterstützt, ist die eindeutige Beschlußlage aller Landesregierungen und des Bundesrates, dort auch mit Unterstützung der SPDgeführten Länder. Deshalb haben wir unseren eigenen Antrag für erledigt erklärt. Wir wollten sozusagen eine Brücke für SPD und Grüne bauen. Aber Sie gehen wahrscheinlich lieber durch die Täler von Wahlniederlagen als über derartige Brücken. Dies spricht seine eigene Sprache. Sowohl die SPD-Fraktion als auch die Fraktion der Grünen fallen also mit ihrem Vorschlag, um drei Jahre zu verlängern, den Landesregierungen in den neuen Bundesländern in den Rücken. Ich finde, das ist ein ganz schäbiges Verhalten. ({4}) Damit Sie nicht denken, daß dies billige Polemik ist, werde ich Ihnen vorlesen, was eine Zeitung heute dazu von einigen Ministern schreibt. Es sind Ihre Minister, Minister SPD-geführter Länder: Ins gleiche Horn stieß Hartmut Meyer, SPDVerkehrsminister von Brandenburg: „Drei Jahre sind zu kurz. Das führt dazu, daß eine Vielzahl von wichtigen Infrastrukturprojekten ohne die Beschleunigungsinstrumente nicht zeitgerecht realisiert werden können. Die drastische Verringerung der Investmittel des Bundes für die nächsten Jahre verschärft das Problem.“ Je länger das Gesetz in den neuen Ländern gelte, um so langfristiger könne die Bedarfsplanung wichtiger Verkehrsinfrastrukturprojekte sichergestellt werden. Rolf Eggert, Meyers … und Amtskollege aus Schwerin, ergänzte: „Das ist zu kurz, da die Mehrzahl der Ortsumgehungen noch nicht linienbestimmt ist“. Der CDU-Minister aus Thüringen - Herr Sorge, hören Sie zu; er ist zwar von unserer CDU, aber er sagt das gleiche - sagt, daß er absolut für eine zehnjährige Verlängerung eintrete. Das ist die Stimmung in den Ländern, und Sie haben das einfach so gekippt. Dieser Zeitungsartikel von heute liegt auf der Linie dessen, was ich für meinen Redebeitrag zuvor schon vorbereitet hatte. Drittens. Der vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen nach langer Verzögerung und vielen Versprechungen nun endlich vorgelegte Investitionsplan für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen sieht einen Großteil dieser Maßnahmen erst nach dem Jahre 2002 vor. Aus den Regierungspapieren geht demnach eindeutig hervor, daß der Angleichungsprozeß der Planungen für die Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern noch mindestens zehn Jahre dauern wird. Genau diesem auch von Verkehrsexperten der Länder und der Verbände geteilten Standpunkt wird der von Sachsen eingebrachte Bundesratsentwurf gerecht. Meine Damen und Herren, wem schadet also das Tauziehen um eine Nichtverlängerung, wie sie die Grünen sowie die PDS wollen - letztere spricht gar von „kannibalischen“ Verkehrsprojekten; so gestern im Ausschuß geschehen -, ({5}) und um eine zehnjährige Verlängerung, wie es der Bundesrat, vernünftige SPD-Politiker und die CDU/CSUFraktion wollen? Es schadet der weiteren Infrastrukturentwicklung in den neuen Bundesländern. Die Quittung für das Querstellen geben die Bürger in Ostdeutschland bei allen Wahlen seit 1994. Die Grünen sind als Verhinderer einer modernen und umweltfreundlichen Infrastruktur längst erkannt und werden als Partei praktisch kaum noch wahrgenommen. Die PDS hat sich vor Ort derartige Äußerungen gegen den Aufbau Ost und eine moderne Infrastruktur bisher nicht geleistet. Es ist also an der Zeit, dieses Verhalten in der Öffentlichkeit und in den Medien aufzuzeigen. ({6}) Meine Damen und Herren, vor 10 Jahren startete die Bundesregierung einen gewaltigen Aufholprozeß zur Beseitigung der katastrophalen Hinterlassenschaft aus 40 Jahren SED-Diktatur. Gerade in der Verkehrsinfrastruktur waren besonders große Schäden entstanden. Es begann 1989/90 nicht mit Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“, es begann mit 168 Grenzübergangsstellen auf rund 480 Kilometern Grenze zwischen Ost und West. Wer hat das nicht noch alles in Erinnerung? Man muß das an einem Tag wie heute in Erinnerung rufen. Die Begeisterung und die Euphorie der Menschen über die nahe Einheit Deutschlands kannte im bildlichen und menschlichen Sinne wirklich keine Grenzen mehr. Diese Szenen der Freude und das Aufatmen der eingesperrten Menschen kommen mir nun wieder in den Sinn, wenn ich an die folgenden Jahre des unglaublichen Aufschwungs gerade bei der Verkehrsinfrastruktur denke. Noch haben wir aber im Osten Deutschlands einen gewaltigen Rückstand an Ortsumgehungen, Autobahnanbindungen und Vernetzungen der Großstädte gegenüber den alten Bundesländern. Ob dieser weiterhin so schnell aufgeholt werden kann, liegt an der Entscheidung für eine längerfristige Planungsbeschleunigung, an der Bereitstellung genügender Mittel und an der Bereitschaft dafür, dies mit ganzem Herzen zu wollen und diese Maßnahmen nicht nur mit dem Attribut „höchste Priorität“ zu kennzeichnen, sondern auch voranzutreiben. Beides kann man leider auf Grund der enormen Haushaltskürzungen im Verkehrsbereich - vor allem Sachsen ist hier betroffen - und auf Grund des heutigen halbherzigen Vorschlags zur Verlängerung der Geltung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes der Bundesregierung nicht erkennen. ({7}) In diese Herzlosigkeit muß man leider auch den Satz in einem Ministerbrief aus Nordrhein-Westfalen einordnen, der wörtlich lautet: Es ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Privilegierung der neuen Länder und der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, an denen NRW in keinem einzigen Fall trotz seiner Bedeutung für Ost-WestVerkehre partizipiert, in Frage zu stellen ist. Für mich ist das nicht nur unrichtig dargestellt, ({8}) wenn ich vor allem an die Millionen Lkw denke, die von Westfirmen kommen und im Osten anliefern, dann ist diese Äußerung nicht nur herzlos, sondern skandalös. Das ist ein Minister aus Nordrhein-Westfalen. ({9}) - Er ist von der SPD, man muß das schon sagen. Das ist ja bekannt. ({10}) Ich kann Ihnen das auch zeigen, ich habe das wortwörtlich vor mir liegen, aber der Name spielt keine Rolle. ({11}) Ich hoffe und wünsche nur, daß die großartigen Leistungen im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit nicht durch solche unsinnigen Aussagen in den Schatten gestellt werden. Dazu rufe ich alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus auf. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Wieland Sorge, SPD.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Dehnel, wenn man Sie so hört, dann hat man den Eindruck, als ob ab heute im Hinblick auf die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur im Osten das Licht ausgeht. ({0}) Ich möchte zu Beginn auf einige von Ihnen genannte Punkte kurz eingehen, ehe ich mich dem eigentlichen Thema zuwende. Ihrer Beurteilung des Landes Nordrhein-Westfalen zum Schluß Ihrer Rede kann ich entgegensetzen, daß Herr Teufel einen Brief an Herrn Müntefering geschrieben hat, in dem gestanden hat, daß die Bevorzugung des Ostens aufhören müsse und daß man endlich dazu übergehen müßte, wieder an die Westländer zu denken. Ähnlich hat sich Herr Stoiber geäußert. Was sollen also diese Tränen über die Herzlosigkeit von SPD-Landesministern? In einem sind wir uns doch alle einig, nämlich darin, daß die Verkehrsinfrastruktur im Osten noch unbedingt verbessert werden muß. ({1}) Ich habe mit Vertretern aller neuen Bundesländer gesprochen und einmal ganz ernsthaft folgende Frage gestellt: Glauben Sie wirklich, daß wir das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz noch zehn Jahre benötigen? Oder ist es, wenn wir die Projekte jetzt beschleunigt angehen, nicht möglich, das gesetzte Ziel in einer kürzeren Frist zu schaffen? ({2}) Eine Schiffahrtsdirektion beispielsweise hat gesagt: Mit einer Verlängerung der Geltung dieses Gesetzes um drei Jahre können wir leben. Andere Einrichtungen haben sich dazu ähnlich geäußert. Ich könnte Ministerpräsidenten nennen - das will ich jetzt aber nicht tun -, mit denen ich gesprochen habe und die gesagt haben: Wir sehen in einer dreijährigen Verlängerung eine Chance. Am Ende werden wir sehen, ob es notwendig ist, einer weiteren Verlängerung zuzustimmen. ({3}) Das Hauptziel des wiedervereinigten Deutschlands bestand darin, die Lebensverhältnisse im Osten so schnell wie möglich denen des Westens anzugleichen. Dies galt - ähnlich wie in anderen Bereichen - auch für das Gebiet der Verkehrsinfrastruktur. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde 1991 das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz erlassen. Die Planungsdauern für Großprojekte des Bundes wurden damit erheblich verkürzt. Die damalige Bundesregierung ging davon aus, daß eine zeitliche Befristung bis Ende 1999 ausreichen würde. Die entscheidende Frage lautet jetzt: Ist das Ziel einer Angleichung der Verkehrsinfrastruktur an das Niveau im Westen schon erreicht? Hier die klare Antwort: Nein. Trotz großer Fortschritte bei der Realisierung der insgesamt 17 Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, trotz der Wiederherstellung und Erweiterung bestehender Straßen- und Schienenverbindungen sind die Verkehrswege im Osten dem Bedarf noch längst nicht gewachsen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ursachen sind zum einen die völlig desolate Situation der Verkehrsinfrastruktur im Osten kurz nach der Wende, zum weiteren die fehlenden personellen und institutionellen Kräfte, die notwendig gewesen wären, um die Umsetzung der Regelungen schnell voranzutreiben und zum anderen die Rechtsunsicherheit, die durch die ungelösten Eigentumsfragen immer wieder auftauchte. Es fehlte den Personen, die in den zuständigen Stellen plötzlich neu eingestellt worden sind, an Erfahrung. Es fehlten eine Reihe von rechtlichen Grundlagen, die erst geschaffen werden mußten, um dieses Beschleunigungsgesetz überhaupt zur Anwendung zu bringen. Die zweite Frage lautet nun: Hat sich das Beschleunigungsgesetz in den letzten acht Jahren, in denen es zur Anwendung kam, bewährt? Hier muß ich klar sagen: Ja. Ich will dabei nicht verschweigen, daß die Fraktion der SPD seinerzeit Bedenken gegen dieses Gesetz angemeldet hatte, hauptsächlich deswegen, weil der Klageweg gegen geplante Projekte auf nur eine Instanz, nämlich das Bundesverwaltungsgericht, beschränkt wurde. ({4}) In der Praxis hat sich aber gezeigt, daß die Einbeziehung des Bürgerwillens in den Planungsgang durch dieses Gesetz nicht beschränkt oder gar ausgehebelt wurde. Ich selbst habe an einzelnen solcher Veranstaltungen teilgenommen und habe immer wieder gestaunt, wie sich die Bürger eingebracht haben. Ich kenne einige Beispielsfälle, in denen der jeweilige Bürgermeister es fertiggebracht hat, die Strecken noch einmal zu verändern. Die Planungsdauer der Verkehrsprojekte konnte dadurch aber erheblich gesenkt werden, so daß wir den heutigen Planungs- und Ausbaustand ohne diese Sonderregelung mit Sicherheit nicht erreicht hätten. Wir sind deshalb dafür, die Geltungsdauer des Gesetzes zu verlängern. Wir wollen aber keine unbefristete Verlängerung, wie es die CDU/CSU-Fraktion fordert; denn es geht hier um eine Sonderregelung, nicht um eine allgemeine Verlängerung im Planungsrecht. Wir wollen auch keine Ausdehnung dieser Regelung auf das gesamte Bundesgebiet, wie es die Kollegen von der F.D.P. vorgeschlagen haben; denn ein Großteil der Regelungen des Beschleunigungsgesetzes wurde bereits 1993 durch das Planungsvereinfachungsgesetz für das gesamte Bundesgebiet übernommen. Wir wollen eine vernünftige und maßvolle Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes. Eine Begrenzung der Gültigkeitsdauer ist notwendig, um so früh wie möglich zu einer bundeseinheitlichen gesetzlichen Regelung zurückzukommen und nicht auf Dauer ungleiches Recht in Ost und West zu etablieren. ({5}) Den Ländern muß dabei ein bedarfsgerechter Zeitraum zur Verfügung gestellt werden, um die Planungsmaßnahmen voranzutreiben. Aus diesen Gründen stimmen wir dem Gesetzentwurf des Bundesrates zwar grundsätzlich zu, halten aber eine Verlängerung der Geltung dieser Ausnahmeregelung um drei Jahre für ausreichend. Ob danach eine weitere Verlängerung notwendig ist - dazu haben wir gestern einen Beschluß gefaßt -, entscheidet sich, wenn ein Jahr vor Ablauf der Verlängerung der Bericht vorliegt, aus dem dies klar hervorgehen soll. Die SPD hat signalisiert, daß sie bereit ist, einer weiteren Verlängerung zuzustimmen, wenn dies notwendig erscheint. ({6}) Lieber Herr Dehnel, Sie haben gesagt, daß die Verkehrsinfrastruktur im Rahmen des Investitionsprogramms durch die Verlängerung der Geltungsdauer um drei Jahre gefährdet sei. Alle Projekte, die im Investitionsprogramm für die Zeit von 1999 bis 2002 enthalten sind, sind bereits vom Gesetz erfaßt. Diesen Projekten kann also überhaupt nichts mehr passieren. ({7}) - Ich komme gleich darauf zu sprechen. - Wir haben doch festgelegt, daß die Projekte bereits mit Antragstellung auf Linienbestimmung, auf Planfeststellung oder Plangenehmigung automatisch von diesem Gesetz erfaßt werden. Nun zu Ihrem Zuruf, Herr Dehnel, „2002“. Wir hatten vor Inkrafttreten dieses Gesetzes eine ungünstige Situation - ich habe sie schon geschildert -: Viele Voraussetzungen, um dieses Gesetz schnell in die Praxis umzusetzen, waren nicht gegeben. Heute, acht Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes, sind die Voraussetzungen natürlich viel besser. Heute haben wir Juristen, die in der Lage sind, einen solchen Vertrag auch bestandsrechtlich zu prüfen und einzubringen. Heute haben wir eine Verwaltung, die in der Lage ist, auch kurzfristig die Genehmigung zu erteilen - natürlich nicht unter Ausschluß der Bestimmungen, die dafür notwendig sind. Heute haben wir natürlich auch größere Planungsbüros, so daß diese Aufgabe gelöst werden kann. Wir wollen noch eines erreichen, Herr Dehnel, nämlich daß sich die Länder ganz intensiv dieser Aufgabe widmen. Wenn sie davon überzeugt sind, daß die Projekte in der nächsten Zeit schnell umgesetzt werden können, dann wollen wir die Länder etwas unter Druck setzen, indem wir sie, wenn die Kapazität nicht ausreicht, um die restlichen Projekte aufzunehmen, zwingen wollen, das Personal aufzustocken, die technischen Kapazitäten zu erweitern und in den Verwaltungen noch intensiver zu arbeiten. ({8}) - Richtig, ich kann natürlich bestätigen, daß die Leute in den einzelnen Ämtern vor allen Dingen am Anfang, als es für sie ganz schwierig war und sie völlig verunsichert waren, oft keine Entscheidung fällten, weil sie Angst hatten, entlassen zu werden. Es handelte sich bei ihnen sozusagen um Neueinstellungen, und jeder Fehler, der ihnen hätte nachgewiesen werden können, hätte die Möglichkeit eröffnet, sie zu entlassen. Aus dem Grunde waren sie bei Entscheidungen sehr zögerlich. In diesem Bereich hat man aber sehr viel gelernt, und man muß den Leuten heute ein Kompliment machen, gerade da die Voraussetzungen jetzt viel besser sind. Überlegen Sie einmal: Es mußten Planungen für die 17 beschlossenen Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ mit über 2 000 Kilometer Schienen- und Straßenstrecken erstellt werden. Es steckt doch eine wahnsinnig umfangreiche Arbeit dahinter. Heute, nach acht Jahren, kann man sagen, daß die Hauptplanungen durchgeführt wurden. Es ist richtig, jetzt noch die ausstehenden Ortsumgehungen und Anbindungen von Autobahnen - Sie erwähnten es ja - in Angriff zu nehmen. Wir sind der Meinung, daß das mit den uns heute zur Verfügung stehenden Mitteln in drei Jahren zu schaffen ist. Wir wollen doch die Trennung der beiden Teile nicht zementieren, sondern die Einheit herbeiführen. ({9}) Deshalb wollen wir so schnell wie möglich, daß gleiches Recht in Gesamtdeutschland gilt. Damit werden natürWieland Sorge lich die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Lebensverhältnisse in den beiden ehemaligen Teilen Deutschlands einheitlich zu gestalten. Ich danke. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren wurden die Voraussetzungen für ein einheitliches Deutschland geschaffen. Die DDR hatte uns damals eine desolate Infrastruktur hinterlassen. Diejenigen, die die damalige Zeit erlebt haben, wissen, wie beschwerlich es war, mit dem Trabant oder dem Wartburg über die damaligen DDR-Fernverkehrsstraßen zu fahren. Vor diesem Hintergrund ist es um so beeindruckender, zu sehen, welche Leistungen beim Aufbau des Straßen-, Schienen- und Wasserstraßennetzes in den neuen Bundesländern bisher erbracht worden sind. Darüber hinaus haben alle neuen Bundesländer entweder ihren Flughafen ausgebaut oder neu gebaut. Der zügige, wenn auch kostenaufwendige Ausbau der Verkehrsinfrastruktur war und wird auch in Zukunft der Schlüssel zum Aufbau einer leistungsstarken Wirtschaft sein. Neben hohen materiellen Aufwendungen war es das Verdienst der früheren Bundesregierung, für den Aufbau der Infrastruktur Sonderregelungen zu erlassen, die den Ablauf der vereinigungsbedingten Verkehrswegeplanung erleichterten. So wurden durch das bereits 1991 auf den Weg gebrachte Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz strenge Fristen für Behörden vorgegeben, vereinfachte Verfahren für die Enteignung bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen festgelegt sowie die gerichtliche Überprüfung von Planungsbeschlüssen auf eine Instanz beschränkt. Die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für die Anfechtungsklagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse oder Planungsgenehmigungen führt zweifellos zur Verkehrswegeplanungsbeschleunigung. Gerade diese prozessuale Vereinfachung könnte für die verschiedenen noch anstehenden Projekte - hier erinnere ich an den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld - von großer Bedeutung sein. ({0}) In den neuen Bundesländern gibt es derzeitig 180 bekannte Verkehrsprojekte, bei denen die Anmeldung des Planfeststellungsverfahrens bereits erfolgt oder erst nach dem Auslaufen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes Ende dieses Jahres erfolgt. Um den weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mittels der neuen Verkehrsprojekte zu beschleunigen und um die guten Erfahrungen, die in den letzten acht Jahren gesammelt worden sind, zu nutzen, spricht sich die F.D.P.Bundestagsfraktion für eine weitere Verlängerung der Geltung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes um zehn Jahre aus. ({1}) Die Bundesregierung wird gebeten, dem Bundestag ein Jahr vor dem Auslaufen des in seiner Gültigkeit verlängerten Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes einen Erfahrungsbericht vorzulegen, der Aufschluß über die nach diesem Gesetz geplanten Verkehrsprojekte und die beschleunigenden Effekte auf Grund dieses Gesetz gibt. Danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Warum hat die Regierung Helmut Kohl 1991 das Beschleunigungsgesetz eigentlich befristet? ({0}) - Hören sie einmal zu, Herr Fischer! - Sie hat dieses Gesetz befristet, weil es eine ganze Reihe von Sonderregelungen beinhaltet, die die Beteiligungsrechte und auch die persönlichen Rechte im Bereich des Eigentumsschutzes sowie die Wahrnehmung von Rechtswegen faktisch zumindest verkürzt oder einschränkt. Ich will Ihnen diese Beschränkungen ganz konkret nennen: Die erste Beschränkung ist, daß es nur noch eine Instanz für Anfechtungsklagen gegen Planfeststellungsbeschlüsse gibt. Die zweite Beschränkung umfaßt die Sonderregelung für ungeklärte Eigentumsverhältnisse, und die dritte Beschränkung die gesetzliche Anordnung der Sofortvollziehung für Planfeststellungsbeschlüsse. Diese Beschränkungen haben den Charakter von Sonderregelungen, der uns immer dazu veranlaßt hat, gegen diese Regelungen mit großen politischen Bedenken zu argumentieren. Diese Bedenken waren auch der früheren Regierung offenbar nicht ganz fremd, sonst hätte sie das Gesetz nicht befristet. Nun liegen die Gesetzentwürfe von CDU/CSU und F.D.P. auf dem Tisch des Hauses. Der Gesetzentwurf der CDU/CSU sieht vor, eine unbefristete Verlängerung, also eine unbefristete Geltungsdauer dieses Beschleunigungsgesetzes, einzuführen. Man muß sich dies einmal vor Augen führen: Der Charakter der Sonderrechte, den die alte Regierung noch erkannt hat und der für sie Anlaß war, eine Befristung einzuführen, wird nun nicht mehr zur Kenntnis genommen. Die Partei, die sich - übrigens mit einem gewissen Recht - als Partei der Einheit bezeichnen kann, will in Sachen Verkehrswegeplanung offenbar für immer und ewig ein geteiltes Rechtsgebiet in Deutschland haben. Das ist geradezu absurd. ({1}) Die F.D.P. setzt mit ihrem Gesetzentwurf aber noch eins drauf. Die ehemaligen Liberalen, die früher einmal für Bürgerrechte und Beteiligungsrechte standen, wollen nicht nur die Verlängerung der Gültigkeitsdauer des Gesetzes um weitere 10 Jahre, sondern sogar die Ausdehnung des Geltungsbereiches auf das gesamte Bundesgebiet. Das muß man sich einmal vorstellen: Die Beschleunigung der Verkehrswegeplanung, die damals ausdrücklich mit der Zusammenführung höchst ungleicher Lebensverhältnisse und Verkehrsverhältnisse begründet wurde, wird nun umgekehrt, also geradezu auf den Kopf gestellt, als ob die Verhältnisse des Westens an die Verhältnisse des Ostens angeglichen werden müßten. Was sollte sonst die Begründung sein? ({2}) Eine materielle Begründung sucht man im F.D.P.Gesetzentwurf vergeblich. Das ist Billige-Jakob-Politik nach dem Motto: Wir setzen noch eins drauf. Wer bietet mehr? ({3}) Warum aber befristet die Bundesregierung jetzt die Verlängerung dieses Gesetzes auf drei Jahre? Herr Kollege Sorge hat dies ja schon plausibel begründet. Ich will noch einmal die aus unserer Sicht wichtigsten drei Gründe in Erinnerung rufen: Erstens. Eine Befristung auf nur drei Jahre ist ein Signal, sich eben nicht zehn Jahre oder gar länger Zeit zu lassen, um die noch nicht auf den Weg gebrachten Maßnahmen endlich auf den Weg zu bringen, sondern jetzt unverzüglich die so beschleunigsbedürftigen Projekte tatsächlich zu beschleunigen und wirklich mit den Planungen anzufangen. Der Beginn der Planungen ist für die Geltungsdauer entscheidend. Ein Projekt, das im Rahmen der Geltungsdauer dieses Gesetzes auf den Weg gebracht worden ist, genießt die Regelungen dieses Gesetzes bis zur Fertigstellung. Das heißt, faktisch geht es nicht um drei Jahre, sondern um einen wesentlich größeren Zeitraum. Der zweite Grund ist, daß wir den Charakter der Sonderregelung ernst nehmen und dieses gespaltene Rechtsgebiet nicht auf immer und ewig in Deutschland zementiert haben wollen. Vielmehr wollen wir eine Vereinheitlichung der Rechte im Sinne einer Zusammenführung der Rechtsverhältnisse herstellen. Dritter Grund. Wir wollen damit deutlich machen, daß das Planungsvereinfachungsgesetz, das seit 1993 gilt und einige Elemente dieses Beschleunigungsgesetzes bundesweit in Kraft gesetzt hat und das nicht befristet ist, ausreicht, um künftig im gesamten Rechtsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für ein adäquates Planungs- und Verwirklichungstempo zu sorgen. ({4}) Letzter Punkt, der deutlich macht, daß Ihre Aufregung ziemlich künstlich ist. Sie waren doch diejenigen ich komme zum Anfang meiner Ausführungen zurück -, die 1991 geglaubt haben, man müsse, wenn man schon etwas macht, was verfassungsrechtlich bedenklich ist, dies befristen. Wir tun das jetzt auch, tun also genau dasselbe, was Sie damals getan haben. Wir setzen allerdings eine andere Frist, weil wir nicht mehr 1991 schreiben, sondern 1999. Wenn denn künftige Generationen der Auffassung sein sollten - der Kollege Sorge hat das angesprochen -, daß in drei Jahren wieder darüber diskutiert werden muß, ob die Befristung ausreichend ist, so ist es dem Parlament unbenommen, eine neue Entscheidung zu treffen. Wir tragen den Entscheidungsvorschlag der Bundesregierung mit, obwohl uns das aus persönlichen, politischen und rechtlichen Gründen sehr schwerfällt. Aber wir stehen dazu und halten die jetzt vorgeschlagene Regelung für ausreichend und angemessen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner in dieser Aussprache hat das Wort der Kollege Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um ehrlich zu sein: Ich halte die Debatte um dieses Gesetz für ein gewolltes großes Mißverständnis, wobei auf die Gutgläubigkeit der Ossi-Bürger und die Profitwütigkeit von Wessi-Baukonzernen spekuliert wird. ({0}) Gleichzeitig wird - wie gerade gesagt wurde - die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung über alle Maßen strapaziert. Dazu drei Argumente. Erstens. Aus verfassungsrechtlicher Sicht handelt es sich um ein ausgesprochenes Sondergesetz. Es schafft ein Sonderrecht für einen Sonderraum, nämlich die neuen Länder. Unter anderem gibt es wie gerade ausgeführt wurde, falls Bürger rechtliche Schritte gegen eine Trasse unternehmen wollen, nur eine einzige erste und letzte Instanz. Dieses Gesetz wurde mit dem Vorliegen einer besonderen Situation, nämlich der fehlenden Verkehrsinfrastruktur bzw. deren mangelhafter Qualität in den neuen Ländern begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Rechtmäßigkeit dieses Sondergesetzes befaßt und dabei explizit entschieden, dies sei nur für eine begrenzte Zeit hinnehmbar. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Geltungsdauer eines Gesetzes, das ursprünglich fünf Jahre Bestand haben sollte, nach zehn Jahren erneut verlängert werden soll, nach einem gestern vorgelegten Antrag der CDU/CSU sogar auf unbefristete Zeit, zumal nach diesem Gesetz alle begonnenen Verkehrswege, Herr Kollege Sorge, und alle vorliegenden Planungen für den Verkehrswegebau vollendet werden können, also auch dann, wenn das Gesetz ausläuft. Albert Schmidt ({1}) Zweitens. 1991 argumentierten Grüne, Umweltverbände und Teile der SPD gegen dieses Gesetz. Der BUND nannte das Ganze - vielleicht war das überzogen - ein „Ermächtigungsgesetz gegen Mensch und Natur“. Zu Recht wiesen die Grünen damals auf den grotesken Tatbestand hin, daß selbst eine Klage beim Bundesverfassungsgericht keine aufschiebende Wirkung habe, daß während des Verfahrens trotz Klage weitergebaut werden könne und am Ende gelte: Operation gelungen, Patient tot. Was sollte sich an dieser Sachlage, an diesen Argumenten bis heute geändert haben außer der Tatsache, daß in den vergangenen zehn Jahren einige tauschend Kilometer neue Straßen gebaut wurden, aber so gut wie keine Schienen in den neuen Ländern? Drittens. Bei dem Gesetz geht es nicht um mehr Verkehrswege und schon gar nicht um mehr Arbeitsplätze. Es geht ausschließlich um schnellere Planung durch Reduktion von Bürgerbeteiligung. Kollege Dehnel, ich habe nicht von einer Kannibalisierung von Projekten gesprochen, sondern von einer Kannibalisierung des Planungsrechts. Das sagt die F.D.P. überall, das gleiche die CDU/CSU immerfort und SPD und Grüne bis zur Abwahl dieser Regierung wahrscheinlich auch. Die Planungszeiten entscheiden nur darüber, ob etwas gründlich geplant wird und ob dabei die Interessen von Mensch und Natur gewahrt bleiben. Der Umfang dessen, was gebaut wird, wird an anderer Stelle festgelegt, nämlich im Investitionsetat für Straße, Schiene, Binnenschiffahrt und Luftverkehr. Hier - das wurde gesagt weisen die Begehrlichkeiten in eine andere Richtung. Die Westländer klagen nun, daß zu viele Mittel gen Osten flössen und das wieder mehr im Westen gebaut werden solle. Siehe dazu die Aussage des Kollegen Sorge zu Teufel und Stoiber und deren unchristliche Eigenliebe in den einheimischen Beton.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wolf, kommen Sie bitte zum Schluß.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das Ganze ist ein großes Mißverständnis. Es verhält sich so wie im Film „Jour de Fête“, „Schützenfest“, von Jacques Tati: Der wahnwitzig radelnde Briefträger brüllt: „Rapide, rapide!“, also „Schnell, schnell!“. Er liefert aber deswegen nicht mehr Post und keine höheren Rentenbescheide aus, sondern er stürzt in die Gosse und verpaßt ab und zu den richtigen Briefkasten. Deshalb glaube ich, daß wir das Gesetz in jeder Art der Verlängerung ablehnen sollten. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Kollege Helmut Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen hat um eine Kurzintervention gebeten. Ich bitte allerdings, die fortgeschrittene Zeit zu beachten. Bitte schön, Herr Wilhelm.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich gehe selbstverständlich davon aus, daß wir alle hier auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Allerdings fällt mir schon auf, daß von seiten der F.D.P. und der CDU die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht hinreichend beachtet wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen wenn auch nicht im Tenor, so doch inzidenter - erklärt, daß es sich hierbei angesichts der Folgen der deutschen Einheit und der Notwendigkeit der Herstellung gleichartiger Lebensverhältnisse nur um ein Ausnahmerecht handeln könne. Daß die F.D.P. dem Ganzen noch eines draufsetzt und noch nicht einmal verfassungsrechtliche Bedenken bekommt, nicht nur den Rechtsweg auf eine Instanz zu verkürzen, sondern nur noch ein einziges Gericht, nämlich das Bundesverwaltungsgericht in Berlin, für ganz Deutschland, von Flensburg bis Berchtesgaden, von Freiburg bis Stralsund, für zuständig zu erklären, verwundert mich sehr. Meine Damen und Herren von der F.D.P., die Idee ist ausbaufähig: nur noch ein Sozialgericht, nur noch ein Finanzgericht, nur noch ein Zivilgericht für Deutschland. Machen wir weiter so. Ob sich das noch Rechtsstaat nennt, weiß ich nicht. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes, Drucksachen 14/1517 und 14/1876 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Zustimmung der SPD-Fraktion und der großen Mehrheit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Gegenstimmung der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und der PDS-Fraktion ({0}) - Bitte? - Gegenstimmen. ({1}) - bei einigen Zustimmungen aus der F.D.P.-Fraktion, wenn ich das richtig gesehen habe, angenommen. Ich komme damit zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({2}) Wer enthält sich? - Damit ist die Lage wieder geklärt. Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung bei Zustimmung der Fraktion der SPD und der großen Mehrheit von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS bei zwei Enthaltungen aus der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktion der F.D.P. zur Änderung des Ver- kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auf Druck- sache 14/1540. Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/1876 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der F.D.P. auf Drucksache 14/1540 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetz- entwurf bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion und einiger Kollegen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen und der Mehrheit der CDU/CSU- Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Verkehrswe- geplanungsbeschleunigungsgesetzes. Der Ausschuß emp- fiehlt auf Drucksache 14/1876 unter Nr. 3, den Gesetz- entwurf auf Drucksache 14/544 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Beschlußempfehlung einstimmig Folge geleistet wor- den. Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- sen empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/1876 die Annahme einer Entschlie- ßung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist dieser Beschlußempfehlung bei Enthaltung der PDS- Fraktion sowie zweier Abgeordneter von Bündnis 90/ Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen zugestimmt worden. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 11a und 11b auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Besteuerung von Luxusgegenständen - Drucksachen 14/27, 14/1613 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Barbara Höll b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu dem Antrag der Fraktion der PDS Wiedererhebung der Vermögensteuer - Drucksachen 14/11, 14/1614 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Barbara Höll Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache eine namentliche Abstimmung durchführen werden. Ich denke, die PDS bleibt bei ihrer Forderung nach namentlicher Abstimmung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Als erste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde beraten wir heute in zweiter und dritter Lesung einen Antrag der PDS zur Vermögensbesteuerung. Wir demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten schlagen vor, daß der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern möge, einen Gesetzesvorschlag zur Wiedererhebung der Vermögensteuer auf reformierter Bemessungsgrundlage vorzulegen. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben ein Jahr nach dem Regierungswechsel das Recht, zu erfahren, wie ernst es der rotgrünen Regierungskoalition mit der Umsetzung ihrer eigenen Wahlaussagen ist. Die SPD formulierte wie folgt: Im Sinne eines gerechten Lastenausgleichs werden wir dafür sorgen, daß auch die sehr großen Privatvermögen wieder einen gerechten Beitrag leisten, um Bildung und andere öffentliche Dienstleistungen finanzieren zu können. ({0}) Ihr Koalitionspartner war da sogar noch etwas genauer: Sie wollten die Vermögensteuer in Höhe von 1 Prozent wieder einführen. Vermögen bis zu 400 000 DM sollten steuerfrei bleiben. Politikerinnen und Politiker sind in der Pflicht, deutlich zu machen, wie jeder und jede einzelne von ihnen gewillt ist, diese ihre Wahlversprechen tatsächlich einzulösen. Aus diesem Grund hat die PDS für heute abend eine namentliche Abstimmung beantragt. Ich weiß natürlich, daß Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben, eine Sachverständigenkommission einzuberufen, die die Grundlage für eine wirtschaftlich und steuerpolitisch sinnvolle Vermögensbesteuerung schaffen sollte. Diese Kommission arbeitet, leider jedoch ohne Zeitvorgabe. Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mußten allerdings im Laufe des letzten Jahres schmerzhaft erfahren, daß sowohl der Bundeskanzler als auch Herr Eichel ganz genau zu wissen scheinen, wo sie einsparen können und dabei der Masse der Bevölkerung neue Massen aufbürden können, ob das durch die Ökosteuer war oder ob es die Abkoppelung der Rentenentwicklung von der Nettolohnentwicklung ist. Arbeitslose sollen allein im nächsten Jahr mit rund 7 Milliarden DM zur Konsolidierung des Bundeshaushalts beitragen. Dies war und bleibt sozial ungerecht. ({1}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wir möchten heute von Ihnen wissen, ob Sie überhaupt noch gewillt sind, nun endlich auch die wirklich Vermögenden zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen. Herr Schröder disqualifizierte die Diskussion um die Vermögensbesteuerung als eine Diskussion um Symbole, und Herr Metzger von den Grünen hält die Vermögensteuer inzwischen für ideologischen Quatsch. In einer Situation, in der die Bundesrepublik auf einem Schuldenberg von 2,1 Billionen DM, also 2 100 Milliarden DM, sitzt, wird sehenden Auges auf eine Einnahmequelle verzichtet. Dies ist konsequent: konsequent sozial ungerecht und die Fortführung eines eingeschlagenen Weges; denn bereits mit der Veränderung der Einkommensteuer zum 1. Januar 2000 werden die Bezieher großer Einkommen sogar überproportional entlastet. Durch die Absenkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 51 Prozent gehen der öffentlichen Hand etwa 2 Milliarden DM verloren, durch die weitere Absenkung im nächsten Schritt sogar noch einmal 2,5 Milliarden DM. Sagen Sie heute klipp und klar, ob Sie bereit sind, die ungerechte Lastenverteilung zwischen den wirklich Reichen und den Millionen Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen zu korrigieren. Verweisen Sie nicht auf den Leitantrag des SPD-Parteitages im Dezember; denn die vorgeschlagene schwammige Formulierung ist eine bloße Wiederholung des, wie sich heute zeigt, unverbindlichen Wahlprogramms. Genau ein Jahr nach der Regierungsübernahme erwartet die Bevölkerung eine klare Position und konkrete Vorschläge, aber keine Feigenblätter. Armut und Reichtum sind zwei Seiten einer Medaille. Der letzten Erhebung - solche Erhebungen sind jetzt ja leider nicht mehr möglich - konnte man entnehmen, daß 1995 1 Prozent derjenigen Menschen, die zur Vermögensbesteuerung veranlagt waren, über 28 Prozent des Gesamtvermögens, nämlich über knapp 300 Milliarden DM, verfügten. 1995 gab es mehr als 155 000 Vermögensmillionäre; ihre Zahl erhöhte sich innerhalb von drei Jahren um 18 Prozent. 296 Haushalte in der Bundesrepublik verfügen jeweils über ein Vermögen von über 100 Millionen DM. Allerdings stieg auch die Zahl der Sozialhilfeberechtigten in den letzten Jahren rasant an. Beides hängt zusammen: Je ärmer ein Großteil der Bevölkerung wird, desto mächtiger und reicher wird eine sehr kleine Gruppe. Als wir vor Jahren hier über die Aussetzung der Vermögensteuer diskutiert haben, haben Sie noch davon geredet, daß der Wegfall durch die Erbschaftsbesteuerung aufgefangen werden sollte. Aber das war weit gefehlt. Schaut man sich die realen Zahlen an, so stellt man fest, daß das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer 1997 4,06 Milliarden DM und 1998 4,8 Milliarden DM betrug, also bei weitem nicht die fehlenden 6,7 Milliarden DM, die die Vermögensteuer noch 1992 erbrachte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höll, kommen Sie bitte zum Schluß.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluß. Der öffentlichen Armut steht ein immenser privater Reichtum gegenüber: Die privaten Geldvermögen werden auf über 5 000 Milliarden DM geschätzt. Während die Belastung aus der Lohnsteuer und aus Sozialabgaben stetig stieg, wurden die Empfänger von Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen systematisch entlastet. Das stammt aus dem Wahlprogramm der Grünen. Genau das ist das Problem: Es geht weder um einen Neidkomplex noch um einen Selbstzweck. Es geht um eine gerechte Lastenverteilung, um das Verfassungsgebot des Ausgleichs sozialer Gegensätze sowie darum, wirklich Vermögende gleichermaßen und gerecht an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Ich bedanke mich. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von der SPD-Fraktion das Wort.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute über zwei PDS-Anträge zu debattieren. Der erste bezieht sich auf den Vorschlag, einen dritten Mehrwertsteuersatz für sogenannte Luxusgegenstände einzuführen. Dazu möchte ich ein paar kurze Bemerkungen machen. Wie Sie dem Bericht des Ausschusses entnehmen können, haben die Koalitionsfraktionen diesen Antrag vor allem aus einem Grunde abgelehnt, weil es nämlich nahezu unmöglich ist, abzugrenzen: Was sind normale Güter? Was sind Luxusgüter? Frau Kollegin Höll, vielleicht ist das aus der Sicht der PDS ein bißchen anders, weil es eventuell eine nostalgische Erinnerung an das gibt, was jederzeit einigermaßen verläßlich in der „Kaufhalle“ zu bekommen war und was es nur im „Exquisit“-Laden, vielleicht auch nur im „Intershop“ gab, das aber auch nicht immer ganz verläßlich. ({0}) Ich zähle einmal ein paar Beispiele auf: Pulverkaffee, Taschenrechner oder, was besonders schwierig war, Südfrüchte. ({1}) Oder es gab manchmal das große Problem, daß der eine oder andere Wandfliesen haben wollte. Ein ganz großes Problem waren übrigens Weckgummis. Weckgummis gab es weder in den „Exquisit“-Läden noch im „Intershop“. Das war ein ausgesprochener Luxusgegenstand. Insofern war das schwierig. Dafür gab es darauf aber keinen zusätzlichen Umsatzsteuersatz in einstigen klaren Zeiten. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Spiller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich habe nur die eine Frage, ob Ihnen außerhalb des Kabarett-Programms bekannt ist, daß der Finanzgerichtshof in München, als wir noch eine Vermögensteuer hatten, Luxus ausreichend definiert hat, so daß es sehr wohl eine Grundlage gibt, festzustellen, wo Luxus beginnt und was nicht darunter fällt. ({0})

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, ob Sie sich mit Ihrem Antrag näher befaßt haben. Wir haben jedenfalls in der Debatte im Ausschuß festgestellt: Auch der antragstellenden Fraktion fiel es ausgesprochen schwer, auf konkrete Fragen konkret zu antworten, wie man das abgrenzt. Ich glaube, wir sollten uns diesem Thema nicht weiter widmen. Das andere Thema, die Vermögensteuer, ist ein zu ernstes Thema, um daraus einen Schaufensterantrag zu machen. ({0}) Auch da darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, in den Bericht des Ausschusses zu schauen. Wir haben als Koalitionsfraktionen sehr ernsthaft darauf hingewiesen, daß das Thema Vermögensbesteuerung nicht von einem korrekten Verfahren zur Bewertung des Vermögens zu trennen ist. Deswegen wird völlig zu Recht in dem Bericht dargelegt, daß wir für eine saubere Behandlung im Deutschen Bundestag bei der Gesetzgebung zunächst einmal eine deutliche Klärung brauchen: Wie gehen wir mit den Vorgaben des Verfassungsgerichtes um? Ich erinnere daran: Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 in seinem Urteil die Anwendung der bestehenden Vermögensteuer nicht deswegen außer Kraft gesetzt, weil es die Besteuerung von Vermögen für falsch erachtet hat, sondern weil die Ungleichbehandlung zwischen Grundvermögen und Geldvermögen ein solches Ausmaß angenommen hatte, daß der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes verletzt war. Das war eine sehr eindeutige Begründung des Bundesverfassungsgerichtes. Vielleicht erlauben Sie mir, daß ich ein paar Sätze aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Juni 1995 zitiere: Die Vermögensteuer belastet einheitswertgebundenes Vermögen und nicht einheitswertgebundenes Vermögen unterschiedlich. Die Einheitswerte für Immobilien waren zuletzt mit dem Stichtag 1. Januar 1964 in der alten Bundesrepublik ermittelt worden. Für Ostdeutschland sind die Einheitswerte, wenn sie überhaupt existierten, auf Bewertungen in den 30er Jahren zurückzuführen. Daß eine solche Ungleichbehandlung nicht tragbar ist, leuchtet jedem ein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Spiller, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte jetzt gerne im Zusammenhang vortragen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Gut. Keine Zwischenfrage.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, ich möchte auch daran erinnern, daß der Grundsatz, daß das Vermögen ein Maßstab für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und für Wirtschaftskraft ist und deswegen auch ein Maßstab für eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sein kann, davon überhaupt nicht berührt wird. ({0}) Im Gegenteil, es ist geradezu eine Tradition Europas, nicht nur Deutschlands, daß Vermögen zur Finanzierung von öffentlichen Aufgaben herangezogen wird. Ich darf mit Ihrer Erlaubnis aus der Ausgabe „Unsere Steuern von A - Z“ aus dem Jahre 1995 zitieren. Wenn man diese Broschüre aufschlägt, blickt einem zunächst ein sehr freundlich dreinschauender damaliger Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel entgegen. In dieser Broschüre vom Bundesfinanzministerium aus dem Jahre 1995 heißt es zum Stichwort „Vermögensteuer“: Die fortlaufende Erhebung einer Vermögensteuer trägt dem Gedanken Rechnung, daß Vermögen als solches eine zusätzliche Besteuerung rechtfertigt, und zwar nicht nur wegen der laufenden Vermögenserträge, sondern weil bereits das Vorhandensein von Vermögen eine eigene zusätzliche Leistungsfähigkeit begründet. ... Insgesamt führt dies zu einer besonderen steuerlichen Leistungsfähigkeit, deren zusätzliche Besteuerung auch aus sozialund gesellschaftspolitischen Gründen gerechtfertigt und notwendig erscheint. Das schrieb Bundesfinanzminister Waigel 1995. ({1}) Im übrigen, Frau Kollegin Frick, ist das keine neue Erfindung. ({2}) Vermögensbesteuerung gab es in Deutschland unter Wilhelm II., unter dem Liberalen Gustav Stresemann, unter Konrad Adenauer, unter Ludwig Erhard und auch bis 1997 unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Bloß haben Sie damals nichts getan, um diese verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Grundvermögen und Geldvermögen aufzuheben. ({3}) Nur eine faire, gleiche Bewertung von Vermögen bietet die Grundlage für eine Besteuerung von Vermögen nach dem Grundsatz „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“. Ich will zum Stichwort „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“ noch auf eines mit besonderer Deutlichkeit hinweisen: Diese Koalition war es, die bei der Einkommensbesteuerung endlich wieder den Grundsatz in Kraft gesetzt hat, daß starke Schultern mehr zu tragen haben als schwache. ({4}) Denn das, was in den vergangenen 16 Jahren Praxis war, war die Durchlöcherung dieses guten alten Prinzips im tatsächlichen Leben dadurch, daß es eine ganze Reihe von Schlupflöchern gab, die es bestverdienenden Bürgern erlaubte, sich vor dem Finanzamt armzurechnen. ({5}) Dies haben wir beseitigt. ({6}) Wir haben zugleich dafür gesorgt, daß bei der laufenden Besteuerung des Einkommens nicht nur, wie Sie, Herr Kollege Hauser, es auch jetzt mit dem CSUVorschlag tun, über die Spitzensteuersätze geredet wird. ({7}) Dabei vernachlässigen Sie, Herr Kollege Hauser, daß unter Ihrer Regierung die höchste Spitzenbelastung bei Arbeitnehmern mit einem Einkommen in der Nähe der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung - also bei einem Durchschnittseinkommen - lag, weil bei Ihnen von jeden zusätzlich verdienten 100 DM mehr als die Hälfte an Abgaben und Steuern abgezogen wurden. Das, was wir mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999, 2000 und 2002 erreicht haben, möchte ich an ein paar Beispielen, die der Kollege Fritz Schösser kürzlich in seiner Anfrage an die Bundesregierung aufgelistet hat, illustrieren. In der Antwort der Bundesregierung heißt es: Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 55 000 DM brutto - fast zwei Drittel aller Arbeitnehmer beziehen Einkommen bis zu dieser Höhe - beträgt die Entlastung in der Endstufe der Steuerreform - also im Jahr 2002 - gegenüber 1998 für eine Familie mit zwei Kindern rund 2 800 DM. ({8}) Dies entspricht einer Ermäßigung von 56 Prozent im Vergleich zur Steuerschuld von 1998. Alleinstehende ohne Kinder werden im Jahre 2002 bei gleichem Einkommen um rund 13 Prozent weniger belastet. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringerem Einkommen werden prozentual noch deutlich höher entlastet. Ich möchte bekräftigen, daß dies ein großer Erfolg ist, den wir nicht verstecken müssen. ({9}) Die Entlastung war überfällig. Wir haben sie gegen heftigsten Widerstand auch von Ihrer Seite durchgesetzt. ({10}) - Manches muß man denen zweimal in der Woche sagen; denn ihre Fraktionskollegen im Finanzausschuß haben beispielsweise sehr schnell vergessen, daß sie selbst vor zwei Jahren die Schließung von Steuerschlupflöchern gefordert haben. Heute erleben wir, daß Sie bei fast jeder konkreten Gesetzesregelung sagen: Dies ist kein Steuerschlupfloch! Es muß bestehenbleiben! ({11}) Ich komme zum Schluß. Die SPD-Fraktion ist stolz darauf, daß sie dem Gedanken der Steuergerechtigkeit in der Praxis wieder zum Durchbruch verholfen hat. ({12}) Wir nehmen nach wie vor das Prinzip ernst, daß das Vermögen ein Maßstab für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist. Ich möchte hinzufügen: Natürlich versteht es sich von selbst, daß Freibetragsgrenzen zeitnah festgelegt werden müssen und daß sich in ihnen auch die Lebenswirklichkeit widerspiegeln muß, insbesondere in den Regelungen, die das selbstgenutzte Wohneigentum betreffen. Daß das Prinzip, Vermögen als Maßstab für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit heranzuziehen, bei der Besteuerung nicht einfach vergessen worden ist, ist voll gerechtfertigt. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile nun dem Kollegen Gregor Gysi das Wort für eine Kurzintervention. Ich weise darauf hin, daß dies auf Grund der fortgeschrittenen Zeit die letzte Kurzintervention ist, die ich heute abend zulasse.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Der Kollege Spiller hat behauptet, unser Antrag sei ein Schaufensterantrag. Bevor ein Antrag eingebracht werde, müßten die Verfassungsgrundsätze sehr genau geprüft werden. Ich darf darauf hinweisen, daß wir die Bundesregierung in unserem Antrag lediglich aufgefordert haben, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Ich nehme an, der Kollege Spiller traut der Bundesregierung zu, die verfassungsrechtliche Frage zu klären, bevor sie einen GesetzentJörg-Otto Spiller wurf vorlegt. Insofern spräche die gesamte Begründung, die Sie abgegeben haben, dafür, daß Sie zustimmen. Wenn Sie dennoch nein sagen, dann müssen Sie irgendwann einmal klar bekennen, ob Sie nun dafür oder dagegen sind. Wenn Sie in Wirklichkeit dagegen sind, dann waren die Gefechte, die Sie im vorigen Jahr gegen die anderen Parteien geführt haben, Polemik. Wenn Sie dafür sind, dann müssen Sie heute auch dafür stimmen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Spiller, bitte schön.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gysi, Sie überschätzen die Bedeutung Ihres Antrages. ({0}) Das, was Sie in diesen Antrag hineingeschrieben haben, war die schlichte Aufforderung, daß innerhalb weniger Monate ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt werden soll. Sie wissen ganz genau, daß die entscheidende Frage die einer ordentlichen Bewertung der Verfassungsmäßigkeit ist und daß eine Prüfung dieser Frage nicht so nebenbei zu machen ist. Deshalb darf ich, weil Sie danach gefragt haben, noch einmal bekräftigen. Wir werden dabei bleiben, Ihrem Antrag nicht zuzustimmen. Wir lehnen ihn ab. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Hans Michelbach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In diesen Wochen erleben wir Steuerchaos, keine Steuergerechtigkeit, Herr Spiller, und wir erleben vor allem in der Wirtschafts- und Finanzpolitik durch die Regierungskoalition einen einmaligen Zickzackkurs. ({0}) Fast jeden Tag gibt es neue Steuererhöhungsvorschläge. Inzwischen gibt es für die deutschen Steuerzahler einen Horrorkatalog mit immer neuen Folterwerkzeugen. ({1}) Herr Spiller, Sie reden hier von Schaufensteranträgen, führen einen Eiertanz vor und fressen geradezu Kreide. Ich frage Sie: Kennen Sie die Vorschläge der Kollegen aus Ihrer Fraktion? Wissen Sie eigentlich, was sie alles ankündigen? - Ich sage es Ihnen: Wiedererhebung der Vermögensteuer, Erhebung einer Vermögensabgabe, Erhöhung der Erbschaftsteuer durch Verschärfung der Bewertungsmethoden. ({2}) Halbierung des Sparerfreibetrags und Aufhebung des Bankgeheimnisses, Abschaffung des Ehegattensplittings, Erhöhung der Ökosteuer, ({3}) Ertragsbesteuerung von Kapitallebensversicherungen, Verschärfungen der Afa-Tabellen und der Abgabenordnung, Belastungsprobe der Wirtschaft durch Scheingewinnbesteuerung mit den berüchtigten Gegenfinanzierungen, Einschränkung der Verlustverrechnung, Abschaffung der Ansparabschreibung für den Mittelstand, Abschaffung des halben durchschnittlichen Steuersatzes bei Betriebsveräußerungen, unbegrenzte Rückwirkung des Wertaufholungsgebotes, Abschaffung des Schuldzinsenabzuges und so weiter und so weiter. ({4}) Meine Damen und Herren, das ist Steuermartyrium nach linker Ideologie zu Lasten der Verbraucher und der Wirtschaft, was Sie hier betreiben! ({5}) Verunsicherung, Verschlechterung der Steuermoral und Investitionsattentismus sind die Folgen. Nichts ist für unsere Arbeitsplätze so schädlich wie diese rotgrüne Steuerideologie, für Bürger, Betriebe und Arbeitslose ein Schaden ohne Ende, meine Damen und Herren. Eine Belastungsprobe der Wirtschaft, nicht Wiedereinführung des Prinzips starker Schultern, sondern Belastungsprobe der Arbeitsplätze - das ist die Wirklichkeit in der Steuerpolitik dieses Landes. ({6}) Meine Damen und Herren, mir scheint, es geht Ihnen überhaupt nicht um die Senkung der Arbeitslosigkeit, sondern um eine ideologische Korrektur der Verteilung. Die Konsequenzen sind Wachstumseinbruch, steigende strukturelle Arbeitslosigkeit, über 500 000 weniger Erwerbstätige innerhalb eines Jahres und zunehmende Haushaltslücken. Das ist die falsche Auffassung von sozialer Gerechtigkeit. Sozial ist vor allem, was Arbeitsplätze schafft. Nur ein Mitbürger, der Arbeit hat und etwas erwirtschaftet, kann dauerhaft Solidarität mit den wirklich Bedürftigen üben. Deshalb wäre eine Wiedereinführung der Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe oder die Erhöhung der Erbschaftsteuer ein absoluter Irrweg für Deutschland. ({7}) Es wäre ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm durch weniger Direktinvestitionen, eine leistungsmindernde Doppelbelastung des schon einmal versteuerten Einkommens, eine Substanzbesteuerung auch in ertragsschwachen Jahren, ein neuer Weg zu mehr Steuerbürokratie und auch ein neuer Anschlag auf die Steuermoral, weil die Vermögensteuerbelastung 1996 ja schon einmal auf die Erbschaftsteuer aufgeschlagen wurde. Es wäre letzten Endes ein völlig falsches Signal, das nicht mehr soziale Gerechtigkeit schafft, sondern nur Belastungen für Investitionen und Beschäftigung. Rotgrün ist in der Finanz- und Steuerpolitik auf einem grundsätzlich falschen Kurs: Orientierungslosigkeit, Widersprüchlichkeit und Inkompetenz. ({8}) Dazu kommt Ihre innere Zerrissenheit in der Steuerpolitik. Eine Schlagzeile in der „FAZ“ von heute: „Grüne lehnen Eichels Unternehmensteuerpläne ab“. Was muten Sie uns überhaupt noch zu? Sie versuchen, jede neue Steuerart einzuführen. Kaum haben Sie ein Konzept angekündigt, nehmen Sie das alles am nächsten Tag zurück. Ich kann Ihnen nur sagen: Damit nehmen Sie Verunsicherung und Arbeitsplatzverlust in Kauf. Wir brauchen eine breite und echte Entlastung wohlgemerkt - aller Steuerzahler; wohlgemerkt: aller Steuerzahler. ({9}) Wir brauchen keine verfassungswidrige Vermögensbesteuerung, keine verfassungswidrige Spreizung zwischen Einkommen- und Körperschaftsteuersatz, keine Teilung zwischen „guten Unternehmern“ und „bösen Unternehmern“. Das ist die schädliche Fortsetzung Ihrer Steuerideologie. Wir brauchen eine substantielle Senkung der Steuersätze mit einem Niedrigsatzsteuertarif und einer wirklichen Nettoentlastung von über 30 Milliarden DM. ({10}) Das wird einen deutlichen Wachstums- und Beschäftigungsschub auslösen. Die Umverteilungspolitik und die Buchhaltermethode von Herrn Eichel bieten in diesem Sinne keine Zukunftsperspektive für unser Land und auch überhaupt keine Zukunftsperspektive für die Arbeitslosen in diesem Land. Die SPD ist anscheinend bereit, ihre Politik danach auszurichten, ihre an die PDS verlorenen Wähler zurückzugewinnen. Herr Spiller hat um diese ganze Sache gewissermaßen einen Eiertanz veranstaltet. Ich bin sicher, er will die Vermögensabgabe, die Wiedererhebung der Vermögensteuer oder die Erhöhung der Erbschaftsteuer nicht mit dem Sparpaket verbinden. Diese Steuererhöhungen werden die Bürger im Jahr 2000 präsentiert bekommen. Ich kann deutlich sagen: Man ist bereit, bis an die Grenzen der Verfassung und darüber hinaus zu gehen. In steuerlichen Fragen scheint die SPD-Fraktion den Schutz des Bürgers vor dem Zugriff des Staates, den die Verfassung garantiert, nicht sehr ernst zu nehmen. Die Erhebung einer einmaligen Vermögensabgabe ist nach Meinung vieler Experten verfassungsfraglich. Nahezu keine der Voraussetzungen für eine solche Abgabe genügt den verfassungsrechtlich strengen Anforderungen. Weder liegt eine existenzbedrohende finanzielle Notlage vor, noch soll das Aufkommen gruppenspezifisch verwendet werden. Da die Vermögensabgabe von ihrer Ausgestaltung her zudem wie eine Vermögensteuer konzipiert werden soll, wird der Eindruck erweckt, daß sich die Bundesregierung die Gesetzgebungskompetenz erschleicht; denn bei der Wiedererhebung der Vermögensteuer wäre die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Um das zu umgehen, setzen Sie auf eine Vermögensabgabe. Auf Grund des letzten Wahldebakels haben Sie im Bundesrat keine Mehrheit. Deswegen wollen Sie allein über die Erhebung einer Vermögensabgabe entscheiden, so wie Sie jetzt das Sparpaket auseinandernehmen, um Dinge durchzusetzen, die letzten Endes nicht durchzusetzen sind und die unseren Bürgern schaden. Die Bemühungen um die Erhöhung der Vermögensbesteuerung über die Erbschaftsteuer durch eine Änderung der Bewertungsmethoden ist ebenfalls ein Generalangriff auf die notwendige Generationenbrücke. Andere europäische Länder haben zum Teil erbschaftsteuerfreundliche Regelungen eingeführt. Insbesondere in den USA und in Japan überlegt man sich, die Erbschaftsteuer völlig abzuschaffen. Großbritannien hat eine weitgehende Regelung für die Generationenbrücke eingeführt. Bei uns will die Regierungskoalition jetzt eine Erbschaftsteuererhöhung durch die Hintertür einführen. Die Grundstücksneubewertungskommission soll es geradezu richten. Das leistungsbezogene Ertragswertverfahren soll durch das Sachwertverfahren ersetzt werden. Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wird durch die Abschaffung der Ertragswertmethode geradezu mit Füßen getreten. Durch das geplante Sachwertverfahren soll das automationsgerechte sogenannte Berliner Verfahren eingeführt werden, das nur ein neues Abkassiermodell bedeutet und das große Einfallstor für neue Steuererhöhungen darstellt. ({11}) Wir, meine Damen und Herren, müssen den Bürgern draußen sagen, was Sie in Wirklichkeit planen, nämlich eine Bewertungsgrundlage nach dem Sachwertverfahren, weg vom Ertragswert, weg von der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, hin zu einer Bewertung für eine Erhöhung der Grundsteuer, der Grunderwerbsteuer, der Erbschaftsteuer, der Vermögensbesteuerung insgesamt. Dies steht bei uns ins Haus, und davor müssen wir kräftig warnen, weil das zu Lasten der Arbeitsplätze in Deutschland geht! ({12}) Meine Damen und Herren, das Vorgehen der Regierungskoalition ist entlarvend. Man macht es leise und heimlich in einer Kommission, hinter verschlossenen Türen. Es soll Kasse gemacht werden, und man will auf der anderen Seite der Emotionalisierung von Wählerschichten dienen. Zur Befriedigung der Neidgefühle das ist das besonders Verwerfliche daran - werden von Ihnen, von der SPD, Arbeitsplatzverluste in Kauf genommen. ({13}) Die Neiddiskussion, nur um nach den Wahlverlusten wieder auf neuen Stimmenfang zu gehen, schadet dem Gemeinwohl in Deutschland. Ihre Partei hat schon einmal durch eine Blockade bei der Steuerpolitik dem Gemeinwohl in Deutschland geschadet. Das gleiche machen Sie jetzt wieder. Gegen die ökonomische Vernunft wollen Sie eine stärkere Vermögensbesteuerung, eine stärkere Belastung der Arbeitsplätze in Deutschland einführen. Eine solche Politik müssen wir ablehnen, meine Damen und Herren. Ich darf Ihnen sagen: Neid ist und bleibt der Ausdruck von politischer Unfähigkeit. Das ist die Situation, die Sie zu verantworten haben! ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor der namentlichen Abstimmung liegen mir noch zwei Wortmeldungen vor. Ich bitte, den Rednern wenigstens soweit zu folgen, daß diese ihr eigenes Wort verstehen können. ({0}) Der Kollege Müller vom Bündnis 90/Die Grünen ist der nächste Redner. Bitte schön.

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Michelbach, Sie und Gemeinwohl - ich glaube, das verträgt sich schlecht. ({0}) Aber ich will der Aufzählung am Anfang Ihrer Rede noch einiges hinzufügen. Denn Sie haben einige Steuern, die wir planen, vergessen. Ich erwähne die Steuer auf Weißwurst. Ich erwähne die Steuer auf Bier. Ich erwähne die Steuer auf süßen Senf. Und wir nehmen auch noch eine Steuer auf Lederhosen und Dirndl. Davon können wir Ihnen einiges sagen. Mir fällt sicherlich noch mehr für Sie ein. Ich würde gerne auch eine Steuer auf LWS und Herrn Sauter erheben, ({1}) eine Steuer auf dumme, unsoziale Vorschläge wie den Ihres Fraktionskollegen Protzner, einen Monat Arbeitslosengeld zu streichen. Ich erinnere an den Vorschlag aus Ihren Reihen, 20 DM für jeden Krankenhausbesuch zu erheben. Ich erinnere an die Empfehlung, doch Koalitionen mit einem Rassisten von der österreichischen FPÖ zu bilden. Auch darauf können wir eine Steuer erheben. Und ich erinnere an Ihren Vorschlag, doch bitte schön eine Steuerreform durchzuführen, und zwar mit 50 Milliarden DM - nein, was sage ich? -, mit 60, 70, 80 Milliarden DM Nettoentlastung. Auch darauf können wir eine Steuer erheben. ({2}) Wenn wir nun zu einer etwas ernsthafteren Debatte kommen, dann können wir uns darüber unterhalten, daß es sich die PDS mit ihrem Antrag etwas einfach macht. Denn, liebe Kollegin Höll, Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, über die Instrumente zu reden. Sie haben sich hingestellt und gesagt: Liebe Bundesregierung, mache einmal! - Ich muß leider sagen, daß es für das parlamentarische Verfahren etwas einfach ist, wenn Sie nicht zwischen einer privaten und einer betrieblichen Vermögensteuer unterscheiden, wenn Sie sich nicht die Mühe machen zu entscheiden, ob wir tatsächlich in die Substanzbesteuerung hineingehen, und zu fragen, ob dies sinnvoll oder ob dies nicht sinnvoll ist. Ich glaube, daß Sie es sich ein wenig einfach machen, indem Sie nicht unterscheiden, ob eine Vermögensabgabe verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist. Einfach nur zu sagen, wir geben das Problem der Instrumentendebatte an die Bundesregierung ab, kann nicht richtig sein, das ist etwas dürftig.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Müller, könnten Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen, daß wir von Ihnen wissen möchten, ob Sie sich auf eine Diskussion über die Vermögensbesteuerung einlassen? Wir können dann, wenn wir das eindeutige Votum dafür haben, welches in den letzten Wochen durch verschiedenste Äußerungen aus den beiden Regierungsfraktionen arg bestritten wurde, sehr gern in die konkrete Diskussion einsteigen. Könnte es sein, daß Sie selbst nicht ganz logisch argumentieren, wenn Sie meinen, jetzt noch einmal die Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu müssen? Ich darf Sie doch daran erinnern, daß in der vergangenen Legislaturperiode sowohl die SPD als auch die Grünen einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Vermögensbesteuerung vorlegten. Da dies nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geschah, nehme ich an, daß Sie bereits damals die Verfassungsmäßigkeit überprüft haben. ({0})

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Kollegin Höll, ich sehe ein, daß meine Stimme etwas angeschlagen ist; vielleicht war ich auch nicht deutlich genug. Die Vermögensteuer ist verfassungsgemäß, keine Frage. Die Frage ist, ob sie politisch und ökonomisch sinnvoll ist. Darüber streiten wir. Die von Ihnen präferierte Form hin zu einer privaten Vermögensteuer ist nicht sinnvoll, so die Ausschußberatungen. Bei der Vermögensabgabe habe ich darauf hingewiesen, daß ich hier erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel habe, ob diese möglich, sinnvoll und rechtlich zulässig ist. Ich möchte aber auch etwas zu den Alternativen sagen. Der Kollege Spiller hat zu Recht darauf hingewiesen, daß wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt haben, zu einer Besteuerung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit zurückzukehren. Unsere Einkommensteuerreform ist nicht im Sande verlaufen wie die der alten Koalition, die sozial ungerecht und unverantwortlich war und eine höhere Mehrwertsteuer bedeutet hätte. Wir haben unsere Einkommensteuerreform realisiert, die untere Einkommen und Familien entlastet und Steuerschlupflöcher schließt. Das ist die richtige Politik. ({0}) Ich möchte aber auch an den Koalitionsvertrag anknüpfen, in dem wir uns auf eine sinnvolle Vermögensbesteuerung geeinigt haben. Ich finde sehr wohl, daß wir im kommenden Jahr eine Debatte darüber führen müssen, was dafür die sinnvollen Instrumente sind. Ich möchte an dieser Stelle nur zwei nennen. Das eine ist die Frage der Kapitalertragsbesteuerung, zu der der Kollege Merz von der CDU vor ungefähr vier Wochen einen sehr viel konstruktiveren Redebeitrag gehalten hat als der Kollege Hauser vor fünf Minuten. Auch der Kollege Merz hat darauf hingewiesen, daß ein Problem bei der Besteuerung von Arbeitseinkünften und Kapitaleinkünften besteht und wir im Hohen Hause bei SPD, Grünen und mindestens der CDU Handlungsbedarf sehen. Das zweite ist ein Instrument, zu dem Bündnis 90/Die Grünen bereits in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorgelegt haben: Ich meine das Stiftungsgesetz. Ich glaube, es ist sehr klug, darüber nachzudenken, welche Anreize wir geben könnten, um privates Vermögen in gemeinnützige Zwecke fließen zu lassen, und wie wir sowohl zivilrechtlich als auch steuerrechtlich vorgehen könnten, um Vermögen für ökologische, kulturelle und wissenschaftliche Zwecke zu mobilisieren. Die jetzige Koalition wird im Gegensatz zur alten Koalition, die sich das zwar vorgenommen, aber in den letzten vier Jahren nicht gebacken bekommen hat, in dieser Legislaturperiode das Stiftungsgesetz reformieren und damit viel mehr für die Gemeinnützigkeit und das Gemeinwohl in Deutschland tun, als Sie das in den letzten vier Jahren getan haben. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Professor Gisela Frick, F.D.P., das Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte noch um Aufmerksamkeit für diese vier Minuten.

Prof. Gisela Frick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002656, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird Sie nicht verwundern, daß ich im Namen der F.D.P.-Fraktion beide Anträge der PDS ablehne, und zwar eindeutig. ({0}) Ich nehme an, daß meine Begründung mit dem Verhalten meiner Fraktion in Einklang zu bringen ist, Herr Spiller. Denn wo Kollege Gysi recht hat, hat er recht. Sie haben mit all dem, was Sie in Ihrer Redezeit von zwölfeinhalb Minuten gesagt haben, ein glühendes Plädoyer für die Vermögensteuer gehalten. Am Ende haben Sie dann zur großen Überraschung gesagt: Wir stimmen dem Antrag der PDS nicht zu. - Ein solches Verhalten paßt schlicht und einfach nicht. ({1}) Alles das, was wir von Ihnen gehört haben, paßt auch nicht zu Ihrer Politik. Ich habe leider keine so lange Redezeit wie Herr Michelbach. Deshalb kann ich nicht auf all das Widersinnige eingehen, was aus Ihrer Fraktion zu hören ist. Aber nach all dem, was Sie gesagt haben, müßten Sie heute eigentlich den Anträgen der PDS mit wehenden Fahnen zustimmen. Denn es ist ja alles klar. Herr Müller, zu Ihnen ist zu sagen: Der erste Teil Ihrer Rede war sehr satirisch aufgezogen. Vielleicht ist Ihnen ja aufgefallen, daß das außer Ihnen keiner hier lustig fand. Denn Ihre Phantasie, was alles zu Besteuerungsgegenständen gemacht werden kann, ist leider eher erschreckend. ({2}) Wenn man die Finanz- und Steuerpolitik der Koalition beobachtet, dann ist Ihre Phantasie von der Realität gar nicht soweit entfernt. Deshalb bleibt einem das Lachen tatsächlich im Halse stecken. ({3}) Zur Luxussteuer brauche ich nicht viel zu sagen. Das meiste ist schon gesagt worden. Hier gibt es in allererster Linie Abgrenzungsschwierigkeiten. Die Einführung einer neuen Steuer lehnen wir im übrigen ab. Zur Vermögensteuer: Herr Spiller, was bei Ihnen vor allem gefehlt hat, war ein Hinweis auf den Halbteilungsgrundsatz. ({4}) Sie haben nur etwas zur Bewertung gesagt. Der Halbteilungsgrundsatz besagt aber: Die Besteuerung darf in der Summe nur in die Nähe einer hälftigen Teilung zwischen öffentlicher und privater Hand kommen. Den haben Sie völlig unter den Tisch fallen lassen. In der Nichtbeachtung dieses Grundsatzes liegt aber das hauptsächliche verfassungsrechtliche Problem. Dies werden Sie auch mit einer realitätsnäheren Bewertung der Immobilien, so wie Sie sie planen, nicht erreichen. Dies haben wir im übrigen in der Vergangenheit nicht hinbekommen. Dies war mit ein Grund für die Abschaffung der Vermögensteuer. Das war doch kein böser Wille, sondern zeigt, wie schwer es ist, Immobilien zeitKlaus Wolfgang Müller ({5}) nah immer wieder richtig zu bewerten. Schon allein deshalb müssen wir von der Vermögensteuer wegkommen. ({6}) Nun zur Begründung der PDS zur Einführung einer Vermögensteuer: Da Sie gebetsmühlenartig wiederholen - diese Forderung ist auch im Leitantrag für den SPDBundesparteitag enthalten -, daß auch große Vermögen endlich einmal zur Finanzierung des Gemeinwohls herangezogen werden sollten, muß ich feststellen, daß dies doch geschieht. Es wird immer wieder vergessen, daß Erträge aus Vermögen - seien es Kapitalerträge oder Miet- bzw. Pachterlöse - der Einkommensteuer unterliegen, und zwar nach einem progressiven Tarif, wonach die starken Schultern wahrhaftig wesentlich mehr tragen müssen als die schwachen. Tun Sie doch bitte nicht immer so, als ob es bei uns eine Belastung stärkerer Schultern nicht gäbe! ({7}) Bei uns werden die Erträge aus Vermögen sehr wohl einer Besteuerung unterzogen. So wie Sie argumentieren, hört sich das immer so an, als ob Vermögen im Hinblick auf die Besteuerung überhaupt keine Rolle spielten. Das stimmt nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat im übrigen darauf hingewiesen, daß die Vermögensbesteuerung als Substanzbesteuerung nicht wirklich in die Substanz des Vermögens eingreifen darf. Auch dazu kam von Ihnen kein Wort. Nur aus den sogenannten Sollerträgen darf die Vermögensteuer erhoben werden. Das ist nicht nur bei den Sollerträgen so, sondern auch bei den tatsächlichen Erträgen aus der Einkommensteuer. Insofern haben wir im derzeit geltenden Steuerrecht jede Möglichkeit, auch die Vermögenden zu einer gerechten progressiven Besteuerung heranzuziehen. Deshalb lehnen wir beide vorliegenden Anträge ab. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Besteuerung von Luxusgegenständen, Drucksache 14/1613. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/27 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Wiedererhebung der Vermögensteuer, Drucksache 14/1614. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/11 abzulehnen. Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin: Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses, diesen Antrag abzulehnen, ab. Wer also der Beschlußempfehlung zustimmen will, muß mit Ja stimmen. Die Fraktion der PDS hat namentliche Abstimmung beantragt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verarbeitung und Nutzung der zur Durchführung der Verordnung ({0}) Nr. 820/97 des Rates erhobenen Daten und zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes ({1}) - Drucksache 14/1856 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2}) Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ({3}) - Das ist eine freudige Nachricht. - Insofern darf ich Ih- nen mitteilen, daß die Redner aller Fraktionen ihre Re- den zu Protokoll geben.*) ({4}) Ich schließe damit die Aussprache. Eine Liste der Redner gebe ich ebenfalls zu Protokoll. Interfraktionell ist eine Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/1856 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vereinbart. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen morgen bekanntgegeben. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. Oktober 1999, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.