Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Vorweg einige Mitteilungen: Der Kollege Dieter
Pützhofen hat am 1. Oktober 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein
Nachfolger hat der Abgeordnete Horst Günther ({0}) am 1. Oktober 1999 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den uns bereits
aus vergangenen Wahlperioden bekannten Kollegen sehr
herzlich.
({1})
Die Fraktion der PDS hat mitgeteilt, daß der Abgeordnete Uwe Hiksch mit Wirkung vom 5. Oktober 1999
der Bundestagsfraktion der PDS angehört.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in einer
Zusatzpunktliste vorliegen, zu erweitern:
1. Beratung des Antrags der Bundesregierung: Deutsche Beteiligung an dem internationalen Streitkräfteverband in Osttimor ({2}) zur Wiederherstellung von Sicherheit und
Frieden auf der Grundlage der Resolution 1264 ({3}) des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15. September
1999 - Drucksache 14/1719 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({4})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuß
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Geringere Leistungsansprüche gesetzlich Krankenversicherter gegenüber Sozialhilfeempfängern, Asylbewerbern
und Strafgefangenen bei unveränderter Realisierung der
Gesundheitsreform ({5})
3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Auschusses ({6}) zu dem Antrag der Bundesregierung: Deutsche Beteiligung an dem internationalen
Streitkräfteverband in Osttimor ({7}) zur Wiederherstellung von Sicherheit und Frieden auf der Grundlage der
Resolution 1264 ({8}) des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen vom 15. September 1999
- Drucksachen 14/1719, 14/1754 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({9})
Dr. Helmut Lippelt
Wolfgang Gehrcke
Außerdem wurde vereinbart, die erste Beratung des
Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit - Tagesordnungspunkt 8 - vor Tagesordnungspunkt 7 aufzurufen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Eidesleistung des Bundesministers für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom
17. September 1999 folgendes mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes
für die Bundesrepublik Deutschland habe ich
heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers
den Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Franz Müntefering, auf seinen Antrag aus seinem Amt als Bundesminister entlassen.
Weiterhin hat mir der Herr Bundespräsident mit
Schreiben vom 29. September 1999 mitgeteilt:
Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes
für die Bundesrepublik Deutschland habe ich
heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers Herrn Reinhard Klimmt zum Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ernannt.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid. Herr Bundesminister Klimmt, ich
darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten.
({10})
Herr Minister, ich bitte Sie, den Eid zu leisten.
Ich schwöre, daß ich meine
Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen
Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerech5374
tigkeit gegen jedermann üben werde. Ich schwöre es, so
wahr mir Gott helfe.
({0})
Meine Damen und
Herren, Herr Bundesminister Reinhard Klimmt hat den
vom Grundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet. Ich
darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses für Ihr Amt die
besten Wünsche aussprechen. Zugleich danke ich dem
ausgeschiedenen Bundesminister Franz Müntefering für
seine Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung. Für
seine weitere Zukunft wünschen wir ihm alles Gute.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Die Rolle der Interparlamentarischen Union
({1}) im Zeitalter der Globalisierung
- Drucksache 14/1567 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dieter Schloten, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 91 Jahren, 1908, fand in
diesem Hause die erste Interparlamentarische Konferenz
auf deutschem Boden statt. Am kommenden Sonntag
wird hier die 102. Interparlamentarische Konferenz
feierlich eröffnet werden. Wir erwarten über 1 000 Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus 130 Staaten.
138 Mitgliedsländer zählt die IPU mittlerweile. Die
Berliner Konferenz 1999 wird nach 1908 und 1928 in
Berlin, 1978 in Bonn und 1980 in Ost-Berlin die fünfte
Versammlung in Deutschland sein.
Schwerpunktthemen werden diesmal die Durchsetzung der Genfer Konventionen anläßlich ihres 50. Geburtstages sowie die Überprüfung der derzeitigen globalen Finanz- und Wirtschaftsmodelle sein. Darüber
hinaus hat die Delegation der Bundesrepublik Deutschland einen aktuellen Zusatztagesordnungspunkt beantragt. Er lautet: „Der Beitrag der Parlamente zu einem
friedlichen und toleranten Zusammenleben von ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheiten in einem
gemeinsamen Staat“. Außerdem wird die Konferenz
Empfehlungen dazu erarbeiten, welchen Beitrag die IPU
zum Aufbau eines demokratischen Staatswesens in Osttimor leisten kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie alle
herzlich dazu ein, die Gelegenheit in der kommenden
Woche zu nutzen, in das Internationale CongressCentrum zu kommen und Kontakte zu Kolleginnen und
Kollegen aus der ganzen Welt zu knüpfen oder zu pflegen.
Ich bin in den vergangenen Wochen manchmal gefragt worden: Wie steht es denn eigentlich mit der demokratischen Legitimation vieler sogenannter Parlamentarier, die auf dieser Konferenz Delegierte ihrer
Länder sind? Diese Frage ist berechtigt. Ebenso wie in
den Vereinten Nationen sind bei den Interparlamentarischen Konferenzen Politiker vertreten, deren Legitimation oftmals vom Wohlwollen oder vom Willen der jeweiligen autoritären Machthaber ihres Landes abhängt.
Ob wir nach Fernost, in bestimmte Regionen Afrikas
oder in manche Anrainerstaaten des südlichen Mittelmeers, aber auch nach Ost- oder Südosteuropa, zum
Beispiel nach Belarus oder Jugoslawien, schauen, wir
stellen fest: Die parlamentarische Demokratie hat auf
unserem Globus die Zweidrittelmehrheit noch nicht erreicht. Dennoch behaupte ich: Die IPU ist das geeignetste und bedeutendste Instrument zur weltweiten Demokratisierung.
Diese These möchte ich mit einem kurzen Rückblick
auf die Entstehung und auf einige wichtige Entwicklungsschritte der IPU sowie auf bedeutende Entscheidungen, die sie in den letzten Jahren für ihre Zukunft
getroffen hat bzw. zu treffen beabsichtigt, begründen:
Die Idee einer friedlichen Schlichtung von Streitigkeiten
zwischen den europäischen Mächten wurde in der
zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von Parlamentariern vorangetrieben. Der österreichische Abgeordnete Robert von Walterskirchen forderte bereits 1870
als erster offizielle Beziehungen zwischen Parlamenten
mit dem Ziel der Friedenssicherung - leider vergeblich.
Erst dem britischen Abgeordneten William Randal Cremer sowie dem französischen Pazifisten Frédéric Passy
gelang es nach mehreren vergeblichen Anläufen, 1889
die erste internationale parlamentarische Konferenz in
Paris einzuberufen. Dafür erhielten sie später den Friedensnobelpreis. Eine Entschließung zur Friedenssicherung und zur Abrüstung kam jedoch noch nicht zustande. Zu mächtig wirkten die vom nationalistischimperialistischen Geist beherrschten Regierungen auf ihre Parlamentarier ein.
Dennoch folgten regelmäßige Interparlamentarische
Konferenzen in verschiedenen europäischen Hauptstädten. 1899 wurde der Interparlamentarische Rat geschaffen, dem bis heute zwei Delegierte jedes Mitgliedstaates angehören. Er gab der Union ihre programmatische Ausrichtung: Friedenssicherung durch
Streitschlichtung und Abrüstung.
Der erste international wirksame operative Schritt
wurde ausgangs des 19. Jahrhunderts getan: Die Brüsseler IPU-Konferenz von 1895 verabschiedete einen
Entwurf für ein internationales Schiedsgericht. Dies
führte unmittelbar zur Einberufung der Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899. Diese Konferenz beschloß
die Einrichtung des Ständigen Internationalen
Schiedshofes in Den Haag. Das war ein Meilenstein in
der Geschichte des Völkerrechts. Er wurde 1920 als
Ständiger Internationaler Gerichtshof vom Völkerbund
und 1946 von den Vereinten Nationen als Internationaler Gerichtshof übernommen. Die Aufgaben dieses
Gerichtshofes entsprechen bis heute weitgehend den Interventionen der IPU von 1895.
Ideen und Visionen von Parlamentariern wurden leider erst nach den Weltkriegen von Regierungen aufgegriffen und im Völkerbund und in den Vereinten Nationen umgesetzt. Regierungsvertreter haben in diesen
weltweit operierenden Gremien Aufgaben übernommen,
die durch parlamentarische Diplomatie entstanden und
gewachsen sind.
Bevor ich auf die gegenwärtige Situation eingehe,
möchte ich an die Interparlamentarischen Konferenzen
von 1908 und 1928 erinnern, die im Reichstag stattfanden. 1908 scheiterte der vorausschauende Versuch mehrerer Parlamentarier, eine vertragliche Anerkennung der
bestehenden Grenzen in Europa zu erreichen, am Nationalismus vieler Teilnehmer und deren Regierungen.
1928 unterstützte die Interparlamentarische Konferenz
an diesem Ort den für den Frieden in Europa so wichtigen deutsch-französischen Annäherungsprozeß. 1933
wurde dann die interparlamentarische Gruppe des Deutschen Reichstages aufgelöst. Die folgenden IPUKonferenzen fanden ohne deutsche Beteiligung statt.
Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich die
IPU von einer europäischen zu einer weltweiten parlamentarischen Friedensorganisation - trotz des kalten
Krieges. Zum erstenmal nahm 1951 in Istanbul wieder
eine deutsche Delegation an einer Interparlamentarischen Konferenz teil. Seitdem beteiligen sich deutsche
Delegierte engagiert und oftmals in führenden Positionen an der Durchsetzung der programmatischen Ziele
der IPU. Ich erinnere an unseren kürzlich verstorbenen
Kollegen Dr. Hans Stercken, der 1985 für drei Jahre
zum Präsidenten des Interparlamentarischen Rates gewählt wurde.
Neben Friedenssicherung und Abrüstung nahm sich
die IPU neuer Themen an, zum Beispiel: Überwindung
des Kolonialismus, Entwicklungszusammenarbeit, gerechtere Weltwirtschaftsordnung, Maßnahmen gegen die
Bedrohung der Umwelt, Weltraumrecht und vor allem
Schutz der Menschenrechte und Demokratisierung. Die
IPU hatte nämlich erkannt, daß ohne parlamentarische
Demokratie Frieden in der Welt nicht zu erreichen ist,
daß ohne parlamentarische Demokratie die Gleichstellung der Frau nicht zu erreichen ist, daß ohne parlamentarische Demokratie Bildung und Erziehung - insbesondere der Mädchen - nicht zu erreichen sind und
daß ohne parlamentarische Demokratie Rassismus, Terrorismus und organisierte Kriminalität nicht erfolgreich
bekämpft werden können.
({0})
Deshalb verabschiedete die IPU im September 1997
in Kairo eine Erklärung zur „Sicherstellung dauerhafter
Demokratie und Herstellung enger Verbindung zwischen Parlament und Bevölkerung“. Daraus zitiere ich
nur einen Satz:
Unbeschadet aller kulturellen, politischen, sozialen
und wirtschaftlichen Unterschiede ist die Demokratie ein weltweit anerkanntes Ideal und zugleich
ein Ziel … , das auf allgemeinen Werten beruht, die
von der gesamten Völkergemeinschaft … geteilt
werden.
Die Achtung der Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, die Meinungsfreiheit, geheime und freie Wahlen, das passive und aktive Wahlrecht für jede Bürgerin
und für jeden Bürger sowie die Kontrolle der Regierungen werden in dieser Erklärung als Voraussetzung jeder
Demokratie gefordert und anerkannt. Schließlich fordert
die Resolution, daß die Mitgliedstaaten der IPU schwere
Verletzungen grundlegender Menschenrechte als Straftaten ahnden und die Einrichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs unterstützen. - Mit dieser
Resolution zur Demokratie hat sich die IPU ein erweitertes Fundament gegeben.
Frieden und Abrüstung sind nicht ohne Demokratie
zu erreichen.
({1})
Parlamentarier müssen demokratisch gewählt und legitimiert sein. Und obwohl die Wirklichkeit dieser Forderung noch nicht voll entspricht - auch die kommende
Konferenz hier in Berlin nicht -, lohnt es sich, für ihre
Durchsetzung zu kämpfen. Von allen IPU-Mitgliedern
wird nämlich erwartet, daß sie sich für den Schutz der
Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Konsolidierung der Demokratie nicht nur in ihrem eigenen
Land, sondern weltweit einsetzen.
({2})
Im Zeitalter der Globalisierung ist erneut parlamentarische Diplomatie gefordert. Die meisten Inhalte, mit
denen sich die Parlamente heute beschäftigen, haben bereits transnationale Dimensionen. Seien es Fragen der
Beschäftigung, der sozialen Sicherung, seien es Fragen
der inneren und äußeren Sicherheit oder der Migration:
Parlamentarier haben heute eine Verantwortung, die
über die nationale Verantwortung hinausgeht. Indem sie
ihre Arbeit auch als Beitrag für Frieden und Sicherheit
verstehen, nehmen sie internationale Verantwortung
wahr, die immer weniger als auswärtige Angelegenheit
begriffen wird.
Parlamentarische Diplomatie ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Es geht jetzt darum, sie zu ordnen und unter ein weltweites Dach zu bringen. Schauen
wir uns einige europäische Institutionen an! Die Europäische Union hat eine parlamentarische Dimension: das
Europäische Parlament. Der Europarat, die OSZE und
die WEU haben eine parlamentarische Dimension: ihre
Parlamentarischen Versammlungen. Demgegenüber besteht die Vollversammlung der Vereinten Nationen ausschließlich aus Regierungsvertretern.
Wenn wir die Aufgabe der Parlamente ernst nehmen,
die Globalisierung parlamentarisch zu begleiten, dann
brauchen auch die Vereinten Nationen eine parlamentaDieter Schloten
rische Dimension. Die Interparlamentarische Union ist
geeignet und bereit, diese Verantwortung zu übernehmen. Die IPU teilt und unterstützt die Ziele der Vereinten Nationen; sie hat Kooperationsverträge mit ihnen
und mehreren ihrer Unterorganisationen abgeschlossen.
Eine Parlamentarische Versammlung, bestehend aus
Vertretern der Parlamente der Mitgliedstaaten, wird
nicht zu einer Schwächung, sondern zu einer Stärkung
der Vereinten Nationen führen;
({3})
denn die Vereinten Nationen würden dadurch in den nationalen Parlamenten verankert.
Der Deutsche Bundestag fordert seit langem eine Reform der Vereinten Nationen. Diese Reform darf sich
nicht nur auf ihre Organisation beschränken, auf ihr
Vetorecht oder auf ihre Mitgliedschaft im Sicherheitsrat.
Diese Reform muß vielmehr eine grundlegende Demokratisierung der Vereinten Nationen zum Ziel haben, die
gleichzeitig zu einer Entbürokratisierung führen muß.
({4})
Globalisierung und Demokratisierung müssen einander ergänzen. Deshalb fordere ich die Regierung der
Bundesrepublik Deutschland auf, sich für diesen großen,
weltweit wirksamen Fortschritt einzusetzen - nicht nur
auf Grund des Antrags, den wir heute verabschieden
wollen, sondern auf Grund ihres eigenen demokratischen Selbstverständnisses.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängig von diesem mittelfristigen Ziel erfüllt die IPU
zur Zeit drei große Aufgaben, für die es sich einzusetzen
lohnt.
Erstens. Sie fördert die Gleichstellung der Geschlechter. Seit zwei Jahren ist die Konferenz der
Frauen innerhalb der IPU ein Satzungsorgan. Ihre Vorsitzende hat Sitz und Stimme im Leitungsgremium, dem
Exekutivausschuß.
({5})
Nationale Delegationen sollen mindestens ein weibliches Mitglied haben. Für viele ist das schon zu viel; das
werden wir nächste Woche wieder sehen. Außerdem
werden wir in der nächsten Woche voraussichtlich erstmalig in der Geschichte der Interparlamentarischen Union eine Frau zur Präsidentin des Interparlamentarischen
Rates wählen.
({6})
Zweitens. Die IPU fördert die Kooperation zwischen
Parlamenten und Parlamentariern in aller Welt. Damit
stellt sie das einzige internationale Forum regelmäßigen
intensiven Dialogs zwischen Parlamentariern und Parlamentarierinnen dar. Darüber hinaus hilft sie jungen
Demokratien, ihre Infrastruktur, ihre Ausrüstung und
ihre Instrumente zu verbessern, unter dem Motto: Gegenseitig voneinander lernen.
Drittens und letztens ist die IPU dabei, für das Milleniumjahr in New York bei den Vereinten Nationen eine
weltweite Konferenz der Parlamentspräsidenten zu
organisieren. - Herr Präsident, ich hoffe, auch Sie werden daran teilnehmen können. - Sie wird von UNOGeneralsekretär Kofi Annan einberufen werden. Die
Vorbereitungen dazu sind weit vorangeschritten. Nahezu
sämtliche Parlamentspräsidenten haben ihr Kommen zugesagt. Übrigens werden in der nächsten Woche 40 Parlamentspräsidenten als Delegierte hier in Berlin anwesend sein. Dies ist ein schöner Rekord für eine Interparlamentarische Versammlung.
({7})
An dieser Stelle möchte ich allen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Arbeitsgruppe IPU ´99 - sie sitzen
heute oben auf der Tribüne - unter Leitung von Herrn
Voss für ihre ausgezeichnete Planung und ihren unermüdlichen Einsatz zur Vorbereitung und Durchführung
dieser großen Konferenz herzlich danken.
({8})
Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben gegenüber der IPU eine besondere Verpflichtung.
Wir haben in der jüngsten Vergangenheit mehrfach bewiesen, daß wir bereit sind, für die europäische Zivilgesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Diese Verantwortung gilt es auch weltweit zu tragen. Denn der
Frieden ist nur zu erreichen, wenn wir eine globale Zivilgesellschaft haben werden.
Die Interparlamentarische Union setzt sich nach wie
vor für Frieden, Abrüstung und Demokratie in der ganzen Welt ein. Es lohnt sich, ihre Ziele zu unterstützen
und zu fördern. Der Deutsche Bundestag wird dabeisein,
wenn es in der nächsten Woche hier in Berlin wieder
heißt: Parlamentarier aller Länder, vereinigt euch!
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort
Kollegin Rita Süssmuth, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir am kommenden Sonntag hier im Reichstagsgebäude die IPUKonferenz in Deutschland eröffnen, dann ist das ein guter Zeitpunkt, denn es ist sinnvoll, die IPU-Konferenz
im ersten Jahr unseres Wirkens nach dem Umzug des
Parlaments von Bonn nach Berlin hier durchzuführen.
Ich sage Ihnen: Der Teilnehmerandrang ist sehr groß;
man möchte Berlin erleben.
Wenn ich dies sage, dann denke ich daran, daß wir
die letzte IPU-Debatte im Deutschen Bundestag am
15. September 1989 geführt haben; das war in der 159. SitDieter Schloten
zung. Sonst werden die Protokolle der Konferenzen nur
als Drucksachen veröffentlicht. Das heißt, es ist zehn
Jahre her, daß wir das letztemal über dieses Thema öffentlich diskutiert haben.
Ich möchte nach alldem, was Herr Schloten zur Geschichte und zur Würdigung der IPU gesagt hat, unterstreichen: Der Beitrag der deutschen Parlamentarier in
dieser Interparlamentarischen Union ist von großer
Wichtigkeit. Immer wieder werden wir nach unserer
Meinung gefragt.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß heute der 7. Oktober ist. Vor zehn Jahren
meinte die frühere DDR, ihren 40. Jahrestag feiern zu
können. Sie hat ihn auch gefeiert; aber er war begleitet
von den ersten Demonstrationen, die damals noch gewaltsam auseinandergetrieben wurden. In den Tagen danach wurde das schwieriger.
Für die Kolleginnen und Kollegen aus der Interparlamentarischen Union ist der Besuch in Berlin ein Anlaß, uns zu fragen, was aus der Wiedervereinigung geworden ist. Sie wenden sich gerade an uns Deutsche,
wenn es um geteilte Länder geht, die ebenfalls wiedervereinigt werden wollen, wenn es darum geht, Macht
gegen die Ohnmacht in einer Diktatur aufzubauen - sie
erinnern uns daran, daß wir dies in der friedlichen Revolution erlebt hätten, und fragen, ob es nicht auch bei
ihnen gelingen könnte -, und wenn es schließlich um die
Frage geht, in welcher Solidarität die Völker beieinanderstehen, wenn Unrecht in Recht zu verwandeln ist.
Nun sagen viele, an sich sei die Interparlamentarische
Union machtlos. Das mag in gewisser Weise richtig
sein. Aber Machtlosigkeit kann sich durchaus in Macht
verwandeln, wenn die Instrumente richtig genutzt werden. In diesem Zusammenhang komme ich auf die Frage
zurück, wie es denn mit der Demokratie steht. In der Tat
gehören der IPU Parlamente an, die im Sinne unseres
Demokratieverständnisses keine Parlamente sind. Aber
es lohnt sich, gerade mit diesen Parlamentariern zu reden und einen Austausch zu pflegen. Die Demokratie
hat - allen Widerständen zum Trotz - einen Siegeszug
in der Welt angetreten.
({0})
Wir sind auf dem Weg zu zivilen, demokratischen Gesellschaften und sollten uns auf diesem Wege keineswegs entmutigen lassen.
Stets waren es einzelne Persönlichkeiten, die sich um
den Frieden verdient gemacht haben. Sie waren die
Wegbereiter des Völkerbundes und nach dem zweiten
Weltkrieg die Wegbereiter der Vereinten Nationen, die
wir heute weiter stärken müssen. Wenn wir in unserem
Resolutionsantrag heute von der parlamentarischen Dimension gesprochen haben, dann ist allemal darauf hinzuweisen, daß die Regierungen die Parlamentarier brauchen, um das, was sie wollen, überhaupt durchsetzen zu
können; denn uns ist manche Freiheit belassen, die die
Exekutive nicht hat. Ich erinnere daran, wie wichtig die
parlamentarischen Missionen in den baltischen Staaten
waren, bevor die Abtrennung und völkerrechtliche Anerkennung dieser Staaten erfolgen konnten. Vergleichbares gilt auch für die knifflige Situation in Weißrußland. Ich bin sehr froh, daß Weißrußland auf dieser Interparlamentarischen Konferenz mit wenigen Parlamentariern, die noch aus dem alten, legitimen Parlament
übriggeblieben sind, vertreten sein wird, wenn auch
ohne offiziellen Status.
({1})
Auch in der Fraktion der CDU/CSU haben wir darüber diskutiert, was wir in bezug auf auf die Stärkung
parlamentarischer Rechte bewirken können. Allerdings
würden wir uns übernehmen, wenn wir uns für eine
parlamentarische Versammlung der UNO stark machten.
Davor warne ich ausdrücklich, weil wir zunächst - heute
mehr denn je - eine Stärkung der UNO insgesamt brauchen; dies ist nicht nur eine finanzielle, sondern vor allem eine politische Frage.
({2})
Die neuesten Entwicklungen zeigen, daß die UNO keineswegs an Bedeutung verloren hat. Gleichwohl können
wir als Parlamentarier - das ist mit der parlamentarischen Dimension gemeint - weltweit begleitend auf Regierungen einwirken und im Dialog vieles bewirken,
was keine Exekutive könnte. Insoweit muß unser Bekenntnis lauten: Weder Wohlstand noch Frieden, noch
Menschenrechte lassen sich ohne Demokratie entwikkeln.
({3})
Manchmal habe ich den Eindruck, die Demokratie
werde bei uns leichtfertig zu Grabe getragen; denken Sie
nur an die Wahlenthaltungen und das endlose Genöle.
Wir wissen um unsere Schwächen. Aber ich rufe dazu
auf, die Konferenz der Interparlamentarischen Union in
Berlin in die Tradition der Konferenzen von 1908 - unglücklicherweise scheiterte der Friede damals -, von
1928 und von 1978 in Bonn zu stellen. Daher sollte von
Berlin folgende Botschaft ausgehen: Wir wollen ein
friedliches Miteinander. Wir wollen, daß die Völker dieser Welt sich demokratisch entwickeln können. Wir
wollen Armutsbekämpfung, Umwelterhalt und Umweltsanierung. Es geht uns darum, daß sich keine Nation
im Alleingang zum Schaden der anderen auf den Weg
macht. Wir wollen im Miteinander der Welt Zukunft geben.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der nächsten Woche findet die 102. Konferenz
der Interparlamentarischen Union hier in Berlin statt. Die
IPU als größte parlamentarische Versammlung der Welt
ist ein zentraler Ort für Debatten über eine zukunftsfähige
Politik. Ihre Empfehlungen zum Internationalen Strafgerichtshof und die 1997 beschlossene Allgemeine Erklärung zur Demokratie sind weiterhin wegweisend.
Ich erwarte mir von der Versammlung in der nächsten
Woche die weitere Unterstützung der Ziele der Demokratisierung, der Gleichstellung der Geschlechter,
der Einhaltung der Menschenrechte und der Bearbeitung der Rahmenbedingungen der nachhaltigen Entwicklung. Dafür will ich mich als Mitglied der deutschen Delegation einsetzen.
Die Konferenz in Berlin bietet auch für uns eine hervorragende Chance, sich mit Parlamentarierinnen und
Parlamentariern aus aller Welt in einer lang gewachsenen und lebendigen Demokratie zu präsentieren. Der
Umzug nach Berlin hatte bei manchen Kommentatoren
die Hoffnung oder die Befürchtung - je nach dem - laut
werden lassen, es entstehe jetzt eine neue „Berliner Republik“. Ich halte davon überhaupt nichts. Ich denke,
daß es uns gerade hier in Berlin gut anstehen würde, im
Inneren eine offene und selbstbewußte Demokratie zu
bleiben und auf internationalem Parkett verantwortungsbewußt, aber bescheiden und sensibel aufzutreten.
Neben der staatlichen Zusammenarbeit und den
Kontakten der Nichtregierungsorganisationen handelt es
sich bei den Kontakten zwischen Parlamentarierinnen
und Parlamentariern aus über 130 Ländern um eine dritte Säule der politischen Zusammenarbeit. Der Kollege Schloten hat das „parlamentarische Diplomatie“ genannt. Ich denke aber, daß diese Art von parlamentarischer Diplomatie bisher nur ein Schattendasein geführt
hat. Während bei den großen internationalen Konferenzen der Vereinten Nationen oder bei der Versammlung
der WTO die Regierungen verhandeln, sind die Parlamente am Verhandlungstisch meist nur marginal beteiligt. Ihre Beteiligung reduziert sich oft auf die Zustimmung zu oder Ablehnung von schon getroffenen Entscheidungen. Ich halte es für notwendig, Parlamentarierinnen und Parlamentarier besser und früher in die Formulierung des Verhandlungsmandats und in den Verhandlungsprozeß einzubinden.
({0})
Wie die Einbeziehung der Akteure der Zivilgesellschaft - Nichtregierungsorganisationen - in die internationalen Verhandlungsrunden sinnvoll und wichtig ist,
ist auch unsere Einbindung wichtig. Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sollten die Kontakte
zwischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus
unterschiedlichen Ländern sehr ernst nehmen.
Ein Schwerpunkt der IPU-Konferenz wird die Reform der parlamentarischen Funktion im internationalen Bereich sein. In diesem Zusammenhang finde ich
es außerordentlich gut, daß bei uns mit der 14. Legislaturperiode endlich ein vollwertiger Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe geschaffen wurde.
Dort besteht für uns jetzt die Möglichkeit, menschenrechtsrelevante Aspekte vor allem der internationalen
Politik, aber auch der nationalen Politik, der Situation in
unserem Land, zu diskutieren. Das wird ein schwerwiegender Punkt sein, den wir mit unseren Kolleginnen und
Kollegen diskutieren werden.
Die Menschenrechtssituation ist in vielen Ländern
weiterhin sehr besorgniserregend. Ein aktuelles und besonders grausames Beispiel ist die Lage in Osttimor.
Dort wurden und werden nach wie vor die elementarsten
Menschenrechte mit Füßen getreten. Gerade Deutschland, das in vielen Jahren sehr enge Beziehungen zu Indonesien aufgebaut hat, die bis zur engen Zusammenarbeit mit dem Suharto-Regime führten, muß das Mandat
der Vereinten Nationen zum Schutz der Zivilbevölkerung und für die friedliche Gestaltung des Unabhängigkeitsprozesses in Osttimor unterstützen.
({1})
Wenn wir die Menschenrechte in den Ländern des
Südens und des Nordens nachhaltig und dauerhaft
sichern wollen, ist vor allem die Beseitigung der großen sozialen Ungerechtigkeiten nötig, die sich aus
strukturellen Ungleichheiten ergeben. Es wird in unserem Land zur Zeit viel von sozialer Gerechtigkeit gesprochen. Ich möchte aber auch an die weltweiten Fragen erinnern, die im nächsten Jahr - fünf Jahre nach
dem Abschluß des Weltsozialgipfels in Kopenhagen noch einmal auf die Tagesordnung kommen. Selbstverständlich sind hier in erster Linie die nationalen Staaten
selbst gefordert. Aber auch wir Parlamentarierinnen und
Parlamentarier müssen ihnen in der Argumentation gegen Ungleichheit und Diskriminierung Hilfestellung leisten. Nur durch eine intensive und effiziente Kooperation mit Ländern des Südens wird es uns gelingen, in Zukunft wirksame Krisenprävention zu betreiben. Dazu
gehört auch der Abbau von Mißtrauen, das zwischen den
Ländern des Nordens und des Südens immer noch in
sehr großem Maße besteht. Ich glaube, daß die Interparlamentarische Union ein Rahmen ist, in dem dieses
Mißtrauen weiter abgebaut werden kann.
({2})
Der zweite Schwerpunkt der diesjährigen IPUKonferenz ist die Überprüfung der derzeitigen global
wirksamen Finanz- und Wirtschaftsmodelle. Unter
dem modischen Stichwort Globalisierung werden einerseits real ablaufende Prozesse beschrieben, zum Beispiel
die enorme Beschleunigung der internationalen Finanzmärkte. Auch die Medienentwicklung läßt die Welt immer weiter zusammenrücken. Andererseits wird der Begriff der Globalisierung aber auch ideologisch verwendet. Der Politik wird nahegelegt, sich möglichst aus der
Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
herauszuhalten. Die Globalisierung ist jedoch kein naturwüchsig ablaufender Prozeß; die Politik darf sich ihrer Gestaltungsaufgabe nicht enthalten. Im Gegenteil;
die Globalisierung muß politisch gestaltet werden.
({3})
Dazu sind Parlamentarierinnen und Parlamentarierer im
internationalen Maßstab besonders herausgefordert.
Die schnelle Entwicklung der internationalen Finanzmärkte und die wirtschaftliche und politischen
Macht internationaler Konzerne bedürfen nicht weniger,
sondern mehr politischer Gestaltung; denn der Markt ist
wie jeder Markt für viele Entwicklungen blind. Das
ökonomische System braucht für seine Funktionsfähigkeit ausschließlich Rückmeldungen über Gewinn und
Verlust. Andere Aspekte werden weitgehend ausgeblendet. Dazu gehören die Durchsetzung der Menschenrechte, die soziale Gerechtigkeit und der Schutz der natürlichen Umwelt.
Auch die Einführung von Umwelt- und Sozialstandards in das internationale Handelssystem bedarf der
politischen Entscheidung und muß sehr gut vorbereitet
werden. Wir sind uns relativ schnell einig, wenn wir
über die Abschaffung von Kinderarbeit oder über die
Notwendigkeit grundlegender Umweltstandards reden.
Der heftigste Widerstand gegen solche Regelungen
kommt jedoch aus den ärmsten Ländern und aus den
Schwellenländern, die darin - manchmal nicht ganz zu
Unrecht - einen neuen Protektionismus der Industrieländer sehen. Für uns wird es darauf ankommen, unsere
Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten des Südens davon zu überzeugen, daß die Einhaltung elementarer Sozial- und Umweltstandards auch in ihrem Interesse ist. Auch die Industrieländer müssen ihren Beitrag
dazu leisten, beispielsweise durch die Armutsbekämpfung und durch den Aufbau von Bildungs- und Gesundheitssystemen.
Bei der IPU-Konferenz nächste Woche besteht die
große Chance, uns mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus Industrie- und Entwicklungsländern über diese
Themen auszutauschen und vielleicht auch Lösungswege zu empfehlen, die weiterführen. In diesem Sinne
wünsche ich uns eine erfolgreiche IPU-Konferenz und
möchte alle Anwesenden auffordern, sich soweit es geht
im Rahmen ihrer Möglichkeiten daran zu beteiligen. Es
kann uns weiterbringen.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Wer wie ich das
Glück hatte, in den letzten Jahren - es sind genau zwölf
- die Entwicklung der Interparlamentarischen Union
nicht nur zu verfolgen, sondern aktiv an ihr teilzunehmen, der kann nicht umhin, einen gewissen Optimismus
zu verspüren. Wenn ich vergleiche, wie die IPU vor
zwölf Jahren zusammengesetzt war und wie sie sich
heute darbietet, dann will ich meiner Überzeugung Ausdruck geben, die da lautet: Demokratie ist eine anstekkende Gesundheit. Ich bin wirklich erfreut, zu sehen,
daß heute die Länder, die keine vernünftigen parlamentarischen Systeme haben, weniger geworden sind.
Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Parlament eines afrikanischen Landes. Das war architektonisch eine genaue Nachbildung des WestminsterParlaments. Wir fragten: Wie sind denn hier die Sitze
verteilt? Daraufhin sagte man: Auf dieser Seite sitzen
die Vertreter der Regierungspartei. Dann fragte ich: Wer
sitzt da gegenüber? Die Antwort war: Dort pflegte die
Opposition zu sitzen, als wir noch eine Opposition hatten. - Inzwischen sitzt da wieder eine Opposition, und
ich finde das großartig.
({0})
Ich habe auch einmal einen Inselstaat im Fernen
Osten besucht. Man zeigte uns - damals herrschte dort
noch eine stramme Diktatur - voller Stolz das Parlamentsgebäude. Man war glücklich darüber, daß man uns
etwas voraushatte: Man hatte nämlich eine elektronische
Abstimmungsanlage. Nur, bei näherem Hinsehen stellte
sich heraus: Da gab es nur einen Knopf, nämlich den für
Ja. Inzwischen gibt es auch dort mehrere Knöpfe, und
ich glaube, das ist ein Fortschritt.
Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an die
IPU-Konferenz im Frühjahr 1989 in Budapest. Als
wir dort unsere Konferenz abhielten, herrschte noch das
kommunistische Regime, aber in den Straßen gab es
eine machtvolle Demonstration, es wurde ein Fackelzug
im Gedenken an den ermordeten Ministerpräsidenten
Imre Nagy und für die sich neu entwickelnde Demokratie durchgeführt.
Ich erinnere an die IPU-Konferenz im Frühjahr
1991 in Pjöngjang in Nordkorea, zu der wir erstmals
mit einer gesamtdeutschen Delegation gereist sind. Das
war nach der deutschen Einheit. Die Kollegen aus der
früheren DDR waren noch viel stärker beeindruckt als
wir, und sie sagten: Jetzt können wir uns ausmalen, was
uns erspart geblieben ist und wohin die Entwicklung in
der DDR möglicherweise hätte führen können. Das Regime in Nordkorea ist für mich nie besser charakterisiert
worden als durch den Stoßseufzer, den wir alle ausgestoßen haben, als wir - zwei Jahre nach dem Massaker
am Tiananmen - in Peking am Flughafen, von Pjöngjang kommend, gelandet sind. Wir haben tief durchgeatmet und gesagt: Back to the free world again.
Meine Damen und Herren, wir haben es erlebt, daß
sich die Länder, die in der IPU vertreten sind, und die
Parlamente wesentlich geändert haben. Vor zehn Jahren
war noch die Delegation der Sowjetunion mit dabei;
jetzt sitzen dort Delegationen zahlreicher unabhängiger
Staaten, darunter auch die der baltischen Staaten. Wir
saßen noch mit einer Delegation aus der DDR Seite an
Seite. Es gab immer Rivalitäten, und man sprach eigentlich offiziell nicht miteinander. Abends, beim Rotwein,
lockerten sich aber die Zungen. Wir bekamen allerdings
noch im Jahre 1989 gesagt: Da sollen doch die Ungarn,
die Polen und die Tschechen machen, was sie wollen;
bei uns wird sich überhaupt nichts ändern. - Welch ein
Irrtum!
Dieses alles verfolgt zu haben heißt auch, daß man
mit den Vertretern unterschiedlichster Kulturen immer
im Gespräch gewesen ist. Wir haben den Kollegen aus
den anderen Ländern erklärt, daß wir Deutsche uns nach
der Vereinigung nicht überheben werden, daß wir zuverlässige, berechenbare, gute Partner und Nachbarn
sein wollen, auch wenn unser Land größer und stärker
geworden sein sollte. Dies hat viel ausgemacht. Die IPU
bietet nämlich auch ein Forum für die Begegnung zwischen unterschiedlichen Kulturen. Ich erinnere daran,
daß wir jetzt mit dem Iran in nähere Kontakte treten
wollen, und das auch mit Respekt vor der anderen Kultur.
Wir müssen uns klar sein, daß für unsere Länder die
parlamentarische Demokratie unseres Zuschnitts natürlich das einzig richtige System ist. Wir sollten uns aber
nicht überheben und auch Respekt haben, wenn wir zum
Beispiel bei afrikanischen Parlamenten erleben, daß man
dort eher den Konsens sucht und nicht die Mehrheit, die
sich gegenüber der Minderheit durchsetzt. Für die Staatenbildung, für das Zusammengehörigkeitsgefühl des
Landes ist das durchaus ein Faktor, den man respektieren muß. Wir sollten das nicht nachahmen. Allerdings
sind manche sogenannte Einparteiensysteme in anderen
Kulturen in Wahrheit keine Einparteiensysteme. Vielmehr sind sie ein Resultat eines Konsenses, des Palavers, daß man sich zusammenfindet und den anderen
überzeugt. Auch wenn uns diese Methoden natürlich
fremd sind, sollten wir Respekt haben und nicht von
vornherein davon ausgehen, daß unser Modell auf alle
anderen zu übertragen sei.
Insofern möchte ich über das hinaus, was die Kollegen richtigerweise gesagt haben, zu den Themen, mit
denen sich die IPU beschäftigt, und zu den Beschlüssen,
die dort gefaßt werden, sagen: Ich glaube, daß diese Begegnungsstätte von Politikern - vor allem auch Politikerinnen - aus allen Ländern der Welt, aus den unterschiedlichsten Kulturen uns in unserem Bemühen weiterhelfen kann, uns dafür einzusetzen, wofür die IPU in
ihrer Geschichte immer gestanden hat und auch in Zukunft stehen wird, nämlich Frieden, Freiheit und Menschenrechte zu verbreiten.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Stellung und Rechte der Interparlamentarischen Union müssen gestärkt werden. Im Zeitalter der Globalisierung sind politische Strukturen - dazu gehört auch der weltweite Zusammenschluß von
Parlamentarierinnen und Parlamentariern - stärker denn
je gefordert. Für die weltweite Fortentwicklung von
Demokratie und die Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte sind sie unverzichtbar. Insofern unterstützt
die PDS das Grundanliegen des vorliegenden interfraktionellen Antrags.
Sie fordern mehr parlamentarische Kontrolle der
internationalen Wirtschafts-, Handels- und Finanzorganisationen. Ja, die Programme der internationalen
Organisationen, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, oder die Politik der Welthandelsorganisation entscheiden über Wohl und Wehe ganzer Völker.
Doch wo, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und F.D.P., hat sich die alte Bundesregierung tatsächlich dafür eingesetzt, sie stärker zu kontrollieren?
Von der neuen rotgrünen Regierung ist in erster Linie zu
hören, man dürfe der Wirtschaft keine Steine in den
Weg legen; vermeintlich wirtschaftsfeindliche Politik sei
mit ihr nicht machbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um die Frage, ob die Politik wieder die Oberhand bekommt, um die
internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu
gestalten. Wirtschaftliche Prozesse werden von Rahmenbedingungen bestimmt, die die Politik setzen muß.
Wenn sie das nicht tut, wird die Globalisierung der
Weltökonomie weiter dazu führen, daß immer mehr
Menschen verelenden, aber einige noch reicher werden.
({0})
Dieser Prozeß vollzieht sich bekanntlich in erster Linie auf dem Rücken von Frauen. Die Internationale Arbeitsorganisation hat diese Woche dazu interessante
Zahlen veröffentlicht. Danach hat die Wirtschafts- und
Finanzkrise in Asien dazu geführt, daß Frauen zunehmend vom Arbeitsmarkt verdrängt werden.
Die Situation der Frauen in fast allen Krisenländern
hat sich verschärft. Rund 70 Millionen Frauen aus asiatischen Staaten sind ausgewandert. Viele sind in ungeschützte Arbeitsverhältnisse als Haushaltshilfen gedrängt worden, in die Prostitution, etliche davon als Opfer von Menschenhandel. Genau hier gibt es erheblichen
Handlungsbedarf der Politik und der Parlamente, und
zwar weltweit.
Die Welternährungsorganisation hat gestern berichtet,
daß Frauen den Löwenanteil an der Ernährung in den
sogenannten Entwicklungsländern produzieren. Aber
einen Zugang zu Grund und Boden, zu Krediten oder
modernen Techniken bekommen Frauen deshalb noch
lange nicht. Die Globalisierung drängt die Frauen an den
Rand und verstärkt gleichzeitig ihre Ausbeutung und
Diskriminierung. Die erstmals regulär stattfindende vorgeschaltete Frauenversammlung der Interparlamentarischen Union muß und wird sich genau diesen Themen
widmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wichtig und
angemessen der Kampf um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auch und gerade auf dieser Ebene ist,
zeigt übrigens die Tatsache, daß auch auf der bevorstehenden IPU-Tagung Frauen beschämend unterrepräsentiert sein werden. Ich habe heute morgen die neusten
Zahlen aus Genf erfahren: 520 Parlamentariern stehen
sage und schreibe gerade 142 Parlamentarierinnen gegenüber. Ich begrüße es sehr, daß eine Frau den Vorsitz
bekommen wird.
Mein Fraktionskollege Dr. Ilja Seifert hat sich in den
letzten Jahren stark dafür eingesetzt, daß sich auch Abgeordnete mit Behinderungen im Rahmen der IPU
oder mit ihrer Unterstützung treffen können. Der UNSonderberichterstatter für Behindertenfragen, Bengt
Lindquist, mit dem ich vor kurzem sprechen konnte, hat
diese Initiative sehr begrüßt. Ich denke, der Deutsche
Bundestag könnte ein wichtiges Signal setzen, wenn er
genau diese Idee aufgreift und sich für ihre Umsetzung
stark macht.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich erteile das Wort
dem Staatsminister Dr. Christoph Zöpel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung freut sich
über diesen Antrag von vier Fraktionen dieses Hauses.
Der Antrag entspricht einer deutschen Außenpolitik, die
mehr und mehr zur internationalen Politik werden muß
und die im Rahmen der Staatengemeinschaft Verantwortung für globale Prozesse zu übernehmen hat. Die
Bundesregierung freut sich über Ihre Debattenbeiträge;
sie wird sie berücksichtigen. Besonders eindrucksvoll,
Herr Kollege Irmer, war Ihr Satz von Demokratie als ansteckender Gesundheit. Ich werde ihn mir merken.
({0})
Der Antrag enthält drei konkrete Aufforderungen
an die Bundesregierung, zu denen ich in der gebotenen
Kürze etwas sagen möchte. Die Bundesregierung wird
aufgefordert, die Bemühungen der IPU um Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu unterstützen
und nach Möglichkeit durchzusetzen. Dies zu tun ist für
die Bundesregierung eine Selbstverständlichkeit.
Die Bundesregierung wird ferner aufgefordert, die
Absicht, die IPU zur parlamentarischen Dimension der
Vereinten Nationen zu machen, zu unterstützen. Dies hat
die Bundesregierung seit 1996 getan, indem sie das Kooperationsabkommen zwischen der UNO und der IPU
unterstützt hat und seitdem die jährlichen Resolutionen
der Generalversammlung zur Unterstützung der IPU
mitträgt. Die Bundesregierung wird dies fortsetzen.
Die Bundesregierung hält es nicht für falsch, zu überprüfen, ob das, was unter dem Stichwort „parlamentarische Dimension“ verstanden wird, weiterzuentwickeln
ist. Dies gehört in den Zusammenhang der Überlegungen zur Stärkung und Reform der Vereinten Nationen.
Jede Anregung, die vom Bundestag wie auch von der
IPU generell auf diesem Gebiet erfolgt, wird von uns
gern aufgenommen, diskutiert und auf ihre Durchsetzbarkeit vor allem gegenüber anderen Staaten geprüft.
Das interessanteste Begehren ist die dritte Aufforderung, nämlich diejenige, mit dazu beizutragen, die demokratische Kontrolle der internationalen Wirtschafts-, Handels- und Finanzorganisationen zu stärken. Aus Sicht der Bundesregierung kann es keinen
Zweifel daran geben, daß globale wirtschaftliche Prozesse genauso eines Ordnungsrahmens bedürfen wie nationale wirtschaftliche Prozesse.
({1})
Ich glaube, der Beitrag, den die Wirtschaftsgeschichte
der Bundesrepublik Deutschland zur Formulierung eines
Rahmens oder - wie wir es oft sagen - einer Ordnung
geleistet hat, beginnend mit Ludwig Erhard und Alfred
Müller-Armack, fortgesetzt durch Karl Schiller, ist eine
Vorleistung, die Deutschland auf dem Gebiet, eine Ordnung für weltwirtschaftliche Prozesse zu schaffen, der
Welt bieten kann. Da es eine Selbstverständlichkeit war,
daß die gesetzlichen Grundlagen dieses Rahmens und
dieser Ordnung demokratisch legitimiert und kontrolliert
werden müssen, halte ich die Überlegung für richtig und
notwendig, wie auch der weltwirtschaftliche Ordnungsrahmen demokratisch legitimiert und kontrolliert werden
kann.
({2})
Dies geschieht selbstverständlich durch die Ratifizierung
entsprechender Gesetze durch die nationalen Parlamente. Die Frage aber ist nicht falsch, ob auch interparlamentarische Einrichtungen daran beteiligt werden können.
Ich schließe - wenn die Bundesregierung sich das gegenüber dem Parlament erlauben darf - diese Zusage der
Bundesregierung mit einer Anregung: Es dürfte viel
Sinn machen, wenn der Deutsche Bundestag zunächst
mit den Parlamenten der anderen G-7-Staaten - und vor
allem mit dem Senat und mit dem Repräsentantenhaus
der Vereinigten Staaten - hierüber sprechen würde. Falls
dazu organisatorische Hilfe seitens der Bundesregierung
notwendig ist, leistet sie diese gern.
Haben Sie herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat Kollege Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit
einem Dank an unsere Leitung, Frau Professor Süssmuth
und Herrn Schloten, beginnen, die uns hervorragend in
all diesen internationalen Gremien vertreten. Lassen Sie
mich weiter den Mitarbeitern aus Ihrer Verwaltung, Herr
Präsident, und vom Auswärtigen Amt danken, die wirklich bravourös auch diese internationale Tagung hier in
Berlin vorbereitet haben.
({0})
Das Thema lautet: „Die Rolle der IPU im Zeitalter
der Globalisierung“. Ich möchte mich hier einigen mehr
praktischen Fragen zuwenden. Eigentlich diskutieren
wir ein bißchen so, als wenn die IPU nicht schon ständig
global gedacht und gehandelt hätte, als wenn sie nicht
schon ständig die nationalen Parlamente zum Handeln
veranlaßt hätte. Global zu denken ist eigentlich der
selbstverständliche ständige Auftrag der IPU.
Natürlich hat sich der Begriff „Globalisierung“ gewandelt. Heute bezeichnen wir damit vorrangig die Entstehung weltweiter Märkte für Produkte, Kapital und
Dienstleistungen. Dieser Begriff dient auch als neuer
Bösewicht, als Verursacher vieler Fehlentwicklungen,
auf den alles abgeschoben werden kann. Stefan Baron
unterstellt beispielsweise: Die Politiker gebrauchen die
Globalisierung als Ausrede für ihr Nichtstun oder als
Entschuldigung für ihre Erfolglosigkeit, die Manager als
Begründung für den Abbau von Arbeitsplätzen im Inland, für das Einkassieren von Nebenleistungen und für
Investitionen im Ausland. Altbundespräsident Herzog
sieht das viel positiver. Er meint, daß hier auch ein
Weltmarkt für neue Ideen geschaffen worden sei. Ich
meine, wir sollten neben allen Gefährdungen, die von
der Globalisierung ausgehen, natürlich auch die Chancen sehen und sie nutzen.
Die Frage ist also: Welche Rolle hat die IPU nun im
Zeitalter der Globalisierung zu spielen? Ich meine, sie
muß noch mehr als bisher ein Forum für globale Fragen sein, um eine ständige Plattform für die umfassende,
aber auch streitige Behandlung von globalen Fragen anzubieten. Beim Auswärtigen Amt ist ein entsprechendes
Forum eingerichtet worden, das sich dieser Aufgabe
widmet. Es geht hier um den Wettstreit zwischen Ideen
und Traditionen oder - wenn ich es zusammenfassen
darf - anders ausgedrückt: Weltökonomie braucht Weltpolitik. Sie alle haben das in ihren Beiträgen schon beschrieben.
Die Aufgabenstellung lautet also, Ideen und Visionen
für die Zukunft zu entwickeln. Wir müssen Antworten
geben, die im neuen Jahrhundert Bestand haben. Hierbei
geht es nicht nur um Probleme, die durch den Globalisierungsprozeß entstanden oder verschärft worden sind,
sondern auch um Probleme bei seit langem bestehenden
Herausforderungen in den Bereichen Umwelt und Entwicklung, Armutsbekämpfung, Menschenrechte, Migration, Friedenssicherung oder Krisenprävention. Ihnen
allen ist gemeinsam, daß sie von den Nationalstaaten
allein nicht mehr bewältigt werden können. Ihre Lösung
ist aber trotzdem von entscheidender Bedeutung. Ich
meine, wir in der IPU haben jetzt die große Chance,
Strategien und Lösungen für die globalen Probleme
zu erarbeiten, unterschiedliche Sichtweisen zusammenzuführen und das Spannungsverhältnis von Wirtschaft
und Politik aufzuhellen sowie länderübergreifende
Initiativen zu erarbeiten.
Die Weltkonferenzen der vergangenen Jahre demonstrierten das Vorhandensein dieses Bewußtseins durchaus. Ich erinnere hier nur an die Agenda 21. Doch - das
meine ich selbstverständlich auch kritisch - die Institutionen und Regelwerke in der Weltgemeinschaft blieben
bisher in mancher Hinsicht Stückwerk. Die Ansätze,
Weltpolitik zu gestalten, sind vielfach unverbunden und
leisten noch keinen Beitrag zum Zusammenwirken der
verschiedenen Ebenen. Die Entwicklung der Welt wird
nicht gesteuert. Vielmehr hat man den Eindruck, daß der
Zug zuweilen in die falsche Richtung driftet. Wir stehen
also vor der Herausforderung, ausgetretene Pfade zu
verlassen und zukunftsfähige Reformen unserer Gesellschaft einzuleiten.
Natürlich ist diese Einsicht vorhanden, aber ich habe
manchmal das Gefühl, daß sie vielfach durch Rückfälle
in das Denken und Handeln in den Kategorien der nationalstaatlichen Macht- und Interessenpolitik begleitet
wird. Das Bestreben, hierfür internationale Regelungen
zu finden - also das Stichwort „global governmance“ -,
auszugestalten und zu praktizieren, hat ja nicht unbedingt Konjunktur.
Meine Damen und Herren, wieder an die Adresse der
IPU: Unsere hehren Gedanken und Vorschläge nützen
nichts, wenn sie nicht transportiert, einer breiten Öffentlichkeit nachhaltig zugänglich gemacht und vermittelt
werden können. Deswegen rege ich an, daß bei einer
internen Reform auch der IPU von den Chancen durch
Internet, Rundfunk und Fernsehen, von der weltweiten
Verbreitung unserer Ideen mehr Gebrauch gemacht wird
als bisher. Ich meine, gerade hier in Berlin sollten wir
diese Chancen ergreifen. Natürlich ist das ein weites
Feld. Es gibt sicher viele Fragen, Herr Schloten und
Frau Professor Süssmuth, und natürlich auch viele Fragezeichen.
Gestatten Sie mir, ganz selbstkritisch zu sagen: die
IPU, das unbekannte Wesen. Die Parlamentarier kennen
die IPU; draußen kennt keiner sie. Die Themen leiden
darunter und verkümmern eben auch ein klein wenig,
trotz ihrer unbestrittenen Wichtigkeit.
Ich habe es schon erwähnt: Wir versuchen, mit
einem Forum hier einiges zu erreichen. Wir versuchen,
moderne Wege zu gehen, weil wir wissen, daß wir diese Fragen nicht allein regeln können. Niemand besitzt
mehr ein Monopol auf Lösungskompetenz. Deswegen
lenken wir unseren Blick auf die UNO, die gestärkt
werden muß, die sich aber auch reorganisieren muß
und die diese Fragen intensiver zu berücksichtigen hat.
Dabei müssen nach meiner Einschätzung die starken
Länder die UNO nachhaltig unterstützen. Die armen,
die schwachen Länder können es nicht. Wir sollten
eine entsprechende Werbekampagne starten und die
Chancen nützen.
Der von uns formulierte fraktionsübergreifende Antrag bestätigt all diese Problemlagen, fordert entsprechende Lösungen, neue Instrumente, neue Wege. Aber das sage ich zum Schluß - wir müssen uns dabei durchaus bewußt sein, meine Damen und Herren: In vielen
der Bereiche, die wir angesprochen haben und bei denen
wir uns auch einig sind, müssen wir mit gutem Beispiel
vorangehen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1567 an den in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5a und 5b, auf:
a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung der Förderung der
ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft
- Drucksachen 14/1516, 14/1669 ({0})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1})
- Drucksache 14/1711 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/1713 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner
Hans-Joachim Fuchtel
Antje Hermann
Jürgen Köppelin
Dr. Christa Luft
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) zu dem Antrag der
Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neuregelung zum Schlechtwettergeld noch in
dieser Winterperiode
- Drucksachen 14/1215, 14/1711 Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne
die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Konrad Gilges, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Von der IPU zum Schlechtwettergeld - Karl
Marx würde in dieser Situation sagen: vom ideologischen Überbau zur ökonomischen Realität.
({0})
Es geht also um das Gesetz zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft. Das ist der Abschluß einer langen Debatte, der
heute hier stattfindet und den wir begrüßen, einer langen
Debatte, die schon Anfang der 90er Jahre begann. Deswegen ein kurzer Rückblick: Die damalige Regierung
von CDU/CSU und F.D.P. hat eine Neuregelung des
Schlechtwettergeldes vorgenommen, um 700 Millionen
DM einzusparen. Aber diese Regelung hat dazu geführt,
daß der Bundesanstalt für Arbeit in dem Winter, der
nach der Abschaffung des Schlechtwettergeldes folgte,
durch eine erhöhte Zahl von arbeitslosen Bauarbeitern
zusätzliche Kosten von 1,5 Milliarden DM entstanden
sind. Die Regelung hat die Kosten in diesem Bereich
verdoppelt. Deswegen war sie unsinnig und blödsinnig.
Es ist daher notwendig, daß dieser Quatsch endlich geändert wird.
({1})
Die Regelung hat auch deutlich gemacht, daß Sie nicht
rechnen können. Sie weisen in Ihrem Bericht lediglich
darauf hin, daß sich diese Regelung insgesamt bewährt
hätte. Herr Schemken hat dies sehr schwammig formuliert. Im Klartext heißt das, daß sich diese Regelung
nicht bewährt hat.
Ein weiterer Punkt. Sie wollten die Arbeitslosigkeit
am Bau reduzieren. Dies ist Ihnen nicht gelungen. Die
Arbeitslosigkeit hat sich in den 90er Jahren verdoppelt.
Einige Fachleute sagen sogar, daß sie sich mehr als verdoppelt hat.
Des weiteren haben Sie ein Chaos am Bau angerichtet. Sie haben den sozialen Frieden zwischen Arbeitgebern und Bauarbeitern in erheblichem Maße gestört.
({2})
Unsere Aufgabe im Rahmen der zweiten und dritten
Lesung ist es, in das Chaos und den Unfrieden, die zur
Zeit am Bau herrschen, endlich wieder Ordnung und
Frieden hineinzubringen. Ich bin überzeugt, daß uns dies
sicherlich mit unserem Gesetz gelingen wird.
({3})
Wir Sozialdemokraten waren immer der Meinung,
daß eine tarifvertragliche Regelung Vorrang vor jeder
gesetzlichen Regelung hat.
({4})
Ein neuer Tarifvertrag ist jetzt zwischen den Bauarbeitgebern und der Gewerkschaft BAU zustande gekommen. Ich hoffe, daß dieser Tarifvertrag lange trägt.
Unsere Aufgabe ist es - wie auch in vielen anderen Bereichen -, diesen Tarifvertrag durch Maßnahmen der
Gesetzgebung zu flankieren. Im Tarifvertrag wird zum
Beispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vereinbart. Es ist üblich, daß wir anschließend für die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen sorgen.
Die jetzige tarifvertragliche Regelung besteht darin,
daß die Bauarbeiter 30 Stunden vorarbeiten müssen.
Dieser Eigenbeitrag wird dann in Schlechtwetterzeiten
angerechnet, also dann, wenn die Arbeit am Bau auf
Grund von Frost und Regen nicht mehr fortgesetzt werden kann. Für die nächsten 70 Stunden zahlen die Arbeitgeber das Winterausfallgeld aus der Winterbauumlage. Ich finde, daß das Verhältnis von 30 : 70 eine gerechte Verteilung der Lasten zwischen Bauarbeitern und
Arbeitgebern ist. Alle anderen vorherigen Regelungen
waren ungerecht. Diese Regelung, die die Gewerkschaft
BAU mit den Arbeitgebern ausgehandelt hat, ist gut.
({5})
Ab der 101. Stunde übernimmt die Bundesanstalt für
Arbeit die Zahlung des Winterausfallgeldes. Diese Zahlungen stammen aus einer Kasse, in die auch die Bauarbeiter zu einem erheblichen Teil eingezahlt haben. Die
Bauarbeiter bekommen also nichts geschenkt. Das
Winterausfallgeld wird ab der 101. Stunde also auch aus
Beitragszahlungen der Bauarbeiter finanziert.
Wir begrüßen besonders das Verbot von witterungsbedingten Kündigungen. Es ist wichtig, daß keinem
Bauarbeiter mehr gekündigt werden kann, weil auf
Grund von Regen und Frost die Arbeiten auf dem Bau
nicht mehr fortgesetzt werden können.
({6})
Sie wissen ja, daß ich von Beruf Fliesenleger bin.
Daher weiß ich: Man kann zwar seine Arbeit vermurksen, aber an den Witterungsverhältnissen ist man unschuldig.
({7})
Ob eine Baustelle wetterfest gemacht wird, kann der
Bauarbeiter nicht beeinflussen. Deswegen kann es nicht
richtig sein, daß einem Bauarbeiter - wie in der Vergangenheit - witterungsbedingt gekündigt werden kann.
Dies ist jetzt verboten. Wenn der Arbeitgeber gegen dieses Verbot verstößt, dann ist im Gesetz vorgesehen, daß
er das von der Bundesanstalt für Arbeit gezahlte Winterausfallgeld zurückzahlen muß. Ich glaube, das ist eine
vernünftige, mit Sanktionen belegte Regelung.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Kosten sagen
- Herr Schemken und Abgeordnete der F.D.P. haben dazu im Ausschuß schon etwas gesagt -: Die Kostenrechnung stimmt schlicht und einfach nicht. Die Bauarbeitgeber und die Bauarbeitnehmer wissen mittlerweile, daß
alle Ihre Regelungen in diesem Bereich immer teurer als
die alten Regelungen und als die neue Regelung waren;
Sie können nicht rechnen. Bauarbeiter können aber
rechnen; das gehört zum Beruf. Bauarbeiter brauchen
weder gut schreiben noch gut reden zu können; aber
rechnen müssen sie als Grundvoraussetzung für diesen
Beruf können. Das steht im Gegensatz zu dem, was
Politiker können müssen. Sie müssen gut reden und gut
schreiben können.
({8})
- Herr Kollege, das ist überhaupt kein Zielkonflikt. Ich
bekenne mich dazu, besser rechnen als schreiben zu
können.
Alle Ihre Berechnungen waren und bleiben falsch. Ich
bin froh, daß wir jetzt eine für die Bundesanstalt für Arbeit, für die Bauarbeiter und für die Arbeitgeber kostengünstige Regelung haben, wie man sie besser nicht machen kann.
Ich gehe davon aus, daß der Gesetzentwurf ein tragfähiger Kompromiß ist und daß es am Bau wieder sozialen Frieden gibt, wie es ihn vor der Abänderung der
Schlechtwettergeldregelung durch Sie gab.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Gilges,
ich freue mich, daß der soziale Frieden am Bau wieder
eintritt. Wir sind nicht nur für sozialen Frieden, sondern
auch für Arbeit am Bau. Das ist ganz wichtig.
({0})
Ich gehe davon aus, daß uns dieser Wunsch verbindet.
Diese Schlechtwettergeldregelung ist eine halbe Lösung; da beißt keine Maus den Faden ab. Diese
Schlechtwetterregelung ist nicht nur eine halbe, sondern
auch eine schlechte Lösung. Sie ist deshalb eine
schlechte Lösung, zumindest ein fauler Kompromiß,
weil Sie den Bauarbeitern etwas völlig anderes versprochen haben. Sie haben zugesagt, die Regelung wieder
herbeizuführen, die vor den Anpassungen der 90er Jahre
Gültigkeit hatte. Dieses Versprechen haben Sie nicht
gehalten.
({1})
Das paßt zu Ihrer Linie: versprochen und - diesmal nicht
ganz, aber halb - gebrochen.
Kollege Schemken,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Ich habe zwar noch
gar nicht richtig angefangen, aber weil Herr Dreßen sehr
wahrscheinlich in weiser Voraussicht ahnt, was ich noch
sagen werde, gebe ich ihm schon jetzt die Möglichkeit
zu einer Zwischenfrage. Bitte schön.
Ich möchte Sie etwas zu dem
fragen, was Sie gerade gesagt haben. Ist Ihnen nicht bekannt, daß der Inhalt des Gesetzentwurfs Grundlage
einer Tarifauseinandersetzung - Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben sich verständigt - war? Wie können
Sie behaupten, es handele sich nur um eine halbe Lösung und wir hätten unser Versprechen nicht gehalten?
Akzeptieren Sie nicht, daß beide Seiten mit dem Ergebnis der Tarifverhandlungen leben können?
Bei mir ist immer
entscheidend, was unten herauskommt. Sie haben während des Wahlkampfes oben hineingegeben: Wir schaffen die Regelung, die die Koalition in den 90er Jahren
fortgeschrieben hat, ab, und wir kommen wieder zu der
alten Schlechtwetterregelung.
({0})
Von Ihren Rednerinnen und Rednern ist sogar die Regelung beschworen worden, die es unter Konrad Adenauer
gab. Dieses Versprechen haben Sie nicht gehalten. Man
muß darüber reden, ob heute noch mit den Regelungen
der damaligen Zeit Fragen der nationalen und internationalen Bauwirtschaft beantwortet werden können.
Ausgangslage ist die fortgeschriebene Regelung. Diese Regelung ist auf dem Weg des Kompromisses zwischen Bauwirtschaft, Bauhandwerk und IG BAU zustande gekommen. Grundlage dafür war die Gravenbrucher Erklärung vom 12. April 1997. Wir haben nicht an
den Sozialpartnern vorbei sozialen Unfrieden gesät;
vielmehr haben wir miteinander - das war notwendig die existierende Regelung fortgeschrieben. Die Zustimmung der IG BAU war vorhanden, und wir halten uns an
diese Regelung.
Auch nach diesem Gesetz der Regierungskoalition
hat im Grunde genommen der Kern dessen, was die Regierung Kohl geschaffen hat, also das flexibilisierte
Dreisäulenmodell und auch die Frage der Kündigung
aus Witterungsgründen, nach wie vor Gültigkeit. Es ist
doch uns allen klar, Herr Gilges, daß man mit
Fausthandschuhen keine Fliesen auf dem Bau legen
kann. Insofern geht es nicht um diese Frage. Dieses Modell steht auch in dem von Ihnen vorgelegten und meiner
Meinung nach rückwärtsgewandten Gesetz.
Die erste Säule beinhaltete ja, daß während der Saisonzeit am Bau über Arbeitszeitkonten die mehr geleisteten Arbeitsstunden erfaßt werden, die dann bei
Schlechtwetterzeiten im Winter als Ersatz für nicht geleistete Stunden angerechnet werden. Zwei Drittel der
Baubetriebe - ich habe mir das gerade noch von einem
Kollegen sagen lassen - praktizieren dies im übrigen mit
großem Erfolg. Ein Kollege aus dem bayerischen Neumarkt - dort herrschen nicht unbedingt die Witterungsverhältnisse, wie man sie in weiter südlich gelegenen
Gefilden vorfindet - sagte mir, daß niemandem von den
dort arbeitenden 4 000 Beschäftigten bei einer Firma im
Baubereich gekündigt werden mußte, da man teilweise
über 150 Stunden vorgearbeitet hatte.
({1})
Das entscheidende Ziel, Herr Ostertag - das haben die
Tarifpartner ja wiederholt angestrebt, aber es ist leider
nicht dazu gekommen -, war die Sicherstellung eines
auf 12 Monate verteilten Jahreseinkommens.
({2})
Die Sicherheit des Lohnes ist ja auch eine soziale Frage.
({3})
Ich komme nun zur zweiten Säule, die ganz wichtig
ist: Hier wird entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip
von einer zumutbaren flexiblen Eigenleistung ausgegangen. Die Unternehmen gleichen Lohneinbußen erst
dann durch Rückgriff auf einen Fond aus, wenn entsprechende Eigenleistungen nicht möglich waren. In diesen
Fonds wird die Winterbauumlage - die haben Sie, Herr
Gilges, ja eben schon angesprochen - eingezahlt, die als
solidarische Leistung das ausgleicht, was an Eigenleistung nicht erbracht werden kann.
({4})
- Das ist schwierig, Frau Rennebach; aber wir können
nicht nur rechnen, sondern Sie müssen auch mit uns
rechnen.
({5})
Die dritte Säule stellt das Schlechtwettergeld dar. Es
wird dann gezahlt, wenn sowohl die erbrachten Eigenleistungen als auch die Winterbauumlage nicht mehr
greifen. Sie stellen das ganze System jetzt rückwärtsgewandt eigentlich wieder auf den Kopf, wenn Sie diese
von den Beitragszahlern aufzubringende ergänzende
Leistung erhöhen wollen.
({6})
- Ihr Vorhaben ist deshalb rückwärtsgewandt, weil Sie
bei Ihren Berechnungen von falschen Zahlen ausgehen.
Auf diese Weise muß nämlich die Bundesanstalt für Arbeit 50 Millionen DM mehr ausgeben. Ich glaube nicht,
daß das weniger wird. Sie belasten damit die Gemeinschaft der Beitragszahler, die 50 Millionen DM mehr
aufzubringen hat.
({7})
Lassen Sie den Redner doch einmal zu Wort kommen! Wenn Sie sich privat
unterhalten wollen, müssen Sie woanders hingehen.
({0})
Ich hoffe, daß es
nicht von meiner Zeit abgezogen wird, wenn sich hier
das Plenum unterhält. Ich würde nämlich auch gerne
mitreden.
({0})
Der Beitragszahler wird also belastet. Dadurch treiben Sie die Lohnnebenkosten teilweise um 20 Prozent in
die Höhe. Das ist ein ganz wichtiger Punkt angesichts
der internationalen Konkurrenz auf den Baustellen und
schafft im übrigen keine Arbeitsplätze im Binnenmarkt,
weil die Bauwirtschaft von außen bedient wird. Dadurch
wird die Schaffung von Arbeitsplätzen, die wir hier bitter nötig brauchen, nicht gefördert.
({1})
Sie verkomplizieren, statt zu vereinfachen. Das wäre das
Gebot der Stunde. Sie reglementieren, statt zu flexibilisieren.
({2})
Sie belasten gerade die Unternehmen aus der mittelständischen Wirtschaft und aus dem Handwerk, die uns Arbeits- und Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen.
({3})
Das wurde heute morgen in Gesprächen noch einmal
deutlich.
Hinzu kommen die gravierenden Einschnitte im
Bundeshaushalt. Jetzt komme ich zu der angekündigten
Rechnung, Herr Gilges. Ich würde dem Minister wünschen, daß er den Weg, der eingeschlagen ist, jetzt korrigiert und das aufnimmt, was wir ihm ins Buch schreiben möchten: Die mittelfristige Finanzplanung im Wohnungsbau der Bundesrepublik Deutschland betrug 1998
3,49 Milliarden DM und beträgt im Jahre 2003
2,15 Milliarden DM. Das sind bei zukünftiger Dynamisierung präterpropter 1,3 Milliarden DM weniger für
den sozialen Wohnungsbau. Hiervon sind Arbeitsplätze
betroffen. Stocken Sie die Mittel auf! Dem Minister
können wir zusagen: Wir machen mit.
({4})
Im gleichen Zeitraum passiert im Bereich des Städtebaus noch Gravierenderes: Die Mittel in diesem Bereich
werden von 700 Millionen auf 600 Millionen DM zurückgeführt. Über den von Ihnen eingeführten Titel „Die
soziale Stadt“ kann man sprechen. Nur, daß dieser Titel
angesichts einer Kürzung der Mittel weitere 100 Millionen DM notwendig macht, zeigt, daß Sie nicht verstanden haben, daß gerade beim Städtebau auf Grund der
dortigen Komplementärleistungen durch die private
Wirtschaft und die Kommunen und teilweise im Rahmen von Muskelhypotheken ein Vielfaches an Arbeitsplätzen geschaffen werden kann, als dies im Rahmen
eines solchen Titels möglich ist.
({5})
Sie kürzen die Mittel für den Wohnungsbau um zirka
1 Milliarde DM. Das ist der schlagende Beweis dafür,
daß Sie nicht erkennen, daß es hier weniger auf Reglementierung und mehr auf Investitionen ankommt. Die
Mittel für Investitionen reduzieren Sie. Daß das bei
einem Bundeskanzler passiert - ich sage das ausdrücklich -, der unter den Stichworten Modernisierung, Herausforderungen und Antworten, die im internationalen
Konzert gegeben werden müssen, antritt, ist kontraproduktiv.
Ich sage Ihnen ganz offen: Sie sollten sich den investiven und den Bau fördernden Arbeitsplätzen zuwenden
und weniger reglementieren. Diesen Rat möchte ich
Ihnen geben. Damit eröffnen Sie Perspektiven für die
Menschen. Dann werden Sie draußen auch wieder verstanden. Dann schaffen Sie Arbeitsplätze und sichern sie
auch.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat nun
Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Gilges hat uns auf ein wichtiges Problem aufmerksam gemacht, als er beschrieben hat, daß die Kolleginnen und
Kollegen auf dem Bau nicht für Regen und schlechtes
Wetter verantwortlich sind. Herr Gilges, Sie und die
Kollegen von der CDU/CSU stimmen mir sicher zu, daß
natürlich auch die Arbeitgeber und die Bundesregierung
keine Schuld an schlechten Witterungsbedingungen haben. Insofern ist es besonders wichtig, daß alle drei zusammen, nämlich Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Bundesregierung, in diesem Bereich einen Kompromiß bzw.
eine Regelung gefunden haben, die für den Bau im
Winter und im Sommer quasi einen Regenschirm aufspannt, um die aus schlechten Witterungsbedingungen
folgenden Probleme abfedern zu können.
({0})
Winterarbeitslosigkeit ist ein Thema, das wir nicht
wegdiskutieren können. Es existiert. Es ist ein Thema,
das in der gesamten Volkswirtschaft Probleme aufwirft:
zum einen für die Betroffenen in Form von sozialer
Härte, zum anderen für die Branche, die mit wirklich
hohen Fluktuationen zu kämpfen hat, insbesondere für
die kleinen und mittleren Betriebe, die unter diesen Bedingungen besondere Schwierigkeiten haben, Facharbeiter auch im Winter zu halten.
Herr Schemken, Sie können ablenken, wie Sie wollen: Es ist einfach so, daß die Regelung hinsichtlich des
Schlechtwettergeldes, die Sie abgeschafft haben, die
Situation auf dem Bau im Winter bzw. die Winterarbeitslosigkeit verschärft hat. Das ist mit Zahlen zu belegen.
({1})
- Wir können uns über die Höhe dieser Zahlen streiten.
Aber Fakt ist es. Fakt ist auch, daß Sie nicht Kosten gespart haben, sondern zusätzliche geschaffen haben.
({2})
Es ist so: Die Arbeitgeber im Baubereich, das Baugewerbe, können dieses Problem nicht in den Griff beHeinz Schemken
kommen. Zeit für das Finden einer Lösung war vorhanden. Es ist nicht gelungen. Jedes Silvester gibt es zirka
150 000 Arbeitslose auf dem Bau. Ich denke, wir alle
sind uns einig, daß das eine unhaltbare Situation ist.
Deswegen war es nötig, nach Lösungen zu suchen.
Herr Schemken, es ist wahr, es ist nur ein Kompromiß gefunden worden. Aber es ist ein guter Kompromiß.
({3})
Er ist unter gleichgewichtiger Beteiligung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und der Bundesregierung bei ganz
unterschiedlichen Ausgangspositionen gefunden worden. Es handelt sich quasi um eine Art kleines Bündnis
für Arbeit.
({4})
Das Entscheidende ist, daß es sich dabei um einen
Kompromiß handelt, der eben nicht zu Lasten Dritter
geht und der allen drei beteiligten Parteien in ihrem Bereich Vorteile verschafft.
Es ist auch wichtig - ich erwähne in diesem Zusammenhang die Zustimmung des Bundesrates -, daß wir
auch von seiten der rotgrünen Koalition im Hinblick auf
die Zukunft des Baugewerbes nichts verschleiern wollen. Wir wollen vielmehr Sachverhalte offenlegen, diskutieren und Erfahrungsberichte über die Wirkung des
Gesetzentwurfes erstellen. Wir gehen allerdings davon
aus, daß uns der Erfahrungsbericht in unseren Annahmen bestätigen wird, nämlich daß die Winterarbeitslosigkeit mit diesem Konzept nachhaltig und signifikant
bekämpft werden kann. Das Konstruktive an der vorgeschlagenen Lösung ist, daß sie weiterhin auf dem Dreisäulenmodell beruht, was ich ausdrücklich begrüße.
Die erste Säule betrifft die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Sie bringen 30 Überstunden, die sie im
Sommer erarbeitet haben, auf ein Arbeitszeitkonto ein.
Daneben besteht die Möglichkeit, über die 30 Stunden
hinaus etwas einzubringen, mit 2 DM Wintergeld unterstützt. Diese Konstruktion ist für die Baubranche zukunftsweisend; der Aufbau von Arbeitszeitkonten wird
für die Flexibilisierung in der Bauwirtschaft gebraucht.
Diese Regelung ist ein guter Bestandteil dieses Gesetzentwurfes.
Die zweite Säule betrifft die Arbeitgeber. Auch dieses Standbein ist positiv zu bewerten. Es stimmt nicht,
daß Lohnnebenkosten erhöht werden, wie Sie gesagt haben. Vielmehr wird mit Zahlung von 1,7 Prozent der
Bruttolohnsumme das Risiko für die Arbeitgeber abgefedert.
Kollegin Dückert,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Ich gestatte die Zwischenfrage, wenn ich über den
Komplex bezüglich der Arbeitgeber zu Ende gesprochen
habe.
In diesem Bereich ist für uns besonders wichtig, daß
die Sozialabgaben beim Schlechtwettergeld ab der
30. Stunde für die Arbeitgeber auf Null gesetzt werden.
Diese Regelung ist deswegen besonders wichtig, weil
dadurch insbesondere die kleinen und mittleren Betriebe
in der Zukunft entlastet werden. Wir können damit verhindern - wir können das belegen; auch die kleinen und
mittleren Betriebe wollen das -, daß Arbeitskräfte im
Winter entlassen werden müssen. Das ist vorteilhaft für
die kleinen und mittleren Unternehmen sowie für die
Arbeitskräfte.
({0})
Herr Meckelburg, ich freue mich auf Ihre Frage.
Bitte schön.
Frau Kollegin,
da Sie das Dreisäulenmodell so besonders herausgestellt
haben, möchte ich Sie fragen: Können Sie mir bestätigen, daß die Schlechtwettergeldregelung von Norbert
Blüm von 1997 ebenfalls ein Dreisäulenmodell beinhaltete und daß Sie innerhalb dieses Modells zwanzig
Stunden nach unten verschoben haben? Es wäre viel
wichtiger in der jetzigen Situation, diese Verschiebung
nicht vorzunehmen, sondern bei den Investitionen im
Bereich der Wohnungsbau- und Städtebauförderung einen Akzent zu setzen, um damit über den Winter hinaus
Arbeit am Bau zu schaffen.
Herr Meckelburg, bei Ihrer Frage und bei der Rede des
Kollegen Schemken fällt eines auf: Sie versuchen mit
den Verweisen auf die Regelungen von Blüm und auf
die Forderungen von Wiesehügel und durch Verschleiern, wie unter Ihrer Regierungsverantwortung die Bautätigkeit eingeschränkt wurde, nachträglich auf einen
Zug in Richtung einer zukünftigen guten Lösung der
Probleme auf dem Bau aufzuspringen.
({0})
Es ist wirklich ein Armutszeugnis, wie Sie hier argumentieren. Sie können die Regelung nämlich nicht mehr
schlechtreden. Deswegen verweisen Sie auf gute Regelungen, die Sie angeblich in der Vergangenheit geschaffen haben, und auf mögliche Versprechen der SPD. Sie
können aber nicht auf Mängel in dieser Regelung verweisen, weil Sie sie nicht finden können.
({1})
Die dritte Säule - auch dieser Punkt wurde schon angesprochen - betrifft den Beitrag der Bundesanstalt für
Arbeit. Natürlich wurden zusätzliche Kosten in Höhe
von 55 Millionen DM beziffert. Sie wissen aber auch,
daß allein die Verhinderung der Winterarbeitslosigkeit
bei 7 500 Beschäftigen dazu führt, daß dieser Betrag
aufgebracht werden muß.
Ich gehe davon aus, daß mit diesem Gesetz mehr bewirkt werden kann, als 7 500 Arbeitskräfte im Baugewerbe vor der Winterarbeitslosigkeit zu bewahren. Das
ist schon viel, weil es sich hier um lauter Schicksale
handelt. Es wird sich zeigen, daß dies für die dritte Säule, die Bundesanstalt für Arbeit, einen positiven Aspekt
haben wird, weil sie nämlich mehr Arbeitslosengeld
wird einsparen können, als sie an Winterbauförderung
leisten muß.
({2})
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Gesetzes ist die
Wiedereinführung der Winterbauausschüsse bei der
Bundesanstalt für Arbeit. Eines ist doch klar - ich
sprach dies eingangs bereits an -: Wir sind für das Wetter nicht verantwortlich und können es nicht beeinflussen. Aber weil dies so ist, ist es notwendig, alles zu tun,
um die Kontinuität der Auftragsvergabe für den Winter
im Baugewerbe zu sichern. Dafür bieten die Winterbauausschüsse eine Chance, die wir nicht verspielen sollten.
Ich komme zum Schluß: Wir wollen die Probleme
nicht wegreden, sondern lösen. Dafür gibt es neue Instrumente, nämlich das Zusammenwirken aller drei Beteiligter: der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der
Bundesregierung, wie es auch im Bündnis für Arbeit geschieht. In konsensuellen Verfahren soll eine Lösung gefunden werden, und ich bin ziemlich sicher, daß diese
tragen werden. Insofern ist das, was hier vorgelegt wird,
auch gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich eine
sinnvolle Lösung.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun
Kollege Dirk Niebel, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wir haben uns nun in
kurzer Zeit zum dritten Mal mit dem Gesetzentwurf zur
Neuregelung des Schlechtwettergeldes zu beschäftigen.
Die gesamten Beratungen haben eines gezeigt: Bei diesem Gesetzentwurf geht es noch immer um die Verlagerung der Kosten und der Verantwortung auf die Allgemeinheit.
({0})
Er erfüllt einzig und allein einen Zweck: Er dient dem
Gesichtslifting des Kollegen Wiesehügel, der heute leider nicht da sein kann.
({1})
Herr Wiesehügel ist im Wahlkampf durch die Gegend
gerannt und hat seinen Gewerkschaftern gesagt: Wir
drehen alles zurück. Die Bundesanstalt für Arbeit wird
wieder ab der ersten Ausfallstunde in die Haftung genommen. Noch im April hat er in den Reihen der Koalition Unterschriften für ebendiesen Antrag gesammelt, ist
aber, zum Glück der Allgemeinheit, von Ihrem Fraktionsvorsitzenden Struck zurückgepfiffen worden.
({2})
55 Millionen DM Mehrbelastung für die Bundesanstalt
für Arbeit ist ein ziemlich hoher Preis für die Gesichtsoperation von Herrn Wiesehügel.
({3})
Schönheitsoperationen dieser Art sollten nicht zu Lasten
der Allgemeinheit durchgeführt werden.
({4})
- Der Kollege Wiesehügel kann im Moment offenkundig nicht hier sein. Dies ist sicher begründbar: Vielleicht
schämt er sich vor seinen Gewerkschaftern, denen er
mehr versprochen hat. Vielleicht ist er auch in seiner
Hauptfunktion als Vorsitzender der IG BAU unterwegs
und kann die Tätigkeit als Abgeordneter nicht so sehr
wahrnehmen.
({5})
Was mich an diesem Gesetzentwurf außerordentlich
irritiert, ist,
({6})
daß ein Vorsitzender einer Gewerkschaft sich quasi
selbst entmündigt, indem er in seiner Zweitfunktion als
Gesetzgeber Regelungen schafft, die ihn in seiner
Erstfunktion als Gewerkschaftsvorsitzender einschränken.
({7})
Die Regelung, die bis heute Gültigkeit hat, ist das
Dreisäulenmodell. Sie verkaufen die Beibehaltung dieses Modells gegenüber Ihren Mitgliedern als den großen
Wurf. Das ist meines Erachtens ein ganz erhebliches
Stück weit unredlich, weil Sie nichts anderes getan
haben - das ist eben schon gesagt worden -, als den
Eigenbeitrag innerhalb dieses Modells um 20 Stunden
zu verschieben, weil Sie dafür gesorgt haben, daß es
weniger attraktiv wird, einen Beitrag zur Sicherung des
eigenen Arbeitsplatzes zu leisten, und so die Lohnnebenkosten wieder erhöht werden.
({8})
Dieses Gesetz fällt in der Konsequenz in die Reihe all
der Gesetze, die Sie bisher beschlossen haben: die
Rücknahme der Schwelle beim Kündigungsschutz, die
630-Mark-Beschäftigung und die sogenannte Scheinselbständigkeit. Das paßt in die Bilanz Ihres ersten Jahres, die die „Wirtschaftswoche“ gezogen hat: In einem
Jahr Schröder-Regierung 58 350 Arbeitslose mehr und
367 000 Erwerbstätige weniger. Sie sind konsequent.
({9})
- Frau Kollegin Rennebach, wir werden nachher ein
Highlight der Parlamentsgeschichte dadurch erleben,
daß Sie einmal nicht Gift verspritzen, sondern hier zur
Sache reden. Ich freue mich darauf, Ihnen nachher zuzuhören.
Wie sagte Gerhard Schröder? Der Bundeskanzler hat
gesagt: Ich will die Arbeitslosigkeit deutlich senken;
daran werde ich mich messen lassen.
Der „Tagesspiegel“ titelte in der gestrigen Ausgabe
auf Seite 1: „Arbeitslosigkeit so hoch wie bei Kohl“. Die
Regierung Schröder hat in ihrer Arbeitsmarktpolitik bisher kein Bein auf den Boden bekommen. Sie ist kläglich
gescheitert!
({10})
Dieses Gesetz ist in seiner Kontinuität konsequent
rückwärtsgewandt. Sie werden auch dadurch Arbeitsplätze vernichten, daß Sie unsoziale Politik machen, indem Sie Politik für Arbeitsplatzbesitzer machen und
diejenigen, die draußen stehen, durch die höheren
Lohnnebenkosten weiterhin draußen halten.
({11})
Das Ifo-Institut hat im Oktober 1998 festgestellt, daß
bei der jetzigen Regelung durchschnittlich 64 Stunden
vorgearbeitet werden und 80 Prozent aller Betriebe mit
20 Arbeitnehmern die Regelung in Anspruch nehmen.
98 Prozent aller vorgearbeiteten Stunden werden zum
Ausgleich von Schlechtwetterzeiten in Anspruch genommen. Sie hätten konsequent bleiben und gerade bei
dieser temporären Arbeitslosigkeit Flexibilisierung vorantreiben müssen. Die Kollegin Wolf hat von den Grünen abgeschrieben.
({12})
- Entschuldigung, von den Liberalen; man weiß ja kaum
noch, ob Sie grün sind oder nicht. - Allerdings hat sie
nur abgeschrieben, ist aber nicht konsequent geblieben.
Sie hätten die Entwicklung von Jahresarbeitszeitkonten
und von Lebensarbeitszeitkonten fortführen müssen. Gerade in diesem Bereich wäre mehr Flexibilität durchaus
gut gewesen.
({13})
Dieses Gesetz ist auch im Sinne einer zukunftsorientierten Fortentwicklung der Arbeitsmarktpolitik rückwärtsgewandt. Die Einführung der Winterbauausschüsse, die Sie jetzt wieder vorgenommen haben, ist
nichts anderes als das Ausgraben eines Relikts, das es
bei uns schon gab. Die Winterbauausschüsse haben in
der Vergangenheit keine sinnvolle Tätigkeit ausüben
können, und sie werden das auch in der Zukunft nicht
tun.
({14})
Was Sie machen, ist nichts anderes, als verdiente Mitglieder von Verbänden der beiden Seiten des Arbeitsmarktes zu beschäftigen.
({15})
- Ah, da kommt ja Herr Wiesehügel. Das freut mich. Es
ist schade, daß Sie nicht früher da waren. Aber Sie können meine Rede gerne nachlesen.
({16})
Die 97er Regelung hatte unter anderem das Ziel,
Überstunden abzubauen, ein Ziel, das von der Gewerkschaftsseite bisher immer als der Schlüssel, als Königsweg zum Abbau von Arbeitslosigkeit proklamiert worden ist. Dadurch, daß Sie hier keinerlei Anreize für Vorarbeit schaffen, konterkarieren Sie das Ziel der 97er Regelung.
Ich finde es sehr schade, daß Sie bei den Beratungen
dieses Gesetzes derartig beratungsresistent waren. Sie
werden damit Ihrem Ziel, dem Abbau der Arbeitslosigkeit, an dem sich diese Regierung jederzeit messen lassen will, keinen Schritt näherkommen. Das ist gut für
uns als Opposition, aber das ist schlecht für dieses Land,
das ist schlecht für die Beschäftigten, und das ist keine
zielführende Arbeitsmarktpolitik.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat nun
Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir beraten heute abschließend ein Gesetz, welches populär „Schlechtwettergesetz“ genannt
wird. Wir bräuchten darüber übrigens nicht zu beraten,
hätten CDU/CSU und F.D.P. die bis dato geltende Regelung nicht zum 1. Januar 1996 abgeschafft. Ich darf
Sie daran erinnern - insbesondere Sie, Kollege Niebel -,
daß dieser forsche Schnitt ins soziale Netz allein im
Winter 1996/97 zu 4 000 fristlosen Entlassungen auf
Berliner Baustellen geführt hat,
({0})
und das ausdrücklich mit der Begründung: schlechtes
Wetter.
Mit anderen Worten: Die alte Regierungskoalition hat
ein Heuern und Feuern in Gang gesetzt, bei dem das
Feuern weit vor dem Heuern rangierte,
({1})
und das in einer Branche, die ohnehin von einer Arbeitslosenquote um 30 Prozent, in den neuen BundesDirk Niebel
ländern gar um die 50 Prozent, gebeutelt wird. Das
heißt, jeder zweite Bauarbeiter in den neuen Bundesländern ist ohne reguläre Arbeit und Erwerbschance. Ich
sage dies auch vor dem Hintergrund, daß derzeit vermeintliche Soziologen durch die Talkshows reisen und
behaupten, der „gelernte DDR-Arbeiter“ sei dumm, faul
und gefräßig. Für derart unqualifizierte Beiträge zum
Zusammenwachsen können die Betroffenen nur frustriert danken. Erst nimmt man ihnen durch Ihre unsoziale Gesetzgebung die Arbeit, dann schreit man ihnen
noch „Haltet den Dieb!“ hinterher.
({2})
Die abgeschaffte Schlechtwettergeldregelung ist nur
eines der Probleme, die sich im Bauwesen bündeln.
Aber es gehört nun einmal zum Erbe der letzten Regierung, daß auch in diesem Fall die Arbeitslosigkeit befördert und eben nicht eingedämmt wurde. Wenn dies
stimmt - offensichtlich teilen SPD und Grüne nach wie
vor unsere grundsätzliche Kritik an der damaligen Regierung -, dann folgt logisch die Frage, warum die neue
Regierungskoalition auch noch den Winter 1998/99 verstreichen lassen hat, anstatt sofort eine Schlechtwettergeldregelung in Kraft zu setzen.
({3})
- Natürlich haben wir keine Diktatur. Aber Wahlversprechen sollten auch über den Wahltag hinaus gelten,
Kollegin.
({4})
Die Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes war ein
Wahlversprechen, und daß der Winter kommt, war
auch im Jahr 1998 nicht so ganz überraschend.
({5})
Entscheidend bleibt, daß von der Schlechtwettergeldregelung Tausende Bauarbeiter und ihre Familien betroffen sind.
Nun hat meine Kollegin Heidi Knake-Werner schon
in der ersten Lesung des Gesetzes darauf hingewiesen,
daß hier kein CDU/CSU-Fehler 1 : 1 zurückgenommen,
sondern ein Kompromiß verhandelt wird, der schlechter
als die ursprüngliche Regelung ist. Sie, Kollege Wiesehügel, riefen damals dazwischen: „So ist das Leben,
Frau Kollegin!“ Ich antworte Ihnen: Das Leben spielt
sich auf den Baustellen oder in den Arbeitsämtern ab.
Das Leben auf den Baustellen bedeutet allzuoft Überstunden und Unterbezahlung, das Leben auf den Arbeitsämtern bedeutet allzuoft Hoffnungslosigkeit. Das
gilt auch für diese Stadt.
Nun lese ich im Formblatt zum Gesetzentwurf unter
der Rubrik Alternativen: „Keine“. Dabei wissen Sie
von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen sehr
wohl, daß es Alternativen und hinreichend Fragezeichen
zum vorgelegten Entwurf gibt. Völlig unklar bleibt zum
Beispiel, wie illegale, also gesetzeswidrige Kündigungen aufgedeckt und wirksam geahndet werden sollen.
Unbeachtet bleiben auch Forderungen, das Schlechtwettergeld wieder ab der ersten Stunde einzuführen.
Kurzum: Die Behauptung, die eigene Politik sei alternativlos, ist ein typischer Ausfluß einer gern geleugneten
Regierungskrankheit, die offenbar inzwischen auch SPD
und Bündnis 90/Die Grünen befallen hat.
Gleichwohl ist das vorgelegte Gesetz eine Verbesserung gegenüber dem, was CDU/CSU und F.D.P. hinterlassen haben.
({6})
Wir werden diesem Gesetzentwurf deshalb zustimmen,
auch wenn wir wissen, daß es bessere Lösungen gäbe.
({7})
Betrachtet man nämlich die Regelungen ganz genau,
liegen die Risiken des Gesetzes einseitig bei den am Bau
Beschäftigten. Insofern sind Sie dann allerdings konsequent, da auch dies einem SPD-Wahlversprechen folgt.
Vor einem Jahr plakatierten Sie in dieser Stadt: „Wir
werden nicht alles anders machen, aber vieles besser.“
({8})
Das verhieß viel, versprach wenig, war also unverbindlich, und führt zu solchen Halbheiten, wie wir sie heute
auf dem Tisch haben.
({9})
Ich erteile der Kollegin Renate Rennebach, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pau, ich
weiß nicht, ob Ihr Gedächtnis nicht ganz in Ordnung ist.
({0})
Am 26. Oktober 1998 ist der Kanzler gewählt und vereidigt worden. Eine Schlechtwetter- und Winterbauregelung muß am 1. November in Kraft treten, damit sie
ihre Wirkung entfalten kann. Selbst wir haben es nicht
geschafft, so etwas in fünf Tagen auf die Beine zu stellen.
({1})
Herr Niebel, ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht,
({2})
wenn ich kein Highlight abliefere. Aber ich würde Ihnen
gerne in aller Bescheidenheit sagen, daß die 96er und
auch die 97er Regelung dafür gesorgt haben, daß Jahr
für Jahr 150 000 Bauarbeiter im Winter ihren Job verloren haben.
({3})
Das wollten wir so schnell wie möglich ändern.
({4})
Eigentlich wollten das auch Kollegen aus Ihren Reihen ändern. Ich erinnere mich daran, daß, als im Oktober/November 1995 das Schlechtwettergeld abgeschafft
wurde, am nächsten Tag der Kollege Eppelmann im
Frühstücksfernsehen aufgetaucht ist und es wiedereinführen wollte. Ganz alleine können wir mit dieser Regelung nicht sein.
({5})
Wieder einmal in einer solchen Debatte verdrehen Sie
die Tatsachen. In der ersten Lesung des Gesetzentwurfes
war von der F.D.P. zu hören, die Zahl der Entlassungen
am Bau sei im letzten Winter „dramatisch zurückgegangen“.
({6})
Bewußt gelogen oder keine Ahnung?
({7})
Tatsächlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die
Arbeitslosigkeit am Bau im Winter 1998 wie in den
Vorjahren um fast 150 000 Menschen gestiegen.
({8})
Auch wenn die Arbeitslosenzahlen am Bau insgesamt
zurückgehen, sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen,
daß die Winterarbeitslosigkeit noch immer nicht gebannt
ist, wir aber das mit unserem Gesetzentwurf erreichen
werden.
({9})
Sie werden verstehen, daß ich Ihre Rechnung nicht
wirklich nachvollziehen kann. Ich bin fest davon überzeugt: Die Kollegen am Bau können es auch nicht. Es ist
mir ebenso unerklärlich, daß Sie wollen, daß wir der
Entwicklung weiter tatenlos zusehen. Wie sagte Herr
Schäuble? In der Bauwirtschaft sei „alles gut geregelt“.
Keine Ahnung oder bewußt gelogen?
({10})
Ich finde, mit der Abschaffung des Schlechtwettergeldes von 1996 wurde überhaupt nichts „gut geregelt“.
Im Gegenteil: Es sind Probleme entstanden, die nach
drei Jahren natürlich nicht so einfach wieder eingefangen werden können.
Kollegin Rennebach,
der Kollege Niebel möchte gerne eine Zwischenfrage
stellen.
({0})
Nur wenn es der Erhellung dient.
Frau Kollegin Rennebach, ich
bin bemüht, daß meine Fragen grundsätzlich der Erhellung des Hohen Hauses dienen.
Sie haben gerade gesagt, mit der 96er Regelung sei
„überhaupt nichts gut geregelt“ worden. Sind Sie bereit,
sich daran zu erinnern, daß die 96er Regelung von Ihrer
Partei mitgetragen wurde?
({0})
Nein. Ich weiß, wogegen ich heftig gestimmt und heftig gesprochen habe. Es
tut mir leid.
({0})
Gerne wäre ich Ihnen mit dieser Antwort hilfreich gewesen. Aber ich muß Ihnen sagen: Der einzige aus Ihren
Reihen, der mit uns zusammen nein gesagt hat - einen
Tag später, aber immerhin -, war Herr Eppelmann.
({1})
- Auch er ist nicht da.
Übrigens begrüße ich den Kollegen Klaus Wiesehügel.
({2})
- Er hat jetzt diesen Gesetzentwurf unterschrieben. Was
er 1996 unterschrieben hat, war ein Gesetz und kein Tarifvertrag. Herr Niebel, erhellen Sie uns doch bitte woanders, aber nicht hier.
({3})
Die F.D.P. spricht normalerweise von „Subventionierung“ und „Kostenerhöhung“ - Scheinargumente, die
leicht zu entkräften sind.
({4})
Doch dazu später.
Sie unterstellen uns darüber hinaus die Beschneidung
von Eigenverantwortung und Tarifautonomie. Wie Sie
wissen, haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam mit der Bundesregierung eine Lösung zur Vermeidung der Winterarbeitslosigkeit gefunden, wie wir heute
schon mehrfach gehört haben.
Der Kompromiß ist auch nach meiner Meinung ein
ausgewogener Interessenausgleich, der von allen Seiten
begrüßt wird. Warum also beschweren Sie sich eigentRenate Rennebach
lich? Ich will es Ihnen sagen: Weil es Ihnen nicht gelungen ist. Ich sage Ihnen auch, warum: weil Sie daran
überhaupt kein Interesse hatten.
({5})
Ihre Botschaft lautet im Klartext: Der Markt hat seine
eigenen Regeln. Die hat er, meine Damen und Herren
der Opposition. Aber dort, wo die Regeln nicht funktionieren, müssen wir eingreifen. Das ist soziale Marktwirtschaft.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
wenn wir vom Wetter reden,
({7})
ist unsere Antwort: Wir müssen und wir werden handeln. Deshalb werden wir heute ein Gesetz beschließen,
das hilft, die Winterarbeitslosigkeit am Bau zu beseitigen.
({8})
Wenn wir Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen wollen
({9})
- das ist unser aller Aufgabe -, dann müssen wir neue,
innovative Beschäftigungsfelder schaffen. Aber wir
müssen auch dafür sorgen, daß bestehende Arbeitsplätze
erhalten bleiben.
({10})
Wenn ich aber aus den Reihen der CDU/CSU höre, wir
würden ein sogenanntes Arbeitsplatzbesitzergesetz beschließen, dann muß ich sagen: Das ist demagogisch und
gemein.
({11})
Aber ich muß doch mal fragen, was falsch daran sein
soll, Arbeitsplätze - zumal unter den besonderen Bedingungen am Bau - zu erhalten. Sie behaupten weiter, die
Neuregelung des Schlechtwettergeldes würde Schwarzarbeit fördern. Das ist eine dreiste Lüge. Das wissen
Sie.
({12})
Meine Damen und Herren, es ist jetzt nicht die Zeit
für solche Possen - auch nicht die Zeit des Herrn Niebel.
Dafür ist die Situation auf unseren Baustellen nun wirklich schwierig genug. Als Berlinerin habe ich viele
Kontrollen auf Baustellen begleitet und weiß um das
Ausmaß von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung;
ich würde mit solchen Begriffen nicht leichtfertig umgehen. Nun stellen Sie sich bitte nicht hier hin und behaupten wider besseres Wissen, unser Gesetz sei dafür
verantwortlich. Es ist noch nicht einmal in Kraft. Die
Schwarzarbeit aber haben wir gestern und heute. Und
warum? 16 Jahre Kohl-Regierung haben dazu geführt,
daß Rechtsverstöße und massiver Mißbrauch als Kavaliersdelikte gelten. 16 Jahre Kohl-Regierung haben dazu
geführt, daß Lohndumping und ungeregelte Arbeitsverhältnisse an der Tagesordnung sind. Das Ergebnis ist,
daß die Betriebe, die sich an Recht und Ordnung halten,
das Nachsehen haben und zumachen müssen.
({13})
- Herr Meckelburg, wenn es Ihnen schwerfällt, in
Mecklenburg-Vorpommern oder in anderen Ländern zu
regieren, dann tut mir das leid.
({14})
- Nicht? Ich denke, Sie sind Herr von Mecklenburg? Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik. Diese Situation muß
sich endlich wieder ändern.
({15})
Kollegin Rennebach,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Aber gern.
Frau Kollegin,
können Sie mir bestätigen, daß ich aus Gelsenkirchen
komme,
({0})
wo wir vor zwei Wochen gerade die stärkste Fraktion
geworden sind - nach 53 Jahren - und wo jetzt die CDU
den Oberbürgermeister stellt, weil Sie so eine „gute“
Politik machen?
Herr Meckelburg, ich
bestätige Ihnen gerne, daß Sie aus Recklinghausen
kommen.
({0})
- Ich gebe zu, das war bewußt falsch verstanden. Gelsenkirchen ist auch schön.
({1})
- Aber Hertha ist im Moment besser.
Also, meine Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen nur sehr empfehlen: Gehen Sie einmal raus und reden Sie mit den Menschen am Bau.
({2})
Sie werden wenig Verständnis für Ihre absurden Unterstellungen und auch für den Spaß, den Sie am Thema
haben, finden.
Unser Entwurf der Neuregelung des Schlechtwettergeldes sieht das Dreisäulenmodell vor, bei dem die
Verantwortung für die Absicherung des witterungsbedingten Arbeitsausfalls im Winter auf Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit verbleibt.
Arbeitnehmer - das ist unser Hauptziel - haben mit dem
Verbot der witterungsbedingten Kündigung endlich
wieder die Aussicht, ohne Arbeitslosigkeit über diesen
Winter zu kommen.
({3})
Sie profitieren von der Reduzierung des Eigenbetrages
von 50 auf 30 Stunden - um zum Gesetzentwurf zurückzukommen - und können durch das besondere Wintergeld Ausfallzeiten über diese 30 Stunden zusätzlich ausgleichen.
({4})
Nun noch zum letzten Punkt Ihrer Kritik. Sie sprechen von der Politik der Opposition als einer Verteilungspolitik zu Lasten der Allgemeinheit. Sie sprechen
von einer Erhöhung der Lohnnebenkosten.
({5})
Das ist - das wissen Sie genausogut wie ich - kompletter Unsinn. Wir senken die Lohnnebenkosten. Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU und
F.D.P., haben sie erhöht. Das ist nun vorbei. Im Gegensatz zur alten Bundesregierung machen wir eine Politik
der Zielperspektive.
({6})
Frau
Kollegin Rennebach, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich möchte nur noch
einen Satz sagen.
({0})
Das erste Mal, daß ich in diesem Reichstag gesprochen
habe, war vor acht Jahren, 1991. Damals wurden von
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition,
zum erstenmal die Lohnnebenkosten erhöht.
({1})
Ich hoffe, in diesem Jahr wurde der Auftakt dazu gemacht, daß wir die Lohnnebenkosten endlich wieder
senken und Arbeitsplätze schaffen - das, was Sie nie erreicht haben.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Michael Meister
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man
sich die jüngsten Arbeitsmarktdaten, die ja gerade in
dieser Woche präsentiert wurden, ansieht, wird man eindeutige Hinweise finden, daß das zentrale Projekt dieser
Bundesregierung, nämlich die Senkung der Arbeitslosigkeit, gescheitert ist.
({0})
Es ist gerade ein Jahr her, daß sich ein Trend zum Besseren auf dem Arbeitsmarkt eingestellt hat. Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder
sprach im März und Mai vergangenen Jahres von „seinem Aufschwung“.
({1})
Das hat sich darin niedergeschlagen, daß wir im Januar
diesen Jahres im Vergleich zum Vorjahresmonat
300 000 Arbeitslose weniger hatten. Mittlerweile ist diese Zahl auf 20 000 zurückgegangen. Das ist Ihre Zielperspektive, Frau Rennebach. Das ist Ihr Verdienst. Sie
haben die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt zum
Negativen in diesem Jahr geschafft.
({2})
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit in diesem Monat im
Vergleich zum Vorjahresmonat ist rein konjunkturbedingt. Das zeigt etwa die Aussage der Bundesanstalt für
Arbeit. Das Wirtschaftswachstum ist nach wie vor nicht
stark genug. Wenn man auf die Zahl der Erwerbstätigen
schaut, dann wird man finden, daß sie seit Regierungsantritt um 350 000 zurückgegangen ist. 350 000 Arbeitsplätze haben Sie in diesem Jahr in Deutschland vernichtet; das ist etwa ein Prozent aller Arbeitsplätze. Das
ist ein Skandal erster Ordnung.
({3})
Jetzt lenken wir den Blick auf den Baubereich. Dort
haben Sie vollkommen falsche Weichenstellungen vorgenommen. Sie kürzen zum Beispiel beim Verkehrshaushalt den investiven Bereich. Bei einer MilliRenate Rennebach
arde Kürzungen im Verkehrshaushalt bedeutet das, daß
dadurch 12 000 Arbeitsplätze beseitigt werden.
({4})
Kollege Schemken hat die Änderungen im sozialen
Wohnungsbau angesprochen. Genauso haben Sie im
frei finanzierten Wohnungsbau zugeschlagen. Ich
möchte in diesem Zusammenhang Ihr sogenanntes
Steuerentlastungsgesetz nennen. Dieses Steuerentlastungsgesetz hat sich als Arbeitsmarktbelastungsgesetz
erwiesen. Dort sind massive Verschlechterungen im Bereich der Abschreibungen vorgesehen, die sich mittlerweile auch bei den Investitionen im freien Wohnungsbau negativ bemerkbar machen.
Jetzt gehen Sie mit Ihrem aktuellen Gesetzgebungsvorhaben an die Eigenheimzulage und schlagen auch
noch die letzte Säule, den privaten Eigenheimbau, weg.
So schafft man Arbeitslose und keine Arbeitsplätze.
({5})
Die Bauindustrie in Nordrhein-Westfalen hat angesichts der Belastungen
({6})
auf Grund der Steuer- und Sozialpläne dieser Bundesregierung - ({7})
- Frau Kollegin Rennebach, wenn Sie ab und zu etwas
Erhellendes hören können - Sie haben ja so sehr etwas
hören wollen -, dann hören Sie auch einmal zu.
({8})
Die Steuer- und Sozialpläne dieser Bundesregierung
haben das Bauhauptgewerbe nach Schätzungen der
Bauindustrie Nordrhein-Westfalens mit einem Anstieg
der Lohnnebenkosten um mehr als zehn Prozent belastet. In den zurückliegenden Jahren sind die Lohnnebenkosten von 116 auf 97 Prozent zurückgegangen. Das war
ein Verdienst der alten Bundesregierung. Sie verschieben das jetzt wieder in die Gegenrichtung. Auch dies
wird zu mehr Arbeitslosen am Bau führen.
Jetzt zum Winterausfallgeld. Das setzt dem Ganzen
die Krone auf. Hier wird wiederum in ein bestehendes,
funktionierendes Gesetz eingegriffen
({9})
und ohne Not die Kostensituation der Arbeitgeber und
der Beitragszahler verschlechtert.
({10})
Der bisher bestehende, faire Kompromiß, der das Risiko
des - ({11})
- Herr Präsident, ich möchte Sie bitten, vielleicht der
Frau Kollegin Rennebach zu sagen, wer hier momentan
das Wort hat.
({12})
Herr
Kollege, Sie haben das Mikrophon! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen, eine etwas farbige Diskussion ist durchaus wünschenswert;
({0})
allerdings muß der Redner auch konzentriert reden können.
({1})
Besten Dank,
Herr Präsident.
Der bisher faire Kompromiß dahin gehend, daß Bauarbeitgeber, Bauarbeitnehmer und die Bundesanstalt für
Arbeit den Winterausfall finanziell tragen, wird von Ihnen aufgekündigt. Es werden wieder den Sozialversicherungskassen und der Winterausfallkasse zusätzliche Lasten auferlegt. Wenn Sie in der Diskussion Vergleiche
anführen, soll das nach außen den Schein erwecken, als
sei die bestehende Regelung schlecht.
Sie vergleichen hier ständig Ihre geplante Regelung
mit der Regelung, die wir vor 1997 hatten. Das ist ein
unzulässiger Vergleich. Wir haben zum 1. November
1997 absichtlich ein neues Dreisäulenmodell eingefügt,
um die negativen Erfahrungen, die wir vorher gemacht
haben, zu korrigieren. Bei all Ihren Zahlen, die Sie in
dieser Debatte nennen, unterschlagen Sie diese Korrektur. Sie vergleichen nicht mit der heutigen Regelung,
sondern mit der vorhergehenden Regelung. Das ist eine
Täuschung der Öffentlichkeit.
({0})
Ich darf das Dreisäulenmodell, das wir gegenwärtig
haben, einmal darstellen: Die ersten 50 Stunden werden
durch Ansparen von Vorarbeit im Sommer geschaffen.
Die 51. bis zur 120. Stunde werden durch das umlagefinanzierte Winterausfallgeld getragen. Dann greift die
Bundesanstalt für Arbeit. Dieses Dreisäulenmodell hat
die Lasten fair auf die drei Beteiligten verteilt.
Sie schränken nun die Flexibilität der Unternehmen
ein und siedeln zusätzliche Lasten bei den Unternehmen
an,
({1})
indem Sie schon ab der 31. Stunde die Kassen der Unternehmen belasten. In den Berichten der Ausschüsse,
die in zweiter Lesung beraten haben, stehen zwei eindeutige Zahlen. Es wird dort konstatiert, daß sowohl für
die Winterausfallgeldkasse als auch für die Bundesanstalt für Arbeit jeweils über 50 Millionen DM als Zusatzkosten entstehen. Das ist den Ausschußberichten
eindeutig so festgestellt.
Zu Ihrer Behauptung, wir hätten bei der Bundesanstalt für Arbeit Einsparungen durch weniger Arbeitslose,
sagt der Haushaltsausschuß, in dem SPD und Grüne
ebenfalls eine Mehrheit haben, in seiner Stellungnahme:
Einsparungen durch angeblich weniger Arbeitslose sind
nicht zu spezifizieren.
({2})
Die Regelung, die wir gegenwärtig haben, hat sich
nicht nur in der grauen Theorie, sondern auch in der
Praxis bewährt. In zwei Dritteln der Unternehmen wurden auf der Grundlage der heute gültigen Vereinbarungen zur Führung flexibler Arbeitszeitkonten Flexibilisierungen von Arbeitszeiten vorgenommen und ein Monatslohn über das ganze Jahr gewährt. Das ist ein Erfolg
der gegenwärtigen Gesetzeslage.
({3})
Die angesparten Guthabenstunden werden zum allergrößten Teil zum Ausgleich für die Schlechtwetterperioden verwendet.
Auch auf dem Arbeitsmarkt, Frau Kollegin Rennebach, macht sich diese Regelung positiv bemerkbar. Im
Vergleich zum Winterhalbjahr 1996/97, als noch die alte
Regelung galt, also die Vorgängerregelung, die hier so
sehr kritisiert wird, noch in Kraft war, hat es bei der aktuellen Regelung im Januar 1999 25 Prozent weniger
Arbeitslose gegeben; im März waren es 20 Prozent weniger, bedingt durch die Winterlage.
Wenn man den vorletzten Winter und den letzten
Winter miteinander vergleicht, als jeweils die jetzige
Regelung gültig war, sieht man, daß sich durch die neuen Vereinbarungen, die getroffen worden sind und jetzt
greifen, die Lage nochmals gebessert hat. Wir hatten im
Verlaufe dieses Winters nochmals einen Rückgang zwischen 3 und 10 Prozent. Das muß der Objektivität halber
einmal gesagt werden. Dies sind Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit und keine Zahlen, die hier selber konstruiert worden sind.
({4})
Ich darf auf einen letzten Punkt eingehen. Diese Regierung ist im Wahlkampf mit dem Slogan angetreten:
„Innovation und Gerechtigkeit“. Der Kanzler wurde
nicht müde, sich als großer Modernisierer dieses Landes
darzustellen. Was haben Sie denn in Richtung Modernisierung bisher getan?
({5})
Sie haben ein 630-DM-Gesetz verabschiedet, das kaum
als Modernisierung dieses Landes angesehen werden
kann. Sie haben ein Scheinselbständigengesetz gemacht,
das kaum als Modernisierung dieses Landes angesehen
werden kann. Was Sie gemacht haben, sind bürokratische Monstren, die den Arbeitsmarkt nicht modernisieren, sondern konservieren und behindern.
({6})
Was Sie mit diesem Gesetz vorhaben, ist ein erneutes
bürokratisches Monster und paßt konsequent in die Fortsetzung Ihrer Politik.
({7})
Es wird hier keine Innovation und keine Flexibilisierung
betrieben, sondern das genaue Gegenteil.
({8})
Ich möchte nun zur sozialen Gerechtigkeit kommen.
Ich behaupte, dieses Gesetz, das Sie beschließen wollen,
widerspricht auch in erheblichem Maße der sozialen Gerechtigkeit; denn zu Lasten der Mitglieder der Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die
nicht am Verhandlungstisch saßen, also zu Lasten Dritter wurde hier ein Vertrag geschlossen.
({9})
Diese müssen nämlich mit ihren Beiträgen das finanzieren, was ihnen im Baubereich neu aufgebürdet wird.
Wie Sie das gegenüber Arbeitnehmern in andern Branchen verantworten können, kann ich nicht nachvollziehen, und das hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun.
({10})
Zum Schluß möchte ich noch die Stichworte grauer
Arbeitsmarkt und Schwarzarbeit aufgreifen. Es ist klar:
Wenn Sie die Lohnnebenkosten nach oben treiben, dann
wird das zu Ausweichbewegungen in die Schwarzarbeit
und zu illegaler Beschäftigung führen.
({11})
Sie tragen - getrieben von Gewerkschaftslobbyisten,
Herr Kollege Wiesehügel - mit Ihrer Politik die Verantwortung dafür, daß die Menschen, die in diesem
Land in der Baubranche beschäftigt sind, in die
Schwarzarbeit und in den grauen Markt gedrängt werden. Das haben Sie, wenn Sie heute dieses Gesetz beschließen, zu verantworten.
Schönen Dank.
({12})
Als
nächster Redner hat das Wort der Parlamentarische
Staatssekretär Gerd Andres.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei aller falschen Argumentation und bei allem Geschrei der Opposition - das alles
habe ich mir über eine Stunde angehört - muß man am
heutigen Tag folgendes festhalten: Erstens. Dieser Tag
ist ein guter Tag für die Beschäftigten in der deutschen
Bauwirtschaft.
({0})
Zweitens. Diese Koalition und diese Bundesregierung
haben Wort gehalten: Zum 1. November tritt eine neue
Schlechtwetterregelung in Kraft.
({1})
- Sie können lachen, soviel Sie wollen.
Ich will kurz erläutern, wovon wir uns haben leiten
lassen - in diesem Punkt ist Ihre Argumentation an
Falschheit nicht zu überbieten -: Trotz Schlechtwettergeldregelung mußten wir im Februar diesen Jahres auch
wegen der chaotischen Zustände, die unter Ihrer Verantwortung entstanden sind, bei den Bauberufen eine
Arbeitslosigkeit von über 25 Prozent feststellen. Das bedeutet, daß die Arbeitslosigkeit in diesen Berufen doppelt so hoch ist wie der Durchschnitt bei allen anderen
Berufen und Branchen. Es war und ist uns bekannt, daß
viele Baubetriebe trotz bestehender Schlechtwettergeldregelung ihren Arbeitnehmern aus witterungsbedingten Gründen gekündigt haben.
({2})
Da die Bundesregierung die Sorgen und Nöte sowohl
der Bauwirtschaft als auch der Beschäftigten in diesem
Bereich ernst nimmt, waren wir der Auffassung, daß wir
in gemeinsamen Gesprächen mit den Sozialpartnern zu
Veränderungen kommen müssen.
Daran beißt die Maus keinen Faden ab - Sie können
soviel schreien, wie Sie wollen -: Diese Regelung ist in
Übereinstimmung mit der Bauindustrie, mit dem Bauhandwerk, mit der Baugewerkschaft und mit der Bundesregierung getroffen worden. Wir folgen damit einer
Logik, der auch Sie gefolgt sind. Ihre Argumentation,
man habe alles den Erfindungen von Norbert Blüm zu
verdanken, ist insofern unrichtig, als Sie die Schlechtwetterregelung ohne Not gestrichen und damit zu verantworten haben, daß im darauffolgenden Winter über
360 000 Bauarbeiter arbeitslos wurden.
({3})
Die Tarifvertragsparteien haben sich zusammengefunden und haben einen Kompromiß geschlossen. Mit
diesem Kompromiß sind sie zum Bundesarbeitsminister
marschiert und haben gesagt: Wer nicht will, daß sich
diese katastrophale Entwicklung fortsetzt, der muß neue
gesetzliche Regelungen schaffen; die Tarifvertragsparteien fordern den Gesetzgeber dazu auf. Wir haben in
Fortsetzung dieser Logik mit den Tarifvertragsparteien
Gespräche und Verhandlungen geführt - da ich diese
Verhandlungen über viele Monate geführt habe, weiß
ich im Gegensatz zu vielen anderen Rednern, wovon ich
hier rede - mit dem Ergebnis, daß am 6. Juni unter Leitung des Bundeskanzlers für eine wichtige Branche eine
wichtige neue gesetzliche Regelung geschaffen wurde,
die ab dem 1. November 1999 in Kraft tritt. Das ist gut
für die Bauwirtschaft und gut für die Beschäftigten - da
können Sie soviel schreien, wie Sie wollen.
({4})
- Herr Niebel, ich habe in den Beratungen festgestellt,
daß Sie der einzige waren, der beratungsresistent ist.
({5})
Ich möchte nun einige Eckpunkte ansprechen. Ein
wichtiger Eckpunkt war, daß nach der alten Regelung
der Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge zu
zahlen hatte. Das hat dazu geführt, daß viele kleine und
mittlere Betriebe ihre Angestellten in der Schlechtwetterperiode lieber entlassen haben, weil sie damit die Sozialversicherungsbeiträge einsparen konnten. Wir haben
nun geregelt - das ist ein wichtiges Element -, daß den
Arbeitgebern künftig die Sozialversicherungsbeiträge
aus der Wintergeldumlage erstattet werden, so daß den
Unternehmern kleiner und mittlerer Betriebe das Motiv
entfällt, sich ihrer Mitarbeiter zu entledigen. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt, den man als Wirkungsmechanismus begreifen muß.
Wir haben als zweites - das ist oft genug gesagt worden - das Dreisäulenmodell beibehalten und haben die
Gewichte in den drei Säulen verändert. Das geschah übrigens einvernehmlich, auch wenn Sie sich wieder darüber empören. Sie müssen den Widerspruch erklären,
daß eine Regelung in Übereinstimmung mit den Gewerkschaften, den Unternehmen und der Bundesregierung zustande gekommen ist, Sie aber sagen, es seien
lauter Geschäfte zu Lasten von sonstwem gemacht worden.
({6})
Die Regelungen sind sozial gerecht verändert worden.
Wir führen einen weiteren Mechanismus - Sachkenntnis habe ich hier heute leider vermißt -, ein zusätzliches Wintergeld, ein, das dazu führt, daß der Arbeitnehmer, der über 30 Stunden hinaus ein Arbeitszeitguthaben hat, aus der Umlage besonders belohnt wird.
Alle Beteiligten - Wirtschaft, Handwerk und Gewerkschaften - waren der Meinung, daß das ein sinnvolles
Instrument ist. Ich sage Ihnen: Dieses Instrument wird
wirken.
Wir haben als drittes - hier kommen wir zu den Geschäften zu Lasten Dritter - geregelt, daß die Bundesanstalt für Arbeit das Winterausfallgeld statt ab der 121.
Stunde bereits ab der 101. Stunde finanziert. Die letzte
Veränderung, die Sie als Koalition vorgenommen haben,
führte für die Bundesanstalt für Arbeit dazu, daß sie das
Winterausfallgeld statt ab der 151. Stunde bereits ab der
121. Stunde finanzieren mußte, und verursachte damals
Kosten in Höhe von 70 Millionen DM.
({7})
Wir haben veranschlagt, daß dann, wenn alles so greifen würde, im worst case, also im schlimmsten Fall, auf
die Bundesanstalt für Arbeit Mehrkosten in Höhe von
55 Millionen DM zukommen. Das würde aber bedeuten,
daß alle Beschäftigten während dieser Zeit auch tatsächlich wegen schlechten Wetters nicht arbeiten. Wir gehen
davon aus, daß diese Regelung greift und wir von den
winterbedingten Arbeitslosenzahlen herunterkommen.
Dies ist also ein Wirkungsmechanismus, der ineinandergreift und außerordentlich vernünftig ist. Wir
werden die Neuregelung beschließen, und sie wird am
1. November 1999 in Kraft treten.
Ich will Sie nur darauf hinweisen, daß der Bundesrat
die Regelung so akzeptiert hat. Er bittet die Bundesregierung darum, in zwei Jahren Bericht zu erstatten. Den
Bericht geben wir gern. Ich bin sehr optimistisch, daß
wir mit dieser neuen Regelung Erfolge erzielen werden.
Wir sprechen uns dann hier wieder, Herr Niebel und
Herr Schemken.
Zu Herrn Schemken wollte ich noch sagen: Ich kenne ihn als langjährigen Sozialexperten und weiß, daß er
viel Sachkenntnis auf diesem Gebiet besitzt. Er hat
auch ein soziales Gewissen und ein soziales Herz. Lieber Kollege Schemken, du hättest zu dieser Regelung
besser geschwiegen. Du kennst die Materie, den ganzen Ablauf. Du weißt, was ihr gemacht habt und wie es
gewirkt hat.
Ich sage noch einmal ganz ausdrücklich: Man muß
hier den Sozialpartnern herzlich danken. Mein Dank
geht an Klaus Wiesehügel, den Vorsitzenden der IG
BAU, der hier unter uns ist.
({8})
Mein Dank geht an die Wirtschaftsverbände der Bauindustrie und des Bauhandwerks. Ich möchte Sie darauf
hinweisen, daß heute in Mainz der Tag des deutschen
Bauhandwerkes stattfindet, wo unter anderem über diese
Regelung diskutiert wird.
Wir haben eine Regelung gefunden, die sozial gerecht
und wirtschaftlich vernünftig ist und die die Lasten und
möglichen Konsequenzen so verteilt, daß alle beteiligt
sind: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
Wirtschaft in zumutbarem Ausmaß und die Politik. Die
Winterbauumlage so beizubehalten war ein wichtiger
Punkt, den die Bundesregierung von vornherein zugesagt hat. In der Koalitionsvereinbarung steht: Wir werden notwendige Korrekturen bei der Schlechtwettergeldregelung vornehmen; wir haben es getan. Mit dem
heutigen Tag haben wir Wort gehalten.
Ich wiederhole: Das ist eine sinnvolle Regelung, ein
kleines Bündnis für Arbeit für eine bestimmte Branche.
Darauf können diese Koalition, die Bundesregierung,
aber insbesondere die Betroffenen in der Bauwirtschaft
außerordentlich stolz sein.
Herzlichen Dank.
({9})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Schemken von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Da ich den guten
Rat des Staatssekretärs, zu schweigen, nicht annehme,
möchte ich einige Korrekturen anbringen, Herr Staatssekretär. Wenn Sie das nicht gesagt hätten, hätte ich den
Beratungsverlauf hier nicht aufgehalten.
Es ist richtig, daß ich in meiner Rede festgestellt habe, daß die im Etat Wohnungsbau und Städtebau von
3,49 Milliarden DM auf 2,15 Milliarden DM zurückzuführenden Mittel im Wohnungsbau und von 700 Millionen DM auf 600 Millionen DM im Städtebau zwischen
1998 bis 2003 - das ist der Zeitraum der mittelfristigen
Finanzplanung - den Schluß zulassen, daß wir im Winter in der Bauwirtschaft noch eine höhere Beschäftigung
als im zweiten Quartal hatten. Die Arbeitslosigkeit in
der Bauwirtschaft im Westen nahm nämlich vom ersten
Quartal, dem Winterquartal, zum zweiten Quartal, also
in die Frühjahrs- und Sommerzeit hinein, um 5,5 Prozent zu. In den östlichen Bundesländern waren dies sogar über 10 Prozent.
Ich stelle in diesem Zusammenhang fest, daß meine
Rede in diesem Sinne doch eine Aufklärung brachte und
damit auch diese Kurzintervention erforderlich war.
({0})
Herr
Staatssekretär Andres, Sie können gerne erwidern.
Herr Kollege
Schemken, ich kann Ihnen jetzt aus dem Stand die Einzelzahlen nicht bestätigen, aber ich kann Ihnen bestätigen, daß wir auch im Etat des Bauministers Einsparungen vornehmen müssen. Das ist leider wahr.
Die Ursache dafür ist, daß Sie dieses Land über 16
Jahre in eine Staatsverschuldung von 1,5 Billionen DM
geführt haben.
({0})
Wenn wir in diesem Land handlungsfähig werden wollen, dann müssen wir notwendige Einsparmaßnahmen
vornehmen. Das trifft alle. Das trifft den Sozialetat, das
trifft den Wohnungsbauetat; daran führt leider kein Weg
vorbei.
Dieses Land muß sich damit auseinandersetzen, daß
wir nur Dinge tun können, von denen wir auch sicher
sind, daß wir sie auf Dauer finanzieren können, weil wir
es uns nicht leisten können, die Verantwortung und die
Folgen auf künftige Generationen abzuschieben, so wie
Sie das gemacht haben. Das werden wir nicht tun, und
deswegen ist das notwendig.
({1})
Als zweites möchte ich Ihnen erwidern, Herr Schemken - Ihre Intervention gibt mir die Gelegenheit dazu -:
Wir haben wieder Winterbauausschüsse eingerichtet,
weil wir dringend daran arbeiten müssen, daß - wie in
anderen Ländern auch - nicht ein bestimmter Teil der
Bauwirtschaft im Winter seine Tätigkeiten einstellt. Hier
werden wir entsprechend handeln und vorgehen und dafür Lösungen finden, damit wir wie etwa in den skandinavischen Ländern, die dafür beispielhaft sind, zu Regelungen kommen, die gewährleisten, daß es Tätigkeiten
am Bau eben nicht nur in den Frühjahrs-, Sommer- und
Herbstmonaten gibt, sondern auch über den Winter hinaus. Damit tun wir auch etwas, um die Baukonjunktur zu
verstetigen, die natürlich auch etwas mit Beschäftigungslagen im Bausektor zu tun hat.
Schönen Dank.
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie der Bundesregierung eingebrachten gleichlautenden Gesetzentwurf zur Neuregelung der Förderung der
ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft. Der
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf
Drucksache 14/1711 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf auf den Drucksachen 14/1516 und 14/1669 unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Ich bitte um Gegenstimmen. - Ich bitte um Enthaltungen. - Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen von
SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit gleichem Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
({0})
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zur Neuregelung zum Schlechtwettergeld noch in dieser
Winterperiode, Drucksache 14/1711, Buchstabe b. Der
Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/1215 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, die Sitzung des Bundestages für 45 Minuten zu unterbrechen.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({1})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbroche-
ne Sitzung wieder.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a bis 6h auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen
- Drucksache 14/1315 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({0})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs, eines dritten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes
und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten
({1})
- Drucksache 14/1107 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2})
Innenausschuß
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches ({3}) und der Strafprozeßordnung ({4}) - Gesetz zur Verbesserung des
strafrechtlichen Sanktionensystems -
- Drucksache 14/761 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches ({5}), des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch ({6}) und der Strafprozeßordnung ({7}) - Gesetz zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit als strafrechtliche Sanktion - Drucksache 14/762 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({8})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes
- Sexueller Mißbrauch von Kindern - Drucksache 14/1125 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({9})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für Tourismus
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrechtsaussetzung ({10})
- Drucksache 14/1467 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 14/1519 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({11})
Innenausschuß
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1999
({12})
- Drucksache 14/1484 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({13})
Innenausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Professor Dr. Rupert Scholz von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Jahr rotgrüne Koalition bedeutet ein Jahr, in dem die Kriminalität in unserem Lande keineswegs schwächer geworden
ist. Im Gegenteil, vor allem was die Qualität angeht, ist
die Kriminalität massiv angewachsen. Ich nenne nur die
Stichworte „Jugendkriminalität“, „organisierte Kriminalität“ und „internationale Kriminalität“. Unverändert
bleibt die Verpflichtung gerade dieses Hauses bestehen,
mit wirksamen Mitteln dem gerecht zu werden, worauf
unser Bürger nach Maßgabe unseres Rechtsstaatsprinzips ein Recht hat: ein Grundrecht auf ein Höchstmaß an
Rechtssicherheit, ein Grundrecht auf wirksame Kriminalitätsbekämpfung.
Die Bilanz der rotgrünen Koalition ist angesichts dieses Tatbestandes allerdings erbärmlich, man kann auch
sagen beschämend. Dies gilt vor allem, wenn man an
unsere letzte Debatte in diesem Hause denkt, als es um
die Vorschläge einer Generalamnestie zum Jahre 2000
von den Grünen ging.
({0})
- Herr Hartenbach, wenn Sie etwas fragen möchten,
dann stellen Sie eine Zwischenfrage. - Die Grünen forderten eine Generalamnestie bar jeden rechtsstaatlichen
Bewußtseins, im Grunde nach der Manier absolutistischer Potentaten oder Diktatoren.
({1})
In unserem Rechtsstaat bedingen und beurteilen sich
Amnestie und Straffreiheit ausschließlich nach den
Grundsätzen von Abschreckung und Schutz der Allgemeinheit einerseits und individueller Verantwortlichkeit,
individueller Schuld und individueller Resozialisierung
des einzelnen Straftäters andererseits. Das heißt, es kann
keine Pauschalamnestie in dieser Art geben, weil zufällig das Jahr 2000 erreicht wird. Ich will die Debatte darüber nicht wieder aufnehmen, sondern nur daran erinnern, daß dies in diesem einen Jahr rotgrüner Koalition
eigentlich das einzige gewesen ist, was wir an - freilich
absurden - Vorschlägen gehört und gesehen haben.
({2})
Wir haben heute ein ganzes Bündel von Gesetzentwürfen zu beraten, das allerdings vor allem von der
Bundestagsfraktion der CDU/CSU und vom Bundesrat
eingebracht worden ist. Von der Bundesregierung
kommt der Entwurf zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1999. Wenn man sich diesen Gesetzentwurf anschaut, dann erkennt man: Man bemüht sich um Verbesserungen im Bereich der Fahndung, der Aufklärung und
des Datenschutzes. Ich fürchte allerdings - dies werden
wir im Rechtsausschuß sorgfältig zu beraten haben -,
daß man, gemessen an dem Erfordernis rechtsstaatlich
verantwortlicher, effektiver Kriminalitätsbekämpfung,
wieder einmal ein Übermaß an Regulierung unter der
Flagge des Datenschutzes zur Grundlage dieses Gesetzes gemacht hat. Datenschutz ist natürlich ein verfassungsrechtlich garantiertes Persönlichkeitsrecht, er darf
aber nie, auch nicht faktisch, zu Tatenschutz oder Täterschutz werden. Dieses Gesetz wird sehr sorgfältig zu
überprüfen sein.
Wir haben die wichtigen Gesetze zum verbesserten
Schutz von Kindern vor sexuellem Mißbrauch zu erörtern. Gerade im Lichte der modernen Möglichkeiten
von Fernsehen, Internet und Telekommunikation ist eine
entsprechende Gesetzgebung entscheidend und wichtig.
Ich hoffe, daß dieses Gesetz von uns gemeinsam sehr
rasch verabschiedet werden wird.
({3})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Das gleiche gilt für mich auch für die Verlängerung der
Kronzeugenregelung.
Gestatten Sie mir abschließend auch einige Bemerkungen - meine Kollegen werden die Fragen im einzelnen etwas vertiefen - zum Sanktionssystem und zum
Strafvollzugsgesetz. Gemeinnützige Arbeit ist wichtig
und kann nützlich sein. Ich glaube aber nicht, daß gemeinnützige Arbeit in der hier gesetzlich empfohlenen
Form zu einem wirklich wirksamen Sanktionsmittel
werden wird.
Ich habe auch Zweifel, ob die Entziehung der Fahrerlaubnis wirklich als allgemeines Sanktionsmittel für
Straftaten geeignet ist. Die Entziehung der Fahrerlaubnis
ist empfindlich und kann schmerzhaft sein. Man muß
aber immer den Zusammenhang mit den verletzten
Rechtsgütern wahren. Das heißt, die Entziehung der
Fahrerlaubnis kann meines Erachtens nur dort als wirksames, legitimes und im übrigen auch vor dem Gleichheitsgrundsatz bestehendes Sanktionsmittel in Betracht
kommen, wo es zumindest im weiteren Kontext um
Straftaten im Bereich des Verkehrs und öffentlicher
Verkehrseinrichtungen - beispielsweise bei gewaltsamen Ausschreitungen im Zusammenhang mit Demonstrationen auf unseren öffentlichen Straßen - geht. Da
kann diese Sanktion schlüssig und plausibel sein, aber
nicht darüber hinaus gegenüber einem Dieb, Betrüger
oder einem sonstigen allgemein Kriminellen.
Gestatten Sie mir auch noch eine Bemerkung zum
überwachten Hausarrest. Der Bundesrat hat diesen
Vorschlag eingebracht. Auch hier möchte ich Zweifel
anmelden. Wir alle kennen die Situation unserer Länder
im Bereich der Gefängnisse: Die Gefängnisse sind
überlastet, das Geld für den Ausbau oder zur Erweiterung fehlt. Das ist richtig, ändert aber nichts daran, daß
man ein strafrechtliches Sanktionssystem und den Strafvollzug nicht vorrangig nach fiskalischen Kriterien beurteilen und gestalten darf. Ich befürchte, daß der überwachte Hausarrest vor allem aus fiskalischen Gründen
- natürlich auch aus fiskalischer Not, das ist ganz unbestreitbar - geboren wurde. Ich habe Zweifel - und
möchte das nur in dieser Form hier anmerken -, ob das
ein wirklich wirksames Mittel ist, ob es vielleicht eher
als ein Privileg empfunden wird und ob es der Allgemeinheit so zu vermitteln ist, daß der Kontext unseres
Strafvollzugsrechtes im Gesamtrahmen unseres Strafrechtes gewahrt bleibt.
Insgesamt geht es - in diesem Sinne begrüße ich unsere heutige Debatte - darum, daß wir uns wieder konzentrierter und verstärkt mit Fragen der Rechtspolitik
und einer wirksamen Bekämpfung der Kriminalität befassen. Das ist ja eine der zentralen Aufgaben dieses
Hohen Hauses.
({4})
Möge diese Debatte heute dafür über allen Streit im
Detail hinweg einen guten Auftakt darstellen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Alfred Hartenbach von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen im Rechtsfrieden! So unterschiedlich können Meinungen sein. Aber das ist Politik. Das sage ich
vorweg. Wir diskutieren heute acht Gesetzesinitiativen
aus sehr unterschiedlichen Bereichen des Strafrechts und
von sehr unterschiedlicher Qualität. Ich beginne mit der
erfreulichsten Vorlage.
Endlich liegt uns ein Entwurf vor, durch den die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr
1983 umgesetzt werden. Endlich sind wir dabei, wie
vom Bundesverfassungsgericht vor 16 Jahren gefordert,
im Bereich des Strafverfahrensrechts für die Erhebung
und Verarbeitung von Daten, für die Verwendung personenbezogener Informationen und für notwendige, aber
besonders schwere Eingriffe in Bürgerrechte spezifische
gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Mit der Vorlage des
Entwurfs zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensänderungsgesetzes ist es der neuen Bundesregierung gelungen, ein umfassendes und schlüssiges
Konzept vorzulegen, das den Anforderungen eines
Rechtsstaats an ein ausgefeiltes und abgestuftes Instrumentarium Rechnung trägt.
({0})
Die Zeiten sind vorbei, in denen sich die Ermittlungsbehörden in wesentlichen Fragen - rechtsstaatlich zweifelhaft - auf allgemein gehaltene Generalklauseln stützen
mußten. Mein Kollege Professor Dr. Meyer wird noch
sehr detailliert zu diesem Gesetzentwurf Stellung nehmen.
Sie von der CDU/CSU-Fraktion haben zwei Gesetzesinitiativen eingebracht. Sie haben es sich dabei denkbar
leichtgemacht. Sie verlangen in wenigen Sätzen die
Aufhebung der Befristung des § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes und fordern im anderen Gesetzentwurf
die Verlängerung der Kronzeugenregelung um drei
Jahre - und dies, obgleich beide Regelungen von Ihrer
früheren Mehrheit in diesem Hause, also auch von
Ihnen, mit gutem Grund befristet wurden. Es ging doch
auch Ihnen darum, die Vertretbarkeit dieser Regelungen
zu überprüfen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. In Ihren jetzigen Gesetzesanträgen findet sich
allerdings nicht mehr die Spur eines Problembewußtseins.
({1})
Selbstverständlich entspricht es auch unserer Politik,
zur Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten
Kriminalität alle Mittel einzusetzen, die rechtsstaatlich
vertretbar, effizient und sinnvoll sind.
({2})
Die Kronzeugenregelung ist jedoch ein zweischneidiges
Schwert. Diese Regelung führt zu einer Zusammenarbeit
mit Straftätern aus Bereichen der Schwerstkriminalität.
Schließlich liegt es auf der Hand, daß diese Art von Zuarbeitern der Justiz in sehr eigennütziger Weise motiviert sind und somit die sehr reale Gefahr von Falschaussagen besteht.
Dies alles müssen wir einer sehr exakten Überprüfung unterziehen. Insbesondere ist der Nutzen des Art. 5
der Kronzeugenregelung, wonach nach dem Willen der
früheren Regierung auch aus dem Bereich der organisierten Kriminalität Täter in den Kreis der Begünstigten
einbezogen werden, nach Erkenntnissen aus der Praxis
sehr zweifelhaft.
Auch § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes, wonach die
Ermittlungsbehörden unter sehr allgemein gehaltenen Bedingungen Auskunft über den Fernmeldeverkehr verlangen können, ist nicht ohne Probleme. Ich sagte es bereits:
Früher haben Sie, die alte Regierung, und damit auch die
CDU/CSU-Fraktion dies genauso gesehen. Sie haben am
30. Oktober 1997 sogar beschlossen, daß diese Vorschrift
nur befristet gelten solle, weil Sie selbst der Meinung waren, daß Ihr eigener Entwurf eines § 99a der Strafprozeßordnung aus Ihrer Sicht am Ende der Beratungen immer
noch zu weit ging. Sie haben damals - das ist gerade zwei
Jahre her - Ihre eigene Regierung aufgefordert, binnen
eines halben Jahres einen neuen Entwurf vorzulegen, der
den Anforderungen an einen Ausgleich zwischen den Interessen der Strafverfolgungsbehörden einerseits und dem
Schutz von Berufsgeheimnissen andererseits gerecht
wird. Dies ist - wie so vieles in Ihrer 16jährigen Regierungszeit - natürlich nicht geschehen.
({3})
Die neue Regierungskoalition wird zu einer Lösung
kommen, die auf die Erfordernisse der Strafrechtspflege,
aber auch auf die Anforderungen an die Bewahrung
rechtsstaatlicher Freiheiten adäquat reagiert.
Durch den heute gleichfalls zu beratenden Bundesratsentwurf zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes
wird den Ländern die Möglichkeit gegeben werden,
kurzzeitige Freiheitsstrafen oder Restfreiheitsstrafen im
Wege des elektronisch überwachten Hausarrestes zu
vollstrecken. Bekanntlich liegen die Positionen hierzu
weit auseinander. Die einen sehen einen Angriff auf die
Menschenwürde; die anderen beklagen die Ersetzung
des Strafvollzugs durch einen Aufenthalt im gemütlichen Heim bei Bier und Weißwurst.
({4})
Allein dieser Gegensatz zeigt, wie sehr die Wahrnehmung der Realität durch ideologische Verzerrungen
bedingt sein kann. Ein elektronisch überwachter
Hausarrest - ich betone: Arrest - ist keineswegs eine
Wohltat. Er bedeutet eine empfindliche Einschränkung
der Bewegungsfreiheit. Er verlangt von den Betroffenen
ein hohes Maß an Disziplin. Ich sehe aber auch die Problematik dieses Arrests, insbesondere für Familienangehörige. Ich apelliere daher an alle, sich an einer vorurteilsfreien Diskussion zu beteiligen.
Es ist übrigens nicht im Sinn einer systematischen
und in allen Einzelheiten überdachten Entwicklung des
Strafrechts und des Strafprozeßrechts, durch zahlreiche,
jeweils getrennt durchgeführte Einzelregelungen einen
Flickenteppich zu erzeugen. Dies gilt insbesondere im
Hinblick auf die Vorschläge zur Änderung des Sanktionensystems. Warum warten wir nicht ab, bis die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen hat und bis sie uns
ihre Ergebnisse vorlegt?
({5})
Das Ziel ist eine Gesamtreform des Sanktionensystems. Wir wollen uns nicht in Einzelheiten verzetteln;
wir wollen eine Reform aus einem Guß. Es wird eine
große Aufgabe sein, uns 25 Jahre, nachdem der damalige sozialdemokratische Justizminister, Gerhard Jahn, eine umfassende Reform des Straf- und Strafprozeßrechts
vorgelegt hatte, erneut mit dieser Aufgabe zu befassen.
Wir sind dazu bereit.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Juristische Themen, so auch die, die
wir heute im Bundestag beraten, erscheinen manchem
Nicht-Juristen und Nicht-Fachmann gelegentlich trokken. Aber ich glaube nicht, daß diese Themen so trocken
sind; denn heute stehen viele Fragen zur Entscheidung
an, die den persönlichen Bereich des einzelnen betreffen
können. Deshalb will ich versuchen, zu dem bunten
Strauß von Vorschlägen, die ja zum Teil von der Bundesregierung, zum Teil aber auch vom Bundesrat und
von der Opposition kommen, unsere Auffassung darzulegen. Ich kann aber nur einige Punkte herausgreifen, da
ich auf Grund der Kürze der Redezeit, die mir als Mitglied der zweitkleinsten Oppositionsfraktion zusteht,
nicht auf alle Einzelfragen eingehen kann.
Ich denke, daß wir uns insbesondere um die Probleme
des Strafvollzuges kümmern müssen. Wir alle wissen,
daß unsere Gefängnisse voll sind, was zu ganz erheblichen Problemen im Strafvollzug führt. Insbesondere die
Beamten des Strafvollzuges bekommen diese Situation
in voller Schärfe zu spüren. Die Überbelegung der Zellen führt beispielsweise dazu, daß die Aggressivität der
Gefangenen häufig zunimmt. Es ist daher legitim, darüber nachzudenken, wie man in diesem Bereich zu Verbesserungen kommen kann.
Der beste Schritt wäre natürlich - dieser Schritt ist
notwendig -, neue Justizvollzugsanstalten zu bauen.
Aber es zeigt sich immer wieder, daß ein Bau an zwei
Dingen scheitert. Zum einen wird das dafür notwendige
Geld nicht zur Verfügung gestellt. Zum anderen sagt die
Bevölkerung des jeweiligen Ortes - wenn entsprechende
Pläne bekannt werden -: Es muß zwar neue Gefängnisse
geben, aber nicht bei uns.
({0})
Ich habe für diese Haltung durchaus Verständnis.
Viele wissen ja, daß in Orten, in denen diese Einrichtungen zu finden sind, Vorfälle passieren, die die Bevölkerung zu Recht aufregen. In meiner unmittelbaren Umgebung - ich komme aus Hamm in Westfalen - gibt es in
Eickelborn eine Einrichtung für psychisch gestörte
Straftäter. Es kam über die Jahre immer wieder vor, daß
von dort untergebrachten Personen Kinder ermordet
wurden. Deshalb muß man dafür Verständnis haben,
wenn es außerordentlich schwierig ist, einen Neubau in
einem Ort zu errichten. Ich habe volles Verständnis für
die Sorgen der dortigen Bevölkerung.
Es ist deshalb wichtig, daß wir über Möglichkeiten
nachdenken, wie wir den Strafvollzug entlasten können.
Ich glaube, daß die elektronische Fußfessel, also der
elektronisch überwachte Hausarrest, eine Möglichkeit
ist, über die ernsthaft nachzudenken sich lohnt. Die Einführung des elektronisch überwachten Hausarrestes
würde einen flexibleren und effektiveren Strafvollzug
ermöglichen, ohne dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung grundsätzlich entgegenzustehen. Der Begriff
„Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung“ macht schon
deutlich, daß wir zur Anwendung einer elektronischen
Fußfessel zum Beispiel bei Sexualstraftätern oder bei jenen, die schwerste Straftaten begangen haben, ein klares
Nein sagen.
({1})
Wir haben aber viele Gefangene in den Justizvollzugsanstalten, die eigentlich nach Meinung der Richter
und der Staatsanwälte - zu denen ich gehöre - gar keine Gefängnisstrafe hätten bekommen sollen. Wir wissen, daß mit der Festsetzung einer Geldstrafe immer
auch feststeht, welche Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt
werden muß, wenn man nicht in der Lage ist, die Geldstrafe zu zahlen. Unsere Justizvollzugsanstalten sind
mit dem Vollzug dieser Ersatzfreiheitsstrafen in besonderer Weise belastet. Die elektronische Fußfessel
wäre eine gute Möglichkeit, zumindest versuchsweise
festzustellen, ob es nicht möglich ist, so auf den Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe zu verzichten. In manchen Bereichen könnte dies dem Täter ermöglichen,
seiner Arbeit weiter nachzugehen. Gerade wenn Unterhaltspflichtverletzungen vorliegen, kommt es relativ
häufig dazu, daß Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt werden. Mit Hilfe dieses Instruments könnte über das Geld
verfügt und der Frau und den Kindern der notwendige
Unterhalt gezahlt werden. Das ist für uns außerordentlich wichtig.
Ich glaube, daß über diese elektronische Fußfessel in
einem weiteren Bereich ernsthaft diskutiert werden
kann. Wir wissen, daß Untersuchungshaft verhängt
werden muß, wenn Fluchtgefahr besteht, aber auch, um
zu verhindern, daß Beweismittel beiseite geschafft werden. Es gibt immer wieder Fälle - ich kann mich aus
meiner Praxis sofort an einige erinnern -, wo es eigentlich gar nicht erforderlich gewesen wäre, Untersuchungshaft zu verhängen. Es hätte genügt sicherzustellen, daß er sich an einem bestimmten Ort aufhält. Deshalb halte ich persönlich es für wert, darüber nachzudenken, ob nicht im Bereich der Untersuchungshaft hier
und da die elektronische Fußfessel zum Einsatz kommen
könnte.
({2})
Von daher begrüßen wir die Möglichkeit, über ein
Mittel nachzudenken, das in vielen unserer Nachbarländer schon zu einem Erfolg geführt hat. Professor Meyer
kommt von einem Institut, das uns häufig gute Anregungen geliefert hat, nämlich von dem Max-PlanckInstitut für internationales Strafrecht in Freiburg. Wir
tun gut daran, uns an den Erfahrungen anderer Länder
zu orientieren.
Bei der Ausdehnung der gemeinnützigen Arbeit
- das wird immer wieder gefordert - bin ich eher skeptisch. Es gibt schon jetzt einen breiten Strauß von Möglichkeiten, angemessen zu reagieren: die Einstellung des
Verfahrens unter einer bestimmten Auflage, die Auflage
der gemeinnützigen Arbeit bei der Strafaussetzung zur
Bewährung oder der Aussetzung einer Reststrafe zur
Bewährung. Wir haben also ganz ausgezeichnete Möglichkeiten, zur Anwendung von gemeinnütziger Arbeit
zu kommen.
Gerade im Bereich des Jugendstrafrechts ist die
gemeinnützige Arbeit eine wirklich vorzügliche Einrichtung, um den Jugendlichen vor Augen zu führen,
daß, wenn sie gegen das Strafrecht verstoßen haben,
eine Reaktion erfolgt, die sie spüren. Angesichts der
wenigen zur Verfügung stehenden Stellen habe ich allerdings die Befürchtung, daß es zu einer Beeinträchtigung im Jugendbereich kommen wird. Gerade in dem
Bereich, den wir als Liberale gefördert sehen wollen
- zum Beispiel sollen diejenigen, die vom Staat Sozialhilfe bekommen, von ihm auch gebeten werden, etwas
für die Allgemeinheit zu tun, beispielsweise Parkanlagen
zu pflegen -, wird es zu einer - wie soll ich sagen? Konkurrenz kommen, die im Endeffekt nicht gewollt ist.
Im übrigen darf nicht übersehen werden - das ist ein
Gedanke, den ich in diesem Zusammenhang gerne ansprechen möchte -, daß wegen des Verbotes der
Zwangsarbeit, das sich aus Art. 12 Abs. 3 des Grundgesetzes ergibt, eine solche Auflage gar nicht zwangsvollstreckt werden könnte. Auch das macht deutlich, daß wir
uns sehr sorgfältig darüber unterhalten müssen, ob das
wirklich ein vernünftiger Vorschlag ist.
Bayern hat wieder den Vorschlag geäußert, den Mißbrauch von Kindern zu einem Verbrechen hochzustufen. Wenn man diejenigen fragen würde, die uns auf der
Tribüne zuhören, ob der Mißbrauch von Kindern ein
Verbrechen ist, würden sie wahrscheinlich alle aus vollem Herzen sagen: Ja, es ist ein Verbrechen. - Es ist mit
Sicherheit ein Verbrechen an der Seele der Kinder.
Trotzdem sind wir hier im Bundestag verpflichtet, zu
einer vernünftigen und sorgfältigen Lösung zu kommen.
Ich glaube, daß wir diese im letzten Jahr gefunden haben. Wir haben uns sehr sorgfältig beraten. Wir haben
für erhebliche Strafverschärfungen gesorgt. Wir haben
neue Straftatbestände eingeführt. Wir haben insbesondere dafür gesorgt, daß die Kinder, die Opfer eines Sexualdeliktes geworden sind, vor Gericht besser behandelt werden, daß mehr Rücksicht auf sie genommen
wird, zum Beispiel dadurch, daß sie in einem Nebenraum vernommen werden, oder dadurch, daß sie per Video vernommen werden, so daß sie dem Täter nicht
wieder in die Augen sehen müssen. Wir haben für diese
und viele andere Dinge gesorgt, die dazu geführt haben,
daß die Interessen der Kinder besser berücksichtigt werden.
Wir haben damals auch diskutiert, ob wir zu einer
allgemeinen Heraufstufung zum Verbrechen kommen
sollten. Wir haben das damals - mit der Zustimmung der
Kollegen aus der CSU - nicht getan, und ich hoffe, daß
wir dabei bleiben. Denn für mich ist der Opferschutz in
diesem Zusammenhang von großer Wichtigkeit. Wenn
wir nämlich zu einer Heraufstufung zum Verbrechen
kommen würden, dann hätten wir alle anderen Möglichkeiten der strafrechtlichen Sanktionierung - wir wissen,
daß es hier schwere, aber auch leichte Fälle gibt - nicht
mehr, zum Beispiel die Erledigung eines Falles im
Strafbefehlsverfahren, das manchmal gewählt wird, um
dem Kind ein Auftreten als Zeuge zu ersparen, bei dem
alles wieder hochkommt, bei dem das Kind alles wieder
neu erlebt. Ich habe also die herzliche Bitte, daß wir bei
den vernünftigen Regelungen, die wir im letzten und
vorletzten Jahr beschlossen haben, bleiben. Ich glaube,
daß das gerade im Interesse der Opfer wäre, das uns hier
besonders leiten muß.
Einige andere Dinge, die immer wieder zu heftigen
Diskussionen geführt haben, sind auch in den vorhergehenden Reden schon angesprochen worden, insbesondere die Kronzeugenregelung. Ich bekenne mich dazu,
daß ich mich für die Kronzeugenregelung eingesetzt habe; denn ich finde, daß wir bei der Aufklärung von
schwersten Verbrechen auch über ungewöhnliche Wege
nachdenken müssen. Aber ich tue mich ganz außerordentlich schwer, jetzt wieder einer Verlängerung zuzustimmen. Denn wir haben seinerzeit ganz bewußt eine
zeitliche Begrenzung vorgenommen,
({3})
weil wir nach einer bestimmten Zeit sehen wollten, was
diese Regelung bringt bzw. nicht bringt. Deshalb können
wir jetzt nicht einfach blind verlängern,
({4})
sondern müssen Bilanz ziehen.
({5})
Dann muß die Antwort ja oder nein lauten. Ein bloßes
Verlängern zum jetzigen Zeitpunkt kann nicht die richtige Antwort sein.
({6})
Das gleiche gilt für mich beim Fernmeldeanlagengesetz. Ich bin dafür, daß wir eine Möglichkeit haben,
zum Beispiel wenn Frauen immer wieder beleidigend
angerufen werden, nachzuverfolgen, von wem die Anrufe kommen. Sie haben Anspruch darauf, daß sie von solchen Tätern nicht weiter belästigt werden. Deshalb
braucht man dieses Gesetz dringend. Aus diesem Grunde bin ich dagegen, daß wir nun einfach wieder eine
Verlängerungsregelung beschließen. Ich meine, alle
Aspekte sollten gesetzlich niedergelegt werden. Genau
dies sollten wir uns als Aufgabe vornehmen.
Herzlichen Dank.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans-Christian Ströbele
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Was wir heute bei diesem Tagesordnungspunkt hier vorhaben, ist in der Tat ein Ritt durch das
Strafprozeßrecht und das Strafrecht. Aber es zeigt auch,
wie wenig bestellt uns die frühere Koalition den Acker
der Kriminal- und Justizpolitik hinterlassen hat.
({0})
Sie haben ganz einfach über 16 Jahre Ihre Hausaufgaben
nicht gemacht, Herr Geis.
({1})
Sie haben Aufträge des Bundesverfassungsgerichts ganz
einfach ignoriert, zum Beispiel bei der Änderung der
Strafprozeßordnung, so daß das StVÄG, das Strafverfahrensänderungsgesetz, von dieser Koalition, von dieser Regierung jetzt endlich realisiert werden muß.
({2})
Herr Professor Scholz hat etwas von einem neuen
Grundrecht erzählt. Ich schaue immer ins Grundgesetz
und finde es dort nicht.
({3})
Was ich aber finde, Herr Professor, ist das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung, wie es das Bundesverfassungsgericht definiert hat.
({4})
Bereits 1983, also vor 16 Jahren, hat das höchste Gericht
dem Gesetzgeber aufgegeben, in allen Bereichen spezifisch zu regeln, daß der Datenschutz gewährleistet ist.
Das haben Sie nicht gemacht; das haben Sie versäumt.
({5})
Das haben Sie solange hinausgezögert, daß die Europäische Union Ihnen etwa beim Datenschutzgesetz StrafJörg van Essen
gelder androhen mußte, um Sie in Bewegung zu bringen. Trotzdem haben Sie es nicht geschafft, und nun haben wir diese Aufgabe zu erledigen.
({6})
Sie haben nicht nur die große Justizreform, die von
der F.D.P. immer angekündigt wurde, nicht geschafft
und auch das Sanktionenrecht nicht reformiert,
({7})
sondern Sie haben auch und gerade im Bereich des Datenschutzes ganz einfach versagt. Wenn die Justizministerin heute in die Schubladen guckt, die Sie ihr hinterlassen haben, dann findet sie dort alte Hüte und unfertige Gesetzesvorhaben, die wir jetzt diskutieren, verbessern, vervollständigen und auf den Weg bringen
müssen. Das ist die Bilanz dessen, was Sie gemacht haben. Sie hören es nicht gern; aber es ist ganz einfach so.
Das erste Gesetz - es ist ein vollständiges Gesetz, das
auch in der letzten Legislaturperiode schon beraten worden ist - ist das StVÄG, in dem es um nicht weniger
geht, als eine Datenschutzregelung zu finden, die unter
anderem definiert, unter welchen Voraussetzungen ein
Richter oder Staatsanwalt oder auch, wie Sie es praktiziert haben, die Polizei einen Bürger bzw. eine Bürgerin
zur öffentlichen Fahndung freigibt, also deren Fotos und
Personenbeschreibungen ins Fernsehen oder in die Zeitung geben darf, welche Beschränkungen vorhanden
sein müssen und - vor allen Dingen - wer darüber entscheiden muß. Das haben Sie offengelassen. Sie haben
dadurch die Bürger in diesem ganz wichtigen Bereich
ohne ausreichenden Schutz gelassen und das Persönlichkeitsrecht sehr vieler Bürgerinnen und Bürger verletzt; denn wir alle wissen, daß man in solche Fahndungen auch hineinkommen kann, ohne daß es nachher zu
einer Verurteilung kommt. Es kommen also auch Unschuldige da hinein; insbesondere gilt dies für Zeugen.
Die Bundesregierung hat nun einen umfangreichen
Gesetzentwurf vorgelegt, in dem all diese Fragen geregelt sind. In den Koalitionsfraktionen haben wir uns zusammengesetzt und zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch eine Reihe zusätzlicher Verbesserungen
des Schutzes und der Effektivität vereinbart, die wir im
Laufe der Beratungen in dieses Strafrechtsänderungsgesetz einbringen wollen.
Lassen Sie mich Ihnen an zwei Beispielen deutlich
machen, worum es dabei geht: Wir wollen, daß dann,
wenn ein Zeuge in einem Strafverfahren gesucht wird,
dafür nicht weniger rechtliche Voraussetzungen gegeben
sein müssen und nicht weniger Kontrolle vorhanden sein
darf, als wenn ein Beschuldigter mittels öffentlicher
Fahndung gesucht wird. Selbstverständlich muß man bei
einem Zeugen sehr viel zurückhaltender sein; denn er
hat ja keine Straftat begangen und keine Schuld auf sich
geladen. Auch wollen wir dafür sorgen, daß das Akteneinsichtsrecht in Strafverfahren, im Rahmen deren Menschen in Untersuchungshaft sind, dadurch verbessert
wird, daß eine richterliche Überprüfung stattfindet,
wenn die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht verweigert.
Insgesamt haben wir hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der längst fällig war, der schon vor zehn Jahren
hätte kommen müssen. Wir hoffen, daß wir ihn in Kürze
verabschieden können und damit unserer Pflicht, die
sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt, nachkommen.
({8})
Sie haben des weiteren § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes angesprochen. Das ist eine befristete Vorschrift
- darauf hat die F.D.P. dankenswerterweise hingewiesen -, die dem Richter die Möglichkeit geben soll - es
kann durchaus Fälle geben, in denen das berechtigt ist -,
festzustellen, wann wer mit wem telefoniert hat. Es geht
also nicht darum, worüber am Telefon gesprochen wurde, sondern nur um die Feststellung der Anschlüsse. Wir
wissen aber spätestens seit der Volkszählungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, daß so etwas nicht
einschränkungslos im Gesetz stehen darf; denn wenn der
Richter so etwas macht, können auch Telefonanschlüsse
von Unschuldigen erfaßt werden. Daher muß geregelt
sein: Wann werden diese Daten gelöscht? Wer kontrolliert das? Wie ist das mit den Berufsgeheimnisträgern?
Wie ist das mit Rechtsanwälten, mit Journalisten, mit
Ärzten, mit Geistlichen? Darf da so einfach festgestellt
werden, wann wer mit wem wie lange telefoniert hat?
Ich denke einfach eine Verlängerung zu verlangen,
wie Sie von der CDU/CSU es tun, geht auf gar keinen
Fall. Vielmehr müssen wir prüfen, ob die jeweiligen
datenschutzrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind.
Wir müssen uns das alles im Lichte des Grundgesetzes
sorgfältig ansehen und dann gegebenenfalls datenschutzrechtliche Regelungen einführen.
({9})
Nun zur Kronzeugenregelung. Die Kronzeugenregelung ist 1989 während eines großen Fahndungsdefizits
- „Fahndungsnotstand“ hat man damals gesagt - geboren worden. Unserem Strafrecht ist es eigentlich völlig
fremd, daß selbst für einen Mörder, der selber zugibt,
einen Mord begangen zu haben, die Freiheitsstrafe bis
zu drei Jahren heruntergesetzt werden kann. Dieses
Sondergesetz ist unserem Strafrecht völlig fremd, und es
ist damals von vielen kritisiert worden.
Dieses Gesetz hatte allein den Zweck, dem seinerzeitigen Fahndungsnotstand abzuhelfen. Es ist ein Gesetz
aus der Zeit der Terroristengesetze. Jetzt wollen Sie es
einfach verlängern, ohne sich damit zu beschäftigen, ob
dieses Gesetz überhaupt den Zweck, zu dem es einmal
erlassen wurde, erreicht hat. Ist damit auch nur in einem
einzigen Fall erreicht worden, daß Personen aus dem
engeren Kreis von terroristischen Vereinigungen herausgebrochen wurden,
({10})
daß sie zur Verhinderung oder zur Aufklärung von
schweren Straftaten oder zur Festnahme von anderen
Mitgliedern terroristischer Vereinigungen beigetragen
haben?
({11})
Ist dieser Zweck wirklich in Einzelfällen erreicht worden?
Da wird immer wieder gesagt: Wir hatten doch Anfang der 90er Jahre die Beispiele der ehemaligen RAFAngehörigen, die in der DDR angetroffen worden sind.
- In all diesen Verfahren - das wird Ihnen der Generalbundesanwalt bestätigen - haben die Leute, auf die die
Kronzeugenregelung angewandt worden ist, gesagt: Wir
hatten uns schon vor zehn Jahren von der RAF getrennt;
wir wollten ohnehin einen Schlußstrich ziehen; für uns
ist die Kronzeugenregelung überhaupt nicht der Punkt,
weswegen wir jetzt der Justiz helfen. Das muß man einfach feststellen. Das gleiche gilt für Straftaten im Bereich des Ausländergesetzes, für Straftaten im Bereich
von ausländischen terroristischen Vereinigungen, etwa
der PKK - ich bestreite nicht, daß es zu allen möglichen
Anwendungen gekommen ist - mit anderen Worten:
auch das Gutachten, das noch von der letzten Regierung
in Auftrag gegeben worden ist, stellt fest, daß nicht in
einem einzigen Fall wirklich der Zweck, zu dem dieses
Gesetz ursprünglich erlassen worden ist, erreicht wurde.
Deshalb lassen Sie uns genau hingucken und überprüfen, und lassen Sie uns dann feststellen, ob überhaupt
etwas erforderlich ist und, wenn ja, was. Diese Prüfung
dürfen wir uns nicht ersparen. Wir können nicht einfach
ein Sondergesetz, das nicht ohne Grund befristet worden
ist, immer wieder verlängern. Damit schenken wir auch
dem früheren Gesetzgeber nicht die gebotene Beachtung.
({12})
Nun komme ich zu den diversen Gesetzentwürfen,
die vom Bundesrat eingebracht worden sind. Sie enthalten eine ganze Reihe von sehr wichtigen, grundsätzlich richtigen Gedanken.
Die Einführung von gemeinnütziger Arbeit ist im
Grunde etwas sehr Vernünftiges. Sie nützt nicht nur der
Person, die sich dadurch möglicherweise eine Haftstrafe
oder eine Geldstrafe erspart; sie nützt nicht nur - wie der
Name schon sagt - der Allgemeinheit; vielmehr kann sie
auch den Opfern, den Geschädigten zugute kommen.
Deshalb ist es wichtig und richtig - das ist von dieser
Bundesregierung und von der Frau Ministerin schon in
vielen Diskussionsveranstaltungen gesagt worden -, daß
im Bereich unterer und mittlerer Kriminalität eine weitgehende Anwendung möglich gemacht werden soll.
An der Initiative des Bundesrates kritisieren wir, daß
sie die Anwendung dieser Sanktion auf den Ersatz für
nicht bezahlte Geldstrafen beschränkt und sie nicht als
eigenständige Strafe einführt. Es bleibt das Problem, daß
Zwangsarbeit in Deutschland nach dem Grundgesetz
nicht zugelassen ist. Aber ich denke, es kann sich jeder
vorstellen, daß es für jeden Betroffenen wesentlich einfacher und wesentlich besser hinnehmbar wäre, zu 100
oder 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt zu
werden, als ins Gefängnis zu müssen, völlig von der
Außenwelt abgeriegelt zu sein und dort in der Regel
ohne sinnvolle Tätigkeit und ohne Perspektive zu sitzen
- was im übrigen das für die Gesellschaft erhebliche Risiko eines Rückfalls beinhaltet; denn 70 bis 80 Prozent
all derer, die einmal im Gefängnis waren, kommen dort
auch wieder hinein, werden rückfällig. Das müssen wir
vermeiden. Es gibt eine ganze Reihe von guten Gründen, nach Alternativen Ausschau zu halten.
Weiterhin gibt es den Vorschlag des elektronischen
Hausarrestes. Das ist eine sehr einschneidende Maßnahme, von der nicht nur der Betroffene, der Täter tangiert und in seinen Freiheitsrechten erheblich eingeschränkt ist; vielmehr betrifft das die ganze Familie.
Wenn in der Familie jemand mit einer elektronischen
Fußfessel sitzt, dann bekommen das die Kinder, dann
bekommt das der Ehepartner oder sonstige Partner, dann
bekommen das auch die Verwandten und Freunde mit.
Ich denke, es muß genau überlegt werden, ob diese
Maßnahme grundsätzlich als alternative Strafe in Betracht kommt. Wenn dies der Fall ist, muß man die Frage stellen: als Alternative zu welchen Strafen? Ist sie als
Alternative zu Geldstrafen, als Alternative zu Freiheitsstrafen oder als Alternative zur weiteren Vollstreckung
einer Freiheitsstrafe, wie das auch schon vorgeschlagen
worden ist, denkbar? Das bedarf einer genauen Auswertung der Erfahrungen, die in anderen Ländern, insbesondere in den USA, damit gemacht worden sind.
Wir Bündnisgrünen haben da erhebliche Bedenken
und sehen das mit großer Skepsis. Wir wollen auf gar
keinen Fall, daß das, was in den USA zu beobachten ist,
auch hier Einzug hält: Da gibt es eine ganze Industrie
die diese elektronischen Hausarrestapparate konstruiert
und herstellt und die dadurch dazu beiträgt, daß die
Überwachung privatisiert und somit die Aufgabe des
Staates, für Strafverfolgung zu sorgen, auf die Industrie
übertragen wird. Wir sind aber bereit, über diese Alternative nachzudenken.
Lassen Sie mich zum letzten Projekt vom Bundesrat
- das hier auch schon angesprochen worden ist -, zur
drastischen Erhöhung der Freiheitsstrafen für den sexuellen Mißbrauch von Kindern noch ein paar Worte
sagen. Auch in diesem Bereich - wie in so vielen anderen - sollte zunächst einmal untersucht werden, welche
Strafen in welcher Höhe für welche Fallkategorien in
den letzten Jahren von deutschen Gerichten verhängt
worden sind. Wir wollen doch nicht daran vorbeireden,
daß es schon heute möglich ist, Freiheitsstrafen bis zu
zehn Jahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern
zu verhängen. Um die Frage zu entscheiden, ob wir
Freiheitsstrafen verhängen oder androhen wollen - oder
müssen -, die über dieses Maß hinausgehen, sollte zunächst untersucht werden, in welchen Fällen bisher welches Strafmaß erforderlich gewesen ist und ob die bisher
verhängten Strafen überhaupt annähernd an das Strafmaß heranreichen, das heute möglich ist. Danach sollte
man entscheiden, ob es erforderlich ist, die Strafen drastisch heraufzusetzen. Auch hier denken wir also eher an
einen Prüfauftrag, verschließen uns aber nicht der Diskussion.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Die rotgrüne Regierung steht im Wort, bald ein durchdachtes, tragfähiges Konzept für eine Sanktionenrechtsreform, für
eine Justizreform, für ein neues Datenschutzrecht vorzulegen. Die Arbeiten haben begonnen. Ein erstes,
wichtiges Gesetz dazu haben wir vorgelegt. Die Arbeiten gehen weiter. Die Opposition versucht, uns alte Hüte
aufs Haupt zu drücken, so wie es bei der Kronzeugenregelung der Fall ist. Der Bundesrat hat einige richtige
Gedanken und prüfenswerte Einzelforderungen in den
Flickenteppich der zahlreichen Gesetze hineinzuweben
versucht. Wir denken, eine Gesamtkonzeption ist erforderlich, und machen mit diesem Strafverfahrensänderungsgesetz, dem StVÄG, einen ersten großen und
wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Darüber sollten wir weiter diskutieren und möglichst bald zu tragfähigen Ergebnissen kommen.
({13})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich stehe jetzt vor der schier
unlösbaren Aufgabe, mich zu acht Gesetzentwürfen in
siebeneinhalb Minuten äußern zu dürfen.
({0})
Das kommt angesichts des breiten Themenspektrums
der Quadratur des Kreises gleich. In der Kürze der Zeit
kann ich deshalb nicht zu jedem Gesetz im einzelnen
Stellung nehmen, auch wenn Sie mir das freundlicherweise zutrauen.
Die Reform des bestehenden strafrechtlichen Sanktionensystems und die Schaffung zeitgemäßer Sanktionsformen sind nicht nur ein altes Anliegen der SPD
und der in der vergangenen Legislaturperiode liegengebliebenen Bundesratsinitiativen. Auch die PDS hat in
der 13. Wahlperiode einen Gesetzentwurf zu dieser Frage und anderen Fragen, zum Beispiel zur Stärkung der
Opferrechte, eingebracht. Wir sind uns offenbar über
Parteigrenzen hinweg weitgehend einig, daß das bestehende Sanktionensystem den Gerichten zuwenig Gestaltungsmöglichkeiten gibt, um ihrer kriminalpädagogischen Aufgabe gerecht zu werden. Die Alternativen
„Geldstrafe oder Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewährung“ sind für die Praxis der Strafzumessung zuwenig.
Eine weitere Ausdifferenzierung im Sanktionensystem
ist deshalb erforderlich.
Bedauerlich ist, daß die vom Bundesjustizministerium eingesetzte Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems ihre Beratungen noch
nicht abgeschlossen hat. So wünschenswert eine baldige
Reform ist, bin ich doch dafür, diesen Bericht zunächst
abzuwarten, bevor im Kernbereich des Sanktionensystems tiefgreifende Änderungen vorgenommen werden.
Ohne Kenntnis entsprechender wissenschaftlicher Vorarbeiten sollten keine voreiligen Entscheidungen getroffen werden. Allein der Verweis auf positive Erfahrungen
anderer Staaten, die aber auch andere Rechtssysteme
haben, reicht mir nicht aus. Auch möchte ich ein Gesamtkonzept für die Reform des Sanktionensystems erkennen können und nicht für ein Sammelsurium von sogenannten neuzeitlichen Sanktionen stimmen müssen,
die dem Prinzip der Beliebigkeit folgen und vielleicht
nur von der Straf-Wirkung getragen werden. Ein spektakuläres Beispiel dafür ist das Fahrverbot als Hauptstrafe,
das manche nur deshalb ablehnen, weil nicht alle Straffälligen ein Kraftfahrzeug besitzen.
Im Rahmen der Gesamtreform des strafrechtlichen
Sanktionensystems messe ich der Einführung der gemeinnützigen Arbeit als eigenständiger Sanktion eine
wichtige Bedeutung zu. Für sie spricht insbesondere die
Verknüpfung verschiedener Zwecke; das wären etwa der
Entzug von Freizeit, die Wiedergutmachung durch soziale Arbeit und nicht zuletzt eine Erleichterung der Resozialisierung des Täters durch Arbeit. Das Problem
hierbei scheint mir eigentlich die praktische Umsetzung
in den Ländern, die Schaffung von entsprechenden Einsatzstellen zu sein.
Das Für und Wider zur Einführung des elektronisch
überwachten Hausarrests geht quer durch alle Parteien. Entscheidendes Kriterium ist, ob der Hausarrest neue
Möglichkeiten der sozialen Einbindung des Straffälligen
bei Beachtung legitimer Sicherheitsinteressen der Bürgerinnen und Bürger eröffnet. Unter Berücksichtigung
des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der Menschenwürde und der Persönlichkeitsrechte des Straftäters ist er
nur dort anzuwenden, wo ambulante Sanktionsformen
nicht ausreichen. Hier kann er eine Alternative zum
härteren stationären Sanktionsvollzug sein. Sinnvoll ist
deshalb eine Erprobung in den Fällen, in denen ansonsten kurze Freiheitsstrafen ausgesprochen würden oder
in denen Restfreiheitsstrafen bei bestimmten Tätergruppen noch nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könnten. Das darf aber nicht den Weg für einen notwendigen
Ausbau der sogenannten ambulanten Hilfen wie Bewährungs- oder Gerichtshilfe verstellen. Als Ersatzfreiheitsstrafe taugt der Hausarrest jedoch nicht. Denn wer nicht
zahlen kann, soll auch nicht eingesperrt werden, auch
nicht zu Hause.
({1})
Die Veränderung des Umrechnungsmaßstabes - zwei
Tagessätze Geldstrafe sollen einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprechen - begrüßen wir deshalb, halten sie jedoch insgesamt für inkonsequent.
Für grundsätzlich wünschenswert halte ich, das System der strafrechtlichen Sanktionen in Richtung Wiedergutmachung auszubauen. Dabei denke ich nicht allein daran, die Wiedergutmachung als einen Einstellungsgrund anzusehen, sondern ich denke daran, sie
auch bei mittlerer und schwerer Kriminalität neben einer
Strafe vorzusehen. Die Kombination von Wiedergutmachung und Strafe käme einer alternativen Strafe gleich.
Dies wäre auch ein Schritt in Richtung einer opferorientierten Strafverfolgung.
Unsere Zustimmung haben Sie also dort, wo Haftvermeidung bei Wahrung des gesellschaftlichen SchutzHans-Christian Ströbele
bedürfnisses zu erwarten ist, wo gemeinnützige Arbeit
statt Strafe möglich wird, wo es zu einem Täter-OpferAusgleich, zu einer Wiedergutmachung durch den Täter
kommen kann.
Nun zum Gesetzentwurf „Sexueller Mißbrauch von
Kindern“: Hier sehe ich Regelungsbedarf, der insbesondere durch die Verbreitung des Internets entstanden
ist. Ich unterstütze deshalb jede Maßnahme, die geeignet
ist, dem sexuellen Mißbrauch von Kindern entgegenzuwirken.
Ich denke aber nicht, daß allein höhere Strafen und
der Zwang zur Therapie den Handel mit Kindern und
Kinderpornographie eindämmen werden. Wir brauchen
mehr Rechtshilfeabkommen mit den Ländern, die von
Kinderhändlern und Sextouristen aufgesucht, besser gesagt: heimgesucht werden. Außerdem benötigt die Polizei mehr Unterstützung für die personal- und sachintensive Recherche in den Netzen.
Abschließend zu dem von der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Dritten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes nur so viel: Erinnern wir uns: Die Kronzeugenregelung für terroristische Straftaten mit begrenzter Geltungsdauer ist 1989 bekanntlich als Experiment - trotz schwerwiegender rechtsstaatlicher Bedenken und gegen die dringliche Warnung fast der gesamten Fachwelt - eingeführt und 1994 auf die organisierte
Kriminalität ausgedehnt worden. Sie durchbricht das
Legalitätsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip. Sie verletzt auch den Gleichheitsgrundsatz, da sie strafverdächtige und überführte Täter von der Bestrafung ganz oder
teilweise ausnimmt. Der Anreiz, sich durch Bezichtigung anderer Verdächtiger in den Genuß der zugesagten
Vergünstigungen zu bringen, birgt die Gefahr in sich,
den Zeugenbeweis zu entwerten, und kann im Extremfall sogar zur Bezichtigung Unschuldiger führen; das
haben wir heute schon gehört. Bei der Debatte zum
Zweiten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz hat selbst
die damalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger schwere Bedenken geäußert und schließlich dafür
plädiert, diese Regelung nach sechsjähriger Anwendungszeit auslaufen zu lassen.
Durch die Kronzeugenregelung sind weder terroristische Gewalttaten noch organisierte Kriminalität verhindert worden. Darauf hat auch schon mein Kollege Ströbele hingewiesen. Jedenfalls bleibt der Gesetzentwurf
einen Nachweis über die Wirksamkeit dieser Regelung
schuldig. Ich hätte mir auch dazu Ausführungen gewünscht.
Manchmal ist ein Gesetz weniger ein Gewinn für den
Rechtsstaat.
Danke schön.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Professor Dr. Jürgen
Meyer von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein erster Blick auf
die heute in erster Lesung zu beratenden acht strafrechtlichen Gesetzentwürfe kann den Eindruck hervorrufen,
es handele sich um ein mehr oder weniger zufällig entstandenes Sammelsurium. Bei näherem Hinsehen erkennt man aber zumindest in der Mehrheit der Entwürfe
eine klare politische Botschaft. Diese lautet: Der Reformstau, der in 16 Jahren Kohl-Regierung auch in der
Kriminalpolitik entstanden ist, beginnt sich aufzulösen.
({0})
Ich will das mit zwei Hinweisen belegen: Mein erster
Hinweis gilt den vier vom Bundesrat vorgelegten Gesetzentwürfen, die sich mit dem strafrechtlichen Sanktionensystem befassen. In den vier Legislaturperioden
der Kohl-Regierung ist ein Reformbedarf stets geleugnet
worden.
({1})
Dies geschah erstmals in der 10. Legislaturperiode Anfang der 80er Jahre. Damals war die Bundesregierung
von der Opposition aufgefordert worden, zu den Vorschlägen Stellung zu nehmen, die gemeinnützige Arbeit
als selbständige Sanktion einzuführen, den Anwendungsbereich der Verwarnung mit Strafvorbehalt zu erweitern, eine Aussetzung zur Bewährung auch für Geldstrafen vorzusehen sowie eine Verfahrenseinstellung
auch dann zu ermöglichen, wenn der Täter den Schaden
wiedergutmacht. Die damalige Bundesregierung verneinte jeglichen aktuellen Änderungsbedarf.
({2})
Sie blieb dabei auch nach dem 59. Deutschen Juristentag
1992,
({3})
den meine Fraktion durch eine Große Anfrage zur Reform des Sanktionensystems vorbereitet hatte.
({4})
Der von mir in der vorletzten und letzten Legislaturperiode jeweils ausführlich begründete Entwurf eines
Gesetzes zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems wurde von der Mehrheit stets abgelehnt,
aber in der letzten Legislaturperiode erfreulicherweise
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt.
({5})
Die Bundesregierung konnte sich gegen Ende der
letzten Legislaturperiode nur zur Einsetzung einer
Kommission durchringen.
({6})
Diese hat nun vor drei Monaten einen Zwischenbericht
mit einer Reihe von Reformvorschlägen vorgelegt. Was
ist die Ursache für dieses Umdenken? Nach meinem
Eindruck hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Vollstreckung von Freiheitsstrafen in
manchen Fällen mehr Schaden als Nutzen stiftet:
({7})
Sie reißt den Verurteilten aus seinen sozialen Bezügen;
sie führt zum Verlust von Wohnung und Arbeit; angesichts der Überfüllung unserer Gefängnisse ist ein Bemühen um Resozialisierung vielfach kaum noch möglich;
({8})
die Kosten des Strafvollzuges in Höhe von etwa
200 DM pro Tag werden zunehmend kritisch beurteilt.
Dies sind einige Gründe dafür, daß der Ruf nach
alternativen Sanktionen neben Geld- und Freiheitsstrafe immer lauter wird. Ich bin zuversichtlich, daß die
neue Bundesregierung demnächst einen auf den Vorarbeiten der Kommission aufbauenden Gesetzentwurf
vorlegen wird, der ein Gesamtkonzept enthält
({9})
und der sinnvollerweise zusammen mit den teils mehr
und teils weniger überzeugenden Einzelentwürfen des
Bundesrates beraten wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein zweiter Beleg
für die Reformunfähigkeit der früheren Bundesregierung
sowie der früheren Mehrheitskoalition und für die Reformfähigkeit der neuen Bundesregierung ist der heute
in erster Lesung zu beratende Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes, abgekürzt StVÄG.
({10})
- Herr Kollege Geis, Sie bekommen gleich die Meinung
gesagt.
({11})
Der Verfassungsauftrag, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und die Grunderfordernisse
des Datenschutzes - natürlich in Abwägung mit der
Notwendigkeit effektiver Strafverfolgung - auch im
Strafverfahren zu beachten, stammt aus dem Jahr 1983.
Er ist dem bekannten Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, ergangen im ersten Jahr der KohlRegierung, zu entnehmen. 16 Jahre haben nicht ausgereicht, um das StVÄG zu verabschieden.
({12})
Die Fehlversuche der früheren Regierung sind bekannt - liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hören Sie aufmerksam zu -: Der Entwurf von
1989 ist niemals Gesetz geworden. Im August des vergangenen Jahres schien endlich die Verabschiedung des
überfälligen Gesetzes gesichert zu sein.
({13})
Auf der Grundlage eines Bundesratsentwurfes und
eines Entwurfes der Bundesregierung kam es im vergangenen Sommer zum sogenannten Flughafenkompromiß; Herr Kollege Geis, Sie waren dabei. Der
Name erinnert daran, daß die Abschlußverhandlungen
in einem Sitzungsraum eines Hotels im Frankfurter
Flughafen stattfanden.
({14})
Alle Beteiligten, auch die Vertreter der A- und B-Länder
sowie der CDU/CSU-Fraktion, hatten dem fertig ausformulierten Gesetzestext zugestimmt. Die Hoffnung
auf eine Verabschiedung noch vor der letzten Bundestagswahl zerschlug sich dann aber durch einen überraschenden Brief des damaligen bayerischen Justizministers Leeb, der sich mit fadenscheiniger Begründung
von dem Kompromiß, dem er zuvor persönlich zugestimmt hatte, distanzierte.
({15})
16 Jahre haben der früheren Regierung also nicht genügt, um dem klaren Auftrag des Volkszählungsurteils
gerecht zu werden. Ich zitiere aus diesem Urteil:
Unter den Bedingungen der automatisierten Datenverarbeitung gibt es kein belangloses Datum mehr.
Wie weit Informationen sensibel sind, kann hiernach nicht mehr allein davon abhängen, ob sie intime Vorgänge betreffen. Vielmehr bedarf es zur
Feststellung der persönlichkeitsrechtlichen Bedeutung eines Datums der Kenntnis seines Verwendungszusammenhanges. Erst wenn Klarheit darüber
besteht, zu welchem Zweck Angaben verlangt werden und welche Verknüpfungsmöglichkeiten bestehen, läßt sich die Frage einer zulässigen Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beantworten.
Bekanntlich ist das tief in die Persönlichkeitsrechte
eingreifende Strafverfahren ganz wesentlich Datenverarbeitung. Es kommt darauf an, die für das Strafverfahren entscheidungserheblichen Informationen zu erheben,
zu erfassen, auszuwerten und zu speichern. Die Verwendung von Daten im Strafverfahren ist hoheitliche
Informationsverarbeitung. Man denke nur an die öffentliche Fahndung nach einem Beschuldigten, eventuell
unter Verwendung seines Lichtbildes, oder auch nach
einem Zeugen zur Ermittlung seines Aufenthaltsortes.
Auch Akteneinsicht ist Einsicht in Daten. Wenn die
Zweckbestimmung der Daten erfüllt ist, muß man prüfen, ob sie gelöscht werden können. All dies ist Sache
des Gesetzgebers. Er muß die wesentlichen Konkretisierungen des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung vornehmen. Er darf sich dieser Aufgabe nicht
durch die Schaffung von Generalklauseln entziehen.
Dr. Jürgen Meyer ({16})
Diesen Anforderungen wird der heute in erster Lesung zu beratende Gesetzentwurf der Bundesregierung
gerecht, die sich klugerweise eng an den bereits erwähnten Flughafenkompromiß angeschlossen, auf
Grund der Stellungnahme des Bundesrates aber bereits
verschiedene Konkretisierungen vorgeschlagen hat. In
Berichterstattergesprächen im Rahmen der Koalition haben wir unter Beteiligung des Bundesjustizministeriums
eine Reihe weiterer Konkretisierungen vereinbart, die
wir zum Gegenstand der Ausschußberatungen machen
wollen.
Die neue Bundesregierung und die Koalition weichen
der vom Gesetzgeber zu lösenden Aufgabe nicht länger
aus, die notwendige praktische Konkordanz von allgemeinem Persönlichkeitsrecht einerseits und Strafverfolgungsinteressen andererseits herzustellen. Damit beenden wir den 16 Jahre andauernden und verfassungsrechtlich völlig inakzeptablen Reformstau in diesem
wichtigen Bereich der Gesetzgebung.
Ich danke Ihnen.
({17})
Das Wort hat jetzt
der Bayerische Staatsminister der Justiz, Dr. Manfred
Weiß.
Dr. Manfred Weiß, Staatsminister ({0}): Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die aufgerufenen Tagesordnungspunkte enthalten eine
ganze Reihe wichtiger Vorhaben im Bereich des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Etliches davon ist
aus Ländersicht natürlich von essentieller Bedeutung.
Aber ich habe dasselbe Problem wie meine Vorrednerinnen und Vorredner: Die knapp bemessene Redezeit
läßt es nicht zu, zu allen Punkten Stellung zu nehmen.
Ich beschränke mich daher auf den Bundesratsentwurf
zum Schutz von Kindern vor sexuellem Mißbrauch,
wobei ich anmerken darf, daß der Bundesrat - leider nicht von der CSU dominiert ist, sondern daß dort die
Mehrheiten noch anders sind.
Meine Damen und Herren, der Schutz von Kindern
vor Sexualstraftaten zählt seit einigen Jahren zu den
zentralen rechtspolitischen Anliegen. Das war leider
nicht immer so. Ich erinnere daran, daß es bei der großen Strafrechtsreform vor rund 25 Jahren manchen gegeben hat, der einvernehmliche Sexualkontakte mit Kindern nicht verwerflich fand und deswegen den Strafrechtsschutz aufweichen wollte. Dazu ist es - was die
Tatbestandsfassung anbelangt - glücklicherweise nicht
gekommen. Allerdings wurde die Strafandrohung gravierend zurückgenommen. Aus einem Verbrechen ist
ein bloßes Vergehen geworden. Um die vorhin angesprochenen Überlegungen, ob das Höchstmaß der Strafe
acht oder zehn Jahre betragen soll, geht es doch gar
nicht.
({1})
Es geht darum, ob auch schon der Versuch der Anstiftung und die Vorbereitung strafbar sind. Auch Sie werden gelernt haben, daß dies nur bei Verbrechen der Fall
ist und nicht bei Vergehen. Insoweit sind wir uns sicher
einig.
Die Aufweichungsbestrebungen fanden damit jedoch
leider kein Ende. In den 80er Jahren haben sich vor
allem die Grünen - es ist gut, daß wir hier gerade in
Kontakt getreten sind - auf diesem Feld unrühmlich
hervorgetan. Es hat in Ihren Reihen nicht wenige gegeben, die vorgeblich gewaltfreie sexuelle Beziehungen
zwischen Erwachsenen und Kindern straffrei stellen
wollten.
({2})
Diese Forderungen haben Eingang in verschiedene
Parteipapiere gefunden. Ob es Ihnen gefällt oder nicht:
Sie müssen sich daran gewöhnen, daß das hier gesagt
wird.
Die nächste Etappe war ein Gesetzentwurf, mit dem
strafrechtliche Jugendschutzvorschriften ersatzlos aufgehoben werden sollten.
({3})
Der Entwurf verstand sich ausdrücklich als erster Schritt
in Richtung einer Entkriminalisierung einvernehmlich
gewünschter sexueller Handlungen. Ich sage Ihnen
deutlich: Das sind für mich empörende Vorgänge. Wir
werden nicht aufhören, das hier entsprechend anzuprangern.
({4})
Der kriminalpolitische Wind hat sich mittlerweile gedreht. Das ist richtig. Es ist aber auch eine traurige Tatsache, daß erst schreckliche Sexualmorde an Kindern
geschehen mußten, ehe man hier reagiert hat.
({5})
Wesentlich auf diese furchtbaren Verbrechen ist es zurückzuführen, daß das 6. Strafrechtsreformgesetz,
maßgeblich auf bayerische Initiative hin, drastische
Strafverschärfungen bei der Kinderschändung sowie bei
sexuellen Gewaltdelikten erbracht hat. Ein guter Teil der
durch die SPD/F.D.P.-Koalition getroffenen Fehlentscheidungen ist damit korrigiert worden.
In einigen Punkten allerdings ist der Gesetzgeber auf
halbem Wege stehengeblieben. Vor allem hat sich die
Auffassung nicht durchgesetzt, daß der Grundfall des
Kindesmißbrauchs wieder als das Verbrechen gebrandmarkt werden muß, das er im Verständnis der Bürgerinnen und Bürger seit jeher war. Ich wende mich einfach
gegen die Arroganz zu sagen: Die Bürger draußen können so denken, wie sie wollen, und auch wenn es für die
Bürger ein Verbrechen ist, sind wir hier ja viel gescheiter und klassifizieren dies als Vergehen.
({6})
Dr. Jürgen Meyer ({7})
Ich glaube, man sollte auch ein bißchen auf den Bürger
draußen hören; denn wir haben die Aufgabe, die Interessen der Bürger entsprechend wahrzunehmen.
({8})
Statt dessen sind jetzt Regelungen geschaffen worden, die an Kompliziertheit nichts zu wünschen übrig
lassen und die auch zahlreiche Ungereimtheiten aufweisen. Das ließe sich vielfach belegen. Ich führe nur ein
Beispiel an. Es ist doch sicher unverständlich, daß ein
18jähriger, der mit einem Kind einen Beischlaf vollzieht, ein Verbrechen begeht, während ein Täter von
siebzehneinhalb Jahren nur ein Vergehen begeht. Das
sollte man mal demjenigen erklären, der dies miterlebt
hat. Wir müssen ja auch feststellen, daß gerade die
schlimmsten Mißbräuche in der letzten Zeit von jugendlichen Straftätern verwirklicht wurden.
({9})
Der Bundesratsentwurf - ich sage das noch einmal
deutlich - schlägt deshalb vor, einen einheitlichen Verbrechenstatbestand zu schaffen. Der hohe Stellenwert
des Schutzes der Kinder vor sexueller Ausbeutung wird
hierdurch in besonderem Maße verdeutlicht.
Das zweite Kernstück unseres Bundesratsentwurfs ist
die spezifische Strafvorschrift gegen das Anbieten von
Kindern für sexuellen Mißbrauch. Der Anlaßfall hierfür ist damals über Bayern hinaus bekanntgeworden. Ein
Sadistenpaar hat Kinder über die Datennetze für widerwärtige Praktiken angeboten. Die Täter konnten nach
Auffassung der Gerichte bis hin zum Bundesgerichtshof
insoweit strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen
werden, weil die Tat unter keinen Tatbestand des geltenden Rechts zu subsumieren war.
Wenn ich eine solche Sicherheitslücke beziehungsweise Strafbarkeitslücke habe, dann - so glaube ich - ist
es unsere Aufgabe, diesen Zustand zu beheben. Es darf
nicht der Eindruck entstehen, daß unsere Kinder Freiwild für Abartige jeglicher Couleur sind.
Dringend erforderlich ist nach unserer Meinung auch
eine Verbesserung des Ermittlungsinstrumentariums.
Gegen mutmaßliche Kinderschänder und Kinderpornohändler muß die Überwachung der Telekommunikation
zugelassen werden. Damit würde eine sichere Grundlage
für Recherchen in den Datennetzen geschaffen. Wichtig
ist dies unter anderem für Ermittlungen in geschlossenen
Nutzergruppen. Die Telefonüberwachung hat aber auch
für solche Fälle essentielle Bedeutung, in denen nur die
Kontakte über die modernen Kommunikationstechniken
geknüpft werden, das Weitere aber dann mit herkömmlichen Mitteln abgewickelt wird.
Daß die Telefonüberwachung notwendig ist, entspricht auch der Haltung vieler SPD-geführter Landesregierungen. Was die Bundesregierung allerdings bisher
hierzu gesagt hat, muß vor diesem Hintergrund doch
empören. Der Vorschlag des Bundesrates kümmert anscheinend nicht im geringsten. Die Bundesregierung
denkt vielmehr sogar über eine weitere Begrenzung der
Telefonüberwachung nach.
({10})
Das ist nach meiner Meinung eine schallende Ohrfeige
für alle SPD-geführten Länder, die ja den Entwurf, zu
dem ich Ihnen vortrage, mittragen.
({11})
Ich möchte es noch einmal deutlich sagen: Durch diese Überlegungen stellt die Bundesregierung unverhohlen
die Grundrechte mutmaßlicher Kinderschänder und
Kinderpornohändler über die Grundrechte unserer Kinder.
({12})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie haben jetzt
die Chance, die schlimme Entwicklung aufzuhalten,
({13})
zu korrigieren. Der Gesetzentwurf des Bundesrates liegt
Ihnen vor. Ich darf Sie um seriöse Beratung bitten.
({14})
Wir wären glücklich darüber, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen könnten.
Danke schön.
({15})
Es spricht jetzt unsere Kollegin Anni Brandt-Elsweier, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Täglich werden in Deutschland Kinder sexuell mißbraucht, und wir fragen uns, wie
wir das verhindern können. Sexueller Mißbrauch von
Kindern, insbesondere ihr Mißbrauch zu pornographischen Zwecken, ist eine der abscheulichsten Straftaten,
gegen die der Staat sicher mit aller Härte vorgehen muß.
({0})
Aus diesem Grunde haben wir im vergangenen Jahr
durch entsprechende Gesetze die Strafandrohung erheblich verschärft. Dies haben wir nach eingehender Diskussion getan. Herr Kollege van Essen hat dies ausgeführt. Ich kann mich dem nur anschließen. Wir sollten
zunächst einmal abwarten, ehe wir nach kurzer Zeit einzelne Straftatbestände im Schnellschuß ändern.
Staatsminister Dr. Manfred Weiß
Übrigens, Herr Minister Weiß, Anstiftung ist auch bei
Vergehen strafbar. Deswegen müssen wir sicherlich keinen neuen Straftatbestand einführen.
({1})
Machen wir uns nichts vor: Mit dem Strafrecht können wir ohnedies nur einen geringen Teil von Gewalt
gegen Kinder und sexuellem Mißbrauch von Kindern
bekämpfen. Wenn sich durch Generalprävention Verbrechen wirklich verhindern ließen, dann dürfte es in
den Staaten, in denen auf Mord die Todesstrafe steht,
keine Mörder mehr geben. Auch durch die in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen härteren Strafen
werden wir die schrecklichen Straftaten des sexuellen
Mißbrauchs an Kindern nicht eindämmen, geschweige
denn verhindern können.
Wir wissen doch, daß das größte Risiko, Opfer von
sexuellem Mißbrauch zu werden, den Kindern in der
Familie, im Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreis
droht. Dort werden sie oft in ihrem unlösbaren Konflikt
zwischen Scham und Angst vor Entdeckung sowie vor
befürchtetem Liebesentzug allein gelassen. Experten gehen davon aus, daß auf jede angezeigte Sexualstraftat an
Kindern 20 bis 30 weitere kommen, von denen wir
nichts erfahren.
Die sexuell mißbrauchten Kinder leiden meist ihr Leben lang unter einem Trauma. Die schrecklichen Erlebnisse ihrer Kindheit werden oft erst sehr spät im Leben
- manchmal überhaupt nicht - verarbeitet. Die Erfahrungen von Frauenberatungsstellen zeigen, daß Frauen, die in
ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden sind, Beziehungsprobleme haben, unter Eßstörungen leiden und zu
Depressionen neigen. In den meisten Fällen wird die Ursache hierfür erst spät erkannt. Deshalb war es auch richtig, daß wir seinerzeit fraktionsübergreifend mit § 78b
StGB eine Vorschrift geschaffen haben, die das Ruhen
der Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres
bei bestimmten Straftaten des sexuellen Mißbrauchs von
Kindern beinhaltet. Dieser Paragraph wurde gegen den
zunächst vorhandenen ausdrücklichen Widerspruch der
damaligen Regierungskoalition geschaffen. Oft kann sich
das Opfer erst dann zu einer Anzeige entschließen, wenn
es sich aus dem Kreis, dem der Täter angehört, lösen
konnte. Ob der Strafrechtskatalog erweitert werden muß,
wird sicherlich im Rahmen einer umfassenden Strafrechtsreform noch zu prüfen sein.
Härtere Strafen anzudrohen ist nicht der alleinige
Weg, um das Problem zu lösen. Wir brauchen - dies hat
die jetzige Bundesjustizministerin bereits 1997 gefordert - ein Bündnis gegen Gewalt und gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern.
({2})
Zu diesem Bündnis gehört nicht zuletzt, Gewalt als Erziehungsmittel zu ächten und Kinderrechte zu stärken.
Gewalt erzeugt oft Gewalt. Ein in der Kindheit erlerntes
gewalttätiges Verhalten, insbesondere im sexuellen Bereich, wird oft im späteren Leben weitergegeben. Ich bin
deshalb nach wie vor der Meinung, daß die gewaltfreie
Erziehung von Kindern in die Verfassung gehört, nicht
nur der Tierschutz.
({3})
Kindern zu ermöglichen, gewaltfrei aufwachsen zu können, sollte in unserer Gesellschaft eigentlich selbstverständlich sein.
Wir wissen, daß die nationalen und internationalen
Datenautobahnen völlig neue Möglichkeiten eröffnen,
im Dunkel des anonymen Datennetzes die Anbahnung
von Kinderprostitution und die Verbreitung von kinderpornographischen Schriften und schrecklichen Darstellungen wesentlich zu erleichtern. Die Anhörung der
Kinderkommission zu diesem Thema im November
1995 hat uns dies in erschreckender Weise gezeigt.
Mit dem Strafrecht kann man hier nur wenig erreichen. Dringend notwendig ist der Aufbau eines internationalen Netzes gegen Kinderpornographie. Lassen Sie
uns gemeinsam daran arbeiten!
({4})
Das Wort hat der
Kollege Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die von unserer
Fraktion vorgelegten Gesetzentwürfe dienen alle einem
Zweck: der effektiven Bekämpfung der Kriminalität,
insbesondere der organisierten Kriminalität. Ich möchte
gerne konzedieren, daß auch Sie, Herr Kollege Hartenbach, mit Ihren Gesetzesvorschlägen diesem Ziel dienen
wollen.
({0})
Es stellt sich allerdings die Frage, ob Sie mit den vorgelegten Instrumenten richtig liegen.
In der Debatte vorhin wurde von der gemeinnützigen Arbeit als einer Strafe gesprochen. Ich habe über
viele Jahre hinweg im sozialen Bereich gearbeitet. Ich
möchte nicht, daß gemeinnützige Arbeit von Sozialhilfeempfängern, Jugendlichen oder vielen Ehrenamtlichen auf das Niveau einer Strafe gestellt wird. Dies
lehnen wir ab.
({1})
Herr Kollege Hartenbach, von einem solchen Vorgehen
geht die Botschaft aus, daß das, was andere freiwillig
ehrenamtlich tun oder was von Jugendlichen getan werden muß, auf einmal von Menschen gemacht wird, die
eine Strafe absitzen müssen.
({2})
Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Bevölkerung in
unserem Land diese Botschaft richtig versteht. Deswegen sage ich: Vorsicht mit einem solchen Instrument als
Mittel der Strafe!
({3})
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meyer?
Ja, bitte.
Herr Kollege Kauder, ist Ihnen bekannt, daß das geltende Strafrecht die
Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit bereits vorsieht? Wollen Sie dies als logische Konsequenz Ihrer Ausführungen abschaffen?
Es geht nicht darum,
daß wir etwas abschaffen wollen. Es geht vielmehr
schlicht und ergreifend darum, daß wir Ihnen vorwerfen,
ein Instrument weiter auszubauen und so den Eindruck
zu erwecken, daß eine Ausnahmevorschrift mehr und
mehr zur Regel werden könnte. Dagegen wehrt sich unsere Fraktion.
({0})
Die Bekämpfung der Kriminalität, insbesondere der
organisierten Kriminalität, bewegt die Menschen in
unserem Land nicht nur; vielmehr betrifft es viele auch
persönlich. Es handelt sich um eine Kernaufgabe des
Staates schlechthin. Da sich die Kriminalität in den
letzten 25 Jahren fast verdoppelt hat und da auch Bundesinnenminister Schily bei der Vorlage der polizeilichen Kriminalstatistik im Mai hervorgehoben hat, daß
von einer Entspannung der Sicherheitslage nicht gesprochen werden kann, müßten die von unserer Fraktion
vorgelegten Gesetzentwürfe im Parlament eigentlich
eine Mehrheit finden. So wie wir, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, vernünftige Initiativen im Bundesrat nicht blockieren, sollten Sie richtige Initiativen der Opposition unterstützen.
({1})
Sie sprechen mit gespaltener Zunge. Sie sagen in
Richtung Bundesrat: Helft uns, Initiativen voranzubringen. Aber wenn wir hier gute Initiativen einbringen,
dann machen Sie allein deswegen nicht mit, weil diese
Initiativen von der Opposition kommen. Dies paßt nicht
zusammen.
({2})
Sie können mit gutem Gewissen kaum das Argument
vortragen, unsere Initiativen seien nicht ordentlich; denn
die Justizministerkonferenz, die mehrheitlich noch
immer von Justizministern mit einer anderen Farbe als
der der CDU/CSU besetzt ist, hat im Juni in BadenBaden in großer Einmütigkeit die Fortgeltung des § 12
Fernmeldeanlagengesetz über den 31. Dezember 1999
hinaus gefordert. Mit 16:0 Stimmen ist die Bundesjustizministerin zu einer Verlängerung der jetzigen Regelung aufgefordert worden. Ich kann die Justizministerin
nur ersuchen, diesem Beschluß der Justizministerkonferenz nachzukommen.
Wenn Sie der Meinung sind, daß jetzt eine Bilanz gezogen werden muß und daß diese Regelung deswegen
nicht fortgelten kann, dann kann ich dem nur entgegnen:
Von einer vierjährigen Regierungszeit haben Sie über
ein Jahr verstreichen lassen, um diese notwendige Bilanz zu ziehen und sich zu entscheiden, ob Sie diesen
Gesetzentwurf vorlegen wollen. Sie haben in diesem
Punkt schwer versagt. Es gibt überhaupt keine Rechtfertigung für Ihr jetziges Verhalten.
Wir könnten uns auf folgendes verständigen: Wir
müssen immer berücksichtigen, welche Botschaften von
unserem Handeln in die Öffentlichkeit gelangen. Die
Botschaft, die davon ausgeht, wenn wir diese Vorschrift
nicht verlängern, lautet doch: Es wird nun gar nichts
mehr gemacht, weil sie sich nicht bewährt hat.
({3})
Wir können sie doch fortgelten lassen und in der dadurch gewonnenen Zeit noch miteinander über weitere
Regelungen sprechen. Aber wenn Sie jetzt sagen, Sie
wollen erst eine Überprüfung vornehmen, habe ich angesichts des Schneckentempos, das Sie im ersten Jahr
bei ihren Aktivitäten an den Tag legten, die Befürchtung, daß wir bis zum Ende der Legislaturperiode keine
Neuregelung haben werden. Das wollen wir von der
Union auf gar keinen Fall. Deshalb halten wir uns an das
Votum der Fachminister aus den Ländern, die mit 16:0
Stimmen dafür gestimmt haben, und beantragen im Interesse der Menschen, die von Kriminalität betroffen sind,
die Verlängerung einer Regelung, die sich bewährt hat.
({4})
- Wenn Sie, Herr Ströbele, sprechen, habe ich immer
den Eindruck, daß Sie weniger im Interesse derer sprechen, die von Kriminalität betroffen sind, als im Interesse derer, die Kriminalität begehen. Auch das ist eine falsche Botschaft.
({5})
Wir möchten sicherstellen, daß Kriminalität in unserem Land effektiv bekämpft werden kann. Ich bin der
Meinung, daß sich auch die SPD diesem Anliegen nicht
verschließen sollte.
Wir sind doch alle miteinander der Überzeugung, daß
sich die bisherigen Regelungen bewährt haben und die
Justiz in unserem Rechtsstaat durchaus in der Lage ist,
diese Regelungen so zu handhaben, daß wir nicht befürchten müssen, daß eine solche Volksüberwachung
stattfindet, wie sie in früheren Jahren in der DDR üblich
war. Deswegen weisen die von uns vorgelegten Anträge
den richtigen Weg und kommen so zeitgerecht, daß gute
Regelungen nicht außer Kraft gesetzt werden müssen.
Sie tragen, wenn Sie diesem Gesetz nicht zustimmen,
die Verantwortung dafür, daß der Justiz ein wichtiges
Handlungsinstrument aus der Hand genommen wird.
Vielen Dank.
({6})
Frau Kollegin Erika
Simm, Sie haben für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beabsichtige, zu
zwei der acht Gesetzesinitiativen zu sprechen, und zwar
zum Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung und
zum Gesetz zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit
als strafrechtliche Sanktion.
Zum ersten Gesetz: Bei der Strafaussetzung zur Bewährung handelt es sich um ein scheinbar nicht allzu
bedeutendes Detail, was aber in der Praxis als sehr unbefriedigend empfunden wird, weil es bei einer nachträglichen Strafaussetzung zur Bewährung im Gesetz in zwei
Fällen eine Lücke gibt: zum einen bei der nachträglichen
Gesamtstrafenbildung und zum anderen bei der Aussetzung einer Reststrafe nach Teilverbüßung im Strafvollzug. Wenn eine Strafaussetzung erfolgt, obwohl der verurteilte Täter vor der Entscheidung über die Strafaussetzung eine neue Straftat begangen hatte, von der das Gericht aber entweder noch nichts wußte oder nur ein Tatverdacht bekannt war, aber bis dahin kein hinreichender
Tatnachweis geführt werden konnte, kann es nach der
geltenden Rechtslage zu der Konstellation kommen, daß
kein Bewährungswiderruf möglich ist, wie es sonst der
Fall wäre, weil dieser nur auf eine neue Tat oder ein
neues Straffälligwerden während der Bewährungszeit
gestützt werden kann, also nicht auf eines vor Beginn
der Bewährungszeit.
Es wird als sehr unbefriedigend empfunden, daß eine
Strafaussetzung zur Bewährung, die unter Berücksichtigung der neuen Tat nicht gewährt worden wäre,
nicht zurückgenommen werden kann. Der Bundesratsentwurf hat zum Ziel, in solchen Fällen einen Bewährungswiderruf zu ermöglichen. Wir halten das in der
Sache für vernünftig, plädieren allerdings dafür, daß
man daraus nicht ein Einzelgesetz macht, sondern es in
den Komplex der Reform des Sanktionensystems einbezieht, um die Praxis nicht permanent mit einer Vielzahl
von Einzelgesetzen zum Strafrecht zu bombardieren.
Das war ja in den letzten Jahren ein großes Problem.
Der zweite Gesetzentwurf zur Einführung der gemeinnützigen Arbeit als Sanktion ist ebenfalls eine Bundesratsinitiative. Er wird im Grundsatz von der SPDFraktion unterstützt, wobei ich allerdings - da sage ich
jetzt meine persönliche Meinung - meine, daß die Art
und Weise, wie das Problem dort angegangen werden
soll, wenig praktikabel ist und in der Praxis erhebliche
Schwierigkeiten aufwerfen wird. Man überlege nur einmal, wie eine Tenorierung eines solchen Urteils aussehen würde. Es würde in etwa lauten: Der Angeklagte
wird zu einer Geldstrafe von soundso viel Tagessätzen
und im Falle der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von soundso viel Tagen verurteilt. Ihm wird
gestattet - wie auch immer das die Juristen formulieren -, statt dessen eine freiwillige Arbeitsleistung von
soundso viel Stunden zu erbringen.
Ich denke, für einen Angeklagten ist es schon schwierig genug, zu verstehen, wozu er verurteilt worden ist. In
der Vollstreckung wird es aber noch viel komplizierter.
Vorrangig ist die gemeinnützige Arbeitsleistung zu vollstrecken. Wenn er diese nicht ableistet, dann kann die
Vollstreckung der Geldstrafe angeordnet werden. Wenn
er nicht zahlt, dann kann die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet werden. Wenn er nachweist,
daß er vermögenslos geworden ist, kann er statt der
Zahlung der Geldstrafe eine entsprechende gemeinnützige Arbeitsleistung erbringen.
Damit schließt sich der Kreis. Es entsteht ein endloses Vollstreckungsverfahren, das durch jeweils anfechtbare Entscheidungen unterbrochen wird. Ich denke, das
kann nicht das Ziel einer effektiven Strafrechtspflege
sein. Deswegen sollten wir uns etwas anderes überlegen.
Ich weiß, daß es dazu in der diesbezüglichen Kommission des Justizministeriums Überlegungen gibt - auch
solche, die verfassungsrechtlich unbedenklich sind, weil
sie auf einem gewissen Freiwilligkeitsprinzip basieren.
Dem sollten wir folgen.
Wir sollten uns Zeit nehmen, über eine Lösung und
all ihre Konsequenzen ordentlich nachzudenken. Ich habe ebenso Zweifel, ob der Entwurf des Bundesrates die
weiteren Folgewirkungen der geplanten Regelung, wie
sie hier vorgeschlagen wird, ausreichend erfaßt und ob
zum Beispiel bedacht wurde, wie eine nicht ausgeführte
Arbeitsleistung auf die Dauer einer Freiheitsstrafe umzurechnen ist. Das alles ist mir nicht ganz klar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluß einen Appell an Sie richten, der sich auf eine Erfahrung der letzten Legislaturperiode bezieht. Wir haben
im Bereich des Strafrechts in einem zum Teil unangemessenen Tempo - um nicht zu sagen: im Schweinsgalopp - eine Vielzahl von neuen Gesetzen beschlossen,
die dazu geführt haben, daß unser Strafgesetzbuch zu
einem Flickenteppich geworden ist, es eine Vielzahl von
rechtsdogmatischen bzw. rechtstechnischen Brüchen
gibt. Die Praxis versteht zum Teil nicht mehr, warum
wir solche Gesetze beschließen, und kann sie nicht mehr
nachvollziehen - und das nicht nur, weil ständig neue
Ergänzungslieferungen für die entsprechenden Loseblattsammlungen kommen.
({0})
Wir müssen uns trotz der hier angemahnten Eile die für
die Einbringung von Gesetzen nötige Zeit lassen.
Frau Kollegin Simm,
Sie haben das Stichwort Zeit schon gegeben.
Ich bin bereits dabei, zum
Schluß zu kommen. - Wir müssen wieder ein Strafgesetzbuch aus einem Guß haben. Ich bitte Sie dabei um
Ihre Unterstützung.
({0})
Es spricht jetzt der
Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Simm,
Sie haben in Ihrem Rückblick auf die letzte Legislaturperiode davon gesprochen, daß die damalige Regierung bei der Reform des Strafgesetzbuchs ein unangemessenes Tempo vorgelegt habe und daß ein Gesetzesantrag den anderen gejagt habe. Charmanter kann man
eigentlich die Untätigkeit der neuen Regierung nicht beschreiben, als auf diese Art und Weise den Eindruck zu
erwecken, als sei das, was vorher gewesen ist, schädlich
gewesen.
({0})
Ich will nur daran erinnern, daß Sie zum großen Teil zugestimmt haben.
Es ist ganz amüsant, zu beobachten, wie die Redner
der Regierungskoalition die eigene Untätigkeit zu verdecken suchen.
({1})
Wir haben ja mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß
der Bundeskanzler gesagt hat, Gründlichkeit solle jetzt
vor Schnelligkeit gehen. Aber: Wer langsam ist, ist noch
lange nicht gründlich.
({2})
Ein wesentliches Beispiel dafür hat Kollege Kauder in
seiner Rede geliefert. Der Punkt, zu dem ich jetzt etwas
sagen will, ist ebenfalls ein Beispiel für Ihre beeindrukkende Langsamkeit: die Kronzeugenregelung. Sie treten plötzlich dafür ein, daß sie einer Überprüfung, einer
Bilanzierung, unterzogen werden soll. Wenn wir jetzt
aber als Gesetzgeber das Gesetz auslaufen lassen würden, wäre die Folge, daß wir überhaupt nicht mehr zu
einer vernünftigen Bilanzierung kommen können. Ein
Jahr ist doch wirklich genug Zeit, um auf vernünftige
Weise Bilanz ziehen zu können.
Vor diesem Hintergrund sollten wir die Frage diskutieren, ob man nicht, wie der Kollege van Essen angeregt hat, zu einer endgültigen Regelung kommen soll.
Die Tatsache, daß Sie bisher diese Bilanzierung unterlassen haben, erweckt bei uns den zutreffenden Eindruck, daß Sie ein Interesse daran haben, die Kronzeugenregelung auf diese Weise sang- und klanglos zu beerdigen.
({3})
Sie sollten dann aber wenigstens den Mut haben, dazu
zu stehen, anstatt dilatorischen Attentismus zu einem
wesentlichen Merkmal Ihrer Rechtspolitik zu machen.
Ich will einige Beispiele nennen. Weil diese Bilanzierung von Ihnen verweigert worden ist, haben wir uns vor
dem Einbringen dieses Verlängerungsgesetzes an die Justizminister der Länder gewandt und haben sie um eine
Stellungnahme gebeten. Dabei ist herausgekommen, daß
es eine ganze Reihe von positiven Wirkungen gegeben
hat, die mit der Kronzeugenregelung verbunden sind.
Sicherlich ist das Ziel, aktive Terroristen aus dem Kreis
der RAF herauszubrechen, nicht erreicht worden. Meiner Meinung nach ist es aber auch dasjenige Ziel gewesen, das am unrealistischsten gewesen ist.
({4})
- Nein, das ist nicht wahr. Herr Kollege Ströbele, denken Sie an die organisierte Kriminalität, die einen ganz
anderen Punkt berührt.
({5})
Ich will darauf hinweisen, daß die Schwächung terroristischer Vereinigungen und daß die Wiederaufnahme
von immerhin 23 Verfahren darauf zurückzuführen sind.
Außerdem ist der Zusammenhang zwischen der Auflösung der RAF und der Einführung der Kronzeugenregelung durchaus feststellbar.
({6})
Ich will das an einem Zitat deutlich machen. Kollege
Professor Meyer hat in der letzten Debatte, die wir zu
diesem Thema geführt haben, die Aussage der ehemaligen Palästinenserin Andrawes als Argument gegen die
Kronzeugenregelung angeführt. Er hat in diesem Zusammenhang gesagt: Was die Aussage der Kronzeugin
angeht, ist es ganz offensichtlich und für jeden nachprüfbar, daß man von einem Erfolg der Kronzeugenregelung nicht sprechen könne. - Das haben Sie in der
Debatte gesagt.
Ich will Sie jetzt mit der Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters konfrontieren. Die „Welt“ vom
20. November 1996 schreibt dazu:
Dennoch habe sich Andrawes bei der „arbeitsteiligen Tötung des Flugkapitäns Jürgen Schumann“
durch den Terroristenchef des gemeinschaftlichen
Mordes schuldig gemacht. Es sei dem Gericht nicht
leichtgefallen, vom Mord-Strafmaß „lebenslänglich“ abzuweichen.
Weiter heißt es, das Gericht habe so entschieden, weil es
in der Verhandlung festgestellt habe, daß Frau Andrawes „nicht aus niedrigen Beweggründen“ gehandelt
habe, sondern auf die Lage des palästinensischen Volkes
habe hinweisen wollen.
Die „Welt“ zitiert die Urteilsbegründung weiter:
Durch „ausführliche Einlassungen“ zur Tatbeteiligung von Monika Haas habe Andrawes jedoch die
Voraussetzungen der Kronzeugenregelung erfüllt.
Das Beispiel, das Sie in Ihrer Rede von 1996 gegen die
Kronzeugenregelung angeführt haben, ist durch den
Vorsitzenden Richter in der Urteilsbegründung also widerlegt worden.
({7})
Ich will darauf hinweisen, daß es noch eine ganze
Reihe von Erfolgen im Kampf gegen die Camorra gibt
und daß insbesondere im Kampf gegen die PKK auf die
Kronzeugenregelung nicht verzichtet werden kann, weil
es in diesem Bereich nur sehr schwer möglich ist, verdeckte Ermittler einzuschleusen.
({8})
Ich darf Sie deswegen herzlich auffordern: Führen
Sie endlich die Überprüfung durch, die Sie angekündigt
haben! Bilanzieren Sie! Dann wollen wir vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse darüber diskutieren, ob die
Kronzeugenregelung fortbestehen kann. Verschleppen
Sie nicht, tragen Sie nicht dazu bei, daß die wichtigen
kriminalpolitischen Erfolge, die wir erreicht haben,
sang- und klanglos untergehen!
({9})
Das Wort hat die
Bundesministerin der Justiz, Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
befinden uns heute in der ersten Lesung ganz unterschiedlicher Einzelgesetze aus unterschiedlichen Bereichen. Es wird - dieser Punkt ist schon ausgeführt worden - die Aufgabe sein, daß dieses Haus und der
Rechtsausschuß jedes einzelne Vorhaben nach seinem
jeweiligen Eigenwert, der außerordentlich unterschiedlich sein kann, beraten und bewerten.
Beim Zuhören der Diskussion amüsierte mich eines
ganz besonders, nämlich daß ausgerechnet eine Opposition, die 16 Jahre lang an der Regierung war, ihre Rolle
als Opposition nach noch nicht einmal 12 Monaten
schon so gut gelernt hat, daß sie der Regierung bereits
Untätigkeit vorwirft.
({0})
- Das alles dürfen Sie tun, Herr Geis. Aber die Tatsache,
daß Sie in 16 Jahren das, was wir schon eingebracht haben, nicht erreicht haben, ist eines der hübschen Dinge,
die Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen sollten.
({1})
- Herr Geis, Sie dürfen doch gleich reden.
Das amüsiert mich auch deshalb so ungeheuer, weil
Sie so tun, als leide dieses Land an zuwenig Gesetzen.
({2})
Überlegen Sie doch einmal, was Sie damit sagen! Sie
sollten einmal die Praktiker fragen, was sie unter diesem
Aspekt von der Rechtspolitik der vergangenen vier Jahre
halten.
({3})
Dazu hätten Sie jetzt auch auf dem Deutschen Richtertag Gelegenheit gehabt. Dort wurde nämlich gesagt,
mehr Gesetze seien überhaupt nicht gut.
({4})
Recht haben sie. Es ist auch nicht unser Ehrgeiz, mehr
Gesetze zu machen - auch wenn Sie noch soviel dazwischenrufen -; wir wollen vielmehr gute und richtige.
({5})
- Herr Kauder, wenn Sie es nicht wissen, sage ich es
Ihnen: Die Praktiker haben in den vergangenen vier Jahren darunter gelitten, daß Sie immer wieder Einzelaspekte vorgezogen haben und sie die Gesetze noch
nicht einmal zur Verfügung hatten, wenn sie sie anwenden mußten, weil alles viel zu hektisch war.
({6})
Ich habe es hier schon vor einem dreiviertel Jahr gesagt und wiederhole es heute: Unser Ehrgeiz ist es, die
Neuregelungen in den Rechtsgebieten, die reformiert
werden müssen, zu bündeln und in Schwerpunkten einzubringen. Das tun wir auch. Eigentlich wissen auch Sie,
daß das richtig ist.
({7})
Noch eines wissen wir aus der Praxis - das wissen im
übrigen auch Sie; Herr von Klaeden weiß das ganz besonders gut -: Wenn man ein Rechtsgebiet nach sorgfältiger und ausführlicher Diskussion reformiert hat,
sollte man nicht schon nach einem Jahr die eine oder
andere Ergänzung, mit der man, Herr Kollege Weiß,
nicht durchgekommen ist, als neu präsentieren. Das ist
nicht gut und verärgert die Praxis.
Ich nenne einen weiteren Punkt. Sie alle wissen ganz
genau, daß die Erweiterung des Sanktionensystems zu
den Schwerpunkten der Politik dieser Bundesregierung
gehört. Anfang des Jahres habe ich ständig auf Fragen
geantwortet: Was ist denn eigentlich mit der von uns
eingesetzten Kommission? Werdet ihr deren Überlegungen berücksichtigen? - Gerade Sie, Herr Kollege Geis,
haben dies in schriftlichen und mündlichen Fragen, auch
in persönlichen Gesprächen geäußert. Ich habe Ihnen
damals gesagt: Jawohl, das tun wir. Das habe ich übrigens nicht nur deswegen gesagt, weil ich der Meinung
bin, daß auch dann, wenn die Regierung wechselt, die
Kontinuität vernünftiger Vorhaben gewährleistet sein
muß, sondern auch, weil ich der Auffassung bin, daß es
sich gegenüber einem ehemaligen Kollegen und Mitglied dieses Hauses, der den Vorsitz übernommen hat,
einfach gehört, so zu verfahren. Zudem bin ich daran
interessiert, die Erkenntnisse, die sich aus den Diskussionen ergeben haben, in die Eckpunkte, die wir vorbereiten - das wissen Sie -, einfließen zu lassen.
Das alles spricht nicht dagegen, daß die Länder, Herr
Kollege Weiß, oder auch die Oppositionsparteien Gesetzentwürfe einbringen. Ich sage aber sehr deutlich, daß
wir diese schwerpunktmäßig bündeln und unter Berücksichtigung der Erfahrungen und Erkenntnisse diskutieren
werden. Danach werden wir sie diesem Haus zur weiteren Behandlung und Diskussion präsentieren.
Zu der Erweiterung des Sanktionensystems sind hier
einige Überlegungen geäußert worden, die ich teile, andere, die ich nicht teile. Ich will Ihnen sagen, warum wir
der Meinung sind, daß wir wahrscheinlich neben der
Geld- und Freiheitsstrafe noch andere Möglichkeiten
von Strafen brauchen, als sie das Erwachsenenstrafrecht
derzeit zuläßt. Wir stellen fest, daß die heute nicht vorhandene Differenzierungsmöglichkeit insgesamt mehr
Schwierigkeiten bringt, als sie Nutzen verschafft. Ich
will das anhand einiger Punkte belegen.
Unsere Gefängnisse sind voll. Ich fange nicht deswegen mit diesem Beispiel an, weil es das wichtigste wäre,
sondern weil es ein Problem ist, das uns drückt und hier
auch schon angeführt wurde. Wir stellen fest, daß die
Zahl der vollstreckbaren Freiheitsstrafen in den letzten Jahren drastisch angestiegen ist. Wir stellen weiter
fest, daß der Anteil von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten in den letzten Jahren drastisch angestiegen ist. Er
lag 1997 bereits bei 27 Prozent. Wir waren uns bisher
immer einig, daß eine so kurze Freiheitsstrafe kriminalpolitisch nicht erwünscht ist; außerdem ist sie für den
Steuerzahler ungewöhnlich teuer.
({8})
Darüber hinaus stellen wir fest, daß heute weniger Bewährungsstrafen ausgesprochen werden. Auch das führt
zu den vollen Gefängnissen, die besonders die Länder
drücken. Außerdem ist die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen alarmierend hoch.
Warum sage ich das? Ich sage das, weil es gerade bei
der letzten Gruppe um Männer und Frauen geht, die zwar
straffällig geworden sind, aber von deutschen Gerichten
in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu Geldstrafe und
nicht etwa zu Haftstrafe verurteilt worden sind.
({9})
Sie können die Strafe aber nicht bezahlen, weil sie arbeitslos oder aus anderen Gründen vermögens- und
finanzlos sind. Deshalb kann bei ihnen das Geld nicht
eingetrieben werden. Daß man hier den Weg wählt, eine
Ersatzfreiheitsstrafe zu verhängen, ist auch aus rechtsstaatlichen Gründen problematisch.
({10})
Zudem ist es falsch, gerade bei Menschen, die nicht integriert sind, und mit Rücksicht auf den Steuerzahler,
weil wir ganz genau wissen, Herr Kollege Weiß, daß wir
etwa 200 bis 250 DM pro Tag im Gefängnis ansetzen
müssen.
({11})
- Vielleicht macht Herr Geis auch das billiger.
({12})
- Herr Geis, ich kann Ihnen hier nur antworten. Schon
Carlo Schmid hat gesagt: „Bitte schön, wenn Sie einen
Zwischenruf machen oder eine Frage stellen, müssen Sie
sich darauf einstellen, daß ich antworte.“ So ist das.
({13})
- Ich antworte so, wie es Ihre Frage oder Ihr Zwischenruf verlangt. Im übrigen sind Sie ja nachher dran, Herr
Geis.
Dieses alles werden wir berücksichtigen. Ich bin der
Meinung, daß eigentlich nichts für Ersatzfreiheitsstrafen,
aber viel für gemeinnützige Arbeit spricht. Lassen Sie
mich eines dazu sagen - das richtet sich auch an den
Kollegen Weiß und an diejenigen von der CDU/CSU,
die hier Skepsis geäußert haben, weil wir zuwenig gemeinnützige Arbeit hätten -: Ich habe den Eindruck, daß
man noch gar nicht versucht hat, entsprechende Möglichkeiten zu schaffen und die Plätze dafür zur Verfügung zu stellen. Das wird eine der Aufgaben sein. Das
ist auch eine Bitte und ein Ersuchen an die Länder, zu
schauen, was hier geht. Eine solche Regelung wäre zum
einen unter Vernunftsgesichtspunkten, zum anderen aber
auch unter Kostengesichtspunkten vorteilhaft.
Von daher sollten wir gemeinsam darüber nachdenken, wie man das am vernünftigsten organisiert und wie
wir hier am schnellsten weiterkommen, übrigens nicht
nur mit Blick auf diejenigen, die zu einer Geldstrafe
verurteilt wurden und nicht bezahlen können. Es gibt
ebenso die andere Gruppe, die heute jede Strafe aus der
Hosentasche bezahlt und an der deshalb der Denkzettelcharakter einer derartigen rechtsstaatlichen Strafe abprallt. Auch hier gibt es Notwendigkeiten, denen wir uns
stellen müssen.
Jetzt kommen wir zum Thema sexueller Mißbrauch.
Hier haben wir einen Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung, der über den Bundesrat eingebracht worden
ist. Dieser Vorschlag ist in der Tat schon vor gut einem
Jahr diskutiert worden. Ich habe nicht den Eindruck,
Herr Kollege Weiß, daß Sie den Kollegen van Essen
richtig verstanden haben. Ich glaube nicht, daß es Arroganz war, als er Ihnen hier die Gründe vorgetragen hat,
warum dieser bayerische Vorschlag damals erwogen,
aber abgelehnt wurde, und zwar von der Mehrheit des
Hauses über alle Parteien hinweg. Die Überlegung ist
die, daß nicht genügend Gründe dafür sprechen, zumal
- da hat Frau Brandt-Elsweier völlig recht - es hier nicht
um die Frage der Anstiftung gehen kann.
Es gibt eine andere Überlegung, die ich jetzt in den
Raum stellen möchte. Das Ziel, der Schutz der Kinder,
ist etwas, was uns verbindet. Das ist völlig klar und auch
in vielen Diskussionen deutlich geworden. Die Frage ist:
Wie können wir dieses Ziel am besten erreichen? Da
sind alle gefordert.
Wenn wir die Erfahrungen mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz vorliegen haben, werden wir das zu geeigneter Zeit gebündelt im Bundestag einbringen. Sie wissen, ich bin immer in Kontakt mit den Ländern und versuche, die Erfahrungen zu bekommen. Wir haben jedoch
noch keine Erfahrungen aus den Ländern - auch aus
Bayern nicht, um das einmal ganz klar zu sagen. Aber
wenn es soweit ist, werden wir die Erfahrungen prüfen
und gegebenenfalls Gesetzeslücken schließen.
Meine Damen und Herren, der Schutz der Kinder
insbesondere vor Wiederholungstätern hängt aber auch
von der Anwendung der Gesetze ab. Das ist Sache der
Gerichte und der Strafverfolgungsorgane in der Verantwortung der Länder. Hier sind wir es allen Eltern schuldig, deren Kinder Opfer dieser schrecklichen Verbrechen geworden sind, die Schwachstellen sorgfältig zu
durchdenken. Das werden wir auch tun.
({14})
Deswegen habe ich die Bitte, daß niemand, der hier
einen Gesetzesvorschlag präsentiert, meint, damit von
möglichen Schwachstellen in der Rechtsanwendung ablenken zu können. Das wäre falsch, und wir werden das
auch nicht zulassen; denn das bedeutete Steine statt Brot
für die Eltern gerade in einem Bereich, in dem sie alle
auf uns vertrauen.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß wir in diesen elfeinhalb Monaten ein Gesetz erarbeitet haben - es
ist wirklich sorgfältig durchdacht -, an dessen Inhalt Sie
sich in 16 Jahren nie ernsthaft herangetraut haben, meine
Damen und Herren von der Opposition, nämlich das
Strafverfahrensänderungsgesetz 1999.
({15})
Ich weiß, daß wir bei diesem Gesetz die Länder und deren Goodwill brauchen, wenn wir die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983 umsetzen wollen. Anderenfalls können sie dieses Gesetz im
Bundesrat scheitern lassen. Ich sage das, damit jeder
weiß, was seine Verantwortung ist. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß man mit dem Bundesrat über die
Notwendigkeit der Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht nur reden kann, sondern
daß dieses Stück demokratischer Rechtskultur in unserem Lande erhalten und ausgebaut werden kann, ganz
egal, welcher Parteizugehörigkeit die jeweils zuständigen Minister sind.
Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen. Herr Kollege
Weiß, Sie haben die Frage der Telefonkontrolle angesprochen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir werden
die Maßnahmen, die zur Verfolgung schwerster Verbrechen eingesetzt werden müssen, zusammen mit den
Ländern immer wieder auf den Prüfstand stellen und
diskutieren und möglicherweise auch zu anderen Ergebnissen kommen. Die Bundesregierung - übrigens schon
die alte - hat im Zusammenhang mit der Änderung des
Art. 13 des Grundgesetzes den Auftrag übernommen,
sehr sorgfältig zu überprüfen, ob die Vermutung stimmt,
daß die Telefonkontrolle über das Maß des wirklich
Notwendigen hinausgeht. Wir haben uns an die Länder
gewandt - das konnten wir leider in den Schubladen der
letzten Regierung nicht vorfinden - und sie gebeten, uns
ihre Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Wir werden
das dann aufbereiten und im Lichte dieser Erkenntnisse
den gesamten Komplex - auch die Frage des Straftatenkatalogs - der Telefonkontrolle besprechen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung weiß
sehr genau, daß Bürgerrechte und Strafverfolgung keinen Gegensatz bilden, sondern zwei notwendige Seiten
unseres Rechtsstaates sind. Dabei soll es auch bleiben.
Herzlichen Dank.
({16})
Letzter Redner ist
der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie von
der Koalition müssen sich entscheiden: Entweder hat die
alte Bundesregierung nichts geleistet; dann hat Frau
Simm nicht recht. Oder aber es ist wahr, daß wir 1997
und 1998 mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz eines der
größten Gesetzgebungsvorhaben seit den 70er Jahren
durchgezogen haben, wie es die Fachwelt sagt.
({0})
Sie haben immer wieder versucht, uns bei diesem Vorhaben zu hindern, und wir mußten uns anstrengen, diese
Behinderung zu überwinden. Das ist uns aber auch gelungen.
({1})
Das StVÄG, das Sie, lieber Herr Meyer, mir so sehr
vorgehalten haben, haben wir zu Ende beraten, und Sie,
verehrte Frau Ministerin, haben das ja auch zugegeben.
Wahr ist, daß dieses Gesetzgebungsvorhaben letztendlich daran gescheitert ist,
({2})
daß wir keine Debatte im Bundestag mehr haben wollten. Das war nämlich die letzte Sitzung der letzten LeBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
gislaturperiode, die wir noch im September hatten. Da
konnten nur Vorhaben verabschiedet werden, die ohne
Debatte durchgezogen werden konnten.
Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte sehr, Herr Ströbele.
Herr Kollege Geis, gehen Sie mit mir einig,
({0})
daß die Nichtverabschiedung dieses Strafverfahrensänderungsgesetzes bei Richtern und Staatsanwälten faktisch dazu geführt hat, daß sie, wenn sie die Maßstäbe
des Bundesverfassungsgerichtes anlegen, in die Illegalität getrieben werden, weil sie ohne ausreichende gesetzliche Grundlage ihren Beruf ausüben müssen, wenn
sie beispielsweise Menschen zur Fahndung ausschreiben, ob als Beschuldigte, als Verdächtigte oder als Zeugen?
Herr Ströbele, Sie lächeln selber bei Ihrer Frage. Sie wissen, daß das nicht
wahr ist. Seit diesem Urteil, seit 1982, bestätigen die die
Urteile, die bis zu Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht hinauf gelangen. Keinesfalls ist es irgendeinem Gericht eingefallen zu sagen: Weil nun dieses
Strafverfahrensänderungsgesetz noch nicht alle Regelungen zusammenfaßt, die in einzelnen Gesetzen schon
vorhanden sind, ist das Urteil ungültig oder rechtsfehlerhaft. Das kann ich nur mit Nein beantworten.
Ich will Ihnen, lieber Herr Meyer, beantworten, warum es letztendlich doch nicht zur Verabschiedung gekommen ist. Es ging um den mißliebigen Punkt, daß
Daten, von der Polizei in einem bestimmten Strafverfahren rechtmäßig aufgenommen, nicht in einem anderen
Strafverfahren verwendet werden können - so die Regelung des jetzt von Ihnen vorgelegten Gesetzes und
auch die Regelung des ursprünglichen Gesetzes. Dazu
gibt es eine Bundesgerichtshofsentscheidung, die besagt,
daß diese rechtmäßig aufgenommenen Daten auch in
einem anderen Strafverfahren ohne weiteres angewendet
werden können, ohne daß dies rechtsfehlerhaft wäre. Ihr
Vorschlag geht im Grunde hinter die Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes zurück. Das ist unser Problem.
Deswegen haben wir das damals abgelehnt. Ich bitte,
das so zu sehen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte
Frau Ministerin, wir beschäftigen uns heute mit zwei
Gesetzen der Unionsparteien. Es geht, wie wir schon
gehört haben, um das Kronzeugen-VerlängerungsGesetz und um das Fernmeldeanlagengesetz. Beide
Vorschriften müssen verlängert werden, wenn sie über
das Jahr 1999 hinaus in das Jahr 2000 hinein Geltung
haben sollen. Wir sind der Auffassung, daß diese Gesetze richtig sind und daß sie weiter gelten sollen. Deswegen müssen wir die Entwürfe jetzt einbringen. Darüber
kann es doch keine Aufregung geben. Ob man die Verlängerung will oder nicht, ist eine andere Frage.
Der allergrößte Teil der Vorlagen, die heute beraten
werden, stammt vom Bundesrat. Der Bundesrat war, wie
Sie wissen, damals, als diese Vorhaben verabschiedet
wurden, von der SPD dominiert. Die Mehrheit bestand
aus SPD-Regierungen. Sie wollten die Änderungen haben. Jetzt geht es darum, daß wir die vom Bundesrat
kommenden Änderungsvorschläge endlich beraten. Was
sonst tun wir? Da kann man uns doch nicht vorwerfen,
wir wollten einem Gesetzgebungsvorhaben vorgreifen,
das Sie ständig - seit einem halben Jahr, seit einem
Dreivierteljahr - in der Presse ankündigen. Wir greifen
dem doch nicht vor. Wir setzen nur die Vorschläge des
Bundesrates auf die Tagesordnung. Das wollen wir beraten. Die Vorschläge kommen vom damals SPDdominierten Bundesrat; bleiben wir also bei der Wahrheit.
Wir kommen zu den Vorhaben zur Erweiterung der
Sanktionsmöglichkeiten. Ich meine, daß wir bei der
jetzt auf uns zukommenden Diskussion über Ihren „großen Wurf“ bestimmte Punkte zu berücksichtigen haben.
Zunächst müssen wir dafür Sorge tragen, daß der bestehende Strafrahmen ausgenutzt wird. Wir haben in der
Tat ein Süd-Nord-Gefälle in Deutschland. Der Strafrahmen wird, je weiter man nach Norden kommt, seltener
ausgenutzt als in den südlichen Ländern. Das dient bei
der wachsenden Kriminalität nicht der Kriminalitätsbekämpfung; das ist geradezu ein Ergebnis der wachsenden Kriminalität.
({1})
Ich will also dafür plädieren, unser erstes Augenmerk
darauf zu richten.
Weiterhin geht es darum, daß wir die Generalprävention des Strafrechtes ernst nehmen. Es wird zwar
immer behauptet, das spiele für den Einzelstraftäter keine Rolle, der Einzelstraftäter werde sich danach nicht
richten. Das Gegenteil ist aber richtig. Jeder Straftäter
kalkuliert: Werde ich ertappt, was habe ich - wenn ich
ertappt werde - vor Gericht zu erwarten, und wie sieht
der Strafvollzug aus? Diese Kalkulation des Straftäters
bedingt und verursacht die Generalprävention des Strafrechtes. Ich möchte die Generalprävention also nicht
heruntergeredet wissen.
Ein weiterer Punkt, den wir bei der Gesamtdiskussion
berücksichtigen sollten, ist, daß es uns bei allen Sanktionen, die wir ändern wollen, immer um den Schutz
der Rechtsordnung gehen muß. Es dürfen bei einer
Straftat nicht nur der Täter und nicht nur die Verletzung
des Opfers gesehen werden, sondern es muß auch gesehen werden, daß bei jeder Straftat die Rechtsordnung
insgesamt verletzt wird. Das muß man, glaube ich, immer im Hinterkopf behalten.
Der letzte Punkt in diesem Zusammenhang ist, daß
wir nicht allzu viel vom Täter-Opfer-Ausgleich erwarten sollten. Ich will ihn nicht kleinreden. Wir haben
den Täter-Opfer-Ausgleich 1994 im Verbrechensbekämpfungsgesetz zum erstenmal gesetzlich verankert
- ich bin auch sehr dafür. Nur, es muß immer wieder
bedacht werden, daß es beim Täter-Opfer-Ausgleich nie
um das Opfer allein geht. Vielmehr stehen neben dem
Opfer noch andere: die Verwandten, die Bekannten, die
Freunde. Diese kann man nicht erfassen. Darum muß bei
dieser Diskussion immer wieder bedacht werden, daß es
beim Strafverfahren auch und vor allem um die Wiederherstellung des Rechtes geht. Das Recht muß sich
durchsetzen; nur dann kann Rechtsfrieden entstehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch zwei oder drei Sätze zu Einzelpunkten sagen.
Aus dem Bundesrat kommt ein Vorschlag zum Strafrecht beim sexuellen Mißbrauch von Kindern. Verehrter Herr Justizminister, wir haben uns in der damaligen Debatte sehr genau überlegt, ob wir die Grundtatbestände beim Vergehen belassen und nur die schwereren
Straftaten in die Ebene des Verbrechens hineinbringen.
Das haben wir sehr lange diskutiert. Wir sind zum
Schluß zu dem Ergebnis gekommen - es gab viele
Gründe dafür, aber das war für mich der entscheidende
Grund, den ich vorzutragen versuche -: Wenn wir von
Anfang an alle solche Taten zu Verbrechen hochstufen,
dann werden wir erleben, daß die Staatsanwaltschaften
Verfahren schneller einstellen. Solche Vergehen im unteren Bereich, wenn sie zu Verbrechen hochgestuft werden, lassen der Staatsanwaltschaft keine andere Reaktionsmöglichkeit als die der Anklage. Wenn wir es aber
in diesem unteren Bereich bei Vergehen belassen, bestehen eine ganze Reihe von Reaktionsmöglichkeiten zum Beispiel Strafbefehl, in niedrigsten Fällen vielleicht
auch die Einstellung des Verfahrens. Wir meinen, daß
wir der Strafverfolgung damit besser dienen, weil wir
auf diese Weise verhindern, daß Vergehen, die zu Verbrechen hochgestuft werden, von der Staatsanwaltschaft
nicht verfolgt und daß die Verfahren eingestellt werden,
weil sie meint, es sei doch kein Verbrechen. Das war
unsere Grundüberlegung. Wir werden diesen Vorschlag
des Bundesrates, der uns ja 16 zu 0 vorgelegt wird, aber
wohl bedenken und auch wohl beraten.
Lassen Sie mich noch einen Gedanken zur sogenannten elektronischen Fußfessel einbringen.
Herr Kollege Geis,
Sie müssen zum Schluß kommen.
({0})
Ein Gedanke noch, Frau
Präsidentin.
Die elektronische Fußfessel ist meiner Meinung
nach ein Thema, das man zu diskutieren hat. Wir sollten
es aber nicht unter fiskalischen Aspekten diskutieren,
wir sollten es nicht unter der Überschrift diskutieren:
Leeren wir damit unsere Gefängnisse? Das kann nicht
die Grundvoraussetzung für eine Einführung sein.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/1315, 14/1107, 14/761,
14/762, 14/1125, 14/1467, 14/1519 und 14/1484 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 j auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem
Jahr 2000 ({0})
- Drucksache 14/1721 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({1})
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sanierung des Bundeshaushalts ({2})
- Drucksachen 14/1636, 14/1680 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({3})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften ({4})
- Drucksachen 14/1655, 14/1720 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({5})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 9. September 1998
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland, der Regierung der Französischen Republik, der Regierung der Italienischen Republik und der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland zur Gründung der Gemeinsamen
Organisation für Rüstungskooperation ({6}) OCCAR
({7})
- Drucksache 14/1709 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß ({8})
Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Änderung währungsrechtlicher Vorschriften
infolge der Einführung des Euro-Bargeldes
({9})
- Drucksache 14/1673 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({10})
Rechtsausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs
- Drucksache 14/1666 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({11})
Finanzausschuß
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Protokoll zur Änderung des Übereinkommens
vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der
Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnbe-
richtigungen zwischen verbundenen Unter-
nehmen
- Drucksache 14/1653 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
h) Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung
des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der
Patentanwälte
- Drucksache 14/1661 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({12})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Umwandlung der Deutschen Siedlungsund Landesrentenbank in eine Aktiengesellschaft ({13})
- Drucksache 14/1672 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Petra Pau, Dr. Ruth Fuchs und der Fraktion der PDS
Entkriminalisierung des Gebrauchs bislang
illegaler Rauschmittel, Legalisierung von
Cannabisprodukten, kontrollierte Abgabe sogenannter harter Drogen
- Drucksache 14/1695 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({14})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Gesundheitsreform auf Drucksache 14/1721 soll zusätzlich an den Finanzausschuß überwiesen werden. Der
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Gesundheitsreform auf Drucksache 14/1245, der bereits in der
49. Sitzung an die Ausschüsse überwiesen worden ist,
soll ebenfalls zusätzlich an den Finanzausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur Beschlußfassung über eine
Reihe von Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 a auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Dreiunddreißigsten
Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({15})
- Drucksache 14/866 ({16})
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({17})
- Drucksache 14/1729 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Graf ({18})
Martin Hohmann
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache
14/1729, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zu den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 79 zu Petitionen
- Drucksache 14/1684 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 79 mit den
Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 c auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 80 zu Petitionen
- Drucksache 14/1685 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch die Sammelübersicht 80
einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 d auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 81 zu Petitionen
- Drucksache 14/1686 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 81 gegen
die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 e auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 82 zu Petitionen
- Drucksache 14/1687 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 82 gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.Fraktion und der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 f auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 83 zu Petitionen
- Drucksache 14/1688 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 83 gegen
die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P.
angenommen.
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({24}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Deutsche Beteiligung an dem internationalen
Streitkräfteverband in Osttimor ({25}) zur
Wiederherstellung von Sicherheit und Frieden
auf der Grundlage der Resolution 1264 ({26})
des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
vom 15. September 1999
- Drucksachen 14/1719, 14/1754 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({27})
Dr. Helmut Lippelt
Wolfgang Gehrcke
Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 16.
September 1999 hat der Bundestag einen Antrag zur
Lage in Osttimor beschlossen. Dort heißt es:
Der Deutsche Bundestag begrüßt die Entscheidung
des UN-Sicherheitsrates zu einem Mandat nach
Kapitel 7 der UN-Charta für eine internationale
Friedenstruppe für Osttimor. Mord, Terror und
Vertreibung in Osttimor durch die indonesischen
Milizen müssen unverzüglich beendet werden …
Die Aufgabe der Friedenstruppe ist es, die Menschen zu schützen, Frieden und Sicherheit in Osttimor wiederherzustellen und das Ergebnis der
Volksbefragung vom 30. August 1999 umzusetzen.
Die entscheidende Frage, vor der die Bundesregierung demnach stand und vor der auch der Deutsche
Bundestag steht, ist, ob sich die Bundesrepublik
Deutschland daran beteiligen wird und, wenn ja, in welchem Umfang sie sich beteiligen wird.
Wir sind der Meinung, daß die Bundesrepublik
Deutschland einer besonderen Verpflichtung unterliegt,
dieses Thema sehr sorgfältig zu prüfen. Ich habe in der
damaligen Debatte bereits angekündigt, daß wir humanitäre Hilfe leisten wollen. Humanitäre Hilfe heißt in
diesem Zusammenhang vor allen Dingen, daß wir uns
am Wiederaufbau und an der unmittelbaren Katastrophenhilfe beteiligen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Wir sind aber auch der Meinung, daß wir im Rahmen
unserer Möglichkeiten einen Beitrag für Interfet, für die
internationale Friedenstruppe, leisten sollten. Dieser
Beitrag soll nicht durch Kampftruppen und Kampfverbände gestellt werden, sondern durch Sanitätssoldaten.
({0})
Die Bundesregierung hat beschlossen, Interfet bis zu
100 Soldaten eines Sanitätskontingents zur Verfügung
zu stellen. Wir haben darüber in den Ausschüssen ausführlich beraten. Lassen Sie mich hier nochmals kurz die
Gründe darstellen.
Es war die Initiative der indonesischen Regierung
von Präsident Habibie, eine Volksabstimmung vorzuschlagen und in einer Dreiparteienvereinbarung mit
Portugal, Indonesien und dem UN-Generalsekretär zu
einer solchen Volksabstimmung zu kommen.
Diese Volksabstimmung führte zu einer fast achtzigprozentigen Zustimmung der Bevölkerung zur Unabhängigkeit. Bischof Belo hat mir letzte Woche persönlich gesagt: Wir wollen keine Indonesier werden.
Nach dieser Volksabstimmung unter Aufsicht der
Vereinten Nationen wurde eine Orgie der Gewalt losgetreten. Die Unabhängigkeit sollte gewaltsam unterdrückt
werden, respektive das Land sollte durch Zerstörung,
durch Massenmord und Vertreibung zur Unabhängigkeit
unfähig gemacht werden. Dieses war nicht hinnehmbar.
Die internationale Staatengemeinschaft hat alle Möglichkeiten genutzt, die Zustimmung Indonesiens, das
seinen eigenen Demokratisierungsprozeß substantiell
gefährdet hat, zu einer entsprechenden Sicherheitsratsresolution herbeizuführen. Diese Sicherheitsratsresolution 1264 ist dann bei Zustimmung aller Sicherheitsratsmitglieder zustande gekommen. Die Volksrepublik China hat ebenfalls eine sehr konstruktive Rolle dabei eingenommen. Die Konsequenz daraus ist, daß eine internationale Friedenstruppe - keine Blauhelmtruppe - als
„coalition of the willing“ aufgestellt wurde. Von Anfang
an haben sich auch unsere wichtigsten europäischen
Partner bereit erklärt, sich daran zu beteiligen: Frankreich, Großbritannien, Portugal, Italien, aber auch Norwegen und Schweden.
Die entscheidende Frage, die sich für uns stellte, war,
ob wir uns bei diesem Thema abseits stellen können
oder ob wir uns nicht im Rahmen unserer vertretbaren
Möglichkeiten beteiligen müssen. Meine Damen und
Herren, wenn wir uns hier nicht beteiligt hätten, wäre
der Eindruck entstanden, daß sich die Bundesrepublik
Deutschland auf Europa zurückzieht, daß wir uns zwar
im Kosovo mit allem, was wir haben, und bei jedem Risiko engagieren, daß wir aber nicht bereit sind, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern für die Vereinten
Nationen Solidarität zu zeigen und Verantwortung zu
übernehmen. Dieses wäre eine falsche Entscheidung
gewesen.
({1})
Wenn ich heute höre, daß dieses Prestigepolitik sei,
dann möchte ich jenen, die so etwas sagen, nur entgegenhalten: Wir haben Interessen, und in der Welt von
morgen werden die Vereinten Nationen als Plattform
unserer Interessen eine wesentlich größere Rolle als in
der Vergangenheit spielen.
({2})
- Was die Präsenz Deutschlands betrifft, was die Fähigkeit Deutschlands betrifft, den Kurs der Vereinten Nationen zum Beispiel auch in den Unterorganisationen
aktiv mitzugestalten, so wird dies im Zeitalter der Globalisierung zukünftig verstärkt in unserem Interesse liegen. Weiterhin liegt es in unserem Interesse, daß das
Gewaltmonopol der Zukunft in der Tat bei den Vereinten Nationen im internationalen Staatensystem ist und
nicht sonstwo.
({3})
Aus all diesen Gründen, aus VN-politischen Gründen,
aus europapolitischen Gründen, können wir nicht über
eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik, über
eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik sprechen und uns dann, wenn es in der Tat unsere Partner
betrifft - auch Portugal ist unser Partner -, ausklinken.
Wir sind dafür in der Europäischen Union zu bedeutsam.
Auf Deutschland wird in diesem Punkt zu sehr geschaut.
Ich kann an dieser Stelle nur hinzufügen: Sowohl was
unser Engagement in den Vereinten Nationen als auch
was unser Engagement in Europa betrifft, ist dies nicht
Prestigepolitik, sondern eine zukunftsorientierte, entlang
unseren Interessen in den VN und in Europa orientierte
Politik.
Wir leisten humanitäre Hilfe und werden sie auch in
Zukunft verstärkt leisten. Diese humanitäre Hilfe konnte
aber auf Grund der Sicherheitslage nicht abfließen. Ich
kann all denjenigen, die meinen, man könnte humanitäre
Hilfe im zivilen Bereich Interfet entgegensetzen, nur
entgegenhalten, daß die Unterdrückung von Gewalt und
von Angriffen auf die zivile Bevölkerung durch diese
militärische Intervention auf der Grundlage der Resolution 1264 die Voraussetzung für die Arbeit ziviler Organisationen ist.
({4})
- Es tut mir leid. Ohne Interfet wäre dort das Morden
weitergegangen; das müssen wir festhalten.
({5})
Deswegen bin ich mit allem Nachdruck für Interfet
und habe mich dafür eingesetzt.
Wir haben 1 Million DM für humanitäre Hilfe zur
Verfügung gestellt, die nicht abfließen konnte; die Kollegin Wieczorek hat unmittelbar 4 Millionen DM aus ihrem Etat für Nahrungsmittelhilfe und für Anlagen zur
Wiederaufbereitung von Trinkwasser zur Verfügung gestellt. Wir werden weitere Wiederaufbauhilfen zur Verfügung stellen: Wir haben uns bereit erklärt, bis zu zehn
Juristen für die zivile Verwaltung zu finanzieren, weil
dort die Zivilverwaltung faktisch völlig zusammengeBundesminister Joseph Fischer
brochen ist. Das alles ist für die Entwicklung eines unabhängigen Osttimors von entscheidender Bedeutung.
Ich fasse all unsere Gründe noch einmal zusammen:
Abwehr einer humanitären Katastrophe durch den Einsatz von Interfet, Umsetzung eines freien Votums der
beeindruckenden Mehrheit dieser Bevölkerung, unsere
Solidarität mit den Vereinten Nationen, unsere Solidarität mit unseren europäischen Partnern, unsere Interessen
in Europa und in den Vereinten Nationen. Ich füge hinzu
- hier sieht sich die Bundesrepublik in Kontinuität -:
Wenn wir uns dort mit dem Beitrag, den wir heute hoffentlich beschließen, zurückgehalten hätten, dann würden wir sofort gefragt, warum wir zu Zeiten von Suhartos Diktatur eine aktive Indonesien-Politik betrieben haben, wir uns aber jetzt, wo es um die Umsetzung eines
beeindruckenden Votums der Bevölkerung dort unter
der Aufsicht der Vereinten Nationen geht, im Gegensatz
zu unseren europäischen Partnern zurückhalten. Diesen
falschen Eindruck dürfen wir nicht entstehen lassen.
Deswegen bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
({6})
Das Wort für die
Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSUFraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Wir tun das aus folgenden Gründen: Wir sehen
darin eine im Kern unerläßliche humanitäre Aktion der
Vereinten Nationen: Wir haben natürlich ein Interesse
daran, daß auch in Zukunft Interventionen, wenn sie
notwendig werden, unter der Ägide der Vereinten Nationen stattfinden. Wir haben eine europäische Hinterlassenschaft zu begleichen, für die wir alle mithaften so
wie unsere europäischen Partner auch für unsere Vergangenheit. Die anderen Europäer beteiligen sich in zum
Teil nennenswertem Maße. Die Bundesrepublik
Deutschland hat immer ein besonderes und aktives Verhältnis zu Indonesien gehabt. Wir tun das nicht zuletzt,
weil wir - wie dieser Fall belegt - dringendst eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa
brauchen, die dieses Mal wieder nicht stattgefunden hat.
({0})
Herr Minister, die Regierung hat uns die Zustimmung
nicht nur nicht leicht, sondern wirklich sehr schwer gemacht. Es werden sich nicht alle Kollegen zu einem Ja
durchringen, weil - wie dieser Fall zeigt - die Diskrepanz zwischen Ihren Haushaltsvorschlägen, vor allem
den für den Verteidigungshaushalt, und dem, was Sie
hier vorschlagen, geradezu himmelschreiend ist. Sie sagen: Es gibt immer weniger Geld, aber mehr Aufgaben
und damit höhere Ausgaben. Das kann doch nicht richtig
sein.
({1})
Wir haben deswegen einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht, der Sie, Herr Minister
Scharping, unterstützt. Ich nehme an, daß Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen vor allen Dingen von der
SPD, unserem Antrag deswegen zustimmen werden.
Aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb Sie
es uns schwergemacht haben. Herr Minister, Sie haben
zunächst vor dem Forum der Vereinten Nationen eine
deutsche Beteiligung zugesagt und haben hinzugefügt:
Ich bin sicher, daß der Deutsche Bundestag dem in
großer Einmütigkeit zustimmen wird. Dann hat die
Bundesregierung angekündigt, sie werde eine Beschlußvorlage beschließen. Dann wurde dies verschoben, weil
es keine Einigung über die Finanzierung gab. Dann erst
hat man begonnen, mit den Fraktionen darüber zu reden.
Das hat Ärger nicht nur bei uns, sondern selbstverständlich auch in Ihren Reihen hervorgerufen.
Mir ist klar, daß gerade an diesem Beispiel eines bescheidenen Beitrags zu den Interfet-Truppen in Osttimor
die Problematik der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sehr deutlich wird. Es handelt sich um
einen wirklich sehr bescheidenen Beitrag, man könnte
auch sagen: um einen symbolischen Beitrag. Ich bin unbedingt dafür, daß wir ihn leisten. Aber daß sich hiermit
der Deutsche Bundestag beschäftigen muß, ist eine Sache, über die man sehr wohl nachdenken muß. Ich habe
darauf schon zu Beginn der Diskussion über das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. Aber nun
ist es so, wie es ist. Weil Sie das wissen mußten, war es
ein wirklich grober Fehler, etwas zunächst öffentlich zuzusagen und dann erst mit den Fraktionen über dieses
Thema zu reden. So geht es nicht, Herr Minister.
({2})
Ich sage wirklich mit allem Nachdruck: Das darf im
Interesse der Politik unseres Landes nicht noch einmal
vorkommen. Wir wissen doch, daß nach der keineswegs
so übermäßig eindeutigen Entscheidung und den keineswegs erfreulichen Erfahrungen während des KosovoKrieges die Stimmung in allen Fraktionen für ein weiteres Engagement nicht gerade sehr glänzend war. Das
wissen wir doch alle. Jedenfalls hätten Sie es wissen
können und müssen, Herr Minister.
In der Debatte in meiner Fraktion hat es eine Reihe
von guten Argumenten gegeben - es gab auch weniger
gute Argumente, um das klar zu sagen -, die gegen eine
deutsche Beteiligung gesprochen haben und sprechen.
Welches ist eigentlich die tiefere Ursache für die
Skepsis, die allenthalben festzustellen ist? Ich glaube,
daß das Gefühl, wir seien hier einem Druck und einem
fast unwiderstehlichen Zwang ausgesetzt, bei den Kollegen eine große Rolle spielt. Verehrte Kolleginnen und
Kollegen, das müssen wir klar sagen: So ist es auch. Sie
argumentieren - so habe ich auch argumentiert -: Unsere europäischen Partner beteiligen sich, aber sie haben
uns vorher nicht gefragt. Es hat in Europa keine gemeinsame Beschlußfassung in der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik stattgefunden. Wir haben nicht mitwirken können, aber jetzt müssen wir uns beteiligen. Ich
halte es für richtig, daß wir uns beteiligen. Aber wer
wollte nicht verstehen, daß Kollegen, die sich nicht dauernd mit Außenpolitik beschäftigen, Bedenken und
Schwierigkeiten haben? Es ist so, wie es ist. Dies müssen nicht nur die Außenpolitiker entscheiden, sondern
das Parlament muß entscheiden. Ich habe Verständnis
für die Kollegen, die hier Schwierigkeiten haben.
Nach meiner festen Überzeugung müssen wir natürlich verschärft darüber nachdenken, welches die Voraussetzungen sind, welche Kriterien wir anlegen. Ich weiß
auch - ich habe das selber einmal getan, übrigens zusammen mit dem Kollegen von Schmude seinerzeit -,
daß dies im Einzelfall nur sehr begrenzt möglich ist. Ich
gestehe ganz offen: Bei dem Kosovo-Entscheid habe ich
gegen meine eigenen Kriterien entschieden. Die sogenannte „exit strategy“, überhaupt die dahinter stehende
politische Philosophie, fehlt bis heute, was ich auch immer wieder anmahne. Aber dennoch bestand ein Druck.
Es ging nicht anders. Es war richtig, daß wir uns so entschieden haben. Wir haben Schlimmes verhindert,
wenngleich auch einiges Schlimme eingetreten ist. Das
wissen wir alle. Das Nachdenken über verschärfte Kriterien wird allein nicht helfen.
Was in der Zukunft entscheidend sein wird, ist, daß
wir alles tun, um zu mehr Aktion statt zu Reaktion zu
kommen, zu mehr Prävention als Aktion. „Prävention“
ist im Grunde nicht der richtige Ausdruck. Wir müssen
eine wirklich umfassende und globale Strategie entwikkeln, die die Gefahr der Notwendigkeit des Einsatzes
militärischer Mittel verringert.
({3})
Ich sage ganz nachdrücklich: Das vermisse ich.
Ihre Rede vor den Vereinten Nationen, Herr Minister,
beginnt damit, daß Sie darüber nachdenken, ob man das
Veto der ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates
nicht relativieren könne. Das ist richtig. Aber dann erst
sagen Sie, wir müssen noch über mehr Prävention nachdenken. Das erstere führt zu Erleichterung der Intervention. Ich bin aber nachdrücklich dafür, daß wir sehr, sehr
viel intensiver darüber nachdenken, wie wir Interventionen verhindern können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die SPDFraktion spricht jetzt Kollege Volker Neumann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in
Osttimor ist noch immer sehr unübersichtlich, und nicht
jede Nachricht, die hier ankommt, ist verifizierbar. Wir
haben gemeinsam begrüßt, daß die internationale Friedenstruppe unter Führung der Australier sehr schnell für
Sicherheit in großen Gebieten in Osttimor gesorgt hat,
und dafür gebührt diesen Soldaten und den Nationen, die
daran beteiligt sind, unser Dank.
({0})
Dem umsichtigen, aber konsequenten Einsatz dieser
Soldaten ist es zu verdanken, daß Opfer bisher nicht zu
beklagen sind. Die Milizen, die in Osttimor gewütet haben, sind teilweise entwaffnet, teilweise in die Berge geflüchtet, teilweise nach Westtimor gegangen und teilweise ganz außer Landes, das heißt nach Indonesien,
abgezogen.
Ob größere Angriffe in Zukunft zu erwarten sind, ist
ungewiß. Wir hoffen, daß das nicht der Fall ist. Die
Flüchtlinge kehren in Osttimor in die Städte und Dörfer
zurück, und aus Westtimor hat der Rücktransport nach
Osttimor begonnen.
Die Zahl der Toten ist ungewiß. Wahrscheinlich wird
man sie nie feststellen können, weil viele Menschen, die
weggegangen sind, nicht mehr in ihre Orte, in denen sie
gelebt haben, zurückkehren werden, und weil sicher
viele Leichen unauffindbar bleiben.
Zunehmend können Hilfsorganisationen ihre Arbeit
aufnehmen. Es sind übrigens auch schon Mittel abgeflossen - für das Internationale Rote Kreuz, für die Ärzte für
die Dritte Welt, für Terre des Hommes - und es sind Gelder für Nahrungsmittelhilfe und für den Kauf von Medikamenten in Höhe von über 4 Millionen DM vom BMZ
zur Verfügung gestellt worden. Wir konnten alle im Fernsehen beobachten, daß die Nahrungsmittel in Dili verteilt
worden sind. Wir wissen, daß in Dili und in Baucau zumindest die medizinische Grundversorgung verbessert
worden ist und daß entgegen vielen Meldungen das Krankenhaus in Dili funktioniert und nicht zerstört ist.
Der Friedensnobelpreisträger Belo ist zurückgekehrt
und steht wieder seinem Volk zur Seite. Wir erwarten
nun, daß nach der Wahl des indonesischen Präsidenten
am 20. Oktober 1999 die Beratende Versammlung die
Unabhängigkeit von Osttimor erklärt und daß dann die
zweite Phase einsetzt, nämlich die Blauhelmphase, während der eine zivile Verwaltung aufgebaut wird und ein
funktionierendes Staatswesen entsteht. Dazu wollen wir
beitragen; die Resolution vom 16. September 1999
drückt das aus.
Heute geht es um die Frage, ob wir uns noch an dem
Einsatz der Friedenstruppe beteiligen, die gemäß Kapitel VII der UNO-Charta angetreten ist. Dabei findet
das Verfahren, aber auch der Inhalt des Beschlusses besondere Beachtung. Das galt auch früher bei den Einsätzen in Somalia und Kambodscha schon so - diese waren
übrigens nicht eurozentriert, sondern außerhalb Europas - und natürlich bei den Einsätzen in Bosnien und im
Kosovo.
Am 16. September 1999 hat der Bundesaußenminister zur Überraschung mancher Kollegen erklärt, nach
Beratung mit den Fraktionen werde ein Kontingent der
Bundeswehr, eine Sanitätseinheit, entsandt werden. Bis
dahin hieß es, Truppen würden nicht entsandt werden.
Gemeint waren wohl Kampftruppen, aber das wurde nie
so deutlich gesagt. Am Tag zuvor war die Resolution
1264 beschlossen worden, in der die Vereinten Nationen
um die Entsendung von Truppen gebeten hatten.
Am 22. September 1999 hat der Außenminister in
New York erklärt, wir würden einen Beitrag mit SaniKarl Lamers
tätstruppen leisten; er sei sicher, daß der Bundestag zustimmt. Bis zu diesem Zeitpunkt, also bis zum 4. Oktober dieses Jahres, waren weder die Fraktionen noch die
zuständigen Ausschüsse über die Hintergründe informiert worden. Erst am Dienstag sind die Aufgabe und
der genaue Umfang des Kontingents sowie die zu erwartenden Kosten und deren haushaltsmäßige Bereitstellung den Abgeordneten bekannt gemacht worden. Es
hat also drei Wochen gedauert, bis das Parlament unterrichtet worden ist.
({1})
Dies haben wir gerügt. Der Außenminister hat dies bedauert und erklärt, daß das Parlament demnächst rechtzeitig informiert wird. - Bundesminister Joseph Fischer
nicht - Er hat verstanden,
({2})
daß dies ein einmaliger und nicht wiederholbarer Vorgang bleiben muß. Ich persönlich hoffe, daß wir nicht
allzuhäufig über solche Vorgänge diskutieren müssen
und daß die Entscheidung über den Einsatz der Bundeswehr eine absolute Ausnahme in der Parlamentsgeschichte bleibt.
({3})
In meiner Fraktion gab es eine ganze Reihe von Abgeordneten, die diese Entscheidung kritisiert haben. Ich
möchte nur vier Gründe beispielhaft auflisten: Erster
Einwand. Wir haben immer den Vorrang der regionalen
Konfliktvermeidung und -bewältigung betont. Der
Aufbau regionaler Sicherheitsstrukturen ist - gemäß unseren eigenen Erfahrungen in Europa - von uns in der
ganzen Welt gefördert worden. Deshalb waren wir froh,
daß die Region um Osttimor die Verantwortung angenommen hat. Die Asean-Staaten, unter maßgeblicher
Beteiligung von Thailand, den Philippinen, Singapur,
Malaysia und Australien - Nachbarland von Osttimor -,
aber natürlich auch Japan, Korea, Neuseeland und China
leisten Beiträge. Eine stärkere Beteiligung von Staaten
außerhalb der Region - dies sagen viele bei uns - wirke
diesen positiven Entwicklungen entgegen. Deshalb wurde aus Südostasien schon sehr viel Kritik an einer Beteiligung von Staaten außerhalb der Region laut.
Zweiter Einwand. Der Bedarf ist nicht nachvollziehbar. Die in Darwin stationierten Bundeswehrsoldaten
sollen Verletzte aus Osttimor ausfliegen. Nach der Landung der Friedenstruppe, nach der Entwaffnung der Milizen und noch in Anwesenheit des indonesischen Militärs gab es - Gott sei Dank - keine Opfer. Es gab nach
meiner Kenntnis nur einen Menschen, der bei der Entladung eines Flugzeugs verletzt worden ist.
Ich bin auch darüber informiert worden, daß Australien die notwendigen Maßnahmen für die medizinische
Versorgung der eigenen Truppen getroffen hat. Außerdem ist uns bekanntgemacht worden, daß ein Lazarettschiff der USA nach Osttimor unterwegs ist. Im übrigen
haben sechs Staaten Sanitätseinheiten angeboten und
zum Teil bereits stationiert. Neun Staaten haben Transportmittel angeboten.
Der dritte Einwand bestand darin, daß bis zum
14. September 1999, also einen Tag vor der Resolution,
das Department of Peacekeeping Operations der Vereinten Nationen uns um zivile Hilfe bei der Wiederaufbauphase gebeten hat. Diese Bitte hat das Department
später, am 23. September, wiederholt. Nach unserer
Kenntnis wurde bis zu diesem Zeitpunkt keine militärische Hilfe angefordert. Es lagen ja auch genug Angebote
von Staaten aus der Region und darüber hinaus vor.
Auf den vierten Einwand möchte ich nicht weiter
eingehen, nämlich auf die Frage der Kosten. Wir alle
verstehen, daß der Verteidigungsminister schon häufiger
darauf hinweisen mußte, daß nicht immer mehr Anforderungen und Aufgaben an ihn herangetragen werden
dürfen, wenn der Verteidigungshaushalt die gleiche Höhe wie bisher behalten soll.
({4})
Aber es ist auch das Verhältnis zwischen den Aufwendungen für militärische Operationen und für humanitäre
Hilfe kritisiert worden. 5 Millionen DM werden jetzt für
humanitäre Soforthilfe ausgegeben. Der Minister hat
darauf hingewiesen, daß dies die Kosten für einen einmonatigen Einsatz der Sanitätseinheiten sind. Auch dies
ist kritisiert worden, insbesondere deshalb, weil wir den
gesamten Ansatz für humanitäre Hilfe auf 58 Millionen DM kürzen mußten. Das ist fast so viel, wie ein halbes Jahr dauernder Einsatz der Bundeswehr in Osttimor
kosten würde.
Alle diese Einwände wurden von meiner Fraktion zurückgestellt. Sie haben nicht dazu geführt, daß wir den
Antrag ablehnen werden. Im Gegenteil: Wir werden ihm
zustimmen. Der Grund für unsere Zustimmung ist die
von uns allen immer wieder gestellte Forderung nach
Stärkung der Vereinten Nationen. Im konkreten Fall
hatte es im Vorfeld Schwierigkeiten beim Einsatz von
Unamet, die das Referendum organisiert hat, gegeben.
Aber danach haben die Vereinten Nationen mit Zustimmung der Indonesier sehr schnell gehandelt. In diesem
Fall gab es für uns keine andere Möglichkeit, als sehr
schnell der Aufforderung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu folgen und einen eigenen Beitrag zu
leisten. Denn wir haben immer wieder gefordert, daß die
Vereinten Nationen in Konfliktfällen schnell und effektiv tätig sein sollen. Es entsprach in diesem Fall den
außenpolitischen deutschen Interessen, einen Beitrag zu
leisten. Wir wollen uns überhaupt auf allen Ebenen engagieren.
Der Außenminister hat vor der Generalversammlung die Zusage erteilt, daß wir eine Bundeswehreinheit
entsenden. Auf diese Zusage muß sich die Weltgemeinschaft verlassen können.
({5})
Berechenbarkeit und Verläßlichkeit müssen Merkmale
deutscher Außenpolitik bleiben. Das bedeutet nicht in
jedem Fall, daß sich die Bundeswehr an solchen Missionen beteiligen kann und muß. Jeder Fall muß einzeln
Volker Neumann ({6})
beobachtet werden, und die Beteiligung muß gerechtfertigt sein. Zu Recht ist insbesondere von Ulrich Klose
darauf hingewiesen worden, daß wir miteinander diskutieren müssen, wie wir in Zukunft mit solchen Anforderungen umgehen. Der Außenminister hat zugesagt, daß
er die Diskussion mit dem Parlament beginnen will.
Ein zweites wichtiges Argument, das dafür gesprochen hat, zuzustimmen, ist, daß die europäischen Partner Leistungen erbringen und daß wir nicht erwarten
können, daß sich allein Italien, Frankreich, Schweden,
Großbritannien und Portugal - auch aus Gründen der
kolonialen Vergangenheit - der Verantwortung stellen,
dort zu helfen. Es ist überlegenswert, daß wir die Lasten
der kolonialen Vergangenheit unserer europäischen
Partner gemeinsam tragen sollten, so wie diese immer
wieder unsere Lasten mittragen.
In diesem Rahmen hat die Zusage des Außenministers trotz erheblicher Belastungen der Bundesrepublik
für Bosnien und für den Kosovo einen Sinn. Sie könnte
ein Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik sein. Allerdings müßten wir dafür einen Abstimmungsprozeß mit dem Parlament anmahnen, der in diesem Fall nicht stattgefunden hat. Die
SPD wird dem Antrag daher nach Abwägung aller
Aspekte zustimmen. Sie wird aus den Erfahrungen dieser Debatte jedoch Schlußfolgerungen ziehen.
Den Osttimoresen wünschen wir einen friedlichen
Weg in die Zukunft, jedenfalls einen friedlicheren als in
der Vergangenheit. Wir hoffen, daß die Weltgemeinschaft für den Wiederaufbau genauso schnell wie in der
Vergangenheit mit dem Militär zur Verfügung steht.
({7})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch darauf hinweisen, daß es nicht nur Osttimor, sondern auch
Westtimor gibt. Wir müssen immer auch die Auswirkungen unserer Handlungen auf Westtimor und auf ganz
Indonesien betrachten. Wir müssen Indonesien auf dem
schwierigen Weg der Demokratisierung und der Stabilisierung begleiten. Mit der Konstitutionierung des Parlaments in Jakarta und mit der Erklärung, Osttimor in die
Unabhängigkeit zu entlassen, hat man in Indonesien
einen wichtigen Beitrag geleistet, einen langen Konflikt
zu beenden
Kollege Neumann,
denken Sie bitte an die Redezeit.
- und die Beziehungen zur EU zu entkrampfen.
Unserer Bundeswehr und insbesondere ihren Sanitätseinheiten, die bereits in der Vergangenheit in Kambodscha, in Bosnien und im Kosovo große Leistungen
erbracht haben, möchten wir Dank sagen. Wir wissen
um ihren schweren Dienst und um die auf sie zukommenden Belastungen. Wir wünschen den Soldatinnen
und Soldaten viel Glück bei der Bewältigung der Aufgabe und eine gesunde Rückkehr. Wir hoffen, daß ihr
Einsatz von kurzer Dauer ist.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich dem Kollegen Walter Hirche
für die F.D.P.-Fraktion das Wort erteile, möchte ich darauf hinweisen, daß nunmehr auch ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zu diesem Antrag vorliegt. Er steht am Abschluß dieser Debatte genauso wie
die anderen vorliegenden Entschließungsanträge zur Abstimmung.
Bitte, Herr Kollege Hirche.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion wird dem Antrag der Regierung zustimmen.
({0})
Wir stimmen dem Antrag zu, weil er auf der klaren
Rechtsgrundlage eines UN-Mandats basiert. Wir wollen
in einer schwierigen Menschenrechtssituation und beim
Aufbau des Friedens helfen.
Wir stimmen der Beurteilung des Außenministers zu,
daß die Herstellung einer Sicherheitslage die Voraussetzung zum friedlichen Aufbau ist. Herr Bundesaußenminister, man muß trotzdem fragen, in welcher Form die
Bundesrepublik Deutschland ihren Beitrag in optimaler
Weise leisten sollte. Wir alle haben eben gehört, wie der
Kollege Neumann festgestellt hat, daß der Außenminister vor den Vereinten Nationen eine Zusicherung für
einen Einsatz Deutschlands gegeben hat, der innerhalb
der Bundesregierung nicht abgestimmt war und der
- das sehen wir am Ergebnis heute - offenkundig auch
mit den UN nicht abgestimmt war. Heute sagt die Regierung, daß die UN im Rahmen ihrer Maßnahmen genau
diesen Beitrag von Deutschland erbitten und für richtig
halten. Wir nehmen zur Kenntnis, daß sich diese Entwicklung so ergeben hat.
Wir gehen bei unserem Ja auch davon aus, daß wir
uns im Rahmen der Aktionen unserer europäischen
Partner bewegen. Das ist in diesem Zusammenhang ein
wichtiger Faktor, denn wir sollten uns, auch wenn wir
Deutsche in einer bestimmten Situation Fragen haben,
nicht auf einen nationalen Sonderweg zurückziehen,
sondern immer den Dialog mit unseren europäischen
Partnern suchen und im Rahmen der von der UN vorgegebenen Rechtslage handeln.
({1})
Aber, meine Damen und Herren - das haben die Redner der beiden anderen Fraktionen auch deutlich gemacht -, Zweifel und Unbehagen nicht wegen der Sache
selbst, sondern im Hinblick auf die Art und Weise, wie
insbesondere der Außenminister vorgegangen ist, bleiben. Die Bedeutung und der Umfang der Aktion, für die
heute um Zustimmung des Bundestages gebeten wird,
Volker Neumann ({2})
ist geringer als der Kosovo-Einsatz. Es knüpfen sich
aber viel mehr Fragen an diese Entscheidung; insbesondere stellen einige meiner Kollegen die bange Frage, ob
wir nicht durch die Art und Weise, wie die Bundesregierung hier vorgegangen ist, in einen Automatismus hineinrutschen, wenn zwar formal daran festgehalten wird,
daß wir von Fall zu Fall entscheiden, aber in Wirklichkeit dadurch, daß ein Minister innerhalb der Regierung
eigenmächtig handelt, alle anderen in einen Sog hineingeraten.
({3})
Deswegen will ich die kritischen Punkte noch einmal
kurz benennen.
Da war das unabgestimmte Vorpreschen des Außenministers, das gutgemeint war - das will ich festhalten -;
({4})
aber nicht immer ist das, was gutgemeint ist, schon in
der Sache das Optimale und Hilfreichste. Der Kollege
Neumann hat das für die SPD ja eben genauso deutlich
gemacht wie vorher der Kollege Lamers.
Auch den Zeitfaktor möchte ich noch einmal ansprechen: Die Regierung streitet untereinander 21 Tage und
verlangt dann vom Parlament, innerhalb von 24 Stunden
eine Entscheidung zu treffen.
({5})
Das widerspricht dem Geist des Karlsruher Urteils.
({6})
Karlsruhe hat mit seinem Urteil deutlich gemacht, daß in
so schwerwiegenden Fragen der Bundestag gefragt werden muß. Deswegen muß die Regierung dann auch dem
Bundestag einen ausreichenden zeitlichen Rahmen eröffnen und entsprechende Sachinformationen geben,
damit er die Möglichkeit hat, in eine echte Beratung einzusteigen und zu einer echten Zustimmung zu kommen.
Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht - das
haben wir im Ausschuß getan - allzuviel zu den schlampigen Formulierungen in der Antragsbegründung selbst
sagen, die wir kritisieren. Herr Kollege Neumann hat
darauf hingewiesen, daß an einer Stelle im Zusammenhang mit den Akten der indonesischen Regierung von
„nationalistischen Bestrebungen“ die Rede ist; hier liegt
eine Verwechslung vor, da nationale Bestrebungen von
den Osttimoresen kommen und nicht umgekehrt.
Lassen Sie mich auch noch auf den Finanzaspekt zu
sprechen kommen. Auch an diesem Punkt ist die Begründung im Antrag nicht so, wie man sie sich wünschen würde. Angesichts des Beitrags von Norwegen,
den Niederlanden und anderen klingt die Formulierung
der Bundesregierung in ihrem Antrag, der deutsche Beitrag entspreche der angespannten Haushaltslage, unpassend. Ich würde doch im Interesse einer guten europäischen Zusammenarbeit und angesichts des Engagements
anderer europäischer Staaten darum bitten, daß unser geringerer Beitrag nicht so hochgepustet und in den Zusammenhang mit der Haushaltslage gestellt wird.
({7})
Genauso wichtig ist es, sich einmal den Ausgabestand
des Kapitels anzuschauen, aus dem unser Beitrag finanziert werden soll. In dem Kapitel 14 03 sind als Gelder
für internationale Hilfen - das ist jetzt etwas technisch 50 Millionen DM veranschlagt. Mit Datum 18. August
1999 waren 458 Millionen DM aus dem entsprechenden
Titel ausgegeben worden; inzwischen sind es über
500 Millionen DM.
({8})
Das bedeutet eine Überausschöpfung von über 1 000
Prozent.
Der gleiche Ansatz ist für das Jahr 2000 wieder veranschlagt worden, obwohl wir wissen, daß die Präsenz
der Bundeswehr in Darwin über den 31. Dezember 1999
hinausgeht. Ich freue mich deswegen, daß der Haushaltsausschuß vor wenigen Stunden auf Antrag meines
Kollegen Hoyer beschlossen hat, den Bundesrechnungshof aufzufordern, eine Auskunft darüber zu geben, wie
in Zukunft mit einem solchen Haushaltstitel umgegangen werden soll. Denn die bisherige Weise entspricht
nicht den Prinzipien der Haushaltswahrheit und der
Haushaltsklarheit, die wir hochhalten sollten.
({9})
Natürlich können und müssen wir fragen: Ist das die
beste Hilfe, die Deutschland geben kann? Deswegen haben wir, die F.D.P.-Fraktion, einen Antrag eingebracht,
der in Abs. 3 zum Ausdruck bringt, daß wir durchaus
akzeptieren, daß in diesem Zusammenhang die Entsendung von Sanitätern und von Transportmaschinen, so
wie Sie das wollen, nur eine Möglichkeit ist. Insbesondere auf Grund dessen, was andere Kollegen festgestellt
haben, haben wir an die Bundesregierung die dringende
Bitte, innerhalb der nächsten acht Wochen zu prüfen
- lassen Sie mich das präzise formulieren -, ob es nicht
andere Formen der Hilfe gibt, die für den Aufbau- und
Friedensprozeß viel effizienter sind, weil die Sicherheitslage möglicherweise durch andere besser organisiert wird.
({10})
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion stellt
alle von mir vorgetragenen Bedenken zurück. Denn wir
glauben, daß am Ende eine Zustimmung weltweit im
wohlverstandenen deutschen Interesse liegt - nicht nur
im UN-Interesse, sondern auch im deutschen Interesse.
Wir haben an die Bundesregierung die dringende Aufforderung, das, was hier von allen Fraktionen moniert
worden ist, in Zukunft zu beherzigen
Kollege Hirche, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
- darf ich nur noch meinen
Gedanken zu Ende führen - und außerdem gemeinsam
mit dem Parlament eine Strategie zu entwickeln, wie
Deutschlands Interessen in einer neuen Weltordnung zu
definieren sind. Dafür müssen wir uns Zeit nehmen. Das
können wir nicht im Zusammenhang mit einer anstehenden Aktion einmal so eben abhaken.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben der Präsident
der Nationalversammlung des Königreichs Kambodscha, Norodom Ranariddh, und seine Delegation Platz
genommen.
({0})
Königliche Hoheit, ich begrüße Sie und die Kolleginnen und Kollegen aus dem kambodschanischen
Parlament im Namen aller Mitglieder des Deutschen
Bundestages sehr herzlich. Mit besonderer Aufmerksamkeit und Anteilnahme verfolgen wir die Bemühungen Ihres Landes um politische Stabilisierung, innere
Aussöhnung und wirtschaftliches Wachstum. Hierzu
leistet die Nationalversammlung einen wesentlichen
Beitrag. Seien Sie versichert, daß der Deutsche Bundestag Ihr Parlament auf dem beschwerlichen Weg zur
Verankerung demokratischer Institutionen, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand nach besten Kräften unterstützen wird.
({1})
Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Kollege
Fischer! Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vorletzte
Woche die Möglichkeit gehabt, mir die Situation in Osttimor vor Ort anzusehen und einen direkten Eindruck
von den grauenvollen Verwüstungen und Vertreibungen
seit dem Tag des Unabhängigkeitsreferendums am
30. August 1999 zu bekommen. Glauben Sie mir, daß
ich allein deshalb jede denkbare Initiative unterstützen
werde, die den Menschen dort hilft,
({0})
die ihnen die Chance auf einen wirklichen Neuanfang
eröffnet und die - denn das ist die dringlichste Frage, die
sich momentan stellt - ihnen, vor allem den alten Menschen und Kindern, in den nächsten Wochen und Monaten das Überleben sichert.
Denn die Regenzeit steht vor der Tür. Jede und jeder
von Ihnen kann sich ausmalen, was das bedeutet - was
es bedeutet, wenn ein Großteil der Häuser niedergebrannt und ausgeplündert worden ist, wenn die Wasserund Abwasserversorgung systematisch zerstört wurden,
wenn die medizinische Versorgung in der Fläche, gerade
im ländlichen Raum, nicht mehr existiert und wenn es
besonders für die Flüchtlinge, die sich in den Bergen
aufhalten, noch immer große Probleme mit der Lebensmittelversorgung gibt.
Weil diese Situation so ist - meine Vorredner haben
sie ja ähnlich geschildert -, kann ich dem Antrag der
Bundesregierung nicht zustimmen, und genau deshalb
wird meine Fraktion den Antrag ablehnen.
({1})
Denn die von Ihnen anvisierte Entsendung von zwei
Transall-Maschinen mit bis zu 100 Sanitäts- und Begleitsoldaten ist aus Sicht eines Entwicklungs- und Menschenrechtspolitikers und auch aus fachlicher Sicht
durch nichts zu begründen. Sie hilft weder den Menschen in Osttimor, noch besteht nach derzeitiger Einschätzung der Lage seitens der internationalen Truppen
ein realer Bedarf. Das sehe ich nicht allein so, Herr Fischer; das ist auch die Einschätzung vieler Fachpolitiker
in Ihren eigenen Reihen, wie unter anderem die Ausschußberatungen gezeigt haben.
Daß es heute dennoch zu einer mehrheitlichen Zustimmung zu Ihrem Antrag kommen wird, verdanken
Sie deshalb allein der Disziplinierung Ihrer eigenen
Leute.
({2})
Wirklich überzeugen konnten Sie mit Ihrem Antrag und
den Erläuterungen Ihres Ministeriums in den Ausschüssen meiner Einschätzung nach jedenfalls niemanden,
dem die möglichst zielgenaue und bedarfsgerechte Hilfe
für Osttimor mehr am Herzen liegt als uniformierte internationale Reputation,
({3})
deren Preis nicht nur hoch, sondern in diesem Fall zweifellos auch die Sinnlosigkeit eigenen Handelns darstellt.
Sie wissen das selbst am besten.
({4})
- Zwischenfragen bitte am Ende.
Kollege Hübner, gestatten Sie die Zwischenfrage jetzt?
Am Ende.
Nein, das geht nur
jetzt oder gar nicht.
Nein, jetzt nicht. - Anders
als von der Regierungsseite behauptet, gibt es seitens der
Vereinten Nationen keine spezielle Anforderung von
militärischer Unterstützung durch die Bundesrepublik,
auch nicht im Sanitätsbereich. Zumindest konnte uns
auch in den Ausschußberatungen, die erst gestern stattfanden, nichts Diesbezügliches vorgelegt werden.
Auch ist mir seitens der internationalen Truppe nicht
bekannt, daß sie in den vergangenen Wochen Defizite
im Sanitätsbereich oder in Fragen des luftgestützten
Krankentransports beklagt und in Richtung Bundesrepublik entsprechende Forderungen aufgemacht hätte. Statt
dessen ist festzustellen, daß dort, wo die TransallMaschinen in Osttimor überhaupt nur landen können,
die Krankenversorgung als gesichert gelten kann, weil
erstens die dortigen Krankenhäuser glücklicherweise
intakt geblieben sind, die zumindest in der Hauptstadt
ihre Arbeit seit geraumer Zeit wieder aufgenommen haben, und weil zweitens die an der internationalen Truppe
beteiligten Kontingente dort zusätzliche Sanitätseinheiten bis hin zu Feldlazaretten stationiert haben.
Sowohl meine Gesprächspartner der UNO als auch
die des Internationalen Roten Kreuzes haben diese Einschätzung der medizinischen Versorgungslage durchweg
bestätigt und ausdrücklich darum gebeten, aus Deutschland nicht auch noch ein Feldlazarett oder militärische
Sanitätseinheiten zu schicken.
({0})
Statt dessen gebe es großen Bedarf an Medikamenten,
an medizinischem Gerät und an mobilen Ärzteteams, die
in der Fläche, das heißt, die auf dem Lande und in den
Bergen die Versorgung der Menschen, zumal der
Flüchtlinge, gewährleisten und darüber hinaus damit beginnen, eine flächendeckende Basisversorgung zu reorganisieren.
({1})
Das ist allemal die sinnvollere Variante, als für mehr als
5 Millionen DM pro Monat ein Bundeswehrkontingent
zu postieren,
({2})
das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur
Tatenlosigkeit verdammt sein wird; denn bisher ist es
glücklicherweise zu keinen schwerwiegenden Auseinandersetzungen im Rahmen der Mission gekommen. Es
gibt auch keine Informationen, daß diese Gefahr besteht.
Ich frage Sie, Herr Fischer: Was sollen also diese
Flieger, die die internationale Truppe offenkundig nicht
braucht und die auch der Zivilbevölkerung nichts nützen? Ich kann es Ihnen sagen: Die Flieger sind, neben
dem Ansinnen, international zu einem selbstverständlichen militärischen Akteur zu werden, der Holterdiepolter-Versuch, Ihre fachlich nicht untersetzte und von
niemandem geforderte New Yorker Ankündigung irgendwie mit Leben zu erfüllen. Dafür haben wir kein
Verständnis.
({3})
Denn das Geld, das unser Sparkommissar, Herr
Eichel, ohne große Diskussion lockerzumachen bereit
ist, hätte er wohl leider niemals, schon gar nicht in dieser Höhe, für Maßnahmen zur Verfügung gestellt, die
reinen Soforthilfe- und Wiederaufbaucharakter trügen. Vergleichen Sie die Zahlen: Rund 6 Millionen DM
gibt es insgesamt vom Auswärtigen Amt und vom BMZ
für Lebensmittel, Wasser/Abwasser, flächendeckende
medizinische Versorgung und andere Maßnahmen der
Basisversorgung, monatlich aber über 5 Millionen DM
für das Bundeswehr-Sanitätskontingent. Diese Zahlen
offenbaren eine Denkweise, Herr Fischer, die ich außerordentlich bedenklich finde.
({4})
Es hieß mehrfach, mit dem Sanitätskontingent würden wir unsere Verbundenheit mit und unsere Entschlossenheit gegenüber der UNO und der Osttimor-Mission
zum Ausdruck bringen. Dieses Signal trüge wesentlich
zum Erfolg der Mission bei. Es wird also als wichtig genug erachtet, um wahrscheinlich weit mehr als
20 Millionen DM letztendlich sinnlos zu verpulvern. Ich
sehe die Bedeutung dieses Signals anders. Ich bin nämlich der Meinung, daß nur eine möglichst rasche und bedarfsgerechte humanitäre Hilfe der UNO-Mission in
ihrer Substanz zum Erfolg verhilft.
({5})
Dafür brauchen wir aber genau die finanziellen Mittel,
die Sie gerade für Ihr Signal aus dem Fenster werfen.
Meine Fraktion fordert deshalb, die für das militärische Sanitätskontingent bereitgestellten Mittel gänzlich
dem zuständigen Fachministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung zur Verfügung zu
stellen,
({6})
um sie für Maßnahmen verwenden zu können, die tatsächlich die schlimmste Not lindern helfen und bereits
den Wiederaufbau zum Ziel haben.
Kollege Hübner, Sie
müssen zum Schluß kommen.
Mein letzter Satz: Nach den
massiven Kürzungen im Haushalt des BMZ für UNOOrganisationen würde das unserer Glaubwürdigkeit gegenüber den Vereinten Nationen sicher mehr helfen als
das, was Sie vorhaben - von den Menschen in Osttimor
einmal ganz abgesehen.
({0})
Außerdem: Sie haben beklagt, daß die Mittel nicht
abfließen. Wo ist denn Ihr Koordinationsbüro in Osttimor? Bislang habe ich davon nichts gehört. In Darwin,
wo die Möglichkeiten dafür bestünden, ist lediglich eine
Delegation gewesen.
Kollege Hübner, Sie
müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist um.
Danke.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Kollege Hübner, Sie haben leider keine Zwischenfrage zugelassen. Ich möchte aber auf einen
Widerspruch hinweisen, den ich in Ihrer Argumentation
und auch in dem Antrag der PDS sehe.
Sie beklagen einerseits, daß sich die Vereinten Nationen „spät - aber offenbar nicht zu spät - zu dieser Intervention“, der militärischen Intervention, entschlossen
haben. Das kann doch nur so interpretiert werden, daß
Sie dieser Intervention grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Wenn das so ist, dann frage ich mich: Wie ist es
zu erklären, daß Sie trotzdem gegen deutsche Hilfe sind?
In Ihrem Antrag stellen Sie gleichzeitig fest, daß seitens
der Vereinten Nationen „ein allgemeines Hilfeersuchen“
vorliegt. Wie steht es mit dem auch von der PDS hochgehaltenem Grundsatz der internationalen Solidarität,
wenn sich Deutschland diesem Hilfeersuchen der Vereinten Nationen verweigert?
({0})
Zur Erwiderung,
Kollege Hübner, bitte.
Kollege Ströbele, es tut mir
leid, daß ich Ihre Zwischenfrage nicht zugelassen habe,
aber es ging darum, im Kontext zu sprechen. Was mir
auch leid tut, ist, daß Sie ab dem Zeitpunkt, an dem Sie
Ihre Frage stellen wollten, meiner Rede offenbar nicht
mehr gefolgt sind; denn genau dazu habe ich gesprochen.
({0})
„Internationale Solidarität“, um es einmal bei diesem
Begriff bewenden zu lassen, drückt sich nicht darin aus,
daß ich Unsinniges tue, nur weil andere etwas tun Sinnvolles. Wenn das Interfet-Kontingent also im Moment gar keinen Bedarf an unserer Beteiligung hat, halte
ich es nicht für ein Zeichen internationaler Solidarität,
trotzdem mitzumachen. Wenn es aber großen Bedarf im
humanitären Bereich gibt, halte ich es für ein Zeichen
internationaler Solidarität, da aktiv zu werden. Genau
darum geht es uns.
({1})
Das Wort hat der
Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß die
Argumentation deswegen zumindest eigenartig anmutet,
weil der Kollege Hübner in Darwin war und mehrere
Tage darauf warten mußte, daß Interfet bei der Schaffung sicherer Bedingungen Erfolg hat, die ihm erst die
Reise nach Osttimor ermöglicht haben. Den Außenminister anzuklagen, er sei mit dem Koordinationsbüro
nicht vorangekommen, ist schon deswegen bemerkenswert, weil Sie, Herr Kollege Hübner, die Mitarbeiter des
Auswärtigen Amtes während der ganzen Zeit ziemlich
beschäftigt haben. Das wollte ich erwähnt haben.
({0})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hübner?
Im Gegensatz zu ihm und seiner Praxis: Gerne.
Kollege Scharping, ich bedanke mich zunächst einmal für die äußerst persönliche
Ansprache. Ich weiß sie zu schätzen, obwohl ich den
Versuch der persönlichen Diskreditierung, der zumindest mitschwang, im Zusammenhang mit dieser sachlichen Debatte für außerordentlich unangenehm halte. Wir
haben auch keine persönlichen Angriffe gegen Sie oder
den Außenminister geführt. - Das aber nur vorneweg.
({0})
Das zweite ist: Einem jeden Abgeordneten steht es
selbstverständlich zu, Dienstreisen zu unternehmen.
Diese Dienstreise ist ordnungsgemäß genehmigt worden.
Kollege Hübner,
stellen Sie bitte Ihre Frage an den Minister.
Die Frage ist: Habe ich zukünftig immer solche außerordentlichen Erwähnungen
zu erwarten, wenn ich Reisen unternehme, bei deren
Durchführung mir im Zweifelsfall das Auswärtige Amt
oder die Botschaft behilflich ist?
({0})
Herr Kollege Hübner, ich kann Ihnen jedenfalls
versprechen, daß Sie solche - wie Sie es empfinden außerordentlichen Erwähnungen immer dann erzielen
werden, wenn Sie zwiespältig, widersprüchlich und unsachlich argumentieren. Dann müssen Sie sich damit
schon auseinandersetzen. Das wird Ihnen häufiger passieren.
({0})
Aber das war mir nicht das Wichtigste. Viel wesentlicher ist, daß man nicht auf der einen Seite Interventionismus und das Fehlen eines Kontaktbüros beklagen und
auf der anderen Seite genau die Menschen beanspruchen
kann, deren Untätigkeit man hinterher beklagt. Das geht
nicht.
Wichtiger allerdings ist, daß sich die internationale
Staatengemeinschaft in Osttimor nun tatsächlich, ähnlich wie im Kosovo, einer humanitären Katastrophe gegenübersah. Das wird auch durch die Ergebnisse einer
Fact-finding-Mission von Angehörigen der Bundeswehr
bestätigt, die nach der Debatte des Deutschen Bundestages am 16. September dort hingeschickt wurden, um
herauszufinden, was denn überhaupt ein für die Bundesrepublik Deutschland möglicher und in der Region sinnvoller Beitrag zur Bewältigung der Aufgaben sein
könnte, denen sich Interfet gegenübersieht.
Es ist schon richtig - das hat der Kollege Neumann in
einer in vielerlei Hinsicht sehr differenzierten Rede
deutlich gemacht -, daß angesichts dieser Katastrophe
Untätigkeit nicht verantwortbar wäre und daß man die
Frage stellen muß: Was ist in geeigneten Schritten auch
unter deutscher Beteiligung sinnvollerweise zu tun?
Über 400 000 Menschen sind vertrieben worden. Keiner kann genau sagen, wie viele von ihnen ermordet
worden sind. Mit Blick auf den Kollegen Lamers will
ich, weil wir hier doch eher eine Debatte führen sollten,
als Statements abzulesen - das ist kein Vorwurf an Sie,
Herr Kollege Lamers, im Gegenteil -, sagen: Natürlich
muß man im Falle Osttimors im Zusammenhang mit der
Prävention die durchaus kritische Frage stellen, ob die
Durchführung der Volksabstimmung nicht auch zu der
Erwägung hätte führen sollen, daß diese Volksabstimmung ein bestimmtes Ergebnis mit entsprechenden Reaktionen haben könnte. Sie wissen alle, wie schwierig es
ist, ein Land wie Indonesien dazu zu bewegen, gewissermaßen präventiv Sicherheitsmöglichkeiten für den
Fall zu schaffen, daß es zu einem Ausbruch von Gewalt
kommt - aus vielerlei Gründen, die ich jetzt nicht darstellen kann. Wir werden uns allerdings für die Zukunft
überlegen müssen, ob die Prävention nicht auch einschließen müßte, daß man solche Dinge vorher etwas
genauer durchdenkt und dann auch die entsprechenden
Vorbereitungen trifft.
Nach der Entscheidung über die Unabhängigkeit und
nach der Entwicklung dort besteht jetzt Handlungsbedarf. Es ist durchaus ein Fortschritt, daß sich die indonesische Regierung mit dazu verpflichtet hat, die Sicherheit und Unversehrtheit der Menschen in Osttimor zu
gewährleisten, und sogar selbst um die Resolution nach
Kapitel VII des Weltsicherheitsrates gebeten hat. Der
Kollege Fischer hat dazu einiges gesagt, was ich ausdrücklich unterstreiche.
Jedenfalls ist der Einsatz dieser internationalen Friedenstruppe die wesentliche Voraussetzung dafür, daß die
Entscheidung über die Unabhängigkeit Osttimors, die
Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge und der
Wiederaufbau des Landes praktisch umgesetzt werden
können. Der Einsatz ist bedauerlich, aber wir haben in
den letzten Monaten in Europa und im übrigen in der
internationalen Politik häufiger leider die Erfahrung gemacht, daß man oft genug nur noch mit diesem letzten,
nämlich einem militärischen Mittel, die Voraussetzung
dafür schaffen kann, daß die friedliche Entwicklung in
Gang gesetzt wird. Ich wage mir nicht vorzustellen, was
in Osttimor los wäre, wenn es zu dieser Bereitschaft Indonesiens, zu dieser Entscheidung des Weltsicherheitsrates, zu dieser Stationierung, zu diesem Engagement
von Interfet nicht gekommen wäre.
Insofern war die Verabschiedung der Resolution 1264
nicht nur ein Zeichen für die Geschlossenheit des Weltsicherheitsrates, sondern sie ist auch vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen im Kosovo von Bedeutung.
Es liegt im deutschen Interesse, die Vereinten Nationen
und beispielsweise auch die OSZE oder die Europäische
Union zu stärken.
({1})
Die Stärkung internationaler Organisationen und ihrer
Möglichkeiten ist wohlverstandenes eigenes Interesse
der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Wenn das so ist, dann darf niemandem in Deutschland
daran gelegen sein, daß fehlende Unterstützung diese
Erkenntnis zur bloßen Rhetorik herabmindert. Vielmehr
muß man dann grundsätzlich bereit sein, nicht nur in
Worten, sondern auch durch konkrete Beiträge die Stärkung internationaler Organisationen zu betreiben und
ihre Möglichkeiten zu raschem Handeln gerade in krisenhaften Situationen zu verbessern.
Das hat dazu geführt, daß diese Bundesregierung entschieden hat, bei den Vereinten Nationen Fähigkeiten im
Rahmen der sogenannten Stand-by-Arrangements anzumelden.
({3})
Dazu gehört übrigens auch die Fähigkeit zur sanitätsdienstlichen Unterstützung. Das hilft den Vereinten
Nationen, eine bessere Planungsgrundlage zu haben, es
hilft, ihre Möglichkeiten zur schnellen Reaktion zu verbessern, und es stärkt die Handlungsfähigkeit des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Gerade wenn wir in
den internationalen Organisationen stärker auf Prävention setzen, wenn wir dafür argumentieren und andere
davon überzeugen wollen, dann wäre es höchst eigenartig, wenn wir angesichts der Ereignisse in Osttimor bei
einer solchen Anfrage sagten, daß wir dafür nicht zur
Verfügung stehen.
Unsere Beteiligung in Osttimor untermauert also unsere Bereitschaft, den Vereinten Nationen praktisch zu
helfen und ihre Fähigkeiten zu verbessern, genauso wie
umgekehrt die Verweigerung einer Beteiligung unsere
grundsätzliche Bereitschaft in Zweifel gezogen hätte.
Das muß man nüchtern abwägen.
Vor diesem Hintergrund kommt noch ein anderer
Gedanke hinzu: Deutschland steht in internationaler und
europäischer Solidarität, wenn es um Stabilität und
Sicherheit sowie darum geht, humanitäre Katastrophen
zu verhindern. Diesen Gedanken füge ich an, weil sich
nicht nur aus der Region sehr viele Staaten mit etwa
8 000 Menschen an Interfet beteiligen, sondern beispielsweise auch Brasilien und Argentinien, wie Sie
wissen, die USA und Kanada sowie eine größere Zahl
von Staaten aus Europa, so wie umgekehrt Staaten von
außerhalb Europas auf dem Balkan - in BosnienHerzegowina wie auch im Kosovo - beteiligt sind. Es
bekäme den Europäern vermutlich sehr schlecht, wenn
sie einerseits die Unterstützung außereuropäischer Staaten in einem solchen europäischen Engagement akzeptieren und begrüßen, sich andererseits aber außerhalb
Europas nicht engagieren wollten, ganz abgesehen davon, daß dann die Frage auftauchte, wie wir selbst in
Deutschland es mit europäischer Zusammenarbeit halten, wenn sich Frankreich, Großbritannien, Portugal,
Italien, Finnland und andere Länder mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten an Interfet beteiligen.
Wenn man über diese Grundsätze Einigkeit hergestellt hat, dann kann man die Frage stellen, ob die Entsendung von zwei Medevac-Transall hilfreich und
nützlich ist. Die Fact-finding-Gruppe hat herausgefunden, daß es mehrere Optionen gibt. Australien als die
„lead nation“, die in der Verantwortung der Vereinten
Nationen die Führung übernommen hat, hatte ursprünglich die Idee entwickelt, wir sollten, wie es Kollege
Neumann für andere Staaten geschildert hat, ein Zeltlazarett zur Verfügung stellen, was nicht nur bedeutet
hätte, auf die letzte Notfallreserve in Deutschland zu
verzichten, sondern auch erfordert hätte, etwa
400 Menschen nach Osttimor zu schicken. Das ist aus
mehreren Gründen - nicht aus prinzipiellen Überlegungen, sondern aus sehr praktischen Gründen - zur Zeit
nicht möglich. Es hat also eine Abwägung von Möglichkeiten und Fähigkeiten auf der Grundlage der prinzipiellen Bereitschaft zu helfen stattgefunden.
Genauso richtig ist aber, daß bei der Erörterung der
verschiedenen Möglichkeiten Australien ausdrücklich
gewünscht hat, daß die Transportkapazität, über die wir
heute reden, zur Verfügung gestellt wird. Ich kann noch
gar nicht sagen, in welchem Umfang sie beansprucht
wird. Aber wir werden das einzige Land sein, das diese
spezielle Fähigkeit zur Verfügung stellt. Das macht es in
meinen Augen gut vertretbar, diesem Wunsch Australiens nachzukommen.
Im übrigen kann es dem Deutschen Bundestag nicht
neu sein, daß sich die Bundesrepublik Deutschland in
dieser Weise engagiert. Wenn man sagt, der Anspruch
der Menschenrechte sei universell, wenn man hinzufügt,
daß die Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung für einzelne Staaten wie für die Staatengemeinschaft begrenzt
sind, wenn man dann noch in Rechnung stellt, daß sich
Deutschland an verschiedenen friedenserhaltenden
Maßnahmen beteiligt - in Bosnien-Herzegowina, im
Kosovo, aber auch in Georgien, wie wir wissen -, dann
wird schon aus dieser Erwägung, Herr Kollege Hirche,
deutlich, daß es hier nicht um einen Automatismus geht.
Es geht übrigens auch um weniger, als der Deutsche
Bundestag in den Jahren 1992 und 1993 in bezug auf
Kambodscha erörtert hat. In dieser Zeit waren wir - in
der Verantwortung der heutigen Opposition, der damaligen Regierungsparteien - mit einem wesentlich stärkeren Sanitätskontingent in Kambodscha. Wir waren dort
nicht wie jetzt im Falle Osttimor außerhalb des konfliktbeladenen Landes stationiert, sondern unmittelbar in
Kambodscha. Der damalige Verteidigungsminister hat
in einem sehr konkreten Fall, wie Sie beispielsweise
dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom 17. Juni
1993 entnehmen können, deutsche Sanitätssoldaten zum
Schutz französischer Soldaten aus Phnom Penh heraus
ins Land geschickt und hier vor dem Deutschen Bundestag ausdrücklich eingeräumt, das sei eine gefährliche
Sache gewesen.
Ich schildere das, um dem Eindruck entgegenzuwirken, für die Bundesrepublik Deutschland sei ein solches
Engagement außerhalb Europas in einer von Mord,
Vertreibung und schrecklichen Greueltaten geprägten
Region etwas wirklich Neues. Das war, wie gesagt,
schon 1992/93 aus, wie ich denke, guten Überlegungen
heraus der Fall.
Ich habe von Anfang an sehr deutlich gesagt: Der
Beitrag der Bundesrepublik Deutschland muß von der
„lead nation“ gewünscht sein; das ist der Fall. Er muß
für die Bundesrepublik Deutschland zu leisten sein; das
ist der Fall, wenn auch unter gewissen Schwierigkeiten. Er muß vorübergehend sein; denn anders als
vorübergehend sind jedenfalls zur Zeit solche Einsätze
nicht möglich. Das ergibt sich nicht nur aus den Kosten. Das will ich Ihnen deutlich machen; mich wundert diese Argumentation ein bißchen. Kosten allein
können es nicht sein; in diesem Fall sind es auch die
der Bundeswehr zur Verfügung stehenden Fähigkeiten,
die das begrenzen.
Ich habe in meiner Fraktion genauso deutlich gesagt,
wie ich es hier im Deutschen Bundestag sage, daß es mir
angesichts der Situation der Bundeswehr und angesichts
der Frage, wie man ein solches Engagement gestaltet,
durchaus lieber wäre, wenn es eine zivile Nichtregierungsorganisation gäbe, die in sehr kurzer Zeit dieselbe
Leistung mit denselben Fähigkeiten erbringen könnte.
Das ist leider nicht der Fall. Wir werden uns in Zukunft
noch einmal darüber unterhalten müssen, ob wir in
Deutschland nicht die Verpflichtung haben, die Fähigkeit von Nichtregierungsorganisationen zur Teilnahme
an Maßnahmen der Prävention und des internationalen
Engagements zu verbessern, wenn ihr Schutz gewährleistet werden kann.
({4})
Ich will jetzt nichts zu den Einzelheiten des Haushalts
sagen, Sie aber doch darauf aufmerksam machen - ich
habe dazu einiges gelesen -, daß sich aus einer verfassungsrechtlichen Erwägung ergibt, daß das Notbewilligungsrecht des Bundesfinanzministers begrenzt ist und
nicht mehr ausgeübt werden kann, wenn ein Titel im
Haushalt zur Verfügung steht, an den man anknüpfen
kann. Daraus kann man keine weiterreichenden Schlußfolgerungen ziehen, schon gar nicht mit Blick auf den
Antrag der Bundesregierung, der ausdrücklich sagt, daß
im Fall der Erschöpfung der Mittel, die im Einzelplan 14
stehen, entsprechende Mittel zugeführt werden.
({5})
Die rechtlichen Gründe dafür sind ebenso zwingend,
wie die tatsächlichen Umstände klar sind, Herr Kollege
Breuer. Denn von den Mitteln, die dort eingesetzt waren,
waren - der Kollege Hirche hat die Zahlen etwas übertrieben ({6})
bis Ende September 1999 nach den Feststellungen des
Bundesministeriums der Verteidigung schon 279 Millionen DM ausgegeben, was bedeutet, daß 229 Millionen DM aus dem Einzelplan 14 erwirtschaftet werden
sollten.
({7})
Insgesamt komme ich zu dem Ergebnis: Das ist ein
leistbarer, von der „lead nation“ für notwendig erachteter, im Interesse der internationalen Glaubwürdigkeit
und Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland vernünftiger Beitrag, der in wahrscheinlich eher
kürzerer als längerer Zeit geleistet wird und aus dem
sich weder dem Grundsatz noch der Form nach ein
Automatismus für künftiges Engagement ergibt.
({8})
Als nächster Redner
spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Paul
Breuer.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU
stimmt dem Einsatz der Bundeswehr in Australien bzw.
Osttimor, so wie er in der Vorlage der Bundesregierung
beschrieben ist, zu.
Aber wie es schon Herr Kollege Karl Lamers hat anklingen lassen, möchte ich noch einmal betonen, daß es
in unserer Fraktion nicht unerhebliche Bedenken gegeben hat, die auch von anderen Fraktionen hier betont
worden sind. Ich will sie noch einmal verdeutlichen:
Einerseits wird zwar festgestellt, daß wir uns gegen
Menschenrechtsverletzungen, egal, wo auf dieser Welt
sie eintreten, entschieden wehren müssen; andererseits
müssen wir aber auch erkennen, daß unsere Kraft nicht
ausreichen kann, sie überall hinreichend bekämpfen zu
können. Viele Kollegen haben sich gefragt: Wo ist in
diesem Zusammenhang unsere Verantwortung, wenn
wir auf der anderen Seite des Globus in Osttimor einen
militärischen Beitrag leisten?
Es ist richtig: Eine Chance, den Frieden in dieser
Welt und die Einhaltung der Menschenrechte aufrechtzuerhalten, haben wir nur, wenn wir internationale Organisationen, insbesondere die UNO, stärken und nach
dem Prinzip der regionalen Subsidiarität, der Verantwortung der Nationen in der Region, vorgehen. Gerade
da, denke ich, gibt es eine besondere Verantwortung für
uns; denn wir müssen feststellen, daß sich Australien
dieser Verantwortung in der Region stellt, obwohl sich
das viele australische Politiker noch vor wenigen Monaten gar nicht vorstellen konnten. Sie nehmen diese regionale Verantwortung wahr. Wenn insbesondere wir
Europäer die regionale Subsidiarität stärken wollen, ist
es notwendig, daß wir Australien bei dieser für diese
Nation nicht leichten Aufgabe entsprechend unterstützen. Daher ist es auch für uns Deutsche - gerade aus
europäischer Interessenlage - notwendig, bei dieser abwägenden Entscheidung unterstützend zu wirken.
Aber viele Kollegen - ich will das noch einmal sagen,
Herr Minister Fischer - haben sich durch den Schlamassel, den Sie angerichtet haben - das ist beim Kollegen
Hirche und auch beim Kollegen Lamers angeklungen -,
natürlich sehr beschwert gefühlt. Wer sich derart, ohne
mit dem Parlament ein Wort zu reden, gegenüber der
Weltöffentlichkeit festlegt, der muß in Kauf nehmen,
daß sich viele Kollegen in diesem Hause beschwert
fühlen, eine freie Entscheidung zu treffen.
({0})
Sie haben das ja auch innerhalb der Regierung - das
ist ganz offensichtlich geworden - nicht hinreichend abgestimmt. Der Schlamassel ist natürlich durch die Art
und Weise, wie das im Kabinett behandelt wurde - dort
blieb es in der vergangenen Woche hängen -, noch verstärkt worden. Einmal hieß es: Es muß erst mit den
Fraktionen gesprochen werden. Das fiel Ihnen sehr früh
ein. Zum anderen hieß es, die Finanzierung sei nicht gesichert; Minister Scharping habe sich geweigert, diesen
Einsatz aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen. Da hat
er recht. Es ist unmöglich, auch dies noch aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen.
({1})
Es kann doch nicht angehen, daß diese Regierung den
Verteidigungsetat in den kommenden vier Jahren um
18,6, also fast 20 Milliarden DM schmälern will, damit
die Bundeswehr regelrecht an die Wand fährt, und ihr
auf der anderen Seite immer mehr Aufgaben zukommen
läßt.
({2})
Nun glaubt Minister Scharping, er habe jetzt die Lösung durch die Formulierung, die in Punkt 10 der Vorlage der Bundesregierung zu finden ist. Das hat er eben
vorgetragen. Er hat gesagt: Dort steht ja, daß die Gelder
zur Deckung der Kosten, die im Verteidigungsetat und
dort im Titel 547 01 nicht gedeckt sind, aus den allgemeinen Finanzmitteln zugeführt werden. Das mag auf
den ersten Blick überzeugend sein. Auf den zweiten
Blick wird sichtbar, Herr Kollege Scharping - das behaupte ich -, daß Sie bis zum jetzigen Zeitpunkt noch
gar nicht begriffen haben, wie sehr Herr Eichel Sie geleimt hat.
Ich lese Ihnen einmal vor, was im Haushaltsgesetz
1999 in diesem Titel verzeichnet ist.
({3})
Es ist zum einen klar, daß das stimmt, was der Kollege
Hirche sagte: 50 Millionen DM sind angesetzt, ausgegeBundesminister Rudolf Scharping
ben sind - das haben Sie ja selbst gesagt - über
500 Millionen DM.
({4})
Das zweite. Dort steht: Mehrausgaben dürfen bis zur
Höhe der Einsparungen bei folgenden Titeln geleistet
werden. - Das ist eine übliche Formulierung. Und dann
steht da: Einzelplan 14.
Herr Scharping, Sie haften mit Ihrem gesamten Einzelplan, mit der gesamten Bundeswehr für die Ausgaben, die hier getätigt werden müssen, und Sie haben es
bis zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht gemerkt, in welcher
Art und Weise Sie dabei über den Tisch gezogen worden
sind.
({5})
Wenn der grüne Kollege Metzger gestern gesagt hat,
daß Sie wie Robin Hood auftreten - Sie wissen, in der
Sache unterstütze ich Sie, daß die Bundeswehr mehr
Geld braucht -,
({6})
dann dürfen Sie eines nicht verkennen: Es gibt auch
noch den Sheriff von Nottingham.
({7})
In dieser Situation ist der Sheriff von Nottingham Herr
Schröder, und sein Hilfssheriff ist Herr Eichel, der Sie
hier gnadenlos über den Tisch gezogen hat.
({8})
Deshalb haben wir von der CDU/CSU einen Entschließungsantrag gestellt, in dem eindeutig steht: Es geht
nicht an, daß ein Mehr an Engagement und deutscher
Verantwortung in der Welt nur mit Mitteln des Einzelplans 14 getragen wird, und dies vor allen Dingen deswegen nicht, weil dieser Einzelplan 14 durch das Spardiktat
der rotgrünen Regierung so nach unten und gegen die
Wand gefahren werden soll, wie das geplant ist.
Ich bedanke mich.
({9})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Werner Hoyer
von der F.D.P.
Ich bedanke mich bei
Paul Breuer dafür, daß er die Zahlen schon etwas in das
rechte Licht gerückt hat. Sie, Herr Minister, haben dem
Kollegen Hirche vorgeworfen, er habe übertrieben. Im
Einzelplan 547 01, des Haushalts sind 50 Millionen DM
etatisiert. Ausgaben per 18. August 1999: 458 561 000
DM.
({0})
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention erhält der Kollege Helmut
Wieczorek, SPD-Fraktion.
Herr Kollege
Breuer, die zutreffenden Zahlen sind eben genannt worden. Die 500 Millionen DM, die hier angefallen sind,
sind die Folge der Fehlfinanzierung der Auslandseinsätze der letzten Regierung.
({0})
Herr Kollege Breuer, Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß wir in diesem Hause vier Jahre lang versucht
haben, mit Ihnen eine Lösung zu finden und eine Etatisierung der Auslandseinsätze zu erreichen. Dem haben
Sie sich stets entzogen und haben immer diese
50 Millionen DM im Einzelplan 14 als den Ansatz für
die Auslandseinsätze genommen. Sie haben seinerzeit
im Haushaltsausschuß immer wieder behauptet: Wenn
wir dort mehr ansetzen, dann geben die auch mehr aus.
Das war Ihre Linie, und so sehen auch die Finanzen aus,
die Sie uns hinterlassen haben.
Ich will ganz davon absehen, daß das, was Sie im
Augenblick vortragen, nicht mehr dem Kenntnisstand
entspricht, den Sie haben. Ich habe mir gestern erlaubt,
Ihnen eine Seminarstunde über Haushaltsrecht und das,
was damit zusammenhängt, zu geben.
({1})
Es tut mir leid, daß Sie das immer noch nicht verstanden
haben. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob das im
Einzelplan 14 steht. Vielmehr kommt es nur auf eine
ganz kleine Textziffer an, nämlich daß der Finanzminister an dieser Stelle einen Nachschuß ermöglicht, und
zwar außerhalb des Einzelplans 14.
Herr Kollege Breuer, das haben Sie doch gestern beschlossen. Ich gebe zwar zu, daß es etwas spät war, aber
für Sie sicherlich nicht zu spät.
({2})
Ich gebe das Wort
dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Ergänzung dessen, was der Kollege Wieczorek gesagt hat:
Herr Kollege Hirche, Sie beziehen sich auf den EinzelPaul Breuer
plan 14 und nennen die Zahl von 461,6 Millionen DM.
Sie sollten hinzufügen, daß Ihnen diese Zahl als Ausgabeprognose zum 31. Dezember 1999 zugeleitet worden
ist, nicht als bisherige Ausgabe. Sie sollten weiterhin
hinzufügen, daß Ihnen diese Prognose am 7. Juni 1999
vorgelegen hat. Deswegen sage ich Ihnen: Die Ist-Zahl
- darauf habe ich mich bezogen - Ende September 1999
war 279 Millionen DM. Daraus ergibt sich die Prognose,
daß wir bis zum Jahresende in diesem Titel, der mit
50 Millionen DM dotiert ist, weitere 116 Millionen DM
aus dem Einzelplan 14 erwirtschaften müssen.
Damit liegen wir unter der Prognose vom Juni 1999.
Das hat einen sehr einfachen Grund: Wir haben uns über
Personalreduzierungen, über Rationalisierungen in der
Logistik usw. bemüht, soviel wie möglich einzusparen,
um nicht durch Ausgaben in Bosnien im Jahr 1999 für
die übrigen Aufgaben der Bundeswehr mehr Geld entziehen zu müssen, als unbedingt erforderlich ist. Sie dagegen haben den Fehler gemacht, 50 Millionen DM bereitzustellen, im Wissen darum, daß man ein Mehrfaches
des Betrages erwirtschaften muß.
Insofern kehrt sich das doppelt um, was Sie hier gesagt haben. Ich erkenne darin den einfachen Versuch,
aus den Komplikationen, mit denen man im Haushalt
immer zu tun hat, ganz billiges parteipolitisches Kapital
zu schlagen. Das sollten Sie besser lassen.
({0})
Es geht mit den
Kurzinterventionen weiter, aber ich bitte doch, darauf zu
achten, daß gleich die Reihenfolge der Redner wiederhergestellt wird.
Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Walter Hirche,
F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Scharping, ich hatte einfach nur auf die Seite 29 Ihres Haushalts verwiesen und
die Zahlen daraus, die mir schriftlich zugegangen sind,
vorgelesen. Nach dem Beitrag des Kollegen Wieczorek
stelle ich fest, daß Sie trotz dieser Haushaltsentwicklung
für das Jahr 2000 auch nur 50 Millionen DM vorsehen.
Ich bringe darüber mein Bedauern zum Ausdruck und
möchte dazu beitragen, daß wir im Bundestag gemeinsam an dieser Stelle in den laufenden Beratungen eine
realistische Zahl einsetzen.
({0})
Nun spricht für das
Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Helmut Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch meine
Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Aber auch wir machen für uns geltend, daß wir
mindestens so reiflich, mindestens so umfangreich wie
Sie beraten haben.
Herr Kollege Neumann, bevor ich auf die einzelnen
Punkte eingehe, sage ich vorweg, gerade weil Sie zum
Schluß auf das Grundproblem zu sprechen gekommen
sind: Mit dem Grundproblem ist in den letzten 14 Tagen
in unterschiedlicher Weise aus den verschiedensten
Ecken Politik gemacht worden. Oft habe ich nicht verstanden, was hinter der Politik stand, ob das parteipolitisch bedingt war, ob das persönlich bedingt war oder ob
das besserwisserisch war.
Ich spreche jetzt über das Grundproblem.
({0})
Ich erwähne das nochmals, weil von Ihrer Seite hier
vielfach angesprochen worden ist, was der Bundesminister in New York gesagt hat. In seiner Rede - ich habe
sie, und zwar aus ganz anderen Gründen als Sie, zweimal gelesen - hat er, wenn ich das richtig verstanden
habe, in allgemeiner Weise die Unterstützung Deutschlands für die UNO absolut klargemacht. In welcher
Form, in welcher Weise diese Unterstützung an diesem
speziellen Punkt geleistet wird, darüber, so denke ich,
diskutieren wir hier; darüber war in New York überhaupt nicht zu diskutieren.
Jetzt zum Hauptproblem: Wir hatten, auch unter uns,
folgende Bedenken: Erstens. Es darf keinen Folgezwang
und keinen Automatismus geben. Es darf nicht sein, daß
derjenige, der KFOR sagt, hinterher auch Interfet sagen
muß. Zweitens. Natürlich sind Konflikte in fernen Teilen der Welt dort zu regeln und nicht unbedingt von
Europa aus; das ist ganz klar. Drittens. Es stellt sich die
Frage, ob wir nicht mit ganz anderen Mitteln der bedrängten Bevölkerung helfen könnten als durch eine
Beteiligung an einer militärischen Operation.
Gegen diese Bedenken spricht folgendes ganz klar:
Erstens. Es gibt kein „entweder oder“ in der Frage deutscher Beteiligung. Das BMZ hat mit 4,4 Millionen DM,
das Auswärtige Amt hat im Rahmen der humanitären
Hilfe mit 1 Million DM sofort geholfen. Beides muß also nicht gegeneinander stehen. Zweitens. Wir wollen eine fallweise Betrachtung und eine unvoreingenommene
Entscheidungsbildung zu jeder internationalen Krise.
Was aber ergibt die fallweise Betrachtung in diesem
Fall? Wir haben es in Osttimor mit einer genozidalen
Vertreibungsaktion mit mindestens derselben Dimension
wie im Kosovo und mit einer Strafaktion gegen das UNReferendum zu tun gehabt; das muß immer wieder gesagt werden.
({1})
Wir haben in politischer und anderer Form die sofortige politische Intervention beim indonesischen Staatsoberhaupt gefordert; wir haben eine UN-Resolution gefordert; wir haben auf eine baldige Landung australischer und asiatischer Truppen gehofft. - Wir haben
darauf gedrängt und haben mit Freude die Zustimmung
des indonesischen Staatsoberhauptes zur UN-Resolution begrüßt.
Um die Deportationen und Massaker zu stoppen, hat
es auf der klaren Grundlage einer Resolution des UNSicherheitsrates eine Intervention unter australischer
Führung gegeben. Dieser haben sich neben regionalen
Truppenstellern wie den Philippinen, Malaysia und Neuseeland auch Portugal - mit 1 000 Soldaten -, Schweden, Norwegen, Frankreich, England und Italien - mit
600 Soldaten, davon 200 Fallschirmjäger, mit amphibischen Einheiten und mit Fregatte - angeschlossen. Gemessen daran ist die Absicherung der medizinischen
Versorgung von Schwerverwundeten, die sinnvollerweise ausgeflogen werden müssen, durch Deutschland ein
angemessener und notwendiger Beitrag.
({2})
Es ist ein Beitrag, der seinem Charakter nach hoffentlich
nie in Anspruch genommen wird, für den aber trotzdem
für den Fall ernsthafter Kämpfe Vorsorge getroffen werden muß. Lieber junger Kollege, dies ist doch mit Interfet abgestimmt. Es geht nicht, daß die Interfet erst warten muß, bis dort Ruhe geschaffen ist und man sich die
Meinung bilden kann, daß man auch anders handeln
könnte. Da dies eine abgestimmte Aktion mit verschiedenen Truppenstellern ist, erledigt sich das alles.
Wir begrüßen einen solchen Beitrag zur Interfet, weil
er für die UN wichtig ist, weil er die gemeinsame europäische Außenpolitik stärkt, und vor allem, weil er einen
Beitrag zur Verhinderung von Vertreibung und Völkermord leistet.
Der Kollege Lamers, der Kollege Breuer und der
Kollege Hirche hatten die Finanzfragen angesprochen.
Dazu möchte ich nur soviel sagen: Meines Erachtens ist
der Haushalt 14 in den ganzen letzten Jahren durch
einen Verteidigungsminister besser geschützt gewesen
als beispielsweise der Haushalt 05 oder gar der Haushalt
60, der die allgemeine Finanzwirtschaft betrifft. Das
Problem, vor dem wir stehen, liegt im Einzelplan
60. Durch die allgemeine Misere und die allgemeine
Schuldenwirtschaft wurde die Regierung gezwungen,
einen Sparplan aufzustellen. Jetzt kommen Sie und zählen, wie wir eine jede Erbse zu verwenden hätten. Das
ist Unsinn.
Abschließend zwei politische Bemerkungen:
Erstens. Es ist immer noch ein weitgehend menschenleeres Land, das von Interfet beschützt wird. Mehr
als ein Drittel der Bevölkerung ist deportiert, und wir
alle müssen dringend auf deren Rückkehr drängen.
({3})
Zweitens. Ein souveränes Osttimor bedarf eines
demokratischen Indonesiens. Wir müssen die demokratische Entwicklung in Indonesien fördern. Wir müssen
einem solchen Land aber auch in finanzpolitischen Krisen stärker beistehen. Dies geschieht gerade nicht nicht
durch Rüstungslieferungen für das Militär. Ich denke
dabei an die U-Boote, die in früheren Jahren geliefert
wurden. Wenn ich es richtig sehe, sind in den letzten
14 Jahren 10 Milliarden DM herübergeflossen. Es geht
vielmehr um den Export von Stabilität durch Unterstützung der Demokraten in Indonesien.
({4})
Nun hat der Kollege
Dr. Wolfgang Bötsch für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Lippelt, ich verstehe Ihre Erregung bei Ihren Eingangsworten. Sie haben natürlich Anlaß gehabt, das Verhalten
des Bundesaußenministers bei der UNO zu verteidigen;
er gehört ja zu Ihrer Fraktion.
({0})
Ich hatte einen ganz anderen Einstieg vor: Ich wollte
ihn dafür mit der mir sicherlich zur Verfügung stehenden Wortwahl - jedenfalls unterhalb der Rügensgrenze
des Präsidenten - erheblich kritisieren. Ich werde das
nicht tun,
({1})
denn ich glaube, der Kollege Neumann hat das Nötige
dazu gesagt, und ich möchte die Kritik aus den eigenen
Koalitionsreihen so stehenlassen. Ich glaube, daß sie
dann besser wirkt. Sonst kommt man leicht in den Verdacht, es rein parteipolitisch gemeint zu haben.
({2})
Da es aber aus der Koalition gekommen ist, sollten Sie
es vielleicht auch ernster nehmen.
({3})
Ich habe mich nur nach dem Motiv gefragt, warum
sich der Herr Bundesaußenminister bei der UNO so
stark festgelegt hat. Sollte das ein Blick oder eine Flucht
zurück nur zum UN-Mandat sein?
({4})
Ich will das nach der Kosovo-Entscheidung, wo er seine
Schwierigkeiten in den eigenen Reihen hatte, hier nur
andeuten.
Meine Damen und Herren, wir behalten uns vor, in
Zukunft jede Entscheidung auch im Einzelfall zu überprüfen, gleichgültig, von wem das Mandat kommt.
({5})
Der Bundesverteidigungsminister hat gesagt, es gebe
keinen Automatismus. Dem stimme ich ausdrücklich zu.
Ich will ergänzen: Die Entscheidung, die wir heute zu
treffen haben, hat auch keine präjudizielle Wirkung.
Was die Haushaltsfragen anbelangt, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, spielt die Regierung etwas Ball paradox.
({6})
Denn ihr Verantwortungsgefühl für die Notwendigkeit,
genügend Haushaltsmittel für die Bundeswehr und ihre
Soldaten bereitzustellen, ist doch umgekehrt proportional zu ihrer Großzügigkeit, der Bundeswehr neue Einsätze zu verschreiben oder - wie es der Verteidigungsminister heute bezeichnet hat - ihre Fähigkeiten anzumelden. Das war ein neuer Begriff, den wir heute gehört
haben.
Ich will auf die Einzelheiten dieser Haushaltsproblematik nicht mehr eingehen. Herr Scharping muß sich nur
fragen lassen, warum er noch letzte Woche gesagt hat,
die Finanzierung solle nicht aus dem Einzelplan 14 erfolgen. Die Damen und Herren, die nicht dem Haushaltsausschuß angehören, müssen sich doch fragen lassen, warum der Haushaltsausschuß eigentlich diesen Beschluß gefaßt hat, daß der Rechnungshof die Finanzierung solcher Einsätze überprüfen soll.
({7})
- Mit den Stimmen der Koalition, sonst gäbe es ja keine
Mehrheit.
Meine Damen und Herren, das sind zweifellos Managementfehler. Trotzdem: Die Mehrheit meiner Fraktion
und auch ich werden dem Antrag der Bundesregierung
aus sachlichen Gründen zustimmen.
({8})
Wir haben ein Jahrhundert hinter uns, das gezeichnet
ist von Kriegen, von Vertreibung, von Genozid, von
Massenvernichtung jeder Art. Eine Chance, dann Hilfe
zu geben, um Auswüchse solcher Maßnahmen zu verhindern, dürfen wir nicht vorbeigehen lassen.
({9})
Meine Damen und Herren, wir Europäer und auch
wir Deutsche dürfen uns in diesem Fall der Verantwortung nicht entziehen.
({10})
Die Geschichte Osttimors wird den meisten, die sich
damit beschäftigt haben, bekannt sein. Vielleicht könnte
der eine oder andere fragen: Was haben wir Deutsche
damit zu tun? Das ist nicht unsere Kolonialgeschichte.
Das ist im Ablauf der Ereignisse sicherlich richtig.
Nur, meine Damen und Herren, wenn wir europäische
Außenpolitik für die Zukunft haben wollen, wenn wir
sie mitgestalten wollen, dann müssen wir auch gesamteuropäische Verantwortung mit übernehmen,
({11})
insbesondere dann, wenn sie jetzt in diesem doch relativ
kleinen Ausmaß von uns verlangt wird.
({12})
Wenn diese gesamteuropäische Verantwortung im
Konsens mit vielen Ländern, insbesondere solchen aus
der Region um Osttimor, wahrgenommen wird, dann, so
glaube ich, gibt es gute Gründe, daß wir uns dieser Verantwortung nicht entziehen. Ich bitte deshalb auch diejenigen insbesondere aus unseren Reihen, die aus wohlerwogenen Gründen das Management der Regierung
kritisiert haben - ich gehöre dazu -, sich dieser Verantwortung trotzdem nicht zu entziehen und diesem Antrag
zuzustimmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({13})
Ich schließe die
Aussprache.
Es liegen vier Erklärungen zur Abstimmung nach
§ 31 der Geschäftsordnung vor. Es handelt sich um
eine Erklärung des Kollegen Rudolf Bindig1), SPD-
Fraktion, eine Erklärung des Kollegen Dr. Karl A.
Lamers2) ({0}), CDU/CSU-Fraktion, eine Er-
klärung der Kollegen Christian Simmert, Hans-
Christian Ströbele, Claudia Roth, Irmingard Schewe-
Gerigk und Sylvia Voß, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN3), und eine Erklärung des Kollegen Dr. Friedbert
Pflüger und
23 weiterer Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/
CSU-Fraktion4). Diese Erklärungen werden zu Proto-
koll genommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
„Deutsche Beteiligung an dem internationalen Streit-
kräfteverband in Osttimor zur Wiederherstellung von
Sicherheit und Frieden auf der Grundlage der Resolution
des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15.
September 1999“, Drucksache 14/1754. Der Ausschuß
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1719 anzu-
nehmen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Be-
schlußempfehlung ist mit der großen Mehrheit des Hau-
ses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion, bei verein-
zelten Gegenstimmen aus den Fraktionen der
CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD und bei wenigen
Enthaltungen aus den Fraktionen der CDU/CSU und der
F.D.P. angenommen5).
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/1755. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
({1})
------------
1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Anlage 4
4) Anlage 5
5) siehe Seite 5453 C
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache
14/1770.
({2})
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie der vorherige Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/1756. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
- Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
PDS und bei zwei Enthaltungen aus der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Vereinbarte Debatte
Auswirkungen und Konsequenzen des Unfalls
in der Atomanlage in Tokaimura, Japan
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Letzten Donnerstag ereignete sich
in der japanischen Brennelementefabrik Tokaimura ein
schwerer Störfall. Es war der schwerste Unfall in einer
atomaren Anlage seit der Reaktorkatastrophe von
Tschernobyl. Bei der Handhabung von hochangereichertem Uran wurden statt 2,3 versehentlich 16 Kilogramm in einen Behälter mit Salpetersäure eingefüllt.
Dies war das Achtfache der zulässigen Menge. Auf
Grund dieses Vorganges kam es zu einer kritischen Reaktion. Mehrere Arbeiter wurden verletzt, drei von ihnen
sehr schwer.
Unser Mitgefühl gilt den Opfern dieser Katastrophe,
insbesondere jenen, die noch immer in Lebensgefahr
schweben. Ich finde, es ist eine besondere Tragik, daß
heute ausgerechnet in Japan, dem Land von Hiroshima
und Nagasaki, erneut Menschen mit dem Strahlentod
ringen.
Der Unfall von Tokaimura hat uns allen erneut vor
Augen geführt, welches menschliche, welches ökologische und auch welches finanzielle Risiko das Betreiben
von Atomanlagen mit sich bringt. Dieses Risiko beschränkt sich nicht auf die bloße Betriebssicherheit von
Reaktoren. Wir alle müssen uns die Frage stellen: Ist
eine Technik, bei deren Betreiben menschliches Versagen solch katastrophale Folgen haben kann, eine menschenadäquate Technik? Oder anders gefragt: Ist das
Restrisiko eigentlich mit dem Allgemeinwohl vereinbar?
Ich weiß, daß dieser Unfall viele Menschen sehr beunruhigt hat. Die Bundesregierung hat unmittelbar nach
Bekanntwerden des Störfalls auf umfassende Aufklärung gesetzt. Im Bundesamt für Strahlenschutz und im
Bundesumweltministerium wurden alle Informationen
zentral gesammelt. Wir haben noch in der Nacht, als
sich der Störfall ereignete, ein Bürgertelefon eingerichtet. Dieses war auch über das Wochenende in Betrieb.
Wir wollten damit eines erreichen: Wir wollten Aufklärung sicherstellen, und zwar Aufklärung - ich betone
dies - über die tatsächlichen Gefahren. Wir wollen keine
Dramatisierung, aber wir können auch keine Verharmlosung hinnehmen.
({0})
Wir haben klargestellt, daß auf Grund des Störfalls
keine Gefahr für Europa bestand. Es wurde immer wieder die Frage gestellt, ob ein solcher Unfall auch in einer
deutschen Anlage möglich sei. Ich möchte an dieser
Stelle klar darauf hinweisen: Ein solcher Unfall kann
sich bei uns weder in Lingen noch in Hanau und auch
nicht in Gronau, wo es vergleichbare Anlagen wie in
Tokaimura gibt, ereignen. In keiner deutschen Anlage
wird nämlich wie in Tokaimura mit hochangereichertem
Uran gearbeitet, das auch noch naß verarbeitet wird.
Das heißt aber nicht, daß Störfälle bei uns vollständig ausgeschlossen werden können. Deshalb habe ich
aus Anlaß dieses Unfalls darum gebeten, die in
Deutschland bestehenden vergleichbaren Anlagen überprüfen zu lassen. Die Ergebnisse dieser Prüfung sollen
bis zum 29. Oktober 1999 vorliegen. Bei Bedarf werden
diese Ergebnisse in der Reaktorsicherheits- und Strahlenschutzkommission beraten werden müssen.
Manche meinen schon vor der Prüfung zu wissen,
was dabei herauskommt. Ich habe in einer Publikation
des Deutschen Atomforums gelesen, ein Atomunfall in
deutschen Anlagen sei so gut wie ausgeschlossen. Ich
fürchte: Wenn man die Betreiber von Tokaimura vor
dem Unfall gefragt hätte, dann hätten auch sie gesagt, in
ihrer Anlage sei ein Unfall nahezu ausgeschlossen.
Ich will es einmal anders ausdrücken. Die Worte „so
gut wie“, „nahezu“ und „weitgehend ausgeschlossen“
kann man mit „Tschernobyl“, „Harrisburg“ oder „Windscale“ übersetzen.
({1})
Hinter diesen Worten verbirgt sich jenes Restrisiko, das,
wenn es eintritt, tödliche Folgen haben kann. Tokaimura
lehrt uns, daß gerade der in solchen Anlagen immer gegebene Zufall einfallsreicher als alle Sicherheitsexperten ist.
Wir sollten aber nicht mit dem Finger auf Japan zeigen. Es ist nach meiner Beobachtung immer das gleiche:
Vor einem Unfall wird betont, es gälten überall internaVizepräsident Rudolf Seiters
tionale Standards. Nach einem Unfall kehrt sich diese
Argumentation um, und es wird eilfertig betont, bei uns
gälten ganz andere Standards. Meine Damen und Herren, in aller Sachlichkeit: Das ist falsch. Für den Umgang mit angereichertem Uran gibt es eine internationale
Norm, die ISO 1709. Sie gilt bei uns wie in Japan.
Internationale Standards wurden nicht nur in Japan
nicht beachtet. Sie wissen sehr wohl, daß mit Wissen der
Betreiber von Atomanlagen in Deutschland und in
Europa weit über den Grenzwerten liegende Atommüllbehälter über Jahre hinweg hin- und hergeschickt worden sind. Ich sage all denjenigen, die heute leichtfertig
fordern, die Bundesregierung solle mal eben Transporte genehmigen, mit Nachdruck: Wir dürfen und wir
werden keine Transporte genehmigen, bei denen die internationalen Grenzwerte nicht eingehalten werden können.
({2})
Dies ist keine Verstopfungsstrategie,
({3})
sondern die Anwendung von Recht und Gesetz im Interesse der Sicherheit der Menschen.
({4})
Ich füge hinzu: Keiner, auch nicht die Betreiber, will
Transporte um ihrer selbst willen. Niemand hat ein Interesse, den Konflikt um die Atomenergie auf dem Rükken von Polizeibeamten auszutragen. Es gibt Möglichkeiten, Transporte zu vermeiden. Wir haben Angebote
gemacht, weil wir wissen, daß die Menschen solchen
Transporten nur dann zustimmen, wenn es eine verbindliche Perspektive für die Beendigung dieser hochgefährlichen Technologie gibt. An dieser Stelle sei an die Betreiber gerichtet: Es ist an der Zeit, sich auf dieses Angebot konstruktiv einzulassen.
({5})
Einen Tag vor der Katastrophe von Tokaimura bescheinigten einige hundert Professoren - einige sind
Mitglieder einer süddeutschen Reaktorsicherheitskommission - der Atomenergie Unbedenklichkeit. Die Herren entblödeten sich nicht - ich sage das in dieser Deutlichkeit -, die gesundheitlichen Risiken der Atomkraft
mit denen von Windrädern zu vergleichen. Einen Tag
später erfuhr diese professorale Leichtfertigkeit ein bitteres Dementi. Es gibt eben keine hundertprozentige Sicherheit!
Ich will in Richtung dieser Professoren sagen: Ihr
Angebot zu einem offenen Dialog habe ich zur Kenntnis
genommen. Aber ich betone: Wir sollten diese Diskussion nicht mit Argumenten führen, deren Haltbarkeitsdatum keine 48 Stunden beträgt.
({6})
Ich möchte abschließend unterstreichen: Eine Technologie, bei deren Versagen Gesundheit und Leben von
Menschen solch unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt ist,
ist mit dem Allgemeinwohl nach meiner Überzeugung
nicht zu vereinbaren. Das ist der Grund, warum wir den
Atomausstieg umsetzen werden.
({7})
Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Dr. Paul Laufs.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Nach den uns vorliegenden Informationen ist der Atomunfall in Tokaimura einer der
schwersten von den 59 weltweit seit 1945 bekannt gewordenen Kritikalitätsstörfällen, denen bisher insgesamt
neun Menschen durch Strahleneinwirkung zum Opfer
gefallen sind. In dieser japanischen Brennelementefabrik
war ohne behördliche Genehmigung mit hochangereichertem Uran gearbeitet und unglaublich fahrlässig hantiert worden.
Nach diesem Unglück richtet sich unser besorgter
Blick natürlich auf die deutschen Anlagen der Uranverarbeitung. Heute steht außer Zweifel fest: In den deutschen Anlagen in Gronau, Hanau und Lingen hätte sich
dieser Unfall nicht ereignen können, nicht nur, wie der
Minister gerade betont hat, weil dort nicht mit hochangereichertem Uran gearbeitet wird, sondern darüber hinaus auch, weil dort mindestens zwei voneinander unabhängige technische Sicherheitsvorkehrungen bestehen,
die jede für sich unabhängig von der anderen die Einhaltung der Kritikalitätssicherheit gewährleisten.
({0})
Diese Maßnahmen sind: Abwesenheit eines Neutronenmoderators, kritikalitätssichere Gefäße durch entsprechende geometrische Konfiguration, Konzentrationsund Mengenbegrenzung. In Tokaimura war laut Betriebshandbuch allein die maximale Uranmenge bei der
manuellen Handhabung begrenzt. Die vor Ort in Gronau
und Lingen beobachtete Anti-Atomkraft-Agitation, die
Unruhe in die Bevölkerung hineinträgt, hat also überhaupt keine sachliche Grundlage. Sie ist schlimm und
verantwortungslos.
({1})
Die Frage, mit der wir uns eigentlich ständig und
nach dem Vorfall in Tokaimura mit neuer Intensität beschäftigen müssen, ist die Frage nach der Sicherheitskultur in unserer technischen Zivilisation. Die technische Zivilisation breitet sich über die ganze Welt aus.
Es gibt keine andere Grundlage für eine menschenwürdige Existenz von 6 Milliarden Menschen. Es geht um
eine Sicherheitskultur, die weltweit auf ein hohes Niveau gebracht und immer weiter verbessert werden muß.
Wir wissen, es gibt keine Technik ohne Störungen und
keine Menschen, die frei von Fehlhandlungen sind. Bei
kerntechnischen Anlagen ist deshalb die Frage entscheidend, wie unvermeidliche Störungen und Fehlhandlungen abgefangen und behoben werden können, bevor
Schaden entsteht. Hierfür sind automatische und manuelle Steuerungsmechanismen, aktive technische Sicherheitsmaßnahmen und passive Schutzbarrieren sowie ein
Betriebspersonal, das durch ständiges Training auf Störungen gut vorbereitet ist, erforderlich. Je größer das
Gefahrenpotential einer Technik ist, um so umfänglicher
und vielfältiger sind die Sicherheitssysteme anzulegen.
Dieser Tage haben in der Tat, Herr Minister, 569 Professoren von deutschen wissenschaftlichen Hochschulen
in einem öffentlichen Memorandum festgestellt, daß in
Deutschland während der vergangenen Jahrzehnte
Höchstleistungen im Bereich der Weiterentwicklung nuklearer Sicherheit erbracht worden sind. Die deutschen
Anlagen sind mit hohem Milliardenaufwand nachgerüstet und verbessert worden. Wer die vierteljährlichen
Berichte der Bundesregierung über meldepflichtige Ereignisse in deutschen Atomanlagen über die Jahre verfolgt hat, sieht, daß auch hier tatsächlich große Fortschritte stattgefunden haben. Wir wünschen uns, daß
auch Minister Trittin dies zur Kenntnis nimmt.
({2})
Die deutschen Wissenschaftler haben mit keinem einzigen Wort behauptet, in ausländischen oder deutschen
Anlagen könnten keine Störfälle mehr auftreten. Sie wiesen aber ruhig und sachlich darauf hin, daß die heute für
die deutschen Anlagen vorliegenden Erkenntnisse weit
über den Kenntnisstand über nukleare Sicherheit und Entsorgungstechnik der 70er und 80er Jahre hinausgehen.
Fragen der Energieversorgung der Zukunft müssen
umfassend - auch im Hinblick auf ihre globale Nachhaltigkeit - geprüft werden. So erörtern die Professoren
auch das Klimaproblem und betrachten unter der Voraussetzung der Erfahrungen mit deutscher Sicherheitskultur und mit den in Deutschland sorgfältig beachteten
Sicherheitsstandards die gesamten Umweltauswirkungen der verschiedenen Energiesysteme. Dabei kann die
Kernenergie bemerkenswert gut bewertet werden. Die
deutschen Professoren bieten der Politik den Dialog über
diese Fragen an und fordern eine ernsthafte Neubewertung der Energiepolitik.
Minister Trittin sagt dazu - Sie haben es gerade gehört -, der Unfall in Japan sei ein bitteres Dementi der
professoralen Leichtfertigkeit.
({3})
Er und offenbar auch Sie, die Sie das vorliegende Memorandum mit Sicherheit nicht gelesen haben,
({4})
unterstellen den Wissenschaftlern, sie hätten das Sicherheitsrisiko von Windanlagen höher bewertet als das der
Kernkraftwerke. Wer das Memorandum wirklich liest,
findet darin solche Aussagen nicht und ist empört über
die verbale Infamie des Ministers.
({5})
Zur Ausstiegsideologie gehören offenbar auch die Verachtung und Schmähung der strengen, sachlichen Wissenschaft. Die beschämenden Vorgänge um die ReaktorSicherheitskommission lassen grüßen.
Meine Damen und Herren, welche Forderungen sind
aus dem Tokaimura-Unfall zu ziehen? Wir brauchen auf
nationaler und internationaler Ebene eine neue Diskussion über die technische Sicherheitskultur. Die deutsche
Wissenschaft bietet diesen Dialog an. Wir sollten ihn
annehmen. Der Wissenschaftliche Beirat für Fragen der
Globalen Umweltveränderungen hat schon vor Jahresfrist ein Gutachten über Strategien zur Bewältigung globaler Umweltrisiken vorgelegt. Wir sollten darüber intensiv diskutieren.
Rings um Deutschland werden - vielfach in unmittelbarer Grenznähe - kerntechnische Anlagen betrieben, um deren Sicherheitsstandards wir die gleiche
Sorge haben müssen wie um die der eigenen. Ohne jede Überheblichkeit können wir feststellen, daß nicht
überall der gleichen Sicherheitsphilosophie gefolgt und
die Verbesserung der Sicherheitstechnik sowie die
der Betriebsweisen als ständige, äußerst wichtige Aufgabe gesehen wird, so wie das in unserem Land der
Fall ist.
Wer aussteigt, scheidet als Ratgeber und Schrittmacher aus.
({6})
Wer aussteigt, verringert das Risiko der deutschen Bundesbürger nicht. Nicht der Ausstieg dient unserem Land,
sondern die Verbesserung der technischen Sicherheitskultur weltweit. Daran sollten wir nach Kräften mitwirken.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat nun der Kollege Horst Kubatschka.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Anteilnahme gehört den Betroffenen und ihren Angehörigen.
({0})
Ein Argument hört man immer wieder, nämlich, daß der
Ausstieg aus der Kernenergie eine Ideologie sei. Eine
Befürwortung der Kernenergie ist dann aber genauso
eine Ideologie; darauf möchte ich hinweisen.
({1})
Hätte ich vor einer Woche vor dem Deutschen Bundestag den Vorgang geschildert, daß in einer Brennelementefabrik kritische Massen mit einem Eimer - ich geDr. Paul Laufs
be zu, es war ein Stahleimer - zusammengeführt werden, hätten mich alle für verrückt erklärt. Mit Recht! Die
Gegner und ebenso die Befürworter der Kernenergie
hätten laut gelacht.
Aber das Lachen ist uns vergangen. Im Grunde genommen ist etwas Unvollstellbares passiert - und dies
nach Jahrzehnten der Kernenergienutzung. Kritische
Massen wurden zusammengeführt; eine Kettenreaktion
wurde ausgelöst, und das Ganze geschah in Japan und
nicht etwa in einem Entwicklungsland bzw. in einem
Land ohne Kernenergieerfahrung. - Herr Laufs, wenn
ich Ihre Gedanken zu Ende führe, muß ich feststellen:
Sie werden uns Japan, das dafür bekannt ist, daß es voll
auf Kernenergie setzt, wohl nicht als Berater empfehlen.
- Japan ist ein hochindustrialisiertes Land, das seine
Energieprobleme über die Atomenergie lösen will. Es ist
sozusagen das Paradies der Befürworter der Atomenergie. Japan glaubt noch an den Schnellen Brüter. Wir
haben uns längst aus der Brütertechnologie verabschiedet. Japan hat dagegen voll auf Kernenergie gesetzt
- und tut dies noch immer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab natürlich
auch eine Reaktion an der Börse. Der Kurs des Konzerns, dem der Komplex Tokaimura gehört, ist stark gefallen; daraufhin ist der Handel mit der Aktie ausgesetzt
worden. Jetzt wird es etwas sarkastisch: Es gab aber
auch gegenläufige Kursbewegungen. Die Kurse der Hersteller von Jodtabletten sind in die Höhe geschnellt. Die
Befürworter der Atomenergie könnten sagen: Das haben
wir ja schon immer gewußt. In Japan wird mit Kernenergie leichtsinnig umgegangen. Eine Reihe von Unfällen sind geschehen. Trotzdem sind nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen worden. - Dieses Argument der Befürworter habe ich aber bisher in bezug auf
Japan nicht gehört.
Der japanische Regierungssprecher hat von einem
Unfall der 50er Jahre gesprochen. Das ist richtig. In den
40er und 50er Jahren wurden des öfteren Kettenreaktionen - man spricht von 59 - ausgelöst, weil damals der
Umgang mit der Kernenergie noch nicht so eingeübt
war, weil die Verfahren fehlten und weil man im Experimentierzustand war. Aber am Ende unseres Jahrtausends, im Jahre 1999, führt ein einfacher Fehler zu einer
Kettenreaktion. Gott sei Dank ist daraus keine Katastrophe entstanden. Eine Verpuffung hätte dazu geführt. Der
Vorgang in Tokaimura bestätigt aber, daß Atomenergie
nicht beherrschbar ist. Dieser Unfall war zwar noch lokal beherrschbar; er hätte aber auch lokale Auswirkungen und unter Umständen sogar globale Auswirkungen
nach sich ziehen können.
Die Befürworter der Kernenergie sagen jetzt: Dieser
Unfall ist in Deutschland nicht vorstellbar. - Auch ich
habe das bis gestern gedacht. Aber als ich heute die
„Süddeutsche Zeitung“ aufgeschlagen und von dem Fall
des Herrn Weber gelesen habe - „Ich war von Kopf bis
Fuß voll Uran“ -, ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen. 1971 ist in Deutschland also genauso leichtsinnig
verfahren worden. Es stimmt, daß ein solcher Fehler wie
in Japan hier nicht passieren kann. Man muß aber zugeben, daß der von Arbeitern in Japan verursachte Fehler,
kritische Massen in einem Eimer zusammenzuführen,
ebenfalls nicht vorstellbar war.
Ein Blick zurück: Auch Tschernobyl und Harrisburg waren nicht vorstellbar. Es war damals nicht vorstellbar, daß in Tschernobyl das Personal Versuche am
konventionellen Teil der Anlage durchführen könnte.
Durch diese Versuche ist die Anlage außer Kontrolle geraten, und der GAU ist eingetreten. In Harrisburg war es
nicht vorstellbar, daß die geistigen Väter des Reaktors
übersehen haben, daß es bei hohen Temperaturen zu
chemischen Reaktionen kommt, die zur Knallgasbildung
führen. Das Problem der Knallgasbildung ist übrigens
nach Harrisburg in keinem der deutschen Reaktoren gelöst worden. Diese einfache chemische Reaktion wird
bereits im ersten Semester anorganische Chemie gelehrt.
Trotzdem ist sie übersehen worden.
In Japan war nicht vorstellbar, daß Arbeiter kritische
Massen in einem Eimer zusammenschütten. Dabei hatte
die Betreiberfirma schon vorher die staatlichen Vorschriften geändert, um zu schnelleren Produktionsabläufen zu kommen. Die beteiligten Arbeiter wiederum verkürzten das Verfahren, und die Kettenreaktion wurde
ausgelöst. Allen drei Fällen liegen menschliches Versagen und menschliche Fehler zugrunde.
Wir können uns eine Technik, die keinen Fehler verzeiht, nicht leisten. Bei der Atomenergienutzung passieren die unvorstellbaren Fehler. 1 000 000 Fehlermöglichkeiten werden durchgespielt. Aber der 1 000 001.
Fehler tritt ein, und die Katastrophe geschieht.
Die zwei Vorredner haben diesen Punkt schon angesprochen: Einen Tag vor dem Unglück haben mehrere
hundert Professoren aus Deutschland ein Memorandum
zum geplanten Atomenergieausstieg veröffentlicht.
Sie sind schnell von der Wirklichkeit eingeholt worden.
Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition: Wenn dieser undenkbare Unfall in Japan
nicht geschehen wäre, hätten Sie zu diesem Thema eine
Aktuelle Stunde beantragt, in der wir dieses Memorandum diskutiert hätten. Deswegen möchte ich die Chance
ergreifen, kurz darauf einzugehen.
Das Memorandum ist eine einseitige Parteinahme für
die Atomenergie. Natürlich haben deutsche Wissenschaftler das Recht, einseitig Partei zu ergreifen und ihre
Interessen zu vertreten. Das Memorandum wertet sich
aber auf zweierlei Art ab: Erstens enthält es unwissenschaftliche Unterstellungen, zweitens werden die Probleme der Atomkraft einseitig dargestellt.
({2})
Zunächst zu den unwissenschaftlichen Unterstellungen: Es ist unwahr, daß Parteitagsbeschlüsse der 70er
und 80er Jahre ohne Überprüfung vollzogen werden
sollen. Die SPD - ich nehme an: auch die Grünen setzte sich laufend mit dem Thema Kernkraft auseinander. Die Entwicklungen werden genau beobachtet und
sachgerecht und kritisch diskutiert. Durch einfaches
Zeitunglesen hätten die Herren Wissenschaftler diese
Aussage nachvollziehen können.
({3})
Durch Zeitunglesen und zum Beispiel durch das Verfolgen der Bundestagsdebatten hätte man wissen müssen:
Für die Koalition ist der Ausstieg aus der Kernenergie
ein Einstieg in eine andere Energiepolitik.
({4})
- „In welche?“ Herr Kollege, Sie haben hier im Plenum
schlicht und einfach geschlafen. Wir haben es oft genug
dargestellt.
({5})
Wir brauchen eine andere Struktur der Energieversorgung, und zwar eine dezentrale.
Die Verfasser des Memorandums schreiben auch von
Fortschritten bei der Entsorgung. Natürlich hat es da
Fortschritte gegeben, zum Beispiel die volumenmäßige
Verringerung der radioaktiven Abfälle. Aber schon beim
Transport fangen die Schwierigkeiten an. Deswegen hat
vor einem Jahr die damalige Umweltministerin Merkel
ein Transportverbot ausgesprochen. Entscheidend bei
dieser Frage ist aber, daß es weltweit kein Endlager für
hochradioaktive Abfälle gibt.
({6})
Die Wissenschaft ist sich immer noch nicht einig, welche Anforderungen an ein solches Endlager gestellt
werden sollen. Auch die Frage, in welchen Formationen
die hochradioaktiven Abfälle gelagert werden sollen, ist
nicht gelöst. Davon steht nichts im Memorandum. Das
ist einseitige Parteinahme.
({7})
Für die Verfasser und Unterzeichner des Memorandums scheint unsere wichtigste Energieart unbekannt zu
sein. Energiesparen, Energieeffizienz, rationelle Energienutzung - auch über dieses Thema verliert man kein
Wort, obwohl ungeheure Forschungsmittel dafür aufgewendet wurden. Das Thema der regenerativen Energien ist sehr einseitig unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit betrachtet worden. Die Verfasser verlieren
aber kein Wort dar über, daß für die Kernenergie Milliarden D-Mark an Subventionen benötigt wurden. Nur
über diese Subventionen war es möglich, die Kernenergie wirtschaftlich zu gestalten. Noch erstaunlicher ist,
daß das Thema „Restrisiko der Kernenergie“ völlig unerwähnt bleibt. Das Papier weist erhebliche Mängel auf.
Es ist einseitig und unseriös.
Ich möchte deswegen die Unterzeichner - nicht die
Verfasser - des Papiers auf eine Meldung des „Tagesspiegel“ vom 30. September hinweisen, wonach Herr
Professor Voß gesagt haben soll, daß die gesundheitlichen Risiken der Atomkraft nicht höher seien als die der
Windenergie. Dies ist eine unglaubliche Äußerung,
({8})
genauso unglaublich wie der Unfall in Japan. Allein diese Äußerung müßte den Unterzeichnern des Memorandums klarmachen, daß sie mißbraucht wurden. Ich fordere daher die Unterzeichner auf, sich von diesem Memorandum zu distanzieren und ihre Unterschrift zurückzuziehen. Sonst leidet ihre Glaubwürdigkeit darunter.
({9})
Für die F.D.P.Fraktion spricht nunmehr die Kollegin Birgit Homburger.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Vor einer Woche, am 30. September, hat sich in Japan ein Unglücksfall ereignet, der
in Deutschland ein ungewöhnlich starkes Echo in Politik, Presse und Öffentlichkeit gefunden hat, paßt er
doch, zumindest scheinbar, in die aktuelle Debatte über
den Atomausstieg, die bei uns geführt wird.
Bei näherem Hinsehen stellt sich das aber anders dar:
In Tokaimura wurde mit einer Technik, die in Deutschland nicht angewandt wird, nämlich dem Naßverfahren,
und einem Ausgangsmaterial, das in Deutschland weder
vorkommt noch verwendet wird, ein Verfahrensschritt
zur Herstellung von Kernreaktorbrennstäben durchgeführt. In Deutschland werden Reaktorbrennstäbe in einer
Fabrik in Lingen/Ems aus Uran mit einem Anreicherungsgrad von 3 bis maximal 5 Prozent hergestellt. In
Tokaimura dagegen wurde am vergangenen Donnerstag
Uran mit einem Anreicherungsgrad von 18,8 Prozent
U 235 eingesetzt. Man muß einfach festhalten, daß derart hoch angereicherter Kernbrennstoff in Deutschland
weder hergestellt noch eingesetzt wird.
In der japanischen Fabrik ist nun etwas passiert, was
mit menschlichem Versagen erklärt wird. Statt der erlaubten und für diesen Arbeitsgang vorgesehenen Menge von 2,3 Kilo Uranoxidpulver mit einem Anreicherungsgrad von über 18 Prozent wurden in einem Gefäß
sage und schreibe 16 bis 17 Kilo in Salpetersäure aufgelöst. Dadurch wurde, wie schon beschrieben, eine kritische Masse überschritten und in dem Gefäß eine nukleare Kettenreaktion ausgelöst.
Es ist ernüchternd und, wie ich finde, auch unerträglich, daß das Sicherheitskonzept einer solchen Fabrik
dem menschlichen Versagen eines oder mehrerer Mitarbeiter, die entweder Material oder Mengen verwechseln,
keinen technischen Sicherheitsriegel vorschiebt. Wir
können das von hier aus kritisieren; sorgfältig analysieren werden es die japanische Regierung und die Internationale Atomenergie-Organisation. Durch die Entziehung der Betriebsgenehmigung hat die japanische Regierung allerdings unmißverständlich reagiert und klargemacht, daß Sicherheitsvorschriften, die dort gelten,
nicht eingehalten wurden.
Herr Minister Trittin, ich finde es ziemlich unerträglich - das gilt auch für den Kollegen Kubatschka -, daß
Sie in Ihren Reden gleichzeitig immer das Thema
Castor-Transporte anschneiden und dieses auf ein und
dieselbe Ebene stellen.
({0})
- Doch, das haben Sie. Sie suggerieren damit, daß diese
Transporte genauso gefährlich sind. Auch wenn Sie das
nicht ausdrücklich auf eine Ebene gestellt haben, fest
steht: Das hat nichts miteinander zu tun, und wenn das
nichts miteinander zu tun hat, braucht man es hier auch
nicht zu erwähnen. Wenn man es dennoch tut, verfolgt
man damit einen bestimmten Grund.
({1})
Nach allen inzwischen vorliegenden Informationen
deutet nichts darauf hin, daß dieser Unfall zusätzliche
Erkenntnisse auf dem Gebiet der Sicherheitstechnik
vermittelt oder bei uns geltende Sicherheitskonzepte
auf den Kopf stellen wird. Der Betreiber der einzigen
vergleichbaren Anlage in Deutschland, der Brennelementefabrik in Lingen, hat jedenfalls dargelegt und auch
mit technischen Daten untermauert, daß ein Kritikalitätsunfall in seiner Anlage technisch ausgeschlossen ist, und
zwar unabhängig von menschlichem Versagen.
({2})
- Das stimmt nun nicht. Wenn Sie die Vorgänge in Japan entsprechend verfolgt hätten, Herr Kollege Kubatschka, hätten Sie mitbekommen, daß der Betreiber
der Anlage dort zugegeben hat, daß er Sicherheitsvorschriften, sogar die eigenen Sicherheitsvorschriften,
nicht eingehalten hat.
({3})
Sie können nicht unterstellen, daß das in deutschen Anlagen genauso passiert.
({4})
Wir haben hier auch eine ganz andere Überprüfungspraxis als in Japan. Das wurde im übrigen schon an der ersten Reaktion der japanischen Regierung deutlich.
Jetzt noch ein paar Worte zu der regierungsamtlichen
Publizität und dem Presseecho. Solange nicht klar war,
ob die nukleare Kettenreaktion gestoppt werden kann,
war es, trotz der großen Entfernung vom Unfallort, richtig, diese Situation zu beobachten sowie vorsorgende
und planende Maßnahmen im deutschen Umweltministerium zu ergreifen. Das war mit Sicherheit gerechtfertigt. Insofern hat sich Herr Bundesumweltminister
Trittin richtig verhalten. Ich begrüße auch, daß er sich
öffentlich - das will ich an dieser Stelle schon einmal
sagen - bis zu der heutigen Debatte im wesentlichen zurückhaltend geäußert hat. Aber gerade weil Sie sich so
zurückhaltend geäußert haben, war die Presseerklärung
unverantwortlich, die Sie abgegeben haben, nämlich die
Bevölkerung in Deutschland werde über Auswirkungen
des Unfalls, die sich in Deutschland innerhalb einer Woche oder später bemerkbar machen würden, rechtzeitig
unterrichtet.
({5})
Ihre Presserklärung ist deshalb unverantwortlich, weil
bei diesem Unfall praktisch kein radioaktives Material in
die Umwelt ausgetreten ist. Es gab keine Explosion und
keinen Brand. Die gefährliche Mischung, um die es
geht, ist in dem Behälter geblieben.
({6})
- Ja, natürlich. Entschuldigung, aber das war wirklich
ein dummer Zuruf, den Sie da gemacht haben.
({7})
Denn wenn kein radioaktives Material aus dem Behälter
austritt, kann es sich auch nicht über die Erdatmosphäre
ausbreiten.
({8})
- Entschuldigung, Sie verwechseln hier die Reaktion mit
der Strahlung. Dazwischen besteht ein großer Unterschied. Die Strahlung wird in die unmittelbare Umgebung abgegeben, aber sie kann nicht durch Wind bis
nach Deutschland getragen werden. Das ist der Unterschied, Herr Kollege.
({9})
- Das sagen Sie! Ich möchte jetzt nicht bewerten, welche naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Sie schon verbreitet haben. Diese Bewertung überlasse ich den Naturwissenschaftlern.
({10})
Von fragwürdigem politischen Stil des Umweltministers zeugt die Abrechnung mit den 570 deutschen
Wissenschaftlern, die ein Memorandum zum geplanten Kernenergieausstieg veröffentlicht haben. Thematisch haben dieses Memorandum - das habe ich darzulegen versucht - und der Unfall in Japan nichts, aber auch
gar nichts miteinander zu tun. Vielmehr sollte dieses
Memorandum sorgfältig gelesen und auch als wertvoller
Diskussionsbeitrag berücksichtigt werden,
({11})
ob es Ihnen nun paßt oder nicht, Herr Trittin.
({12})
Dieses Memorandum unter Ausnutzung von Ängsten in
der Bevölkerung als „Dokument professoraler Leichtfertigkeit“ zu bezeichnen ist ein unnötiger persönlicher
Angriff auf Menschen, die sich fachkundig, intensiv und
wie ich finde, auch differenziert mit dem Thema auseinandersetzen.
({13})
Gerade Sie, Herr Minister Trittin, der sich bereits durch
wirklich leichtfertige Äußerungen im In- und Ausland
einen Namen gemacht hat, sollten einen solchen Angriff
jedenfalls nicht starten.
({14})
Ich gebe das Wort
der Kollegin Eva-Maria Bulling-Schröter, PDSFraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tokaimura ist nur ein
vorläufiger Höhepunkt. Allein in den letzten drei Tagen
gab es Unfälle in Finnland, Südkorea und Rußland. In
Südkorea sind wiederum 22 Menschen verstrahlt worden; in Finnland trat hochexplosiver Wasserstoff aus.
Gerade in der letzten Woche habe ich wieder überrascht feststellen müssen, wie durch scheinbar simpelste
Fehler teuerste Technik einfach zu Schrott wird. Eine
125 Millionen Dollar teure NASA-Raumsonde zerschellte auf dem Mars. Sie wurde - so dürfen wir annehmen - mit vergleichbarem Sicherheitsaufwand und
vergleichbar großer Sorgfalt wie Atomkraftwerke konstruiert, die über eine aufwendige und hochgezüchtete
Sicherheitstechnik verfügen. Diese Sorgfalt hat aber
nicht verhindern können, daß den Bahnkorrekturbefehlen Rechnungen zugrunde gelegt wurden, die auf verschiedenen Maßeinheiten beruhten.
Ist das nicht verrückt? Wer ist jetzt schuld? Die Menschen, die - wie die Ingenieure und Arbeiter in Tokaimura - versagt haben, oder die Technik, die solches
Versagen zuließ? Oder vielleicht die Politik, die uns
immer wieder weismachen will, technisch seien Unfälle
dieser Art zu verhindern?
({0})
„Bei uns doch nicht“, tönt es aus vielen Lagern, „ausgeschlossen, die Sicherheitsstandards sind hier viel höher“.
Doch das glauben immer weniger Menschen; denn nun
sind es nicht mehr nur die GUS-Staaten, die im allgemeinen Wirtschaftschaos vermeintlich zum Herumschlampen neigen, wie uns die Atomlobby immer weismachen wollte. Nein, auch die Japaner mischen einmal
ein paar Kilogramm Uran zu viel in die Pampe, ausgerechnet diejenigen, die immer die winzigen Computer
und Roboter konstruieren und so tolle Autos bauen.
Schade irgendwie, darf man denn an nichts mehr glauben?
Ohne weiter lange Reden zu halten: Ein Unfall mit
unkontrollierter Kettenreaktion ist auch in jedem
deutschen Atomkraftwerk möglich, sofern die Kühlung
versagt. Die Auswirkungen eines solchen Kernschmelzunfalls in einem Atomkraftwerk überstiegen das Schadensmaß des Tokaimura-Unfalls noch bei weitem; das
dürfte klar sein.
Wenn man neueste Informationen der Internationalen
Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges zur Kenntnis
nimmt, wird deutlich, daß auch in Deutschland Unfälle
eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher werden. In
ihrem Bericht heißt es nämlich: Im Zuge des Preiskampfes der Energieversorger werden die Revisionszeiten
von Atomanlagen immer weiter gekürzt, in Neckarwestheim 2 in den letzten fünf Jahren von 33 auf 17 Tage. Bei der Prüfung der rund 20 000 Armaturen eines
Atomkraftwerkes will Siemens künftig zur sogenannten
zustandsorientierten Instandhaltung übergehen, um längere Serviceintervalle zu erreichen und seltener Überprüfungen vornehmen zu müssen. Außerdem soll bei
Armaturen und Kühlpumpen nur noch der Zustand einzelner Komponenten überprüft und von diesen auf die
übrigen geschlossen werden. Weiter heißt es in diesem
Bericht, 40 Prozent der Servicemannschaften von Siemens bestünden aus Hilfskräften, die die Firma zunehmend in Zehnstundenschichten der Strahlenbelastung
aussetze. Sie wechselten unter anderem Steuerelemente
aus, die im Notfall den Reaktor abschalten sollen.
Da wundert es natürlich nicht, daß keine private Versicherungsgesellschaft heute bereit ist, ein Atomkraftwerk gegen einen Unfall zu versichern. Ich glaube, auch
die hier erschienenen Vertreter der Bundesregierung
werden keine Garantie dafür abgeben, daß ein Kritikalitätsunfall wie in Tokaimura in britischen oder französischen Wiederaufarbeitungsanlagen technisch ausgeschlossen ist. Dennoch weigert sich die Bundesregierung
bisher beharrlich, ein Verbot der Wiederaufarbeitung
gesetzlich zu regeln.
({1})
Selbst wenn rein theoretisch ein GAU ausgeschlossen wäre, bliebe noch das Problem der Entsorgung.
Doch schon der Begriff ist fraglich; denn das strahlende Material läßt sich nicht einfach beseitigen. Es
braucht Hunderttausende von Jahren, bis die radioaktiven Brennstäbe oder der Abfall von Wiederaufarbeitungsanlagen zu harmloseren Elementen zerfallen ist
- „Zeit genug für eine Reihe von Eiszeiten, die Oberfläche der Erde ordentlich umzupflügen“, wie die
„Taz“ einmal schrieb.
Meine Kolleginnen und Kollegen, fassen wir Harrisburg, Tschernobyl und Tokaimura zusammen, so bleibt
die Gewißheit: Nach dem GAU ist vor dem GAU. Die
Konsequenz, die zu ziehen ist, muß lauten: Nur der
schnellstmögliche Ausstieg kann solche Katastrophen
ausschließen. „Schnellstmöglich“ heißt für uns: nicht
25 Jahre, sondern maximal 5 Jahre.
({2})
Wir haben dazu eine Änderung des Atomgesetzes beantragt. Die Debatte dazu wird zufällig heute stattfinden, allerdings wieder einmal - logisch, es ist ein
PDS-Tagesordnungspunkt - erst am späten Abend,
wenn die Medien alle schon eingepackt haben. Das ist
sehr schade. Aber ich denke, es geht mit Ihrem Demokratieverständnis konform, daß solche wichtigen Dinge
nicht vormittags zur Fernsehzeit diskutiert werden,
sondern um 20 Uhr oder später, wenn fast niemand
mehr da ist.
Danke.
({3})
Das Wort hat die
Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Homburger, von wegen „Radioaktivität hat die Anlage nicht
verlassen“: Die Werte, die am Zaun gemessen wurden,
waren zum Teil 40 000mal so hoch wie der Normalwert.
Soviel zu Ihrer „objektiven“ Informationspolitik.
({0})
- Auch das.
Es geht nicht darum, diesen Einzelfall zu analysieren.
Dieser Einzelfall ist eine Mahnung, daß wir es hier mit
einer Technik zu tun haben, die nicht fehlerfreundlich
ist. Sie, Herr Laufs, diskutieren über neue Sicherheitsphilosophien. Unser Grundgedanke ist, Techniken einzusetzen, die im Falle eines Fehlers nicht so radikale
Auswirkungen haben, wenn es solche Alternativen gibt
- und solche Alternativen gibt es. Deswegen wollen wir
den Atomausstieg als Konsequenz aus solchen Unfällen.
({1})
Man muß feststellen: Ein Restrisiko bleibt auf jeden
Fall. Menschliches Versagen ist auch in deutschen
Anlagen jederzeit möglich. Der Mensch ist eben nur ein
Mensch. Siemens zum Beispiel setzt jetzt bei Wartungsarbeiten 40 Prozent ungeschultes Personal ein. 1998
kam es an der Unterweser zu einem Druckanstieg im
Dampferzeuger. Als die Ventile geöffnet werden sollten,
waren sie nicht zu öffnen, weil ein Arbeiter den Schlüssel falsch aufgehängt hat. Das ist ein typisches Beispiel,
wie Menschen auch in Deutschland versagen. Das hat zu
einem Störfall der Stufe 2 geführt; Tokaimura war Stufe
4. Also, menschliches Versagen gibt es fast jährlich
auch in Deutschland. Da sagt man dazu: Wir sichern das
durch Technik ab. Aber auch die Technik kann versagen; das wissen auch Sie. 1983 kam es in Philippsburg
zu Lecks in den Brennelementen und zu erhöhter Radioaktivität. Da sich unvorhergesehene chemische Verbindungen bildeten, konnte der Jodfilter nicht mehr funktionieren - technisches Versagen. Oder auch 1985: im
Grunde wiederum technisches Versagen, weil kleine
Lecks in Kühlkreisläufen aufgetreten sind.
({2})
- Das braucht mir das Ministerium nicht aufzuschreiben,
Herr Grill, das weiß ich selbst.
Jetzt sagen Sie: Ja, aber in Japan werden Sicherheitsstandards bewußt unterlaufen. Dazu sage ich Ihnen: Das
gibt es auch in Deutschland. Jürgen Trittin hat auf den
Transportunfall hingewiesen. Ich nenne Ihnen zwei
weitere Störfälle in Deutschland, bei denen Sicherheitsstandards von den Betreibern bewußt außer Kraft gesetzt wurden: 1978 in Brunsbüttel: Nachdem ein Leck
entdeckt worden war, wurde der Reaktor vorschriftswidrig erst nach Stunden heruntergefahren. Dieser Störfall
hätte wahrscheinlich die Einstufung 1 bis 2 bekommen,
wenn es das damals schon gegeben hätte. 1987 in Biblis:
Ein Reaktor wurde trotz offener Ventile hochgefahren.
Daß die Ventile noch offen waren, wurde nicht bemerkt,
obwohl die Kontrollampe leuchtete. Als es entdeckt
wurde, wurde gegen die Vorschriften - weil man keine
Zeit verlieren wollte - versucht, das zweite Ventil zu
schließen, und noch mehr Kühlmittel ist ausgeflossen.
Das sind Beispiele für ein bewußtes Unterlaufen von Sicherheitsstandards auch in Deutschland. Es gibt in unseren AKWs also menschliches Versagen, es gibt technisches Versagen und es gibt das bewußte Unterlaufen
von Sicherheitsstandards. Das ist auch in Deutschland
der Normalfall beim Betreiben von Atomkraftwerken.
({3})
Deswegen ist für mich Japan auch eine Mahnung, mit
unserem Atomausstieg wirklich einmal voranzukommen. Ich glaube, daß wir als rotgrüne Koalition viel zu
häufig den Fehler machen, über die Instrumente zu reden, und daß wir viel zu wenig - auch mit der Bevölkerung - darüber sprechen, warum wir etwas tun. Dieser
Störfall hat noch einmal deutlich gemacht, daß man,
wenn man mit einer solchen Technologie arbeitet, jeden
Tag mit dem Risiko lebt. Das ist auch ein Stück weit
eine Begründung für etwas, das von außen ein bißchen
unerquicklich und zäh aussieht, weil es sehr schwer ist,
in einem hochentwickelten Industrieland eine gesamte
Technologie zu beenden. Das ist für uns aber nicht einfach ein Spiel, sondern hat einen ernsten Hintergrund.
Wir halten es nicht für verantwortbar, der jetzigen Generation das Restrisiko und der zukünftigen Generation
den Atommüll aufzubürden, der über Zehntausende von
Jahren strahlen wird und für den es weltweit kein Endlager gibt, so daß man Zehntausende von Jahren lang
nicht weiß, wohin mit diesem hochgefährlichen Müll.
Es gibt noch andere Gründe; wir als Grüne brauchten
diesen Störfall also in keinster Weise. Ich glaube aber,
es wird Zeit, daß wir uns als rotgrüne Koalition einmal
entscheiden - nachdem wir über ein Jahr lang versucht
haben, mit den Stromkonzernen Gespräche zu führen
und einen Kompromiß zu finden -, wie wir jetzt endgültig mit dem Atomausstieg weiterkommen. Obwohl es
den aus meiner Sicht hochintelligenten Vorschlag von
Jürgen Trittin und Joschka Fischer gegeben hat,
({4})
um Sicherheit und betriebswirtschaftliche Interessen zu
einem flexiblen Kompromiß zusammenzubinden, befürchte ich leider, daß die Kompromißbereitschaft auf
seiten der Stromkonzerne eher sinkt als steigt, weil sie
jetzt zunehmend im Wettbewerb miteinander stehen und
zum Beispiel von EdF aufgekauft werden.
Dennoch müssen wir als rotgrüne Regierung - wir
haben uns das Ziel Atomausstieg vorgenommen - in
nächster Zeit entscheiden - ich finde, in diesem Jahr -,
ob wir, wenn es bedauerlicherweise nicht zu einem
Kompromiß kommt - den wir immer noch wollen -, den
Atomausstieg dann auch im Dissens durchziehen. Ich
hoffe, daß wir dann gleichzeitig auch ein umfassendes
Konzept für den Energieeinstieg vorstellen können. Wir
haben erste Maßnahmen - zum Beispiel das 100 000Dächer-Programm und das Programm zur Förderung
erneuerbarer Energien - eingeleitet. Wir werden
nachlegen mit der Novellierung des Stromeinspargesetzes und der Hilfestellung für die Kraft-WärmeKoppelung im Wettbewerb. Wir werden auch beim
Thema Energieeinsparung im Baubereich und in anderen Bereichen und bei der Energieeinsparberatung
nachlegen. Das muß mit dem Atomausstieg zu einem
schlüssigen Gesamtkonzept verbunden werden. Ich
glaube, daß wir dann auch die Zustimmung der Bevölkerung für beide Teile - für den Ausstieg und für den Einstieg - bekommen werden.
({5})
Das
Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Homburger.
Frau Kollegin Hustedt,
ich möchte auf Ihre zu Beginn Ihrer Rede gemachte
Bemerkung eingehen und stelle fest, daß Sie offensichtlich eine mangelnde Fähigkeit haben, zuzuhören. Ich
habe hier nicht gesagt, daß keine Strahlung ausgetreten
ist. Ich habe hier vielmehr gesagt: Es ist kein radioaktives Material ausgetreten. Das ist ein erheblicher Unterschied. Das radioaktive Material ist im Behälter, ist innerhalb der Anlage geblieben.
({0})
Herr Trittin hat gesagt, es würde unter Umständen auch
hier in Deutschland eine Gefährdung geben, weil nämlich der Wind Material hierhertragen könne. Diese Aussage ist schlichtweg falsch. Wenn kein radioaktives
Material aus der Anlage austritt, dann kann es auch nicht
hierherkommen.
({1})
- Das hat mir keiner aufgeschrieben, Frau Kollegin; das
habe ich eben selber noch notiert.
({2})
Es ist also kein radioaktives Material ausgetreten, das zu
einer Gefährdung in Deutschland führen könnte. Herr
Kollege, es hätten nämlich die Häuser in der unmittelbaren Umgebung nicht wieder bezogen werden können die direkte Strahlung, die Neutronenstrahlung, ist zwischenzeitlich zurückgegangen -, und auch die Gemüsefelder
({3})
hätten nicht freigegeben werden können, wenn wirklich
radioaktives Material ausgetreten und auf die Erde heruntergekommen wäre. Das ist der Unterschied, und
deswegen bitte ich Sie dringend, das entsprechend zu
unterscheiden.
({4})
Das Wort zu einer
Entgegnung hat die Kollegin Hustedt.
Frau Homburger, man muß unterscheiden. In der Tat
sind keine Feststoffe ausgetreten. Aber die GRS sagt,
daß davon auszugehen sei, daß kurzlebige Edelgase und
Jod-Isotope emittiert worden seien.
({0})
Ich weiß nicht, ob Sie auch das unter Material fassen
oder ob Sie nur Feststoffe als Material definieren.
({1})
- Ja, gut. Dann muß ich aber ehrlich sagen: Das ist die
Art der irreführenden Informationspolitik, die die alte
Bundesregierung immer betrieben hat.
({2})
Es wurden Radioaktivität und radioaktive Stoffe emittiert. Das ist ein Fakt. Die Meßdaten sprechen auch dafür. Was wohl stimmt, ist, daß Edelgase sich relativ
leicht verflüchtigen und sich nicht festsetzen. Aber Ihre
Aussage ist eindeutig falsch.
Ich muß sagen: Zum erstenmal, seit ich Politik mache, fühle ich mich tatsächlich ausreichend informiert
und habe Vertrauen darin, daß die Bundesregierung, die
GRS und das Umweltministerium hier nicht irgendwie
mauscheln und verharmlosen, sondern daß sie sachlich
informieren. Das finde ich angemessen und gut, und das
ist ein großer Fortschritt im Vergleich zur Vergangenheit.
({3})
Der Kollege Klinkert hat das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Jede Technik - ich
betone ausdrücklich: jede Technik -, mit der verantwortungslos umgegangen wird, stellt eine Gefahr für
den Menschen und die Umwelt dar. Das trifft natürlich
in besonderer Weise auf kerntechnische Anlagen zu. In
Tokaimura ist besonders schlampig und verantwortungslos mit hochsensibler Technik umgegangen worden
- ein Vorwurf, der nicht die Arbeiter trifft, die ja durch
ihre falsche Handlungsweise selbst zu bedauernswerten
Opfern wurden, ein Vorwurf, der aber uneingeschränkt
einen offensichtlich unfähigen Betreiber trifft.
Wir wissen: Tokaimura, eine Anlage zur Uranverarbeitung, hatte kein ausreichendes Sicherheitskonzept,
unzureichend geschultes Personal, fehlende Kontrollmechanismen und nicht einmal Havarie- und Notfallpläne.
Natürlich drängt sich verständlicherweise jedem Menschen die Frage auf: Ist eine solche, eine ähnliche Havarie zum Beispiel auch bei uns in Deutschland möglich?
Eine Frage, für deren Beantwortung es in Deutschland
fachlich zuständige Behörden gibt, nämlich die Gesellschaft für Reaktorsicherheit oder zum Beispiel das Bundesamt für Strahlenschutz, die, wie wir wissen, von
Herrn Trittin personell umstrukturiert und mit Leuten
besetzt wurden, die man nicht unbedingt als kernenergiefreundlich bezeichnen könnte. Aber beide, GRS und
BfS, haben übereinstimmend festgestellt. Erstens. Es
gibt keine vergleichbaren Anlagen in Deutschland.
Zweitens. Deutsche Anlagen haben eine andere, eine
wesentlich bessere Sicherheitskultur. Fazit daraus: Japan
und nicht Deutschland muß seine Sicherheitsmaßnahmen bei kerntechnischen Anlagen verbessern.
({0})
Diese sachliche Aussage hindert natürlich nicht bestimmte rote und grüne Politiker daran, Horrorszenarien
zu entwerfen und die Bevölkerung zu verunsichern. Herr
Trittin, deutsche Anlagen in die Nähe von Tschernobyl
zu rücken, wie Sie das in Ihrer Rede eben getan haben,
das ist verantwortungslose Panikmache.
({1})
Man hat überhaupt den Eindruck, daß Sie, die rotgrüne Koalition, Ihren eigenen Horrorszenarien nicht richtig
glauben. Das wird durch die Tatsache bewiesen, daß die
Bundesregierung zur Zeit mit den Kernkraftwerksbetreibern über Ausstiegsszenarien von bis zu 35 Jahren verhandelt. Wenn deutsche Kernkraftwerke unsicher wären
- sie sind es nicht, das wissen Sie; das Gegenteil ist der
Fall; sie sind die sichersten der Welt -, dann müßten sie
ohne Wenn und Aber sofort und nicht erst in 35 Jahren
abgeschaltet werden. Wenn Sie, Herr Trittin, Ihren eigenen Worten über die Unsicherheit deutscher Anlagen
und die Gefahren, die von diesen Anlagen ausgehen,
glauben würden, dann müßten Sie, da Sie sich in dieser Regierung offensichtlich nicht durchsetzen können,
diese Regierung verlassen.
({2})
Es ist bemerkenswert, daß Sie Ihre offensichtlich vorhandenen Überzeugungen Ihrem Ministersessel opfern
- oder Sie haben diese Überzeugung nicht.
({3})
Meine Damen und Herren, wie in fast allen Fragen ist
diese Bundesregierung geprägt von Konzeptionslosigkeit und Widersprüchlichkeit.
({4})
Ein nach meinem Eindruck übrigens immer kleiner werdender Anteil möchte einen sofortigen und unumkehrbaren Ausstieg.
Herr Kollege Klinkert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Eichstädt-Bohlig?
Bitte.
Herr Kollege Klinkert, Sie haben zwar
recht, daß die deutschen Anlagen anders konstruiert sind
als die in Tokaimura. Trotzdem möchte ich Sie fragen,
woher Sie die Sicherheit nehmen, daß in deutschen Anlagen kein Atomunglück passieren kann, und welche
Rede Sie halten würden, wenn es zufällig in Deutschland passiert wäre und nicht in Japan.
Das ist das Typische
bei der rotgrünen Koalition: Sie unterstellen ein Szenario, das für Deutschland nicht vorstellbar ist,
({0})
und fragen danach, was wir dazu sagen würden, wo
doch so ein Fall durch die deutsche Sicherheitskultur
nach menschlichem Ermessen vermieden werden kann.
Ich kann und werde Ihnen diese Frage nicht beantworten, weil es eine sogenannte Suggestivfrage ist.
Meine Damen und Herren, ich war dabei, auseinanderzudividieren, welche Ansicht die Bundesregierung
und die rotgrüne Koalition im Moment zur Kernenergie
haben. Ich sagte, daß es einen immer kleiner werdenden Anteil gibt, der noch offen über einen sofortigen
und unumkehrbaren Ausstieg spricht, und daß andere
den Ausstieg eher als geordneten Auslauf sehen wollen. Sei es, wie es sei: Die widersprüchliche Diskussion in der Koalition und das Erschweren von Entscheidungen in Deutschland führen insgesamt zur
Verunsicherung in bezug auf den Energiestandort
Deutschland. Das führt zu einer Vertreibung von Forschung und zur Verhinderung einer Entwicklung von
Kernkraftwerken einer neuen Generation, auch einer
neuen Sicherheitsgeneration.
({1})
Das führt weiterhin dazu, daß der Standort Deutschland
der Zukunftstechniken beraubt wird.
({2})
Eins steht doch fest: Niemand auf der Welt, am wenigsten unsere auf dem Energiemarkt mit uns konkurrierenden Nachbarn, schert sich um deutsche Ausstiegsideologie. Nicht ein Kernkraftwerk würde abgeschaltet,
wenn es auch nur zu einem teilweisen Ausstieg aus der
Nutzung der Kernenergie in Deutschland käme.
Herr Kollege Klinkert, es gibt eine weitere Zusatzfrage von der Kollegin
Hustedt.
Gern.
Herr Kollege Klinkert, können Sie mir sagen, wieviel
AKWs in Deutschland während Ihrer Regierungszeit
geplant waren?
Frau Kollegin Hustedt,
da nicht ganz auszuschließen war, daß es in Deutschland
einmal einen Regierungswechsel gibt,
({0})
und da dieser Regierungswechsel dazu führen würde,
daß der sogenannte ausstiegsorientierte Vollzug, den
rotgrüne Länderregierungen bis dahin schon praktiziert
haben - womit sie das Arbeiten mit und an deutschen
Kernkraftwerken erschwert haben -,
({1})
auch dazu führt, daß man jede vernünftige Entwicklung
auf diesem Gebiet nach Kräften erschweren würde, hat
sich niemand getraut, eine ernsthafte Planung von neuen
Kernkraftwerken auf den Weg zu bringen.
({2})
Meine Damen und Herren, sollte es zu einem auch
nur teilweisen Ausstieg Deutschlands aus der Nutzung
der Kernenergie kommen, würde der internationale
Wettbewerb dazu führen, daß trotzdem an deutschen
Steckdosen weiterhin Atomstrom anläge. Dann wäre es
eben Atomstrom aus Frankreich, Belgien oder Großbritannien. Einige Zeit später würden wir Deutschen diejenigen Technologien, deren Entwicklung im eigenen
Land zu Zeiten rotgrüner Desorientierung verhindert
wurde, teuer zurückkaufen.
Vielen Dank.
({3})
Als nächster Redner
spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Hermann
Scheer.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich möchte einige Bemerkungen
zum bisherigen Verlauf der Debatte machen:
Die heutige Diskussion ist gemessen an der Diskussion des Jahres 1986 ein großer Rückschritt. 1986 gab es
ja nicht nur den Beschluß der SPD über einen Ausstieg
im Zeitraum von zehn Jahren, der in bezug auf die Realisierungsmöglichkeit innerhalb des genannten Zeitraums vielleicht etwas übermütig war, es gab nicht nur
den Beschluß der Grünen über einen sofortigen Ausstieg, sondern auch die folgende Formulierung des damaligen Bundeskanzlers Kohl: Die Atomenergie ist für
uns eine Übergangstechnologie für 30 Jahre.
({0})
Gemessen am Jahr 1986 würde dies bedeuten, daß sich
der Altbundeskanzler vorgestellt hat, daß die Nutzung
der Atomenergie bis zum Jahr 2016 - das ist ein kürzerer Zeitraum als der, über den gegenwärtig in bezug auf
den Ausstieg aus der Atomenergie diskutiert wird - bei
uns beendet sein könnte.
({1})
Dies war eine Chance für eine andere Art von Debatte.
Sie ist aber leider nicht genutzt worden, weder heute
noch in der Vergangenheit.
Meine nächste Bemerkung: Die Debatte wird sehr unredlich geführt, und zwar auch seitens der Stromkonzerne. Herr Kollege Klinkert, wenn Sie von der deutschen Sicherheitskultur sprechen und diese so stark hervorheben, dann meinen Sie nicht nur die Technik, sondern auch die Einstellung und die Schulung des Personals. Von daher gesehen ist es in besonderer Weise absurd, daß es immer noch politische Fürsprecher dafür
gibt, daß im Zusammenhang mit dem Neubau von Reaktoren Atomtechnikexporte in die Ukraine und nach
Rußland stattfinden, obwohl dort schon auf Grund der
bestehenden Verhältnisse von einer Sicherheitskultur gar
keine Rede sein kann. Besonders widersprüchlich seitens der Atomwirtschaft ist, daß sie hier die Sicherheit
hervorhebt, gleichzeitig aber dabei ist, Verträge hinsichtlich des Imports von russischem Atomstrom in unseren offenen Markt abzuschließen. All dies ist unredlich und widerlegt die eigene Argumentation.
({2})
Man könnte das noch fortführen. Wenn Sie die
Atomkraftwerke wirklich für absolut sicher halten, dann
lade ich Sie ein: Führen Sie mit uns eine Gesetzesänderung in bezug auf die Deckungsvorsorge in der Atomhaftpflicht durch. Hier ist gegenwärtig eine weitgehende Haftungsfreistellung gegeben. Wenn die Atomenergie so sicher ist, wie sie Ihrer Meinung nach ist, dann
kann die Atomwirtschhaft doch jeder Versicherungsgesellschaft eigentlich mühelos beweisen, daß keine Probleme bestehen. Dann würde sie günstige Versicherungsprämien bezahlen, und die Haftung wäre unbegrenzt. Aber dagegen wehrt sie sich mit all ihren politischen Schirmherren mit Händen und Füßen.
({3})
Es ist unredlich, davon zu sprechen, daß es hier kein Risiko gibt. Experten und Betreiber selber widerlegen diese Behauptung vielfach durch ihr eigenes Tun.
({4})
Eine andere Anmerkung: Wir können nicht daran
vorbeigehen, daß es in einem Land wie etwa den Vereinigten Staaten von Amerika, wo es weder eine SPD
noch Grüne gibt und wo verhältnismäßig geringe Proteste gegen Atomtransporte geäußert werden, seit 1973
keinen einzigen Reaktorneubau gegeben hat. Das heißt,
in dem Ursprungsland der Atomtechnik - zusammen mit
Rußland - läuft der Ausstieg aus der Atomenergie. Sie
ist zu Ende. Gäbe es nicht noch militärische Gründe
- die ein besonderes Thema sind -, daran festzuhalten,
wäre das mit Sicherheit auch schon längst offiziell verkündet worden.
Die Gründe dafür sind wirtschaftlicher Art. Wir haben es mit einer Wirtschaftlichkeitslegende zu tun,
({5})
nicht nur wegen der - nach heutigem Währungswert über 100 Milliarden DM, die in Forschung und Entwicklung bei der Atomtechnik geflossen sind. Es wurden schon 20 Milliarden DM für die Forschung im Bereich der Atomenergie und die Entwicklung der Atomtechnik ausgegeben, bevor überhaupt eine einzige Kilowattstunde Atomstrom produziert worden war.
({6})
- Doch, das ist richtig. Dies ist die nach heutigem Währungswert exakte Summe.
({7})
Herr Laufs, Sie haben das nie widerlegen können; aber
lassen wir das auf sich beruhen.
Es ist doch nicht zu übersehen, daß in Großbritannien die Atomkraftwerke im Zuge der Privatisierungspolitik - ich bringe doch hier nur Fakten vor und mache
keine vordergründige Polemik - von Frau Thatcher unverkäuflich waren. Niemand wollte diese Atomkraftanlagen haben, und zwar wegen der unübersehbaren Folgekosten, die dann nicht mehr vom Staat hätten getragen
werden können.
Es ist unübersehbar, daß es - auch noch aktuell - erhebliche wirtschaftliche Privilegien der Atomindustrie
nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern, wie
etwa in Frankreich, gibt, wo die Entsorgung - unausgesprochen - als Staatsaufgabe wahrgenommen wird, während bei uns die Entsorgungsrückstellungen - das ist
von Ihnen im vorletzten Jahr auch schon einmal kritisch
diskutiert worden - praktisch eine steuerfreie Investitionsmasse von inzwischen 70 Milliarden DM ausmachen, mit denen man frei hantieren kann. Deswegen besteht ein wirtschaftliches Interesse an der Atomenergie;
denn mit dem Geld können andere Aktivitäten, wie etwa
die Fusionspolitik, vorangetrieben werden.
Es ist unübersehbar, daß die Weltbank schon mehrfach deutlich gemacht hat - etwa wenn es um Reaktorpläne in Rußland geht -, daß das Investitionsaufkommen
für Alternativen, zum Beispiel GuD-Kraftwerke, sogar
niedriger wäre als die Kosten für die technische Aufbesserung vorhandener Atomkraftwerke, geschweige denn
für den Neubau von Atomkraftwerken.
Wir kommen nicht daran vorbei - je schneller das
allgemein begriffen wird, desto besser -, neue Prioritäten zu setzen. Die Atomenergie ist Teil einer sterbenden
Technologie, und dies Gott sei Dank. Es ist ein falscher
Weg gewesen, den in den 50er Jahren eine allzu technikgläubige Generation eingeschlagen hat, darunter auch
viele Sozialdemokraten,
({8})
darunter sehr viele Professoren, eine ganze Generation
von Physikern, die die Kernphysik für den Königsweg
der physikalischen Wissenschaft gehalten haben. Diese
haben es jetzt, nach einem Leben wissenschaftlicher
Forschungsarbeit auf diesem Gebiet sowie nach so viel
Geld, das dort hineingeflossen ist, schwer, zu begreifen,
daß das ein Holzweg in der technologischen Entwicklung gewesen ist.
({9})
Das ist das psychologische Problem, vor dem man steht.
Man kann es zwar verstehen; aber dies kann nicht die
Richtschnur für politisches Handeln sein.
Max Planck hat in seiner wissenschaftlichen Autobiographie 1922 gesagt - er sprach nur von Physikern -:
Zu denken, daß die Repräsentanten der alten Erkenntnisse, wenn neue Erkenntnisse auftreten, dazulernen und sich diese neuen Erkenntnisse aneignen, ist in aller Regel ein Irrtum. Eine neue Erkenntnis setzt sich in der Regel nur durch, indem
die Repräsentanten der alten Erkenntnisse allmählich aussterben.
Wir müssen aber jetzt politisch handeln. Dieses politische Handeln muß sich auf die Alternative beziehen.
Es ist doch völlig klar, daß ein Ausstieg aus der Atomenergienutzung nicht dazu führen darf, daß der Verbrauch fossiler Energien steigt oder auch nur so bleiben
dürfte. Das ist völlig klar. Das zeigen auch die Diskussionen in der Enquetekommission.
Weil das angeblich nicht geht, wird die Unverzichtbarkeitslegende gestreut. Ich will an zwei Beispielen
zeigen, wie verfehlt diese Unverzichtbarkeitslegende ist.
Wir haben in Deutschland 8 Prozent Stromerzeugung
aus Kraft-Wärme-Kopplung. Wir haben in Holland
- das ist ja nun kein industrielles Entwicklungsland,
sondern ein hochindustrialisiertes Land - 50 Prozent
Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung. Würden
wir nur den holländischen Anteil durch eine entsprechende Energierahmengesetzgebung realisieren können
- zumal Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung relativ
rasch installierbar sind -, dann könnten wir statt der jetzt
nur 40 Milliarden Kilowattstunden 250 Milliarden Kilowattstunden von den 500 Milliarden Kilowattstunden,
die den gegenwärtigen Verbrauch darstellen, aus KraftWärme-Kopplung, also mit doppelter Effizienz, erzeugen. Wir haben etwa 150 Milliarden Kilowattstunden
Atomstrom. Wir könnten allein auf diesem Weg auf
Atomenergie verzichten und würden - in diesem Fall
dann allerdings im Wärmesektor - geringere Emissionen
haben.
Wir dürfen nicht in den alten Bahnen denken, daß
man nur Strom durch Strom substituieren kann. Es geht
um ein Energieproblem insgesamt, und dieses Gesamtproblem bedeutet, daß auch Strom durch Wärme, Wärme durch Strom, Treibstoff durch Elektrizität usw. substituiert wird. Sonst kommen wir nicht zu neuen Möglichkeiten.
({10})
Würden wir - das ist das letzte Beispiel, dann bin ich
fertig - allein die sich abzeichnende Ausbaurate des Jahres 1999 in bezug auf neue Windkraftanlagen - die immer besser werden - mit einer Leistung von 800 Megawatt - jetzt kommt der Off-Shore-Bereich an die Reihe nur für die nächsten 12 Jahre fortsetzen, dann würden
wir im Jahr 2010 allein 15 000 Megawatt Strom aus
Windkraft erzeugen. Sie haben doch beim Zustandekommen des Gesetzes konstruktiv mitgewirkt.
({11})
Das sind jetzt nur zwei Alternativen von vielen anderen, die ergriffen werden könnten, von denen einige kürzere und andere längere Fristen brauchen, um einen
breiten Beitrag zur Energieversorgung leisten zu können.
({12})
Diese Debatte ist das eigentlich Fruchtbare. Das muß
uns interessieren, und das interessiert die Menschen.
Danke schön.
({13})
Ich habe den Kollegen Grill zwar noch nicht aufgerufen, aber er steht schon
am Pult. Herr Kollege Grill von der CDU/CSU-Fraktion,
Sie haben das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe um mich
herum eine Reihe von Kollegen, die gern eine Steuerdebatte führen wollen. Deswegen habe ich gedacht, ich bin
einmal so rechtzeitig hier, daß sie mir vielleicht noch ein
Stück ihrer Aufmerksamkeit schenken.
Herr Scheer, ich fange einmal damit an, daß ich Ihnen
entgegenrufe: Weltmeister in installierter Windenergieleistung auf diesem Globus sind wir in Deutschland
während der Regierungszeit von Helmut Kohl geworden.
({0})
Gerade als Sozialdemokrat sollten Sie etwas bescheidener auftreten. Wenn Sie einmal die Haushalte der Jahre
von 1970 bis 1983 und von 1983 bis 1998 unter dem
Aspekt betrachten, wer wann wieviel Geld für Kernenergieforschung und wer wieviel Geld für die Einführung erneuerbarer Energien wie Solarenergie und
Windenergie und die diesbezügliche Forschung ausgegeben hat, dann sehen Sie in dieser Debatte alt aus; dann
haben Sie keine gute Bilanz vorzulegen.
({1})
Der zweite Punkt: Wenn man Herrn Scheer, Herrn
Kubatschka, Herrn Trittin und Frau Hustedt hier hört,
sowie die Stichworte Tschernobyl und Harrisburg, dann
kommt man zu der Erkenntnis, daß es Ihnen heute nicht
um Tokaimura und die Probleme der Arbeiter und der
Menschen in Japan gegangen ist, sondern um die Instrumentalisierung des japanischen Unglücks für Ihre
innenpolitischen Zwecke und Ziele. Gerade der Beitrag
von Herrn Scheer hat das noch einmal deutlich gemacht.
Ihre Sorge um Japan ist eigentlich nicht glaubwürdig.
Herr Kubatschka, ich weiß, daß Sie eigentlich ein seriöser Mensch sind. Aber Ihr Versuch, hier und heute
570 hochangesehene Wissenschaftler der Bundesrepublik Deutschland mit einem Satz in die Ecke der Unglaubwürdigkeit und der Unwissenheit zu stellen, sucht
seinesgleichen. Ihre simple Geisteshaltung versperrt Ihnen den Zugang zu der Komplexität des Ratschlags, den
Ihnen diese Wissenschaftler gegeben haben.
({2})
Herr Scheer, Ihnen gebe ich mit auf den Weg - Sie
haben es selber angesprochen -, noch einmal über die
Verminderung der CO2-Emissionen nachzudenken. Es
gibt bis zum heutigen Tag kein Konzept der Bundesregierung für einen klimaneutralen Ausstieg aus der Kernenergie. Ein solches Konzept hat es bisher in Deutschland auch nicht gegeben. Im Rahmen der EnqueteKommission des schleswig-holsteinischen Landtags
zum Ausstieg aus der Kernenergie innerhalb von zehn
Jahren hat Ihre eigene Partei festgestellt, daß ein solcher
Ausstieg in zehn Jahren nicht möglich ist und daß dieser
Ausstieg vor allem nicht ohne eine Erhöhung des CO2Ausstoßes möglich ist.
({3})
Schweden weist nach dem Ausstieg aus der Kernenergie ein Plus von 5 Prozent an CO2-Emissionen auf.
Die Niederlande sind das schlechteste Beispiel für eine
erfolgreiche Verminderung der CO2-Emissionen. Die
niedrigsten CO2-Emissionen pro Kopf haben die europäischen Länder, die über einen hohen Anteil der Energiegewinnung aus Kernkraft und Wasserkraft verfügen.
Dänemark und die Niederlande liegen mit ihren CO2Emissionen pro Kopf an der Spitze. Dies können Sie
nicht leugnen.
Ich bitte Sie, bei Ihrer simplen Argumentation, mehr
in Gaskraftwerke zu investieren, die Brennstoffkosten
nicht zu vergessen, die mometan drastisch steigen. Der
Ölpreis liegt mittlerweile bei 25 Dollar pro Barrel. Sie
wissen, daß die Gaspreise nachziehen. GuD-Kraftwerke,
deren Errichtung Sie gebetsmühlenartig fordern, bedeuten nichts anderes als ein Plus bei den CO2-Emissionen.
Mit diesen Anlagen ist kein klimaverträglicher Ausstieg
aus der Kernenergie möglich. Sie bedeuten ein unkalkulierbares politisches und ökonomisches Risiko.
({4})
Sie, Herr Trittin, haben versucht - mit diesem Versuch sind Sie auch schon innerhalb der Bundesregierung
gescheitert -, das Risiko der Kernenergie in Gegensatz
zum Allgemeinwohl zu bringen.
({5})
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns doch mit einem Teil
der 570 Wissenschaftler und mit einem Teil der Mitglieder des Beirats „Globale Veränderungen“, die eine Risikostudie ausgearbeitet haben, diskutieren, wie das Risiko der Kernenergie langfristig einzuschätzen ist. Ich
trete jeden Tag gegen Ihre simple Risikobetrachtung an.
Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie den Menschen
glauben machen, nach der Beseitigung des Risikos der
Kernenergie gebe es eine Energieversorgung, die keine
langfristigen und schweren Risiken für den Menschen
beinhaltet. Damit belügen Sie das deutsche Volk.
({6})
Es geht weder um Verharmlosung noch um Dramatisierung. Aber Sie haben den Unfall in Japan heute wieder
für die innenpolitische Debatte genutzt.
Ich kann Sie, Herr Scheer, nur fragen: Was hindert
Sie daran, mit uns gemeinsam die Bundesregierung aufzufordern, unsere Große Anfrage vom März dieses Jahres, wie die Energiepolitik der Bundesregierung aussieht, endlich zu beantworten? Wir haben diese Große
Anfrage im März gestellt. Bis heute, den 7. Oktober, hat
es keine Antwort gegeben. Die Bundesregierung hat sich
noch nicht einmal bei uns entschuldigt, daß sie keine
Antwort auf unsere Frage nach ihrer Energiepolitik gegeben hat. Solange Sie uns nicht faktisch beweisen, daß
Sie ein Energiekonzept haben, das den Ansprüchen genügt, die Sie hier permanent stellen, so lange rate ich
Ihnen eindringlich, etwas bescheidener aufzutreten. Sie
haben kein Konzept für den Einstieg in eine neue Energiepolitik.
Uns unterscheidet insofern gar nichts von Herrn Trittin: Er möchte genauso wie wir die Verdoppelung des
Anteils der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010 erreichen. Legen Sie doch ein Konzept vor, aus dem ersichtlich wird, wie dies möglich sein soll! Sie tun es
nicht. Sie haben sich in der Energiepolitik bisher nicht
bewährt.
Zum Schluß möchte ich Ihnen zwei Dinge vortragen,
die ich mir für die heutige Debatte aufgehoben habe.
Herr Trittin, Sie haben vorhin etwas zu den Atomtransporten gesagt. Wir haben lange über das Für und Wider
der Castor-Behälter diskutiert. Bis zum Regierungswechsel galten diese Behälter bei Ihnen als sehr gefährlich. Nun hat Ihre Kollegin Frau Hustedt vor wenigen
Tagen in Bonn gesagt, der Castor-Behälter sei in sich sicher, er könne ohne Halle als Zwischenlager dienen.
Weil Sie Transporte vermeiden wollen, wird nach Ihrer
Sicherheitsargumentation aus dem unsicheren CastorBehälter, der gestern nach Gorleben transportiert worden
ist, auf einmal ein todsicheres Ding, das man ohne Halle
- Frau Griefahn hat noch vor wenigen Jahren von einer
besseren Tennishalle gesprochen - ins Freie stellen
kann.
Gleiches gilt für die Erkenntnis der SPD und dieser
Koalition, daß Gorleben nicht geeignet ist. Auch diese
Erkenntnis galt nur bis zum 27. September 1998. Im Juli
sind Frau Mehl und zehn andere Bundestagsabgeordnete
der SPD in den Salzstock eingefahren. Im Dunkeln kam
ihnen die Erleuchtung. Nachdem sie hochgekommen
waren, waren sie der Meinung: Der Salzstock in Gorleben muß weiter untersucht werden.
Wer seine Argumente in fundamentalen Fragen zur
Sicherheit der Kernenergie an tagespolitischen Opportunitäten ausrichtet, der sollte sich nicht zum Weltmeister
in Fragen der Sicherheit der Kernenergie aufspielen. Sie
sind dabei, eklatant zu versagen. Sie sind in Deutschland
die schlechtesten Ratgeber in Sachen Sicherheit der
Kernenergie.
({7})
Das Wort hat Bundesminister Trittin.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte eine Vorbemerkung und
zwei Bemerkungen machen.
Die Vorbemerkung richtet sich an Herrn Grill. Herr
Grill, das, was Sie hier abgeliefert haben, war genau das,
was wir in unserer Informationsarbeit zu vermeiden versucht haben, nämlich das tragische Schicksal der Menschen in Tokaimura dafür zu instrumentalisieren, hier
einen Glaubenskrieg zu veranstalten.
({0})
In aller Ruhe und Sachlichkeit: Liebe Frau Homburger, Sie haben uns vorgehalten, in einer Pressemitteilung versucht zu haben, die Menschen zu verunsichern.
Ich habe mir die Pressemitteilung extra herausgeholt.
Ich weise Ihre Unterstellung mit allem Nachdruck zurück. Wir haben bereits am 30. September ausweislich
der auch Ihnen vorliegenden Pressemitteilung erklärt:
Über Ursachen und genaues Ausmaß des Störfalls
herrscht derzeit noch Unklarheit. Nach jetzigem
Kenntnisstand sind die Auswirkungen des Störfalls
auf die Region um die Anlage beschränkt. Zur Zeit
gibt es noch keine Hinweise darauf, daß eine Gefährdung außerhalb des betroffenen Gebietes zu befürchten ist.
Ich sage das mit allem Nachdruck, weil ich mir vor dem
Hintergrund dieser seriösen Informationsarbeit von
Ihnen keine Panikmache vorwerfen lassen möchte.
({1})
Lieber Herr Kollege Laufs, es ist keine Infamie, wenn
wir den Sprecher, den sich diese 570 Professorinnen
- auch Frauen gehören dazu - und Professoren gewählt
haben, zitieren, der öffentlich erklärt hat: „Bei einer Gesamtbilanzierung sind die Risiken, die mit der Kernkraft
verbunden sind, mit denen der Windkraftenergiegewinnung gleichzusetzen.“ So wörtlich Professor Dr. Voß,
den sich diese altehrwürdige Professorinnen- und Professorengemeinschaft zum Sprecher gewählt hat. Ich sage mit Nachdruck: Solange sich diejenigen, die dieses
Memorandum unterschrieben haben, von diesen Äußerungen nicht distanzieren, so lange werden sie mit dem
Vorwurf des professoralen Leichtsinns leben müssen.
({2})
Wortmeldungen zu
einer Kurzintervention liegen von dem Kollegen Loske,
von der Kollegin Mehl, von der CDU/CSU, von der
F.D.P. und von der PDS vor. Nach diesen Kurzinterventionen werde ich die Debatte beenden.
Herr Loske, Sie fangen mit der Runde der Kurzinterventionen an.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute war viel von dem Memorandum der
570 Professoren die Rede. In dem Zusammenhang wurde von professoralen Leichtfertigkeiten gesprochen. Das
hat mich als langjährigen Hochschullehrer sehr traurig
gemacht. Nachdem ich es mir durchgelesen habe, muß
ich sagen: Es stimmt.
({0})
- Völlig richtig, dann bin ich noch trauriger geworden.
Ich will einmal kleine Kostproben geben.
Erstens ist manches schlicht und einfach falsch. Im
ersten Satz unter Punkt 3 heißt es zur Entwicklung der
Kernenergie:
In vielen Teilen der Welt wird die Kernenergie
weiter ausgebaut.
Heute haben wir mehrfach gehört, daß die Kernenergie
in keinem Industrieland der Welt mehr weiter ausgebaut
wird.
({1})
Das ist die Wahrheit; man kann nicht einfach die Fakten
auf den Kopf stellen.
Zweiter Punkt - hören Sie gut zu -:
Die Akzeptanzkrise der Kernenergie in den siebziger und achtziger Jahren hat Teile der Politik in die
Resignation getrieben
Könnte es nicht auch sein, daß man schlicht und einfach
der Meinung war, daß die Atomenergie nicht zukunftsfähig ist, und nicht aus einer resignativen Haltung heraus, sondern aus der Haltung heraus, daß der Energiesektor in Richtung Ökologie umgebaut werden muß, gehandelt hat? Ich halte diese Aussage für Ideologie pur.
Dritter und letzter Punkt:
Dabei hat sich gezeigt, daß das System „Kernenergie“ im Vergleich
- eben im ökologischen Vergleich gut abschneidet. Es wäre paradox, ein solches System … aufzugeben.
Auch das ist sehr stark ideologisch aufgeladen.
({2})
Nun noch einmal zu Ihren Worten, Herr Kollege
Laufs. Sie sehen, daß es durchaus Kollegen gibt, die das
gelesen haben. Dem, der hier sagt, es sei ein Armutszeugnis, wenn man fordert, aus der Atomenergie auszusteigen, kann ich nur entgegenhalten, daß die Äußerung
von Minister Trittin, es handele sich um professorale
Leichtfertigkeit, eine sehr freundliche Antwort auf diesen Unfug ist.
Danke schön.
({3})
Frau Kollegin Mehl.
Sehr geehrter Herr Grill, ich
wollte kurz auf Ihre Äußerung eingehen, ich hätte anläßlich eines Besuches in Gorleben gesagt, daß ich für
die weitere Erkundung von Gorleben zum Zwecke der
Nutzung als Atommüllager sei.
({0})
Dazu ist folgendes festzuhalten:
Erstens. Sie entnehmen Ihre Informationen offenbar
völlig kritiklos der Presse. Sie sollten vielleicht vorher
einmal diejenigen, die etwas gesagt haben sollen, direkt
fragen, ob das stimmt.
Zweitens. Sie sagten, ich sei von unten aus dem
dunklen Schacht wieder hochgekommen und hätte dann
die Erleuchtung gehabt. Sie waren offenbar nicht dort,
denn unten ist es ebensowenig dunkel wie oben, und die
Erleuchtung hatten wir schon vorher.
Drittens ist festzuhalten: Wir haben bei diesem Gespräch eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß wir der
Auffassung sind, daß Gorleben nach bisherigen Erkenntnissen nicht für die Lagerung von hochradioaktivem Müll geeignet ist. Wir sind aber sehr wohl der Meinung, daß insbesondere die Bundesländer, die seit vielen
Jahren unkritisch den weiteren Ausbau der Kernenergie
verfolgen, einmal schauen sollten, ob es in ihrem Lande
nicht wesentlich besser geeignete geologische Formationen für ein Endlager gibt. Diese weigern sich aber. Diese Haltung muß weiterhin hinterfragt werden, weil das
Problem nach wie vor nicht gelöst ist.
({1})
Da es sich um Kurzinterventionen handelt, bitte ich auch Sie, Kollege
Laufs, vom Platz aus zu sprechen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Memorandum als Ganzes,
Kollege Loske und Herr Minister, ist in verschiedene
Aspekte untergliedert.
Der erste Unteraspekt lautet: „Fortschritte der Sicherheitstechnik“. Was da geschrieben worden ist, läßt sich
an Hand wissenschaftlicher Publikationen und der
Vierteljahresberichte über meldepflichtige Vorkommnisse in deutschen Atomanlagen - vorhin habe ich ja
diesen Hinweis gegeben - nachvollziehen.
Unter Punkt 6 wird über den „ökologischen Rucksack“ der verschiedenen Energiesysteme gesprochen.
Wenn Sie sich die Arbeiten, die in großem Umfang am
Institut für Energiewirtschaft und rationelle Energieanwendung unter der Leitung von Professor Voß an der
Universität Stuttgart durchgeführt worden sind,
({0})
ansähen, dann würden Sie feststellen, daß der ökologische Rucksack, den jedes Energiesystem mit sich trägt
- ich bitte Sie, sich einmal diese Arbeiten anzusehen -,
({1})
wissenschaftlich, sehr umfangreich und ins Detail gehend für die verschiedenen Energiesysteme berechnet
worden ist. Wenn Sie diese Lasten vergleichen, dann
stellen Sie fest, daß die Kernenergie bemerkenswert gut
abschneidet.
({2})
Die Infamie besteht darin, festzustellen, daß wir nach
der Tschernobyl-Katastrophe wissen, daß es Techniken
gibt, die verheerende Katastrophen zur Folge haben
können, und dann Aussagen über den ökologischen
Rucksack mit Fragen der Sicherheitstechnik in der öffentlichen Diskussion undifferenziert zu vermengen.
Deshalb schlage ich vor - ich bitte Sie wirklich, diesen
Vorschlag aufzugreifen -, das Dialogangebot der genannten Professoren anzunehmen und in eine ernsthafte
Risikodiskussion einzutreten.
({3})
- Sie wissen ja alles besser. Sie haben Ihre Glaubensüberzeugungen. Deshalb benötigen Sie solche Diskussionen offensichtlich nicht.
({4})
Wir wollen diese Diskussionen führen. Wir wären
dankbar, wenn Sie sich uns anschließen würden.
({5})
Die Fraktionen der
F.D.P. und der PDS sind klug und verzichten auf eine
Kurzintervention. Dafür bedanken wir uns.
({0})
- Herr Kollege Grill, wir hatten gemäß § 44 Abs. 2 der
Geschäftsordnung vereinbart, daß wir, nachdem der Minister nach Ablauf der ursprünglich für die Fraktionen
beschlossenen Redezeit noch einmal das Wort ergriffen
hat, nur noch bestimmte Kurzinterventionen zulassen.
Deswegen ist es, so glaube ich, richtig, wenn ich jetzt
sage: Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich
schließe die Aussprache.
Folgendes möchte ich bekanntgeben: Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen möchte zu Protokoll geben, daß es
bei der Abstimmung im Rahmen des Zusatzpunktes 3, also
bei der Abstimmung über die Beschlußempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/1754, neben
den bereits vermerkten Enthaltungen auch zwei Enthaltungen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegeben hat.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen
Steuervorschlägen, insbesondere unter den
Gesichtspunkten sozialer Ausgewogenheit,
Haushaltssolidität und Verfassungsmäßigkeit
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man sieht, Herrn Merz fällt nichts
mehr ein. Immer wenn er mich hier vorne sieht, sagt er
das gleiche. So phantasielos sind inzwischen auch die
neu aufgekochten Steuerpläne der Union.
({0})
Herr Merz ist offensichtlich die Personifizierung steuerpolitischer Phantasielosigkeit.
Der Inhalt der in den letzten Tagen von der CDU und
CSU vorgestellten steuerpolitischen Eckpunkte sowie
die bayerische Steuerinitiative des Möchtegernkanzlers
Stoiber lohnt der Sache nach eigentlich keine Debatte im
Deutschen Bundestag.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese Aktuelle Stunde
aber beantragt, um es CDU und CSU nicht durchgehen
zu lassen, daß sie so tut, als habe sie wirkliche Alternativen zur Steuerpolitik der Regierungskoalition. Das ist
nämlich nach wie vor nicht der Fall.
({2})
Vielmehr ist in den letzten Tagen eines deutlich geworden, nämlich daß sich CDU und CSU ohne Skrupel
weiterhin als Schuldenparteien aufführen.
({3})
Die jetzt präsentierten Eckpunkte sind nichts anderes
als Schall und Rauch. Sie können die große Rat- und
Hilflosigkeit der Unionsparteien in der Steuerpolitik
nicht verschleiern. CDU und CSU haben mittlerweile
gemerkt, daß die Wählerinnen und Wähler von der Opposition mehr erwarten als Wegtauchen oder Totalkritik.
Die alten Rezepte, die bereits in der vergangenen Legislaturperiode gescheitert sind, sind auch heute noch
untauglich. Die Wählerinnen und Wähler haben Ihnen
darauf am 27. September des letzten Jahres eine klare
und eindeutige Absage erteilt.
Wir erinnern uns: Bundeskanzler Kohl sprach davon,
daß die Bundestagswahl eine Volksabstimmung über die
Steuerreformvorschläge der CDU/CSU und F.D.P. auf
der einen und der SPD auf der anderen Seite werde. Diese Volksabstimmung hat stattgefunden. Das Volk hat
eindeutig gesprochen. Es hat Ihre Rezepte verworfen.
({4})
Wie kann man sich selber vormachen, daß eine Steuerreform sozial gerecht ist, die die Senkung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent in den Vordergrund stellt
und die Steuerentlastung zudem auf Pump finanzieren
will? Wer zahlt denn die Zinsen für die Schulden, die
der Staat für die Steuerentlastung machen soll? Das sind
diejenigen, die in den 16 Jahren der Kohl/WaigelRegierung ohnehin genug geschröpft worden sind.
({5})
Das sind in der Masse Arbeitnehmer und Familien mit
Kindern. Und wer erhält die Zinsen, damit er die von
CDU und CSU geforderten Steuergeschenke für Einkommensmillionäre finanzieren kann? Das sind diejenigen, die genug Geld haben, um es dem Staat leihen zu
können - es sei denn, sie haben es vorher nach Luxemburg oder woandershin geschafft.
Diese Politik der Umverteilung von unten nach oben,
die der bayerische Finanzminister Faltlhauser offen einräumt, wenn er von Kreditaufnahmen zur Finanzierung
der Steuersenkung spricht, ist bei den Wählern gescheitert. Die Wachstums- und Selbstfinanzierungserwartungen werden illusionär überzeichnet. Eine solche Politik
ist verantwortungslos, ungerecht und unseriös.
({6})
Dies wird auch daran deutlich, daß Sie den alten § 34
des Einkommensteuergesetzes wieder in der ursprünglichen Fassung haben wollen. Dabei weiß doch jeder, daß
§ 34 die Grundlage aller Steuersparmodelle war
({7})
und dazu geführt hat, daß die Einnahmen aus der veranlagten Einkommensteuer immer neue Tiefstände erreichten. Diesen verhängnisvollen Trend haben erst wir
umgedreht - nicht Sie!
({8})
Wir haben dieses riesige Steuerschlupfloch gestopft, das
dazu geführt hat, daß gutverdienende Abschreibungskünstler oftmals keinerlei Steuern mehr gezahlt haben.
Es ist doch an den Haaren herbeigezogen, zu behaupten,
die Änderung von § 34 gefährde die Alterssicherung der
Mittelständler. Die von uns eingeführte Fünftel-Regelung ist geradezu mittelstandsfreundlich.
Der CSU-Oberbürgermeister Josef Deimer stellt fest:
Er sei skeptisch; ihm fehle eine Gegenrechnung, ansonsten handele es sich um eben die Luftbuchungen, die
man sonst immer anderen vorwerfe; im Grunde sei das
jetzt von Stoiber vorgelegte Modell nicht besonders neu;
er könne nicht von dem Prinzip Hoffnung leben, da die
in den letzten Jahren erfolgten Steuerentlastungen für
die Wirtschaft an der Arbeitslosigkeit nichts geändert
hätten. Soweit der CSU-Oberbürgermeister Deimer.
Ungeachtet dieser steuerpolitischen Geisterfahrt muß
noch eine Tatsache erwähnt werden: Ihr Selbstverständnis als Partei bedenkenlosen Verschuldens wird dadurch
deutlich, daß die von CDU und CSU angekündigten
Steuersenkungen auf Pump wegen Verstoßes gegen
Art. 115 des Grundgesetzes verfassungswidrig wären.
Aber die Verfassung spielt bei Ihnen offensichtlich
überhaupt keine Rolle mehr.
({9})
Ihre Steuersenkungen auf Pump kollidieren doch mit
dem von dem Kollegen Waigel durchgesetzten europäischen Stabilitätspakt. Aber auch das interessiert Sie
nicht mehr.
Wir haben aber noch einen anderen abstrusen Vorgang erlebt: Herr Stoiber hält eine Nettoentlastung von
50 Milliarden DM für möglich, am selben Tag spricht
Herr Schäuble aber von einer Entlastung von
30 Milliarden DM. Man muß sich diesen „kleinen“ Unterschied von 20 Milliarden DM einmal vorstellen! Daran wird deutlich, daß Ihre Vorschläge unseriös sind.
({10})
Die Öffentlichkeit müßte eigentlich aufschreien. Der
SPD würde man nie durchgehen lassen, daß der eine von
einer Nettoentlastung von 50 Milliarden DM und am
selben Tag, wie es der CDU-Vorsitzende Schäuble getan
hat, ein anderer von einer Entlastung von 30 Milliarden
DM spricht.
({11})
Daran wird deutlich, wie gedankenlos Sie Politik betreiben. Das ist nicht unser Weg und kann auch nicht der
richtige Weg sein.
({12})
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Es liegt nicht im Interesse zukünftiger Generationen, daß Herr Stoiber steuerpolitische Schnellschüsse produziert, um von seiner dubiosen
Rolle im Bauskandal oder von seiner völligen außenJoachim Poß
politischen Verirrung abzulenken, indem er sich als
Steigbügelhalter für Ultrarechte aufspielt.
({0})
Nein, so wird Herr Stoiber nie Bundeskanzler. Er ist
wahrlich ein Möchtegernkandidat und hat sich als solcher entlarvt.
({1})
Sie wissen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, daß die Redezeit in der Aktuellen Stunde fünf Minuten beträgt. Ich möchte daran
erinnern.
Das Wort hat nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Lieber Herr Poß, ich weiß
gar nicht, warum Sie so geschrien haben.
({0})
Der Vorschlag der Bayerischen Staatsregierung, der auf
dem Tisch liegt, ist kein Grund für Empörung und Aufregung, so wie Sie sie zum Ausdruck gebracht haben. Es
ist vielmehr ein hervorragender Vorschlag, den wir begrüßen. Er stellt eine mutige Konzeption für die Schaffung eines wettbewerbsfähigen Steuerrechts dar.
({1})
In diesem Vorschlag sind genau die beiden Elemente
enthalten,
({2})
die für die weitere positive wirtschaftliche Entwicklung
und für die Verbesserung am Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung sind. Zum einen geht es um eine
deutliche Senkung der Steuersätze. Die Steuersätze sollen für alle Steuerpflichtigen gesenkt werden: für die
Arbeitnehmer und für die Arbeitgeber, für die Menschen
mit geringerem Einkommen und für die mit höherem
Einkommen, für die Kapitalgesellschaften und für die
Personengesellschaften. Das ist die erste Botschaft, die
mit diesem Konzept verbunden ist.
({3})
Die zweite Botschaft ist eine deutlich spürbare Nettoentlastung der Steuerpflichtigen; denn nur so bekommen
Sie den nötigen Impuls für Wachstum und Beschäftigung. Sie müssen durch eine Nettoentlastung einen Freiraum für Investitionen schaffen.
({4})
Das ist in der Tat etwas ganz anderes als das, was Sie
bisher gemacht haben und noch vorhaben. Sie haben mit
Ihrem sogenannten Steuerentlastungsgesetz nur eine
ganz geringfügige Absenkung der Steuersätze vorgenommen, dafür aber eine enorme Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Das bedeutet in der Konsequenz
eine Belastung gerade derjenigen, die für die Schaffung
von Arbeitsplätzen verantwortlich sind, nämlich der
Unternehmen und der Betriebe. Zudem ist es gespickt
mit einer ganzen Fülle von nicht anwendbaren, sich an
der Grenze des verfassungs- und europarechtlich Zulässigen bewegenden Vorschriften. Ihre Vorschläge machen das Steuersystem noch komplizierter. Dies alles ist
uns erst gestern in der Anhörung von den Fachleuten bestätigt worden.
({5})
Das, was Sie gemacht haben, war keine Steuerentlastung, sondern eine Steuerbelastung; ich nenne beispielsweise die Ökosteuer. Auch das, was Sie den Leuten im Rahmen der Unternehmensteuerreform versprechen, ist keine Entlastung und gibt keinen Impuls für
weitere Beschäftigung.
({6})
Sie stochern nach wie vor im Nebel, insbesondere bei
der Besteuerung der Personengesellschaften. Mittlerweile hat sich sogar Herr Schlauch schon davon distanziert. Ich bin nur gespannt, welche Vorschläge von seiten der Grünen kommen werden. Distanzieren und Problematisieren allein, wie Sie es an anderer Stelle gemacht haben, reichen hier nicht. Wir wollen schon konkret wissen, wie Sie dies angehen wollen.
({7})
Im übrigen hat mich verwundert, daß der Bundeskanzler wie schon vor einigen Wochen bei einer Veranstaltung in Frankfurt auch gestern beim Gewerkschaftstag gesagt hat: Uns interessieren die Unternehmen, aber
nicht die Unternehmer. Meine Damen und Herren, wo
lebt dieser Bundeskanzler eigentlich? Weiß er nicht, daß
er so die Arbeit der wirtschaftlichen Leistungsträger in
Deutschland - fast 90 Prozent unserer Unternehmen sind
Personengesellschaften - diskreditiert und ignoriert?
({8})
Nun zu der Frage, ob wir uns diese deutliche Nettoentlastung leisten können. Wir haben immer gesagt: Ja,
wir wollen sparen. Waigel hat dies vorgemacht.
({9})
- Natürlich, in den letzten Jahren wurden die Ausgaben
deutlich zurückgefahren, aber nicht nach der Buchhalteroder der Rasenmähermethode. Dies geschah auch nicht,
wie Sie es getan haben, mit Hilfe eines gewaltigen Verschiebebahnhofs, auch nicht durch Steuererhöhungen vor allem nicht allein dadurch.
({10})
Das Gebot der Stunde heißt „Sparen und Steuern senken“ - beides gehört zusammen.
({11})
Ich wünsche mir sehr, daß Sie die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge erkennen. Es gibt doch Beispiele
aus Neuseeland, Großbritannien und einer Fülle von anderen Ländern, wo ähnliches gemacht wurde: deutliche
Senkung der Steuersätze und Nettoentlastung. Die Stoltenbergsche Reform Ende der 80er Jahre, die deutliche
Nettoentlastung, hat doch zu zusätzlichen Steuereinnahmen und in der Konsequenz
({12})
- das war vor der Wiedervereinigung, liebe Kollegin zu mehr Beschäftigung geführt.
Sie sollten deshalb endlich die volkswirtschaftlichen
Zusammenhänge zur Kenntnis nehmen anstatt ein kleinkariertes, buchhalterisches Denken an den Tag zu legen.
Sie sollten endlich einmal den Rat von Experten ernst
nehmen und die Erfahrungen im Ausland in Ihre Überlegungen einbeziehen. Sie sollten Ihre ideologischen
Scheuklappen ablegen und sich mit uns gemeinsam auf
den Weg begeben, über eine Steuerreform, die diesen
Namen wirklich verdient, zu einer positiven Entwicklung der Beschäftigung und zu einer Förderung der Investitionen zu gelangen.
({13})
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon interessant, was so alles in letzter Zeit aus
Bayern zu hören ist. Ich glaube, daß die Vermutung, die
geäußert wird, daß Herr Stoiber von einigen Skandalen,
die Bayern betreffen, ablenken will, durchaus zutrifft.
Denn wie sonst käme er auf die Idee, sich zum einen in
Österreich einzumischen, mit wem dort Koalitionen geschlossen werden - es wäre katastrophal, wenn er dies in
der gleichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland tun würde -,
({0})
und zum zweiten die CDU/CSU-Fraktion zum Verfassungsbruch aufzurufen? Das darf man, verehrte Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSU-Fraktion und vor
allem der F.D.P., nicht unterschätzen.
({1})
Das, was an steuerlichen Entwicklungen hier vorgelegt
worden ist, ist eine Ablenkungsaktion, die nur dazu dienen soll, von den Skandalen abzulenken, bei denen sich
Herr Stoiber wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat.
({2})
Ich verstehe auch den Familienbund der Deutschen
Katholiken in diesem Punkt sehr gut. Da gibt es eine
Pressemitteilung: „Verfassungswidrige Ideen aus München“. Es ist sehr schön, auch einmal von dieser Seite
klar zu hören, wie sie die Vorschläge des bayerischen
Steuermodells einschätzt.
Zum Inhalt. Was hier vorgeschlagen worden ist, ist
eigentlich überhaupt nichts Neues. Das ist das, was die
CDU/CSU-Fraktion bereits in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen hat. Da war allerdings auch die
Mehrwertsteuererhöhung vorgesehen. Davon ist jetzt
überhaupt nicht mehr die Rede. Statt dessen spricht man
von einer höheren Nettoneuverschuldung.
({3})
Deswegen ist das, was hier vorgeschlagen worden ist,
auch verfassungswidrig. Denn es geht nicht, daß die höhere Neuverschuldung das Investitionsvolumen übersteigt. Dies wäre aber hier eindeutig der Fall. Das wissen
Sie sehr gut. Sie mogeln sich darum herum, ohne zu sagen, daß die CSU in Wahrheit - das betrifft Ihre netten
Presseerklärungen der letzten Tage, Frau Hasselfeldt die Mehrwertsteuererhöhung will.
({4})
Der zweite Punkt ist, daß Herr Stoiber des öfteren
auch außerhalb Deutschlands unterwegs ist und anderen
europäischen Ländern mehr oder weniger nahelegt, den
europäischen Stabilitätspakt einzuhalten. Das macht er
besonders gern bei unserem Partner Italien. Er mahnt die
Länder, dafür zu sorgen, daß ihre Haushaltsneuverschuldung nicht in der Form stattfindet, daß sie den
europäischen Stabilitätspakt und somit die Finanzlage
im Kontext Euro gefährdet. Auf der anderen Seite macht
er in der Bundesrepublik Deutschland einen Vorschlag,
der genau zu dieser Gefährdung beiträgt.
Ich kann dazu, daß er sich als Oberhüter des Stabilitätspaktes aufspielt und die Länder in dieser Hinsicht
maßregelt, nur sagen: Das ist scheinheilig, es ist verräterisch, und es ist ein ungeheuerlicher Populismus, der
hier von einem bayerischen Ministerpräsidenten zum
Schaden dieses Landes und auch zum Schaden des
europäischen Stabilitätspaktes geboten wird.
({5})
Wenn wir uns das Konzept genau anschauen, stellen
wir interessanterweise fest, daß beim Eingangssteuersatz
vor dem Komma genau die Zahl steht, die wir von Rotgrün in unserem Steuerkonzept, verantwortlich Herr Minister Eichel, bis zum Jahr 2002 beschlossen haben. Wir
haben einen Eingangssteuersatz von 19,9 Prozent beschlossen, die CSU fordert 19 Prozent.
Die CSU schlägt hinsichtlich der Unternehmensbesteuerung einen Körperschaftsteuersatz für ausgeschüttete Gewinne in der zweiten Stufe - nicht in der ersten von 25 Prozent vor. Das wollen wir nächstes Jahr entscheiden. Wir wollen den Steuersatz von 25 Prozent in
der ersten Stufe beschließen.
Deswegen meine ich, daß diese rotgrüne Koalition in
Fragen der Steuerpolitik wesentlich weiter geht und wesentlich solidarischer ist,
({6})
auch was die Gestaltung des Tarifs hinsichtlich der kleinen und mittleren Einkommen betrifft, als dies die CDU
und die CSU machen.
({7})
Die Konsequenz Ihres Konzeptes wäre nämlich, daß die
kleinen und mittleren Einkommen mehr belastet werden
würden. Das sehen wir sehr gut daran, wie der Tarif in
den Petersberger Beschlüssen ausgestaltet war.
Über die Aussage von Herrn Faltlhauser - er sitzt gerade zu meiner Linken auf der Bundesratsbank -, daß
die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 19 Prozent
die kleinen und mittleren Einkommen entlasten würde,
brauchen wir gar nicht zu reden; das wissen auch wir.
Das ist ein wunderbarer Vorschlag, der identisch mit
dem ist, was die Regierung macht. Aber zu sagen, bei
der Unternehmensteuerreform würden Steuersatzsenkungen in dieser Form die kleinen und mittleren Einkommen entlasten, ist schlichtweg eine Lüge.
({8})
Es ist nämlich vollkommen klar, daß die ganz kleinen
Gewerbetreibenden nur von der Senkung des Eingangssteuersatzes profitieren. Sie sind in der Regel nicht körperschaftsteuerpflichtig; das wissen wir doch. Wenn hier
so getan wird, als würde im Bereich der Unternehmensteuer von der CDU/CSU-Fraktion ein neuer Vorschlag
gemacht - eigentlich ist es nur ein CSU-Vorschlag, der
in der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag heftig umstritten ist und im bayerischen Kabinett auch nicht gerade auf viel Freude gestoßen ist -, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, kleine und mittlere Unternehmen!
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme sofort zum Schluß, Frau Präsidentin.
Die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen sollten sich
von einem solchen Vorschlag nicht in die Irre führen
lassen. Klar ist, daß wir mit der Unternehmensteuerreform eine Nettoentlastung in Höhe von etwa 30 Milliarden DM herbeiführen, die auch noch solide finanziert
ist.
({0})
Jetzt hat Herr Kollege Dr. Solms, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe
den Eindruck, je radikaler die Ausdrücke werden, desto
größer ist die innere Unsicherheit.
({0})
Wenn wir heute im „Handelsblatt“ lesen, daß sich der
Kollege Schlauch - wir nehmen zur Kenntnis, daß er
heute nicht anwesend sein kann - von den Plänen der
rotgrünen Regierung schon vorab distanziert
({1})
- das steht schwarz auf weiß im „Handelsblatt“ -, dann
sehen wir ja, wie die innere Unsicherheit um sich greift.
Wer im Finanzausschuß des Deutschen Bundestages die
Expertenanhörungen mit verfolgt hat, der weiß, wie ungeheuer groß auch die Verunsicherung bei den Betroffenen über das ist, was geschehen ist und weiterhin geschehen soll, falls den rotgrünen Plänen gefolgt wird.
Herr Eichel, Sie haben in der Haushaltspolitik eine
vernünftige Richtungsänderung vorgenommen.
({2})
Was Sie dann inhaltlich getan haben, wird dieser Richtungsänderung zwar nicht gerecht; aber die Richtungsänderung als solche war richtig. In der Steuerpolitik hingegen, Herr Bundesfinanzminister, bewegen Sie
sich leider immer noch auf den Pfaden von Herrn Lafontaine.
({3})
Sie haben kein bißchen davon korrigiert, obwohl Sie
doch heute schon erkennen müssen, daß das die falsche
Politik war.
({4})
Die Steuergeschenke, die Lafontaine im letzten Jahr
verteilt hat, haben bei der Bevölkerung nichts bewirkt,
weil Sie mit der Ökosteuer gleich wieder neuen Verdruß
ausgelöst haben.
({5})
Die Unternehmen haben Sie mit 30 Milliarden DM mehr
belastet und wundern sich nun, daß die Investitionen
nicht angesprungen sind und die Arbeitslosigkeit nicht
ausreichend bekämpft werden konnte.
Jetzt geht es auf diesem Weg weiter. Wann kommen
Sie zur Besinnung?
({6})
Die Anmeldung der heutigen Aktuellen Stunde zeigt ja
auch die Betroffenheit und Unsicherheit, die bei Ihnen in
diesen Fragen herrschen.
({7})
Ich habe voller Interesse darauf geschaut, was sich
Herr Staatsminister Faltlhauser, den wir von früher aus
gemeinsamer Arbeit im Finanzausschuß kennen, Neues
ausgedacht hat. Nun muß ich allerdings sagen, daß das
nicht neu, sondern altbekannt, neu geschminkt
({8})
und etwas frischer gestaltet ist. In Wirklichkeit ist das
nicht viel anders als die Petersberger Beschlüsse; die
paar kleinen Änderungen sind kaum bemerkbar. Das
finde ich nicht gut, weil der frühere Vorsitzende der
CSU, Theo Waigel, für die Petersberger Beschlüsse die
Hauptverantwortung getragen hat. Dann sollte man ihm
das Urheberrecht überlassen und nicht so tun, als bringe
man jetzt etwas Neues.
({9})
- Deswegen sage ich es ja. Ich finde es grundsätzlich
nicht in Ordnung, daß es in der Politik üblich ist, die
Ideen von anderen zu übernehmen, ohne auf das Urheberrecht hinzuweisen.
({10})
- Der Steuersatz von 35 Prozent stammt aus unserem
Stufentarif, dem ja auch Herr Struck so sehr anhängt,
weil dieser Tarif vernünftig ist.
({11})
Eine neue Umfrage unter tausend mittelständischen
Unternehmen hat ergeben, daß die Mehrheit dieser Unternehmen dies für den besten Vorschlag hält. Weitere
25 Prozent halten die Petersberger Beschlüsse für einen
guten Vorschlag.
({12})
Nur eine verschwindend kleine Mehrheit hält andere
Vorschläge überhaupt für diskutabel. Das zeigt doch,
wie die Betroffenen darüber denken.
Daher bitte ich darum, daß wir in einen vernünftigen
Wettstreit um die beste Steuerpolitik eintreten und versuchen, das Beste daraus zu machen. Voraussetzung dafür wäre allerdings, Herr Poß, daß die Fehler, die in dem
sogenannten Steuerentlastungsgesetz gemacht worden
sind, schnellstens korrigiert werden,
({13})
daß die Besteuerung der Lebensversicherungen zurückgenommen wird,
({14})
daß bei den 630-Mark-Arbeitsverträgen und bei den
Scheinselbständigen die Fehler als solche akzeptiert und
dann korrigiert werden - am besten sollten Sie Ihre Gesetzesänderungen zurücknehmen - und daß wir dann
vielleicht auch gemeinsam oder im Wettstreit versuchen,
das Optimale für den Standort Deutschland herauszuholen. Das heißt in unseren Augen, in den Augen der
F.D.P., ganz einfach: Die Steuersätze müssen gesenkt
werden, mindestens auf das international günstigste Niveau.
({15})
Das Steuerrecht muß dramatisch vereinfacht werden,
weil das komplizierte deutsche Steuerrecht von niemandem mehr verstanden wird. Die Steuerpflichtigen fühlen
sich dem Steuerrecht und der Steuerverwaltung ausgeliefert.
({16})
Sie sind verunsichert. Deswegen strengen sie sich mehr
an, die Steuer zu vermeiden, als sich um ihre Leistung
zu kümmern.
({17})
Wir brauchen ein Steuerrecht mit niedrigen Sätzen
und mit einfachen und gerechten Regeln. Nur einfach
geht es auch gerecht; das muß man wissen. Die komplizierten Bestimmungen, die Sie eingeführt haben, beispielsweise die Mindestbesteuerung und die Verrechnungsbeschränkungen,
({18})
führen alle zu mehr Ungerechtigkeit und nicht zu mehr
Gerechtigkeit. Wenn wir ein einfaches System bekommen, dann werden wir auch Akzeptanz bei den Bürgern
finden. Das wird sich zum Wohle aller auswirken. Dazu
rufe ich Sie auf. Bis jetzt ist die Erkenntnis nicht eingetreten. Aber wir hoffen weiter.
({19})
Das Wort hat nun
die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Steuerpolitik, Rentenreform, Gesundheitsreform: drei große Themen, in denen es den demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten darum geht, soziale Gerechtigkeit zu erhalten. Wir
ringen um den Erhalt der Sozialstaatlichkeit.
Allein in dieser Woche gab es zwei Aktuelle Stunden
zu diesen Themen - platter Wahlkampf. Der inhaltliche
Hintergrund: CDU/CSU und F.D.P. halten einmütig an
ihren Steuerkonzepten fest, präsentieren den Bürgerinnen und Bürgern ungeniert alten Staub auf alten Hüten.
Nichts anderes sind die Vorschläge, die der Herr Kollege Merz kürzlich der Öffentlichkeit vorstellte, aber auch
die Steuerinitiative „Bayern 2001“.
Gemeinsam ist allen diesen Plänen eine massive
Steuersenkung für Besserverdienende und Unternehmen
und der alte Aberglaube, daß allein dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden. Dabei haben gerade in den 90er
Jahren ältere Menschen, insbesondere Frauen, aber auch
katastrophal viele Jugendliche schmerzlich erfahren
müssen, daß die einfache Formel „Steuersenkung = Arbeitsplätze“ nicht funktioniert.
({0})
Aber CDU/CSU und F.D.P. zeigen sich unbelehrbar.
Nun kommt Bayern und will die gesamte Republik beglücken. Herr Faltlhauser bringt ein Konzept, welches
wir wirklich schon zur Genüge kennen. Dabei muß ich
sagen, daß ich ihm sogar in einem Punkt zustimme: bei
der Spreizung der Steuersätze. Das, was Frau Scheel uns
eben geboten hat, ist meiner Überzeugung nach nicht
richtig. Sie selbst haben widersprüchlich argumentiert.
Auch wir sehen die Gefahr eines Bruches des Grundsatzes der Gleichbesteuerung. Wir haben das auch an den
aktuellen Vorschlägen des Finanzministers kritisiert.
Wenn es auch richtig ist, daß diese Gefahr besteht, so
gibt es doch wahrlich verschiedene Wege, dieser Gefahr
auszuweichen, sie zu beseitigen. Die PDS fordert die
Beibehaltung des Spitzensteuersatzes bei allen Einkunftsarten, auf alle Fälle bei dieser Haushaltslage. Wir
sind dafür, das steuerfreie Existenzminimum massiv anzuheben und den Eingangssteuersatz auf unter 20 Prozent zu senken.
({1})
Dies trägt auch zu einer nachhaltigen Entlastung von
kleinen und mittleren Einkommen bei, darunter auch
von kleinen und mittleren Personenunternehmen. Es
werden damit auch Hochverdienende entlastet.
Aber die Vergabe von Steuergeschenken an Besserverdienende und wirklich Vermögende muß endlich beendet werden.
({2})
Einkommensstarke sollen sich unserer Meinung nach
endlich wieder an der Finanzierung der öffentlichen
Aufgaben beteiligen. Ich sage hier klipp und klar: Die
PDS wird es nicht zulassen, daß die Sozialbindung des
Eigentums, wie sie im Grundgesetz steht, zur leeren
Worthülse verkommt.
Die CSU wählt dagegen einen anderen, altbekannten
Weg. Sie will die Spitzeneinkommen entlasten. Der
Spitzensteuersatz soll um mindestens 15 Prozent, der
Eingangssteuersatz um 5 Prozent gesenkt werden. Warum sollen überhaupt die wirklich Vermögenden entlastet
werden? Das sehen wir nicht ein. 50 Milliarden DM soll
Ihr Paket die Bürgerinnen und Bürger des Staates kosten. Nicht umsonst erfolgt daraufhin erwartungsgemäß
Lob von der „Frankfurter Allgemeinen“ und von der
„Welt“; sie heben hervor, wie gut die CSU von den USA
gelernt hat.
Damit sind wir wieder einmal beim Mythos USA;
Steuersenkung auf Pump - da hat Herr Poß natürlich
völlig recht - soll sich durch einsetzendes Wirtschaftswachstum selbst finanzieren. Die konservativen Parteien
sind hier aber einem wirklichen Irrtum aufgesessen.
Massive Steuersenkungen fanden eben in den USA von
1982 bis Mitte der 80er Jahre statt. Präsident Clinton hat
den Spitzensteuersatz bei der Bundeseinkommensteuer
sogar wieder angehoben. Das sollte man vielleicht nicht
vergessen.
({3})
- Hören Sie doch bitte zu. Der Haushaltsüberschuß wurde erstmals 1998 erzielt. Er hat aber andere Quellen als
die, die Sie uns weiszumachen versuchen, und zwar
auch einen massiven Abbau des Rüstungsetats, aber
auch massive Einschnitte in die Sozialstandards. Interessant ist, wie das amerikanische Wunder dann in der
Realität aussieht: 15 Prozent der arbeitslosen Bürger und
Bürgerinnen der USA sind in überhaupt keiner Arbeitslosenstatistik erfaßt - das zur Glaubwürdigkeit der Zahlen, die Sie immer nennen.
({4})
Pro Jahr verlieren 40 Prozent der Menschen ihren Job.
Die Löhne im Dienstleistungssektor, in der sogenannten
Zukunftsbranche, sind mit 6 bis 8 Dollar pro Stunde die
niedrigsten. Rund 15 bis 20 Prozent weniger Schüler als
vor 20 Jahren besuchen heute die High-School. Die Gewerkschaften sind mittlerweile praktisch ohne Einfluß.
({5})
Damit Sie sich beruhigen: Das sind keine Zahlen der
PDS, sondern das sind die Auskünfte, die wir am Rande
der Jahrestagung des IWF in Washington erfahren
konnten, unter anderem von einem der Chefökonomen,
Herrn Holzer, aber auch von Vertretern des Congressional Budget Office. Das sollte Ihnen doch wirklich zu
denken geben.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit!
Ein derartiger Abbau gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Gerechtigkeit,
wie dort realisiert, ist nicht unsere Zielstellung. Wir
werden keine Politik für Spezis am Starnberger See, für
Millionäre, machen, sondern wir wollen Politik für die
Masse der Bevölkerung machen und werden deshalb
massiv gegen Ihre Pläne auftreten.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat nun
für den Bundesrat Herr Staatsminister Kurt Faltlhauser.
({0})
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({1}): Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau
Scheel, Herr Poß: Wer so laut schreit, hat unrecht.
({2})
Wer so um sich schlägt, hat kein Konzept. Die Bürger
wollen Argumente hören, keine schrillen Töne. Ich habe
mir hier über Minuten hinweg Diffamierungen des bayrischen Ministerpräsidenten anhören müssen, eines Ministerpräsidenten, der bei den Bürgern in Bayern eine
doppelt so hohe Zustimmung hat wie SPD und Grüne
zusammengenommen.
({3})
Er ist, Frau Kollegin von der PDS, nicht nur von den
Spezis am Starnberger See gewählt worden, sondern von
den Arbeitnehmern draußen; sonst hätte er keine 53 Prozent bekommen.
({4})
Um was geht es uns in unserem Steuerkonzept? Meine Damen und Herren, es geht um die massive Förderung von Wachstum. Es geht um die Schaffung von
Arbeitsplätzen mit dem Instrument der Steuerpolitik.
Lafontaine - Ihr Vorgänger, Herr Eichel - hat im Bundestag in Bonn im März noch ausdrücklich gesagt, er
halte die Steuerpolitik für die Schaffung von Arbeitsplätzen nur sehr wenig geeignet. Genau dies ist unser
Ansatz. Wir sagen: Die Steuerpolitik ist ein zentrales
Instrument, um tatsächlich Wachstum und Arbeitsplätze
zu schaffen.
({5})
Herr Eichel, Sie werden mit Ihren Vorstellungen, die
Sie bisher vorgelegt haben, keine Wachstumseffekte erzielen. Im Gegenteil: Wir spüren Attentismus, weil die
Leute überall sagen: Was wollen die nun eigentlich?
Das, was Sie bisher gemacht haben, waren millimeterweise Senkungen ohne Mut und ohne Konzeption. Bei
der Unternehmensteuerreform begehen Sie einen Systembruch, veranstalten Chaos und Planspielchen. Keine
klare Konzeption, keine klare Senkung: Ich denke, das
ist genau das Gegenteil von dem, was man im Unternehmensbereich braucht.
({6})
Die Grünen, Frau Scheel, sind ja schon sichtbar auf
der Flucht vor diesem Chaos. Ich kann nur sagen: Herr
Schlauch, willkommen im Klub der Sachverständigen!
({7})
In allem Ernst: Die Leute wollen sich doch die Fetzereien gar nicht mehr anhören. Dieses Land braucht ein
steuerpolitisches Gesamtkonzept - wie Frau Kollegin
Hasselfeldt es schon dargestellt hat - mit deutlichen
Senkungen sowohl für die Unternehmen- als auch bei
der Einkommensteuer. Das muß zusammenpassen. Das
gilt insbesondere für die Personenunternehmen. Es paßt
eben nicht zusammen, was Sie gegenwärtig in Planspielchen probieren. Wir brauchen eine klare Grundlinie; einen steuerpolitischen Befreiungsschlag braucht
dieses Land, sonst nichts.
({8})
Daß, Herr Kollege Solms, die Steuerpolitik keine
Novitätenschau ist, das ist wohl wahr. Aber bei genauem
Hinschauen werden Sie sehr wohl die wohldurchdachten
Fortentwicklungen der bisherigen Vorstellungen der
Union und der CSU erkennen können. Eine Novität, die
mit Stufen aufwartet, halten wir nicht für besonders sensationell.
({9})
Die Vereinfachung, die Sie jetzt Ihrerseits anmahnen,
wird nicht durch einen Stufentarif, der sehr simpel aussieht, hergestellt. Vielmehr kann man eine Vereinfachung nur bei der Bemessungsgrundlage herstellen; das
ist das Entscheidende.
({10})
Der Vorschlag, den ich vorgelegt habe, wird sich
weitgehend selbst finanzieren, und zwar durch dreierlei
Effekte: Der Effekt Numero eins ist der Wachstumseffekt.
({11})
- Der Herr Finanzminister hat noch gar nichts gehört,
aber er ist schon sehr lustig.
({12})
Der zweite Effekt ist der Ehrlichkeitseffekt, wenn Sie
so wollen,
({13})
und der dritte ist der unmittelbare Haushaltseffekt.
Durch die durchgängige 30prozentige Steuerentlastung
in der zweiten Stufe werden wir in massiver Weise einen
Investitionszuwachs bekommen,
({14})
der seinerseits noch einmal durch eine massive Nachfragestärkung gefestigt wird. Die Wissenschaftler nennen
das Akzelerationseffekt.
({15})
Das stärkt dann auch noch die Investitionen. Dieser
Wachstumseffekt - das nehme ich persönlich an - beträgt im ersten Jahr
({16})
- jetzt achten Sie einmal auf die Zahlen, Herr Poß einen halben Prozentpunkt zusätzliches Bruttosozialprodukt und wird in den Jahren 2002 und 2003 etwa einen
Prozentpunkt betragen. Das ist sehr niedrig angesetzt
angesichts anderer Erfahrungen. Bei einer Steuerelastizität von 1,3 Prozent - das kann üblicherweise angenommen werden - hat das zum Ergebnis, daß auf Grund
des Wachstumseffektes schon fast 50 Prozent der gesamten Ausfälle abgedeckt sind.
Ein Weiteres. Die Steuervermeidung wird beendet
werden. Personen, die ihr Kapital ins Ausland gebracht
haben, werden in dieses Land zurückkehren.
({17})
Die Leute werden wieder aus der Schwarzarbeit auftauchen, und diejenigen, die viel Geld haben, werden endlich aufhören, akrobatische Steuervermeidungsstrategien
zu fahren, weil es sich einfach nicht mehr lohnt.
({18})
Wenn man alle Effekte zusammennimmt, muß man sagen: Dieses Paket wird sich weitgehend selbst finanzieren.
({19})
Das ist auch die Erkenntnis aller vernünftigen Experten,
etwa des Ifo-Instituts.
Dieses Konzept baut auf den Erfahrungen von Großbritannien, wo es funktioniert hat, und von Neuseeland
auf, wo man eben von 48 Prozent - sehr vergleichbar
mit den Sätzen in unserem Land ({20})
auf 28 Prozent heruntergegangen ist und wo man
({21})
auf einen Eingangssteuersatz von 21 Prozent heruntergegangen ist.
({22})
Das hat dort zu einer radikalen Reduzierung der Arbeitslosigkeit geführt. Die Wirtschaft dort ist gesund,
und bei uns ist sie nicht gesund, Herr Eichel. Es ist Ihre
Aufgabe, hier etwas zu tun.
({23})
Der Zwischenruf von Herrn Poß zielt auf die Verschuldungsgrenze. Ich lese in den Zeitungen, daß wir die
Grenzen des Maastrichter Vertrages überschreiten. Wer
die Grundlagen und Zahlen in dem schönen dicken roten
Buch des Finanzministers liest, wird feststellen, daß wir
weit weg davon sind. Selbst wenn Sie die Ausfälle, die
von uns bei diesem Vorschlag unterstellt werden,
({24})
hinzurechnen, kommen Sie nicht über 2 Prozent hinaus,
und im Jahr 2002 sind Sie bei 1,5 Prozent und im Jahre
2003 noch einmal bei 1,5 Prozent. Das ist weit weg von
dem 3-Prozent-Kriterium.
({25})
Ich glaube, das ist ein Argument der Ahnungslosen.
({26})
Dann kommt der Art. 115. Danke für das Stichwort,
Herr Kollege. Ich habe mich schon damit befaßt, weil
das natürlich auch die Länder angeht. Ich habe ja gelesen, die neuen Bundesländer seien betroffen. Dazu sage
ich: Kein neues Bundesland ist in der Gefahr, daß es
über die in Art. 115 festgelegte Grenze - er besagt, daß
die Summe der Investitionen gleich der Verschuldung
sein muß - hinausgeht. Es gibt kleine Probleme bei
Bremen und Hamburg, erstaunlicherweise nicht bei
Berlin. Die einzige Ebene, wo man im Anfangsstadium
tatsächlich über die Grenze hinauskommen kann, ist der
Bund. Aber, meine Damen und Herren, schauen Sie sich
die Zahlen an: Das hat der Finanzminister selbst in der
Hand. Sein Vorgänger hat massiv die konsumtiven Ausgaben nach oben getrieben zu Lasten der Investitionsquote. Und der jetzige Finanzminister
({27})
drückt die Investitionsquote, die Investitionen dieses
Haushaltes, nach unten. Er kann durch kleine Schräubchendrehungen natürlich sicherstellen, daß der Art. 115
eingehalten wird.
({28})
- Auch ich mache einen Haushalt, ich weiß genau, wie
das geht.
({29})
Mit Sicherheit können Sie so die Investitionen nach
oben treiben. - Ich sage mit Stolz: Ich habe eine Investitionsquote von 15,7 Prozent, was sehr schwer einzuhalten ist, und der Bund hat eine Investitionsquote von
knapp über 10 Prozent. Und jetzt drücken Sie sie noch
weiter nach unten.
Sie haben es mit Ihrer Haushaltspolitik selbst in der
Hand, Herr Eichel, die Investitionsquote zu steuern und
damit Art. 115 zu entsprechen. Dies als Argument gegen
eine Steuerkonzeption zu nehmen ist nichts anderes als
eine Argumentationsflucht.
({30})
Gehen Sie doch auf dieses Steuerkonzept ein, und gehen
Sie nicht auf irgendwelche Nebenkriegsschauplätze!
Staatsminister Kurt Faltlhauser ({31})
({32})
Noch etwas zum Unsozialen: Wir senken den Eingangssteuersatz weiter als diese Bundesregierung.
Außerdem setzen wir den Grundfreibetrag früher hinauf,
als es diese Bundesregierung geplant hat. Wir senken
dabei die Steuerlast für alle um rund 30 Prozent. Vor
allem schaffen wir mit diesem Konzept Arbeitsplätze.
Und sozial ist heute, was Arbeitsplätze schafft.
({33})
Herr Minister, Sie
dürfen so lange reden, wie Sie wollen. Aber es wäre
ganz nett - Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({0}): Ich
hätte gerne noch eine halbe Minute, weil ich mich insbesondere noch von Herrn Eichel verabschieden will.
({1})
Herr Eichel, Sie werden den Bundesrat brauchen. Jetzt
gibt es noch eine Merz-Konzeption und einen Faltlhauser-Tarif. Es wird innerhalb kürzester Zeit einen abgestimmten Unionstarif geben.
({2})
Ich kann Ihnen nur raten: Befassen Sie sich möglichst
frühzeitig mit diesen Vorstellungen; denn ohne uns
kommen Sie nicht über die Runden. Wenn Sie unsere
Vorstellungen wenigstens einigermaßen aufnehmen,
wird es Ihnen Deutschland danken.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Irgendwie bin
ich froh darüber, daß die CSU und auch die CDU anfangen, den Anschein zu erwecken, sich konzeptionell an
deutscher Politik wieder zu beteiligen. Denn für uns war
es schon schwierig, immer nur auf fundamentale Sprüche zu hören, von wegen, es sei ungerecht, es gehe
nicht. Man hatte den Eindruck, Sie hätten Petersberg
vergessen.
Jetzt liegen dankenswerterweise Papiere von Ihnen
vor, Herr Faltlhauser. Da lohnt sich wieder der politische Vergleich. Wir haben auf der einen Seite Petersberg pur und auf der anderen Seite das Konzept der rotgrünen Koalition bzw. der Bundesregierung, und dieser
Vergleich lohnt sich tatsächlich.
Die Bayerische Staatsregierung, Herr Faltlhauser,
fordert unter dem Strich über die von der Koalition bereits im Steuerentlastungsgesetz 1999 beschlossene
Entlastung von 12 Milliarden DM hinaus eine Nettoentlastung für alle bis zum Jahr 2003 in Höhe von 50 Milliarden DM. Allein für den Bundeshaushalt bedeutet
dies eine zusätzliche Belastung von jährlich 20 Milliarden DM.
Die Nettoneuverschuldung, die wir mit dem Haushalt
2000 auf 45 Milliarden DM zurückgefahren haben, stiege wieder auf 65 Milliarden DM an. Die Einhaltung der
Maastricht-Kriterien wäre gefährdet. In diesem Jahr kämen wir mit den 3 Prozent noch hin. Aber wir reden
vom Jahr 2003. Da gelten ganz andere Grundsätze. Wir
haben uns verpflichtet, uns in Richtung eines ausgeglichenen Haushaltes zu bewegen. Das wäre beim besten
Willen nicht mehr zu erreichen.
Geringste Zinsbewegungen nach oben - die würden
Sie mit einer solchen zusätzlichen Verschuldung natürlich provozieren - würden die Zinslastquote für den
Bund und für alle anderen Gebietskörperschaften noch
weiter durch die Decke schießen lassen, als wir es bereits jetzt haben.
({0})
Die CSU hätte das erreicht, was sie sich bereits mit den
Petersberger Beschlüssen in der eigenen Regierungszeit
vorgenommen hatte: Der Staat wäre endgültig reformund handlungsunfähig.
Eine solche nur durch den CSU-Parteitag erklärliche
großmäulige und unverantwortliche Politik machen wir
nicht mit. Wir setzen auf Konsolidierung des Staatshaushaltes und zugleich auf soziale Gerechtigkeit ausweislich der Steuerpolitik.
({1})
- Wir arbeiten sehr konzentriert daran, wie wir Besitzer
großer Vermögen dazu heranziehen können, sich an der
Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Sie alle
werden sich noch wundern und vielleicht auch freuen,
was möglicherweise gegen Ende des Jahres dabei herauskommt. Alles braucht seine Zeit. Das Ergebnis zählt.
({2})
Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002,
mit den zwei Stufen des Familienentlastungsgesetzes
und mit der Unternehmensteuerreform erreicht die Koalition eine Nettoentlastung von wenigstens 40 Milliarden DM: 20 Milliarden DM 1999, 2000, 2002 Nettoentlastung, etwa 10 Milliarden DM durch beide Stufen
des Familienentlastungsausgleichs und etwa 10 Milliarden DM durch die Unternehmensteuerreform ist die
Größenordnung, die wir als Eckdaten haben. Das sind
nach Adam Riese 40 Milliarden DM an Entlastung.
Das kann sich sehen lassen, wenn wir gleichzeitig in
der Lage sind, den Haushalt zu konsolidieren und dieses
alles ohne zusätzliche Neuverschuldung zu finanzieren.
({3})
Das ist realistisch. Außerdem ist es deutlich weniger als
in die hohle Hand geschissen,
({4})
sondern ist für alle - insbesondere für die Familien, aber
auch für die Unternehmen - eine ganz gewaltige EntlaStaatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({5})
stung, die nicht mit Zukunftsunfähigkeit bezahlt werden
muß.
Gegenüber dem bereits beschlossenen Reformpaket
unserer Regierung würde der Bayerntarif den Eingangssteuersatz um weitere 0,9 Prozentpunkte auf 19 Prozent
senken - allerdings erst im Jahr 2003, also deutlich später, als wir das vorhaben. Gleichzeitig würde der Spitzensteuersatz über die von uns vorgesehene Senkung auf
48,5 Prozent hieraus um weitere 13,5 Prozentpunkte auf
35 Prozent reduziert werden. Allein die Symmetrie zwischen dem, wie man unten nachgibt, und dem, wie man
nach oben nachgibt, zeigt, daß dieses Bayernkonzept
genauso wie das Petersberger Konzept Schlagseite hatte
und deswegen als ungerecht abgelehnt werden muß.
({6})
Nach dem Bayerntarif würden Einkommen, die über
110 000 DM bzw. bei Verheirateten über 220 000 DM
liegen, linear mit 35 Prozent besteuert werden. Da kann
von Steuergerechtigkeit und von Besteuerung nach Leistungsfähigkeit überhaupt keine Rede mehr sein.
({7})
Daran ändert auch die geforderte Abflachung des Tarifs und des Durchschnittssteuersatzes nichts. Die unter
Kohl und Waigel in Gang gesetzte Maschinerie der öffentlichen Verarmung und der privaten Bereicherung
würde auf zweifache Art und Weise wieder angeworfen
werden: sowohl über die Tarife als auch über die steigenden Zinsen. Das führte auf den Geldmärkten dazu,
daß diejenigen, die viel Geld haben, noch mehr verdienen. Dieser doppelte Effekt, Kennzeichen der 16 Jahre
Kohl und Waigel, würde wieder entstehen, und zwar mit
demselben Ergebnis.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Das Ergebnis wäre eine riesige Gerechtigkeitskluft, wie sie uns die
alte Regierung hinterlassen hat und die wir mit großer
Mühe Schritt für Schritt schließen.
Ein letztes Wort zur Unternehmensteuer. Es ist interessant, was Sie zu diesem Thema vorschlagen: Sie begünstigen weiterhin die entnommenen Gewinne und behandeln die thesaurierten Gewinne deutlich schlechter.
Unter dem Strich gesehen werden die Unternehmen
deutlich höher belastet, als es nach unserem Unternehmensteuerkonzept der Fall ist. Das, was im Unternehmen bleibt und was zu Investitionen führen soll und was
ausländisches Geld im Lande halten soll, weil es sich
lohnt, Substanz in einer Tochtergesellschaft ausländischer Konzerne aufzubauen, alles das stellen Sie in Frage. Alles das, was Sie selbst eingeleitet haben, nämlich
den Rückbau von Konzerntöchtern, von Aktiengesellschaften zu 50 000-DM-GmbHs, die nur noch über
Darlehen ihrer Mütter finanziert werde, wollen Sie wiederherstellen. Das führt zu einem totalen Ausbluten großer Gesellschaften, wie wir das in den letzten Jahren in
einer Größenordnung von Hunderten von Milliarden
DM hatten, die ins Ausland abgeflossen sind.
Ihre Redezeit ist nun
endgültig um; Sie hatten anderthalb Minuten mehr.
Gut.
Vielen Dank.
({0})
Ich muß auf Gerechtigkeit achten, ich bitte sehr um Nachsicht.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Austermann.
Frau Kollegin!
Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat so, wie der
Herr Faltlhauser gesagt hat: Es wird bei Ihnen fast nur
noch geschrien. Es gibt keinen ruhigen Vortrag, keine
klare Aussage zu einem Thema mehr, das relativ leicht
verständlich ist, wenn man in die Historie schaut.
Es kann jeder alle Behauptungen dazu aufstellen, wie
sich mancher Steuersatz von heute in der Zukunft entwickeln wird. Der Finanzminister macht das jeden Tag.
Ich bin der Meinung, man sollte sich an Beispielen aus
der Vergangenheit orientieren. Die Beispiele zeigen, daß
es Jahre gegeben hat, in denen wir die Steuern in
Deutschland drastisch gesenkt haben und gleichwohl soviel zu Art. 115 des Grundgesetzes - die Steuereinnahmen des Staates gesprudelt sind.
Die große Steuerreform der Jahre 1986, 1988 und
1990 unter Gerhard Stoltenberg, die mit dem Konzept
von Minister Waigel fortgeführt werden sollte, führte zu
einer Nettoentlastung von 43,5 Milliarden DM. Damals
gab es die gleichen Bedenken der Angsthasen aus der
SPD. Auch die Länder hatten Bedenken. Sie fürchteten,
daß ihre Kassen austrocknen würden, daß die Gemeinden kein Geld mehr hätten. Sie behaupteten, das Ganze
sei nicht sozial gerecht und nicht in Ordnung. Die gleichen Bedenken, die heute von Herrn Eichel - Griff in
die Mottenkiste - vorgetragen werden, gab es damals
auch.
({0})
- Das Ergebnis dieser dreistufigen Regelung - in zwei
Jahren praktisch beschlossen - war, daß die Steuereinnahmen um sage und schreibe das Dreifache dessen gestiegen sind, was die Nettoentlastung ausgemacht hat,
nämlich um rund 125 Milliarden DM. Dies kann man
leicht nachvollziehen, indem man sich ansieht, wie hoch
die Steuereinnahmen 1986, 1988, 1990 und 1991, waren
und dann den entsprechenden Beitrag für die neuen
Länder abzieht. Die dreifache Summe dessen, was die
Nettoentlastung ausgemacht hat, was also bei den Bürgern und Betrieben angekommen ist, ist eingenommen
worden.
Der zweite Effekt, den man dann, wenn man in die
Historie schaut, nachvollziehen kann, ist der für den Arbeitsmarkt. Sie haben sicher noch die gestern oder vorReinhard Schultz ({1})
gestern vorgelegte Statistik zum Arbeitsmarkt im Kopf.
Wir haben saisonbereinigt eine Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Beschäftigten sinkt. Dies ist die
Wirkung der ersten Steuermaßnahmen, die Sie im Laufe
dieses Jahres getroffen haben.
({2})
Man kann wohl nicht annehmen, daß die Unternehmen jetzt in großem Umfang auf Grund Ihres erst für
das Jahr 2000 versprochenen und dann auf das Jahr 2001
verschobenen gewaltigen Konzeptes investieren.
({3})
Tatsache ist, daß Sie all die entscheidenden Faktoren
für Wirtschaft und Staat, nämlich das wirtschaftliche
Wachstum und die Beschäftigung, negativ beeinflußt
haben und daß die Zahl der Arbeitslosen saisonbereinigt
in diesem Jahr gestiegen ist. Das ist die Wirkung Ihrer
Steuerpolitik.
({4})
Ich habe gestern abend mit einem Steuerfachmann
zusammengesessen und ihm gesagt, daß ich heute in der
Aktuellen Stunde zur Steuerpolitik reden soll. Ich habe
ihn um eine Bewertung gebeten. Daraufhin sagte er zu
mir: Die steuerlichen Vorschriften, die wir in den letzten
zehn Monaten bekommen haben, sind der Tiefpunkt
steuerlicher Gesetzgebungskultur.
({5})
Es gibt kaum noch eine Vorschrift, die man versteht. Ich
nenne hier zum Beispiel die §§ 2 b, 4 a oder 3 b des
Einkommensteuergesetzes. Sie können irgendeine Vorschrift nehmen.
({6})
Auf jeden Fall muß man Zweifel daran haben, ob das,
was dort vorgelegt worden ist, verfassungsrechtlich in
Ordnung ist.
({7})
Es ist wichtig, ob die von Ihnen hier mit Mehrheit beschlossenen Gesetze verfassungsmäßig sind oder nicht.
({8})
Sie müssen Ihre Vorschläge darauf überprüfen, welche
Wirkung sie auf den Arbeitsmarkt und auf die Wirtschaftskraft des Landes haben.
Nun sehe ich mir die Situation zu Beginn des
kommenden Jahres an. Die offizielle Auskunft aus
dem Finanzministerium lautet: gewaltige Steuerreform.
Durch die jetzt beschlossene Steuerreform wird der Bürger im nächsten Jahr in der Summe um 2,7 Milliarden
DM entlastet. Das trifft Bund, Länder und Gemeinden.
Sie haben durch das, was diese Regierung hier beschlossen hat, weniger Steuereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden DM. Wer erwartet denn daraus einen gewaltigen
zusätzlichen Impuls, einen Schub für die Wirtschaft oder
für den Arbeitsmarkt? Ich sage es noch einmal: Durch
Ihre Steuerreform wird es im nächsten Jahr Steuerausfälle in Höhe von 2,7 Milliarden DM geben.
({9})
- Wir erwarten, daß sich der gleiche Effekt vollzieht,
den wir 1986, 1988 und 1990 hatten. Das war nämlich
eine Zunahme der Beschäftigtenzahl um drei Millionen.
Genau das ist der entscheidende Punkt.
({10})
Wir hatten den Tiefstpunkt bei der Arbeitslosigkeit im
Jahr 1992; das war die Wirkung aus dieser großartigen
Reform.
Dann überlegen Sie, ob das Ganze noch sozial gerecht ist. Ich habe mit großem Interesse gehört, daß Sie
nun wieder die Vermögensteuerarbeitsgruppe Ihrer
Fraktion oder des Ministeriums arbeiten lassen. Ich
dachte, das Ganze soll heute zur Ablenkung dienen. Der
Kollege Poß hat im Juni gesagt, man müsse darüber
einmal im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit nachdenken. Jetzt hört man, Sie setzen eine Arbeitsgruppe ein.
Erst ist Herr Eichel dagegen, dann ist er ein bißchen dafür, dann sagt er, ja, da arbeitet eine Arbeitsgruppe, das
Ergebnis warten wir ab.
Trotzdem ist Ihre
Redezeit zu Ende.
Herr Poß sagte
vor kurzem, das Ding ist tot,
({0})
und Sie haben jetzt eben gerade die Arbeitsgruppe wieder eingesetzt.
Die Folgerung, die der Bürger daraus ziehen kann:
Mit Griffen in die Mottenkiste, mit Neidargumenten in
der Steuerpolitik, mit einer Politik, die Beschäftigung
unterdrückt und nicht fördert, werden Sie die Zukunft
nicht gewinnen.
({1})
Wir brauchen keine Angsthasensteuerpolitik, sondern
eine Politik für Wachstum und Beschäftigung.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Klaus Müller, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es fällt ja schon auf, daß sowohl die Kollegin
Hasselfeldt als auch der Kollege Austermann nach den
ersten zwei Sätzen gar nicht mehr über das bayerische
Steuermodell geredet haben. Ich glaube, denen ist das
ziemlich peinlich, was da gekommen ist. Dann reden Sie
viel lieber über andere Dinge, aber nicht über das Thema
der Aktuellen Stunde.
({0})
Herr Austermann, wenn Sie schon so viel mit Zahlen
umgehen, dann sollten Sie mit ein bißchen mehr Ehrlichkeit herangehen.
Natürlich haben Sie eine Steuerreform gemacht. Natürlich hatten Sie Probleme mit der deutschen Einheit.
Aber sagen Sie, wie Sie das finanziert haben. Sie haben
sie zum ersten durch mehr Schulden finanziert, jede
Menge Schulden, die wir zur Zeit abtragen müssen, und
zum zweiten haben Sie sie über mehr Lohnnebenkosten
finanziert.
({1})
Die Lohnnebenkosten sind in Ihrer Regierungszeit laufend erhöht worden.
({2})
Da liegt das Problem. So haben Sie diese Aufgaben
finanziert, versteckt und klammheimlich, aber nicht
offen und ehrlich.
Wir wollen aber statt dessen lieber über Bayern reden. Wir reden über Bayern, weil allmählich die Alternative zu Rotgrün deutlich wird.
({3})
Das muß man in einem Kontext sehen. Bayern oder
vielmehr die CDU/CSU bescheren uns interessante Vorschläge.
Erstens sollen wir im ersten Monat Arbeitslosigkeit
das Arbeitslosengeld streichen. Zweitens sollen 20 DM
für jeden Krankenbesuch bezahlt werden. Drittens
schlagen Sie eine unsoziale Steuerreform auf Pump vor.
Viertens geben Sie noch Empfehlungen zur Koalition
mit dem Rassisten Haider, wie Ihr Kollege Friedman zu
Recht gesagt hat, von Ihrer Personalpolitik in Bayern
einmal ganz zu schweigen.
Die Politik, die Sie von der CSU betreiben, ist doppelzüngig.
Erstens ist Ihre Politik doppelzüngig, weil Sie jedem
alles versprechen. Auf der einen Seite versprechen Sie
mehr Geld für den Straßenbau, so gestern geschehen
- „CSU will mehr Geld für Straßenbau“ -, machen sich
Sorgen um die Bundeswehr, und gleichzeitig wollen Sie
eine Steuerreform auf Pump.
({4})
Jedem alles zu versprechen, Mehrausgaben und immer
noch mehr Steuergeschenke - dieses ist unseriös.
({5})
Zweitens. Diese Steuerpolitik der CSU ist unsozial.
Sie stellen sich hin und sagen, überall würde der Tarif
einheitlich gesenkt werden. Ich empfehle Ihnen einen
Blick ins „Handelsblatt“, die das für diejenigen, die
Zahlen nicht lesen können, sondern nur Graphiken,
schön aufbereitet haben, einen Blick in die Entlastungstabellen. Ein niedriges Einkommen von 48 000 DM entlasten Sie um 900 DM. Das sind 15 Prozent Entlastung.
Ein Einkommen, das bei 360 000 DM liegt, entlasten Sie
um 45 000 DM. Der Taschenrechner, meiner wie Ihrer,
wird Ihnen da 30 Prozent Steuerentlastung anzeigen.
Gehen wir in Ihre Details. Wenn Sie Ihre Steuerkurven
angucken, werden Sie sehen, daß Sie oben kräftig entlasten und unten praktisch gar nicht.
Weiter versprechen Sie eine Erhöhung der Freibeträge für die Kinder. Darüber reden wir doch die ganze
Zeit, und Ihre Abgeordneten waren es, die zu Recht
nachgefragt haben, wo denn die soziale Komponente ist.
Das ist das Kindergeld. Das Wort Kindergeld taucht in
Ihrer Steuerpolitik nirgendwo auf. Die Kollegin Hasselfeldt hat Anfang des Jahres, bevor die Entscheidung aus
Karlsruhe kam, noch gesagt, es wäre ein unnötiger
Luxus.
({6})
- Natürlich haben Sie das gesagt. Insofern stelle ich
auch hier eine soziale Schieflage fest.
Betrachten wir weitere Details Ihres Konzepts. Ein
Steuertarif von 19 bis 35 Prozent ist unanständig,
schlicht unanständig. Hätten Sie Mut gehabt, wie ihn die
CDU bewiesen hat, die in der Tat noch weiter unten angefangen hat, dann hätten wir wenigstens darüber reden
können, abgesehen von den Steuerausfällen. Aber ein
Steuertarif von 19 Prozent bis 35 Prozent ist unanständig.
Ich möchte jetzt auf Ihre Gegenfinanzierungsvorschläge eingehen. Sie fordern einen Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne von 35 Prozent. Hier sind
wir mutiger. In unserem Konzept ist ein Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent vorgesehen. Ich muß
Ihnen an dieser Stelle ehrlich sagen: Sie haben Wirtschaftspolitik schlicht nicht verstanden.
Sie wollen die Nutzungsdauer von beweglichen Wirtschaftsgütern verlängern. Für diese Maßnahme haben
Sie 3 Milliarden DM angesetzt. Dies ist viel zu hoch,
2,2 Milliarden DM wären viel ehrlicher gewesen.
Das gilt auch für die Senkung der linearen AfA.
Sie wollen außerdem die degressive AfA für private
Mietwohnungen abschaffen. Fragen Sie einmal Ihre
Wohnungspolitiker, wie sich die Mieten entwickeln
werden, wenn diese wegfällt.
Sie wollen die Veräußerungsgewinne aus Investitionsfonds besteuern. Wie geht dies mit der Sicherung
der Altersvorsorge zusammen? Sie beschimpfen uns,
weil wir die Subventionierung von Kapitallebensversicherungen diskutieren. Aber Sie wollen Aktienfonds, die
der privaten Altersvorsorge dienen, besteuern. Dies ist
schlicht unsozial und unvernünftig.
({7})
Des weiteren fordern Sie die Wiedereinführung des
halben Steuersatzes bei Gewinnen von Betriebsvermögen.
Dies ist eine Mogelpackung. Gleichzeitig behaupten Sie,
diese Maßnahme entlaste die KMUs. Durch die Fünftelungsregel, die in unserem Konzept vorgesehen ist, wird
erwiesenermaßen eine Altersvorsorge bis zu 500 000 DM
entlastet. Durch Ihr altes Konzept wurden die bevorzugt,
die über dieser Grenze lagen. Durch das CSU-Konzept
- rechnen Sie es nach, Herr Michelbach - werden die hohen Einkommen entlastet. Durch das rotgrüne Konzept
werden die mittleren und unteren Einkommen entlastet.
Dies ist unser Konzept. Dafür stehen wir.
Jetzt kündigt die CDU/CSU ein eigenes Steuerkonzept an. Auf dieses bin ich gespannt. Sie verfahren nach
dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ' ich
einen Arbeitskreis. Sie stehen für eine Steuerreform auf
Pump. Dies ist unseriös, unsozial und unsolide.
Sie sind die Partei der Fußnoten und der Mehrwertsteuer. Wenn man die steuerlichen Maßnahmen des
CDU- und des CSU-Konzepts addiert, dann stellt man
fest, daß die Steuerausfälle 74 Milliarden DM betragen.
Diese Summe entspricht genau einer Erhöhung der
Mehrwertsteuer um fünf Prozentpunkte. Ich bin gespannt, wann Sie die Katze aus dem Sack lassen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Schild, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man Vorschläge für eine Steuerreform macht, dann muß man sich auch den finanziellen
Zustand dieser Republik anschauen. Wenn man dies tut,
dann erweisen sich die von der CSU vorgeschlagenen
Steuerpläne sehr schnell als ein durchsichtiges politisches Manöver. Die dort gemachten Versprechungen
bedeuten den Abschied von finanzpolitischer Seriösität
und Disziplin.
({0})
Diese Regierung hat nicht nur Versprechungen gemacht.
Sie hat in der zweiten Stufe ihrer Steuerreform Bürgerinnen und Bürger sowie mittelständische Betriebe um
20 Milliarden DM entlastet.
({1})
Statt mit unseriösen Vorschlägen auf Stimmenfang zu
gehen, wäre es notwendig gewesen, sich mit den harten
Fakten finanzpolitischer Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen, auch wenn unbequeme Wahrheiten ausgesprochen werden müssen. Die Bürgerinnen und Bürger
in diesem Lande sind bereit, die Staatsverschuldung als
ein zentrales Problem der Politik wahrzunehmen. Seriöse Finanzpolitik kann angesichts der hohen Staatsverschuldung dem Ziel der Steuerentlastung nur in vertretbaren Schritten näherkommen. Dies haben wir getan.
Die Verschuldung des Bundes hat eine Geschichte.
Sie ist die größte Erblast der Regierung Kohl und ihres
Finanzministers Waigel. Mit den neuen CSU-Vorschlägen wird in die gleiche Kerbe geschlagen. Die dort
vorgeschlagene irrwitzige Nettoentlastung von über
50 Milliarden würde die Verschuldung der öffentlichen
Hände noch viel stärker und bedrückender werden lassen. Die Schulden des Bundes - darauf ist in den letzten
Tagen im Deutschen Bundestag mehrfach hingewiesen
worden - sind auf 1,5 Billionen DM gestiegen. Wir alle
wissen, daß 82 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt
aufgewendet werden müssen, um Zinsen für bereits ausgegebenes Geld zu zahlen.
Die wachsende Schuldenlast erdrückt die Handlungsfähigkeit des Staates. Die CSU-Vorschläge würden nicht
nur die Handlungsfähigkeit des Bundes, sondern auch
diejenige der Länder und Gemeinden weitestgehend ruinieren.
({2})
Herr Faltlhauser, Sie haben einen Wechsel auf die Zukunft ausgestellt. Nach unseren Berechnungen kommen
allein in der ersten Stufe im Jahr 2001 bei Ländern und
Gemeinden Einnahmeausfälle in Höhe von 18 Milliarden DM zusammen.
Zur Stimmigkeit des Konzepts möchte ich folgendes
sagen: Die Gewerbeertragsteuer soll abgesenkt werden;
dafür sollen die Kommunen durch eine Erhöhung des
Umsatzsteueranteils entschädigt werden. Gleichzeitig
wird von der CDU/CSU eine Reduzierung der Umsatzsteuer für bestimmte Wirtschaftsbereiche gefordert, die
zu weiteren Steuerausfällen in Milliardenhöhe führt.
({3})
Da paßt einiges nicht zusammen.
Die Fadenscheinigkeit dieses Vorschlags wird sich
sehr schnell daran erweisen, daß der Freistaat Bayern
kaum eine Gesetzesinitiative durch den Bundesrat anstoßen wird. Die CSU weiß sehr wohl, daß die übrigen
Bundesländer, auch die CDU-geführten, diesen Vorschlag bereits im Hinblick auf die Einnahmeausfälle in
der Luft zerreißen würden.
({4})
Klaus Wolfgang Müller ({5})
Dieser Vorschlag weist auch eine groteske soziale
Schieflage auf. Für die Bezieher hoher und höchster
Einkommen bringt die Umsetzung des Vorschlags Entlastungen im Umfang von 27 Milliarden DM, aber weniger als 5 Milliarden DM für die Bezieher unterer und
mittlerer Einkommen.
({6})
- Das können wir gern einmal ausrechnen lassen, wenn
diese Vorschläge - einiges ist angedeutet worden - im
Rahmen der Beratungen des Steuerbereinigungsgesetzes
unterbreitet werden.
Wir Sozialdemokraten müssen auch das Wohl der gesamten Bevölkerung im Auge haben. Wir können das
Sozialstaatsprinzip nicht unter die Räder kommen lassen. Diese Gesellschaft braucht das notwendige Geld für
Forschung, Entwicklung, Bildung, Infrastrukturmaßnahmen, Investitionen und vieles andere mehr. Die Umsetzung Ihrer Vorschläge würde zweifellos zu einer Gewaltkur in anderen Politikbereichen führen.
Wenn man einmal davon ausgeht, daß die dort unterbreiteten Vorschläge zwischen CDU und CSU, zwischen
Herrn Schäuble und Herrn Stoiber, noch keineswegs abgestimmt sind,
({7})
dann ist doch so viel klar: Die Union will Steuern auf
Pump senken.
({8})
Damit würde der Weg in die Staatsverschuldung weiter
beschritten werden. Das ist ein „beklemmendes Szenario“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ titelte. Diesen Weg
werden wir nicht mitgehen. Wir sind zuversichtlich, daß
unser Konzept in den nächsten Jahren aufgeht. Wir werden dann auf anderem Wege Steuern in die Kassen bekommen, aber auf dem von uns vorgeschlagenen Weg.
({9})
Das Wort hat nun
die Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Mitschreiben zwei Worte zu Herrn Müller und zu Herrn Schuld,
Entschuldigung, zu Herrn Schild sagen.
({0})
- Nicht so ganz, aber ähnlich dämlich.
({1})
- Danke, gleichfalls.
Stoltenbergscher Selbstfinanzierungseffekt:
({2})
1985 bis 1990 43 Milliarden DM Entlastung für die Bürger,
({3})
130 Milliarden DM Mehreinnahmen im Haushalt. Dann
kam die deutsche Einheit. Sie wollen uns doch in diesem
Hause nicht vorwerfen, daß wir für die deutsche Einheit
Schulden machen mußten.
({4})
Diese Zahlen sind im Finanzbericht des Finanzministers
Eichel nachzulesen.
„Wir brauchen eine Steuerreform, die diesen Namen
wirklich verdient“ - das ist nicht von mir, sondern von
Herrn Struck. Wo er recht hat, hat er recht.
({5})
Sie waren von diesen Worten damals zwar nicht so beeindruckt, aber das beschreibt nur die Zerrissenheit von SPD
und Grünen, die man heute wieder beobachten kann.
({6})
Vor allen Dingen wird dadurch die Ignoranz der SPD
gegenüber den tatsächlichen Wirtschaftsstrukturen in
Deutschland beschrieben.
({7})
Wir haben damals im vorauseilenden Gehorsam die Aufforderung Ihres Fraktionsvorsitzenden ernstgenommen.
Sie wissen das ja: Lafontaine hat die rote Bundesratsmehrheit benutzt und gegen unsere Vorschläge in Stellung gebracht. Dadurch haben wir drei Jahre verloren,
({8})
in denen man Arbeitsplätze hätte schaffen können,
wenn Sie von der SPD und von den Grünen es gewollt
hätten.
({9})
Obwohl wir in der Opposition sind, haben wir uns
selbstverständlich Gedanken gemacht; ich nenne stellvertretend sowohl Herrn Merz, der gleich noch reden wird,
({10})
wie auch unseren Freund Faltlhauser aus Bayern. Wir
dürfen Ihnen einfach nicht die Schaffung von Arbeitsplätzen überlassen, weil diese Frage bei Ihnen schlecht
aufgehoben ist.
({11})
Genau das hat Ihnen die OECD inzwischen attestiert.
Eine Weiterentwicklung der Steuerreform auf der Basis
der Petersberger Beschlüsse wäre in dieser Republik
notwendig und nicht das, was Sie vorschlagen.
Sie konnten es doch heute lesen: Der DIHT hat Ihnen
gesagt, was die Mittelständler von Ihrer sogenannten
Betriebs- oder Unternehmensteuerreform halten: nichts
nämlich,
({12})
weil sie darin gar nicht vorkommen.
({13})
Gerade für den Mittelstand müßten Sie vorher Planspiele
durchführen. Eines muß nach dem anderen kommen,
sonst kommt nichts dabei herum. Ich sage Ihnen deshalb, Herr Eichel: Diese Betriebsteuer ist tot. Ich höre,
daß jedenfalls Herr Zitzelsberger das genauso sieht. Sie
ist anscheinend tot - ganz abgesehen davon, daß Sie offensichtlich nicht mit dem rechnen, was inzwischen im
Bundesrat passiert ist: Auf Grund Ihrer schlechten Politik, für die Sie bei den Landtagswahlen die Quittung bekommen haben, gibt es dort nun ein anderes Quorum.
({14})
Nun müssen Sie einmal schauen, wie Sie da weiterkommen.
({15})
Ich fordere Sie auf, geben Sie sich einmal einen
Ruck, nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Bundeskanzler Schröder, der sich dafür entschuldigt hat, daß er
sich bei den Renten geirrt hat, und geben Sie zu, daß Sie
sich bei der Betriebsteuer geirrt haben.
({16})
Geben Sie sich einen Ruck, entschuldigen Sie sich, sagen Sie, es war ein Irrtum, und denken Sie gemeinsam
mit uns darüber nach, wie man eine vernünftige Einkommensteuerreform auf den Weg bringen kann.
({17})
Einen Vorschlag zu einer vernünftigen Einkommensteuerreform haben die beiden Herren Faltlhauser und Merz
auf den Tisch gelegt.
Selbstverständlich ist es richtig, daß wir alle Bürger
entlasten wollen. Aber was machen Sie?
({18})
Sie machen eine Unternehmensteuerreform, die zwar
den großen Unternehmen, aber nicht den Bürgern zugute
kommt. An die Entlastung der Bürger und der mittelständischen Unternehmer denken Sie überhaupt nicht.
({19})
Für diese tun Sie überhaupt nichts.
({20})
Wir sind dafür, alle Einkommensteuersätze von ganz
unten bis ganz oben herunterzusetzen. Stoltenbergs
Steuerreform hat gezeigt, daß das drei Millionen Arbeitsplätze bringen kann. Dagegen ist die Schaffung von
neuen Arbeitsplätzen bei Ihnen schlecht aufgehoben.
Überlassen Sie sie lieber uns, denn da ist sie besser aufgehoben.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat nun
der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die bayerischen Vorschläge gehen nach dem Motto vor:
Wer bietet noch höhere Steuereinnahmeausfälle und
noch niedrigere Sätze? Mit einer soliden Finanzpolitik,
in die diese Vorschläge eingebettet werden müßten, hat
das aber überhaupt nichts zu tun.
({0})
Das wundert mich auch nicht, weil solide Finanzpolitik
in der Tat zu keiner Zeit Ihr Markenzeichen gewesen ist.
({1})
Wer seriöse Steuerpolitik betreiben und über Arbeitsplätze reden will, muß über den ganzen Datenkranz reden, den es in der Volkswirtschaft gibt: Er muß selbstverständlich über Steuern, über Lohnnebenkosten und
über die Fragen reden, wie Investitionen, vor allem Zukunftsinvestitionen, angekurbelt und wie die öffentlichen Finanzen in Ordnung gehalten werden sollen. Gerade der letzte Punkt stellt den größten Pferdefuß Ihrer
Finanzpolitik dar.
({2})
Sie, Herr Kollege Solms, haben recht, daß viele alte
Bekannte grüßen. Es gibt nur einen Unterschied: Nach
Ihren Berechnungen hätte die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse zu einem Einnahmeausfall in Höhe von
30 Milliarden DM geführt, tatsächlich wären es
40 Milliarden DM. Außerdem wollten Sie die Mehrwertsteuer erhöhen. Jetzt handeln Sie nach dem Motto:
Wir sind nicht mehr an der Regierung und müssen nicht
befürchten, daß unsere Vorschläge irgendwann Gesetzeskraft erhielten,
({3})
also kommt es auf 10, 20 oder 30 Milliarden DM mehr
Einnahmeausfall auch nicht mehr an. Deshalb bieten Sie
jetzt 50 Milliarden DM; wir haben nachgerechnet: Tatsächlich wären es mindestens 65 Milliarden DM. Sie
nehmen das alles ja gar nicht so genau. Das führt dann,
anders als Sie, Herr Faltlhauser, es gesagt haben, dazu,
daß nicht nur der Bundeshaushalt, sondern auch die meisten Länderhaushalte verfassungswidrig wären.
Sie können es ja auch. Ich möchte nicht darüber sprechen, was die genannten 65 Milliarden DM alleine für
Bayern bedeuten. Das sollten Sie mit Herrn Deimer
ausmachen, der Ihnen dazu schon das Richtige gesagt
hat, nämlich daß auch die bayerischen Kommunen diese
Mehrbelastungen nicht verkraften können.
Verehrter Herr Kollege Faltlhauser, wir erhalten ja
sehr viel Post aus München. Kürzlich habe ich von Ihnen einen Brief bekommen. Darin steht folgendes:
Auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 1998 hat der Bundesgesetzgeber
längstens bis zum 31. Dezember 2000 das Entgelt
für die Pflichtarbeit von Gefangenen neu zu regeln.
Bei einer generellen Erhöhung des finanziellen Arbeitsentgelts drohen erhebliche Mehrausgaben für
die Länder.
({4})
Alleine für Bayern seien das 16,2 Millionen DM.
({5})
Sie führen weiterhin aus, daß dies ein Vorschlag sei, der
die Länder vor erhebliche Probleme stelle.
Mehrausgaben von 16,2 Millionen DM stellen Bayern vor große Probleme, aber ein Steuerkonzept - ich
will es gar nicht bewerten -, das für Bayern einen Einnahmeausfall von 3 bis 4 Milliarden DM pro Jahr bedeutet, macht kein Problem. Das ist die Qualität Ihrer
Diskussionsbeiträge.
({6})
Das alles ist nicht ernst zu nehmen.
Es ist viel schlimmer - darüber sollten Sie einmal
nachdenken; denn Sie besitzen in der Europapolitik eine
gute Tradition -: Ich erinnere mich daran, welche Beiträge die CDU und CSU gemacht haben, als die Italiener
in diesem Jahr, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, ein
Defizit von 2 Prozent im öffentlichen Gesamthaushalt angemeldet hatten und dieses Defizit auf 2,4 Prozent hochzugehen drohte. Wir alle wissen, welche europaweite Diskussion dadurch zu Recht ausgelöst worden
ist.
Das Weiterbestehen der Situation, so wie sie bisher
war, würde bedeuten, daß wir sofort nach Brüssel melden
müßten: Alle Verpflichtungen, die wir im Rahmen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes eingegangen sind, können wir nicht mehr einhalten; ein Defizit von
1 Prozent ist im Jahre 2002 nicht mehr einzuhalten; wir
liegen dann bei einem Defizit von - um nur ein Beispiel
zu nennen - 2 Prozent. Daraus würde eine wunderbare
Debatte entstehen, und dann könnten Sie über den Euro
und dessen Geldwert diskutieren. Vielleicht haben Sie
aber - anders als Herr Waigel - zu diesem Thema kein
Verhältnis. So etwas kann man nicht tun, wenn man die
Leitwirtschaft Europas zu vertreten hat.
({7})
Die Begründung lautet Wachstumsschub. Wer das
will, der muß alle zur Verfügung stehenden Instrumente
in die Hand nehmen. Sie tun ja so, als ob es keine Steuerreform gegeben hätte. Im Gesetzblatt ist eine Einkommensteuerreform festgeschrieben - das alles verschweigen Sie ja -, die im Laufe einer Wahlperiode den
Eingangssteuersatz um 6 Prozentpunkte absenkt. Sie haben 16 Jahre lang regiert. Wissen Sie, was Sie fertiggebracht haben? Einmal 3 Prozentpunkte hinunter, einmal
3 Prozentpunkte hinauf. Mehr haben Sie nicht fertiggebracht.
({8})
Eine Kürzung des Eingangssteuersatzes um 6 Prozentpunkte in einer Wahlperiode haben Sie noch nie fertiggebracht.
({9})
- Dieser Zuruf ist schön. Sie haben die Mineralölsteuer
von 1989 bis 1994 um 50 Pfennig erhöht. Wir erhöhen
sie gerade einmal um 30 Pfennig. Wir senken die Lohnnebenkosten um den gleichen Betrag. Sie aber haben die
Lohnnebenkosten angehoben.
({10})
Angesichts dessen sprechen Sie von der Absenkung
des Spitzensteuersatzes. Dazu hatten Sie in den
16 Jahren Ihrer Regierung eine wunderbare Gelegenheit.
Was haben Sie statt dessen fertiggebracht? Eine Reduzierung von 56 auf 53 Prozent!
({11})
Wir senken den Spitzensteuersatz in einer Wahlperiode
von 53 auf 48,5 Prozent. Sie haben 3 Prozentpunkte zuwege gebracht, wir 4,5. Auf die bayerischen Vorschläge
in diesem Zusammenhang komme ich gleich noch zu
sprechen.
Wir sind die ersten, die die Erhöhung der Lohnnebenkosten nicht nur angehalten, sondern sie auch gesenkt haben. Das haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierung nie zuwege gebracht.
({12})
Über die Unternehmensteuerreform sprechen wir noch
an anderer Stelle.
Diese Reformen betten wir in das ein - dazu haben
Sie sich einmal auf Grund Ihrer europapolitischen Vorstellungen bekannt; denn Sie haben den Stabilitäts- und
Wachstumspakt herbeigeführt -, was wir auf europäischer Ebene verabredet haben, nämlich in eine Politik
der Haushaltskonsolidierung bzw. der Rückführung der
Nettoneuverschuldung. Wir könnten uns auf den SanktNimmerleins-Tag verabschieden, wenn wir das so
durchführen würden, wie Sie das wollen.
({13})
Unsere Politik führt in eine andere Richtung.
Schauen Sie sich einmal die Auftragseingänge im
verarbeitenden Gewerbe an. Sie gehen steil nach oben.
Schauen Sie sich einmal die Einbrüche im Export an:
Ohne die Stärkung der Binnennachfrage, die wir auf der
Basis unseres Konzeptes zu Beginn dieses Jahres durchgesetzt haben, wäre der Export in diesem Jahr viel
schlechter verlaufen, weil bei uns - wie Sie genau wissen - die Asien-Krise, die Lateinamerika-Krise und die
Rußland-Krise zu sehr heftigen Auswirkungen geführt
haben.
({14})
Jetzt geht die Entwicklung steil nach oben. Alle Wirtschaftsforschungsinstitute, der Internationale Währungsfonds, die Deutsche Bundesbank, die Deutsche Bank
Research und die Dresdner Bank sagen: Ihr seid auf dem
richtigen Wege. Alle Wachstumsprognosen werden nach
oben korrigiert. Ich bleibe in dieser Hinsicht noch ein
bißchen zurückhaltend, aber es gibt im Moment keine
Wachstumsprognose für das nächste Jahr, die unter
2,5 Prozent liegt. Eine Fülle von Instituten sagt inzwischen ein Wachstum von 3 Prozent voraus. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, das zu
den größten Pessimisten gehört, hat seine Wachstumsprognose von ehedem 2 auf nunmehr 3 Prozent total
verändert.
({15})
Das erstemal seit vielen Jahren treffen die Steuerschätzungen wieder zu. Teilweise liegen die Einnahmen
sogar über den Steuerschätzungen. Das ist ein riesiger
Fortschritt. Die Situation sah zu Ihrer Zeit ganz anders
aus.
({16})
Auf das Beispiel USA kann ich wegen der Kürze der
Zeit nicht eingehen.
Ein weiterer Punkt. Ihr Konzept hat eine groteske soziale Schieflage. Gegenüber der Regelung, die wir in das
Gesetz geschrieben haben, wollen Sie beim Eingangssteuersatz gerade einmal 0,9 Prozentpunkte heruntergehen. 5 Milliarden DM haben Sie noch für das untere Ende übrig. Den Spitzensteuersatz wollen Sie um 13,5 Prozentpunkte senken. Das entspricht einer Entlastung von
27 Milliarden DM am oberen Ende. Und Sie wollen uns
hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit im Zusammenhang mit unserem Sparpaket einen Vorwurf machen!
Das fehlt gerade noch.
({17})
Im übrigen ist Ihr Vorschlag wirtschaftspolitisch total
kontraproduktiv, denn es gilt: Wer so sehr auf die Chefärzte, auf die gut verdienenden Anwälte und Architekten
setzt, der hat natürlich nicht das Geld, um die Unternehmensteuern deutlich zu senken.
({18})
Darin liegt der große Unterschied: Bei unserem Konzept
können schon im Jahr 2001 die Gewinne reinvestiert
werden, weil der entsprechende Steuersatz auf 37,5 bis
38 Prozent sinkt. Sie bleiben aber bei einem Satz von
44,5 Prozent stehen. Sie müssen über diesen Punkt noch
einmal genau nachdenken.
Die Ideologie, daß der Einkommenspitzensteuersatz
genauso sinken müsse wie der Körperschaftsteuersatz,
ist in der Tat typisch deutsch. Die Diskussion darüber
hat erst angefangen, als wir unser Konzept auf den Tisch
gelegt hatten, und keinen Moment früher. In keinem Industrieland der Welt sind der private Spitzensteuersatz
und der Körperschaftsteuersatz identisch. Nach unserer
Reform ist die Spreizung in Deutschland niedriger als in
den meisten europäischen Ländern. Zum Beispiel haben
die hochgelobten Niederlande einen Körperschaftsteuersatz von zur Zeit 35 Prozent und einen privaten Spitzensteuersatz von 60 Prozent. Die Spreizung beträgt also 25
Prozentpunkte. Der Spitzensteuersatz sinkt zwar auf 52
Prozent. Aber es bleibt noch eine Spreizung von
17 Prozentpunkten. Bei uns werden es am Schluß nur
noch 10 Prozentpunkte sein.
Sie können doch nur so lange von Ihrer Propaganda
gegen unser angebliches Unternehmensteuerkonzept leben - Rezzo Schlauch muß uns in diesem Punkt gar
nicht ermahnen, weil wir eine gemeinsame Beschlußfassung haben -, bis unser Konzept auf dem Tisch liegt. Sie
reden doch jetzt über etwas, was es noch gar nicht gibt.
({19})
Was es aber am Ende des Jahres genau geben wird, sind
die von uns im Kabinett beschlossenen Eckwerte. Das
heißt 25 Prozent Körperschaftsteuersatz. Die Personengesellschaften werden steuerlich genauso behandelt. Das
heißt auch, daß wir die kleinen und mittleren Unternehmen entlasten werden. Genauso, wie wir es beschlossen
haben, werden diese Maßnahmen umgesetzt. Ihre Polemik ist also allein deswegen schon abstrus, weil überhaupt noch kein Konzept vorliegt und nur die Eckpunkte
beschlossen worden sind die wir aber umsetzen werden.
Herr Minister, ich
muß Sie leider an Ihre Redezeit erinnern.
Ich bin
sofort am Schluß.
Was soll also die ganze Aufregung? Der einfache
Grund für Ihre Aufregung ist, daß Sie einen Themenwechsel wollen. Ihnen ist es unangenehm, daß wir die
von Ihnen angerichtete Staatsverschuldung zurückfahren. Ich sage noch einmal, daß ich nichts gegen die Kosten der Einheit habe.
({0})
Ich habe aber etwas gegen die Art, wie Sie die deutsche
Einheit finanziert haben.
({1})
Sie machen jetzt genau das, was Sie schon 1990 gemacht haben. Damals haben Sie nämlich den Menschen
erzählt, die deutsche Einheit werde nichts kosten und die
notwendigen Anstrengungen werde niemand spüren.
({2})
Jetzt versuchen Sie, den Menschen weiszumachen, daß
man die Staatsschulden abbauen könne, indem man allen viel Geld in die Tasche steckt. Wenn das doch nur so
einfach ginge! Auch die Haushaltskonsolidierung ist
nicht zu machen, ohne daß spürbare Anstrengungen
notwendig sind, ohne daß das jemand merkt. Dieses
Thema ist Ihnen unangenehm, weil es um Ihre Schulden
geht, mit denen wir es jetzt zu tun haben.
Ihre Politik erinnert mich an das Motto eines bekannten Karnevalsvereins: „Allen wohl und niemand
weh, Fassenacht beim MCC“. So ist Ihre Finanzpolitik,
meine Damen und Herren.
({3})
Aber Steuerpolitik findet nicht in der fünften Jahreszeit
statt, sondern in den vier Jahreszeiten. Deswegen fordere
ich Sie auf: Bringen Sie das, was Sie vorgelegt haben,
als Gesetzentwurf im Bundestag und im Bundesrat ein!
Ich will wissen, ob die Hände der Ministerpräsidenten
oben sind, ob dies wirklich jemand mit beschließen
würde. Ich sehe schon die Bittbriefe auf mich zukommen mit dem, was sie noch alles von mir haben wollen.
Wir sollten dies im einzelnen richtig austragen.
({4})
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, wir
sind zur ständigen Wiederholung mindestens ebenso in
der Lage wie Sie. Deswegen sage ich noch einmal: Die
Probleme bezüglich der Haushaltslage des Bundes, die
Sie gerade beschrieben haben, hat Ihnen allein Ihr
Amtsvorgänger Oskar Lafontaine hinterlassen.
({0})
Dafür die Opposition verantwortlich zu machen ist
wirklich etwas zu billig.
Sie bzw. Ihr Bundeskanzler haben die Wahlen mit
dem Motto der sogenannten Neuen Mitte gewonnen.
Kurz nach gewonnener Wahl aber kommen die alten
Klassenkampfparolen wieder zum Vorschein. Deswegen
will ich Ihnen an dieser Stelle eine Zahl vorhalten, die
deutlich macht, wie die Steuerbelastungen in Deutschland verteilt sind. 10 Prozent der Steuerpflichtigen, die
Bezieher der oberen und obersten Einkommen, zahlen
fast 50 Prozent des Steueraufkommens in der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen ist das, was Sie hier betreiben, einfach Klassenkampf. Es ist eine alte sozialistische Neidtradition, die Sie hier zum Leben erwekken.
({1})
Uns geht es darum, gemeinsam mit Ihnen eine Steuerreform mit einer Nettoentlastung zur Förderung von
Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen in der
Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen.
({2})
Sie werden das alte Wort des Vorsitzenden der SPDBundestagsfraktion in diesem Zusammenhang nicht
wiederholen können. Er hat gesagt: Wir brauchen die
Opposition nicht. Die Wahlen im Laufe des Jahres
1999 haben deutlich gezeigt, daß Sie die Opposition spätestens im Vermittlungsausschuß brauchen
werden.
Grundvoraussetzung dafür, daß eine solche Steuerreform in der Bundesrepublik Deutschland jemals Wirklichkeit wird, sind zwei unveränderbare Eckpfeiler. Der
erste Eckpfeiler lautet: Wir brauchen eine Steuerreform
mit einer wirklichen Nettoentlastung.
({3})
Eine reine Verschiebung zwischen verschiedenen Einkunftsarten zu Lasten der mittelständischen Betriebe,
wie Sie es offensichtlich planen, werden wir unter keinen Umständen mitmachen.
({4})
Eine solche Nettoentlastung ist möglich.
({5})
Die mittelfristige Finanzplanung dieser Bundesregierung
zeigt, daß von 1999 bis zum Jahr 2003 - das ist der Finanzplanungszeitraum - die Steuermehreinnahmen Jahr
für Jahr höher sein werden als die Rückführung der
Nettoneuverschuldung.
({6})
Tatsächlich gibt diese Bundesregierung Jahr für Jahr
mehr Geld aus. Wahrscheinlich steigen die Ausgaben
sogar stärker, als das nominale Bruttoinlandsprodukt
wächst. Das heißt, Sie haben die Wahl, die Staatsquote
zu erhöhen oder eine Steuerreform mit einer wirklichen
Nettoentlastung durchzuführen. Das ist die Alternative,
vor der wir stehen.
({7})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch
etwas zu den Größenordnungen sagen. Wir haben in
Deutschland Steuereinnahmen bei Bund, Ländern und
Gemeinden von insgesamt rund 900 Milliarden DM.
Wir sprechen über eine Nettoentlastung in einer Größenordnung von 30 bis 50 Milliarden DM. Wenn sich
diese Bundesregierung nicht mehr zutraut, 3 bis maximal 5 Prozent des Steueraufkommens in der Bundesrepublik Deutschland für eine der wichtigsten ökonomischen Entscheidungen einzusetzen, nämlich dafür, eine
Steuerreform zur Förderung der Investitionen und zur
Schaffung von Arbeitsplätzen zu machen, dann hat sie
bereits jeden politischen Gestaltungswillen aufgegeben.
({8})
Nun reden Sie über eine Vermögensabgabe. Herr
Eichel, ich hätte von Ihnen erwartet, daß Sie diesem
Treiben in Ihren eigenen Reihen endlich einmal ein Ende bereiten. Die Vermögensabgabe, die jetzt innerhalb
der SPD-Bundestagsfraktion diskutiert wird - wir haben
erneut einen Beweis dafür bekommen -, ist einmal zur
Beseitigung von Kriegsfolgen zulässig gewesen. Sie
werden doch wohl nicht so weit gehen, daß die Beseitigung des Chaos, das Sie bereits im ersten Jahr angerichtet haben, der Beseitigung der Kriegsfolgen gleichkommt! So weit gehen noch nicht einmal wir in der Beschreibung dessen, was Sie angerichtet haben.
({9})
Eine solche Vermögensabgabe ist verfassungswidrig.
Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen, klarzustellen, daß
sie nicht kommt. Aber Sie haben diese Gelegenheit offensichtlich bewußt verstreichen lassen.
Ich sage Ihnen noch einmal: Wir sind bereit, auch
über viele Details miteinander zu reden. Aber Sie werden die Zustimmung der Union, und zwar sowohl im
Bundestag als auch im Bundesrat - da sind wir uns völlig einig -, für eine Steuerreform ohne Nettoentlastung
({10})
und für eine Steuerreform, die nicht gleichmäßig die
Sätze der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuer
senkt, nicht bekommen. Sparen Sie sich jede Arbeit an
dem, was Sie gegenwärtig planen!
({11})
Als letzter Redner in
der Aktuellen Stunde hat der Kollege Detlev von Larcher das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich hätte wenigstens von Herrn
Merz erwartet, daß er zu der Differenz zwischen 30 und
50 Milliarden DM Stellung nimmt. Wir haben erlebt,
daß die CSU vorgeprescht ist und Herr Schäuble gebremst hat. Das heißt, wir wissen eigentlich noch gar
nicht, über welches Konzept wir hier sprechen. Statt
dessen mußten wir uns Märchen von Herrn Merz anhören. Sie hätten wirklich besser daran getan, etwas zum
Konzept zu sagen.
Ich wundere mich noch immer, obwohl ich nun schon
im neunten Jahr im Bundestag sitze, über die Chuzpe
der CDU/CSU und der F.D.P. Da höre ich das Glaubensbekenntnis von Herrn Minister Faltlhauser, der sagt:
Die Steuerpolitik ist das Instrument zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit. Ich glaube, Sie waren nicht mehr im
Bundestag, als die Wissenschaftler in einer Anhörung
einer nach dem anderen gesagt haben: Mit Steuerentlastungen könnt ihr auf den Arbeitsmarkt, wenn überhaupt, nur mittelfristig und in ganz geringem Umfang
einwirken. Wenn ihr die Arbeitslosigkeit bekämpfen
wollt, dann müßt ihr ein Bündel von Maßnahmen ergreifen. Ihr könnt nicht allein auf das Instrument Steuerpolitik vertrauen.
Jetzt höre ich diesen Hinweis schon wieder. Man hört
ja in Anhörungen oft sehr viel Lobbyismus statt Sachverstand. Aber manchmal werden doch sachliche Auskünfte gegeben, und auf diese sollten auch Sie hören,
Herr Dr. Faltlhauser.
Dann haben Sie Neuseeland erwähnt. Wir kennen
dieses Beispiel. Ich sage Ihnen: Fahren Sie jetzt einmal
hin, und schauen Sie sich die Entwicklung dort an! Dann
werden Sie sehen, daß Neuseeland schon lange kein
Vorbild mehr ist.
Schließlich höre ich, wir sollten zusammen mit der
CDU/CSU deren Weg gehen.
({0})
Was ist das denn für ein Weg? Das ist der Weg in die
höchste Staatsverschuldung, in die höchste Arbeitslosigkeit und in die höchste Steuer- und Abgabenbelastung.
Herr Poß hat mit Recht gesagt, daß der Wettbewerb bezüglich der Steuerreform bei der letzten Bundestagswahl
stattgefunden hat. Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl
hat ihn ausgerufen, und die Wähler haben entschieden.
Wir haben dann unsere Steuerreform durchgeführt, die
- entgegen dem, was Sie immer sagen - den Menschen
zugute kommt, den Arbeitnehmern und den Familien
mit Kindern.
({1})
- Und dem Mittelstand. - Das ist doch längst entschieden. Also werden wir uns doch nicht auf Ihren Weg begeben, der völlig unseriös und völlig unernst gemeint ist.
Ich habe Ihnen schon damals, als Sie Ihr Steuerreformkonzept mit Ihrer Mehrheit in der vorigen Wahlperiode eingebracht haben,
({2})
vom Rednerpult in Bonn aus gesagt: Ich bin ganz sicher,
daß Sie nicht wollen, daß das Konzept in Kraft tritt.
Denn auch damals war es nicht finanzierbar. Ich erinnere nur an die Diskussion über die Fußnote. Sie haben
sich darauf verlassen, habe ich damals gesagt - ich
glaube noch immer, daß das richtig war -, daß diese
Steuerreform im Bundesrat nicht durchkommt, denn Sie
wollten sie eigentlich nicht haben. Jetzt sind Sie in der
Opposition und können völlig verantwortungslos Hirngespinste in die Luft malen
({3})
und sagen: Das ist unser Steuervorschlag, der die Arbeitsplätze, die wir brauchen, bringen würde.
Ich finde es eigentlich schade, daß Herr Waigel nicht
da ist. Denn im Grunde genommen zeigt dieser Vorschlag eine gewisse Konsistenz. Herr Waigel hat sich als
Vater des Stabilitätspakts feiern lassen. Er hat immer
betont, er mache eine stabile Haushaltspolitik und eine
stabile Steuerpolitik. In Wirklichkeit hat er seine Haushalte durch Tricks, Täuschungen, Luftbuchungen und
den Ausverkauf des Eigentums der Bundesrepublik saniert. Uns hat er Schulden hinterlassen, die dazu führen,
daß wir minütlich 150 000 DM an Zinsen zahlen müssen. Das ist die Solidität des Herrn Waigel.
Jetzt schlagen Sie eine Steuerreform vor nach dem
Motto: Macht ruhig noch weitere Schulden, denn wir
haben es ja! Ihre Propaganda gegen die SPD, in der es
immer heißt, wir seien die Partei der Schuldenmacher,
verkehrt sich ins Gegenteil. Die Parteien der Schuldenmacher sind Sie auf der rechten Seite des Hauses.
Nein, meine Damen und Herren, wir werden Ihnen
nicht folgen. Wir haben eine gute Einkommensteuerreform gemacht,
({4})
die sich in dem kleinen Maßstab, in dem sie es überhaupt kann, auch auf die Arbeitsplätze auswirken wird
und sich schon auf die Steuereinnahmen auswirkt - seit
dem Schließen der Steuerschlupflöcher steigen sie bereits -, und wir werden eine Unternehmensteuerreform
machen, die dem Mittelstand, den kleinen und mittleren
Betrieben, dient. Wir denken nicht daran, auf Ihren Weg
einzuschwenken. Unser Weg ist besser. Es wird kein
Jahr mehr dauern, und dann werden auch Sie es zugeben
müssen.
Wo sind im übrigen die veröffentlichten Meinungen,
die Ihren Steuervorschlag loben? Ich habe sie in der
Presse und in sonstigen Medien gesucht, aber immer nur
Kritik gefunden. Das sollte Ihnen eigentlich zu denken
geben.
Ich danke Ihnen.
({5})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard SchmidtJortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit
- Drucksache 14/1602 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({0})
Innenausschuß
Ausschuß für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die F.D.P. legt Ihnen einen Gesetzentwurf zur Sicherung der Pressefreiheit vor, mit dem
die Rechte von Journalisten gegenüber Strafverfolgungsbehörden verbessert werden sollen. Das Redaktionsgeheimnis und der Schutz journalistischer Informanten sind nach unserer Auffassung zu stärken.
({0})
Die Beschlagnahme von redaktionellem Material ist dabei nur in Fällen schwerster Kriminalität zu vertreten,
wenn ein Verbrechen anders nicht aufgeklärt werden
kann.
Ich darf uns alle daran erinnern, welcher Aufschrei in
den vergangenen Jahren zu Recht immer wieder sowohl
durch die Politik als auch durch die Medien ging, wenn
sich Strafverfolgungsorgane nicht an den Schutz der
Pressefreiheit gehalten haben. Von dem durch die damalige SPD-Regierung unter dem Ministerpräsidenten
Oskar Lafontaine geänderten saarländischen Presserecht
über die Überwachung von Journalisten der Redaktionen
von „Focus“ und „ZDF Frontal“ durch die Frankfurter
Staatsanwaltschaft bis hin zu der Durchsuchung von
Bremer Redaktionen war in den letzten Jahren ein stetiDetlev von Larcher
ges Aufweichen bislang anerkannter Rechtsgrundsätze
erkennbar.
Im Informationszeitalter, das durch einen enormen
Fluß von Daten und Informationen bestimmt wird, ist es
besonders wichtig, daß die Presse ihre Kontrollfunktion,
insbesondere in heiklen Bereichen, ausüben kann. Auf
Grund der vielen verschiedenen Quellen, aus denen
heutzutage Informationen erlangt werden können, erscheint die Unterscheidung zwischen selbst- und fremdrecherchiertem Material immer schwieriger. Wo sind
die Abgrenzungen, wenn etwa Informationen über den
Weg der neuen Medien erarbeitet und zugesandt werden? Aus genau diesem Grunde wird das Zeugnisverweigerungsrecht in unserem Gesetzentwurf auch auf
die modernen Kommunikationsdienste erweitert.
Wir wollen mit dem Gesetzentwurf aber auch erreichen, daß im Bereich der Beschlagnahme des durch die
Zeugnisverweigerungsrechte geschützten Materials endlich die Präzisierung erfolgt, die es zukünftig weitestgehend vermeidet, daß es zu falschen Entscheidungen bei
der Durchsuchung von Redaktionsräumen und Journalistenwohnungen und Beschlagnahme von Gegenständen
kommt.
Parallel zur Sicherung der Pressefreiheit muß aber
auch das legitime Interesse der Gesellschaft an einer
wirksamen Verbrechensbekämpfung beachtet werden.
Ein Oberstaatsanwalt wie ich ist natürlich auch daran
besonders interessiert. Der Zugriff auf selbsterarbeitetes
Material wird durch unseren Gesetzentwurf nicht vollständig versperrt. Aus verfassungsrechtlichen Gründen
wird dieser Grundsatz bei besonders schweren Straftaten
durchbrochen. Die in diesem Zusammenhang immer
wieder auftauchende Erwägung, es bei einer allgemeinen Formel zu belassen, die von einer zu erwartenden
Strafhöhe ausgeht, halten wir für eines der Schlupflöcher, die gebotene Schranken im Bereich von staatlichen
Zwangsmaßnahmen immer wieder aufheben.
Mit Sicherheit wird man über den von uns ausgewählten Katalog von Straftaten streiten können. Ich bitte
jedoch zu bedenken, daß es im Gegensatz zu manch anderen Straftatenkatalogen - etwa dem des § 100 a StPO
- hier nicht um die Frage geht, wann der Staat eingreifen
kann, sondern um die Frage, wann den Journalisten das
Recht nicht zusteht, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen.
({1})
Die Schutz- und Zielrichtung des Kataloges ist also
nicht mit der vergleichbar, die bei Eingriffsmaßnahmen
wie etwa dem Abhören von Telefonen besteht.
Ich bin mir sicher, daß wir über die Frage des Verdachtsgrades und über die Frage der Beschränkung der
Beschlagnahme noch erhebliche Auseinandersetzungen
führen werden und führen müssen.
Ich habe mit Interesse die Ausführungen der Justizministerin im Rahmen der Haushaltsdebatte gelesen, in
welcher diese den Gesetzentwurf im Grundsatz begrüßt,
wie das im übrigen die IG Medien und auch der Presserat mit Nachdruck getan haben. Sie hat ihn als Basis unserer Diskussion angesehen. Deshalb freuen wir uns auf
die Diskussion. Wir erwarten natürlich insbesondere,
daß auch die Bundesregierung sehr bald ihre Vorstellungen zu diesem Punkt einbringt. Sie sind überfällig.
({2})
Ich glaube, wir sind uns einig, daß das so ist. Deshalb
erwarten wir von unserem Entwurf - auch deshalb haben wir ihn eingebracht -, daß er Druck ausübt, weil wir
hier sehr schnell zu einer Entscheidung kommen müssen.
Wir müssen abwägen zwischen dem notwendigen
Interesse des Staates an der Strafverfolgung und der
Sicherung der Pressefreiheit, die eine der Säulen der
Demokratie ist. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf
dazu beitragen, Grauzonen abzubauen, die von meinen
staatsanwaltschaftlichen Kollegen immer wieder genutzt
worden sind. Ich hoffe darauf, daß wir sehr schnell zu
einer großen Übereinstimmung hier im Hause kommen
werden. Die F.D.P. ist zu dieser Diskussion bereit und
auf die Vorschläge der anderen gespannt.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt
Kollege Professor Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rundfunk- und Pressefreiheit sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bekanntlich konstitutives Element
einer freiheitlichen Demokratie. So ist es nicht verwunderlich, daß die Verbesserung des Schutzes der
Pressefreiheit durch eine Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts für Journalisten und entsprechende
Beschlagnahmeverbote den Bundestag schon mehrfach
beschäftigt hat.
Den Gesetzentwürfen der SPD-Fraktion aus der vorletzten Legislaturperiode und des Bundesrates und von
Bündnis 90/Die Grünen aus der letzten Legislaturperiode sowie einem Entwurf verschiedener Medienorganisationen, den ich sehr interessant finde, hat nunmehr die
F.D.P.-Fraktion einen weiteren Entwurf hinzugefügt.
Möglicherweise, Herr Kollege van Essen, hatte sich
auch herumgesprochen, daß ein im Bundesjustizministerium erarbeiteter Referentenentwurf kurz vor dem Abschluß des notwendigen Abstimmungsverfahrens steht
und demnächst als Regierungsentwurf in das Gesetzgebungsverfahren gelangen wird.
({0})
Eine kleine Fraktion, die zudem in der Opposition ist,
kann ihre Gesetzentwürfe offensichtlich ohne die für
eine Regierung und eine Regierungskoalition notwendigen Abstimmungen schneller erstellen und ins Verfahren bringen.
({1})
Dabei, Herr Kollege, muß natürlich der Frage nachgegangen werden, ob die Schnelligkeit nicht hier und da zu
Lasten der Qualität gegangen ist.
({2})
Vorweg will ich aber feststellen, daß alle bisher eingebrachten Gesetzentwürfe in einer grundsätzlichen
Forderung übereinstimmen. Danach soll der bisher
schon geltende Schutz des Redaktionsgeheimnisses,
der sowohl die Anonymität der Informationsquellen
durch Quellenschutz als auch die Vertraulichkeit gemachter Mitteilungen durch Inhaltsschutz für anvertrautes Material gewährleistet, grundsätzlich erweitert
werden: Er soll auch auf selbst recherchiertes Material
erstreckt werden. Bekanntlich geht es dabei beispielsweise um den Schutz von Filmmaterial, das ohne Zusammenwirken mit den gefilmten Personen gewonnen
worden ist. Wir erinnern uns an den bekannten
Brokdorf-Fall von 1986. Damals sind Aufnahmen des
ZDF von einer Demonstration gegen das Atomkraftwerk
Brokdorf beschlagnahmt worden, nachdem es bei der
Demonstration zu schweren Ausschreitungen mit zahlreichen Straftaten gekommen war.
In der letzten Debatte über unser Thema im Dezember 1996 habe ich für meine Fraktion ausgeführt, daß
der dem Bundestag in der letzten Legislaturperiode zugeleitete Entwurf des Bundesrates der verfassungsrechtlichen Konfliktlage Rechnung trage. Denn es könne
nicht zweifelhaft sein, daß es etwa bei der Beschlagnahme oder Nichtbeschlagnahme selbst recherchierten
Materials um die Abwägung zwischen zwei hohen Verfassungsrechtsgütern geht. Für die Nichtbeschlagnahme
und ein entsprechendes Zeugnisverweigerungsrecht
kann die Rundfunk- und Pressefreiheit als konstitutives
Element der freiheitlichen Demokratie sprechen. Für die
gegenteilige Entscheidung kann die rechtsstaatliche
Pflicht des Staates zur Aufklärung von Straftaten sprechen. Die Effektivität der Strafrechtspflege ist bekanntlich wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit.
Letztlich handelt es sich dabei um das dialektische
Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und
Rechtstaat.
Dieses, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch
heute wieder unser Thema. Ich will zunächst gerne anerkennen, Herr Kollege van Essen, daß sich die F.D.P.
den beschriebenen Abwägungsprozeß keineswegs
leicht gemacht, sondern ausdrücklich anerkannt hat, daß
das journalistische Zeugnisverweigerungsrecht und ein
entsprechendes Beschlagnahmeverbot dort ihre Grenzen
finden, wo es um die Aufklärung schwerster Verbrechen
geht. Gleichwohl muß ich - das wird Sie nicht überraschen - beispielhaft auf drei Mängel des Entwurfes hinweisen, die - wie ich Ihnen versichern kann - der demnächst dem Bundestag zugehende Regierungsentwurf
vermeiden wird.
({3})
Der erste Schwachpunkt - Sie sind schon kurz darauf
eingegangen - ist der umfangreiche Deliktskatalog, der
an sich durchaus erforderlich ist, um die Fälle zu benennen, in denen das Zeugnisverweigerungsrecht entfallen
soll. Zum einen ist Ihr Katalog schon optisch so umfangreich, daß sich mancher Journalist fragen wird, worin
eigentlich die Verbesserung der gegenwärtigen Rechtslage bestehen soll.
({4})
Ich will zwar anerkennen, daß Sie sich dem Bundesratsvorschlag, ergänzend zum Katalog noch auf eine konkrete Straferwartung abzustellen, nicht angeschlossen
haben. Diesen Vorschlag habe ich auch in der früheren
Debatte ausdrücklich abgelehnt. Aber warum das eine
oder andere Delikt aufgeführt oder auch nicht aufgeführt
ist, ist nicht leicht zu erkennen. Es wäre sicher besser
gewesen, im System des geltenden Strafverfahrensrechts
zu bleiben und sich einem der dort bereits gesetzlich geregelten Kataloge anzuschließen. Sie haben zwei genannt, aber nicht den interessantesten.
Hinsichtlich der nicht aufgeführten Delikte ist auf
der anderen Seite schwer nachvollziehbar, daß beispielsweise die schwere Körperverletzung oder die
Körperverletzung mit Todesfolge, die selbst im Entwurf verschiedener Medienorganisationen enthalten
sind, in Ihrem Entwurf fehlen. Soll das Zeugnisverweigerungsrecht stärker geschützt werden, als selbst von
journalistischer Seite gefordert wird? Kurioserweise
fehlt auch die Vergewaltigung mit Todesfolge, die
selbstverständlich im Entwurf der Medienorganisationen aufgeführt ist.
Ein zweiter Mangel Ihres Entwurfes besteht darin,
daß er in der Begründung mehr verspricht, als der Gesetzestext hält. Ich beziehe mich hier auf das Problem
der Gemengelage, also der Vermischung von anvertrautem Material einerseits und selbst recherchiertem
Material andererseits. Die Behauptung, der Entwurf löse diese Schwierigkeit durch die grundsätzliche Gleichstellung beider Materialien, ist wegen der vorgesehenen
Einschränkungen beim selbst recherchierten Material offensichtlich unzutreffend. Warum haben Sie nicht den
Vorschlag übernommen, den ich bereits in der Debatte
vom Dezember 1996 gemacht habe und der bekanntlich
auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes entspricht? Ich hatte seinerzeit darauf hingewiesen, daß
man das Problem der Trennbarkeit von anvertrautem, also vollständig geschütztem, und selbst recherchiertem
Material beachten muß; denn es kann beispielsweise im
konkreten Fall nicht aufzuklären sein, ob Filmmaterial
dem Journalisten übergeben wurde, also anvertraut ist,
oder von ihm selbst aufgenommen wurde, also selbst recherchiertes Material ist. Deshalb hatte ich vorgeschlagen, in das Gesetz zu schreiben, daß in einem solchen
Fall der Grundsatz „im Zweifel für die Pressefreiheit“
gilt. Ich bin enttäuscht, daß Sie diesem Vorschlag, dem
Herr Westerwelle in der früheren Debatte zuzustimmen
schien, nun nicht nähergetreten sind.
Ich nenne noch einen dritten Mangel. Dies ist die
konkrete Ausgestaltung des an sich richtigen Gedankens, daß das Zeugnisverweigerungsrecht nicht umgangen werden darf, indem Aussagen aus anderen als strafDr. Jürgen Meyer ({5})
gerichtlichen Verfahren verwertet werden. Im F.D.P.Entwurf heißt es dazu:
Soweit die … genannten Personen von ihrem Recht
zur Verweigerung des Zeugnisses über den Inhalt
selbst erarbeiteter Materialien Gebrauch machen,
darf Beweis über Aussagen, die diese Personen in
anderen als strafgerichtlichen Verfahren gemacht
haben, nicht erhoben werden.
Durch diese reichlich pauschale Formulierung werden
völlig unterschiedliche Fallgestaltungen in einen Topf
geworfen; denn es macht doch offensichtlich einen Unterschied, ob in dem außerstrafrechtlichen Verfahren
ebenfalls ein Zeugnisverweigerungsrecht bestand und ob
der Journalist in jenem Verfahren von seinem Zeugnisverweigerungsrecht ausdrücklich nicht Gebrauch gemacht, also ausgesagt hat. In diesem Fall bedarf das
Beweiserhebungsverbot, das Sie vorschlagen, jedenfalls noch einer eigenständigen Begründung, die in
Ihrem Entwurf fehlt.
({6})
Ich möchte Sie, verehrte Kollegen von der F.D.P.Fraktion, an dieser Stelle nicht durch weitere Hinweise
auf die so gern genannten handwerklichen Mängel irritieren.
({7})
Wir sind uns darüber einig: Beckmesserei hilft uns bei
der Problemlösung nicht weiter.
Statt dessen kündige ich an, daß der demnächst in erster Lesung auf der Tagesordnung stehende Entwurf der
Bundesregierung so evident besser sein wird, daß wir
ihn gemeinsam zur Beratungsgrundlage machen können.
({8})
Der F.D.P. bleibt dann das Verdienst - das sage ich ehrlich und ohne Ironie -, einen Impuls zur Beschleunigung
des fälligen Gesetzgebungsverfahrens geleistet zu haben.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf
zur Sicherung der Pressefreiheit will die F.D.P.-Fraktion
das seit Jahren in der Rechtspolitik diskutierte Thema
der Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechtes für
Journalisten, welches zugleich die Durchsuchungs- und
Beschlagnahmebefugnis von Strafverfolgungsbehörden
einschränken würde, in der 14. Wahlperiode aufgreifen.
({0})
In der 13. Wahlperiode vom Bundesrat und von
Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Gesetzentwürfe
unterfielen der Diskontinuität. In dieser Zeit wurde ein
vom BMJ vorbereiteter Gesetzentwurf seinerzeit nicht
mehr in den Deutschen Bundestag eingebracht. Der hier
vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich am damaligen
vorbereiteten Entwurf des BMJ - ich stimme der Einschätzung des Kollegen Meyer zu -, greift aber nach
meiner Überzeugung zusätzlich Elemente der Gesetzentwürfe vom Bundesrat und Bündnis 90/Die Grünen
auf und geht in seinen Beschränkungen für die Strafverfolgungsbehörden in Teilen noch weiter.
Bereits die Überschrift „Entwurf eines Gesetzes zur
Sicherung der Pressefreiheit“ ist eine provokante Formulierung, suggeriert sie doch, daß die Pressefreiheit in
Deutschland durch die Strafverfolgungsbehörden gefährdet sei. Einer solchen Einschätzung möchte ich hier
im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich widersprechen. Weder aus dem Gesetzentwurf
der F.D.P. noch aus einer anderen offiziellen Materialie
geht hervor, wie viele unrechtmäßige Übergriffe der
Strafverfolgungsbehörden es in Deutschland überhaupt
gibt.
In diesem Zusammenhang möchte ich gerne auf die
Justizministerkonferenz vom November 1997 zurückkommen. Diese Justizministerkonferenz hatte extra einen Strafrechtsausschuß gegründet, der sich mit
der Frage der Erweiterung der Beschlagnahme bei
Journalisten zu befassen hatte. Die Beschlußvorschläge
möchte ich hier gerne vortragen. Als erstes wird festgestellt:
Die Justizministerinnen und -minister haben den
Bericht des Strafrechtsausschusses „Erweiterung
des Beschlagnahmeverbots bei Journalisten“ zur
Kenntnis genommen.
Das Votum betrug hier 16 : 0 : 0.
({1})
- Herr Hartenbach, darauf komme ich gleich noch zurück.
Der zweite Vorschlag lautete - ich meine, der Deutsche Bundestag müßte das zur Kenntnis nehmen -:
Sie halten diesbezüglich eine Anregung zu gesetzgeberischen Maßnahmen nicht für geboten.
Auch dieses Votum wurde von den Ländern recht eindeutig getroffen, nämlich mit 11 zu 5 zu 0 Stimmen.
Das dritte Votum war - auch das möchte ich hier
vortragen -:
Sie
- also die Justizministerinnen und -minister erachten es für zweckmäßig, die Richtlinien für das
Strafverfahren und das Bußgeldverfahren ({2})
um eine Regelung zu ergänzen, die durch eine Verdeutlichung des Verhältnismäßigkeitsprinzips dessen Beachtung insbesondere bei einer in Betracht
kommenden Pressebeschlagnahme in Verfahren
wegen Geheimnisverrats sicherstellt.
Dr. Jürgen Meyer ({3})
Dieses Votum war wieder einstimmig, nämlich 16 zu 0
zu 0.
Zwischenzeitlich ist die RiStBV geändert worden.
Dort ist die Nr. 73 a neu formuliert worden. Wir sind der
Auffassung, daß mit dieser Formulierung im Kern das,
was Sie wollen, Herr van Essen, Berücksichtigung gefunden hat, neben den anderen Rechtsstaatsprinzipien,
auf die ich gleich noch eingehen werde. In der RiStBV
heißt es nämlich in Nr. 73 a:
Durchsuchung und Beschlagnahme stellen erhebliche Eingriffe in die Rechte des Betroffenen dar und
bedürfen daher im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer sorgfältigen Abwägung.
Jetzt kommt ein Satz, der nach unserer Überzeugung
eigentlich alles klarstellt:
Bei der Prüfung, ob bei einem Zeugnisverweigerungsberechtigten die Voraussetzungen für eine
solche Maßnahme vorliegen …, ist ein strenger
Maßstab anzulegen.
Wir stellen hier offen die Frage - im Rahmen der Beratungen in der zweiten und dritten Lesung müssen wir
uns darüber, meine ich, näher unterhalten -, ob es überhaupt eine Notwendigkeit für gesetzgeberisches Handeln
gibt oder ob nicht tatsächlich die vorhandenen rechtlichen Rahmen ausreichen.
Weder Herr van Essen noch Herr Meyer haben hier
statistisch-empirisches Material vortragen können. Sie
haben auf Einzelfälle verwiesen, die aber keine Rückschlüsse zulassen. Jetzt komme ich zu den Ergebnissen
der Justizministerkonferenz und des dortigen Fachausschusses: Es gibt überhaupt keine empirischen Erhebungen darüber, auf welcher Grundlage wir hier Überlegungen anstellen, gesetzgeberisch tätig zu werden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang den Strafrechtsausschuß der Justizministerkonferenz zitieren:
Eine Änderung des Gesetzes ist letztlich aber auch
deshalb nicht angezeigt, weil sachgerechte Ergebnisse im Einzelfall über das Verhältnismäßigkeitsprinzip erreicht werden können. Dieses Prinzip
erlaubt - wie übrigens auch die Praxis zeigt - insbesondere wegen seiner Flexibilität eine jeweils
fein abstimmbare Abwägung zwischen dem Interesse an der Tataufklärung einerseits und dem
Grundrecht der Pressefreiheit andererseits.
Herr Meyer, Sie haben gerade angekündigt, daß es in
absehbarer Zeit einen Regierungsentwurf geben wird;
jetzt ist bereits ein Jahr verstrichen.
({4})
Ich meine, irgendwann müßte es mit der Sorgfältigkeit,
Herr Hartenbach, zu Ende sein.
({5})
Wenn Gründlichkeit quasi zu einem Stillstand der
Rechtspflege in Deutschland führt, weil es - bis auf
kleine Ausnahmen - nicht einmal zu Fragen von wirklich grundsätzlicher Bedeutung Gesetzentwürfe der
Bundesregierung gibt,
({6})
dann muß man sich doch, wenn Sie empirisch nicht
einmal beweisen können, daß es hier einen Handlungsbedarf gibt, fragen,
({7})
warum sich diese Bundesregierung mit einem solchen
Bereich, der nach unserer Auffassung ein Randbereich
ist, auseinandersetzt und versucht, dort zu arbeiten.
Ich möchte im folgenden deutlich machen, welche
Kritikpunkte wir in dem Gesetzentwurf der F.D.P. sehen. Aber ich möchte auch deutlich sagen: Wir sind im
Rahmen der zu führenden Gespräche - wahrscheinlich
auch der Anhörungen - bereit, nach einem Kompromiß
zu suchen, und verschließen uns einer Lösung nicht.
Aber der jetzt vorgelegte Entwurf findet in Kernbereichen nicht unsere Zustimmung. Ich will versuchen, das
zu erklären.
Zum ersten möchte ich allgemeine Gründe vortragen.
Nach geltendem Recht ist durch die §§ 53 und 97 StPO
sowie durch die Abwägung nach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit nach unserer
Überzeugung sichergestellt, daß die Interessen der Medien einerseits und die Interessen der Strafrechtspflege
andererseits angemessen berücksichtigt werden.
({8})
Der Vorschlag der F.D.P. verschiebt dieses Gleichgewicht nach unserer Auffassung erheblich zu Lasten
der Strafverfolgung. Bereits das geltende Recht läßt im
Rahmen der jeweils gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung sachgerechte und differenzierte Lösungen zu.
({9})
Ich möchte zum zweiten auf den Bereich eingehen,
den die F.D.P. in ihrem Entwurf mit den Formulierungen „nicht periodische Druckwerke“ und „Filmberichte“
bezeichnet hat. Die im geltenden Recht enthaltene Beschränkung auf periodische Druckwerke ist sachgerecht; sie umschreibt den schutzwürdigen Bereich zutreffend. Bei einer Erweiterung auf nicht periodische
Druckwerke und Filmberichte ist eine sachgerechte Abgrenzung des Kreises der Zeugnisverweigerungsberechtigten nur noch schwer möglich. Es ist damit zu rechnen,
daß Personen, die mit der Presse nichts zu tun haben,
mit der Behauptung, ein Buch zu schreiben oder einen
Film zu drehen, das Zeugnisverweigerungsrecht für sich
in Anspruch nehmen können. Auch könnte zum Beispiel
die Erstellung von Flugblättern in den Schutzbereich
fallen, wenn der Autor die kaum widerlegbare Behauptung aufstellt, die Tätigkeit erfolge berufsmäßig. Ausreichend ist hier schon jetzt eine nur nebenberufliche, nicht
gewerbsmäßige Tätigkeit ohne Gewinnerzielungsabsicht.
Zum dritten möchte ich auf die Katalogtaten eingehen. Ich stimme im wesentlichen den Überlegungen zu,
die Herr Meyer hier zum Gesetzentwurf der F.D.P. vorgetragen hat. Zunächst könnte man darüber streiten, ob
ein solcher Katalogtatbestand in diesem Gesetz überhaupt richtig angesiedelt ist. Wenn man aber einen solchen Katalog aufnimmt, dann muß die Frage beantwortet werden, warum bestimmte Tatbestände nicht aufgenommen worden sind. Herr Kollege Meyer hat einige
genannt, die ich um die Tatbestände Geld- und Wertpapierfälschungen, Bandendiebstahl oder schwerer Bandendiebstahl oder auch Erpressung ergänzen möchte.
Man müßte also, wenn man einen Katalog erstellt, darüber reden, ob die Katalogtaten nicht um diese Tatbestandsmerkmale bzw. um diese Delikte ergänzt werden.
Ich möchte zum vierten auf das Beweiserhebungsverbot eingehen, das der Gesetzentwurf vorsieht. Das in
dem neuen § 53 Abs. 3 StPO vorgesehene Beweiserhebungsverbot über Aussagen in anderen gerichtlichen
Verfahren wäre - so glaube ich - im deutschen Strafprozeßrecht ohne Vorbild. Es ist nicht überschaubar, welche
Rückwirkungen eine solche Neuregelung auf die Beweiserhebung im Strafprozeß hätte. Sie wäre nach unserer Auffassung ein weiterer Schritt zu einem praxisfernen und schon auf Grund seiner Ausdifferenzierung
letztlich unanwendbaren Recht.
Ich könnte hier weitere Kritikpunkte vortragen, will
aber an dieser Stelle darauf verzichten, weil wir die
Möglichkeit haben, im Rahmen der Berichterstattergespräche und der zweiten und dritten Lesung darauf zurückzukommen. Ich biete für unsere Fraktion nochmals
eine offene Beratung an, glaube allerdings, daß auf der
Basis des F.D.P.-Entwurfes - so wie er jetzt vorgelegt
worden ist - ein Einvernehmen nicht herstellbar ist.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Ich beginne mit einem Kompliment: Ich finde
es prima, daß die F.D.P. die Pressefreiheit wiederentdeckt und diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat.
Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß das schon vor
einem oder vor zwei Jahren geschehen wäre, als ich
nämlich noch nicht Abgeordneter, sondern Rechtsanwalt
war. Damals wurde ich als Rechtsanwalt von einer berühmten Tageszeitung, die nur wenige Meter von hier
ihr Büro hat, zu Hilfe gerufen, als dort die Staatsanwaltschaft angerückt war, um die Redaktionsräume zu
durchsuchen und Material mitzunehmen. Da habe ich
ein solches Gesetz bzw. einen solchen Gesetzentwurf
vermißt. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, daß
sich die F.D.P. dafür starkgemacht hat, ein solches Gesetz mit einer solchen Erweiterung des Schutzes der
Pressefreiheit durchzusetzen. Das hätte ich sehr begrüßt.
Was aber damals nicht war, ist jetzt vorgelegt worden.
Das finde ich gut.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koppelin?
Natürlich! Wir wollen doch diskutieren.
Herr Kollege, ich habe
nur die Frage: Was hat Ihre Fraktion vorgelegt?
Oh, einen wunderbaren Gesetzentwurf!
({0})
Ich komme gleich darauf. - Darf ich Sie weiter fragen - da wir hier zum Thema Pressefreiheit diskutieren -, wie Sie damals reagiert
haben, als Herr Lafontaine als Ministerpräsident des
Saarlandes dort seine Pressegesetze eingebracht hat?
Damals habe ich empört reagiert,
({0})
weil der damalige Ministerpräsident die Pressefreiheit
nicht erweitert hat, sondern etwas anderes getan hat,
während dieses Gesetz, das Sie jetzt vorgelegt haben, offensichtlich und ausdrücklich dem Zweck dient, die
Journalisten in ihrer Arbeit zu unterstützen.
Es ist weder für Journalisten noch für Informanten
oder das Publikum verständlich, warum Journalisten ihr
Zeugnis bezüglich Informationen, die sie von Informanten bekommen haben, verweigern dürfen und diesbezüglich auch ein Beschlagnahmeverbot besteht, das
heißt, daß Unterlagen, die sie von anderen bekommen
haben, nicht beschlagnahmt werden dürfen, während
aber Unterlagen, die sie durch eigenes Hinschauen gesammelt und aufgeschrieben haben, die in ihrem
Schreibtisch liegen, der Staatsanwaltschaft preisgegeben
werden. Das versteht kein Journalist und kein Publikum.
Das soll jetzt mit Ihrem Gesetzentwurf geändert werden.
({1})
Das finde ich hervorragend.
Aber - hier haben Sie, Herr Kollege, nicht recht Pressefreiheit kann nur existieren - und die Pressefreiheit ist ein konstituierendes Gut für diese Gesellschaft,
die Presse ist die vierte Gewalt - und funktionieren,
wenn nicht nur die Informanten sicher sind, daß das
Material oder die Information, die sie geben, secret bleiben, daß sie nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben werden, sondern wenn dies auch für das Material
gilt, das der Journalist durch Gespräche, durch eigene
Beobachtung, durch Filmen oder auf andere Art und
Weise sammelt oder sich selbst beschafft. Nur dann,
wenn der Journalist sicher sein kann, daß er seine Informationen in seinem Schreibtisch, auf seiner Videocassette oder auf seinem Tonband behalten kann, wird er
ein wirksames Korrektiv für uns Politiker, für die Regierung und für die Opposition, sein können. Er wird Skandale aufdecken können, wie das in der Vergangenheit
sehr viel häufiger durch Presseartikel in berühmten Magazinen, aber auch von anderen, als etwa durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse geschehen ist.
Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der wesentlich weiter ging als
Ihrer.
Auch ich habe an den Diskussionen und Gesprächen
innerhalb der Regierungskoalition teilgenommen. Der
Gesetzentwurf ist noch nicht fertig. - Er wird hoffentlich
bald auch Ihnen zugeleitet werden können, damit wir
darüber diskutieren können.
Jetzt komme ich zu Ihrem Entwurf: Ich sehe acht
Punkte als problematisch an. Den ersten Punkt will ich
kurz abhandeln. Das Gesetz soll nur für Journalisten
gelten, die hauptberuflich tätig sind. Dies gibt Probleme,
wie wir gesehen haben. Gott sei Dank hat die Rechtsprechung gesagt, daß auch dann, wenn ein Journalist
nebenberuflich unterwegs ist, das Zeugnisverweigerungsrecht gilt.
Zweiter Punkt: Sie wollen die Möglichkeit für Journalisten, das Zeugnis zu verweigern, auf Medien,
Druckwerke, Rundfunksendungen und moderne Kommunikationsmedien beschränken, aber nur, soweit sie
der Berichterstattung und Meinungsbildung dienen oder
Informationsangebote enthalten.
Liebe Herren von der F.D.P., wie wollen Sie das
auseinanderhalten? Nehmen wir Konsalik, nehmen wir
Artikel in der Regenbogenpresse: Was ist dabei Information, was dient der Meinungsbildung und was nicht?
Wo wollen Sie die Grenze ziehen? Ich denke, eine solche Unterscheidung ist nicht möglich. Die Regelungen
sollten deshalb unbeschränkt gelten.
Dritter Punkt - hierauf ist bereits hingewiesen worden -: Mir ist Ihr Ausnahmekatalog viel zu umfangreich.
Machen Sie den Journalisten einmal klar, daß das Material, das sie in den wirklich wichtigen Fällen, in denen es
um Spionage, um kriminelle Vereinigungen oder um
schwerere Straftaten geht, erarbeitet und in ihrem
Schreibtisch liegen haben, nicht frei von Beschlagnahme
ist und sie deshalb nicht das Zeugnis verweigern dürfen.
Ich denke, daß sie gerade in diesen Fällen geschützt
werden müssen.
Wenn wir heute wissen, in wie vielen Fällen die
Staatsanwaltschaften quer durch die Bundesrepublik etwa im Bereich des Werbens für eine kriminelle oder terroristische Vereinigung vorgegangen sind, etwa gegen
Zeitungen, die nichts anderes getan haben, als eine Erklärung, zum Beispiel eine Hungerstreikerklärung, zu
veröffentlichen, und daß dies bereits ausreichte, einen
solchen Verdacht zu rechtfertigen, dann wissen wir
auch, daß dieser Katalog viel zu ausführlich ist. Er muß
eingeschränkt werden; das kann so nicht gehen.
Meine Zeit ist schon um. Deshalb will ich nur die
Punkte nennen, die weiterhin problematisch sind. Den
Verdachtsgrad bei Ermittlungsverfahren halte ich für
problematisch. Sie haben überhaupt keinen Verdachtsgrad vorgesehen, sondern wollen das bei allen Ermittlungsverfahren.
Sie nehmen keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.
Sie beurteilen also nicht, ob die Aussage des Journalisten für ein Strafverfahren von entscheidender Bedeutung ist, möglicherweise für die Überprüfung des Täters,
sondern Sie sagen, er müsse immer dann aussagen,
wenn eine in diesem Ausnahmekatalog aufgeführte
schwere Straftat vorliegt.
Sie wollen das Zeugnisverweigerungsrecht bei selbst
recherchiertem Material nicht zubilligen,
Ich möchte
doch noch einmal auf die Zeit hinweisen. Sie können
nicht mehr argumentieren, sondern nur noch aufzählen.
- wenn sich daraus Hinweise auf Informationen
ergeben.
Verehrte Präsidentin, ich beende diesen Katalog. Wir
haben noch genügend Gelegenheit, darüber in den Ausschüssen und hier im Plenum zu diskutieren.
Wir sind auf dem richtigen Wege. Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, daß die vierte Gewalt uns besser
auf die Finger gucken kann. Das ist richtig und wichtig
und für diese Gesellschaft und für diesen Staat Bundesrepublik Deutschland konstitutiv.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Kollege Ströbele, ich
kann Sie so gut verstehen. Ich habe noch weniger Zeit.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die PDS begrüßt ausdrücklich jede Erweiterung des
Zeugnisverweigerungsrechts für Journalistinnen und
Journalisten. Bevor Sie mir, obwohl Sie heute sehr ruhig
sind, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU, eingedenk der letzten Rede wieder mit DDR und
SED kommen, sage ich: Gerade weil der SED derartig
gravierende Versäumnisse vorzuwerfen sind bzw. sie
solche Fehler in puncto Zensur und Pressekontrolle gemacht hat, denke ich, daß die Pressefreiheit wirklich ein
sehr schützenswertes Gut gerade auch in dieser Gesellschaft ist und man sehr viel Wert darauf legen sollte.
({0})
Die Initiative der F.D.P., das Zeugnisverweigerungsrecht auf Internetautorinnen und -autoren sowie auf den
Schutz des selbst recherchierten Materials auszuweiten,
ist richtig. Wie wir gehört haben, gibt es einen entsprechenden Gesetzentwurf nun auch von der Bundesregierung. Wir haben ihn zu erwarten, und schließlich hat sie
eine solche Reform auch in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt und versprochen, und auch von der Bundesjustizministerin ist in vielen Zeitungen mehrmals betont
worden, wie wichtig das ist.
({1})
- Ich hoffe, daß sie nicht nur ankündigt, sondern daß
dieser Gesetzentwurf auch kommt.
Es ist in der Tat völlig willkürlich, Recherchematerialien von Journalistinnen und Journalisten in selbst recherchierte und zugetragene zu unterscheiden. Ein Journalist, der sich die Fakten nicht selbst ausdenkt - das
dürfen wir ja wohl alle erwarten -, hat für seine Informationen immer eine Quelle. Sie sind also in der Regel
immer zugetragen worden und dennoch selbst recherchiert. Journalistinnen und Journalisten dürfen aber in
meinen Augen nicht unfreiwillig zu Hilfsermittlern gemacht werden, und die von den Strafverfolgungsbehörden immer wieder vollzogene Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts muß endlich gestoppt werden.
({2})
Leider bringt uns an dieser Stelle, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der F.D.P., Ihr Antrag nicht viel weiter. Es ist hier auch schon gesagt worden: Ihr Ausnahmekatalog ist derart umfangreich, daß sich Ihr Entwurf
leider selbst ad absurdum führt.
Was den einen zu wenig ist, ist den anderen zu viel.
Das hat man natürlich häufiger. Da gibt es kaum eine
Straftat, die nicht aufgeführt ist. Journalistische Nachforschungen im Zusammenhang mit solchen Straftaten
sind nach ihren Vorstellungen vom Zeugnisverweigerungsrecht aber ausgenommen.
Selbst recherchierte Materialien können also weiterhin von Ermittlungsbehörden beschlagnahmt werden,
und das ist in meinen Augen wirklich völlig abwegig,
denn zu Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen, ja
überhaupt zu polizeilichen Ermittlungen kommt es ohnehin nur bei strafrechtlich relevanten Fällen. In der Regel sammeln Journalisten nicht über einen Eierdiebstahl
oder über eine Schwarzfahrt entsprechende Materialien,
({3})
sondern natürlich geht es meistens in den brisanteren
Fällen dann doch um Strafmaße, die höher sind.
Deswegen tut es mir sehr leid, daß dieser Gesetzentwurf untauglich ist, die notwendigen Reformen zugunsten der Pressefreiheit anzuschieben. So ist die Bundesregierung jetzt ihr Koalitionsversprechen umsetzt, was
sie heute angekündigt hat, wird sie hoffentlich einen
besseren Entwurf vorlegen. Dazu wünsche ich schon
einmal von dieser Stelle sehr viel Erfolg. Mehr kann
man leider in drei Minuten nicht sagen.
Schönen Dank.
({4})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1602 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1999 ({0})
- Drucksache 14/1088 ({1})
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 14/1727 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Wiefelspütz
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/1730 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Koppelin
Günter Weißgerber
Frhr. Carl-Detlev v. Hammerstein
Oswald Metzger
Dr. Christa Luft
Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen,
daß die Abgeordneten Kemper, Belle, Özdemir, Funke,
Ehlert und Staatssekretär Körper darum gebeten haben,
ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie
damit einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Wir kommen gleich zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bun-
desbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes
1999, Drucksachen 14/1088 und 14/1727. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS
bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimm-
verhältnis wie zuvor angenommen.
------------
*) Anlage 6
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({4}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: „Entwicklung und Folgen des Tourismus“
Bericht zum Abschluß der Phase II
- Drucksache 14/1100 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Tourismus ({5})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Birgit Roth.
Guten Abend, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Interessierte!
({0})
Einen Moment, Frau Kollegin! Bitte warten Sie mit der Fortsetzung Ihrer Rede, bis es ruhiger geworden ist. Ich halte
die Zeit solange an. - Sie haben das Wort.
Seit zirka einer Woche
liegt uns der Abschlußbericht des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages, der sogenannte TAB-Bericht, zum Thema „Entwicklung und
Folgen des Tourismus“ vor. Ich möchte uns folgendes
kurz in Erinnerung rufen. Es hat vor zirka einem Jahr
einen Zwischenbericht gegeben, der sich in erster Linie
mit dem Reiseverhalten der Deutschen beschäftigt hat,
mit Outgoing-Tourismus, Incoming-Tourismus, aber
natürlich auch mit dem Thema „Tourismus als Wirtschaftsfaktor“. Der Tourismus ist in der Bundesrepublik
zu einem enormen Wirtschaftsfaktor geworden. Bedenken Sie: Der Tourismus hat mittlerweile einen Anteil
von 8 Prozent am Bruttosozialprodukt. Er stellt - je nach
Sichtweise - 2,5 Millionen bis 2,8 Millionen Arbeitsplätze zur Verfügung. Davon sind cirka 75 000 bis
80 000 Ausbildungsplätze.
Der Zwischenbericht hat ebenfalls Auskunft über die
Umweltfolgen des Tourismus gegeben, die mit ihm immer verbunden sind. Aber er hat auch Aufschluß über
Motive, Einstellungen und Werte der Verbraucher gegeben, sprich: Wie und wann fährt welche Zielgruppe in
Urlaub? Wie kann man diese Gruppen bewerben? Wie
soll man mit den gewonnenen Marketingerkenntnissen
umgehen?
Heute liegt uns der Abschlußbericht vor. In ihm werden die Rahmenbedingungen und Trends fokussiert, die
es momentan im Tourismus gibt. Über diese läßt sich
sagen: Der Tourismusbereich zeichnet sich durch eine
klare Wachstumsdynamik aus. Dieses Wachstum beschränkt sich in der Regel auf die hochindustrialisierten
Länder. Entwicklungs- und Schwellenländer haben fast
keine Möglichkeit, in diese Gruppe vorzustoßen.
Daß es Globalisierung auch im Tourismus gibt, darüber sind wir uns alle einig. Doch die Tourismusströme
verlaufen im Grunde genommen nur zwischen den beiden großen Blöcken Europa und USA. Deshalb kann
man im Prinzip eher von einer Europäisierung des Tourismus sprechen.
Über Deutschland ist zu sagen: Es gibt zwar einen
leichten Anstieg bei den absoluten Zahlen, aber längerfristig wird das Urlaubsland Deutschland - relativ - an
Bedeutung verlieren, und der TAB-Bericht bringt das
mit der Aussage sehr schön auf den Punkt: Deutschland
ist im Grunde genommen ein Reiseland für Deutsche.
Für um so wichtiger halte ich die Entscheidung, daß die
DZT das Auslands-, aber eben auch das Inlandsmarketing für Deutschland übernommen hat. Insbesondere
Wirtschaftsminister Müller hat ganz massiv dafür gekämpft, daß die Mittel der DZT konstant bleiben bzw. in
diesem Jahr sogar einen Zuwachs von insgesamt 3 Millionen DM zu verzeichnen haben.
Ich muß mich ein bißchen an Sie, die Herren und
Damen von der Opposition, wenden. Ich halte es nicht
für gerechtfertigt, wenn Sie uns vorwerfen, wir würden
einfach platt sparen - ganz im Gegenteil! Gerade für das
Zukunftsprogramm des Tourismus, der wirklich ein Bereich des Wachstums und der Innovationen ist, sind die
Mittel trotz Sparprogramms um 3 Millionen DM aufgestockt worden. Denken Sie daran, daß Sie in Ihrem Etatentwurf einer Kürzung der Mittel bis auf 36,7 Millionen
DM vorgesehen hatten.
({0})
Ich gebe unumwunden zu: Es hat Belastungen für die
Tourismusbranche gegeben, zum Beispiel durch die
Ökosteuer. Wir müssen aber auch die andere Seite der
Medaille sehen. Weshalb ist die Ökosteuer denn gekommen? Man hat den Faktor Energie zugunsten des
Faktors Arbeit verteuert. Damit schaffen wir es, die
Lohnnebenkosten und damit die Arbeit billiger zu machen. Genau in diese Bresche ist die Ökosteuer gesprungen. Wir haben es geschafft, die Lohnnebenkosten um
0,8 Prozentpunkte zu senken. Für jeden Arbeitgeber in
der Touristikbranche heißt das, daß die Lohnkosten gesunken sind. Und ich bitte in Rechnung zu stellen - ich
halte das für ganz entscheidend -, daß wir nächstes Jahr
die Unternehmenssteuerreform planen. Vorgesehen ist
ein Höchststeuersatz für Unternehmen von 35 Prozent.
Ich halte das für sehr zukunftsweisend.
({1})
Der Abschlußbericht des TAB-Büros geht ebenfalls
auf den Punkt Tourismus und Umwelt ein. Hier ist in
erster Linie der Flugverkehr - sprich: Klimabelastungen,
Schadstoffemissionen, zunehmender Flächenverbrauch,
Energie- und Ressourcenverbrauch - anzusprechen.
Diese Regierung steht für eine nachhaltige Wirtschaftsund Umweltpolitik. In diese Richtung gehen auch die
politischen Entscheidungen des Klimagipfels von Kioto
oder von Rio. Wirtschaftsminister Müller hat es auf der
ITB wirklich hervorragend auf den Punkt gebracht, indem er sagte: Darum müssen im Interesse der Reisenden
wie der Zielländer die Freude am Reisen sowie die wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklung bei
tourismuspolitischen Entscheidungen gleichwertige
Ziele sein.
Der nächste Punkt des Abschlußberichtes beschäftigt
sich mit Globalisierung und Tourismus. Die Zahl der
Auslandsreisen, insbesondere die der Fernreisen, hat bei
uns stark zugenommen. Entscheidend ist jedoch, was
sich bei uns in der Bundesrepublik getan hat: Die Angebotsstruktur hat sich verändert. Im Prinzip sind alle Stufen der Wertschöpfungskette davon betroffen, angefangen von den Reisemittlern über die Veranstalter, die Gastronomie und die Hotellerie bis hin zu den Transportunternehmen. Auf Grund der Globalisierung unterliegen
sie ganz klar einem zunehmenden Konkurrenzdruck.
Massive Konzentrationstendenzen sind nicht zu übersehen. Denken Sie daran, was für ein Tourismusriese gerade mit Preussag entsteht. 1996 haben die Top ten des
deutschen Reisevertriebs 50 Prozent des Umsatzes ausgemacht.
Ich möchte ein kurzes Wort zu den Herausforderungen an den Tourismusstandort Deutschland sagen. Der TAB-Bericht sagt sehr klar, daß es bei uns im
Grunde genommen bundesweit noch kein einheitliches,
umfassendes Reservierungssystem gibt, obwohl auch
mit finanziellen Mitteln der Bundesregierung, die DIRG
unterstützt wurde. Wir müssen aber feststellen, daß zum
Beispiel die EXPO 2000, die nächstes Jahr im Juni stattfinden wird, auf ein anderes Reservierungssystem zurückgegriffen hat. Es wird sehr spannend sein, zu sehen,
welche Entwicklungen wir bezüglich des Datenbanksystems in der Bundesrepublik haben werden.
Die Bundesrepublik ist ein Hochpreisland. Wir werden durch Dumpingangebote keinen Blumentopf gewinnen können - ganz im Gegenteil. Ziel des Tourismus in
der Bundesrepublik wird es sein, ein Markenimage aufzubauen. Wir wollen es schaffen im Tourismus eine sehr
hohe Qualität zu halten und, vom Personal her, entsprechende Qualifikationen anzubieten.
({2})
Gerade in den einzelnen Tourismusbereichen, die angeboten werden, sei es der Wellness-Bereich, der Gesundheitstourismus, sei es der Bildungs-, Kultur- und Naturtourismus, muß das Personal entsprechend qualifiziert
sein, damit wir in der Bundesrepublik eine Uniqueselling-Position erreichen.
Spannend finde ich im Augenblick auch den Trend
zur Inszenierung. Damit einher geht eigentlich eine Ablösung von klimatischen und naturräumlichen Gegebenheiten. Mittlerweile können Sie ja selbst in Japan mitten
im Sommer in der Halle Ski fahren. Ich will das jetzt
nicht unter Umweltgesichtspunkten werten. Wir müssen
uns aber sicherlich auf diese Entwicklung einstellen.
Das halte ich für entscheidend.
Ebenfalls sehr wichtig für die Tourismusbranche ist
die IuK-Technologie; sie muß die Herausforderung
durch Internet und E-Commerce annehmen. Wir können
davon ausgehen, daß sich auf absehbare Zeit sowohl die
Angebotsstrukturen als auch die Vertriebsstrukturen im
Bereich Tourismus massiv verändern werden. Davon,
wie man sich darauf einstellt, hängt ganz entscheidend
die Wettbewerbsfähigkeit der Akteure und der Destinationen ab. Bedenken Sie, daß sich beispielsweise 1998
der Online-Umsatz in den USA verdreifacht hat. In der
Bundesrepublik werden wir ganz klar eine ähnliche
Entwicklung erleben. Stellen wir uns darauf ein. Wir
sind ja gerade dabei, durch eine EU-Richtlinie für eine
Harmonisierung der elektronischen Signaturen zu sorgen.
Zum Schluß nenne ich die zentrale These, die auch
der Abschlußbericht formuliert: Kann der Tourismus die
Leitökonomie für das 21. Jahrhundert sein? Das Entscheidende dafür ist, daß sich alle am Tourismus Beteiligten zusammenraufen und eine funktionierende und
vor allem auch effektive Zusammenarbeit zustande
bringen, die von staatlicher, aber sicherlich auch von
privater Seite und den NGOs, also den Non Governmental Organizations, getragen werden muß. Je besser
diese Verzahnung gelingt, desto eher wird sich auch
beim Tourismus der Erfolg einstellen.
Wir sollten jetzt keine Diskussionen darüber führen,
ob wir mehr Staat oder mehr Markt wollen, sondern wir
sollten ein Modell der Kooperation entwickeln, sprich:
einfach eine Verbundpolitik verfolgen, bei der Staat und
Wirtschaft Hand in Hand arbeiten, so daß ein Netzwerk
aufgebaut werden kann. Damit könnte es dem Tourismus gelingen, zur Leitökonomie der Moderne zu werden, denn bei den Bedürfnissen der Bundesbürgerinnen
und Bundesbürgern steht Reisen bekanntlich an erster
oder zweiter Stelle. Einiges von dem Geld aus der Milliardenentlastung, zu der die Steuerreform gerade bei den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und bei den Familien geführt hat, kommt der Tourismuswirtschaft sicherlich zugute.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Heute diskutieren wir den
Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung über
die Entwicklung und Folgen des Tourismus. Dieser auf
eine Initiative der Obleute des Tourismusausschusses
zurückgehende Bericht ist der Abschlußbericht zur
zweiten Phase einer Untersuchung, die prüfen sollte, wie
und mit welchen Konzepten und Instrumenten die Politik auf die Herausforderungen durch den Tourismus auf
nationaler und internationaler Ebene antworten kann.
Nachdem im Bericht zum Abschluß der ersten Phase
vom Dezember 1997 vor allem der aktuelle Forschungsstand zum Tourismus in Deutschland dokumentiert wurde, widmet sich der jetzt vorliegende Bericht insbesondere den Rahmenbedingungen und den Folgen der Globalisierung im Tourismus. Tourismus ist nicht nur die
Leitökonomie des 21. Jahrhunderts, wie Fachleute immer wieder betonen, sondern auch weltweit der wichtigste Devisenbringer: Mit einem Gesamtumsatz in Höhe
von umgerechnet 958 Milliarden DM lag der internationale Fremdenverkehr nach Angaben des Internationalen
Währungsfonds noch weit vor den nachfolgenden Branchen: In der Automobilindustrie betrug er 942 Milliarden DM, in der Chemieindustrie 931 Milliarden DM
und in der Nahrungsmittelbranche 870 Milliarden DM.
Angesichts der vorhergesagten hohen Wachstumsraten und der zu erwartenden Expansion im Wirtschaftsbereich Tourismus ergeben sich in dieser personalintensiven Branche enorme Chancen für zusätzliche Arbeitsplätze.
({0})
Ich verweise hier darauf, daß in Deutschland nur
38,5 Prozent der Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor
tätig sind, während dieser Prozentsatz in anderen europäischen Staaten mit deutlich niedrigerer Arbeitslosigkeit zirka 50 Prozent beträgt. Als positives Beispiel kann
hier Irland angesehen werden. Es stellt sich also für uns
die Frage: Wie kann die Politik auf Bundes-, Landesund Kommunalebene die Rahmenbedingungen verändern, um von dieser positiven Wirtschaftsentwicklung
zu profitieren und zusätzliche Lehrstellen sowie Arbeitsplätze zu schaffen? Grundsätzlich sind in der Wirtschaftspolitik neue Denkansätze notwendig:
Erstens. Die Industriegläubigkeit in Deutschland muß
überwunden werden. Die Automatisierungsreserven in
der industriellen Fertigung sind weiterhin enorm und
sorgen eher noch für zusätzliche Freisetzungen von Arbeitskräften. Dagegen erwartet das Prognos-Institut in
seiner IAB-Projektion 1999 bis zum Jahre 2010 auf dem
Tourismussektor in Deutschland einen Anstieg der Zahl
der Beschäftigten um 7,3 Prozent, das heißt einen Anstieg von 19 auf 26,3 Prozent, gemessen am Gesamtanteil der Beschäftigten. Voraussetzungen dafür sind allerdings die richtigen politischen Rahmenbedingungen.
Eine umfassende Reform mit nachhaltiger Wirkung auf
die Hauptthemen Gesundheit, Soziales, Renten, Steuern
und Finanzen ist in Deutschland dringend erforderlich.
Wie die Aktuelle Stunde heute gezeigt hat, hat die Union in diesem Zusammenhang wichtige Diskussionsbeiträge geleistet.
Zweitens. Der Staat hat die Aufgabe, die ihm zur
Verfügung stehenden Steuermittel intelligent in Zukunftsprojekte zu investieren. Es ist einfach nicht akzeptabel, daß die deutsche Steinkohle als unrentabler
Wirtschaftszweig ohne langfristige Zukunft jedes Jahr
mehrere Milliarden DM an Subventionen erhält, während ein Zukunftsprojekt mit Markt- und Exportchancen
wie der Transrapid kaputtgerechnet wird.
({1})
Dies zeigt mehr denn je: Wir sind in der Vergangenheit
gefangen und haben den Blick immer noch nicht frei für
die wirklichen Zukunftsherausforderungen.
Drittens. Die Marktzugangsmöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen sind durch die öffentliche
Hand konsequent zu fördern. Ein gelungenes Beispiel
für eine solche Initiative war die Messe zur Förderung
des Absatzes ostdeutscher Produkte in Düsseldorf.
Mittlerweile werden viele ostdeutsche mittelständische
Betriebe, die aus eigener Kraft kein aufwendiges Marketingkonzept finanzieren können, bei großen Einkaufsketten gelistet.
Für die Tourismusbranche gibt der TAB-Bericht einige wichtige und richtige Anregungen, wie die politischen Rahmenbedingungen gesetzt werden müssen, um
die deutsche Tourismusbranche auch in Zeiten der Globalisierung zu einem wichtigen Faktor bei der Schaffung
neuer Arbeitsplätze werden zu lassen.
Exemplarisch möchte ich hier einige Anregungen des
TAB-Berichtes ansprechen:
Erstens. Die Diskussion über die touristische Vermarktung der EXPO-Weltausstellung im Jahre 2000 hat
eines der vorrangigen Probleme im Bereich Tourismusmarketing verdeutlicht: Deutschland benötigt dringend
ein bundesweites, kompatibles Informations- und Reservierungssystem sowie eine touristische Datenbank,
die dem Endverbraucher umfassende Informationen über
alle touristischen Angebote in Deutschland und eine unkomplizierte Buchung ermöglichen. Mit der DIRG, der
Deutschen Informations- und Reservierungsgesellschaft,
hat der Tourismusausschuß vor vier Jahren eine solche
Initiative in die Wege geleitet, die auch erste Erfolge
zeigt. Mittlerweile sind in verstärktem Maße auch Buchungen von Inlandsreisen über Reisebüros zu verzeichnen. Über den für das Ende des Jahres 2000 geplanten
Ausstieg der Bundesregierung aus der Förderung der
DIRG sollten die Kollegen aller Fraktionen im Tourismusausschuß noch einmal diskutieren. Die Verlagerung
dieser Arbeit auf die Deutsche Zentrale für Tourismus,
DZT, bzw. auf den Deutschen Tourismusverband, DTV,
ohne zusätzliche finanzielle Zuwendungen des Bundes
überfordert beide Organisationen.
In diesem Zusammenhang müssen auch die Sparpläne
der Bundesregierung, die zu Schließungen bzw. zu Kürzungen im Bereich der Botschaften, bei Inter Nationes,
den Goethe-Instituten und der „Deutschen Welle“ führen, überdacht werden. Wie soll jemand zu einer Reise
nach Deutschland animiert werden, wenn nicht nur zuwenig Geld für das touristische Auslandmarketing bei
der DZT zur Verfügung steht, sondern auch im Ausland
die Repräsentanzen und Träger deutscher Kultur nicht
mehr vor Ort aktiv sind? Auf Grund dieser Situation
plädiert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Recht für
eine spürbare Aufstockung der Bundesmittel für die
Deutsche Zentrale für Tourismus.
({2})
Zweitens. Die Probleme der deutschen Tourismuswirtschaft mit der Globalisierung zeigen sich besonders
deutlich in den hohen Personal- und Servicekosten.
Deutschland besitzt daher ein ausgesprochenes Hochpreisimage. Selbst Reformen unseres Sozialsystems, die
deutliche Zurückführung der Arbeitslosigkeit und Lohnzurückhaltung werden in der Zukunft kaum dafür sorgen, daß dieser Wettbewerbsnachteil umgekehrt werden
kann.
Was Deutschland braucht, ist eine Qualitäts- und
Leistungsverbesserung, die gewährleistet, daß der Urlauber bereit ist, für eine hochwertige und einzigartige
Leistung einen höheren Preis zu zahlen. Die Devise
heißt: Das Produkt „Urlaub in Deutschland“ muß nicht
preiswert, sondern preiswürdig sein. Grundvoraussetzung dafür ist, daß in unserer Gesellschaft eine positive
Grundeinstellung zur Dienstleistung vermittelt wird.
Drittens. Diese Qualitäts- und Leistungsverbesserung
kann nur mit einem klaren Bekenntnis zur beruflichen
Aus- und Weiterbildung auf hohem Niveau einhergehen. Wer sich als Unternehmer im Hotel- und Gaststättengewerbe, als Mitarbeiter eines kommunalen Fremdenverkehrsbüros oder als Mitarbeiter im Gaststättengewerbe auf dem Markt behaupten will, muß sich ständig fortbilden. Der Aufbau eines Qualitätsmanagements
ist der sicherste Weg, die ständig wechselnden Ansprüche und Wünsche der Konsumenten frühzeitig zu erkennen und die damit bisher erzielte Marktposition zu sichern bzw. in Zukunft weiter auszubauen. Insofern begrüße ich ausdrücklich, daß die Bundesregierung die
gute Arbeit des Deutschen Seminars für Fremdenverkehr in Berlin anerkennt und diese Einrichtung von
Mittelkürzungen bisher ausspart.
Viertens. Eine wichtige Aufgabe sieht der TABBericht in der Entwicklung von übergreifenden Regionalkonzepten. Hier haben gerade die neuen Bundesländer hervorragende Beispiele zu bieten. Die Sächsische
Schweiz war die erste deutsche Ferienregion,
({3})
in der bereits 1995 ein tourismuspolitisches Leitbild
entwickelt wurde. Die touristischen Fachverbände, die
zuständigen Fachministerien des Freistaates Sachsen,
das Landratsamt, die Städte und Kommunen des Landkreises und die Nationalparkverwaltung haben sich in
diesem Leitbildprozeß zu einem Gespräch am runden
Tisch zusammengefunden und sich darüber Gedanken
gemacht, wie der Tourismus als ein wichtiger Arbeitgeber weiter vorangetrieben werden kann, ohne dabei die
Interessen der höchst sensiblen Umwelt in unserer Nationalparkregion zu gefährden.
({4})
In der Fortführung dieses Leitbildprozesses kam es
1996 zur Gründung der Touristischen Arbeitsgemeinschaft Elbe. In dieser Allianz haben sich die Landesbühnen Sachsen, die Sächsische Dampfschiffahrtsgesellschaft, die drei regionalen Tourismusverbände der Stadt
Dresden, Sächsisches Elbland und Sächsische Schweiz
zu einer überregionalen Kooperation bei der Vermarktung zusammengeschlossen. Fünf touristische und wirtschaftliche Partner geben einen Teil ihrer Kompetenzen
ab, um der Nachfrageseite, den Kundenwünschen, stärker Rechnung zu tragen. Die Schwerpunkte, die wir dort
gemeinsam angehen, sind die Bündelung der Kräfte, die
Ausgestaltung aller Synergieeffekte, der intelligente
Einsatz der knapper werdenden Finanzressourcen, gemeinsame Messeauftritte und die Entwicklung von verbandsübergreifenden, marktfähigen Zukunftsprodukten.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Roth?
Ja, bitte.
Herr Brähmig, das
Thema dieser Debatte ist ja der TAB-Bericht über
„Entwicklung und Folgen des Tourismus“. Ich habe in
diesem sehr umfangreichen Bericht keinerlei Hinweise
auf die Sächsische Schweiz gefunden. Können Sie mir
bitte erklären, wie Sie in diesem Zusammenhang auf die
Sächsische Schweiz kommen?
({0})
Ich habe noch eine weitere Frage. Sie haben vorhin
gesagt, daß man für die Realisation von DIRG zirka vier
Jahre gebraucht habe. Es ist mir einfach nicht verständlich, wie man vier Jahre dazu brauchen kann, um in der
Bundesrepublik ein Datenbanksystem zu realisieren. Ich
halte diese Zeit schlicht und ergreifend für zu lang.
Könnten Sie vielleicht kurz darauf eingehen?
Am Anfang Ihrer Rede haben Sie gesagt - ich wäre
Ihnen dankbar, wenn Sie auch darauf eingehen könnten -, ein Unternehmen ohne Marketingkonzept würde
aufgekauft werden. Es gibt aber kein Unternehmen ohne
Marketingkonzept; jedes Unternehmen hat ein Marketingkonzept.
Liebe Kollegin Roth,
ich will versuchen, ganz kurz auf Ihre Fragen einzugehen. Die Problematik hinsichtlich DIRG sollten wir im
Ausschuß beraten. Ich denke, daß wir bei dem Ziel nicht
sehr weit auseinanderliegen.
Was die Marketingkonzeption angeht, so muß man
sagen, daß da in der Wirtschaftsstruktur der neuen Bundesländer unzweifelhaft ein Schwachpunkt vorhanden
ist. Dieser Sachverhalt wird von jeder Bundesregierung
bestätigt. In diesem Bereich muß Unterstützung erfolgen.
Daß ich hier die Sächsische Schweiz beispielhaft genannt habe, hängt damit zusammen, daß wir im Freistaat
Sachsen in den letzten Jahren eine tolle Umweltpolitik
gemacht haben. Ich freue mich ganz besonders, daß unser ehemaliger Umweltminister, Arnold Vaatz, heute
hier anwesend ist. Von den 14 Nationalparks in
Deutschland kann sich dieser Nationalpark jederzeit sehen lassen. Frau Voß unternimmt im Augenblick eine
Bereisung aller deutschen Nationalparks. Wenn Sie damit fertig ist, werden wir uns zusammensetzen. Dann
wird sie uns einmal berichten, von welchen deutschen
Nationalparks sie von der Struktur, vom Marketing und
auch von der Einstellung der Menschen her am meisten
begeistert ist.
Zur Frage der regionalen Leitbilder: Das ist ein ganz
wichtiger Ansatz des zweiten Berichts. Darauf bin ich in
aller Kürze eingegangen. - Das wäre - in Kurzform alles zu den Fragen, die Sie gestellt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nun
fortfahren: Der europäische und weltweite Wettbewerb,
wie im Bericht ausgeführt -
Herr Kollege,
Ihre Zeit ist um, um nicht zu sagen: überschritten. Ich
gebe Ihnen noch Zeit für ein Schlußwort.
Ich darf zum Abschluß
den Mitarbeitern des Büros für Technikfolgenabschätzung ganz herzlich den Dank unserer Fraktion aussprechen. Der Bericht ist sehr wertvoll und wichtig. Er wird
uns in der politischen Tagesarbeit in den nächsten Wochen und Monaten begleiten.
({0})
Ich hoffe, daß die Tourismusbranche in Deutschland zu
der Jobmaschine wird, wie sie es in anderen Ländern der
Europäischen Union bzw. weltweit schon ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sylvia Voß.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Skifahren in der Halle nach Japan zu reisen
finde ich mehr als schlimm. Das ist fast so wie Tiefseetauchen in der Spree im Winter. Aber ich will es werten:
Das ist eindeutig der falsche Weg.
Wenn wir Antworten auf die Fragen finden wollen,
die mit der Globalisierung der Tourismuswirtschaft
an uns gestellt werden, so kann uns das nur gelingen,
wenn wir Tourismus als ein komplexes Problemfeld betrachten, wenn wir begreifen, daß wir nicht nur Antworten auf wirtschaftliche Fragestellungen finden, sondern zugleich ökologische, soziale und kulturelle Verträglichkeitskriterien für Tourismus entwickeln müssen.
Ich will in einer ersten Auswertung des vorliegenden
sehr guten und auch sehr kritischen Berichts meine Redezeit nutzen, um die Aufmerksamkeit auf einige
Aspekte zu lenken, die in aller Regel in den doch
sehr wirtschaftsgeprägten tourismuspolitischen Debatten
- noch! - zu kurz kommen. Frei nach Goethe: Es ist
nicht genug, zu wissen; man muß auch anwenden. Es ist
nicht genug, zu wollen; man muß auch tun.
({0})
Ich möchte noch einmal sehr eindringlich den Zusammenhang von Tourismus und Naturschutz darstellen,
einen Zusammenhang, den man gar nicht oft genug herausstellen kann, ja muß. Ein intakter Naturhaushalt,
schöne, vielfältige und damit reich strukturierte Landschaften sind die zentrale Grundlage für Tourismus.
({1})
Schutz und Pflege von Natur und Landschaft bedeuten
auch Schutz und Pflege der wichtigsten touristischen
Angebotspotentiale. Wer dagegen der Natur und der
Umwelt schadet, schädigt zugleich den Tourismus. Er
entzieht uns allen Lebensgrundlage.
Eine systematische Integration von Naturschutz
und Tourismus aber findet trotz zahlreicher wissenschaftlicher Studien, die genau dies fordern, noch immer
nicht statt. Im Rahmen der gegenwärtigen Erweiterung
der Konvention zur Biodiversität, also zur biologischen
Vielfalt, sollten daher die Belastungen der Ökosysteme
und Lebensräume durch Tourismus bewertet und internationale Leitlinien für einen nachhaltigen Tourismus
entwickelt werden. Ein entsprechendes Tourismusprotokoll zur Konvention würde für die Tourismuswirtschaft
die notwendige rechtliche Bindewirkung entfalten. Die
Bundesrepublik Deutschland sollte hier Vorkämpferin
werden. Mehr Naturschutz ist letztlich Garant für einen
bewahrend-sanften Tourismus, der allein Zukunft haben
kann.
Zu den touristisch am meisten übernutzten Regionen
zählen weltweit unsere Berge, unsere Gewässer und unsere Küsten. Für die Konvention zum Schutz der Alpen
liegt das Tourismusprotokoll inzwischen erfreulicherweise vor; wir werden es demnächst ratifizieren. Die
tragischen Lawinenkatastrophen des letzten Winters haben uns noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt,
daß die nationalen und europäischen Anstrengungen
zum Schutz der Alpen unbedingt verstärkt werden müssen.
Leider müssen wir feststellen, daß gerade auch naturorientierte touristische Aktivitäten wie Skifahren,
Sporttauchen, Bootsfahren, Bergwandern und Trekking
Naturräume und die darin lebenden Tiere und Pflanzen
belasten. Oftmals verursacht oder verschärft gerade ein
solch naturorientierter Tourismus, der leider auch bislang völlig unerschlossene Naturräume neu erschließt
- hier bekommt das Wort „Erschließung“ einen sehr negativen Klang -, ökologische Schäden. Hier muß die
Erhaltung der ökologischen Tragfähigkeit unbedingt gesichert werden. Wo der Druck auf die Natur zu stark
wird, muß im Interesse der Allgemeinheit und des Lebens auf eine Expansion touristischer Angebote verzichtet werden.
({2})
Hans Magnus Enzensberger hat vor schon über
40 Jahren den legendären Satz geprägt: Der Tourismus
zerstört, was er sucht, indem er es findet. - Im ÜberseeMuseum Bern steht noch viel drastischer: Touristen sind
wie Heuschrecken; sie fressen alles kahl und ziehen
weiter.
Für viele Tourismuszentren in der Welt ist diese Aussage inzwischen bittere Realität geworden. Die Expansion des Tourismus geht mit enormem Flächenbedarf
einher. Allzuoft erfolgt der flächenintensive Ausbau von
Hotel- und Ferienanlagen, Campingplätzen und
Sportanlagen oder der tourismusorientierten Verkehrsinfrastruktur getrennt von der vorhandenen Infrastruktur
und Landnutzung sowie unabhängig von den Bedürfnissen der Bevölkerung, der Bereisten. So entstehen selten
positive Effekte für die Einheimischen. Oft genug aber
sind sie die Opfer des Tourismusbooms. Denn wenn Küstengebiete eingedeicht, Sümpfe drainiert, Trockengebiete bewässert, Wälder gerodet oder Korallenriffe gesprengt werden, entstehen enorme Umweltschäden vor
Ort. Ökosysteme erleiden weiterhin Schäden, wenn zum
Beispiel Bausand von den Badestränden, Kalkstein von
den Korallenriffen und Bauholz von den Wäldern der
Meeresküsten in großem Umfang entnommen werden.
Tourismus produziert zudem massiv Abfall. Zentren
mit einem stark erhöhten Aufkommen an Abfall und
Abwasser und sehr hohem Trinkwasserverbrauch weisen
bereits ernsthafte ökologische Schäden und Gesundheitsrisiken - nicht nur für Touristen - auf. Die durch
Tourismus verursachten Umweltschäden können so weit
gehen, daß die betroffene Region ihre Attraktivität als
Reiseziel völlig einbüßt. Ich denke, wir sind uns aber
einig darüber, daß eine Expansion des Tourismus, die
noch immer stattfindet - diese Branche boomt ja weiterhin -, sich nicht an dem Motto orientieren darf: Finde
es, benutze es, und wirf es weg. Anstreben müssen wir
einen Tourismus nach dem Motto „Klasse statt Masse“,
der zur sozioökonomischen Entwicklung der Länder
beiträgt, den kulturellen Austausch entwickelt und unser
Bewußtsein für die Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen in der Welt schärft sowie die touristischen Regionen vor umweltschädlicher Nutzung bewahrt.
Als positives Beispiel ist hier die Zusammenarbeit
Deutschlands mit Kirgistan zu nennen, durch die 1998
um den Issyk-Kul-See ein Biosphärenreservat entstanden ist, in dem zusammen mit den Einheimischen, die
dort ihre Lebensweise beibehalten können, ein sehr begrenzter Tourismus durchgeführt wird, der der Natur
sowie den Einheimischen nicht schadet, sondern ihnen
sogar Nutzen bringt - eine Winner-Winner-Strategie.
Leider verbindet sich mit dem internationalen Tourismus unter anderem das Problem des Jagens, Sammelns und Handelns bedrohter Tier- und Pflanzenarten
oder von Produkten davon. In einer Anhörung wird sich
der Tourismusausschuß auf unseren Vorschlag hin demnächst vertieft mit diesem öffentlich bisher wenig präsenten Aspekt des internationalen Tourismus auseinandersetzen.
Ich habe eingangs festgestellt, daß den Fragen des
Zusammenhangs von Naturschutz und Tourismus
noch immer zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Zum Beispiel wird zuwenig beachtet, wie sehr Großschutzgebiete, unsere eigenen wunderschönen Nationalparke, Naturparke, Biosphärenreservate, eine regionale
Entwicklung und auch den sanften Tourismus begünstigen, so daß die Leute davon leben können, während
gleichzeitig die Natur für alle erhalten bleibt.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle sehr positiv würdigen - und mich ausdrücklich bei allen Mitgliedern des
Tourismusausschusses dafür bedanken -, daß der Tourismusausschuß auf Vorschlag meiner Fraktion einstimmig beschlossen hat, durch das Büro für Technikfolgenabschätzung die Thematik der Wechselwirkungen
und Kooperationsmöglichkeiten von Naturschutz und
regionalem Tourismus bearbeiten zu lassen. Ich bin sicher, daß wir auch mit den Ergebnissen dieser Studie
wertvolle Hinweise für unsere politische Arbeit erhalten
werden.
({3})
Abschließend möchte ich den Aspekt der ethischen
und kulturellen Nachhaltigkeit des Tourismus etwas
näher beleuchten. Auch dieser Aspekt kommt oft zu
kurz.
Wir begrüßen es, daß der Bericht hinsichtlich der
Ausführungen zu einer Agenda für eine zukünftige deutsche internationale Tourismuspolitik endlich auch
Überlegungen alternativer Tourismusverbände aufgenommen hat. So finden sich im vorliegenden Bericht
nunmehr auch Aussagen zur Problematik der ethischen
und kulturellen Nachhaltigkeit. Hier geht es um die
wirklich schwerwiegenden Fragen der Menschenrechte
in den touristischen Zielländern und der demokratischen
Teilhabe der dortigen Bevölkerung an der Entwicklung
des Tourismus.
Rund ein Drittel der Deviseneinnahmen durch Ferntourismus entfallen im Durchschnitt auf die etwa 120
Entwicklungsländer. Aber die Menschen in den bereisten Ländern profitieren häufig am wenigsten von den
Tourismuseinnahmen. Nur ein Teil bleibt dort, der Rest
geht an die internationalen Reiseanbieter und Hotelketten. Es muß gesichert werden - im übrigen auch in unserem eigenen Interesse -, daß der Nutzen aus dem Tourismus für die Entwicklungsländer deutlich größer wird
und daß das Einkommen lokaler Bevölkerungsgruppen
stärker an den touristischen Entwicklungen partizipiert.
({4})
Wir wollen menschliche Arbeitsbedingungen in allen
touristischen Regionen der Welt. Wir wollen aber keine
Kinderarbeit und keinen Sextourismus.
({5})
Eine Verdrängung einheimischer Kultur dürfen wir nicht
mehr zulassen, schon gar nicht zugunsten eines massentouristischen Rummels der Peinlichkeiten.
Auch der Verkümmerung einheimischer Kultur durch
ihre Inszenierung als Spektakel müssen wir einen Riegel
vorschieben. Die Verletzung der kulturellen Identität
ganzer Bevölkerungsgruppen kann im übrigen zu
schwerwiegenden Konsequenzen für die Akzeptanz
Fremder führen. Der Ausschluß Einheimischer von der
Nutzung touristischer Leistungen und Orte ist nicht
mehr länger hinnehmbar. Er war schon immer ein Fehler.
Aufgebaut werden müssen Mechanismen und Strukturen, die die gleichberechtigte Beteiligung der lokalen
Bevölkerung an Planungs-, Umsetzungs-, Beobachtungs- und Bewertungsprozessen von Tourismuspolitik,
-programmen und -projekten sichern. Positive Beispiele
eines entsprechenden deutschen Engagements finden
sich in vielen kleinen alternativen Tourismusprojekten,
ob in Nepal, Kamerun, Kolumbien oder auch in Kirgistan.
Ich wünsche uns allen, daß wir viele der zahlreichen
Anregungen des vorliegenden, wirklich guten Berichtes
aufgreifen - wir sollten nicht nur über diese Anregungen
diskutieren, sondern versuchen, deren Umsetzung zustande zu bringen - und daß wir im Interesse einer wirtschaftlich, sozial und kulturell nachhaltigen Entwicklung des Tourismus sowie eines verbesserten Schutzes
unserer Natur weltweit vieles an positiven Veränderungen auf den Weg bringen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe das Gefühl, daß wir etwas falsch machen: Wir reden hier über
Reisen, und die anderen reisen offenbar schon.
({0})
Tourismus im Zeitalter der Globalisierung - so
hieß der Auftrag für den vorliegenden Bericht. Es reizt
mich, das einmal umzudrehen und von Tourismus als
Voraussetzung für die Globalisierung zu sprechen: Ohne
den Drang der Menschheit zu reisen, ohne den Urwunsch der Menschheit, die Welt zu entdecken, sprächen wir heute wahrscheinlich überhaupt nicht über
Globalisierung. Daß viele Menschen heute reisen können und in der Lage sind, die Welt zu entdecken, halte
ich zuallererst als positives Zeichen fest.
Der Bericht analysiert, zeigt Entwicklungen auf,
schreibt diese in die Zukunft fort und zieht daraus
Schlüsse für die Politik. Ich halte den Analyseteil des
Berichts für ungeheuer wertvoll, und er wird uns in der
Arbeit im Tourismus-Ausschuß auch sehr viel helfen.
Allerdings scheinen mir die Konsequenzen, die dann für
die Politik geschildert werden, in Teilen sehr stark
ideologisch gefärbt und politisch wertend zu sein. Nach
unserem Verständnis gehört das eigentlich nicht zum
Auftrag des Büros für Technikfolgenabschätzung.
({1})
Der Bericht bezeichnet den Tourismus als Leitökonomie der Moderne, und er hebt ab auf - so wird es genannt - einen kommunikativen und kooperativen Politikstil. Die F.D.P. hat wie alle anderen auch im Rahmen
der parlamentarischen Arbeit in diesem Hause immer
eine kommunikative Politik zwischen Betroffenen und
Parlament sichergestellt. Der Tourismus-Ausschuß ist
ein lebendiges Beispiel dafür, wie eine solche kommunikative Politik gemacht wird. Der kooperative Ansatz
birgt aber die Gefahr, unsere Verfassung zu konterkarieren. Nebenparlamente wie die zahlreichen runden Tische, der „Energiedialog“ oder das Bündnis für Arbeit
beschneiden die Rechte des Parlaments oder bergen zumindest die Gefahr in sich, dies zu tun. Wir als Politiker
müssen unsere Aufgaben wahrnehmen, und die im Tourismus tätigen Unternehmen haben sich dem Wettbewerb zu stellen. Da sehe ich die Aufgabe.
({2})
Meine Damen und Herren, der Bericht zeichnet das
Leitbild eines nachhaltigen Tourismus. Dieses Leitbild
ist, denke ich, unumstritten und wird von vielen internationalen Organisationen verfolgt. Genauso weiß aber die
Tourismuswirtschaft selbst - zumindest der größte Teil
der Tourismuswirtschaft -, daß allein nachhaltiger Tourismus in die Zukunft weist.
Tourismus und Landwirtschaft sind die beiden Branchen, die auf eine intakte Natur und Landschaft angewiesen sind, für die ökologische Erfordernisse direkter
Bestandteil ihrer ökonomischen Interessen sind. Deshalb, Frau Voß, kann und muß man sicher darüber reden, welche Bedeutung die intakte Natur hat und welche
Bedeutung der Erhalt von Kulturen hat; aber man sollte
nicht vergessen, daß der Tourismus gerade für die dritte
Welt eine enorme Chance darstellt. Auch das gilt es zu
nutzen. Deshalb sage ich: Wir brauchen einerseits die
starke Einbindung der Tourismuspolitik in die internationale Politik; wir brauchen aber andererseits auch
weltweit eine Entschlackung nationaler Politik von wirtschaftshemmenden Faktoren.
({3})
Ich kann in der Kürze der Zeit nur auf einige wenige
zentrale Punkte der Analyse eingehen. Ich will dabei die
Frage nach der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, also nach dem vielzitierten Jobmotor Tourismus, in den
Mittelpunkt stellen. Die dem Tourismus vorhergesagten
Wachstumsraten sind, so der Bericht, von bestimmten
Rahmenbedingungen abhängig, insbesondere von einer
prosperierenden Weltökonomie, niedrigen Energiepreisen und weltweit abnehmenden Konflikten. Wenn wir
diese Rahmenbedingungen verbessern - zumindest bei
der prosperierenden Weltökonomie und bei den niedrigen Energiepreisen gehört die Bundesregierung sicher
nicht zu den Verbesserern -, dann ist dies eine Chance
gerade für die Länder der dritten Welt.
In der starken Zunahme der Auslandsreisen, der Fernreisen, in der weiteren Diversifizierung der Nachfrage,
wie sie der Bericht sehr ausführlich schildert, liegt für
viele Länder die wirtschaftliche Zukunftshoffnung überhaupt. Um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen,
bedarf es auch - aber nicht in erster Linie - staatlicher
Lenkung. Vor allem bedarf es eines vorausschauenden
Verhaltens der Tourismuswirtschaft insgesamt.
Der Jobmotor Tourismus in Deutschland wird im Bericht eher kritisch gesehen. Ein relativer Bedeutungsverlust für Deutschland als touristisches Zielland wird
vorausgesagt. Dabei bedeuten andere prognostizierte
Entwicklungen eher Chancen. Die Veränderung der Alterspyramide mit immer mehr älteren Menschen, wie sie
beschrieben wird, ist eigentlich eine Chance für das
Tourismusland Deutschland. Die Diversifizierung des
Freizeitverhaltens erfordert eine Diversifizierung des
Angebots - eine Chance für uns.
Nur wird all dies doch nicht mit diesem kooperativen
Politikansatz geleistet, sondern in erster Linie durch geeignete Rahmenbedingungen begünstigt.
({4})
Wer mit 630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigkeit, Ökosteuer die Kosten und die Bürokratie erhöht
({5})
- aber selbstverständlich, Frau Irber, kommt das; das
muß ja kommen -, der verschlechtert die Angebotsbedingungen.
({6})
Was wir brauchen, ist mehr Spielraum am Markt, eine
günstigere Kostenstruktur, eine bessere Dienstleistungsmentalität. Deshalb hat die F.D.P.-Fraktion in dieser Woche zum Beispiel einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung eingebracht.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen auch
eine stärkere Einbindung des Tourismus in die Politik
der Europäischen Union. Dabei geht es nicht um Finanzhilfen - das festzustellen, darauf legen wir großen
Wert -, sondern um gemeinsame Standards, um statistische Daten und um das, was in der Fachsprache heute
„best practices“ genannt wird. Vorrangig ist allerdings
eine einheitliche europäische Flugkontrolle, ohne die ein
leistungsfähiger Flugverkehr nicht aufrechterhalten werden kann. Ich fordere die Bundesregierung auf, in der
EU durchzusetzen, daß wir hier sehr schnell Fortschritte
machen.
Lassen Sie mich zum Schluß einen Ratschlag an die
Regierung und an Rotgrün geben: Gehen Sie auf Reisen!
Besuchen Sie die USA, Großbritannien, Neuseeland und
die skandinavischen Länder. Lernen Sie dort vor Ort,
wie man erfolgreiche Steuer- und Wirtschaftspolitik
macht. Sie fördern damit persönlich die Tourismuswirtschaft.
({8})
- Lieber Herr Kubatschka, Sie fördern die Tourismuswirtschaft, wenn Sie sich das anschauen. Wenn Sie nicht
reisen wollen, gebe ich Ihnen einen anderen Rat: Schauen Sie in das Programm der F.D.P.; stimmen Sie unseren
Anträgen zu!
Ich danke Ihnen.
({9})
Ich gebe jetzt
der Abgeordneten Rosel Neuhäuser das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der vorliegende TAB-Bericht geht
auf das Jahr 1998 zurück und leistet eine Bestandsaufnahme der wesentlichen Dimensionen des Tourismus.
Besonders die ökonomischen und ökologischen Folgen
im Zuge einer weiter fortschreitenden Globalisierung
von Ökonomie und Gesellschaft finden darin einen
breiten Raum. In der weiteren Behandlung dieses Berichtes ist nun zu prüfen: Was hat sich bisher gegenüber
den Daten, die in der damaligen Zeit erfaßt worden sind,
grundlegend verändert? Welche neue Herangehensweise
an die Entwicklung des Tourismus verfolgt die neue
Bundesregierung? Wird es ein eigenes Konzept für die
nachhaltige Entwicklung des Tourismus in Deutschland
geben?
Vor gut einer Woche ging der dritte Tourismusgipfel
in Berlin zu Ende. Auf diesem zentralen Begegnungspunkt der Tourismusbranche wurde deutlich, daß die
nationale und internationale Tourismuswirtschaft auf
Wachstumskurs ist. Deshalb findet der Tourismus in der
wirtschaftswissenschaftlichen Literatur und in den
Fachdebatten eine nicht unwesentliche Aufmerksamkeit.
Es gibt Untersuchungen und beeindruckende Zahlen,
beispielsweise zum Beitrag der Tourismusbranche zum
Bruttosozialprodukt, zur Wertschöpfung, zur Beschäftigungs- und Ausbildungssituation - dazu sind ja schon
Zahlen genannt worden -, zur Umsatzentwicklung und
zur Situation im Hotel- und Gaststättenwesen. Genau
diese Daten sind aber - so die Meinung der Wissenschaftler - nicht wirklich tragfähig und bei Prognosen,
die auf eine perspektivische Betrachtung der Zukunft
des Tourismus abzielen, mit Vorsicht zu benutzen.
Wenn man in der Forschungs- und Datenlage mit widersprüchlichen Zahlen und Belegen arbeiten muß, dann
läßt sich in der Politik nur unzureichend über die Bedeutung des Tourismus in der Wirtschaft kommunizieren, lassen sich wirtschaftliche Risiken ebenso wie
Wachstumspotentiale nur unzureichend darstellen, und
sind angemessene Instrumente und Maßnahmen schwierig zu wählen.
Konsequenterweise heißt das dann für mich, daß die
Politik auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene sowie die gesamte Tourismusbranche Rahmenbedingungen zu erwirken haben, die verändernd auf die dargestellte Situation Einfluß nehmen und auch Verbesserung
herbeiführen. Ich denke dabei besonders an den Ausbau
der Tourismusbranche als Dienstleistungsbranche,
weil wir nicht umhinkommen, den Gast und seine Wünsche als Maß aller Dinge zu akzeptieren.
({0})
Ich denke weiter an attraktive Arbeitsbedingungen, bessere Entlohnung und vorbeugenden Arbeitsschutz auch das wurde schon genannt. Ich denke an eine weitere notwendige Harmonisierung der Steuersysteme, an
die Modernisierung der touristischen Infrastruktur - besonders auch in den neuen Bundesländern -, an eine
verbesserte Ausbildung und Qualifizierung und an Umgestaltungsprogramme zur Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus.
({1})
Ich denke aber auch an eine Verbesserung der amtlichen
Statistik und die Schaffung ausreichender Voraussetzungen für eine problemorientierte, interdisziplinäre und
anwendungsorientierte Forschung.
Meine Damen und Herren, wer in den zurückliegenden Wochen verfolgt hat, welche Themen in der breiten
Öffentlichkeit diskutiert werden, gewinnt leicht den
Eindruck, daß der Umgang mit der Umwelt und ihr
Schutz in der Rangreihe der Themen auch im Bereich
des Tourismus ins Hintertreffen geraten ist. Bedenkt
man beispielsweise, daß der Tourismus von der Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie als drittwichtigster Verursacherbereich für das
Artensterben in der Bundesrepublik benannt wird und
daß 55 Prozent des PKW-Verkehrs auf Urlaubs- und
Freizeitnutzung entfällt, dann wird das Ausmaß der verursachten Umweltbelastungen schnell ersichtlich.
In diesem Zusammenhang sind die Vorschläge des
TAB-Büros zu Optionen einer deutschen Tourismusaußenpolitik recht halbherzig und auch teilweise inkonsequent. Auswege aus dem Dilemma bedürfen konkreter Maßnahmen und verbindlicher gesetzlicher Regelungen für die Tourismusindustrie.
Aus meiner Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion
werden im Rahmen einer innenpolitischen Tourismuskonzeption im Sinne von Nachhaltigkeit neue touristische Leitbilder, neue Zielgruppenarbeit, eine Weiterentwicklung touristischer Konsummuster, stimmige
Preis-Leistungs-Konzepte und die Erarbeitung eines nationalen Umweltplanes dringend notwendig.
({2})
Auch wenn in den Urlaubsregionen zunehmend Konzepte des Naturschutzes entwickelt werden und große
Teile der Bevölkerung Anteil und Einfluß auf nachhaltige Formen des Umgangs mit der Natur nehmen, täuscht
das nicht darüber hinweg, daß, solange die Geschwindigkeit der touristischen Entwicklung anhält, Wege gefunden werden müssen, die das Naturkapital des Tourismus sichern.
Für die weitere Beratung wünsche ich uns im Tourismusausschuß viele gute Ideen und gute Vorschläge
für eine nachhaltige Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annette Faße.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Reisen verbindet. Das
wußte auch der derzeit vielzitierte Goethe, als er Freunden riet: Geben Sie Ihren Körpern Bewegung. Durchwandern Sie zu Fuß und zu Pferde das schöne Land.
({0})
Der Einheimische wird sich an dem Gewohnten erfreuen, und dem Fremden wird es neue Eindrücke geben und
eine angenehme Erinnerung zurücklassen.
({1})
Daß Reisen nicht nur Reisende und Einheimische
verbindet, sondern auch die Akteure der Tourismuspolitik, macht der zweite uns vorliegende Projektbericht
deutlich. Ein herzliches Dankeschön an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diesen Bericht erstellt haben.
({2})
Er spricht unter anderem davon, daß eine international nachhaltige Tourismuspolitik eine wirkungsvolle
Integration von Tourismus- und Umweltpolitik befördern und einen internationalen Erfahrungs- und Wissensaustausch anstoßen kann. Für viele Problemstellungen seien rein nationale Lösungen unzureichend; sie benötigten internationale Absprachen und Aktivitäten.
Durch die Ausweitung des Untersuchungsspektrums
auf die internationale Ebene unter der Überschrift: „Tourismus und Globalisierung“ in dem nun vorgelegten
zweiten Projektbericht verfügt der Bundestag über einen
umfassenden Gesamtüberblick über die Entwicklungsperspektiven des Tourismus und die damit verbundenen
Chancen, aber auch Risiken.
Weltweit wird der Tourismus als Branche mit überproportionalen Wachstumsraten und als ein Garant für
bereits bestehende, aber auch zu schaffende Arbeitsplätze angesehen. Dies gilt für die Industrieländer wie
Deutschland, aber auch für die weniger entwickelten
Länder, die sich eine Erhöhung des Lebensstandards erhoffen. Ob die Hoffnung immer in Erfüllung geht und
wie sie in Erfüllung geht, ist, denke ich, ein zweiter
Punkt.
Deshalb sollte bei künftigen Entwicklungen folgendes im Vordergrund stehen: Nachhaltiger Tourismus
bietet bedeutende ökonomische Chancen und kann sich
zudem positiv auf die Umwelt auswirken.
({3})
Die Frage der Bewertung und des Umgangs mit dem
Tourismus stellt sich auch auf EU-Ebene. Zur Zeit arbeiten EU-weit zirka neun Millionen Menschen im Tourismussektor. Das sind stolze sechs Prozent der Beschäftigten insgesamt. Prognosen zufolge soll der Anteil
bis zum Jahre 2010 sogar auf neun Prozent der BeschäfRosel Neuhäuser
tigten ansteigen. Nicht zu vergessen sind die Auswirkungen auf die anderen Dienstleistungsbereiche und die
Wirtschaft insgesamt.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Brähmig?
Ja.
Liebe Kollegin Faße,
ich bin kritisiert worden, daß ich in meinem Vortrag auf
die Bedeutung von intelligenten Verkehrsträgern auch
für die Beförderung von Touristen hingewiesen habe.
({0})
Es ging um schienengebundene Verkehrsmittel, aber ich
habe auch den Transrapid genannt.
Jetzt ist die Frage, die ich an Sie stellen möchte: Sind
Sie mit mir der Meinung, daß der Transrapid für den
Standort Deutschland eine große Chance wäre, wenn er
denn vor allem zwischen zwei großen deutschen Ballungsräumen, nämlich Hamburg und Berlin, zügig realisiert würde?
({1})
Die Touristikfachleute in diesen beiden Städten sind übrigens durch die Bank für die Projektrealisierung; sie sehen dadurch einen unendlich großen Imagegewinn für
diese beiden Tourismusdestinationen, Berlin und Hamburg. Sind Sie in diesem Sachverhalt mit mir einer Meinung?
Herr Brähmig, wenn Sie das
Management übernähmen - ich kenne Sie von Ihrem
Einsatz um die Sächsische Schweiz -, hätte ich keine
Probleme, den Transrapid als Event, als besonderes Ereignis, zu verkaufen.
({0})
Tourismus spielt in Europa eine bedeutende wirtschaftliche Rolle und trägt zum Zusammenwachsen der
heutigen und zukünftigen Mitgliedsländer der Europäischen Union bei.
89 Prozent der EU-Bürger bevorzugen Europa als
Reiseziel, und auch die Zahl der internationalen Gästeankünfte nimmt zu.
Noch ein Wort zur DZT: Wir haben höhere Bezuschussungen vorgesehen, als sie die alte Regierung jemals vorgenommen hatte. Das möchte ich hier einmal
sagen.
({1})
Meine Damen und Herren, durch die direkte Begegnung mit Land und Leuten leistet der Tourismus einen
wichtigen Beitrag für die Verständigung und das Zusammengehörigkeitsgefühl der europäischen Bürger.
Dies wird in besonderem Maße für die östlichen Nachbarn von Bedeutung sein, die neue Mitglieder der Gemeinschaft werden wollen.
Das heißt nicht, die mit dem Tourismus verbundenen
Kehrseiten zu übersehen: Saisoncharakter, ungesicherte,
teilweise unqualifizierte Beschäftigung, Konzentration
zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Plätzen, mögliche negative Auswirkungen auf die kulturelle Identität,
die spezielle Raumentwicklung und den Umweltbereich
verursachen Probleme, die sich auf Gemeinschaftsebene
wie auf nationaler Ebene stellen.
Es gilt, die grundsätzliche Frage der politischen Entscheidungskompetenz bzw. des Anwendungsgrades des
Subsidiaritätsprinzips zu klären. Der Grundsatz der Subsidiarität, der heute in der Union fest verankert ist, ist
geeignet, die regionalen Eigenheiten zu fördern. Es ist
die Vielfalt der Regionen, die Europa - auch touristisch
- so attraktiv macht.
({2})
Ich spreche mich deshalb nachdrücklich dagegen aus,
Europa immer mehr Kompetenzen im Tourismus zuzugestehen. Ich denke, mit den entsprechenden Aussagen
im TAB-Bericht müssen wir uns kritisch auseinandersetzen.
Die Einführung einer gemeinsamen Währung ist die
notwendige Antwort auf die Globalisierung der Märkte
und ein zentrales Element Europas. Sie ist die logische
Konsequenz des Einigungsprozesses. Der Wegfall der
Währungsvielfalt heißt, daß die Markttransparenz durch
den Euro sich vergrößert und der Wettbewerb in Europa
schärfer wird. Jeder einzelne Tourismusbetrieb muß sich
frühzeitig und individuell dieser Herausforderung stellen;
({3})
denn sie betrifft fast alle Betriebsfelder: von Rechnungswesen über EDV und Logistik bis zum Personalwesen.
Im Zuge des europäischen Einigungsprozesses ist
eine stärkere Angleichung der Wettbewerbsbedingungen unabdingbar.
({4})
Dies erfordert - dazu stehe ich auch - eine weitgehende
Harmonisierung im Bereich der direkten und indirekten
Steuern.
Meine Damen und Herren, ich möchte gerne auf die
Zielgruppe der Kinder und der Jugendlichen besonders eingehen. Bisher ist der Widerspruch zwischen der
hohen Zahl reisefreudiger junger Menschen einerseits
und der fast völligen Preisgabe dieses Marktsegments
gerade durch die großen deutschen Anbieter andererseits
bemerkenswert groß.
Jugendliche erwarten im Urlaub einen Dreiklang aus
Erlernen, Erleben, Erholen. Sie erwarten GruppenerlebAnnette Faße
nis, Geselligkeit und zugleich Rückzugsmöglichkeiten.
Sie sind aber weniger an bestimmten Zielen als an einem
bestimmten Erlebnis orientiert. Ich denke, es ist eine
Aufgabe des Fremdenverkehrsgewerbes, sich diesen Anforderungen besonders zu stellen.
Der Jugendaustausch mit den osteuropäischen Staaten, aber auch in unserem eigenen Land zwischen Ost
und West sollte erweitert werden.
({5})
Gerade mit Blick auf diese junge Zielgruppe sollten
wir uns verstärkt vor Augen führen, daß die natürliche
Umwelt unsere Lebensgrundlage ist. Da die Umwelt
nicht unbegrenzt belastbar ist, haben alle die Verantwortung und die Verpflichtung, mit den natürlichen
Ressourcen sorgsam umzugehen.
Eine intakte Umwelt ist das wichtigste Kapital der
Tourismusbranche.
({6})
Tourismusregionen müssen Gebiete mit überdurchschnittlicher Umweltqualität sein. Das Dilemma - das
war in den Ausführungen schon zu hören - besteht weiter: Reisende gefährden das, was sie eigentlich suchen,
nämlich die intakte Natur.
({7})
Neben der Förderung naturverbundener Angebote muß
das Ziel deshalb sein, auch den Massentourismus in
umweltverträgliche Bahnen zu lenken.
Die Mobilität ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt.
Das Auto hat wie kaum eine andere technische Entwicklung unsere moderne Gesellschaft geprägt. Auch in
der Freizeit dominiert das Auto. Über 60 Prozent der
Bundesdeutschen nutzen das Auto für die Fahrt in den
Urlaub oder für Fahrten ins Urlaubsgebiet. Mit einem
Anstieg dieses Prozentsatzes ist zu rechnen. Wir dürfen
uns deswegen mit den Themen ÖPNV und Bahn nicht
nur nebenbei befassen; die Anbindung unserer Ferienregionen gerade durch die Bahn muß uns sehr wichtig
sein. Das haben wir gemeinsam oft thematisiert.
({8})
Auch die Ferienbusse haben im Vergleich zum Pkw eine
sehr viel günstigere Umweltbilanz und sind gerade für
Gruppenreisende oder ältere Touristen von größter Bedeutung.
({9})
Die Mobilität der Gäste muß auch in den Ferienregionen gesichert sein - ob mit dem ÖPNV, mit dem
Fahrrad oder auch zu Fuß. Man muß deutlich sehen: Das
regionale Verkehrsangebot beeinflußt die Wahl des Anreisemittels. Es besteht ein Zusammenhang, der eindeutig belegbar ist: Der Wunsch nach Mobilität in den Ferienregionen in Verbindung mit unzureichenden Verkehrsverbindungen begünstigt die Anreise mit dem
Auto. Hier ist es Pflicht der Regionen, möglichst umweltverträgliche Angebote zur Mobilität zu machen.
Die Regierungsfraktionen sehen durch die Ergebnisse der TAB-Untersuchung ihre tourismuspolitischen
Zielsetzungen in weiten Teilen bestätigt. Der Tourismus
muß endlich als bedeutender Wirtschaftsfaktor begriffen
werden.
({10})
Zugleich dürfen die mit dem Wachstum verbundenen
Risiken ökologischer, sozialer und kultureller Art nicht
aus dem Blick geraten. National und international ist
eine nachhaltige Tourismuspolitik notwendig, die dafür
sorgt, daß Natur und soziale Lebenswelten nicht zu den
Leidtragenden des Tourismus werden.
Wir sehen: Reisen verbindet - oder um es nochmals
mit den Worten Goethes zu sagen:
Genieße das Leben auf der Reise und ziehe hin, ...
denn die beste Bildung findet ein gescheiter
Mensch auf Reisen.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Edeltraut Töpfer.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tourismusbranche in der Bundesrepublik hat als Wirtschaftsfaktor nach wie vor große Bedeutung, gerade
auch in den neuen Bundesländern und in der Bundeshauptstadt Berlin. Sie gibt in Deutschland fast drei Millionen Menschen Arbeit und bildet außerdem 80 000
junge Menschen aus. Es besteht die berechtigte Hoffnung, daß sich diese erfreulichen Zahlen in Zukunft
noch erheblich steigern lassen.
Der Technikfolgenabschätzungsbericht, über den wir
heute debattieren, untersucht vor allem die Ursachen
und die Folgen der fortschreitenden weltwirtschaftlichen Globalisierung für den Tourismusbereich. Dabei
wird deutlich, daß es sehr von den Rahmenbedingungen
abhängen wird, ob der Tourismusstandort Deutschland
die Chancen dieser Entwicklung nutzen und sein Potential für mehr Arbeitsplätze und Einkommen ausschöpfen
kann.
Es ist zwar zu erwarten, daß die Besucherzahlen in den
nächsten Jahren weltweit kontinuierlich um 4,3 Prozent
im Jahr steigen und sich bis zum Jahr 2020 insgesamt
verdreifachen. Zu denken geben muß uns aber, daß dem
Reiseziel Europa eine unterdurchschnittliche Zuwachsrate und ein sinkender Anteil am Weltmarkt und damit
ein relativer Bedeutungsverlust prognostiziert wird. Das
Wachstum soll sich innerhalb Europas auf die Mittelmeerländer und die Länder Osteuropas konzentrieren.
Der Anteil ausländischer Gäste an den Übernachtungen in Deutschland lag 1998 bei nur 11,8 Prozent, während er in den südeuropäischen Ländern weitaus höher
ist. Unser Nachbarland Österreich hat sogar einen Anteil
ausländischer Gäste von 74 Prozent erreicht.
Das deutsche touristische Angebot muß im Ausland
wesentlich intensiver vermarktet werden.
({0})
Wir müssen die mit diesem Auslandsmarketing beauftragte Deutsche Zentrale für Tourismus stärken, die ausgesprochen gute Arbeit leistet, und vor allem die finanzielle Unterstützung von seiten des Bundes erhöhen und
nicht - wie im Bundeshaushalt für das Jahr 2000 vorgesehen - kürzen. Schon jetzt geben wichtige Konkurrenzländer wie Spanien, Frankreich oder Irland erheblich mehr für touristische Auslandswerbung aus als wir
und steigern ihre Werbeetats weiter, weil man dort die
Chancen dieses Dienstleistungsbereichs erkennt und
konsequent nutzt.
Durch die gezielte Förderung der besonders arbeitsplatzintensiven Tourismuswirtschaft können wir viele
neue Arbeitsplätze schaffen.
({1})
Dafür ist es aber auch wichtig, den Abbau von Wettbewerbsverzerrungen auf europäischer Ebene in Angriff zu
nehmen.
({2})
Dabei ist besonders die von uns vorgeschlagene Harmonisierung bzw. Reduzierung der Mehrwertsteuersätze im
Beherbergungsbereich zu nennen.
Die Städtereisen in Deutschland sind für die ausländischen Gäste von großer Bedeutung. Hier sind wir
auch in besonderem Maße konkurrenzfähig, nicht zuletzt
auf Grund des vielfältigen und einzigartigen kulturellen
Angebots. Meine Heimatstadt Berlin ist mit ihren über
80 Millionen Besuchern pro Jahr ein gutes Beispiel dafür.
Die große Bedeutung des Städtetourismus gerade für
den Besuch ausländischer Gäste wird in dem vorliegendem Bericht klar angesprochen. Demnach liegt der Anteil der Reisenden aus dem Ausland in deutschen Großstädten bei 48 Prozent der Übernachtungen. Trotz Steigerungen in den letzten Jahren liegt Berlin im übrigen
mit knapp unter 30 Prozent allerdings noch weit unter
dem bundesdeutschen Durchschnitt.
Es läßt sich leicht erahnen, daß allein in unserer Bundeshauptstadt Millionen zusätzlicher Gästeübernachtungen möglich werden, wenn wir mit dem künftigen
Großflughafen Berlin/Brandenburg in Schönefeld
endlich eine bessere internationale Luftverkehrsanbindung haben.
({3})
Im internationalen Wettbewerb können wir uns nach
Meinung der Branchenexperten nur behaupten, wenn
ausreichende Flughafenkapazitäten und attraktive Flughäfen geschaffen werden. Wegen der Bedeutung Berlins
als Bundeshauptstadt und Metropole im Zentrum Europas muß hier die bestehende Planung im gesamtstaatlichen Interesse zügig umgesetzt werden. Nur so kann
Berlin zu einem wichtigen touristischen Verkehrsdrehkreuz in Europa im Schienen-, Straßen- und Luftverkehr
werden und nicht zuletzt auch als Tor für die expandierenden Märkte in Mittel- und Osteuropa fungieren;
denn die Wachstumsquellenmärkte für das Reiseland
Deutschland werden mittelfristig in Osteuropa liegen.
({4})
Zur Sicherung des Tourismusstandortes Deutschland
plädieren wir grundsätzlich für eine zügige Realisierung
der beschlossenen Bundesverkehrswegeplanung sowie
wichtiger Großprojekte im Verkehrsbereich. Hierzu ist
es unbedingt erforderlich, im Bundeshaushalt die entsprechenden Mittel für die Investitionen in ausreichender Höhe bereitzustellen.
({5})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, lassen Sie mich noch auf den Transrapid eingehen.
Sie sollten sich bei der Entscheidung über den Transrapid auch einmal überlegen, was für ein Besuchermagnet,
was für eine Attraktion dieses einmalige Verkehrsmittel
für ausländische Besucher wäre, von dem nicht nur die
Endhaltepunkte Berlin und Hamburg oder die Landeshauptstadt Schwerin, sondern auch Deutschland als Reiseziel insgesamt und damit mittelständische Dienstleistungsanbieter in allen touristischen Regionen unseres
Landes profitieren würden. Er könnte zu einem Besuchermagnet werden, wie es der Reichstag schon nach
wenigen Monaten geworden ist. Das zeigen die täglichen Warteschlangen und die Besucherzahlen.
Lassen Sie uns also gemeinsam die Weichen richtig
stellen und die notwendigen Maßnahmen für den Tourismusstandort Deutschland treffen.
Vielen Dank.
({6})
Frau Kollegin,
das war Ihre erste Rede. Dazu gratulieren wir Ihnen im
Namen des Hauses.
({0})
Jetzt hat die Abgeordnete Anita Schäfer das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tourismus stellt in Deutschland einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Mit einem Umsatzvolumen von zirka
300 Milliarden DM hat er einen Anteil von mehr als
8 Prozent an der Bruttowertschöpfung in Deutschland.
Durch die Vielfalt großer und mittelständischer Unternehmen ist er auch arbeitsmarktpolitisch von größter
Bedeutung.
Im Zeitalter der Globalisierung unterliegt gerade auch
der Tourismus dem weltweiten Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Um von diesen Entwicklungen
nicht abgeschnitten zu werden, ist es unsere dringendste
Edeltraud Töpfer
Aufgabe, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu
verbessern. Meine Kollegin Frau Töpfer nannte bereits
die Rahmenbedingungen, aber man kann sie nicht oft
genug wiederholen - ich tue das hiermit -: Vonnöten
sind der Abbau von Wettbewerbsverzerrungen in der
EU, die Angleichung der Mehrwertsteuersätze im Beherbergungsgewerbe sowie eine umfassende Deregulierung der Bürokratie, die gerade den Mittelstand in großem Maße belastet.
({0})
Der vorliegende Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung zeigt auf, wie in den fortgeschrittenen
Industrieländern insgesamt und im besonderen in
Deutschland die überragende Bedeutung der Arbeit für
die Lebensführung der Menschen zugunsten der freien
Zeit abgenommen hat. Dieses veränderte Konsumbewußtsein prägt das Freizeitverhalten in unserer Gesellschaft in erheblichem Maße. Die Folge dieses Wertewandels ist, daß sich die deutsche Tourismuswirtschaft
mit ihren Angeboten auf die wachsenden Ansprüche
einer immer flexibler werdenden Kundschaft einstellen
muß.
Das Angebot richtet sich bekanntlich nach der Nachfrage, doch läßt sich auch die Nachfrage durch ein konsumorientiertes Angebot erheblich lenken und damit
auch noch steigern. In zunehmendem Maße sind hier individuelle und erlebnisorientierte Angebote nötig, um
unsere Tourismuswirtschaft auf das Freizeitverhalten der
Menschen abzustimmen.
Besonders möchte ich Ihren Blick auf die additive
Wirkung des Seminar-, Gesundheits- und naturschützenden Tourismus lenken. Als Standort zahlreicher
Weltleitmessen ist Deutschland für den Kongreß-, Konferenz- und Seminartourismus geradezu prädestiniert.
Mit der Ausrichtung weltweit interessanter Messen wie
der Hannover-Messe, der CeBIT, der Internationalen
Automobilausstellung, der Funkausstellung und der
EXPO 2000, um nur einige zu nennen, besitzt unser
Land eine hervorragende Ausgangssituation, um Gäste
aus dem In- und Ausland für einen anschließenden Urlaub in Deutschland zu gewinnen.
({1})
Die Erfahrungen aus meinem Wahlkreis zeigen, daß
zum Beispiel auch die internationale Schuh- und Ledermesse in Pirmasens für beachtliche Umsätze im örtlichen und regionalen Hotel- und Gaststättengewerbe
sorgt.
Als Kongreß- und Tagungsziel verfügt Deutschland
im internationalen Vergleich über ein hohes Ansehen,
welches wir auch entsprechend nutzen sollten. Nicht
zuletzt sorgen die gute Tagungs- und Verkehrsinfrastruktur Deutschlands, die Professionalität der Dienstleister, attraktive Städte und Regionen sowie interessante
kulturelle Angebote dafür, daß Deutschland international an vierter Stelle des weltweiten Kongreßtourismus
steht. Jährlich über 600 000 Tagungsveranstaltungen, die
von rund 50 Millionen in- und ausländischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern besucht werden, sind hierfür
ein sehr guter Beleg.
Als eine spezielle Reiseform hat der Kongreß- und
Tagungstourismus auch heute schon mit 43 Milliarden
DM einen gewichtigen Anteil am Gesamterfolg der
deutschen Tourismusbranche. Den Kongressen und Tagungen kommt damit also eine erhebliche gesamtwirtschaftliche Bedeutung zu.
({2})
Daneben kommt auch dem Gesundheits- und Wellnesstourismus gerade unter Berücksichtigung geringerer finanzieller Mittel im Gesundheitswesen ein neuer
Stellenwert zu. Neben dem traditionellen Kur- und Bädertourismus entwickelt sich hier ein bedeutender touristischer Wachstumsmarkt. Ältere wie jüngere Menschen
nehmen - bedingt durch ein gestiegenes Gesundheitsbewußtsein - immer mehr alternative Heilmethoden sowie das Angebot, sanfter Sportausübung im Sinne von
Wellness wahr. Trotz des häufig deutlich höheren Preises verspricht diese Art von Urlaub zugunsten der Gesundheit und der körperlichen Fitneß große Zuwachsraten. Dies zeigt, daß Deutschland ein hervorragender
Standort für diesen Tourismuszweig sein kann. Diese
Chance dürfen wir nicht durch einen enggesetzten Paragraphenrahmen verspielen.
In vielen Teilen unseres Landes finden sich große
Naturparks, wie zum Beispiel in meiner Heimat der
Naturpark Pfälzer Wald. Die Nachfrage nach naturnahen
Erholungsformen ist nach wie vor ungebrochen. Das
allgemein gestiegene Umweltbewußtsein und das Bedürfnis nach Naturerfahrung in weiten Teilen der Bevölkerung sind hierfür triftige Indikatoren. Bereits jetzt liefern die touristischen Angebote der National- und
Naturparks einen erheblichen Beitrag zur Stärkung des
Binnentourismus. Aber es gilt gerade auch hier,
einen akzeptablen Kompromiß zwischen Ökologie und
Ökonomie zu finden.
Ich fordere die Tourismuswirtschaft auf, Marktlücken
zu schließen. Ich bin überzeugt, daß der Verbindung von
Seminar-, Wellness- und naturschützendem Tourismus
zukünftig eine immer größere Bedeutung zukommt.
Aber bei der Umsetzung solcher tourismuspolitischer
Ziele sind wir - leider - nach wie vor durch den im internationalen Vergleich zu hohen Mehrwertsteuersatz
im Gastgewerbe benachteiligt. Hier dürfen wir nicht
aufhören, nach Lösungen zu suchen.
({3})
Im Technikfolgenabschätzungsbericht werden die
Entwicklung und die Folgen des Tourismus zu Beginn
des neuen Jahrhunderts aufgezeigt. Die Globalisierung
der Weltmärkte geht einher mit einem geänderten Anspruchsdenken des gesundheits- und konsumorientierten
Touristen. Verschlafen wir nicht die Zukunft! Schaffen
wir die Voraussetzungen für einen innovativen Tourismus!
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1100 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten EvaMaria Bulling-Schröter, Monika Balt, Dr. Dietmar Bartsch, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
- Drucksache 14/841 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({0})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die PDSFraktion soll fünf Minuten Redezeit erhalten. - Kein
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Augen der
Öffentlichkeit ist der von der Bundesregierung angestrebte konsensuale Ausstieg aus der Atomkraft gescheitert. Kritiker haben vor dieser Entwicklung bereits
frühzeitig gewarnt. Sie haben mit ihren Warnungen
recht behalten. Die im Bundestag vertretenen Parteien
sind nun gefordert, parlamentarische Initiativen zur Beendigung der Nutzung der Atomkraft einzuleiten.
({0})
Unser Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes zielt auf folgende Regelungen ab: Erstens. Die
schnellstmögliche Abschaltung der Atomanlagen wird
als neues Ziel im Atomgesetz aufgenommen. Dieses
Ziel sollte zwischen uns und der Regierung unstrittig
sein, weil SPD und Grüne den Bundestagswahlkampf
mit dieser Forderung geführt und seinerzeit auch gewonnen haben. Wir definieren den Zeitraum für den
schnellstmöglichen Ausstieg mit maximal fünf Jahren.
Zweitens. Die Wiederaufarbeitung abgebrannter
Brennelemente erfolgt bekanntlich nicht schadlos. Sie
muß deshalb verboten werden. Die Skandale um die
Verdünnungsentsorgung radioaktiver Abfälle aus den
atomaren Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague,
Sellafield und Dounreay sprechen für sich. Mittlerweile
stammen über 90 Prozent der gesamten radioaktiven
Belastung der Nordsee aus diesen drei Atomfabriken.
Die Nuklide lassen sich auch in der Ostsee und sogar in
der Barentssee zwischen Sibirien und der Arktis nachweisen.
Drittens. Die Entsorgung und das alte Konzept der
Endlagerung sind gescheitert. Der Bund muß deshalb
ein Endlager für alle radioaktiven Abfälle in Deutschland finden und einrichten. Leider haben SPD und Grüne durch ihr Abstimmungsverhalten zum Bundeshaushalt im Umweltausschuß klargemacht, daß sie Gorleben
und Konrad als Endlagerstandorte im Spiel halten wollen.
({1})
Wir dagegen plädieren dafür, einen Schlußstrich unter
die Konzeptionen für diese ungeeigneten Standorte zu
ziehen und mit der Suche nach Endlagern von vorne zu
beginnen.
({2})
Wir fordern ein neues Endlagerauswahlverfahren. Es
muß sich auf wissenschaftliche Kriterien stützen und der
betroffenen Bevölkerung am Standort eine möglichst
frühzeitig einsetzende und kontinuierliche Wahrnehmung ihrer Rechte garantieren.
({3})
Ein befriedigendes Endlagerauswahlverfahren ist
jedoch mit den bestehenden Regelungen des § 9 des
Atomgesetzes nicht denkbar. Diese wurden von seiten
der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. noch in den
letzten Monaten ihrer Amtszeit in das Gesetz eingefügt.
Die aus der Pflicht des Bundes erwachsende Aufgabe,
Anlagen zur Endlagerung radioaktiver Abfälle einzurichten, soll mit den dafür erforderlichen hoheitlichen
Befugnissen ganz oder teilweise auf Dritte übertragen
werden können. Wir sind strikt gegen die Privatisierung
derart sensibler Bereiche.
({4})
Die Rücknahme der Änderung des neuen Abs. 3 in § 9 a
ist deshalb geboten.
1998 wurden auch Möglichkeiten zur Enteignung und
zur Verhängung von Veränderungssperren über Grundstücke an Endlagerstandorten eingefügt. Damit wird das
Vertrauen der Bevölkerung in eine sachgerechte Lösung
des Endlagerproblems gänzlich verspielt. Diese Änderungen müssen zurückgenommen werden. Hier muß der
Rechtszustand, der vor der Verabschiedung des achten
Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes galt, wiederhergestellt werden.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte über
den Atomausstieg ist immer mehr zu einer Kosten- und
Entschädigungsdiskussion verkommen. Der Bundeskanzler hat diesen Wandel schon im Wahlkampf eingeleitet, indem er für den sogenannten entschädigungsfreien Ausstieg plädierte. Dies haben sich die Atommanager
zunutze gemacht. Sie spielen auf Zeit, und die Koalition
läßt sich an der Nase herumführen.
Die Risiken der Atomwirtschaft lassen sich aber nicht
mit Geldbeträgen neutralisieren. Wie der Unfall in Japan
gezeigt hat, ist Atomkraft nicht zu beherrschen - auch in
High-Tech-Ländern nicht, wie schon vorhin im Rahmen
der Tokaimura-Debatte deutlich gemacht wurde.
Das Risiko eines GAUs in der Bundesrepublik innerhalb der nächsten 20 Jahre liegt, umgerechnet auf die 19
deutschen Reaktoren, zwischen 1 : 25 und 1 : 2 500. Der
Vorschlag der Grünen, die Betriebszeiten auf 25 Jahre
zu begrenzen, nimmt das erhebliche Risiko einer unbeherrschbaren Kernschmelze also billigend in Kauf. Ich
weiß, daß dies keine leichtfertige Verantwortungslosigkeit ist, sondern ein Zugeständnis an das Kräfteverhältnis im Lande. Dieses Kräfteverhältnis ist aber nicht vom
Himmel gefallen. Diese Regierung hat es durch ihr Herumlavieren in der Atompolitik mitbestimmt. Daran besteht kein Zweifel. Dafür gibt es keine Entschuldigung.
Danke.
({6})
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Kubatschka.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD lehnt
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes der PDS ab. Das heißt aber nicht, daß wir den
Ausstieg aus der Kernenergie nicht weiterverfolgen. Wir
setzen uns weiterhin für einen entschädigungsfreien
Ausstieg aus der Atomenergie ein. Die Koalition wird
dieses Ziel erreichen.
({0})
In diesem Gesetzentwurf sind auch Vorschläge enthalten, die wir für richtig erachten. Dies möchte ich am
Beispiel des Förderzwecks aufzeigen. Bei der Diskussion über die Kernenergie wird immer wieder übersehen,
daß die Atomenergie hoch subventioniert war. Steuermittel in Milliardenhöhe - in der Größenordnung von
etwa 50 Milliarden DM - wurden aufgewendet.
In den 50er Jahren gab es in der Bundesrepublik ein
Atomministerium. Wenn ich mich richtig erinnere, hieß
der erste Atomminister Franz Josef Strauß. Es gab ein
Programm „Atome für den Frieden“. In den 50er und
60er Jahren hat uns die Wissenschaft vorgegaukelt, mit
Hilfe der Atomenergie könnten alle Energieprobleme
gelöst werden. Versprochen und mit leuchtenden Farben
an die Wand gemalt wurde eine Welt ohne Energieprobleme. Damals, Anfang der 60er Jahre, saßen wir mit
leuchtenden Augen in den Vorlesungen und hörten diese
Versionen. Eine Art Perpetuum mobile wurde uns von
den Wissenschaftlern beschrieben. Die Realität sah aber
leider ganz anders aus. Die Wissenschaft hat uns in eine
Sackgasse geführt. Ich kann mich noch erinnern: Die
Wörter „Entsorgung“ und „Risiko“ kamen bei den Vorlesungen nicht vor. Sie wurden einfach übergangen oder
totgeschwiegen. Wenn wir die vielen Steuermilliarden
dafür aufgewendet hätten, um erneuerbare Energien zu
fördern, hätten wir unsere Energieversorgungen zukunftsfähiger gemaht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt für uns zwei
gewichtige Gründe, den vorliegenden Gesetzentwurf abzulehnen. Laut Entwurf soll der Ausstieg aus der Wiederaufbereitung bis zum 1. Januar 2000 vollzogen
werden. So schnell geht es nicht; nicht in einem Dreivierteljahr, wenn ich vom Datum Ihrer Antragstellung
ausgehe. Auch wir haben das lernen müssen. Ich möchte
aber betonen, daß die Wiederaufbereitung von Brennelementen der falsche Weg ist. Aus diesem Grunde betreiben wir in der Bundesrepublik ja auch keine Wiederaufbereitungsanlage. Deutschland ist aus dieser Technologie ausgestiegen. Wir werden aber auch die Wiederaufbereitung von deutschen Brennelementen mittelfristig einstellen. Die direkte Endlagerung ist die billigere Lösung. Nachdem in Deutschland die BrüterTechnologie aufgegeben wurde, ist es nicht sinnvoll, die
Wiederaufbereitung weiterzubetreiben.
Die im Entwurf des PDS-Gesetzes vorgesehenen Regelungen passen nicht zu unserem Zeitplan. Die Koalition hat verabredet, einen entschädigungsfreien Ausstieg
erreichen zu wollen. Diesen wollen wir nach Möglichkeit im Konsens mit den Betreibern der Atomkraftwerke
anstreben, aber dieses Vorhaben gestaltet sich schwierig.
Bisher konnte bei den Verhandlungen immer noch kein
Durchbruch erreicht werden. Wir haben uns vorgenommen, bis Ende des Jahres einen Konsens zu erzielen.
({2})
Sollte dies nicht möglich sein, werden wir den Ausstieg
per Gesetz regeln. Man kann eigentlich den Betreibern
der Atomkraftwerke nur raten, einen Konsens anzustreben. Sie wären damit wirklich gut beraten. Konsens bedingt aber auch Kompromisse; es geht nicht, die Atomkraftwerke bis zu ihrem technischen Ende zu betreiben.
Die Vorstellungen der Betreiber liegen bei 35 Vollastjahren; das entspricht einer Betriebsdauer von 50 bis
60 Kalenderjahren. Man muß sich einmal vorstellen, wie
überaltert dann die technischen Anlagen sind.
Konsens bedeutet aber auch, den Stromproduktionsstandort Deutschland zu erhalten. Wir werden es nicht
akzeptieren, daß die Betreiber in den goldenen Endbetriebsjahren der Atomkraftwerke, wenn diese praktisch
abgeschrieben sind, große Kasse machen. Mit dem bei
uns verdienten Geld würden dann in mittel- und osteuropäischen Staaten Atomkraftwerke ausgebaut. Über
Fernleitungen und Koppelanlagen würde dann die dort
produzierte Energie zu uns importiert werden; die Konzerne wären nur noch Stromhändler. Den Produktionsstandort Deutschland zu erhalten heißt aber auch, daß
wir andere Strukturen brauchen. Zukunftsfähig sind dezentrale Versorgungsstrukturen.
({3})
Konsens heißt aber auch, in einem überschaubaren
Rahmen aus der Kernenergie auszusteigen. Überschaubarer Rahmen heißt aber auch überschaubare Mengen an
atomarem Abfall und überschaubare Zeiträume für die
Zwischenlagerung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten sich die Betreiber der Atomkraftwerke dem Konsens verweigern,
werden wir den Ausstieg durch ein Gesetz herbeiführen.
Das Deutsche Atomforum hat zwar erst vor kurzem
verkündet, die Stillegung von Atomkraftwerken per Gesetz sei verfassungswidrig. Ich muß dazu sagen: Jede
andere Stellungnahme des Deutschen Atomforums hätte
mich verwundert und erstaunt. Dieses Lobby-Argument
kann ich nicht ernst nehmen.
({4})
Die Befürworter der Kernenergie behaupten immer,
die Forderung nach Ausstieg sei ideologische begründet.
({5})
Auch heute nachmittag kam ja dieser Vorwurf. Der
Hinweis auf die Ideologie ist ein herrliches Totschlagargument. Hierauf müssen Sie zurückgreifen, weil Sie
sonst keine Argumente haben. Wenn dieses Argument
stimmen würde, wäre auch die Befürwortung der Atomenergie eine ideologische Forderung. Es ist nur ein sehr
komischer Schluß: Wir verteilen Ideologie, weil wir
aussteigen wollen. Dagegen betreiben Sie keine Ideologie, weil sie dabei bleiben wollen. Das müssen Sie einmal einem normal und einigermaßen rational denkenden
Menschen erklären. Mir können Sie das nicht erklären.
Wahrscheinlich können Sie sich das selber nicht erklären.
({6})
Was nützt dieser Ideologievorwurf? Er bringt uns
nicht weiter. Es gibt sehr rationale Gründe, aus der
Kernenergie auszusteigen. Ich möchte sie in aller Kürze
noch einmal aufzählen:
Erstens. Es besteht immer ein Restrisiko. Die Sicherheit läßt sich zwar steigern. Damit werden aber die
Atomkraftwerke unbezahlbar. Das Restrisiko ist uns
wieder einmal durch den Atomunfall in Japan bestätigt
worden. Auch in Korea und in Rußland ist etwas passiert. Drei Unfälle und zwei Abschaltungen in einer Woche, das ist wirklich sehr viel.
Zweitens. Für mich ist es erstaunlich, daß die Endlichkeit der Uranvorräte bei der Diskussion über die
Kernenergie keine Rolle spielt. Nachdem der Traum
vom Schnellen Brüter ausgeträumt ist, ist das Ende der
Uranvorräte absehbar.
Drittens. Die Kernenergie ist keine weltweit einsetzbare Energieform. Es ist unvorstellbar, daß Kernkraftwerke in Krisengebieten errichtet werden.
({7})
- Genau. - Stellen Sie sich einmal vor, in Osttimor würde ein Kernkraftwerk stehen.
({8})
Viertens. Durch den Betrieb von Kernkraftwerken
wird auch atomwaffenfähiges Material hergestellt.
Wieder eine Horrorvorstellung: Stellen Sie sich vor, im
Irak würde ein Atomkraftwerk betrieben werden.
Es sind also ganz rationale Gründe, aus der Atomenergie auszusteigen. Dies hat nichts mit Ideologie zu
tun. Eine Technik, die keinerlei menschliche Fehler und
keinerlei menschliches Versagen zuläßt, ja diese absolut
ausschließen muß, ist nicht zukunftsfähig.
({9})
- Herr Kollege, wenn Sie sagen, daß das nicht wahr ist,
dann sollten Sie einmal nach Japan schauen. Haben Sie
es immer noch nicht kapiert? Mit einem Stahleimer
mischt man dort kritische Massen. Dies ist unvorstellbar; dies ist ein Horror. Und es ist so passiert.
({10})
- Nein, das ist nicht unser Standard. Sie sollten aber in
der „Süddeutschen Zeitung“ den Artikel über den Unfall
in Hanau nachlesen. Sie werden dann verstehen, was
1971 passiert ist. Ich muß sagen, ich hätte so etwas nicht
für möglich gehalten.
({11})
Wenn menschliches Versagen bzw. menschliche
Fehler eintreten, kann deren Auswirkung überregional
und auch global sein. Das unterscheidet die Kernenergie
von allen anderen Techniken.
({12})
Diese überregionale und globale Auswirkung, die es in
keiner anderen Technik gibt, zwingt uns dazu, aus der
Kernenergie auszusteigen.
({13})
In der Diskussion wird dann immer wieder auf das
Ausland verwiesen, nämlich darauf, daß es wenig hilfreich sei, bei uns auszusteigen, während dort die Kernenergie weiterbetrieben wird. Genau umgekehrt ist es:
Wir als Hochtechnologieland müssen beweisen, daß ein
Ausstieg aus der Kernenergie möglich ist.
({14})
Wir müssen beweisen, daß die Energieversorgung ohne
Kernenergie möglich ist. Dies ist eine Herausforderung
an die Zukunft, der wir uns stellen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vergangene
Woche hat uns das Risiko der Kernenergie deutlich vor
Augen geführt. Zuerst passierte der Unfall in Japan: Bei
der Brennelementeproduktion wurde eine Kettenreaktion ausgelöst. Dann folgte die Nachricht aus Korea, daß
22 Menschen verstrahlt wurden, und zum Schluß kam
die Nachricht, daß wieder einmal ein Atomkraftwerk in
Rußland abgeschaltet wurde. Wahrscheinlich kam es
dort zu einem Turbinenbrand.
Wenn man die lange Liste der Unfälle kennt, weiß
man: Der nächste Unfall kommt bestimmt. Hoffen wir,
daß wir wieder einmal glimpflich davonkommen. Wenn
man aber bedenkt, daß in der Ukraine die Atomkraftwerke auf Verschleiß gefahren werden und daß die
RBMK-Reaktoren sowie die erste Baureihe der WWERReaktoren als ausgesprochene Risikoreaktoren gelten, so
weiß man: Das Image der Kernkraft wird nicht besser.
Die Reihe der Hiobsbotschaften wird in Zukunft nicht
abreißen.
Zum Interview der Konzernherren Hartmann und
Simson im „Spiegel“ vom 4. Oktober 1999 möchte ich
folgendes sagen: Vielleicht heißt es einmal in nicht allzu
ferner Zukunft, es sei geradezu provinziell, nicht aus der
Kernenergie auszusteigen. Für die deutschen Konzernleitungen sei diese Kurzsichtigkeit schon sehr erstaunlich gewesen. Es sei unglaublicher Unfug, sich mit dem
Betrieb von Kernkraftwerken auseinanderzusetzen.
Wenn das einmal bei den Managern der großen Energiekonzerne ankommt, wird es aber für das Image der
Konzerne bereits zu spät sein. Es ist vorstellbar, daß die
Kernenergie so viel an Image verliert, daß es für die
Konzerne ein Risiko wird, Atomkraftwerke zu betreiben. Kernkraftwerke würden dann bei den Anlegern
nicht als Pluspunkt, sondern als Negativposten angesehen werden. Das würde die Kurse in Bewegung bringen
- und zwar nach unten. Dann könnte man sagen, die
Konzernherren haben den Konsens verschlafen.
Zum Schluß: Wir werden den Ausstieg aus der Kernenergie weiter energisch betreiben; denn die Kernenergie ist nur eine Übergangsenergie. Wir müssen uns von
ihr verabschieden. Es wäre vernünftig, diesen Abschied
aus der Kernenergie in Deutschland im Konsens zu betreiben. Wenn dies nicht gelingt, werden wir den Ausstieg per Gesetz schaffen.
Ich danke für das Zuhören.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Paul Laufs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende PDSGesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes greift
das rotgrüne Ausstiegsvorhaben auf. Er übernimmt die
seit Jahrzehnten von ausstiegsorientierten Aktivisten
ständig wiederholten Schlagworte. Er spricht von inakzeptablen Risiken, von der ungelösten Endlagerung, von
dem illegalen Abzweigen waffenfähigen Plutoniums und
von den technisch unbeherrschten Risiken eines Kernschmelzunfalls.
({0})
Diese Behauptungen werden wie unantastbare Glaubenswahrheiten vorangestellt. Daran hat sich seit den
70er und 80er Jahren bei der Anti-Atomkraft-Bewegung
nichts geändert. Die in Deutschland stattgefundene
enorme Weiterentwicklung der Reaktorsicherheit und
der nuklearen Entsorgung wird einfach nicht zur Kenntnis genommen. Bei uns, Kollege Tauss, laufen die
Kernkraftwerke seit über 30 Jahren und liefern ein Drittel unseres Stroms. Es gab noch nicht einen Toten - Gott
sei Dank.
({1})
- Damit befinden wir uns in Deutschland im Gegensatz
zu anderen Ländern. Diese Tatsache muß man doch
einmal feststellen dürfen.
Auch in dieser Debatte muß darauf hingewiesen werden: Viele deutsche Wissenschaftler sahen sich veranlaßt, einen neuen Energiedialog anzustoßen, der zu einer
Neubewertung der Energiepolitik führen sollte. Dabei
geht es auch um die Risiken - es handelt sich nicht um
kleine Risiken - einer schleichend zunehmenden, irreversiblen Veränderung der Erdatmosphäre durch offene
Feuerungsprozesse.
Von großer Bedeutung ist ebenfalls der liberalisierte
europäische Energiemarkt, der auf nationale Alleingänge in einer Weise reagieren wird, die die Ausstiegsabsichten konterkariert. Es wäre ja der Gipfel der Absurdität, wenn man in Deutschland die sichersten Kernkraftwerke abschaltete und dann den Atomstrom aus
Frankreich oder aus Osteuropa importieren würde.
({2})
In der Atomdebatte heute nachmittag wurde von den
ausstiegsorientierten Fraktionen der Tokaimura-Unfall
als Beweis für unkalkulierbare Gefahren und inakzeptable Restrisiken bemüht.
({3})
Ich rate zu einer realistischen und differenzierten Betrachtung. Es ist ja wahr: Wir in Deutschland sind nicht
wenig verwundert und verblüfft, in welchem Ausmaß
menschliche Fahrlässigkeit bei der Handhabung hochgefährlicher Stoffe, welche Hilflosigkeit bei der Gefahrenabwehr und wieviel Fehlverhalten der Unternehmensleitung bei der Schadensbegrenzung im hochindustrialisierten Japan möglich sind.
({4})
Dies gilt übrigens nicht nur für den Bereich der Kernenergie, sondern auch für Naturkatastrophen, wie wir
nach dem Erdbeben bei Kobe wissen.
Ich bin überzeugt: Nirgendwo ist das Problembewußtsein beim Umgang mit technischen Gefahrenpotentialen so hoch entwickelt wie in Deutschland.
({5})
Diese Wachheit und Empfindlichkeit - man kann ruhig
sagen: Ängstlichkeit - haben zu einer hochentwickelten
Sicherheitskultur in Deutschland gerade in der kerntechnischen Industrie geführt.
Nun bestreitet kein vernünftiger Mensch, daß es auch
hier in Deutschland tagtäglich menschliches Versagen,
technische Fehlleistungen und Störungen gibt. Wer in
seiner pessimistischen Weltsicht glaubt, daß es dagegen
keine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen geben könne, gleichgültig, wieviel man auch immer unternehme,
den kann in der Tat nur der Ausstieg aus gefährlicher
Technik zufriedenstellen. Wenn er redlich ist, muß er
aber bei gleichen Maßstäben nicht nur aus der Kerntechnik, sondern auch aus der Chemie, den Gefahrguttransporten,
({6})
der Luftfahrt oder auch der Wasserkraft mit großen
Staudämmen aussteigen, wozu man sich jeweils ebenfalls verheerende Katastrophenszenarien ausdenken
kann.
({7})
- Wenn zum Beispiel der Assuan-Staudamm bricht,
wird ganz Ägypten ins Meer geschwemmt.
Ich möchte wiederholen, was ich bereits heute nachmittag betont habe: Es kann doch niemand ernsthaft
vorhaben, aus unserer technischen Zivilisation auszusteigen. Es geht doch vielmehr um die Weiterentwicklung einer weltweit auf hohem Niveau erforderlichen
technischen Sicherheitskultur.
({8})
Die in Deutschland eingesetzten aktiv und passiv wirkenden Mehrfachsicherungssysteme und die sorgfältige,
ständig verbesserte Schulung des Betriebspersonals haben sich bestens bewährt.
Der politische Wille hinter dem zur Debatte stehenden Gesetzentwurf ist klar: Zweck ist die schnellstmögliche, in spätestens fünf Jahren abgeschlossene Abschaltung der Atomanlagen. Die wichtigsten Fragen in
diesem Zusammenhang werden allerdings nicht diskutiert. Es wird zwar auf die Kosten der Ersatzbeschaffung
für die Stromversorgung hingewiesen. Ein Konzept für
eine sichere, im europäischen Binnenmarkt wettbewerbsfähige und ökologisch akzeptable Energieversorgung ohne Kernkraft gibt es aber nicht - auch nicht von
der rotgrünen Regierung, die nun schon ein Jahr lang im
Amt ist. Es ist nichts in Sicht.
Der heutzutage übliche stolze Hinweis auf das
100 000-Dächer-Solarprogramm ist nun wirklich nicht
ausreichend. Von 100 000 Photovoltaik-Anlagen kann
man maximal 300 Millionen Kilowattstunden Strom pro
Jahr ernten; das entspricht knapp 3 Prozent der Leistung
eines modernen Kernkraftblocks.
Von großer Tragweite im energiepolitischen Zusammenhang ist der Klimaschutz. Wir erleben gegenwärtig
in Schweden die Unvereinbarkeit von Atomausstieg und
Zielen der CO2-Minderung. Für Deutschlands Reduktionsziel von 25 Prozent bis zum Jahr 2005 ist überhaupt
nicht sichtbar, wie es ohne Atomkraft erreicht werden
kann. Schon mit Kernenergie ist dies eine äußerst ehrgeizige Absicht.
Der Gesetzentwurf sieht vor, die Wiederaufarbeitung
von Brennelementen zum 1. Januar 2000 zu verbieten
und damit den auf diese Weise gesicherten Entsorgungsnachweis aufzuheben. Kraftwerke müßten wegen
ihrer mit abgebrannten Brennelementen gefüllten Zwischenlager deshalb schon bald vom Netz genommen
werden. Für die Befristung der Betriebsgenehmigungen
wird trotzdem ein eigenes Gesetz gefordert. Fragen der
notwendigen Entschädigungsregelungen werden nicht
angesprochen. Sie lehnen es grundsätzlich ab, darüber
zu diskutieren, wie Sie gerade ausgeführt haben. Aber
auch die PDS steht nicht außerhalb unserer Rechtsordnung, auch nicht die Regierung, Herr Kubatschka.
({9})
Die Vorschriften der Achten Atomnovelle vom
6. April 1989 sollen rückgängig gemacht werden. Damit
würden die Erleichterungen für Erkundungsarbeiten im
Interesse einer möglichst bald verfügbaren Endlagerung
radioaktiver Abfälle wieder aufgehoben. Es ist einer der
eklatanten Widersprüche der Anti-Atom-Politik, die sogenannte ungelöste Entsorgungsfrage unablässig als
Ausstiegsargument zu thematisieren und zugleich die
Erkundungsarbeiten in Gorleben und das Genehmigungsverfahren für Konrad nach Kräften zu erschweren
und zu stoppen. Dabei weiß jeder, auch jeder in den Regierungsfraktionen und in der PDS, daß Deutschland mit
oder ohne Atomausstieg eine sichere Entsorgung und
Endlagerung von radioaktiven Reststoffen unabdingbar
braucht.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der
PDS zur Änderung des Atomgesetzes ist voller Widersprüche und ungeklärter Fragen. Die CDU/CSU lehnt
seine Zielsetzung und seine Vorschriften im einzelnen
entschieden ab.
({10})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Wir hatten heute schon, wie ich finde, eine ernsthafte
Debatte über den Atomausstieg. Ehrlich gesagt, Herr
Laufs, haben Sie Ihre Rede eben eigentlich noch einmal
abgelesen? Ich finde, Wiederholungen langweilen auf
Dauer.
({0})
- Mein Eindruck war, das war haargenau dasselbe, und
ich fand das relativ langweilig.
({1})
- Das würde ich doch bezweifeln. Da kenne ich mich
besser als Sie mich.
({2})
Ich höre grundsätzlich zu, und ich finde, Sie haben ge-
nau dasselbe gesagt wie heute nachmittag.
Ich nehme die Debatte heute abend ehrlich gesagt
nicht ganz ernst. Damit meine ich nicht den Beitrag von
Herrn Kubatschka; den fand ich wirklich hervorragend.
[Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD - Jürgen Koppelin [F.D.P.]:
Der hat auch dasselbe erzählt!)
Das war eine gute Zusammenfassung unserer Beweggründe für den Atomausstieg und die Ablehnung dieses
Gesetzentwurfs. Aber das Anliegen der PDS ist mir wirklich ein bißchen zu durchsichtig. Daß dies ein taktischer
Antrag ist, steht doch völlig klar im Raum. Ich verstehe
das ja; ich würde es als Opposition genauso machen.
({3})
Die Frage ist doch nicht: Wie erreichen wir es, Forderungen für den Atomausstieg aufzustellen? Das ist leicht
zu beantworten; das haben wir auch immer getan. Auch
die SPD hat einen Ausstieg innerhalb von zehn Jahren
beschlossen. Aber Sie müssen lernen und verstehen
- wie auch wir das tun -, daß die Abschaffung eines gesamten Technologiezweiges in einer Industriegesellschaft kein einfaches Unterfangen ist und daß man dabei
viele Gesichtspunkte bedenken muß. Herr Kubatschka
hat darauf schon hingewiesen.
Ich glaube, daß Sie mit Ihrem Gesetzentwurf dem
Anliegen, den Atomausstieg voranzubringen, in keiner
Weise nützen. Sie nützen sich vielleicht selbst, indem
Sie sich als die großen Atomaussteiger, die Einpeitscher
und dergleichen mehr darstellen. Aber bringen Sie auch
den politischen Prozeß voran, dieses gesellschaftlich
mehrheitsfähig durchzusetzen? Das bezweifle ich.
({4})
Denn Politik bedeutet auch - Herr Kubatschka hat es gesagt -, zum richtigen Zeitpunkt etwas zu sagen oder zu
machen. Da sage ich einmal folgendes: Es war völlig
richtig, daß sich diese Bundesregierung auf die Suche
nach einem Kompromiß mit den Stromkonzernen
eingelassen hat. Ich glaube, nur dann können wir in der
Bevölkerung Akzeptanz dafür bekommen, daß wir im
Notfall, wenn die Stromkonzerne nicht kompromißfähig
sind, den Ausstieg im Dissens durchziehen.
({5})
Es war deswegen richtig, daß wir uns die Zeit genommen haben. Wir werden diesen Prozeß zu gegebener
Zeit beenden, wenn sich die Stromkonzerne als nicht
kompromißfähig erweisen. Das heißt, hier auf die Tube
zu drücken ist aus meiner Sicht völlig politikunfähig. Ich
kann da nur Gysi und Bisky ernst nehmen, die Sie als
Partei immer auffordern, politikfähiger zu werden und
nicht immer Märchenprogramme und dergleichen mehr
zu beschließen.
({6})
Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich ansprechen
möchte. Ich nehme auch Ihre Rolle als Einpeitscher für
den Atomausstieg nicht ganz ernst.
({7})
Ich habe einmal versucht, Zitate von Gysi oder Modrow,
der damals noch in der Politik war, aus der Zeit des
Tschernobyl-Atomunfalls zu finden. Wissen Sie was?
In der DDR wurde Tschernobyl totgeschwiegen. Es gab
keinen Fallout. Die Position der SED, bei der viele Ihrer
Genossen an der Basis noch immer tätig sind
({8})
- ich weiß, Frau Bulling-Schröter nicht, aber sie tritt ja
für ihre gesamte Partei auf -, war damals: AKWs im
Kapitalismus sind unsicher, weil sie unter Gewinngesichtspunkten betrieben werden, aber sozialistische
AKWs sind sicher, weil sozusagen die Arbeiterklasse sie
betreibt. Das waren die AKWs, die selbst die CDU abgeschaltet hat; das muß man einmal sagen.
({9})
Nun kann man ja sagen, daß man lernfähig ist. In der
Tat, auch die SPD hat nach Tschernobyl gelernt.
({10})
- Gut, vor Tschernobyl. Egal, sie hat gelernt. - Zwischen der Position von Helmut Schmidt und der heutigen Position besteht ein Unterschied. Aber dazu war ein
intensiver Diskussionsprozeß notwendig. Dabei ging es
nicht darum, daß man taktisch sagt: Welche Rolle spielen wir im neuen Parteiengefüge? Wir wollen die Linken
ablösen, und deshalb müssen wir den Atomausstieg fordern. - Haben Sie die Auseinandersetzung über die Frage Atomausstieg mit Ihrer Basis geführt? Nein!
({11})
Zum Beispiel hat der Kreisverband Greifswald eindeutig Position bezogen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
({0})
Was sagen denn all Ihre Schwesterorganisationen, die
französischen Kommunisten, die tschechischen Kommunisten?
({0})
Wissen Sie das?
({1})
Ihre Schwesterorganisationen haben unisono immer
noch das alte Schema drauf: Das ist eine tolle Technologie, weil es eine Großtechnologie ist und weil die Arbeiterklasse damit stark und groß wird.
({2})
- Ich verstehe ja, was Sie hier machen. Aber ich nehme
diese Debatte nicht ernst.
({3})
Die Grünen haben eine lückenlose authentische Geschichte in der Frage des Atomausstiegs. Wir haben uns
nie für die Atomtechnik stark gemacht. Der Atomausstieg ist nun ein schwieriger Prozeß, und ich akzeptiere
Sie schlicht und einfach nicht als Einpeitscher für diesen
Prozeß. Das mußte einmal gesagt werden.
Danke.
({4})
Die Rede der
Abgeordneten Birgit Homburger nehmen wir zu Proto-
koll.*)
Damit sind wir am Schluß der heutigen Debatte. Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/841 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. Oktober 1999,
13.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen einen schönen Abend.