Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die vorgesehene Tagesordnung eintreten, teile ich mit, daß interfraktionell vereinbart worden
ist, die heutige Tagesordnung um Zusatzpunkt 3, „Beratung der Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses zur Änderung der Richtlinien zur Überprüfung auf eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit“, Drucksache 14/1698, zu erweitern. Die Beratung soll jetzt gleich vor Tagesordnungspunkt 12 erfolgen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0})
Änderung der Richtlinien zur Überprüfung
auf eine Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
gemäß § 44b des Abgeordnetengesetzes
({1})
- Drucksache 14/1698 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Joachim Hörster
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen
daher gleich zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses auf Drucksache 14/1698. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschluß- empfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege ({2})
- Drucksache 14/1578 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Edith Niehuis.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Heute debattieren wir in der ersten Lesung
den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Altenpflegegesetzes. Hinter dieser Bezeichnung
verbirgt sich die längst überfällige bundeseinheitliche
Regelung der Altenpflegeausbildung.
({0})
Seit Mitte der 80er Jahre, also seit 15 Jahren, hat es
immer wieder Versuche gegeben, eine bundeseinheitliche Regelung für einen anerkannten Fachberuf Altenpflege zu schaffen. All diese Versuche sind gescheitert.
Diese Situation ist angesichts des Wildwuchses, den wir
in der Altenpflegeausbildung in Deutschland vorfinden,
schon lange nicht mehr hinnehmbar.
({1})
Wir haben in 16 Ländern 17 verschiedene Ausbildungen. Ziele, Inhalte, Dauer und Strukturen sind unterschiedlich. Es gibt nicht einmal in jedem Bundesland für
die Altenpflege eine Erstausbildung. Nicht überall wird
eine Ausbildungsvergütung gezahlt. Im Gegenteil: Hier
und dort wird auch noch Schulgeld verlangt. Wir erlau5276
ben uns diese strukturelle Nachlässigkeit in der Ausbildung in einem Berufsfeld, in dem hinsichtlich der
erforderlichen professionellen Qualifikation gerade
nicht Nachlässigkeit, sondern äußerste Sorgfalt gefordert
wäre.
({2})
Es geht um die Pflege von älteren und alten Menschen. Ich bin sicher: Über die Fraktionen hinweg verbindet uns das Anliegen, die Pflege für ältere und alte
Menschen auf hohem Niveau sicherzustellen. Dazu
brauchen wir das Engagement qualifizierter Pflegekräfte. Vor allem Altenpflegerinnen und Altenpfleger tragen
wesentlich dazu bei, daß eine qualifizierte und menschenwürdige Betreuung und Versorgung gewährleistet
ist.
Durch die Veränderung der Pflegelandschaft hat sich
ihr Aufgabenfeld, insbesondere im ambulanten Bereich,
erheblich erweitert. Aber auch die Anforderungen in den
Pflegeeinrichtungen haben sich durch die steigende Zahl
hochbetagter und schwerpflegebedürftiger Menschen
verändert. Von 1993 bis 1998 hat sich die Zahl der beschäftigten Altenpflegekräfte in Deutschland um zirka
40 Prozent auf 268 000 erhöht. Alle kennen die Zahlen
der demographischen Entwicklung. Der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften wird weiter steigen.
Obwohl all dies bekannt ist und bekannt war, hat es
die Regierung Kohl versäumt, eine bundeseinheitliche
Altenpflegeausbildung einzuführen. Wir haben über 360
Ausbildungsberufe. Neue kommen hinzu; alte werden
modernisiert. Aber die Altenpflege wurde immer übersehen. Zugleich ist festzustellen, daß über 90 Prozent
der Altenpflegekräfte Frauen sind.
({3})
Man kann schon vermuten, daß das Übersehen dieses
Berufes damit zu tun hat, daß es sich um einen typischen
Frauenberuf handelt. So ein Verhalten ist nicht zulässig.
({4})
Die Bundesregierung hat deshalb zu Beginn dieser Legislaturperiode angekündigt, daß sie einen neuen Vorstoß für ein bundeseinheitliches Berufszulassungsund Ausbildungsgesetz unternehmen wird. Das erwarten die Betroffenen, das heißt die Pflegekräfte und auch
die zu Pflegenden.
Die alte Bundesregierung hat in diesem Bereich sehr
viel Porzellan zerschlagen. Über mehrere Legislaturperioden hinweg gab es vielversprechende Ankündigungen, aber nichts geschah. Dringender Regelungsbedarf
besteht; denn bisher ist es nicht gelungen, dem Beruf
insgesamt ein klares Profil zu geben und das Berufsumfeld attraktiv zu gestalten. Er zeichnet sich vielmehr
durch hohe Arbeitsbelastung, geringe Berufsverweildauer, schlechte Aufstiegsmöglichkeiten usw. aus. Die Altenpflege, meine Damen und Herren, steht immer noch
nicht gleichberechtigt neben der Krankenpflege. Dies
zeigt sich allein daran, daß Altenpflegerinnen im Gegensatz zu Krankenschwestern nur in sehr engen Grenzen
als Leiterinnen von ambulanten Pflegediensten akzeptiert werden. Darum ist es dringend nötig, daß wir heute
gemeinsam über den Gesetzentwurf zur Neuregelung
der Altenpflegeausbildung debattieren.
({5})
Ziel ist eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung. Es muß sichergestellt werden, daß die Ausbildung
vergütet wird, die Ausbildungsinhalte bundesweit gleich
sind und Abschlußzeugnisse überall in Deutschland die
gleiche Kompetenz bescheinigen. Um dies zu erreichen,
sollen die 17 verschiedenen Ländergesetze durch eine
bundeseinheitliche Regelung abgelöst werden. Das heißt
jedoch nicht, daß wir den Beruf ganz neu erfinden müssen. Es war gerade ein Verdienst der Länder, Ausbildungsgänge für die Altenpflege eingeführt und in beachtlichem Umfang immer wieder modernisiert zu haben.
Bestimmte Strukturen, die sich bewährt haben, sollen
erhalten bleiben. Das Gesetz regelt die Ausbildung und
Zulassung für die Berufe der Altenpflege, das heißt für
Altenpflegerinnen und Altenpfleger sowie für Altenpflegehelferinnen und Altenpflegehelfer. Diese Berufsbezeichnungen werden dadurch dann endlich auch gesetzlich geschützt.
Die Regelausbildungszeit soll drei Jahre betragen. Sie
besteht aus theoretischem und fachpraktischem Unterricht und einer praktischen Ausbildung, die zeitlich
überwiegen wird. Wir haben uns für diese sogenannte
quasi-duale Ausbildung entschieden, weil wir davon
ausgehen, daß die Schülerinnen und Schüler so am
besten auf die Berufstätigkeit vorbereitet werden können. Sowohl der Schule als auch dem Träger der praktischen Ausbildung soll eine besondere Verantwortung
für die Ausbildung übertragen werden. Dieses Modell
hat sich auch schon in der Krankenpflegeausbildung
bewährt.
Die Ausbildung muß ein ganzheitliches Pflegekonzept vermitteln. Darauf sind auch die Ausbildungsziele
abgestellt. Dieses bedeutet, daß die Ausbildung auf soziale und psychosoziale Aufgaben, auf Kenntnisse über
die normalen Alterungsprozesse, aber auch verstärkt auf
medizinisch-pflegerische Aufgaben auszurichten ist. So
muß zum Beispiel gerade auf Altersdemenz professionell reagiert werden. In einer in der letzten Woche auf
dem Welt-Alzheimer-Tag hier in Berlin vorgestellten
Studie wurde noch einmal bestätigt, daß die Zahl der
Alzheimer-Erkrankungen dramatisch ansteigen wird. Bis
zum Jahr 2030 muß mit einer Zunahme der Demenzerkrankungen bei über 65jährigen um 60 Prozent gerechnet werden. Das heißt, 1,8 bis 2,5 Millionen alte Menschen werden von dieser Krankheit betroffen sein. Darauf müssen die Schülerinnen und Schüler umfassend
vorbereitet werden. Das sind wir allen Betroffenen
schuldig.
({6})
Die Einzelheiten wie konkrete Ausbildungsinhalte
und Stundenzahlen sind nicht im Gesetz enthalten, sondern werden gesondert in einer Ausbildungs- und Prüfungsverordnung festgelegt. Auf Grund der beruflichen
Anforderungen müssen allerdings die Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung festgelegt werden. Voraussetzung soll der Realschulabschluß bzw. der erweiterte Hauptschulabschluß sein. Für die Organisation und
Ausgestaltung der schulrechtlichen Strukturen werden
auch in Zukunft die Länder verantwortlich bleiben. Wie
in der Krankenpflege wollen wir auch für die Altenpflege die Erstausbildung bundesweit ermöglichen. Diese
ist zum Beispiel in Bayern nicht möglich. Ich erwähne
dies, weil wir alle wissen, daß es der Freistaat Bayern
war, der über den Bundesrat jahrelang eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung blockiert hat.
({7})
Das bayerische Verständnis von Pflegekräften wurde
in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 13. November
1996 so formuliert:
Die Altenpflege sollte insbesondere für Frauen
nach der Erziehungsphase ihrer Kinder, für Berufswechsler und ältere Bewerber offengehalten
werden. Eine dreijährige Erstausbildung ist hierfür
nicht geeignet.
So die Ansicht Bayerns.
Hier kommt, meine Damen und Herren, ein Verständnis von Altenpflegeberuf zum Ausdruck, das nicht
mehr der Realität entspricht.
({8})
Es geht dabei anscheinend immer noch um die pflegende Hand der erfahrenen Frau, weniger um professionelle
Kenntnisse. Der ehemalige Arbeitsminister Norbert
Blüm hat es hier im Plenum einmal so ausgedrückt:
„Dazu braucht man ein gutes Herz und eine ruhige
Hand.“
({9})
- Natürlich braucht man ein gutes Herz. Aber das gilt
nicht nur für Pflegeberufe. Ein gutes Herz braucht man
hoffentlich für alle Berufe.
({10})
Pflegeberufe bedürfen ebenso wie andere Berufe auch
der professionellen Qualifikation.
In Richtung CDU/CSU möchte ich doch noch einmal
eines klarstellen: Das Argument, dem Bund fehle die
Gesetzgebungskompetenz für dieses Vorhaben, ist und
bleibt vorgeschoben. Wer sich ernsthaft mit dem Berufsalltag auseinandersetzt und vor der Entwicklung der
letzten Jahre nicht die Augen verschließt, der weiß um
die umfassenden medizinisch-pflegerischen Aufgaben,
die es zu verrichten gilt. Zur Verdeutlichung brauche ich
dazu nur wieder das Stichwort Demenz zu nennen.
Ein Ländervergleich zeigt im übrigen, daß gerade die
bayerischen Ausbildungsanforderungen von den mittlerweile weiterentwickelten Standards anderer Länder
deutlich abweichen. Da gibt es eine zweijährige Ausbildung,
({11})
keine Erstausbildung und keine Ausbildungsvergütung,
sondern Schulgeld. Das sind überholte Maßstäbe, die
dem heutigen Anspruch an einen modernen Pflegeberuf
nicht mehr gerecht werden.
({12})
Ganz wichtig ist mir auch die Festschreibung der
Ausbildungsvergütung, die wir in diesem Gesetz geregelt haben; denn ohne Zweifel ist es für die Motivation
von Jugendlichen schon von Bedeutung, ob sie eine
Ausbildungsvergütung bekommen oder nicht.
Wir werden noch viele Gelegenheiten haben, über
Einzelheiten dieses Gesetzentwurfs zu debattieren. Der
Bundesrat hat schon viele wichtige Vorschläge dazu
unterbreitet, wie eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung gestaltet werden sollte. Als Bundesregierung werden wir uns diesen Vorschlägen des Bundesrates nicht verschließen. Ich hoffe, daß auf dieser Grundlage auch ein breiter Konsens im Deutschen Bundestag
geschaffen werden kann. Ich setze auf Ihre Unterstützung und auf eine baldige Verabschiedung nach 15 Jahren hier im Deutschen Bundestag.
Danke schön.
({13})
Für die CDU/CSUFraktion hat nun Kollegin Anke Eymer das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Initiative zum
Altenpflegegesetz ist eine sehr erfreuliche Initiative,
obwohl es ja bereits der zweite Anlauf ist. Wie bekannt,
haben wir schon in der letzten Legislaturperiode den
Versuch unternommen, die Altenpflegeausbildung bundeseinheitlich zu regeln. Im Kern bestand die Auseinandersetzung in der Frage, ob es notwendig und rechtlich
möglich ist, daß dieser Ausbildungszweig bundeseinheitlich geregelt wird. Der vorliegende Gesetzentwurf
verfolgt genau dieses Ziel: eine bundesrechtliche
Grundlage für eine bundeseinheitliche Ausbildung in der
Altenpflege zu schaffen.
Die Aufgabe der Altenpfleger und Altenpflegerinnen
ist es, älteren Menschen zu helfen, ihre körperliche, geistige, aber auch ihre seelische Gesundheit zu fördern,
diese zu erhalten oder, wenn möglich, sogar wiederzuerlangen. Vor diesem Hintergrund soll die Altenpflege
ein gefächertes Hilfsangebot der persönlichen Beratung,
Betreuung und Pflege in stationären, teilstationären und
ambulanten Diensten und anderen Einrichtungen ermöglichen. Dies ist ein ganzheitlicher Ansatz. Dementsprechend erstrecken sich die Ausbildungsinhalte sowohl auf medizinisch-pflegerische als auch auf sozialpflegerische Aspekte. Wenn die Ausbildung zur Altenpflegerin oder zum Altenpfleger nun im Rahmen einer
Gesetzgebungskompetenz des Bundes und unter Beachtung der schulrechtlichen Strukturen der Länder als
eigenständige Ausbildung geregelt werden kann, so ist
dies nur zu begrüßen.
({0})
Richtig ist: Auf Grund der demographischen Entwicklung nimmt der Bedarf an qualifizierten Altenpflegekräften zu. Hinzu kommt ein erheblicher Nachqualifizierungsbedarf in der stationären Pflege, besonders aber
in der ambulanten Pflege, jedoch auch in der Hauspflege. Die explosionsartige Zunahme dementer Patienten
und auch von Alzheimer-Patienten, von schwerstpflegebedürftigen oder mehr multimorbiden Patienten führt zu
immer höheren Anforderungen an die Altenpflegekräfte
im Umgang mit den Betroffenen. Frau Staatssekretärin,
ich stimme Ihnen da zu; Sie haben das ja bereits erwähnt.
Gleichzeitig ist richtig - auch da sind wir uns einig -,
daß der Beruf der Altenpflegerin oder des Altenpflegers
nicht immer die notwendige Anerkennung gefunden hat
und findet. Dieses beruht nicht zuletzt auf dem uneinheitlichen Berufsbild.
({1})
Daher ist richtig, daß ein Altenpflegegesetz ein wichtiger Schritt ist, um die professionelle Pflege sowohl in
qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht zu sichern.
Das Ziel muß eine Altenpflege sein, die fachlich kompetent und auch menschlich ist. Ich meine, daß die Pflege mit Herz durchaus dazugehört.
({2})
Die Gestaltung des Gesetzentwurfes zeigt, daß man
sich im Sinne der Vereinheitlichung am Krankenpflegegesetz orientiert hat: Die Dauer der Regelausbildung
von drei Jahren, die Regelung der Zugangsvoraussetzungen, der Schutz der Berufsbezeichnung, die Gestaltung des Ausbildungsverhältnisses und der Anspruch auf
Ausbildungsvergütung folgen diesem Vorbild. Eine berufsbegleitende und damit eine entsprechend verlängerte
Ausbildung ist möglich. Das bedeutet eine frühere, für
die Altenpflege nützliche Ausbildung kann zur Verkürzung der Ausbildung in der Altenpflege führen. Für Berufsrückkehrerinnen, zum Beispiel nach der Familienphase, bedeutet dies einen erleichterten Wiedereinstieg
ins Berufsleben. Denn auf der Lebenserfahrung und dem
Allgemeinwissen erwachsener Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung kann man aufbauen. Gerade dieser Kreis hat auf Grund der Lebenserfahrung ein weitaus
höheres Humankapital beizusteuern, was besonders
wichtig ist. Denn - ich sage es noch einmal - oft gilt: Es
ist besser, Hinwendung, Zuspruch, Herzlichkeit zu geben, als die in der Pflegeplanung vorgegebenen Punkte
statisch abzuarbeiten.
({3})
Es darf aber nicht sein, daß gerade junge Menschen,
die sich für diesen verantwortungsvollen Beruf entschieden haben, nach einer theoretischen Schulausbildung plötzlich mit einer Berufspraxis konfrontiert
werden, die sie völlig überfordert. Daher ist es unbedingt notwendig, eine praxisnahe Ausbildung zu
schaffen, die die Menschen fachlich, aber auch psychisch auf diesen Beruf vorbereitet. Gut im vorliegenden
Entwurf ist die fachlich-praktische Betonung der Ausbildung gegenüber der eher theoretischen vieler Landesgesetze.
Aber trotz all dieser positiven Ansätze zeigt der Gesetzentwurf noch reichlich Klärungsbedarf. Zunächst
einmal sind 50 Prozent der Tätigkeiten in der Altenpflege Arbeitsabläufe, die nicht von drei Jahre lang ausgebildeten Kräften durchgeführt werden müssen, sondern
durchaus in den Hilfebereich fallen. Ich denke an Arbeiten wie Bettenmachen oder auch Körperpflege. Sie
können durchaus von jemandem mit einer einjährigen
Ausbildung durchgeführt werden. Hierzu braucht man
nur eine sinnvolle Rahmengesetzgebung.
Aber es stellt sich vehement die Frage nach der Finanzierung. Dazu, Frau Staatssekretärin, haben Sie mir
zuwenig gesagt. Diese Finanzierung, so scheint es mir,
ist noch nicht abschließend geklärt. Ein ausgereiftes Altenpflegegesetz darf sich aber nicht um die Fragen der
Finanzierung drücken. Dies ist der entscheidende Punkt
des Gesetzes. Die Länder bleiben zwar für die Finanzierung der Kosten der schulischen Ausbildung verantwortlich; die Finanzierung der Ausbildungsvergütung
soll aber über die Entgelte für die ausbildenden Einrichtungen erfolgen.
({4})
- Das sehe ich anders.
Die Kosten können angeblich über die Pflegeversicherung refinanziert werden. Aber dabei muß gesichert
sein, daß der Ausbildende nicht ökonomisch schließlich
der Dumme ist. Die Pflegeversicherung ist nämlich in
ihren Entgelten festgelegt, wie wir wissen. So bleiben
im Prinzip nur zwei Möglichkeiten übrig: Entweder
bleibt vom Entgelt nicht mehr so viel übrig, denn es
müssen nun einmal die Ausbildungskosten abgezogen
werden, oder das Entgelt wird erhöht, um die Kosten abzudecken. Dann wird die Pflege teurer, und die KonkurAnke Eymer ({5})
renzfähigkeit des ausbildenden Einrichtungsträgers
sinkt.
({6})
- Ja, das ist die Folge davon.
Daß die Sozialhilfe gemäß Paragraph 93 BSHG die
Ausbildungskosten bezahlen wird, bezweifle ich stark.
Nun haben einige Bundesländer bereits ein sogenanntes Umlageverfahren eingeführt. Das Ergebnis ist,
daß viele Klageverfahren gegen entsprechende Umlagebescheide anhängig sind, die sich unter anderem auf die
Verfassungswidrigkeit einer Umlagefinanzierung stützen. Das Umlageverfahren soll die Finanzierung der
Aufwendungen für die Ausbildung sicherstellen. Was ist
jedoch mit den ambulanten Diensten und der Hauspflege, die sich frei von institutionellen Einrichtungen gebildet hat? Was ist mit denjenigen, die ausbilden, oder
sollen diese ebenfalls zahlen? Ich denke, wir müssen
noch einmal sehr intensiv darüber diskutieren, wie eine
optimale Finanzierung aussehen kann, wobei besonders
darauf geachtet werden muß, daß nicht neue Abrechnungsbürokratien das Kind mit dem Bade ausschütten.
Also, der vorliegende Gesetzentwurf über die Berufe
in der Altenpflege enthält nicht nur gute Teile; der Bundesrat hat schon Korrekturen angemahnt. Wir müssen
über diese Mahnung hinausgehen und auch noch fragen:
Weshalb geben so viele den erlernten Beruf auf? - Das
geschieht doch nicht auf Grund der langen Ausbildung.
Die Gründe liegen eher in den Arbeitsbedingungen für
die Altenpflegekräfte. Für diese ist gleichzeitig ein
emotionaler und organisatorischer Spagat zwischen bürokratisch ablaufender Pflege im Minutentakt und einer
humanen, hinwendungsvollen Pflege zu absolvieren.
Gefordert ist daher nicht allein eine Neuregelung der
Ausbildung, sondern es sind Veränderungen der Rahmenbedingungen für die Ausübung des Pflegeberufes an
sich erforderlich.
Danke fürs Zuhören.
({7})
Für BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN erteile ich nun Kollegin Irmingard
Schewe-Gerigk das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit zehn Jahren diskutiert nun der Deutsche
Bundestag über eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung. 1989 von der damaligen Ministerin Lehr erarbeitet, kurz darauf wieder zurückgezogen, 1994 von der
hessischen Landesregierung in den Bundesrat eingebracht, wurde der Gesetzentwurf kurzerhand auf Eis
gelegt. Gesetzentwürfe der Grünen und der SPD wurden
von der alten Regierung immer wieder von der Tagesordnung gestimmt. Zu stark war das Land Bayern, zu
stark die CSU. Aber da bekanntlich aller guten Dinge
drei sind, werden wir heute einen neuen Anlauf nehmen,
auch wenn wir wissen, daß der Bundesrat hier ein gewichtiges Wort mitzureden hat.
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition,
wir haben es gerade gehört: Inhaltlich sind wir uns relativ einig, und ich nehme Sie einfach beim Wort, wenn
Sie sagen, Sie machen keine Blockadepolitik.
({0})
Herrn Blüm werden heute morgen die Ohren klingeln, wenn er so häufig zitiert wird. Ein Zitat von ihm:
„Pflegen kann jeder.“ Ich füge hinzu „und jede“, und das
„gute Herz“ und die „ruhige Hand“ sind von der Staatssekretärin bereits erwähnt worden. Die hohen Anforderungen in den gerontologischen und geriatrischen Bereichen können jedoch nur mit einem guten Herzen und einer ruhigen Hand nicht erfüllt werden. Die Fachwelt war
daraufhin auch sehr empört. Daß gerade in einem zu
90 Prozent von Frauen ausgeübten Beruf diese Fähigkeiten als ausreichend anerkannt wurden, war bezeichnend auch für die alte Bundesregierung. Schlechte Arbeitsbedingungen, geringe Bezahlung, fehlende Aufstiegschancen - das sind alles Merkmale für typische
Frauenberufe. Auch hier hat also die rotgrüne Regierung
einen Reformstau zu beseitigen, und das tun wir jetzt
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf.
({1})
Es wurde schon darauf hingewiesen: Noch immer
gibt es in den 16 Bundesländern 17 unterschiedliche
Ausbildungen. In einigen Ländern beträgt die Ausbildungsdauer zwei Jahre, in anderen drei. Die Abschlüsse
sind nicht vergleichbar und werden in den jeweils anderen Bundesländern nicht anerkannt. In einigen Einrichtungen muß noch Schulgeld gezahlt werden, während
anderenorts Ausbildungsvergütungen gezahlt werden.
Daß die heutige Ausbildung nicht dem qualitativen
Anspruch an die Pflege alter Menschen und den entsprechenden fachlichen Anforderungen entspricht, zeigt
auch die hohe Unzufriedenheit in diesem Beruf. Die
Ausstiegsrate in der Altenpflege ist so hoch wie in keinem anderen Beruf. Denn bereits am Ende der Ausbildung plant ein Drittel den sofortigen Ausstieg. Im ersten
Berufsjahr gibt bereits jede vierte Frau den Beruf auf.
Die durchschnittliche Verweildauer beträgt nur zwei
Jahre. Ich finde, das können wir nicht länger hinnehmen.
({2})
Nach langer Zeit des Stillstands hat nun die neue
Bundesregierung bundeseinheitliche Regelungen vorgesehen. Es ist, wie Sie sich vorstellen können, kein Pappenstiel, 16 Länder davon zu überzeugen, daß sie ihre
Gesetze zugunsten einer bundeseinheitlichen Regelung
zurücknehmen müssen. Das ist ein hartes Stück Arbeit.
So hat auch der Bundesrat eine Reihe von unserer Meinung nach positiven Änderungen vorgesehen, wobei in
der Stellungnahme der Bundesregierung die meisten
übernommen werden. Der Gesetzentwurf legt nun eine
Anke Eymer ({3})
Regelausbildungsdauer von drei Jahren fest, regelt Mindeststandards und schreibt künftig eine Ausbildungsvergütung fest. Ich finde, das ist zunächst ein sehr großer
Fortschritt.
({4})
Einem Kritikpunkt des Bundesrates muß ich mich
allerdings anschließen. Ich finde es problematisch, daß
die dreijährige Ausbildung durch eine generelle Verkürzungsmöglichkeit von bis zu 12 Monaten für Umschülerinnen und Umschüler unterlaufen werden kann. Denn
zwei Drittel aller Auszubildenden in der Altenpflege
sind Umschülerinnen und Umschüler. Das bedeutet: Die
Ausbildungsdauer würde sich für die meisten Auszubildenden tatsächlich auf zwei Jahre belaufen, ohne daß
diese eine einschlägige Vorbildung vorweisen müßten.
Mir hat noch niemand plausibel erklären können, wieso
zum Beispiel ein Bergmann, der wegen einer Zechenschließung eine Umschulung zum Altenpfleger anstrebt,
eine Reduzierung seiner Ausbildungsdauer um ein Jahr
erfährt. Gerade aus den entsprechenden Schulen hört
man, daß dieser Personenkreis eigentlich eine längere
Ausbildungsdauer bräuchte, weil das Lernen erst wieder
gelernt werden muß.
Daß mit diesem Gesetzentwurf auch eine einjährige
Altenpflegehelferinnen- und Altenpflegehelferausbildung geregelt wird, ist der bestehenden Situation und
der Zustimmungsbereitschaft der Länder geschuldet. Die
Einführung eines Helferinnen- und Helferberufes in der
Altenpflege führt meines Erachtens nicht zu einer Aufwertung und Professionalisierung dieses Pflegeberufs.
({5})
Die zu pflegenden Menschen erwarten eine qualifizierte
Pflege. Sie machen keinen Unterschied, ob nun eine
Pflegerin oder eine Helferin an ihrem Bett steht. Über
dieses Problem sollten wir noch mit den Ländern sprechen.
({6})
Aber auch arbeitsmarktpolitisch gesehen ist dies eine
Sackgasse. Denn bei der Anrechnung der Fachkraftquote
zählen die Helferinnen nicht mit. Für die Heime sind sie
viel zu teuer; denn es gibt ungelernte Kräfte, die eingestellt werden können. Das ist der Grund dafür, weshalb
in einigen Ländern - es gibt ja nicht in allen Ländern
Helferinnen - eine Vielzahl von Altenpflegehelferinnen
erwerbslos ist.
Die fachlichen Anforderungen an das ausbildende
Lehrpersonal für Altenpflegeschulen und für die praktische Ausbildung nehmen Rücksicht auf die Unterschiedlichkeit der Ausbildungsstätten der einzelnen
Länder. Für die Altenpflegeschulen gilt nur, daß in ausreichender Zahl pädagogisch qualifizierte Fachkräfte zur
Verfügung stehen müssen. Für die Qualifikation der
Ausbilderinnen und Ausbilder in der praktischen Ausbildung sind keine Kriterien vorgesehen. Diese Qualitätsstandards entsprechen meiner Meinung nach nicht
den Qualifikationen, die im Rahmen eines dualen Systems gefordert werden.
({7})
Langfristig gesehen müssen hier Verbesserungen erfolgen. Aber das ist natürlich eine Angelegenheit der Länder.
Was uns Bündnisgrüne besonders freut, ist, daß mit
diesem Gesetzentwurf nach einer über zehn Jahre dauernden Reformdiskussion der Einstieg in die integrierte
Pflegeausbildung möglich wird. Alten-, Kranken- und
Kinderkrankenpflege können - zunächst in einem Modellversuch - in einem einheitlichen Ausbildungsberuf
zusammengefaßt werden.
({8})
- Danke schön, Herr Kollege Goldmann. - Diese Notwendigkeit hat erfreulicherweise auch der Bundesrat gesehen und hat eine Öffnungsklausel für Modellversuche
der Länder eingebracht. Ich bin sehr gespannt darauf,
welches Land als erstes den Reformschritt wagt, der von
der Fachwelt seit langem gefordert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend
läßt sich sagen: Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Es sind keine Wege für weiterreichende Reformen
verstellt, so daß wir mit Fug und Recht behaupten können: Hier wurde ein Schritt in Richtung einer qualifizierten Berufsausbildung insbesondere für Frauen 90 Prozent der in der Altenpflege Tätigen sind Frauen getan. Daneben - das freut mich angesichts des heutigen
Internationalen Tages der Senioren ganz besonders kommt diese Ausbildung natürlich auch der professionelleren Pflege alter Menschen zugute. Ich finde, dafür
lohnen sich alle Anstrengungen. Lassen Sie uns in den
Ausschußberatungen über diese Ziele einig sein, so daß
wir in Kürze ein gutes Gesetz vorlegen können.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun
der Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Alle sind sich seit langem einig: Es muß eine bundesweit einheitliche Regelung der Altenpflegeausbildung geben. Die F.D.P. drängt seit sehr vielen
Jahren auf ein Altenpflegegesetz.
({0})
- Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Deshalb begrüßen
wir, daß die Bundesregierung einen neuen Anlauf unternimmt, diese fast unendliche Geschichte zu einem Abschluß zu bringen.
Seit Mitte der 80er Jahre wird versucht, zu einem
Altenpflegegesetz zu kommen. Zuletzt waren die Bemühungen an der Blockadehaltung Bayerns gescheitert.
({1})
Aber sowohl die betroffenen alten Menschen als auch
die jungen Auszubildenden haben ein Anrecht auf einen
Schutz der Berufsbezeichnung, auf einen bundeseinheitlichen Ausbildungsstandard, auf bundeseinheitliche Zugangsvoraussetzungen sowie auf eine Regelung der
Ausbildungsvergütung.
({2})
Für die älteren Bürgerinnen und Bürger, die auf Pflege angewiesen sind, sichert das Gesetz einen gewissen
einheitlichen Ausbildungsstandard ihres Pflegers oder
ihrer Pflegerin auf hohem Niveau. Für die jungen Menschen wird zugleich die Attraktivität dieses wichtigen
Berufszweiges erhöht.
Sehr vernünftig ist an dem Gesetzentwurf aus unserer
Sicht, daß eine Ausbildung in bestimmten anderen Pflege- und Heilberufen angerechnet werden kann. So entsteht Flexibilität auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt, die für die Zukunft der Arbeit in Deutschland von
entscheidender Bedeutung ist. Deshalb unterstützen wir
auch die Absicht, eine integrierte Ausbildung für
Kranken- und Altenpflege anzustreben und modellhaft
eine gemeinsame Ausbildung zu erproben.
({3})
Die Anerkennung der Haushaltsführung als Kriterium für die Verringerung der Ausbildungsdauer sehen
wir etwas kritisch. Wir sind der Auffassung, daß schwer
nachprüfbar ist, ob wirklich ein Erwerb von Kenntnissen
im Sinne des Altenpflegeberufes vorliegt. Wir sind für
objektiv nachweisbare Kriterien, die zur Verkürzung der
Ausbildungsdauer berechtigen. Das Ziel eines möglichst
hohen fachlichen Qualitätsniveaus der Altenpfleger
muß Vorrang haben vor etwa wünschenswerten familienpolitischen Signalen. Dies liegt eigentlich im Interesse
der auf professionelle Hilfe angewiesenen Pflegebedürftigen.
Wesentlich ist, daß auch im Hinblick auf die Ausbildungsvergütung nun eine bundesweit einheitliche Regelung getroffen wird. Die Ausbildungsvergütung stärkt
die Attraktivität der Ausbildung. Es gibt einen wachsenden Bedarf an qualifizierter Altenpflege. Die Vergütung
hilft, eine ausreichende Zahl qualifizierter Fachkräfte
dafür zu gewinnen.
Meine Damen und Herren, es ist vorhin schon erwähnt worden: Die Finanzierung der Ausbildung und
damit auch die Ausbildungsvergütung ist ein schwieriges Thema, Frau Eymer. Sie sollte möglichst einfach
und ohne besonderen Verwaltungsaufwand geregelt
werden. Die von der Bundesregierung zunächst vorgesehene Regelung - Erstattungsverfahren durch alle an
der praktischen Ausbildung beteiligten Betriebe und
darüber hinaus eine Verordnungsermächtigung für die
Länder mit der Möglichkeit, die nicht an der Ausbildung
beteiligten Betriebe im Wege eines Umlageverfahrens
zu beteiligen - war zu kompliziert und verwaltungstechnisch sehr aufwendig. Darin stimmt die F.D.P. dem
Bundesrat zu.
Ein Ausgleich über ein Umlageverfahren - wenn
denn die Länder eine entsprechende Verordnung erlassen - erscheint uns sinnvoller. Jedoch müssen die hinsichtlich des Umlageverfahrens bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken geklärt werden. Eine Umlage für alle, auch für die nicht an der Ausbildung beteiligten Betriebe, erscheint aus Wettbewerbsgründen gerechter, zumal damit die Kosten für die einzelne Ausbildungsstätte gering gehalten werden können.
({4})
Ansonsten bevorzugen wir die Regelung, den Träger
der praktischen Ausbildung die Kosten der Ausbildungsvergütung tragen zu lassen, die er über die Entgelte für seine Leistungen refinanzieren kann. Allerdings
müssen im Laufe dieses Gesetzgebungsverfahrens die
noch laufenden Rechtsstreitigkeiten in einzelnen Bundesländern in dieser Hinsicht berücksichtigt werden.
Sicherlich läßt der Gesetzentwurf Wünsche offen. In
manchen Details sind wir noch ein gutes Stück von einer
bundeseinheitlichen Regelung entfernt, besonders im
Bereich der Altenpflegehilfeausbildung. Doch ist der
Gesetzentwurf ein wichtiger Schritt zu einheitlichen
Ausbildungsstandards.
Die F.D.P. hofft, daß die Beratungen noch problematische Punkte klären helfen und daß sich auch der Bundesrat diesmal zu einer positiven Entscheidung durchringen kann. Wir werden konstruktiv an den weiteren
Beratungen mitwirken, um endlich zum längst überfälligen Altenpflegegesetz zu kommen. Packen wir es an!
({5})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! In der Begründung des Gesetzentwurfs ist
die Aufgabe des Altenpflegeberufes definiert - ich
stimme dieser Definition voll und ganz zu -:
Aufgabe der Altenpflegerinnen und Altenpfleger ist
es, älteren Menschen zu helfen, die körperliche,
geistige und seelische Gesundheit zu fördern, zu
erhalten und wiederzuerlangen.
Mit einem neuen Altenpflegegesetz soll ein sozialpädagogisches Berufsprofil gesichert werden, das den
älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein Leben in
Anstand und Würde ermöglicht. Ziel ist es aber nicht,
den Altenpflegerinnen- und Altenpflegerberuf in einen
Heilhilfsberuf umzuwidmen. Genauso wenig, wie ein
Kind ein „kleiner Erwachsener“ ist, genauso wenig ist
ein älterer Mensch ein Langzeitkranker. Dieser Tatsache
muß mit professioneller Altenpflege Rechnung getragen
werden. Wie Frau Staatssekretärin Niehuis schon beKlaus Haupt
merkte: Der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften wird
weiter steigen.
Mit der schon längst fälligen Neuordnung der Altenpflegeausbildung müssen Qualitätsstandards und umfassende Sozialpflege gesichert werden. Ebenso sollten Betreuung, Anleitung, Beaufsichtigung, Aktivierung und die
Beachtung sozialpädagogischer Aspekte möglich sein.
Der Gesetzentwurf bringt aber keinen Qualitätsgewinn. Er bewirkt vielmehr eine gravierende Verschlechterung der Altenpflegeausbildung. Er schraubt erreichte Qualitätsstandards zurück
({0})
und verschiebt das Profil der Altenpflege deutlich in
Richtung eines medizinisch-pflegerischen Profils.
({1})
In seiner Orientierung folgt er dem Krankenpflegegesetz. Die in verschiedenen Ländern auf hohem Niveau
entwickelten Ausbildungsordnungen für die Altenpflege
stellen für uns unverständlicherweise keine Basis für den
Gesetzentwurf dar.
Die wesentlichen grundsätzlichen Einwände sind:
Erstens. Aus dem bewährten sozialpflegerischen Berufsprofil wird ein Heilhilfsberuf gemacht.
Zweitens. Die dreijährige Ausbildung wird zum Sonderfall, die zweijährige Ausbildung zur Regel. Umfangreiche Verkürzungsmöglichkeiten machen aus der in den
Ländern jetzt überwiegend dreijährigen Ausbildung eine
zweijährige Ausbildung. Der Bund geht davon aus, daß
nur in einem Drittel der Fälle überhaupt noch eine dreijährige Ausbildung absolviert wird.
Drittens. Eine klare Ansiedlung im System beruflicher Bildung - im Schulrecht oder im Berufsbildungsgesetz - erfolgt nicht. Die Modellschule aber ist eine
Schule im Niemandsland der Berufsbildungssystematik.
Uneinheitliche Niveaus - ich nenne in diesem Zusammenhang Schulen besonderer Art in Abgrenzung gegenüber dem Schulrecht - bleiben unangetastet. Das Berufsbildungsgesetz wird ausgeschlossen. Das Schulrecht
wird zwar zugelassen, jedoch durch die Konstruktion
des Gesetzes strukturell gefährdet.
Viertens. Das Niveau der theoretischen Ausbildung
wird strukturell nicht gesichert; einer Absenkung nach
unten werden Tür und Tor geöffnet.
({2})
Die Mindestqualifikation für leitende Lehrkräfte wird
unterhalb eines Fachhochschulstudiums festgeschrieben.
Fünftens. Das Gesetz sieht eine im Grundsatz und im
Detail höchst problematische Zwitterstellung zwischen
Arbeitsrecht und Schülerstatus - gegebenenfalls im
Rahmen von Schulrecht - für den Studierenden vor.
Sechstens. Die Zahlung einer Ausbildungsvergütung bei einer Ausbildung an berufsbildenden Schulen
schließt sich schulrechtlich derzeit zum Beispiel in den
Ländern Berlin und Bayern aus.
Siebtens. Das Gesetz schließt die Zahlung von Schulgeld aus. Die Fachschulen arbeiten, finanzieren aber aus
den Schulgeldern ihre Sachkosten. Ohne diese können
sie ihren Ausbildungsauftrag nicht wahrnehmen.
Achtens. Die im Gesetz vorgeschlagene Umlagefinanzierung ist rechtlich umstritten. Ausbildungskapazitäten wären bedroht.
Fazit. Die geforderte Qualitätsprüfung für die Altenpflegeausbildung bringt dieser Gesetzentwurf ebensowenig wie die erhoffte Vereinheitlichung der Ausbildungen. Der Bundesrat und zahlreiche Fachverbände
fordern Korrekturen des Gesetzentwurfes. Das sollte
auch geschehen.
Danke schön.
({3})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Christa Lörcher, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste aus dem Pflegebereich und aus anderen Bereichen! „Altenpflege, ein Beruf mit Zukunft“, so werben viele Altenpflegeschulen
für eine Ausbildung in einem sehr schönen und sehr anspruchsvollen Beruf. Positiv sind die Ziele der Ausbildung und der Arbeit in der Altenpflege. Ich zitiere den
Deutschen Berufsverband für Altenpflege zu dem Berufsbild Altenpfleger/Altenpflegerin:
Ziel ... ist es, für die Würde, die Rechte und das
Wohlbefinden alter Menschen einzustehen. Planung und Gestaltung aller Dienste sollen sich leiten
lassen von folgenden Gedanken: Unterstützung geben bei der Gestaltung des persönlichen Lebensraumes alter Menschen, ihre Kompetenzen schützen und fordern; sich an ihren individuellen Lebensgeschichten orientieren, ihnen einen anerkannten Platz in der Gesellschaft sichern helfen.
({0})
Anspruchsvoll sind die Aufgaben in der Altenpflege, und sie werden immer anspruchsvoller. Die Unterstützung bei der Lebensgestaltung umfaßt nicht nur die
Betreuung und Beratung, Ermutigung und Begleitung
alter Menschen, sondern auch die Mitwirkung bei Prävention und Rehabilitation, Pflegeplanung und pflegerische Versorgung, Reflexion der eigenen beruflichen Arbeit - gerade angesichts der Belastungen, die in diesem
Beruf zu bewältigen sind -, Anleitungsaufgaben und
Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team.
Trotz guter Ziele und anspruchsvoller Aufgaben - wir
haben es gehört - ist die Verweildauer im Beruf gering: Ausbildung, besonders die Diskrepanz zwischen
Theorie und Praxis, Arbeitsbedingungen, physische und
psychische Belastungen und die mangelnden Aufstiegschancen sind häufig genannte Gründe für Unzufriedenheit und Flucht aus dem Beruf.
Die Bevölkerungsentwicklung in unserem Land ist
bekannt. Ausführlich haben wir die Auswirkungen auf
den Arbeitsmarkt, auf die sozialen Sicherungssysteme
und auf die sozialen Dienste in der EnqueteKommission „Demographischer Wandel“ diskutiert. Der
Bedarf an qualifizierten Pflegeleistungen wird - wir
haben es heute mehrfach gehört - steigen.
Wir leisten uns 17 Ausbildungsregelungen in 16
Bundesländern, und das in einem Europa, in dem immer
mehr Mobilität und Zusammenarbeit gefordert ist. Das
müssen wir ändern; wir sind auf dem Weg dazu.
({1})
Dieser Weg ist heute aufgezeigt worden; ich will die
Vorgeschichte jetzt gar nicht wiederholen. Er war gekennzeichnet von Hindernissen und Hürden. Ich hoffe
im Interesse der Pflegebedürftigen und der Pflegenden,
daß dieser Weg jetzt zu einem guten Ende führt und daß
das Ziel in nicht allzu ferner Zeit erreicht wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
hat Vorläufer aus Bundestag und Bundesrat. Eine Anhörung zum damaligen Gesetzentwurf im November 1996
hat dringenden Handlungsbedarf bestätigt. Jetzt haben
wir die Chance, nachdem Kabinett und Bundesrat den
aktuellen Gesetzentwurf begutachtet und Stellung dazu
genommen haben, diesen Entwurf im Ausschuß und mit
den Verbänden ausführlich zu diskutieren und, wenn
nötig, Änderungsvorschläge einzubringen. Die SPDFraktion wird eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf
beantragen.
„Qualität erfordert Qualifikation“, fordert der Bundesausschuß der Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberufe. Ich freue mich über das Engagement der Kolleginnen
und Kollegen für hohe Standards in der Ausbildung
für Pflegeberufe.
({2})
Ebenso freue ich mich über die ausführlichen Stellungnahmen zum Beispiel meiner Gewerkschaft, der ÖTV,
oder der Arbeiterwohlfahrt und vieler anderer Verbände
und Organisationen.
Ich will nur einige Aspekte aus den genannten
Schreiben und Stellungnahmen anführen. Der erste
Punkt: Eine einheitliche dreijährige Ausbildungsdauer
mit bundeseinheitlichen Standards wird allgemein begrüßt. Ebenso wird eine Ausbildungsvergütung, die sich
an der Vergütung in der Krankenpflege orientiert, von
vielen als Fortschritt betrachtet. Allerdings muß die Finanzierung dieser Ausbildungsvergütung möglichst gerecht und einfach sein, und ihre Rechtmäßigkeit muß
abgeklärt sein. Auch dazu ist schon einiges ausgeführt
worden.
Der zweite Punkt: Eine Altenpflegehelferausbildung
ist nach wie vor sehr umstritten. Aus altenpolitischer wie
aus bildungs- und frauenpolitischer Sicht ist eine Helferausbildung abzulehnen. Das Argument, ein Jahr
Ausbildung ist besser als keine Ausbildung, ist zwar
nicht von der Hand zu weisen, aber es entkräftet nicht
die Tatsache, daß die Chancen auf dem Arbeitsmarkt
schlechter sind als die von Fachkräften, daß die geringere Qualifikation eine geringere Bezahlung zur Folge hat
und daß oft ohne rechtliche Grundlage Tätigkeiten ausgeübt werden müssen, für die keine Qualifikation erworben wurde. Das, denke ich, ist der entscheidende
Punkt.
({3})
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
überläßt die Entscheidung über eine Helferausbildung
den Ländern. Damit können bundeseinheitliche Standards für den Beruf Altenpflegehelferin/Altenpflegehelfer kaum erreicht werden. Ich denke aber, es wäre
sinnvoll, diese Ausbildung auf eine gewisse Zeit zu begrenzen und dann auf wirklich qualifizierte Fachkräfte
zu setzen.
Der dritte Punkt: Sehr großen Diskussionsbedarf haben die im Gesetzentwurf vorgesehenen Verkürzungsmöglichkeiten ausgelöst. Besonders die Tatsache, daß
die Führung eines Familienhaushalts unter bestimmten
Bedingungen zu einer Verkürzung der Ausbildung
führen sollte, hat Empörung bei den Fachverbänden hervorgerufen, da die Qualität der Ausbildung dadurch in
Frage gestellt wird. Der Bundesrat hat diese Möglichkeit
der Verkürzung gestrichen, und die Bundesregierung hat
der Streichung zugestimmt. Insofern ist das vom Tisch.
Über die Verkürzung bei Umschulungsmaßnahmen
ist schon gesprochen worden. Ich glaube, darauf brauche
ich nicht noch einmal einzugehen. Ich denke, auch hier
wäre es sinnvoll, das auf einen bestimmten Zeitraum,
zum Beispiel auf fünf Jahre, zu begrenzen.
Der vierte Punkt: Bei der Fehlzeitenregelung, der
Dauer der Probezeit und der Regelung des Ausbildungsverhältnisses sind im Gesetzentwurf zum Teil ungünstigere Rahmenbedingungen als im Berufsbildungs- und
im Krankenpflegegesetz enthalten. Dies sollte im Interesse der Schülerinnen und Schüler - diese sind meiner
Erfahrung nach zwischen 18 und 50 Jahre alt, es sind also Erwachsene - nochmals überprüft werden. Ich denke,
hier kann man noch bessere Regelungen finden. In der
Anhörung werden wir sicher noch darauf eingehen.
Der fünfte Punkt: Bei der Finanzierung der Ausbildung sind die Kosten für die Ausbildungsstätten mit
Betriebs- und Verwaltungsaufwand wie bisher von den
Ländern aufzubringen. Über die Finanzierung der Ausbildungsvergütungen ist bereits gesprochen worden. Die
Bundesregierung hat einen anderen Vorschlag gemacht
als der Bundesrat. Ich denke, es sollte eine möglichst
einfache und gerechte Finanzierung gefunden werden.
Das Umlageverfahren - das wissen wir alle - ist eigentlich die gerechteste Lösung, und zwar deswegen, weil es
alle Institutionen einbezieht und mehr Ausbildungsplätze schafft, indem es die Betriebe, die nicht ausbilden,
zur Finanzierung heranzieht und damit Anreize zur Ausbildung schafft.
Der sechste Punkt: In § 29 des vorliegenden Gesetzentwurfs wird ausdrücklich betont, daß das Berufsbildungsgesetz für die Berufe in der Altenpflege und in der
Altenpflegehilfe keine Anwendung findet. Dem Vorschlag des Bundesrates, die in Hamburg durchgeführte
Regelung der Ausbildung nach dem BBiG bis zum
31. Juli 2006 zu belassen, hat die Bundesregierung zugestimmt.
Ich möchte für die SPD-Fraktion und die Mitglieder
im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
sagen, daß wir bei allen Beratungen betont haben, daß
die Standards des Berufsbildungsgesetzes auch für die
Pflegeberufe Maßstab sein müssen. Das gilt insbesondere für den Status von Auszubildenden, für die Ausbildungs- und Rahmenpläne und für die Qualifikation der
Lehr- und Fachkräfte für die theoretische und praktische
Ausbildung.
({4})
Qualität erfordert Qualifikation, dieser Satz gilt für
die Pflegekräfte ebenso wie für die Lehrkräfte und die
Ausbilderinnen und Ausbilder.
Langfristig ist natürlich die integrierte Ausbildung
sinnvoll. Ich kürze diesen Punkt jetzt einfach ab, weil er
schon mehrfach erwähnt worden ist. Ich freue mich, daß
auch die F.D.P.-Fraktion diese Art der Ausbildung für
sinnvoll hält. Ich glaube wirklich, daß wir gemeinsam
eine gute Lösung erzielen können.
„Älter werden ist die einzige Chance, länger zu leben.“ Dies wurde mir im KDA, Kuratorium Deutsche
Altershilfe, einmal gesagt. Nutzen wir diese Chance und
bereiten wir uns und andere auf das Älterwerden vor!
Die Pflegebedürftigen erwarten von uns qualifizierte
und würdige Pflege. Sie erwarten Respekt vor ihrer Person und Biographie. Sie sind dankbar für Zuwendung
und menschliche Wärme. Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte in den Altenpflegeschulen und die
Pflegekräfte in den Institutionen erwarten von uns hohe
Qualitätsstandards für Ausbildung und Arbeit in der
Pflege.
({5})
Wenn wir dies Schritt für Schritt verwirklichen, dann
kann Altenpflege ein schöner und anspruchsvoller Beruf
sein, in dem Frauen und Männer kompetent und
menschlich den letzten Lebensabschnitt von Menschen
begleiten, die diese Hilfe brauchen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Walter Link, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf Grund der
demographischen Entwicklung müssen wir in den
nächsten Jahren mit einer verstärkten Nachfrage nach
qualifiziertem Pflegepersonal in der Altenpflege rechnen. So sind zum Beispiel heute in der Bundesrepublik
Deutschland 21 Prozent der Menschen über 60 Jahre alt.
Im Jahr 2030 werden es 30 Prozent, im Jahr 2040 fast 40
Prozent sein. Nun wissen wir, daß die meisten Menschen auch im hochbetagten Alter alleine und gut zurechtkommen und leben. Dennoch wird es für einen Teil
der Menschen von großer Wichtigkeit sein, Hilfen zu
haben.
Wir müssen nach heutigem Kenntnisstand davon ausgehen, daß die Zahl der Pflegebedürftigen von jetzt
1,6 Millionen auf 2,5 Millionen bis 2,8 Millionen im
Jahre 2040 steigen wird. Wir haben in einem Zwischenfazit der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ auch deutlich gemacht, daß eine Konzentration der
Pflegebedürftigkeit auf die hochbetagten Menschen wie könnte es anders sein - sowohl die Familien als
auch das Altenpflegepersonal besonders fordern wird.
Wir können und sollten nicht verschweigen, daß zwischen dem 60. und dem 90. Lebensjahr das Risiko von
Demenzerkrankungen steigt. Bereits heute leiden
800 000 Menschen in unserem Lande an einer Form der
Demenz. Nach Hochrechnungen könnten es bis zum
Jahr 2010 auf Grund der kontinuierlich steigenden Lebenserwartung 1,7 Millionen Menschen sein. Hier gibt
es Grenzen bei der Pflege durch Angehörige in der
Familie. Wir brauchen qualifiziertes Pflegepersonal, soziale Netzwerke und Dienste, die flexibel den privaten
mit dem professionellen Sektor verbinden.
Diese Zahlen und Fakten zeigen deutlich: Dem Beruf
der Altenpflegerin und des Altenpflegers kommt eine
immer größere Bedeutung zu. Aufgabe der Altenpflegerinnen und Altenpfleger ist es, älteren Menschen zu helfen, die körperliche, geistige und seelische Gesundheit
zu fördern, zu erhalten oder auch wiederzuerlangen.
Sorge bereitet uns, daß ein Drittel aller Altenpflegerinnen und Altenpfleger die Aufgabe des Berufs bereits
am Ende ihrer Ausbildung plant. 35 Prozent von ihnen
begründen den frühen Ausstieg mit psychischer und
physischer Überbelastung im Beruf. Die Altenpflegerinnen und Altenpfleger fühlen sich in ihrer Ausbildung
nicht genügend auf praktische Tätigkeitsanforderungen
und Krisenbewältigung vorbereitet. Besonders fordern
sie, daß Altersheilkunde und Alterspsychiatrie in ihrer
Ausbildung eine größere Rolle spielen müssen. Hier
wird sehr deutlich, daß die Ausbildung eine gesunde Mischung von Praxis und Theorie sein muß.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
hat zum Ziel, die Ausbildung, Prüfung und staatliche
Anerkennung von Altenpflegerinnen und Altenpflegern
bundeseinheitlich zu regeln. Dieses Anliegen ist kein
neues. Seit 1989 hat es immer wieder Bestrebungen in
diese Richtung gegeben. Aber es hat bis heute immer
wieder von seiten der verschiedensten Bundesländer
Widerstand gegen eine solche bundeseinheitliche Regelung gegeben. Wir müssen uns in der Tat fragen, ob
die Begründung im Gesetzentwurf für eine Bundeskompetenz wirklich ausreichend ist. Die Bundesregierung
ordnet die Tätigkeit in der Altenpflege in den Bereich
der Heilberufe ein. Sie begründet dies nach Artikel 74
Abs. 1 Nr. 19 des Grundgesetzes damit, daß die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen Gegenstand
der konkurrierenden Gesetzgebung sei. Hierzu gibt es
widersprüchliche Äußerungen aus den Fraktionen des
Deutschen Bundestages und aus den Ländern. Es sind
nicht nur die Bayern oder die CSU
({0})
- ich freue mich im übrigen darüber, daß die CSU bei
uns so stark ist -,
({1})
sondern mittlerweile fünf Länder, die, wenn Sie den Gesetzentwurf der Bundesregierung und die Anfragen und
Äußerungen des Bundesrates dazu lesen, mittlerweile
100 Änderungen zu diesem Gesetz beantragt haben.
({2})
- Frau Kollegin Lörcher, das muß einen doch nachdenklich machen. Wenn Sie die Bundeseinheitlichkeit
erreichen wollen, dann würde ich an Ihrer Stelle mehr
werben, auch bei den anderen.
({3})
Die Frage ist: Ist die Altenpflege nicht vielmehr
überwiegend eine sozialpflegerische Betreuung, Beratung, Unterstützung, helfende Begleitung und Versorgung unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger?
Die Altenpflegerinnen und Altenpfleger heilen nicht in
erster Linie Krankheiten und entlassen den gesunden
Menschen aus der Pflege. Nein, sie helfen den älteren
Menschen, sie pflegen und betreuen sie.
({4})
- Die Übereinstimmung mit Ihnen ist mir fast peinlich.
Damit ist eigentlich klar: Die Altenpflege ist ein sozialpflegerischer Beruf, für den die Kompetenz des
Bundes nicht durch die genannten Artikel unseres
Grundgesetzes abgedeckt ist.
Immer mehr Bundesländer - ich sage an dieser Stelle
noch einmal: nicht nur Bayern - haben Zweifel im Hinblick darauf angemeldet, daß der Bund sich in ihre Angelegenheiten einmischt. Wir nehmen jedenfalls die
Kritik sehr ernst, wenn auch die Bundesratsbank heute
morgen schlecht besetzt ist, und werden dies in die Diskussion der nächsten Wochen und Monate einbringen.
Heute ist ja erst die erste Lesung. Wir kommen noch zu
Anhörungen und Fachgesprächen zusammen. Vielleicht
einigen wir uns ja noch.
Diese Länder fragen: Müssen wir denn alles immer
zentral regeln?
({5})
Für die betroffenen Berufsangehörigen ist vor allem
wichtig, daß die in einem Bundesland absolvierte Ausbildung in den anderen Ländern anerkannt wird.
({6})
Um dies sicherzustellen, haben die Kultusministerkonferenz sowie die Arbeits- und Sozialministerkonferenz
1984/85 eine entsprechende Rahmenvereinbarung abgeschlossen. Es findet ja die gegenseitige Anerkennung
statt. Im übrigen haben sie sich gesagt, wir befinden uns
in einer Experimentierphase. Diese dauert bis 2001 an.
Darauf hat man sich geeinigt.
Wir, die CDU/CSU, haben uns immer für klare Abgrenzungen der Zuständigkeiten und der Verantwortlichkeiten zwischen Kommunen, Ländern, Bund und
auch Europa eingesetzt.
Es wird immer wieder argumentiert, man brauche das
Altenpflegegesetz, weil ein Mangel an gut ausgebildeten
Altenpflegerinnen und Altenpflegern besteht. Es ist
nicht zu bezweifeln - das habe ich eingangs gesagt -,
daß hier eine große Welle auf uns zukommen wird. Fakt
ist aber auch, daß wir von 1995 auf 1996 trotz der mangelnden Bundeszuständigkeit 28 000 Vollzeitkräfte in
der Pflege neu hinzubekommen haben.
Wenn wir den Altenpflegerinnen und Altenpflegern
bei ihrer schweren sozialpflegerischen Tätigkeit helfen
wollen, so müssen die Bundesländer ihre überwiegend
schulrechtlichen Ausbildungsregelungen auf die Erfordernisse der Praxis einstellen. Das fordere ich jedenfalls
für meine Fraktion nachdrücklich.
Ich fasse zusammen: Heute ist die erste Lesung des
Gesetzentwurfes über die Berufe in der Altenpflege. Wir
sehen den Diskussionsbedarf der Länder und werden in
den Beratungen des Ausschusses und gegebenenfalls in
einer Anhörung mit Fachleuten die Kritikpunkte diskutieren.
Heute bleibt mir noch zu sagen, daß trotz der fehlenden Bundeskompetenz, weshalb Ihrer Ansicht nach alles
so schwierig ist, zigtausende Altenpflegerinnen und
Altenpfleger sowie -helferinnen und -helfer einen sehr
schweren, aber auch wunderbaren Dienst an unseren
alten Menschen tun. Dafür danken wir ihnen von Herzen.
({7})
Damit wäre ich bei der Äußerung, Frau Staatssekretärin, die Sie gegenüber Norbert Blüm gemacht haben: mit
Herz und ruhiger Hand.
({8})
Ich würde es so formulieren, wie es in einem evangelischen Gesangbuch heißt: mit Herz und Mund und Händen, so sind Norbert Blüm und wir Christlich-Soziale
aus der Gewerkschaftsbewegung nun mal. Damit haben
wir in diesem Jahrhundert hervorragende Arbeit geleistet.
({9})
Ich bin sicher: Das werden wir - ganz modern - auch im
nächsten Jahrhundert tun.
({10})
Walter Link ({11})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1578 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ({0})
- Drucksache 14/1211 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau und Wohnungswesen
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSUFraktion bringt heute die Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ein. Lassen Sie mich zu Beginn etwas zu den Rahmenbedingungen sagen, unter denen wir dieses Gesetz sehen. Es steht im Zusammenhang
mit der Lösung der Probleme der Arbeitslosigkeit. Ich
stelle hier noch einmal fest: Die Arbeitslosigkeit ist das
größte soziale Problem, die größte soziale Ungerechtigkeit. Es bleibt die größte Aufgabe, hier alles zu tun, um
Hilfe zu schaffen.
({0})
Neuerdings hat man ein bißchen den Eindruck, daß
auch bei der Regierungskoalition nicht mehr ganz klar
ist, was Priorität hat und daß die Frage der Verschuldung, die gebraucht wird, um das Einsparen zu begründen, den obersten Stellenwert bekommen hat. Es
ist sicherlich richtig, sparsame Haushaltsführung ist
notwendig. Gerade auch im Zusammenhang mit der
Arbeitslosigkeit ist sie eine Hilfe. Arbeitslose in Arbeit
zu bringen bedeutet für den einzelnen, daß er freier
ist, für sich selber zu sorgen. Wenn er in Arbeit ist, bedeutet das für den Staat bzw. für die Bundesanstalt für
Arbeit weniger Ausgaben und mehr Einnahmen. Das
geht also alles zusammen; es ist ein Beitrag zur Konsolidierung.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - das wissen
wir alle inzwischen - ist schwierig. Es gibt kein Patentrezept. Es gibt kein Schräubchen, an dem man einfach
dreht, und schon ist das Problem gelöst. Es ist notwendig, ein Bündel von Maßnahmen in Gang zu setzen. Dabei gilt es erstens, so viele Arbeitsplätze wie möglich im
ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, und zweitens, Brücken
in den ersten Arbeitsmarkt zu verwenden und Arbeitsmarktmaßnahmen nur dort als Ausnahme vorzusehen,
wo sie Hilfestellung leisten können. Diese Reihenfolge
ist für uns wichtig.
Bundeskanzler Schröder hat die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur Meßlatte seines eigenen Überlebens
gemacht.
({1})
- Doch, das ist so. Das können Sie in der Regierungserklärung nachlesen. Vielleicht wollen Sie das nicht
mehr wahrhaben, aber er hat es gesagt. Er wird daran
gemessen werden.
({2})
Die wirklich vorhandene Reduzierung der Arbeitslosigkeit um 400 000 ist im letzten Jahr passiert, also
noch unter der Regierung Helmut Kohl, unter einer
CDU/CSU-geführten Regierung.
({3})
- Nein, es sind in der Tat - das können Sie doch in allen
Statistiken nachlesen - im letzten Jahr 400 000 Arbeitslose weniger geworden. Diese Reduzierung trägt durch.
Jetzt kann man feststellen - ich werde hier keine Rede
halten, in der ich das nicht deutlich sage -: Seit März
steigt die Arbeitslosigkeit unter Bundeskanzler Schröder
Monat für Monat saisonbereinigt an. Auch das können
Sie nachlesen. Bisher ist die Meßlatte von Schröder
nicht erreicht worden.
({4})
Meine Damen und Herren, es kann auch nicht darum
gehen, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf die Frage zu reduzieren, wie man neue Berechnungsmodelle
erstellen kann, um möglicherweise statistisch zu einer
Bereinigung des Problems zu kommen.
({5})
Wenn das gemacht wird, müssen wir darüber reden,
welche Auswirkungen das auf bisherige Zahlen hat.
Reine Statistik werden wir nicht hinnehmen; es ist
Wählertäuschung, wenn man dafür sorgt, daß die Arbeitslosigkeit statistisch zurückgeht, wenn aber ansonsten auf dem Arbeitsmarkt nichts passiert. Das muß man
deutlich festhalten.
Ich will ein weiteres festhalten - auch das werde ich
in jeder Rede, die ich hier halten werde, sagen -: Der
Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat verdeutlicht,
daß wir allein in den nächsten drei Jahren aus demographischen Gründen einen Rückgang der Arbeitslosigkeit
um 600 000 haben werden - Jahr für Jahr 200 000 -,
nämlich einfach deswegen, weil weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten, als ältere Menschen
herausgehen werden. Auch dies ist eine Zahl, die man
im Kopf haben muß, damit nicht hinterher irgendwer
sagt, Schröder habe die Arbeitslosigkeit um 600 000
verringert. Diese Verringerung ergibt sich rein aus demographischen Gründen; ich will das hier festhalten,
weil wir das irgendwann in der Diskussion mit Ihnen
möglicherweise brauchen.
({6})
- Genau das will ich jetzt tun.
Wenn wir nicht abwarten wollen, wenn wir uns nicht
darauf beschränken wollen, Statistiken zu bereinigen,
dann müssen wir handeln. Unser Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes tut dies.
Schon bisher ist Arbeitnehmerüberlassung ein unverzichtbarer Bestandteil des Arbeitsmarktes. Sie leistet
Hilfestellung, indem unter der Aufsicht der Dienststellen
der Bundesanstalt für Arbeit im Rahmen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Chancen auf dem Arbeitsmarkt geboten werden. Es gibt Abbau von Arbeitslosigkeit durch Personaleinstellungen bei Zeitarbeitsunternehmen. Im Juni 1997 gab es bereits rund 160 000 Leiharbeitnehmer. Ich nenne Ihnen die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit für den Stichtag 31. Dezember
1998: Da waren es 202 000 Beschäftigte bei Zeitarbeitsunternehmen; im Vorjahr waren es 167 000. Alle Statistiken, die es gibt, und alle Angaben der Verleihunternehmen selber zeigen deutlich, daß es eine steigende
Tendenz gibt. Also müssen wir Interesse daran haben,
auch in den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung mehr
Flexibilität hineinzubekommen.
({7})
Die Leiharbeitnehmer sind überwiegend jüngere
Männer, die im gewerblichen Bereich tätig sind. Die
Expansion bei der Leiharbeit findet zur Zeit hauptsächlich über den verstärkten Einsatz von gering qualifiziertem Personal statt. Wir müssen einige Beschränkungen
aus dem Gesetz entfernen, um die Leiharbeit auch für
andere Problemgruppen interessant zu machen.
Was wollen wir also verändern? Wir wollen zunächst
die zulässige Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers an denselben Entleiher - sie ist
bisher auf zwölf Monate beschränkt - auf 36 Monate
erweitern.
({8})
- Ja, ich weiß, daß Sie eher für Beschränkungen und
Kontrolle sind. Aber ich bin dafür, hier mehr Freiheit
und mehr Möglichkeiten zu schaffen, damit Arbeitslose
auch in diesem Bereich die Chance erhalten, Arbeit zu
bekommen. Das ist wichtiger, als im Gesetz Beschränkungen durchzusetzen.
({9})
Warum sind wir für diese Ausweitung? Sie wird gerade Arbeitslosen mit höherer Qualifikation, etwa Ingenieuren oder Programmierern, in diesem Bereich Hilfestellung bieten, weil für diese Kräfte hauptsächlich längerfristige Verträge gefordert werden. Sie kann auch
helfen, die Zeitspanne des Erziehungsurlaubs - das sind
drei Jahre - zu überbrücken. Auch hier wird es neue
Möglichkeiten geben. Wir sollten diesen Weg gehen und
diesen Gruppen das eröffnen.
Der zweite Punkt, bei dem wir eine Veränderung
durchsetzen wollen, betrifft das Synchronisationsverbot, das wir streichen wollen. Bisher verhält es sich bei
einem Arbeitslosen, der von einer Verleihfirma übernommen wird und der dann an einen Entleiher weitergegeben wird, so, daß die Zeit, die er bei dem Zeitarbeitsunternehmen ist, nicht mit der Zeit identisch sein darf, in
der das Leihunternehmen ihn an einen Arbeitgeber weitergibt. Dies führt dazu, daß viele Arbeitslose nicht vermittelt werden können, weil in diesem Bereich die
Nachfrage befristet ist und es nicht längerfristig gemacht
wird. Die Erfahrung zeigt, daß sich für jemanden, der in
einem Zeitarbeitsverhältnis ist, automatisch eine Anschlußarbeit ergibt. Das wird bisher durch das Gesetz
blockiert. Hier sollten wir mehr Flexibilität einführen
und sollten die starren Regeln lockern; auch das wird
Arbeitslosen helfen.
({10})
Weiterhin wollen wir die Beschränkung in bezug auf
befristete Arbeitsverträge abschaffen. Für einige besonders anspruchsvolle Arbeitsplätze sehen Zeitarbeitsunternehmen bisher die Möglichkeit vor, daß sie nur ein
einziges Mal befristet vergeben werden. Wegen des bisher geltenden Rechts zur Befristung können Zeitarbeitsunternehmen viele geeignete Arbeitsuchende nicht einstellen. Auch hier soll mehr Flexibilität her, die hilft,
Arbeitslose in Arbeit zu bringen.
Ebenso sollte eine Streichung der gesetzlichen Wiedereinstellungssperre von drei Monaten vorgesehen
werden, weil wir mehr Möglichkeiten und mehr Flexibilität erwarten können, wenn wir allen Beteiligten mehr
Freiräume geben. Dann können die Entscheidungen der
Betroffenen zu dem Ergebnis führen, daß Menschen, ob
sie gering oder hoch qualifiziert sind, ob sie für eine
kürzere oder längere Zeit arbeiten wollen, Arbeit finden,
daß also mehr Arbeitslose in Arbeit gebracht werden
können. Das ist nicht nur ein Beitrag für diese Menschen, sondern auch für den Staat, der auch an dieser
Stelle zum Sparen aufgefordert ist. Ich sage es noch
einmal: Dadurch, daß Menschen in Arbeit gebracht werden, werden Kosten bei der Bundesanstalt für Arbeit,
beim Staat gespart. Zeitgleich wird so für mehr Einnahmen gesorgt.
Ich bitte Sie, die Beratung in den Ausschüssen wohlwollend anzugehen. Wir können uns hier noch ein
Stückchen bewegen, weil mehr Flexibilität möglich ist.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Ich
wünsche uns allen eine gute Beratung.
({11})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben von Herrn Meckelburg wieder viel
gehört, aber wenig zum Antrag. Es waren viele Allgemeinplätze; er sagte wenig zu dem, was uns alle berühren müßte: In dieser Republik sind in der Tat zu viele
Menschen arbeitslos.
Nach der Statistik sind zur Zeit 4,1 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Bei diesen 4,1 Millionen
Arbeitslosen handelt es sich überwiegend um die Erbschaft, die Sie uns nach konservativ-wirtschaftsliberaler
Politik hinterlassen haben.
({0})
Nun stellt die an dieser Politik hauptbeteiligte Fraktion
einen Antrag zur Änderung der Arbeitnehmerüberlassung, um so die Arbeitslosigkeit abzubauen.
Für dieses Ziel haben wir Sozialdemokraten viel
Sympathie; das ist unbestritten; denn für die SPDBundestagsfraktion ist es das wichtigste politische Ziel,
die Arbeitslosigkeit in unserem Lande abzubauen.
({1})
Deshalb sehen wir in diesem Zusammenhang auch die
Möglichkeiten, die die Arbeitnehmerüberlassung bietet.
Zeitarbeit kann Perspektiven eröffnen, zum Beispiel
wenn Auftragsspitzen kurzfristig Mehrarbeit notwendig
machen.
({2})
Dabei darf die Zeitarbeit nicht gegen die Stammbelegschaft ausgespielt werden. Sie muß vielmehr ergänzend
wirken.
({3})
Zeitarbeit darf nicht in Konkurrenz zur Stammbelegschaft treten. Deshalb dürfen Stammbelegschaften nicht
abgebaut und durch Leiharbeitnehmer ersetzt werden.
Mehr Beschäftigung kann zum Beispiel durch den
Abbau der Mehrarbeit mittels neu eingestellter Zeitarbeitnehmer entstehen. Arbeitnehmerüberlassung so
angewandt schafft Vertrauen. Das ist seriös. Zirka
2 Milliarden Überstunden werden jährlich geleistet. Eine
Reduzierung um 50 Prozent könnte ungefähr 400 000
neue Arbeitsplätze bringen. Zeitarbeit bedeutet Arbeit
auf Zeit, eben vorübergehende Arbeit.
({4})
Schon die Eigenbezeichnung der Verleiher deutet auf
die Beschränkung ihrer Arbeitsmarktfunktion hin: Zeitarbeitsbranche, Arbeit auf Zeit.
Im Unterschied dazu sind die Arbeitsverhältnisse der
Stammbelegschaft unbefristet. Für die Beseitigung der
Massenarbeitslosigkeit sind uns viele wirksame Mittel
recht. Da gibt es keinen Königsweg. Die Chancen der
Arbeitnehmerüberlassung zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit würden wir gerne dort ergreifen, wo sie
hilft, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Darauf sollten
wir uns konzentrieren.
({5})
Allerdings haben weite Teile der Öffentlichkeit keine
hohe Meinung von Zeitarbeit. Sie hat bei den Beschäftigten und oft auch bei den Entleihern einen anrüchigen
Ruf. Es ist kein Geheimnis, daß die Personalreservequote in Unternehmen oft zu Lasten der Stammbelegschaft reduziert wird. Stammbelegschaft raus, Leiharbeiter rein - das ist nicht die erwünschte Lösung und
hilft nicht, die Arbeitslosigkeit abzubauen.
In den Betrieben entstehen genau vor diesem Hintergrund Konflikte zwischen der Unternehmensleitung und
den Betriebsräten. Davon sind über 200 000 Leiharbeiter und über 8 000 Verleiher betroffen. Darüber beklagen sich Unternehmen ebenso wie Beschäftigte und
Betriebsräte zu Recht. Da müssen wir etwas ändern.
Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen die Vorbehalte
gegen die Arbeitnehmerüberlassung beseitigen, insbesondere dort, wo ihre Anwendung zu mehr Beschäftigung führt. An dieser Stelle muß die Arbeitnehmerüberlassung in der Diskussion raus aus der Schmuddelecke.
Wir müssen soziale und rechtliche Strukturen verbessern, allein um den Mißbrauch von Zeitarbeitsverhältnissen zu Lasten der Stammbelegschaft zu verhindern.
Dazu können wir das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
nicht isoliert betrachten; vielmehr müssen wir es im
Gesamtzusammenhang sehen. Wir müssen zum Beispiel
verstärkt darüber nachdenken, ob wir in diesem Zusammenhang nicht auch das Betriebsverfassungsgesetz
verändern müssen.
({6})
Ich könnte mir eine Regelung gut vorstellen, durch
die Zeitarbeitnehmer, die länger bei einem Entleiher
tätig waren, bei Neueinstellungen bevorzugt eingestellt
werden und zu deren Durchsetzung der Betriebsrat erweiterte Rechte bekommt.
({7})
Auch könnte man Leiharbeitnehmern eine Rechtsstellung geben, die eine stärkere Vertretung durch den Betriebsrat des Entleihers ermöglicht. Oder man könnte
die Entwicklung von humanem Kapital auch für Leiharbeiter bewerkstelligen, damit sie in Fragen der Weiterbildung, der Qualifizierung, des Arbeitsschutzes und des
Gesundheitsschutzes nicht allein gelassen werden.
({8})
Diese Beispiele machen deutlich, daß wir über
Veränderungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes
gründlicher und im Zusammenhang nachdenken müssen. Nach Ihren Vorstellungen würden weitere Schutzrechte für Leiharbeitnehmer nur abgebaut werden. Allerdings ist der bisherige Zeitrahmen von zwölf Monaten,
wie Sie sicherlich wissen, in aller Regel völlig ausreichend, wenn wir Zeitarbeit als Sprungbrett ins unbefristete Arbeitsverhältnis, ins unbefristete Erwerbsleben,
in sogenannte Normalarbeitsverhältnisse verstehen. Die
Ausdehnung auf 36 Monate kann zu einer Vernichtung
von Stammarbeitsplätzen führen. Auch deshalb wollen
wir Arbeitnehmerüberlassungen nicht zu unsozialer
Konkurrenz zwischen Normal- und Leiharbeitsverhältnissen erweitern.
Sie haben in den letzten 16 Jahren Schutzvorschriften abgebaut, ohne damit mehr Beschäftigung zu
bekommen. Sie haben 16 Jahre etwas vorgelebt, was
arbeitsmarktpolitisch nicht erfolgreich war.
({9})
Herr Meckelburg, heute sagen Sie, unsere Politik bestehe nur in Sparen. Wir müssen sparen, weil durch Ihre
Politik die öffentlichen Kassen, auch die Sozialkassen,
derart angeknackst und quasi leer sind, daß wir nicht auf
Beitragssteigerungen, sondern auf Beitragssenkungen in
den Sozialversicherungen bauen. Damit das geschehen
kann, müssen wir die Arbeitslosigkeit wirksam reduzieren.
({10})
Wir wollen mit Arbeitnehmerüberlassungen zusätzliche Beschäftigungschancen ergreifen. CDU und CSU
wollen mit ihrem Gesetzentwurf die Beschränkung der
Dauer des Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeitnehmern und Verleihern auf die Dauer der erstmaligen
Überlassung an einen Entleiher grundsätzlich aufheben.
Dies bedeutet wiederholte Befristung von Arbeitsverhältnissen. Letztendlich bedeutet dies Arbeit auf Abruf.
Tagelöhnerarbeit ist eines Sozialstaats unwürdig. Arbeit
nach Gutsherrenart - den brauche ich heute, und den
brauche ich morgen - ist eine Politik, die wir nicht mittragen können.
({11})
Mit einer solchen Politik trägt der Verleiher fast kein
unternehmerisches Risiko mehr, weil dieses Risiko auf
die Sozialversicherung übertragen werden würde, und
zwar zu Lasten der Versichertengemeinschaft. Dies
können wir so nicht hinnehmen. Wir müssen den Menschen Sicherheit bieten, sowohl den Leiharbeitnehmern
als auch den Verleihern.
Mit Ihrem Gesetzentwurf haben Sie sich wieder einmal zum Erfüllungsgehilfen der Arbeitgeberverbände
gemacht. Die Kernpunkte Ihres Entwurfs haben Sie deren Verbandsforderungen fast wortwörtlich entnommen.
Das haben wir Sozialdemokraten zwar oft vermutet.
Aber daß Sie noch immer vortäuschen, Sie betrieben im
Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland Politik, ist schon ziemlich unverschämt.
({12})
Nach gängigen Vorstellungen der Logik vom sozialen
Ausgleich müßte die Gesetzgebung nun allein nach den
Vorstellungen der Gewerkschaften erfolgen. Wir Sozialdemokraten werden diesen Verlockungen allerdings
nicht nachgeben. Wir Sozialdemokraten werden uns als
Partei der sozialen Gerechtigkeit zusammen mit unserem Koalitionspartner sowohl mit den Gewerkschaften
als auch mit den Arbeitgeberverbänden für eine ausgewogene Lösung der Probleme der Arbeitnehmerüberlassung einsetzen. Wir dürfen die Menschen in unserer
Republik mit gesetzlichen Schnellschüssen nicht weiter
verunsichern.
Der Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU würde
sich ganz schnell als Rohrkrepierer in Sachen Abbau der
Arbeitslosigkeit erweisen, wenn wir ihn mittragen und
verabschieden würden. Durch Ihre Vorstellungen werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegenteil:
Durch Ihre Vorstellungen werden Stammarbeitsplätze
vernichtet. Sie entlasten damit die Arbeitslosenversicherung nicht, Sie belasten sie zusätzlich.
({13})
Deshalb setzen wir für Arbeitnehmerüberlassungen
feste soziale Standards fest und knüpfen sie an Bedingungen: Sie müssen der Förderung von Beschäftigung
dienen und quasi ein Sprungbrett in Normalarbeitsverhältnisse darstellen. Das hat im übrigen auch Ihr
Parteimitglied, der Christdemokrat Bernhard Jagoda, vor
kurzem in einem interessanten Aufsatz zur Zeitarbeit
noch einmal ganz deutlich gemacht. Er sagte: Etwa
30 Prozent der Zeitarbeitsverhältnisse werden nach vier
Monaten in Normalarbeitsverhältnisse überführt. Längere Beschäftigungszeiten, als sie im Zeitarbeitsbereich
heute in der Regel üblich sind, sind nicht notwendig.
Dafür gibt es überhaupt keinen Anlaß; das macht keinen
Sinn und würde den Wettbewerb zwischen Normalarbeitsverhältnissen und Leiharbeitsverhältnissen nur ausdehnen. Das wäre eines Sozialstaates unwürdig.
Die arbeitsrechtliche Stellung von Leiharbeitsverhältnissen zu den Normalarbeitsverhältnissen muß weiter
verbessert werden. Insbesondere denke ich dabei an den
betriebsverfassungsrechtlichen Rahmen, an die Zuständigkeit des Betriebsrates und auch an die Möglichkeit
des Betriebsrates, Zeitarbeitsverhältnisse in Normalarbeitsverhältnisse des ersten Arbeitsmarktes umzuwandeln. Natürlich hilft die Wiederherrichtung des Synchronisationsverbotes und der Ausschluß von Befristung. Im Rahmen von Zeitarbeit ist Befristung kein
wirksames Mittel, um mehr Beschäftigung zu erreichen.
Ich habe dazu umfangreich Stellung bezogen. Insbesondere ist es wichtig, daß die Qualifizierung von Leiharbeitnehmern in Zeitarbeitsverhältnissen nicht auf der
Strecke bleibt. Erfolg in der Arbeitsmarktpolitik werden
wir nur haben, wenn wir Qualifizierungsmaßnahmen für
diesen Personenkreis ermöglichen und fördern.
In Ihrem Gesetzentwurf finden wir an keiner Stelle
ein Konzept, das sich schlüssig mit diesen Zielen verbinden läßt. Deshalb lehnen wir ihn ab. Ein solcher
Gesetzentwurf, der nicht der Beschäftigung dient, muß
verschwinden. Wir wollen Beschäftigung fördern, Arbeitsplätze schaffen und Lösungsansätze mit beiden Sozialpartnern prüfen. Dieser Weg, den wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eingeschlagen haben,
ist ausgewogen. Wir werden ihn konsequent weitergehen, bis er Erfolg zeigt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Für die F.D.P.Fraktion spricht nun Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir sollten es uns
zur guten Gewohnheit machen, zu Beginn jeder Debatte,
die sich mit arbeitsmarktpolitischen Fragen befaßt, einen
Blick auf die Schröder-Uhr der „Wirtschaftswoche“
zu werfen. Diese Schröder-Uhr, die die Entwicklung der
Arbeitslosigkeit seit dem Amtsantritt des Herrn Bundeskanzlers dokumentiert, zeigt mit Stand dieser Woche ein
Plus - ich muß das leider betonen - von 58 300 Arbeitslosen bei einem gleichzeitigen Rückgang der Zahl
der Erwerbstätigen um 367 000.
({0})
Das sind, Herr Brandner, in der Tat eindrucksvolle
Zahlen. Sie zeigen, daß Sie entgegen Ihren Ankündigungen unfähig sind, eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen.
({1})
Ebenso eindrucksvoll - dabei handelt es sich allerdings um eine positive Entwicklung - ist die Bilanz der
Zeitarbeitsbranche. Von Dezember 1997 bis Dezember
1998 stieg die Zahl der Zeitarbeitsbetriebe von 4 036 auf
4 581 an, also um rund 13 Prozent. Im gleichen Zeitraum beschäftigten diese Betriebe 20,9 Prozent mehr
Mitarbeiter - Kollege Meckelburg hat die Zahl schon
genannt -: Es waren im Dezember 1998 202 000 gegenüber 167 000 im Vergleichsmonat Dezember 1997.
({2})
- Das sind neue Arbeitsplätze.
[Klaus Brandner [SPD]: Zu Lasten der ande-
ren!)
- Nein, Herr Brandner, Sie müssen da Ihre ideologischen Scheuklappen einmal ablegen.
({3})
Ich denke, daß diese Branche bewiesen hat, daß die
Eröffnung der Möglichkeit des flexiblen Einsatzes von
Arbeitnehmern Arbeitsplätze in beträchtlichem Umfang
schaffen kann. Ich erinnere daran - soviel Zeit sollte
sein, Herr Meckelburg; das sollten wir immer tun -, daß
in den Zeitraum, für den ich eben die Zahlen genannt
habe, die letzte Arbeitnehmerüberlassungsgesetzreform
gefallen ist. Damals hat die alte Bundesregierung die
höchstzulässige Überlassungsdauer eines Zeitarbeitnehmers von neun auf zwölf Monate verlängert. Die damalige Opposition war seinerzeit dagegen. Hätten Sie sich
damals durchgesetzt, Herr Brandner, wäre die dynamische Entwicklung dieser Branche nicht möglich gewesen, und wir müßten heute 34 695 Arbeitslose mehr bei
der Schröder-Uhr berücksichtigen.
({4})
64,9 Prozent der Zeitarbeitnehmer, Herr Thönnes,
waren vorher ohne Beschäftigung. 10 Prozent von ihnen
hatten vor ihrer Tätigkeit bei einem Zeitarbeitsunternehmen noch nie Arbeit. Das sind Zahlen, die uns alle
hier aufhorchen lassen.
Weil Sie so skeptisch gucken, Herr Brandner und
Herr Thönnes, empfehle ich Ihnen einen Blick über den
Tellerrand nach Holland. In den Niederlanden ist die
Zeitarbeit weit verbreitet. Die großen, auch in Deutschland bekannten Zeitarbeitsunternehmen kommen in vielen Fällen von dort. Bei unseren holländischen Nachbarn
kommt man ins Arbeitsamt hinein und hat auf der einen
Seite den Schalter der Arbeitsvermittlung, auf der anderen gleich mehrere Schalter von Zeitarbeitsunternehmen.
Die Kunden - die Arbeitslosen versteht man dort als
Kunden - reicht man sich gegenseitig so zu, wie es für
die Kunden, die Arbeitslosen, selbst am besten ist.
({5})
Davon können wir lernen. In Holland hat man begriffen,
daß die beste Methode zur Wiedereingliederung von
Arbeitslosen in das Erwerbsleben - gerade Langzeitarbeitlose haben hier ja erhebliche Probleme - das „Training on the job“ ist.
({6})
- Ja, gerne.
In der Bundesrepublik leisten die Zeitarbeitsfirmen
die Integration von 150 000 Arbeitnehmern pro Jahr.
Diese Menschen werden ohne staatliche Förderpro-
gramme und ohne in Bündnissen für Arbeit ausgearbei-
tete Beschäftigungsinitiativen in den ersten Arbeitsmarkt
zurückgeführt. Das kostet keinen einzigen Steuerpfen-
nig. Darüber müßte der Bundesfinanzminister, Herr
Eichel, vor Begeisterung sprühen.
[Klaus Brandner [SPD]: Dazu steht im Antrag
nichts, Herr Kolb)
Die holländischen Erfahrungen zeigen, daß die Beschäftigungsentwicklung einen dynamischen, positiven
Verlauf nimmt, wenn man den Arbeitsmarkt von künstWolfgang Meckelburg
lich angelegten Fesseln befreit. Angesichts dessen empfand ich es schon als enttäuschend, was Sie hier gesagt
haben. Ihren Worten und zwischen den Zeilen war ständig „Regulierung, Regulierung, Regulierung“ zu entnehmen. Mit diesen Methoden werden Sie die Situation
am Arbeitsmarkt nicht nachhaltig verbessern können.
({7})
Herr Kollege Kolb,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
Ja, bitte.
Herr Kolb, Sie stellten gerade fest, daß wir den Arbeitsmarkt von Fesseln befreien
müßten. Ist Ihnen bekannt, daß in den Niederlanden bei
den Leiharbeitnehmern regelmäßig tarifvertragliche
Bedingungen herrschen, daß also die Grundlage des
Arbeitsverhältnisses die Anwendung des jeweiligen für
den Betrieb zuständigen Tarifvertrages ist,
({0})
so daß hier eine „Fessel“ vorhanden ist, die Sie im Kern
beseitigen wollen?
Nein, ich verstehe einen Tarifvertrag nicht als Fessel. Wenn Sie den Antrag
der CDU/CSU aufmerksam gelesen haben, werden Sie
festgestellt haben, daß dies sehr wohl in dem Antrag
enthalten ist. Zum anderen gibt es mittlerweile in dieser
Branche auch in Deutschland erste Tarifverträge. Das
sehe ich als durchaus positiv an. Ich bin nicht gegen tarifvertragliche Regelungen, sondern ich bin dagegen,
daß der Gesetzgeber alles und jedes zu regulieren versucht.
({0})
Dabei will ich durchaus konzedieren, Herr Brandner,
daß ich nicht gegen jede Regelung bin. Unter den Zeitarbeitsfirmen gibt es - das sagt der Bundesverband Zeitarbeit selbst - schwarze Schafe, die auf kurzfristige Profiterzielung zu Lasten ihrer Beschäftigten aus sind. Das
darf selbstverständlich nicht sein. Daher ist die ordnende Hand des Staates in Form des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes bis zu einem gewissen Punkt sinnvoll.
Meines Erachtens sind wir aber an einem Punkt angekommen, an dem eine Überregulierung besteht, die zu
beseitigen ist. Angesichts der Erfahrungen mit gelokkerten Bestimmungen im Bereich der Zeitarbeit insbesondere in den Niederlanden müssen wir uns fragen, ob
wir hier nicht zu weitergehenden Veränderungen kommen wollen.
Deswegen - das sage ich für meine Fraktion - begrüßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf der CDU/CSU.
Er geht in die richtige Richtung. Damit werden noch
nicht die gleichen Zustände wie in Holland erreicht. Es
werden aber gegenüber der jetzigen Situation weitreichende Verbesserungen erzielt, ohne daß man großzügige Freiräume für schwarze Schafe schafft. Es ist - das
sage ich anerkennend - ein gut durchdachter Gesetzentwurf; er könnte durchaus auch von uns stammen.
({1})
Mit der Verlängerung der maximalen Verweildauer
des Leiharbeitnehmers bei einem Entleiher auf drei Jahre werden einige Vorteile erzielt. Insofern verändert das
die Situation gegenüber dem bisherigen Zustand entscheidend; denn Hochqualifizierte werden jetzt erstmals
für die Zeitarbeitsfirmen interessant werden. Wir wissen, daß wir in einigen Bereichen eine sehr hohe Akademikerarbeitslosigkeit haben, die man ebenfalls mit
Hilfe von Zeitarbeit reduzieren kann.
Auch den Denkansatz, daß Mutterschaftsurlaubsvertretungen nicht mehr auf mehrere Zeitarbeiter verteilt
werden müssen, finde ich sehr positiv. Die Lockerungen
beim Verbot der Synchronisation versprechen überdies
die Beschäftigung weiterer Gruppen von Arbeitnehmern. Es besteht dann die Möglichkeit, daß Menschen
von Zeitarbeitsfirmen eingestellt werden, auch wenn
noch ungewiß ist, ob für diese Arbeitnehmer eventuell
ein Folgeauftrag zu akquirieren ist.
Fazit: Nutzen wir die Chance, und lassen wir in diesem Bereich ein bißchen mehr Flexibilität zu. Die Erfahrungen in anderen Ländern und die Zahlen bei uns sprechen dafür, daß wir einigen hunderttausend Bürgern eine
reale Arbeitsplatzperspektive und damit vielen Familien
Hoffnung auf ein Ende der Arbeitslosigkeit geben können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
({0})
- Herr Meckelburg, wir trinken nicht nur aus einem
Glas, sondern wir haben auch etwas anderes gemein: Wir haben im letzten Jahr sehr viel gelernt, Sie
in der Opposition und wir in der Regierung. Ich habe
festgestellt: Ihnen jedenfalls hat die Opposition sehr
gutgetan,
({1})
denn Sie haben nach 16 Jahren Regierung, nach denen
Sie vier Millionen Arbeitslose hinterlassen haben, in einem Jahr endlich gelernt, daß das erste Ziel der Politik
in der Bundesrepublik Deutschland sein muß, diese Arbeitslosigkeit abzubauen. Ich begrüße, daß das auch bei
Ihnen endlich angekommen ist.
({2})
Sie haben, Herr Meckelburg, auch richtig gelernt, daß
dazu natürlich ein Bündel von arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen gehört. Ich bestätige Ihnen ebenfalls, daß
die Zeitarbeit bei den privaten, aber auch bei den gemeinnützigen Zeitarbeitsfirmen Element eines Bündels
für eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik sein kann.
Die Zeitarbeitsfirmen wurden anfänglich sehr angefeindet und zum Beispiel als moderne Sklavenhändler
verdächtigt.
({3})
Die Entwicklung hat gezeigt, daß sich diese umstrittenen Zeitarbeitsfirmen bewährt haben.
({4})
Es gibt auch weiterhin schwarze Schafe; das haben wir
sogar von Ihnen gehört, Herr Kolb. Aber es gibt auch
viele positive Beispiele, und darüber sollten wir ebenfalls sprechen.
Eines jedoch ist natürlich falsch, Herr Kolb: Wenn
Sie im Zusammenhang mit arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen die Niederlande erwähnen - andere erwähnen auch Dänemark -, dann unterstellen Sie, daß die positiven Arbeitsmarkteffekte ein Erfolg der Deregulierung sind. Richtig ist doch aber vielmehr, daß gerade
die Form von Arbeitsmarktpolitik in den Niederlanden
mit sehr starker Regulierung, und zwar in sozialpolitischem Sinne, zu tun hat,
({5})
zum Beispiel durch ein Mindestlohnniveau. Auch in
Dänemark gibt es sehr starke Regulierungen durch ein
sehr hohes Arbeitslosengeld.
Ich sage Ihnen deswegen: Wenn Sie in diesem Bereich über Deregulierung sprechen, dann müssen Sie
auch den Mut haben, über Regulierung zu sprechen,
denn das gehört zusammen.
({6})
Zeitarbeitsfirmen sind keine normalen Arbeitgeber;
das wissen auch Sie. Deswegen macht es aus vielen
Gründen keinen Sinn, sie gleichzustellen.
({7})
Sie arbeiten in einem Dreiecksverhältnis. Sie sind sozusagen der doppelte Arbeitgeber für die Beschäftigten.
Aber es ist auch so, daß die Form der flexiblen Arbeitsvermittlung, die eine Ergänzung der staatlichen Arbeitsvermittlung ist, dazu geführt hat, daß hinsichtlich
des Übergangs gerade von Langzeitarbeitslosen, auch
von gering qualifizierten Langzeitarbeitslosen, in den
ersten Arbeitsmarkt hohe Vermittlungsquoten zu verzeichnen sind. Das bedeutet schon, daß diese Firmen
eine Brückenfunktion für die Vermittlung in den ersten
Arbeitsmarkt haben.
Das ist auch der Grund, warum ein großer Anstieg
der Zahl der Arbeitskräfte, die in diesem Bereich arbeiten, erfolgt ist, eine Verdopplung in den letzten fünf Jahren. Das ist auch der Grund dafür, warum wir mittlerweile etwa 10 000 Firmen haben, die dieses betreiben.
Zeitarbeitsfirmen sind keine Konkurrenz zur Bundesanstalt für Arbeit, zur Arbeitsvermittlung, wie anfänglich befürchtet wurde, sondern eine Ergänzung. Man
sieht das insbesondere, wenn man das zentrale Problem
der Langzeitarbeitslosigkeit betrachtet. Es ist schon erstaunlich - die Zahlen sind schwierig zu deuten, weil sie
nicht ganz flächendeckend sind -, aber alle Zahlen, die
es dazu gibt, zeigen, daß dort der Vermittlungsgrad von
Langzeitarbeitslosen in vorübergehende Beschäftigung,
aber dann auch in Dauerbeschäftigung sehr hoch, signifikant hoch ist.
({8})
Ich denke, das liegt auch daran, daß die Zeitarbeitsfirmen so etwas wie eine Pufferfunktion übernehmen, eine
Art Barriere darstellen vor der Angst der Arbeitgeber,
Langzeitarbeitslose einzustellen.
Insofern ist dieses immer auch kritisch beäugte Testfeld für Arbeitgeber, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für eine Zeit sozusagen ausprobieren zu können
und nicht nur die Auftragsspitzen abzufangen, sondern
eben auch zu schauen, wie deren Qualifikation ist,
durchaus eine positive Möglichkeit im Sinne der Integration von Langzeitarbeitslosen.
({9})
Meine Damen und Herren, man muß das Problem
wirklich umfassend betrachten. Es sind flexible Formen
der Arbeitsvermittlung, aber zu dieser Bilanz gehört
auch noch etwas anderes.
Zu dieser Bilanz gehört auch, daß die Beschäftigten
in solchen Arbeitsverhältnissen in der Regel etwa 20 bis
30 Prozent geringere Bruttolöhne im Vergleich zu Arbeitnehmern erhalten, die vergleichbare Tätigkeiten ausüben. Dies, meine Damen und Herren, müssen wir auch
berücksichtigen, und genau dies ist auch der Grund,
warum eine Regulierung in diesem Bereich notwendig
ist und bleiben wird.
({10})
Zeitarbeitsfirmen vermitteln Arbeitskräfte, die einen
hohen Einsatz an Mobilität, an Flexibilität und an
Bereitschaft dokumentieren, auch dadurch, daß sie geringere Löhne in Kauf nehmen.
({11})
Das bedeutet aber auch, daß wir nicht hinnehmen können, daß diese hohe Mobilität ausgenutzt wird,
({12})
indem sie langfristig zu Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zweiter Klasse gemacht werden.
({13})
Wir können hier keinen Markt eröffnen, der diese
Arbeitnehmer auf lange Frist in ungeschützteren Arbeitsverhältnissen läßt. Deswegen ist Ihr Antrag, die
Verleihdauer auf drei Jahre auszudehnen, hochproblematisch, sozialpolitisch problematisch, aber auch beschäftigungspolitisch überhaupt nicht einsichtig, weil
natürlich ein Arbeitgeber nach einem Jahr längst erkennen kann, ob er diesen Beschäftigten in ein Langzeitarbeitsverhältnis übernehmen kann. Das bedeutet auch
für die Beschäftigten einfach eine Schlechterstellung,
die langfristig überhaupt nicht hinzunehmen ist.
Außerdem: Die Statistiken sprechen dafür, daß diese
Arbeitsverhältnisse in der Regel nur drei bis sechs
Monate dauern. Das heißt, Sie argumentieren hier mit
diesen Forderungen an der Realität vorbei.
Meine Damen und Herren, die Zeitarbeitsbranche ist
in Bewegung; das wissen wir. Es fehlt ihr immer noch
an Transparenz, aber es gibt Entwicklungen. Der Bundesverband der Zeitarbeitsfirmen wird immer größer.
({14})
Ich sagte es eingangs: Es gibt positive Entwicklungen,
zum Beispiel mit Tarifverträgen, wie sie in Hannover
zur EXPO mit der Firma Adecco abgeschlossen worden
sind.
({15})
Meine Damen und Herren, aber das heißt noch lange
nicht, daß es in irgendeiner Weise arbeitsmarktpolitischen Sinn macht, das Synchronisationsverbot aufzuheben, wie Sie es hier fordern. Ich habe den Eindruck,
Herr Meckelburg, Sie haben noch nicht einmal kapiert,
worum es dabei geht.
({16})
Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, das Synchronisationsverbot würde verhindern, daß Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Anschlußarbeitsverhältnis
bekommen. Gerade das Gegenteil ist doch der Fall. Dadurch, daß hier verhindert wird, daß eine Politik des
„hire and fire“ betrieben wird, und die Arbeitnehmer
weiterhin den Zeitarbeitsfirmen zur Verfügung stehen,
kümmern sich diese Firmen auch um die Weiterbeschäftigung. Das heißt, die Chance bzw. die Wahrscheinlichkeit, daß sie ein Anschlußarbeitsverhältnis bekommen, ist größer und über das vorgesehene Synchronisationsverbot stärker abzusichern als über jede andere
Regelung.
In Ihrem Gesetzentwurf findet sich darüber hinaus ein
völlig sachfremdes Argument zur Begründung der Aufhebung des Synchronisationsverbotes. Deswegen glaube
ich weiterhin, daß Sie nicht einmal kapiert haben, worüber Sie sprechen.
({17})
Da haben Sie geschrieben, das Synchronisationsverbot
und auch befristete Arbeitsverträge würden verhindern,
daß in den Unternehmen Arbeitnehmer, die in den Erziehungsurlaub gehen, durch einen einzigen Leiharbeiter
ersetzt werden, weil die Befristung der Arbeitsverträge
zu kurz sei. Das ist doch alles Humbug. Wer hindert
denn, wenn jemand in den Erziehungsurlaub geht, einen
Arbeitgeber daran, ein befristetes Arbeitsverhältnis abzuschließen? Kurz und krumm, Sie wollen hier letzten
Endes eine Regelung wieder einführen, die beschäftigungspolitisch keinen Sinn macht,
({18})
die das Risiko auf die Arbeitnehmer abwälzt und den
diesbezüglichen Firmen überhaupt kein unternehmerisches Risiko zugesteht. Das, denke ich, ist der falsche
Weg.
Gleichwohl wird an der Problematik der Synchronisation ein wichtiger arbeitsmarktpolitischer Problembereich aufgespießt. Dies umfaßt die Fragestellung: Was
passiert mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zwischen zwei Jobs? Der Arbeitsmarkt ist hochflexibel und
weist Bewegung auf, da die Menschen immer häufiger
zwischen Jobs wechseln müssen. Dies betrifft gerade
auch diejenigen, die bei Zeitarbeitsfirmen arbeiten.
Es wäre ein von Ihnen nach vorne gewandter Vorschlag gewesen, dieses Thema so aufzugreifen, wie das
beispielsweise die gemeinnützigen Zeitarbeitsfirmen
tun, nämlich einmal darüber nachzudenken, ob wir die
Synchronisation bei den Zeitarbeitsfirmen nicht mit einem Qualifikationsangebot an Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer verbinden können, beispielsweise über die
Bundesanstalt für Arbeit. Das heißt, daß wir das flexible
Instrument der Arbeitsvermittlung mit einer Qualifikation im Sinne einer zusätzlichen Unterstützung, auf den
ersten Arbeitsmarkt zu gelangen, verbinden.
Kollegin Dückert,
Kollegin Luft möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Sie haben die Chance, Ihre Redezeit, die Sie schon
deutlich überschritten haben, noch ein bißchen zu verlängern.
({0})
Ich danke Ihnen, Herr Präsident. - Bitte, Frau Luft.
Frau Kollegin Dückert, Sie
haben ein Hohelied auf die Zeitarbeit gesungen und betont, damit müßten Lohnabstriche in Kauf genommen
werden. Ich möchte Sie fragen, welchen Resonanzboden
diese Thesen wohl in den neuen Bundesländern finden
werden, wo heute die Masse der Arbeitsplätze in der
freien Wirtschaft nicht mehr tarifgebunden ist und wo es
- insbesondere in Thüringen - Stundenlöhne in Höhe
von 8 DM brutto gibt. Ich kann mir schlechterdings
nicht vorstellen, daß dies für die neuen Bundesländer ein
guter Weg ist. Dort herrscht eine Arbeitslosigkeit von
offiziell 17 Prozent. Das heißt, gerade den neuen Bundesländern müßten wir im Rahmen dieser Debatte eine
Perspektive anbieten.
Frau Luft, Sie sprechen einen wichtigen Bereich an. Ich
habe nicht dafür plädiert, daß wir, wie die CDU/CSU
das fordert, die Schranken so verändern, daß die Möglichkeit des Lohndumping eröffnet wird. Aus Diskussionen mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die
nur über Zeitarbeitsfirmen zu Beschäftigung gekommen
sind und keine andere Chance gehabt hatten, weiß ich,
daß die von mir dargestellte flexible Form der Arbeitsvermittlung weiter aufgegriffen werden muß.
Wir müssen von der sehr rückwärtsgewandten, ideologischen Diskussion wegkommen, die davon geprägt
ist, daß über die Bundesanstalt für Arbeit, das heißt über
staatliche Einrichtungen, eine Arbeitsvermittlung erfolgen sollte. Wir müssen verschiedene Elemente wählen
und müssen sie tarifvertraglich absichern; das habe ich
vorhin schon gesagt. Der Weg, den beispielsweise
Adecco bei der EXPO gegangen ist, ist einer, den man
sehr viel intensiver verfolgen sollte. Dieser bringt die
Beschäftigten in tarifvertraglich gebundene, mit Qualifikationsprogrammen versehene Arbeitsverhältnisse, die
ihnen den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt eröffnen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich weiß, ich muß jetzt
zum Schluß kommen.
Aber ganz schnell.
Wir werden diesen Weg weiterverfolgen, aber nicht im
sozialpolitischen Niemandsland enden.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun die
Kollegin Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, Zeitarbeit
bewirkt sicherlich viel. Ein Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit ist sie ganz bestimmt nicht. Schon während der Regierungszeit der CDU/CSU und F.D.P. hat
sich Deregulierung beschäftigungspolitisch in der Regel als Flop erwiesen. Insofern ist der Weg der Deregulierung genau der falsche Weg.
({0})
Nach meiner Auffassung gehört Leiharbeit immer
noch zu einem düsteren Kapitel des Arbeitsmarktes in
der Bundesrepublik. Wer die Leiharbeit heutzutage noch
ausweiten möchte, muß wissen, was dann passiert. Das
bedeutet noch mehr Sozialdumping, einen noch größeren Druck auf das Tarifgefüge und das Lohnniveau insgesamt sowie schließlich eine Entwicklung in den Betrieben mit olympiareifen Kernmannschaften und Randbelegschaften, die nach Belieben geheuert und gefeuert
werden können. Diese Entwicklung möchte die PDS
nicht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen Sie doch nur eines:
Den Zeitarbeitsfirmen wird es erleichtert, mit dem Verleih von Menschen Geld zu machen. Sie mögen dies
wollen. Wir wollen das einschränken.
({2})
Aus der Sicht der PDS gibt es überhaupt keinen
Grund, Leiharbeit zu fördern. Die Zeitarbeit boomt
nämlich schon unter den gegenwärtigen gesetzlichen
Bedingungen. Entsprechende Zahlen sind hier schon genannt worden. Es gibt mehrere tausend Zeitarbeitsfirmen. Im vergangenen Jahr waren mehr als eine halbe
Million Menschen bei Leiharbeitsfirmen beschäftigt. In
den letzten fünf Jahren hat in diesem Bereich eine Verdoppelung dieser Zahl stattgefunden. Das zeigt offensichtlich, daß die gegenwärtige Gesetzeslage eine wirkungsvolle Nutzung des Instruments der Arbeitnehmerüberlassung in keiner Weise behindert. Das Gegenteil ist der Fall.
({3})
Die Beantwortung der Frage, ob Zeitarbeit wirklich
ein Sprungbrett in einen festen Job darstellt, bleibt nach
wie vor im Bereich der Spekulation. Diesbezügliche
Zahlen gibt es nicht. Diese Vorstellung aber ist das
Hauptmotiv für viele Menschen, sich auf die miesen Bedingungen der Zeitarbeit einzulassen. Diesen Menschen
noch mehr Deregulierung zuzumuten, bedeutet für sie
leider überhaupt keine Alternative.
Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden heute zu
weit schlechteren Arbeitsbedingungen beschäftigt als ihre Kolleginnen und Kollegen, die feste Arbeitsverträge
haben. Ihr Einkommen liegt deutlich unter dem tarifvertraglicher Beschäftigung. Die Zahlung eines um 20 Prozent geringeren Einkommens - diese Zahl ist hier schon
genannt worden - ist für die meisten Zeitarbeitsfirmen
die Regel. Selbst in dem jetzt im Rahmen der EXPO
2000 abgeschlossenen Tarifvertrag liegen die Bruttostundenlöhne zwischen 13,50 DM und 26 DM. Das ist
wahrlich nicht üppig. Im Gegenteil: Hier findet eine
Festschreibung von Niedriglöhnen in diesem Bereich
statt.
({4})
Selbst der Geschäftsführer der Adecco gibt dies zu. Er
spricht von schwarzen Schafen unter den Zeitarbeitsfirmen, die heute immer noch Stundenlöhne von weniger
als 10 DM zahlen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Sie wollen diese Entwicklung befördern. Wir wollen,
daß das Sozialdumping in diesem Bereich endlich gestoppt wird. Wir wissen: Leiharbeit ist in der Bundesrepublik heute eine feste Größe. Aber gerade deshalb ist es
wichtig, daß nicht weniger, sondern mehr Sozialstandards in diesem Bereich durchgesetzt werden. Die Union aber will genau das Gegenteil. Das machen wir nicht
mit.
({5})
Mehr als die Hälfte der bei Leihfirmen Beschäftigten
haben ein tatsächliches Arbeitsverhältnis von einer Dauer zwischen einer Woche und drei Monaten. Zehn Prozent dieser Beschäftigten arbeiten weniger als eine Woche bei diesen Leihfirmen.
Stellen Sie von der CDU/CSU sich einmal vor, was
passieren würde, wenn Ihr Vorschlag, daß Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer nur für die Dauer ihrer
ersten Verleihung eingestellt werden können, angenommen würde. Das führt zu einem Heuern und Feuern
im Bereich der Leiharbeit ohne Ende. Auch das ist für
uns nicht hinnehmbar. Die Verlängerung der Verleihdauer auf drei Jahre hat zur Folge, daß Arbeitnehmer in
diesem Bereich noch länger unter Druck gesetzt werden
können, schlecht bezahlte, mit miesen Arbeitsbedingungen und unzureichendem Arbeitsschutz ausgestattete
Jobs akzeptieren zu müssen.
Sie sollten einmal in Ihren eigenen Bericht über die
Wirkungen von Arbeitnehmerüberlassungen schauen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU.
Darin haben Sie selber festgestellt:
Leiharbeitnehmer wagen nur selten, sicherheitswidrige Arbeitsbedingungen anzuzeigen, weil sie hoffen, bei einem Wohlverhalten einen Dauerarbeitsplatz zu erhalten.
Das ist genau die Realität. Diesen Druck sollten wir
nicht erhöhen.
({6})
- Nein, das ist nicht Ideologie, sondern einfach Realität,
lieber Herr Kollege Kolb.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Alles in allem
wird das Instrument der Leiharbeit schon heute viel zu
häufig mißbraucht, um tarifliche und soziale Standards
auszuhebeln. Das muß unbedingt anders werden. Darum
setzt sich die PDS dafür ein, daß mit einer Reform des
Betriebsverfassungsgesetzes auch Leiharbeiter zur
Belegschaft desjenigen Betriebes gezählt werden, an den
sie ausgeliehen werden, und daß sie zum Vertretungsbereich der Betriebsräte gehören. Das halten wir für den
richtigen Weg.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Die allerletzte.
Ja. - Daß sich
Unternehmer mit dem Verleih von Menschen eine gol-
dene Nase verdienen, zeigt der erste erfolgreiche Bör-
sengang einer Leiharbeitsfirma. Die Beschäftigten sol-
chen Firmen schutzlos zu überlassen liegt nicht im In-
teresse der PDS.
[Beifall bei der PDS - Ulrich Heinrich
[F.D.P.]: Wer soll denn das Geld verdienen,
das Sie umverteilen wollen?)
Das Wort hat nun
Kollege Franz Thönnes, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über dieses wichtige
Thema der Zeitarbeit in der Arbeitswelt sprechen, dann
müssen wir zunächst versuchen, uns gemeinsam darüber
im klaren zu sein, daß sich die Arbeitswelt vor dem
Hintergrund des internationalen Wettbewerbs, des technologischen Wandels und der kürzeren Phasen von Produktinnovationen in einem rasanten Tempo verändert.
Klarheit muß auch darüber herrschen, daß es den Job
fürs Leben nicht mehr gibt.
({0})
Alle haben sich auf diese Situation einzustellen und
müssen darauf ihre politischen Ziele ausrichten.
Wir müssen außerdem feststellen, daß sich bei den
Menschen die Ausdifferenzierung von Interessen weiterentwickelt, daß die Individualität weiter zunimmt und
daß neue Formen der Betriebs- und Unternehmensorganisation Platz greifen. Das heißt aber auch: Wenn man
eine vernünftige und seriöse Arbeitsmarktpolitik machen
will, dann darf man nicht nur einseitig Unternehmensinteressen im Auge haben, sondern man muß auch
an die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich eines guten sozialen Gefüges denken.
({1})
Es ist völlig richtig: Die Zeitarbeitsbranche hat in den
letzten Jahren eine enorme Entwicklung durchgemacht.
Es ist schon die Zahl von 220 000 Beschäftigten genannt
worden, die 1999 in dieser Branche gearbeitet haben.
Das heißt aber im Klartext - diese Zahl ist überhaupt
noch nicht genannt worden -, daß 360 000 Arbeitnehmer in diesem Bereich zirkulieren. Diese Tatsache unterstützt nicht unbedingt die Aussage, daß hier feste Arbeitsplätze entstehen. Es ist vielmehr ein Markt, der in
ständiger Bewegung ist.
({2})
Dies muß der Klarheit halber gesagt werden.
Man muß an dieser Stelle aber auch den Bericht der
alten Bundesregierung zur Kenntnis nehmen. In diesem
Bericht wird deutlich gesagt: Alle Erfahrungsberichte
zeigen: Diese Branche hat nur geringen Einfluß auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt. - Man sollte deswegen in der
Diskussion ein bißchen mehr für Klarheit und Wahrheit
sorgen und nicht gleich über Hunderttausende von Beschäftigten reden, die in der Zukunft dort arbeiten
werden. Die Branche selbst rechnet im Jahr 2 000 mit
250 000 Beschäftigten. Das wäre eine Steigerung von
30 000 und ist daher wert, daß man sich ernsthaft mit
diesem Thema auseinandersetzt.
Man sollte aber auch ein bißchen darauf schauen,
welche Qualifikationen sich hinter diesen Tätigkeiten
verbergen. In diesem Zusammenhang muß man feststellen: Es gibt 25 Prozent Hilfskräfte in diesem Bereich
gegenüber 0,9 Prozent Hilfskräfte in der Gesamtwirtschaft. Wer über Zeitarbeit spricht, der muß berücksichtigen - die Vorredner aus meiner Fraktion haben diesen
Punkt schon erwähnt -, daß Beschäftigung und Qualifizierungspotentiale zusammengehören. Diese Tatsache
blenden Sie aber leider völlig aus.
({3})
Lassen Sie uns nun darüber sprechen, welche Vorteile
die Unternehmen haben. Diese Vorteile will keiner geringschätzen. Es geht darum, unvorhergesehenen Arbeitsanfall leichter erledigen zu können, Urlaubsvertretungen zu besetzten und saisonale Spitzen abzudecken.
Man sollte aber auch zur Kenntnis nehmen, was der
Bundesverband für Zeitarbeit auf der Basis eines Gutachtens des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft
sagt: Die Inanspruchnahme von Leiharbeitnehmern ist
nur selten Bestandteil langfristig angelegter Personalpolitik. - Also erwecken Sie bitte nicht den Eindruck, als
würden dort langfristig organisierte neue Arbeitsplätze
entstehen.
({4})
Es geht darum, Spitzen aufzufangen und Engpässe zu
bewältigen. Dies sagt selbst der entsprechende Fachverband. Gehen Sie nicht über dessen Interpretationen hinaus!
Damit können auch Sie die Frage, ob die Arbeitslosigkeit dadurch in einem großen Maße reduziert werden
kann, nicht so einfach beantworten, weil keiner von uns
weiß - aber Vermutungen sprechen an vielen Stellen dafür -, ob nicht die Kernbelegschaft der Betriebe reduziert wird, ob nicht outgesourct wird, so daß die Beschäftigungspotentiale am Ende den Zeitarbeitsfirmen
zugute kommen. Deswegen bitte ich Sie, mit etwas mehr
Zurückhaltung und Glaubwürdigkeit über das Thema zu
reden. Sonst verrennen Sie sich beim Komplex der Arbeitslosigkeit.
({5})
Welche Position haben die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in diesem Gefüge? Zeitarbeit kann für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine große Chance sein, wieder in den Arbeitsmarkt hineinzukommen.
Sie erweitert den Horizont, weil man mehrere Arbeitstechniken, mehrere Arbeitsfelder kennenlernt. Die
Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig. 30 bis 50 Prozent
finden am Ende einen Job beim Entleiher, weil sie sich
dort eingegliedert haben. Und - auch diese Zahlen müssen wir zur Kenntnis nehmen -: Mehr als 60 Prozent der
Zeitarbeitnehmer waren vorher arbeitslos, 43 Prozent
sogar länger als ein Jahr.
({6})
Das heißt, Zeitarbeit kann zur Wiedereingliederung
beitragen.
Aber Sie müssen auch deutlich sagen: Wo Licht ist,
ist auch immer Schatten.
({7})
Reden wir nun ein bißchen über den Schatten, den Sie
auszusparen versuchen.
({8})
- Mein lieber Herr Kolb, daß Sie sich als Vertreter einer
Partei, die in der Vergangenheit immer auf Leihstimmen
der CDU/CSU angewiesen war, beim Thema Leiharbeit
mit Zurufen besonders hervortun, verstehe ich ja. Daß
Sie das mittlerweile aber, wie bei der Landtagswahl in
Thüringen, so weit treiben, daß Ihr Landesvorsitzender
Ihre Stimmen gleich der CDU überläßt, das allerdings
halte ich für ein Ding der Unmöglichkeit.
({9})
- Wenn Sie mit den Zwischenrufen sachlich bleiben, reden wir weiter über die Situation der Arbeitnehmer.
Diese Arbeitnehmer haben nicht, wie viele andere
Beschäftigte, die Möglichkeit, kollegiale Kontakte in
den Unternehmen aufzubauen. Das Betriebsgefüge ist in
sozialer Hinsicht für sie anders als für die anderen Arbeitnehmer. Das widerspricht im übrigen den modernen
Unternehmensphilosophien, die auf Corporate Identity
Wert legen.
Der Bericht der Bundesregierung besagt: Das Lohnniveau ist teilweise auf das Niveau von 1991 zurückgefallen. Die Bundesanstalt für Arbeit schreibt: Das Lohnniveau bei Leiharbeitnehmern, die zu gewerblichen
Hilfsarbeiten überlassen werden, ist nicht selten so weit
gesunken, daß Verleiher den Übergangspreis niedriger
gestalten können, als Entleiher für die Lohn- und Lohnnebenkosten ihrer Arbeitnehmer kalkulieren können.
Diese Ungleichgewichte müssen Sie doch einmal zur
Kenntnis nehmen. Man kann nicht auf das Schiff Leiharbeit springen und dabei vergessen, daß Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Ende unter Dumpinglöhnen leiden müssen.
({10})
- Nein, ich will überhaupt kein Totschlagargument bringen. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie wir diese
Bedingungen verbessern können und wie wir vermeiden
können, daß die nachgewiesenen Lohndefizite 10 bis 40
Prozent betragen. Das alles beruht auf Daten, die statistisch erfaßt sind. Sie wissen doch ganz genau, daß das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz genaue Berichte
vorschreibt. Es geht darum, dies zur Kenntnis zu nehmen.
({11})
Dann kommen Sie mit dem Argument von Tarifverträgen. Ja, wo gilt denn der Tarifvertrag? Wo haben
wir denn eine Situation wie in Holland? Von 1985 und
1989 gab es einen Tarifvertrag mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft. Der ist aufgekündigt, ist nicht
verlängert worden. Man findet heute drei, vier einzelbetriebliche Tarifverträge. Das heißt, den Schutz, den es in
anderen Ländern gibt, finden wir in Deutschland nicht.
Deswegen gilt es, den Dialog über die Frage, die Sie
diskutieren wollen, gemeinsam mit Gewerkschaften und
Arbeitgebern zu führen.
({12})
Ich kann den Kollegen Brandner nur unterstützen in
der Auffassung, daß wir uns auch über den Begriff des
Betriebes Gedanken machen müssen, daß wir uns über
die Einflußmöglichkeiten der Betriebsräte Gedanken
machen müssen, daß wir uns über die Benachteiligung
in bezug auf die Interessenvertretung Gedanken machen müssen, unter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zeitarbeitsunternehmen leiden, weil sie
schlichtweg nicht die gleichen Mitbestimmungs- und
Interessenvertretungsmöglichkeiten haben wie die anderen Arbeitnehmer.
({13})
Nun komme ich zu einem ganz brisanten Thema, das
mich bei der Lektüre sehr erstaunt hat. Im Bericht der
Bundesregierung steht: Leiharbeitnehmer werden öfter
zu Tätigkeiten herangezogen, bei denen hohe Schutzanforderungen zu beachten sind oder deren Ausführungen
bei der Stammbelegschaft unbeliebt sind. Leiharbeitnehmer sind erfahrungsgemäß wegen des häufiger
wechselnden Einsatzortes größeren Gefahren ausgesetzt
als andere Arbeitnehmer. Man stellt häufigere Verstöße
gegen den Arbeitnehmerschutz, häufigere Verstöße gegen Arbeitgeberpflichten zum Arbeitsschutz fest. Man
stellt ebenso fest, daß die Probleme des Arbeitsschutzes
für Leiharbeitnehmer in den letzten Jahren zugenommen
haben.
Diese Ausführungen stammen nicht von mir, sondern
vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit- und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit; daher ist
es hier an dieser Stelle unverdächtig. Das gleiche sagt
sogar der Bundesverband für Zeitarbeitsunternehmen,
der seine Aktivitäten für die Arbeitssicherheitspolitik in
den letzten Jahren verstärkt hat.
Es bleibt dennoch dabei: Jeder vierte Betrieb im Bereich der Zeitarbeitsunternehmen ist bei den jährlichen
Überprüfungen mit einem Bußgeldverfahren belegt
worden. Wir müssen uns doch darüber Gedanken machen, warum das so ist. Es geht hier nicht um einige
schwarze Schafe, sondern es geht um 25 Prozent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Ihren Gesetzentwurf reden, müssen wir uns seine Kernpunkte ansehen. Die Befristung haben wir schon einmal,
nämlich von neun auf zwölf Monate, verlängert. Auch
der Bericht der Bundesregierung hat über die vorherigen
Verlängerungen gesagt, daß sie nicht zu längeren Beschäftigungszeiträumen in diesem Bereich geführt haben. 11 Prozent der Arbeitsverhältnisse dauern weniger
als eine Woche. 57 Prozent dauern eine Woche bis drei
Monate, und 32 Prozent drei Monate und länger.
Eines kommt noch hinzu: Zweieinhalbmal pro Jahr
wird die durchschnittliche Beschäftigtenzahl im Verleihgewerbe umgeschlagen. Das ist siebenmal höher als
in der Gesamtwirtschaft.
({14})
Reden Sie bitte nicht über „diese festen Arbeitsplätze“.
Ich will als Argument akzeptieren, daß man sagt: Zeitarbeit kann ein Sprungbrett in Beschäftigung hinein sein,
und sie verhindert, daß man zu Hause sitzt und einem
die Decke auf den Kopf fällt. Man darf das aber nicht zu
hoch stilisieren und so tun, als ließe sich Arbeitslosigkeit
so in feste Arbeitsplätze umwandeln.
Wenn ich Ihren Gesetzentwurf bewerte, dann muß ich
feststellen, daß die Streichung des Verbots der wiederholten Befristung nicht zu einer wesentlich größeren Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu beschäftigen, führt. Im übrigen sage ich Ihnen: Sie
wissen ganz genau, daß am 31. Dezember die Frist
für die Befristung nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz ausläuft und die Entscheidung darüber,
wie wir mit Befristungen umgehen werden, neu ansteht.
Das muß doch im Gesamtzusammenhang diskutiert
werden.
Wenn man die Streichung der gesetzlichen Wiedereinstellungssperre und die Zulassung der befristeten
Arbeitsverhältnisse addiert, dann führt das unweigerlich dazu - „hire and fire“ und Kapovaz sind genannt
worden ({15})
- hören Sie doch zu; ich habe gesagt: sie sind genannt
worden -, daß ein anderes Beziehungsverhältnis zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer entsteht,
daß es nicht die soziale Verpflichtung des Arbeitgebers
gibt, den Arbeitnehmer bei nicht vorhandenen Aufträgen weiterzubeschäftigen, und dann kann es wirklich
dazu kommen, daß das Beschäftigungsrisiko einzig und
allein auf den Arbeitnehmer verlagert wird. Das werden
Sie mit uns nicht hinbekommen, das machen wir nicht
mit. Rechte und Pflichten sind von beiden Seiten zu
tragen.
({16})
Es ist schlitzohrig - das sage ich Ihnen -, den Begriff
des Tarifvertrags als sogenannte Schutzvoraussetzung
hineinzuschreiben, wissend, daß es ihn für diesen großen
Bereich überhaupt nicht gibt. Das darf man nicht machen, das ist Blendwerk. Man kann Sachen nicht einfach
herbeireden, die überhaupt nicht vorhanden sind. Wenn
Sie sie herausgelassen hätten, wäre es wenigstens ehrlich gewesen, so aber erwecken Sie den Eindruck, daß
auch noch ein Deckmantel darüber gelegt und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Schutz vorgegaukelt werden soll. Aber selbst wenn es so wäre, muß ich
Ihnen deutlich sagen: Sie wissen ganz genau - Sie,
Kollege Laumann, haben nach dem Experten gefragt -,
daß der Tarifvertrag nur für die Arbeitnehmer gilt, die
Arbeit haben, und nicht für die, die keine haben. Er hat
mit der Zahlung von Beiträgen in die Arbeitslosenversicherung, mit Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe
nichts zu tun. Deswegen trägt Ihr vorliegender Gesetzentwurf am Ende mit dazu bei, daß dieses Risiko nicht
nur den Arbeitnehmern, sondern der Gesamtheit der
Beitragszahler, also auch den Arbeitgebern, die ordentliche Arbeitsverhältnisse abgeschlossen haben, überlassen
wird. In diese Situation haben Sie uns mit Ihrer Politik
in den letzten 16 Jahren schon lange genug hineingeritten. Wir wollen keinen weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten, auch nicht der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.
({17})
Ich betone auch: Über den Kern Ihres Gesetzentwurfs
zu diskutieren lohnt sich. Aber er muß aufgepeppt und
mit Erfahrungsberichten verglichen werden. Sie wissen
ganz genau: 1996 gab es den letzten Erfahrungsbericht.
Die Bundesregierung gibt alle vier Jahre einen solchen
Bericht heraus. Im Jahr 2000 steht der nächste an. Wir
werden die Erfahrungen der Gewerkschaften und der
Zeitarbeitsunternehmen, die abgefragt werden, in die
Beratungen einbeziehen. Wir werden keine Schnellschüsse wie Sie machen. Wir werden gute handwerkliche Arbeit leisten,
({18})
wenn es um die Reform der Arbeitsförderung geht. Die
jetzt diskutierte Frage wird dann auch eine Rolle spielen.
Lassen Sie sich von unserer guten handwerklichen Arbeit überraschen! Wir werden keine Flickschusterei betreiben, wie Sie sie uns in der Arbeitsmarktpolitik hinterlassen haben.
({19})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Laumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte am heutigen
Morgen hat zumindest einen neuen Aspekt gebracht,
Herr Thönnes, nämlich daß Sie jetzt gute handwerkliche
Arbeit leisten wollen. Dies ist in der heutigen Diskussion um die Arbeits- und Sozialpolitik wirklich etwas
Neues,
({0})
wenn man bedenkt, daß sich die Gesetze zur Neuregelung der 630-DM-Jobs und zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit gerade nicht durch gute handwerkliche
Arbeit auszeichneten.
({1})
- Wenn man hier von handwerklicher Arbeit gesprochen
hätte, dann wäre dies eine Beleidigung für jeden Handwerker gewesen. - Deshalb finde ich es toll, wenn Sie
heute sagen, daß Sie zu einer soliden Gesetzgebungsarbeit zurückkehren wollen. Dies ist erst einmal etwas Positives und Neues.
({2})
Über den nächsten Punkt muß man eigentlich nachdenklich werden. Heute haben die Redner aller Fraktionen - wenn man von der PDS einmal absieht - darauf
hingewiesen, daß sich die Bedingungen der Leiharbeit
in Deutschland in den letzten zehn Jahren stark verändert haben. Auch ich habe vor zehn Jahren Leiharbeit als
eine Form der Arbeit betrachtet, der man nicht ganz
trauen könne. Auch ich habe viele Bedenken gehabt.
Damals waren im Bereich der Leiharbeit viele Firmen
tätig, die sich damit besser nicht beschäftigt hätten. Diese Firmen haben überhaupt keine moralischen Ansprüche an ihre Tätigkeit gestellt. Aber dies hat sich in den
letzten zehn Jahren maßgeblich verändert. Es gibt jetzt
sehr viele grundsolide Verleihfirmen.
Die großen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt
sind ja nicht zufällig entstanden; vielmehr sind sie entstanden, weil sie notwendig waren. Wenn Sie sich heute
in einem Betrieb, der im Anlagenbau tätig ist, umschauen, dann wird man Ihnen dort sagen, daß die Zeitspanne
zwischen Auftragseingang und Auftragserlediung immer
kürzer wird. Wenn wir nicht wollen, daß die dadurch
entstehende Mehrarbeit über Überstunden geleistet wird,
dann müssen wir es als etwas ganz Normales akzeptieren, daß Betriebe die Dienstleistungen einer Firma für
den Verleih von Zeitarbeitnehmern in Anspruch nehmen.
Wenn die Arbeit der Verleihfirmen mit Vorsicht zu
genießen ist, dann ist es richtig, neben dem normalen
Arbeitsrecht, das für jeden Arbeitgeber in Deutschland
gilt, auch zukünftig das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zu haben. Daran wollen auch wir von der
CDU/CSU nichts ändern. Aber wir meinen, daß auf
Grund der Entwicklung der Zeitarbeit in Deutschland
der Zeitpunkt gekommen ist, die Fesseln, die durch das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz angelegt worden sind damals sicherlich aus guten Gründen, weil es so viele
schwarze Schafe in dieser Branche gab -, ein bißchen zu
lösen.
({3})
Herr Kollege
Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Ja, gerne.
Kollege Laumann, Sie haben
gerade behauptet, daß die Leiharbeitsfirmen grundsolide
geworden seien.
({0})
Meinen Sie nicht, daß auch in solchen Betrieben gewerkschaftlichen Rechten Geltung verschafft werden
müßte und Betriebsräte zugelassen werden müßten?
Sind Sie nicht der Meinung, daß die Arbeitgeber auch
für diesen Bereich einen Tarifvertrag schließen müßten?
Würden Sie, auch wenn dies alles nicht vorhanden ist,
trotzdem sagen, daß diese Firmen grundsolide sind? Ich
sehe eine gewisse Schwierigkeit darin, hier eine Solidität zu akzeptieren, wenn bestehende Gesetze nicht eingehalten werden; denn im Betriebsverfassungsgesetz
heißt es ja, daß auch der Arbeitgeber den Betriebsrat
fördern und einsetzen soll.
Kollege Dreßen,
ein Betriebsrat ist etwas Vernünftiges und Gutes. Das
gehört zu einer Firma dazu.
({0})
Unternehmer, die die Bildung von Betriebsräten
verhindern, sind nicht gut beraten. Aber ich sage Ihnen
auch: Die Welt ist so, wie sie ist. Wir können nicht erwarten, daß die Unternehmer die Betriebsräte gründen.
Das müssen die Arbeitnehmer schon selbst machen. Dabei müssen die Gewerkschaften die Arbeitnehmer unterstützen; dafür sind sie da. Ich finde auch, es ist eine
schöne Aufgabe für jeden Gewerkschaftssekretär, sich in
diesem Bereich zu engagieren. Das ist vielleicht besser,
als immer nur Parteipolitik zu machen.
({1})
Es ist natürlich klar, daß die Bildung von Betriebsräten in Verleihfirmen, in denen die Menschen oft nur wenige Wochen oder Monate beschäftigt sind, viel schwerer handhabbar und zu organisieren ist, als wenn man
Stammbelegschaften hat. Ich meine, da muß auch die
Gewerkschaftsbewegung überlegen, wie man so etwas
machen kann. Das ist nicht nur die Aufgabe von Politik,
erst recht nicht die von Unternehmern. Ich meine, die
Arbeitnehmer sind heute so klug - sie sind gebildet und
haben Rückgrat -, daß sie es selbst durchsetzen können.
({2})
Jetzt wieder zurück zu dem eigentlichen Thema. Ich
war eben dabei, zu sagen, daß wir ein zusätzliches Arbeitsrecht in diesem Bereich brauchen. Aber wir als
CDU/CSU sind der Meinung, daß wir es wegen der
Entwicklung, die im Grunde niemand hier in Frage gestellt hat, verantworten können, dieses Recht zu lockern.
Man steht bei Schutzrechten - auch bei diesem
Schutzrecht - immer vor einer Abwägungsfrage. Das
Schutzrecht ist immer gut für diejenigen, die im System
sind. Als Politiker muß ich aber auch sehen: Wie schaffe
ich es, zu verhindern, daß andere, die gerne in dieses System hinein wollen - in diesem Fall, weil sie arbeitslos
sind -, auf Grund übertriebener Schutzfunktionen keine
Chance haben, hier einzusteigen?
Damit bin ich bei dem von Ihnen am meisten kritisierten Vorschlag, nämlich dem Vorschlag, das sogenannte Synchronisationsverbot aufzuheben. Ich habe
mir darüber Gedanken gemacht. Natürlich ist es ein Einschnitt, wenn Sie den Verleihfirmen sagen, sie müßten
nicht unbedingt eine anschließende Beschäftigung garantieren. Das ist eine wesentliche Veränderung. Wir
haben diesen Vorschlag aber deswegen gemacht, weil
wir glauben - auch auf Grund von Gesprächen, die wir
mit Zeitarbeitnehmern und mit Betrieben, die es so machen, geführt haben; wir haben über mehrere Tage auch
Gespräche in Holland geführt -, daß wir auf diese Weise
vor allem Menschen, die sehr lange arbeitslos sind und
die angesichts dessen, wie der Arbeitsmarkt heute funktioniert, kaum eine Chance haben, wieder einzusteigen,
die Möglichkeit geben, Arbeit zu finden. Deswegen haben wir uns bei dieser Abwägung so entschieden.
Ich meine, wir sollten über diese Frage auch so im
Ausschuß beraten. Vielleicht können wir dann Ihre Ideen doch so anreichern, daß Sie ein Jahr später unter Ihrem Briefkopf einen ähnlichen Gesetzentwurf einbringen, den Sie dann durchsetzen könnten.
Ein weiterer Punkt ist folgender: Zeitarbeit hat auch
etwas mit Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt zu
tun. 30 Prozent der Menschen, die bei Zeitarbeitsfirmen
beschäftigt sind, finden bei den Firmen, in die sie entliehen worden sind, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.
Das heißt, daß die Zeitarbeit, die den Staat keine Mark
kostet, eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt auf jeden
Fall genausogut, wenn nicht sogar besser schafft, als es
über die Arbeitsverwaltung mit ABM und anderen Maßnahmen gemacht wird.
({3})
Das sagen einem auch Menschen, die sehr lange arbeitslos waren. Sie sagen: Mein größtes Problem ist, daß
ich in keine Firma, in kein Büro hineinkomme, um einmal zu beweisen, daß ich arbeitswillig bin, daß ich
pünktlich bin und daß ich auch etwas leisten kann.
Menschen haben auf diesem Wege die Möglichkeit,
gerade dorthin zu kommen, wo eine gute Auftragslage
ist. Deswegen gibt es auch die guten Erfolge, daß 30
Prozent in den ersten Arbeitsmarkt gehen. Deswegen
werden wir eine Vorschrift im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nicht ändern: daß nämlich jede Verleihfirma
auf jeden Fall einen Arbeiter gehen lassen muß - und
zwar sofort -, wenn er ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gefunden hat. Das ist in diesem Bereich eine sinnvolle Schutzvorschrift. Deswegen sollten Sie überlegen,
ob wir das Synchronisationsverbot nicht doch abschaffen können.
Sie haben heute oft angesprochen, daß wir in diesem
Bereich tarifvertragliche Regelungen brauchen. Ja, wir
brauchen diese Regelungen, aber wie können wir sie
durchsetzen? Ich glaube, wir können sie durchsetzen,
wenn wir das Lösen von Fesseln, das uns durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ermöglicht wird, daran
binden, daß es in diesem Bereich Tarifverträge und Tarifrecht gibt. Dann werden nämlich die Betriebe, die die
Vorteile dieses Gesetzes nutzen wollen, ein großes Interesse daran haben, daß sie zu tarifvertraglichen Vereinbarungen für Entlohnung, Arbeitszeit und all diese
Dinge gelangen. Diejenigen, die das nicht tun, werden
dann die Vorteile dieses Gesetzes schlicht und ergreifend nicht nutzen können.
Ich glaube, daß wir gerade damit einen Anreiz schaffen werden, in diesem Bereich endlich zu tarifvertraglichen Regelungen zu kommen. Das ist auch sehr deutlich geworden, als wir mit einigen Kollegen aus der Arbeitsgruppe der CDU/CSU in Holland waren: Man kann
die Zeitarbeit nur dann verantwortungsbewußt ausweiten, wenn wir hier zu anderen, besseren tarifvertraglichen Regelungen kommen, so wie wir sie auch im ersten Arbeitsmarkt haben. Zeitarbeit darf keine Zone
sein, in der das Tarifrecht nicht gilt. Das ist auch in
Holland nicht so. Im übrigen glaube ich nicht, daß die
Zeitarbeit in Deutschland jemals eine so große Rolle
spielen wird wie in Holland. In Holland herrscht da eine
ganz andere Mentalität als bei uns; das muß man sehr
wohl sehen.
Ich bin auch der Meinung, Zeitarbeit muß nicht unbedingt reguläre Beschäftigung ersetzen. Mir ist reguläre
Beschäftigung in der Abwägung auf jeden Fall lieber
und sympathischer - aber darum geht es nicht. Es geht
darum, daß man die neue Entwicklung in der Arbeitswelt - von Auftragsvergabe bis -erledigung muß alles
schneller fertig werden; ich nenne hierzu auch das
Thema Überstunden - mit diesem Vehikel in den Griff
bekommen kann. Es hat auch gute Entwicklungen im
Bereich von Menschen, die langzeitarbeitslos sind, gegeben.
Das Beeindruckendste für mich ist, wie viele Langzeitarbeitslose in Holland über Zeitarbeit in eine reguläre Beschäftigung kommen. Das liegt auch daran, daß das
Stigma der Langzeitarbeitslosigkeit bei der Zeitarbeit
nicht vorhanden ist. Wenn ein Unternehmer fünf
Schweißer braucht und sie über eine Leihfirma holt,
schaut er sich deren Biographien - wann ist er zur
Schule gegangen, wie lange hat er eine Lehre gemacht,
wie hat er seine Gesellenprüfung bestanden - vorher gar
nicht an. Er hat Schweißer bestellt, und die müssen eine
bestimmte Schweißarbeit können. Wenn er sieht, daß einer dieser Arbeitnehmer anschließend eine gute
Schweißarbeit abliefert, und wenn er in seiner Firma auf
Dauer einen Schweißer mehr braucht und ihn auch ständig beschäftigen und bezahlen kann, dann stellt er ihn
ein. Ich glaube, das ist eine tolle Geschichte, wie sie sich
praktisch in der Arbeitswelt bei uns in Deutschland Tag
für Tag abspielt.
Ich möchte zum Schluß um eines bitten. Die heutige
Debatte hat auch gezeigt, daß man bei der Einschätzung
von Zeitarbeit hier im Hause - die PDS ausgenommen nicht weit auseinanderliegt. Wir sollten im Ausschuß für
Arbeit und Sozialordnung sehen, ob die Regelungen alle
so umsetzbar sind, wie wir sie vorgeschlagen haben. Ich
gebe auch zu, daß wir - wie immer im Leben - nicht der
Weisheit letzten Schluß gepachtet haben. Sie können
Änderungsanträge stellen. Ich finde, dann könnten wir
zu einer vernünftigen Beratung in diesem Bereich kommen. Wenn Sie am Ende Probleme damit haben, diesem
Antrag zuzustimmen, weil „CDU/CSU“ draufsteht, können wir daraus auch ein „Interfraktionell“ machen; dann
fällt es Ihnen leichter. Mir geht es nur darum, daß wir
die Möglichkeit nutzen sollten - es gibt ja nicht den
Königsweg aus der Arbeitslosigkeit -, eine Branche, der
wir vor zehn Jahren - zu Recht - durch Gesetze enge
Fesseln angelegt haben, die aber in vielen Bereichen
bewiesen hat, daß sie sich sehr positiv entwickelt hat,
Schritt für Schritt in das normale Arbeitsrecht zu entlassen. Das ist das, was ich mir wünsche.
Einen Satz noch zur PDS. Sie, Frau Knake-Werner,
haben eben gesagt, die Deregulierung habe in Deutschland in die Irre geführt.
({4})
Ich kann nur sagen: Ihre Partei hat viel mit einem Staat
zu tun, in dem alles reguliert war. Diese Regulierung
hatte bei Ihnen zum Stillstand geführt. Deswegen waren
Sie nicht einmal mehr in der Lage, in Ihrem Land eine
gute Sozialpolitik zu finanzieren. Denn auch das gehört
dazu: Wir können nur Sozialpolitik machen, wenn wir
den Arbeitsmarkt im Griff haben, wenn Geld verdient wird, wenn Steuern und Beiträge gezahlt werden dann können wir uns auch um die armen Leute kümmern.
Wenn Sie uns bei der Zeitarbeit unterstützen und die
Arbeitsämter deswegen weniger Arbeitslosengeld auszahlen müssen, haben Sie vielleicht für Herrn Eichel
auch einen Deckungsvorschlag, so daß Sie den Griff in
die Pflegekasse von 400 Millionen DM nicht machen
müssen.
Schönen Dank.
({5})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es, soweit ich das sehe, nicht.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Chancen der Gen- und Biotechnologie nicht
verspielen
- Drucksache 14/1316 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch gibt es
nicht; dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Herr Kollege Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! „Chancen der Genund Biotechnologie nicht verspielen“ - das ist der Titel
unseres Antrags. Lassen Sie mich in den wenigen Minuten, die ich zur Verfügung habe, ganz kurz begründen,
warum wir diesen Antrag gestellt haben.
Der Hintergrund ist die riesengroße Herausforderung
durch das Wachstum der Weltbevölkerung. In diesem
Monat überschreiten wir die Sechs-Milliarden-Grenze.
Überfluß an Nahrungsmitteln gibt es eigentlich nur in
den entwickelten Ländern, in Nordamerika, in Europa
und in einigen wenigen anderen Ländern. In allen anderen Ländern gibt es Hunger. Rund 800 Millionen Menschen der Weltbevölkerung leben in Hunger und sind
unzureichend ernährt. Zehn Millionen Menschen sterben
Jahr für Jahr an den Folgen von Nahrungsmangel. Jedes
Jahr verlieren wir 7 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche durch Ausdehnung der Wüsten, Überschwemmung, Wind- und Wassererosion, Versalzung
und Übernutzung.
Die Herausforderung lautet also, mit einer gleichbleibenden Fläche eine explosiv wachsende Bevölkerung
gesund und zu erschwinglichen Preisen zu ernähren.
({0})
Ohne die Biotechnologie und die Gentechnik werden
wir diese Herausforderung wohl nicht meistern können.
Das ist die eine Seite.
Die andere Seite hat mit folgendem zu tun: Die Welt
wartet nicht auf Deutschland und Europa. Vielmehr geht
der Fortschritt in anderen Teilen dieser Erde sehr viel
schneller vonstatten. Deshalb müssen wir auch die Frage
stellen: Wie sieht es denn mit den Arbeitsplätzen aus?
Können mit Hilfe der Gen- und Biotechnologie zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden? Man geht davon
aus, daß in Europa etwa 10 Prozent der Gesamtwirtschaft durch die Bio- und Gentechnik beeinflußt werden.
Diesem Bereich wird eine Wertschöpfung von 900 Milliarden DM vorausgesagt, und dabei wird es sich um
neun Millionen Arbeitsplätze handeln. In Deutschland
finden derzeit etwa 35 000 bis 40 000 Menschen in diesem Bereich Arbeit und Brot. Man geht in einer Studie
davon aus, daß es bis zum Jahr 2000 etwa zwischen
80 000 und 110 000 Menschen sein werden.
({1})
Der Verzicht auf die Bio- und Gentechnik würde bedeuten, daß man diese Arbeitsplätze der Konkurrenz auf
dem Weltmarkt überläßt.
Herr Kollege
Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Heinrich, Sie
haben eben Zahlen dahin gehend genannt, wie viele Arbeitsplätze in der Biotechnologie zu erwarten sind. Sie
haben vorher von der Landwirtschaft gesprochen. Sie
wissen genauso wie ich, daß sich die Biotechnologie
auch in der Medizin sehr auswirkt. Können Sie quantifizieren, wie sich die Biotechnologie in der Landwirtschaft auswirkt? Können Sie sagen, ob es in der Landwirtschaft, wenn man die Gesamtzahl der Arbeitsplätze
betrachtet, auf Grund der Umstellung der Methoden und
der Industrialisierung der Landwirtschaft nicht vielleicht
sogar weniger Arbeitsplätze geben wird?
Ich kann das nicht quantifizieren und auch keine genauen Zahlen angeben. Richtig ist natürlich, daß im Moment die große Zahl der Arbeitsplätze auf den Arzneimittelbereich entfällt. Dieser
Einsatz der Biotechnologie wird in unserer Gesellschaft
bemerkenswerterweise - dort hat er direkt Einfluß auf
unsere Gesundheit - akzeptiert. Dies gilt auch für den
Lebensmittelbereich, zum Beispiel für die Käseproduktion. Da redet doch kein Mensch von der Gentechnik,
und wir haben sie sozusagen jeden Tag auf dem Tisch.
Die Gefährdung der Arbeitsplätze ist weitaus größer,
wenn die Wettbewerbsfähigkeit verlorengegangen ist,
als wenn eine technische Entwicklung nicht vollzogen
wird.
({0})
Wir müssen uns darüber klar sein: 90 Prozent der deutschen Landwirte setzen ihre Produkte auf Märkten mit
internationaler Konkurrenz ab. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Bauern ist deshalb mit dafür entscheidend,
ob wir der Konkurrenz standhalten können.
Wir brauchen natürlich auch in Zukunft eine umweltverträgliche Produktion. Genau diese Anforderungen stellen wir an die Gentechnik. Sie soll nicht
nur den Herausforderungen der Ernährung der Bevölkerung gerecht werden, sondern auch auf einer für
Mensch und Umwelt verantwortbaren Umweltpolitik beruhen. Hier lassen wir überhaupt keinen Zweifel aufkommen.
({1})
Im Augenblick wird davon gesprochen, wir müßten
Monitoring durchführen. Ich bin sehr dafür. Voraussetzung für ein zuverlässiges Monitoring aber sind Freisetzungsversuche. Wie sieht die Situation in Europa aus? In
den USA wurden 10 000 Freisetzungsversuche durchgeführt, in Deutschland ganze 60 und in Frankreich 270.
Ähnliche Zahlen sind für Großbritannien, Belgien und
die Niederlande zu nennen. - Daran sieht man sehr
deutlich, an welcher Stelle wir hier stehen.
Ich frage Sie, ob wir nicht die in über 10 000 Freisetzungsversuchen in den USA - diese wurden wissenschaftlich durch Monitoring begleitet, also kontrolliert gewonnene Sicherheit auf uns übertragen können. Wenn
wir Freilandversuche machen, haben wir es hauptsächlich mit radikalen Gentechnikgegnern zu tun. Diese
verwüsten die Felder und verhindern die Erfahrungen,
die wir erst aus der Freisetzung erzielen, von vornherein.
Quer durch die Republik kann ich Ihnen Felder zeigen,
die verwüstet worden sind, und zwar von jenen, die die
Sicherheit grundsätzlich ideologisch diskutieren und auf
wissenschaftliche Ergebnisse überhaupt keine Reaktion
zeigen.
({2})
Ihre Redezeit
ist schon abgelaufen. Es besteht aber noch ein Wunsch
nach einer Zwischenfrage. Diese lasse ich noch zu,
wenn Sie nach der Beantwortung nicht in Ihrer Rede
fortfahren.
Ich möchte Sie fragen, wie Sie es beurteilen, daß zum Beispiel die Österreicher gentechnisch veränderten Mais nicht in ihrem
Land haben wollen, weil die österreichische Landwirtschaft Angst hat, daß sich sonst das Marketing für ihre
Produkte verschlechtern könnte. Österreich möchte damit werben, daß es gentechnikfrei ist, und verspricht
sich davon einen Beschäftigungseffekt und bessere Absatzchancen. Wieso sind Sie so sicher, daß die landwirtschaftlichen Produzenten in Deutschland nicht ähnlich
denken?
Dieser Frage stehe ich sehr
sympathisch gegenüber. Ich bin aber der Meinung, daß
man gegenüber dem Verbraucher offen sein muß. Dazu
gehört eine klare Deklarierung.
Wir brauchen eine Kennzeichnung, damit klar ist,
was gentechnisch verändert wurde und was nicht. Bereits heute hat jeder in Deutschland, in Österreich und in
jedem anderen europäischen Land die Möglichkeit, die
Produkte positiv zu deklarieren, das heißt, sie dergestalt
zu kennzeichnen, daß garantiert keine gentechnisch veränderten Bestandteile enthalten sind.
({0})
Diese Möglichkeit hat heute jeder.
({1})
- Ich gehe noch einen Schritt weiter, um diese Frage ordentlich zu beantworten. - Das generelle Verbot bringt
Sie und erst recht die Österreicher in allergrößte Bedrängnis; denn auf einem liberalisierten europäischen
Markt werden einzelne Verbote früher oder später unterlaufen. Ihre Einhaltung läßt sich nicht kontrollieren.
Wo würde man hinkommen, wenn man jeden Sack Mehl
kontrollieren würde? Es ist völlig ausgeschlossen, daß
wir uns in Europa wieder zu einem Flickenteppich entwickeln, der dadurch gekennzeichnet ist, daß jeder Nationalstaat seine eigenen Vorstellungen verwirklichen
will.
Ich plädiere deshalb nachdrücklich für eine europäische Zulassung und für ein mit unabhängigen Wissenschaftlern besetztes Gremium, das entsprechende Zulassungskriterien erarbeiten und begleiten soll, so daß wir
in Europa eine einheitliche Regelung haben. Wer den
Binnenmarkt ernst nimmt und wer vor allen Dingen den
Verbrauchern verspricht, daß durch nationale Maßnahmen tatsächlich etwas für den Verbraucherschutz bewirkt wird, der darf mit solchen Maßnahmen nicht
kommen.
Herr Kollege
Heinrich, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wer dies verspricht, der
muß eine einheitliche europäische Regelung anstreben.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Heino Wiese.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Heinrich, wir befassen uns heute mit dem F.D.P.-Antrag „Chancen der Gen- und Biotechnologie nicht verspielen“.
({0})
- Ich würde eher sagen: Was Sie uns mit diesem Antrag
zugemutet haben, ist reine Zeitverschwendung.
({1})
Dieser Antrag besteht aus einer Mischung von
Selbstverständlichkeiten und unbegründeten Behauptungen. Vielleicht stimmt ja doch das, was am letzten
Dienstag in der „FAZ“ zu lesen war:
({2})
... der Aktionismus der F.D.P. wirkt kopflos. Muß
sie solche Scheingefechte führen, um überhaupt
noch wahrgenommen zu werden?
({3})
Sie fordern Unterstützung für eine verantwortbare
Stärkung der Bio- und Gentechnik.
({4})
- Das tue ich ja. - Natürlich sind wir für eine Stärkung
der grünen Gentechnik, und die Bundesrepublik hat
sich vorgenommen, die verantwortbaren Potentiale der
Bio- und Gentechnologie systematisch weiterzuentwikkeln.
({5})
- Ich möchte keine Zwischenfrage von Herrn Abgeordneten Ronsöhr zulassen.
({6})
Herr Ronsöhr,
möchten Sie eine Zwischenfrage stellen oder nicht?
({0})
Das einzige, was
ich in der Gentechnologie fürchte, ist, daß es von dir
zwei geben könnte.
({0})
Ministerin Bulmahn hat unter anderem gerade das
Pflanzengenomprojekt GABI gestartet, um in dem wichtigen Bereich der mittelständischen Industrie ein Zeichen zu setzen und entsprechende Innovationen zu ermöglichen. 32 Millionen DM werden bis Ende 2000 von
der Bundesregierung für dieses Projekt zur Verfügung
gestellt.
Es gilt, was ich eben schon zu Herrn Ronsöhr gesagt
habe: Es gibt nicht nur Chancen, sondern auch Risiken
in der Gentechnologie. Deswegen sind Risikovorsorge
und Sicherheitsforschung von zentraler Bedeutung.
Denn es geht nicht nur um das, was technisch möglich
ist; vielmehr geht es auch darum, vernünftige und nutzbringende Anwendungsmöglichkeiten zu entwickeln
und unvertretbare Risiken zu vermeiden.
Deswegen wurde 1996 beim Büro zur Technikfolgenabschätzung der Bericht „Gentechnik, Züchtung und
Biodiversität“ in Auftrag gegeben. Das TAB-Büro hat in
anderthalb Jahren Arbeit den derzeitigen Wissensstand
zusammengetragen. Wirkungsketten, von denen man
beim Einsatz neuer Pflanzensorten in der Landwirtschaft
ausgeht, wurden beschrieben, und die Erhaltungsmöglichkeiten für die biologische Vielfalt wurde dargestellt
und diskutiert.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Nein, auch von
Herrn Heinrich nicht.
Die wissenschaftliche Qualität der Ergebnisse dieses
Berichtes ist bei uns im Ausschuß ausdrücklich bestätigt
worden. Aus diesem Bericht haben wir unseren Antrag
entwickelt. Heute behaupten Sie, er gehe in die falsche
Richtung. Als wir diesen Antrag im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten diskutierten, haben
Sie nichts dergleichen geäußert. Im Gegenteil, es bestand Konsens darüber.
Mit Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der
F.D.P., reißen Sie Gräben auf, die wir doch längst wieder zugeschüttet hatten. Sie stellen sich als Gentechnikbefürworter und uns als Verweigerer dar. Diese Strategie ist lächerlich und bringt uns in der Sache überhaupt
nicht weiter.
({0})
Eine Technologie an sich ist doch weder gut noch
schlecht. Sie muß danach beurteilt werden, welche Problemlösungen sie ermöglicht und welche Risiken sie in
sich birgt. Hier lenkend und gestaltend einzugreifen ist
unsere gemeinsame Aufgabe.
Ich möchte noch kurz auf das so häufig bemühte Argument, Gentechnik sichert die Welternährung, eingehen. Ich brauche Ihnen von der F.D.P. doch sicherlich
nicht zu erklären, daß Unternehmen auf dem freien
Markt in erster Linie Gewinn erwirtschaften wollen und
müssen. Die sogenannten Entwicklungsländer sind aber
kein entsprechend gewinnversprechender Markt. Deshalb wird an den dort üblichen Nahrungsmittelpflanzen
kaum geforscht, dafür aber um so mehr an denen, die
auf dem europäischen und amerikanischen Markt abgesetzt werden.
({1})
Ich zitiere aus dem Kompendium „Gentechnik und
Lebensmittel“, an dem die Firmen Agrevo, Monsanto
und Novartis, die alle unabhängig von der SPD sind,
mitgewirkt haben:
Die meisten der bisher hergestellten gentechnisch
veränderten Kulturpflanzen sind für die Landwirtschaft der kapitalstarken industrialisierten Länder
bestimmt. Landwirte in den Entwicklungsländern
können sich dieses Saatgut nicht leisten.
So steht es in dem Bericht.
Die Hungerproblematik in den Entwicklungsländern
ist in erster Linie auch ein Verteilungsproblem. Da kann
die Gentechnologie nur begrenzt helfen. Wir können
nicht darauf hoffen, daß uns die Unternehmen die Verantwortung dafür abnehmen. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, daß natürlich alle Entwicklungen, die
geeignet sind, den Welthunger zu bekämpfen, von uns
unterstützt werden.
Meine Damen und Herren, wir haben die systematische Weiterentwicklung der verantwortbaren Potentiale
der Bio- und Gentechnologie auch in unserer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Es hätte also dieses
F.D.P.-Antrages gar nicht bedurft.
({2})
- Das ist doch gar nicht wahr. Wir haben unter anderem
das Programm, von dem ich gerade geredet habe, aufgelegt.
({3})
- Das ist doch gar nicht wahr.
({4})
In Brüssel hat die Bundesregierung in Verhandlungen
versucht, die Zulassungsbestimmungen zu vereinfachen
und die Instanzenwege zu verkürzen. Dieses Vorhaben
ist zugegebenermaßen von der alten Regierung angestoßen worden, aber wurde unter der jetzigen Regierung
fortgeführt. Insofern gibt es hier eine Kontinuität. Sie
können an dieser Stelle keinen Konflikt aufbauen, den es
in dieser Form nicht gibt.
({5})
Zum Schluß noch eine kleine Anmerkung zu der Frage, wie man mit Freilandversuchen umgehen soll. Ich
weiß nicht, was der Bund da machen soll. Natürlich ist
es sinnvoll, daß die Polizei der Länder die Felder
schützt. Ich kann mir aber schlecht vorstellen, was der
Deutsche Bundestag dazu beitragen soll. Oder sollen wir
den Bundesverteidigungsminister auffordern, jetzt Soldaten so, wie sie der Alte Fritz um Kartoffelfelder aufgestellt hat, um diese Felder zu stellen?
Ich danke Ihnen.
({6})
Sie wollen
jetzt aber wohl keinen Unterschied zwischen den Kartoffeln und der Gentechnologie in diesem Sinne machen.
({0})
Wir müssen jetzt mit der Debatte fortfahren. Das Wort
hat der Kollege Meinolf Michels.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte den Antrag
der F.D.P. für durchaus richtig, denn er veranlaßt uns
alle, sich mit diesem wichtigen Zukunftsthema im Deutschen Bundestag auseinanderzusetzen.
Seit Anfang der 70er Jahre ist es der Wissenschaft
möglich, gezielt in die Erbsubstanz einzugreifen. Die
wissenschaftliche Erkenntnis auf diesem Gebiet ist frappierend. Gleichzeitig sind die warnenden Stimmen mit
unterschiedlicher Gewichtung geblieben. Im medizinischen Bereich - das hat Herr Kollege Heinrich eben
schon ausgeführt - ist die Möglichkeit gentechnischen
Eingreifens auch in der praktischen Anwendung voll
akzeptiert. Bei genetisch veränderten Pflanzen für die
Nahrungsmittelversorgung - hier ist der Grund für den
Antrag zu sehen - sind bei uns die Ängste sehr groß.
Während im medizinischen Bereich, zum Beispiel bei
Insulin, das durch gentechnische Verfahren gewonnen
wurde, der gesundheitlich helfende Effekt sofort erkennbar ist, bestehen im Bereich der Nahrungsmittelproduktion die Ängste wegen der Nichtdurchschaubarkeit nach wie vor fort.
Diese Sorge der Verbraucher müssen wir sehr ernst
nehmen. Wir Menschen haben in der Regel gegenüber
Neuem, uns Unbekanntem immer Vorbehalte, zumindest
so lange, bis wir die Unbedenklichkeit und den praktischen Nutzen zweifelsfrei verinnerlicht haben. Durch
Kennzeichnung gentechnisch veränderter Produkte sind
die Verbraucher in der Lage, sich für oder gegen den
Kauf solcher Produkte zu entscheiden.
Heino Wiese ({0})
Herr Kollege
Michels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Weisheit?
Aber gern, selbstverständlich.
Kollege Michels, würden
Sie mir zustimmen, daß es sich nicht in erster Linie um
Angst handelt, sondern auch um die schlichte Überlegung der Menschen auf einem Kontinent, auf dem Nahrungsmittel im Überfluß da sind, ob es überhaupt notwendig ist, etwas zu ändern, und zu wessen Nutzen da
etwas getan wird?
({0})
Ich stimme Ihnen
nicht zu. Wenn Sie bitte weiter zuhören, werde ich die
Begründung dafür gleich liefern.
Der Gesetzgeber hat die berechtigten Sorgen aufzunehmen, aber auch für die notwendigen Fortschritte
Sorge zu tragen. Der Deutsche Bundestag hat dazu 1984
eine Enquetekommission eingesetzt. Die Erkenntnisse
aus deren sorgfältigen Beratungen sind 1990 in das
Gentechnikgesetz eingeflossen. Dieses Gesetz trägt den
berechtigten Schutzbedürfnissen der Verbraucher in hohem Maße Rechnung, läßt aber auch die verantwortungsvolle Nutzung neuer Erkenntnisse zur Erzeugung
von gentechnisch veränderten Produkten zu.
Zum Beispiel ist es gelungen, beim Mais eine Zünsler-Resistenz zu erreichen. Ohne den Einsatz von Insektiziden ist Maisanbau auf dieser veränderten Grundlage
heute in den USA und Kanada bereits die Regel. Bei der
Zuckerrübe können wir davon ausgehen, daß mit Hilfe
der Gentechnologie demnächst die Infektion durch den
Rizomania-Virus ausgeschlossen werden kann. Die bisher geringen Möglichkeiten zur Bekämpfung dieses Virus sind außerordentlich umweltbelastend und wenig erfolgreich. Daher ist - ich unterstütze das, was Herr Kollege Heinrich dazu gesagt hat - die ideologisch motivierte Zerstörung von Freilandversuchen nicht nur als
eine Straftat anzusehen, sondern in höchstem Maße zukunftsschädigend.
Nach zirka 20 Jahren Erfahrung sind wir heute in der
Lage, durch gezielten Eingriff einzelne Inhaltsstoffe von
Pflanzen zu verändern. So wird zum Beispiel an Pflanzen geforscht, die mit weniger Wasser gleiche Ertragsleistungen erbringen oder die Nutzung übersalzter Böden wieder ermöglichen. - Herr Kollege Weisheit, jetzt
haben Sie die Antwort auf Ihre Zwischenfrage.
({0})
Die bisherigen Forschungsergebnisse der Biotechnologie lassen eine weltweite Nutzung dieser Kenntnisse zu. Zweifelsohne haben wir es da mit einer Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts zu tun, die auch für
den weltweiten Bevölkerungsanstieg und den daraus resultierenden steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln eine
weitreichende Bedeutung hat.
({1})
In den nächsten 25 Jahren wird die Zahl der Menschen von heute 6 Milliarden auf schätzungsweise
8 Milliarden anwachsen. Während heute für jeden unserer Mitmenschen zirka 0,28 Hektar landwirtschaftliche
Nutzfläche zur Verfügung stehen, werden es in 25 Jahren unter 0,2 Hektar sein. Für unsere Nachkommen wird
es bei einer weitaus größeren Zahl von Menschen keinesfalls ein Mehr an Ackerfläche geben.
({2})
Im Gegenteil: Zusätzlicher Siedlungsflächenbedarf und
Erosion werden den Anteil nutzbaren Bodens weiter
mindern.
Mit Sicherheit werden die Möglichkeiten der Gentechnik nicht die alleinigen Problemlöser von heute und
in der Zukunft sein. Bei sorgfältigstem und verantwortungsvollem Vorgehen wird die Biotechnologie aber einen unverzichtbaren Beitrag zur Ernährungssicherung
leisten können. Die FAO unterstellt, daß die Biotechnologie in der Landwirtschaft eine der vielversprechendsten Technologien sein wird. Die FAO geht davon aus:
In Verbindung mit traditionellen oder herkömmlichen Züchtungsmethoden kann sie die Pflanzerträge erhöhen, die Widerstandsfähigkeit von Nutzpflanzen gegenüber Schädlingen oder Krankheiten
verbessern, Toleranz gegenüber ungünstigen Witterungsbedingungen entwickeln, den Nährwert verschiedener Nahrungsmittel erhöhen und die Haltbarkeit der Erzeugnisse … verbessern.
Herr Kollege
Michels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wodarg?
Bitte.
Herr Michels, da Sie
gerade die FAO ansprechen: Meinen Sie nicht auch, daß
Sie hier ein wenig differenzieren müßten und, wenn Sie
hier so lobend die Möglichkeiten der Biotechnologie
erwähnen, auch ein Wort zu dem verlieren müßten, was
die FAO zu der Problematik der „farmers rights“, der
Rechte der Landwirte, sagt, Saatgut selbst zu vermehren,
selbst zu handeln und selbst herzustellen? Auch zu der
negativen Seite - die im Vordergrund der Kritik steht -,
daß durch Patentrechte großer Konzerne den Landwirten
diese Möglichkeit genommen wird, hätte ich gerne etwas von Ihnen gehört.
Herr Kollege, mit Sicherheit ist das ein sehr wichtiger Bereich, der aber nicht
in den mir zur Verfügung stehenden Zeitrahmen hineinpaßt. Wir haben uns im Europarat mit dieser Frage sehr
eingehend beschäftigen können. Ich denke, es gibt zwischen uns beiden in dieser Frage keinen Dissens.
Am 5. Oktober wird in Hannover die BiotechnicaMesse mit einem Rekord an Ausstellern eröffnet. In
Deutschland gibt es zur Zeit 543 Biotechnikfirmen im
engsten Sinne, allein 33 Neugründungen in diesem Jahr.
Insgesamt beschäftigten sich 1 330 Firmen mit diesem
Bereich. Nach Großbritannien verzeichnet Deutschland
damit die höchsten Zuwachsraten bei Unternehmensgründungen. Vorgespräche für die Hannover-Messe haben ergeben, daß im Bereich der Biotechnologie eine
große und steigende Zahl von hochwertigen Arbeitsplätzen entstanden ist und weiterentwickelt werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, höchstmögliche Sicherheit bei der gentechnologischen Forschung schafft
das Vertrauen, welches unabdingbar notwendig ist, um
auch in Zukunft in unserem Land Entwicklungschancen
für alle Menschen dieser Welt zu ermöglichen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! In dieser Debatte um die Gentechnik übernimmt ganz offensichtlich die F.D.P. die jetzt
als Sloterdijksche Position bekannte deterministische
und autoritäre Ausrichtung Arme Liberale!
({0})
Sie sind sich nicht einmal dafür zu schade, die Bundesregierung dafür zu rügen, daß sie die Entscheidungen
von Nachbarländern kritisiert, die nämlich die problematische Freisetzung von gentechnisch verändertem
Mais aussetzen möchten.
({1})
Diese Position ist blauäugig und ideologiebeladen. Sie
verkennt nämlich auch das Wesen der Gentechnik. Sie
kann nicht per Knopfdruck gute Produkte herstellen, das
Gute im Menschen zum Beispiel herbeiführen. Das kann
sie nicht leisten.
Ein gentechnischer Eingriff kann eine Vielzahl von
sichtbaren und unsichtbaren Veränderungen bewirken,
gewünschte ebenso wie unerwünschte. Dabei sind auch
noch die gentechnisch veränderten Freisetzungen in die
Umwelt nicht rückholbar. Deshalb orientiert sich die
Technologiepolitik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
an einer Problemorientierung.
({2})
Wir fragen uns: Was kann die Gentechnik genau wie
andere neue Techniken, zum Beispiel die Atomtechnik,
zur Lösung der drängenden Zukunftsfragen beitragen?
Sie muß deswegen ebenso wie solche Technologien an
ökologischen, sozialen, ethischen und ökonomischen
Kriterien gemessen werden können.
Ganz richtig - das haben Sie auch erwähnt -, im Bereich grüner Gentechnik sind das die Fragen der Welternährung, der Schutz der Umwelt genauso wie Arbeitsplätze und Einkommen. Sie sind zu sichern, ohne
unvertretbare Risiken zuzulassen. Da müssen wir uns
eben fragen, inwieweit die Gentechnik dazu beitragen
kann.
Die Bundesregierung fördert die Biotechnologie in
zahlreichen Projekten, von den Genomprojekten bis zu
Bio-Regio, bis Bio-Chance. In diesen Bereichen werden
die Chancen ausgelotet. Aber wir unterstützen die Abwägungsprozesse. In weiten Bereichen wendet man
sich im Zuge dieser Abwägungsprozesse gegen gentechnische Lösungen. Großbritannien, Frankreich, Griechenland, früher einmal für eine gewisse Zeit Protagonisten de Gentechnik und des damit verbundenen Machbarkeitswahns, sind inzwischen diejenigen Länder, die
aus den Erfahrungen aus dem Umgang mit der Gentechnologie Rückschlüsse ziehen. Auch in den USA sind die
Diskussionen zunehmend kritischer geworden. Das hier
auszublenden ist nun wirklich naiv. Die Deutsche Bank
- vielleicht ist das ein Argument, das die Liberalen in irgendeiner Form interessieren könnte - rät ihren Anlegern schon ganz offiziell von Investitionen in diesem
Bereich ab.
Ich will auf den Mais eingehen, den Sie hier so rühmen und der in Ihrem Antrag vorkommt. Der gentechnisch veränderte Mais, so sagen Sie, kommt ohne Pestizide aus. Es handelt sich hier um ein im Inneren der
Pflanze erzeugtes Pestizid - im Gegensatz zu Pestiziden,
die von außen aufgebracht werden.
({3})
- Ich weiß, es ist BT, natürlich. Es ist ein Pestizid oder
ein Wirkstoff, der auch im ökologischen Landbau eingesetzt wird. Das ändert nichts daran. Diese Technologie
im Inneren der Pflanze etwa Giftstoffe zu erzeugen,
wirkt sich genauso aus wie die Methode, Wein vom ersten Blatt im Frühjahr an bis hin zur Lese im Herbst im
Sprühnebel stehenzulassen. Das heißt, mit dem Einsatz
eines solchen inneren Insektizids machen Sie nichts anderes, als die Nützlinge in der Umwelt - im Gegensatz
zu den Pestiziden - über eine lange Zeit hinweg einer
entsprechenden intensiven Einwirkung auszusetzen. Das
hat dann eine qualitativ und quantitativ andere Dimension, als sie die Pestizide haben, die ich übrigens gar nicht
verteidigen möchte.
({4})
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?
Ja.
({0})
- Wieso? Ich freue mich darauf.
Frau
Höfken, ich freue mich auch und bin sehr dankbar, daß
Sie die Zwischenfrage zulassen.
Sie haben eben doch sehr stark nur die Risiken der
Gentechnologie betont, wobei Sie von Abwägungsprozessen sprechen. Sind Sie nicht der Auffassung, daß
Sie von vornherein auch bei Abwägungsprozessen nur
auf die Risiken hinweisen werden, weil Sie die Risiken
höher einschätzen als die Vorteile, die uns die Gentechnik auch bietet? Ist das nicht ein fundamentaler Widerspruch zu dem, was nicht alle, aber einige aus der SPD
sagen?
Ich habe neulich eine anläßlich einer Veranstaltung
im Bundessortenamt in Hannover von Bundeslandwirtschaftsminister Funke gehaltene Rede gelesen. Dort hat
er sich eindeutig für die Gentechnik ausgesprochen. Ich
möchte wissen, für was die Koalition in diesem Bereich
steht.
Diese Frage ist gut zu beantworten. Das haben wir übrigens
auch im Koalitionsvertrag festgelegt. Es geht uns darum,
einen gesellschaftlichen Prozeß zu initiieren,
({0})
Bewertungskriterien für die Nutzen- und Risikopotentiale der Gentechnik zu entwickeln und danach zu entscheiden, welche Bereiche der Gentechnik Chancen und
welche Risiken beinhalten. Da muß man ganz klar feststellen: Nach einem solchen Diskussionsprozeß, der im
übrigen bis heute nicht in Gang gekommen ist,
({1})
wird es Bereiche der Gentechnik geben, die auf Grund
ihres Nutzens unterstützt werden, und solche, die auf
Grund der Risikobewertung nicht unterstützt werden.
({2})
Dazu gehören vielleicht der BT-Mais oder aber bestimmte Bereiche der grünen Gentechnik. Andere Bereiche, zum Beispiel diagnostische Verfahren bei der Tieroder Pflanzenzucht, werden zu den unterstützungswürdigen Bereichen gehören.
Es ist notwendig - das kritisiere ich an dem Antrag
der F.D.P. -,
({3})
einen solchen Prozeß, wie er beispielsweise im Monitoring angelegt ist, tatsächlich ernst zu nehmen. Man kann
doch nicht dann, wenn plötzlich auf Grund einer Bewertung, die jetzt in unseren Nachbarländern erfolgte,
eine kritische Haltung entsteht, sagen: Das möchten wir
nicht hören; wir möchten die Ergebnisse einer solchen
Bewertung nicht wahrnehmen. Das geht nicht. Da verliert die Politik der Opposition wie auch die Haltung der
Industrie an Glaubwürdigkeit.
Die Glaubwürdigkeit hat im Laufe der Diskussionen
über die Gentechnik schwer gelitten. Jahrelang hat uns
die Industrie erzählt, es gebe keine Auswilderung von
gentechnisch veränderten Organismen. Heute müssen
wir uns damit auseinandersetzen, daß wir Grenzwerte
für gentechnische Immissionen benötigen. Das ist eine
wahrhaftig traurige Entwicklung.
Nichtsdestotrotz brauchen wir einen solchen gesellschaftlichen Prozeß. In solch einen Prozeß müssen
Ökologen, Ökonomen sowie Soziologen und Ethiker
einbezogen werden. Dann werden wir uns entscheiden
können, welche Bereiche dieser Technik wir nutzen
werden. Entsprechend werden wir auch die Risiken bewerten. Wie andere Entwicklungen, zum Beispiel im
Bereich der Atomtechnologie, zeigen, ist es notwendig,
in diesen Bereichen verantwortungsvoll zu handeln.
Danke.
({4})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Kollege Heinrich, es ist immer
höchst löblich, den Hunger in der Welt zu einem zentralen Thema zu machen. Da besteht überhaupt kein
Dissens.
({0})
Selbst die Hoffnung auf viele tausend Arbeitsplätze, den
Schutz der Umwelt oder gar die Stärkung des Standortes
Deutschland kann man nicht oft genug in Erinnerung rufen. Vermißt habe ich in Ihrer Aneinanderreihung nur
noch den Hinweis, daß mit der Gentechnik sämtliche
Krankheiten ausgerottet werden können.
({1})
Dann hätten Sie nach meiner Ansicht wirklich alles aus
der Gentechnikwerbekiste herausgegriffen.
Eines muß ich Ihnen sagen: Ich verstehe Ihr Problem
ja. Denn es ist natürlich nicht einfach, neben der Bundesregierung als wahrer Förderer der Gentechnik aufzufallen.
({2})
Ihre Handlungsaufforderungen an die Bundesregierung
können mich insofern nur verwundern. Was wollen Sie
eigentlich? Sie müßten doch zufrieden sein. Denn sei es
Minister Funke oder sei es Ministerin Bulmahn, das halbe Kabinett zieht durch die Gegend und macht Werbung
für die sogenannte grüne Gentechnik. Insofern müßten
Sie doch zufrieden sein.
({3})
Der Antwort auf unsere Kleine Anfrage haben Sie
zudem entnehmen können, daß die Bundesregierung
nicht im Traum daran denkt, der Beschlußempfehlung
des Umweltausschusses zu den Verkaufsverboten von
gentechnisch verändertem Mais zu folgen. Schon seit
der enttäuschenden rotgrünen Koalitionsvereinbarung
zum Thema Gentechnik und noch vielmehr nach dem
ersten Jahr Regierungsgeschäft ist deutlich, daß die Regierung nicht bereit ist, der Chemie- und Saatgutindustrie klare Grenzen vorzugeben.
Auch bei den Verhandlungen zur neuen EUFreisetzungsrichtlinie gehörte die Bundesregierung zu
den Bremsern, als es um verbraucherfreundliche, ökologisch sinnvolle Verschärfungen der Richtlinie oder gar
um ein Moratorium für Freisetzungen gentechnisch veränderter Organismen ging. Geringfügige Verbesserungen der Richtlinie sind jetzt vom Ministerrat in Brüssel
vereinbart worden, beispielsweise die Genehmigungsbefristung von zehn Jahren oder die verpflichtende Öffentlichkeitsbeteiligung bei Freisetzungen. Die Einigung ist
aber nur deshalb zustande gekommen, weil die Überwindung des faktischen EU-Zulassungsmoratoriums für
gentechnisch veränderte Organismen das erklärte Ziel
auch dieser Bundesregierung war.
Dabei ist ein Zulassungsmoratorium die absolut
richtige Konsequenz aus den offenkundigen Risiken von
Freisetzungen. Diese richten sich auch gegen die wichtige Weiterentwicklung der ökologischen Landwirtschaft.
Im übrigen existiert der unübersehbare Wille der Menschen, keine gentechnisch manipulierten Lebensmittel
essen zu wollen. Meiner Ansicht nach wäre also ein
Stopp der Freisetzungen gentechnisch veränderter Organismen das Richtige. Das ist unsere Forderung.
({4})
- Das ist nicht die Arroganz des Satten. Ich möchte,
auch wenn ich satt bin, nicht, daß die Menschen, die
Hunger haben, gentechnisch manipulierte Lebensmittel
essen müssen.
({5})
Die müssen vielmehr etwas von unserem Reichtum abbekommen. Von Gentechnik können sie nur krank werden und nicht satt.
({6})
Zu den reellen Problemen des weltweiten Einsatzes
der Gentechnik und dem Erhalt biologischer Vielfalt
findet sich
({7})
- ich habe im Sozialismus nicht gehungert - im Antrag
der F.D.P. ebenfalls kein erhellender Gedanke. Es findet
sich kein Wort zum ungehinderten, weltweiten Gentechnikhandel, kein Wort zur Saatgutmonopolisierung,
({8})
keine Stellungnahme gegen „Biopiraterie“, wie der Europarat die ausufernde Patentierung von genetischem
Material aus Ländern des Südens nannte.
({9})
- Ich kann damit leben. Ich habe nicht gehungert. - Hier
wären Widerstand und klare Beschlüsse angesagt, nicht
aber billiger Populismus gegen den Sozialismus, der
sowieso zu Ende ist. Wir werden weiter dafür kämpfen.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete René Röspel. - Ist es richtig, daß
das Ihre erste Rede ist?
Ja.
Dann hören
wir genau zu.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Einen wunderschönen
guten Tag! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., ich kann verstehen, daß Sie als relativ kleine
Fraktion nur über wenige Fachleute und auch über wenig Zeit verfügen, um sich wissenschaftlichen Publikationen zu widmen und sie entsprechend auszuwerten.
Aber vielleicht schaffen Sie es irgendwann einmal, zum
Kiosk zu gehen und sich wenigstens Zeitschriften oder
populärwissenschaftliche Magazine zu kaufen. Dann
wäre uns vielleicht Ihr oberflächlicher, dünner und unwissenschaftlicher Antrag hier erspart geblieben.
({0})
- Sie dürfen gern intelligente Zwischenfragen stellen,
({1})
aber Ihre Zurufe sind nicht sehr förderlich.
Sie behaupten in Ihrem Antrag beispielsweise, die
Welternährung sei langfristig nur mit den Zukunftstechnologien wie Bio- und Gentechnologie zu sichern.
Wenn Sie zum Kiosk gegangen wären und sich die
wirklich nicht industrie- und technikfeindlichen „VDINachrichten“ gekauft hätten - also das Organ des Vereins Deutscher Ingenieure -, wären Sie auf einen Artikel
mit der Überschrift gestoßen: „Gen-food wird den Welthunger nicht stoppen“. Dann hätten Sie einen sehr differenzierten und guten Artikel gelesen und vielleicht einen
anderen oder gar keinen Antrag gestellt.
Wenn Sie sich vielleicht hin und wieder bemühen
würden, die Zeitschrift „New Scientist“ zu lesen: Die
berichtet über eine Studie des US-amerikanischen
Landwirtschaftsministeriums vom Sommer, also des
Landwirtschaftsministeriums des Landes mit der größten
Anbaufläche für gentechnisch veränderte Organismen
von über 20 Millionen Hektar. Das US-amerikanische
Landwirtschaftsministerium sagt, daß es nicht so ist, daß
gentechnisch veränderte Organismen oder Pflanzen zu
mehr Erträgen oder einem geringeren Einsatz von Pestiziden führen. Das sind Fakten, die das amerikanische
Landwirtschaftsministerium feststellt. Dies betrifft die
Ökologie.
Sie wissen vielleicht, daß es neuerdings ein ganz interessantes Medium gibt: das Internet. Ich habe ein wenig zur Ökonomie und zu den Auswirkungen der Biotechnologie auf den Arbeitsmarkt recherchiert. Dabei
bin ich in einer Datei gelandet, die relativ kritisch mit
den Chancen der Biotechnologie und ihrer Wirtschaftlichkeit umging und noch einmal auf etwas hinwies, was
auch am Dienstag in den „Tagesthemen“ zu sehen war,
nämlich daß die Preise und auch die Akzeptanz für
gentechnisch veränderte Pflanzen sinken. Als dann irgendwann in dieser Internetdatei die Überschrift „GMOs
are dead“ - also: Gentechnisch manipulierte Organismen sind tot, haben keine Zukunft - auftauchte, wurde
es mir zu bunt, und ich habe nachgesehen, in welcher
radikalen Datei ich gelandet bin. Ich muß Ihnen sagen:
Es war die Internetseite der Deutschen Bank AG. Befassen Sie sich bitte damit. Suchen Sie es raus. Es gibt diese Datei mit diesem Artikel. Die Analysten raten: Verkauft eure Aktien, weil die Unsicherheit sehr groß ist
und diese Technologie keine Chance hat! Befassen Sie
sich damit! Sie können dieses Argument im Internet
nachlesen.
Das zur ökologischen und ökonomischen Seite.
In Ihrem Antrag behaupten Sie ferner, wir verschlechterten die Rahmenbedingungen für diese Technologie.
({2})
Worauf beziehen Sie sich in diesem Zusammenhang?
Wir haben die Länder Österreich und Luxemburg in ihrer Haltung unterstützt, keinen gentechnisch veränderten Mais einzusetzen. Ich habe im Umweltausschuß
versucht, Ihnen zu erklären, worum es dabei geht. Der
gentechnisch veränderte Mais enthält das Gen eines Bodenbakteriums. Das führt dazu, daß dieser Mais permanent ein Insektizid abgibt, mit dem man den Maiszünsler
bekämpfen kann. Das ist soweit in Ordnung. Aber das
führt auch zu zwei großen Nachteilen oder sogar Gefahren:
Die erste Gefahr ist, daß nicht nur „Lästlinge“, sondern auch Nützlinge bekämpft werden. Ich nenne zum
Beispiel die Florfliege. Lesen Sie dazu die Veröffentlichung von Hilbeck et al. aus dem Jahr 1998, oder lesen
Sie in diesem Zusammenhang Berichte der Biologischen
Bundesanstalt. Es sind also auch Nützlinge betroffen.
Die zweite große Gefahr ist, daß durch eine ständige
Produktion dieses Insektizids durch die Pflanze sehr
wahrscheinlich eine Resistenz entstehen kann, weil sich
die „Lästlinge“ an dieses Gift gewöhnen. In dem eben
erwähnten Bericht der Deutschen Bank - es ist mir fast
eine Freude, diese Quelle zu zitieren, weil Sie der Deutschen Bank vielleicht mehr Glauben schenken - steht,
daß die Firma Mycogen, die dieses Gen im wesentlichen
entwickelt hat, der Meinung ist: Diesen Mais können wir
eh nur über 10 Jahre einsetzen, weil die Resistenzen
dann wahrscheinlich so groß sind, daß man ihn nicht
mehr vermarkten kann.
({3})
- Nein, wir wollen nur einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser Technik.
({4})
Man kann nicht einfach etwas einpflanzen, ohne diese
Entwicklung ökologisch langfristig zu begleiten.
Um Ihr Argument zu entkräften, zitiere ich aus unserer Koalitionsvereinbarung:
Die neue Bundesregierung wird die verantwortbaren Innovationspotentiale der Bio- und Gentechnologie systematisch weiterentwickeln.
Wenn Sie sich die Mittel für Forschung und Entwicklung im Haushalt ansehen, dann können Sie feststellen, daß wir in diesem Jahr 10 Millionen DM mehr
für die Entwicklung und Forschung in der Biotechnologie zur Verfügung stellen. Die Hälfte davon wird sinnvollerweise für die Sicherheitsforschung aufgewandt,
damit wir endlich Langzeitbeobachtungen durchführen
können.
Auch die neue Freisetzungsrichtlinie wird nicht die
rasche Erteilung von Genehmigungen in den Vordergrund stellen, sondern das, was den Menschen nutzt: den
Gesundheitsschutz und den vorbeugenden Umweltschutz. Diese Aspekte dürfen nicht in den Hintergrund
gerückt werden.
({5})
Diese Maßnahmen dienen einem vernünftigen Umgang
mit der Bio- und Gentechnologie. Nur wenn wir ehrlich und offen mit den Stärken und Schwächen dieser
Technologie umgehen, werden wir Akzeptanz in der
Bevölkerung erreichen. Der von der F.D.P. vorgelegte
Antrag, der falsche Erwartungen weckt, führt genau in
die falsche Richtung. Damit werden nur Luftschlösser
gebaut.
Ich lade Sie ein: Gehen Sie mit uns den vernünftigen
Weg, mit dieser neuen Technologie, deren Auswirkungen wir in wissenschaftlicher Hinsicht nur unzureichend
verstehen, offen und ehrlich umzugehen. Nur dann wird
sie eine Chance haben.
Danke schön.
({6})
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege, im Namen des Hauses für Ihre Rede
danken. Zum Inhalt darf ich aus Neutralitätsgründen
nichts sagen. Ich darf aber sagen, daß Ihre Rede rhetorisch wunderbar war.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1316 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Uwe-Jens Rössel, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Einstieg in eine umfassende Reform der Finanzierung der Städte, Gemeinden und Landkreise ({1})
- Drucksache 14/1302 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({2})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch höre ich
nicht. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Rössel.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS-Bundestagsfraktion beantragt den Einstieg in eine umfassende Reform der Finanzierung der Städte, Gemeinden und
Landkreise. Die Lage auf diesem Gebiet ist in der Tat
vielerorts dramatisch. Dafür tragen neben hausgemachten Problemen vor Ort in hohem Maße der Bund und die
Länder die Verantwortung. Die Folge der Situation: seit
1994 ständig rückläufige kommunale Investitionen,
woraus außerordentlich negative Auswirkungen auf
Handwerk und Gewerbe und deren Beschäftigungssituation resultieren. Städte und Gemeinden fallen als
Auftraggeber immer mehr aus.
({0})
- Jawohl, ein Drama.
Die negativen Folgen sind: einerseits weniger Geld
für soziale und soziokulturelle Vereine - das soziale
Leben in den Städten und Gemeinden ist stark beeinträchtigt -, andererseits eine steigende Kreditmarktverschuldung. Die Kreditmarktschulden der
Kommunen betragen bereits 200 Milliarden DM, wobei
die Pro-Kopf-Verschuldung der Kommunen in Ostdeutschland bereits über der im Altbundesgebiet liegt.
Die Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen
ließ vieles erwarten. Die Finanzkraft der Kommunen
sollte gestärkt werden. Eine Bund-Länder-Kommission
wurde eingesetzt. Aber das Thema Reform der Kommunalfinanzierung blieb ausgespart. Hinzu kam das Steuerentlastungsgesetz, das den Kommunen im Jahre 2002
Einnahmeausfälle in einem Umfang von etwa 7 Milliarden DM jährlich aufbürdet. Die Amtsübernahme von
Hans Eichel im Finanzressort ließ deshalb vieles erwarten, weil er mehr als ein Jahrzehnt Oberbürgermeister in
Kassel war. Er hat zwar kommunalfreundliche Entscheidungen propagiert; getan hat er aber das Gegenteil: Er
hat das kommunalfreundliche Sparpaket initiiert. Ein
Drittel der Einsparungen im Bundeshaushalt soll allein
zu Lasten der Kommunen gehen. Das ist unverantwortlich und wird von der PDS ganz entschieden abgelehnt.
({1})
Statt dieser Unverlagerung auf die kommunalen
Haushalte ist in der Tat eine umfassende Reform der Finanzierung der Städte, Gemeinden und Landkreise dringend notwendig, wofür die PDS besagten Antrag eingebracht hat. Dieses Thema ist außerordentlich wichtig:
zur Stärkung der Demokratie - kommunale Selbstverwaltung ist ohne angemessene Finanzen nichts wert ({2})
ebenso wie für Wirtschaftsförderung und Beschäftigungsförderung. Schließlich dient es dazu, den Gemeinwohlauftrag der Kommunen zu erfüllen.
Die PDS schlägt vor, daß sich der Prozeß der Reform
der Kommunalfinanzierung in zwei grundlegenden
Stufen vollzieht. In einer ersten Stufe sollten vor allem
folgende Aufgaben angegangen werden:
Erstens. Wir verlangen, daß gleichzeitig mit der in
großem Umfang erfolgten Übertragung von Aufgaben auf Städte, Gemeinden und Landkreise auch die
Finanzverantwortung dorthin verlagert wird. Dieser
Grundsatz wird immens verletzt. Da er verletzt wird,
muß zwingend über Änderungen des Grundgesetzes und
bundesgesetzliche Regelungen nachgedacht werden.
({3})
Wir verlangen also die Verankerung dieses Grundsatzes
im Grundgesetz.
Zweitens. Die Einnahmebasis der Kommunen muß
dauerhaft und nachhaltig gestärkt werden, so daß diese
in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen
Aufgaben zu erfüllen. Steuerkraftstärkung bedeutet:
Wiederbelebung der Gewerbesteuer dergestalt, daß die
Bemessungsgrundlage der Gewerbeertragsteuer erweitert und leistungsfähige, kapitalkräftige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Rechtsanwaltskanzleien - ab
einer bestimmten Ertragsgrenze - in die Gewerbesteuerpflicht einbezogen werden. Warum soll ein kleiner
Handwerksbetrieb Gewerbesteuer bezahlen, wenn
gleichzeitig diese kapitalkräftigen Gesellschaften aber
ausgespart bleiben? Also Revitalisierung der Gewerbesteuer! Zudem brächte die Wiedereinführung einer
- reformierten - Vermögensteuer den Kommunen
Mehreinnahmen in Höhe von mindestens 5 Milliarden
DM im Jahr. Dafür tritt die PDS mit Nachdruck ein,
denn dies ist ein Weg hin zu einer soliden Finanzausstattung.
({4})
Drittens. Wir schlagen vor, daß die Grundsteuer als
wichtige kommunale Einnahme erhalten bleibt, sie aber
um eine ökologische Komponente ergänzt wird.
Viertens setzen wir uns dafür ein, daß die Kommunen
in Ostdeutschland, die unter der desolaten Finanzsituation besonders leiden, dauerhaft und nachhaltig gestärkt
werden, indem eine Investitionspauschale vom Bund
direkt an die Städte und Gemeinden ausgereicht wird, so
wie das 1991 und 1993 bereits der Fall war.
In einer zweiten Stufe der Reform der Kommunalfinanzierung schließlich wollen wir eine Neuordnung
der Finanzbeziehungen der öffentlichen Haushalte
- deutscher Beitrag zum EU-Haushalt, Bund, Länder
und Gemeinden - angehen dergestalt, daß die kommunalen Haushalte deutlich gestärkt werden. Zur Zeit sind
sie die letzten in der Kette der öffentlichen Haushalte.
Den letzten beißen bekanntlich die Hunde.
({5})
Ein Programm für die Kommunalfinanzreform ist von
der PDS aufgelegt. Wir haben Vorschläge unterbreitet
und erwarten partei- und fraktionsübergreifend eine lebhafte Diskussion auf diesem für die Bevölkerung so
wichtigen Gebiet.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter der Überschrift „Weitere Grundsätze und Perspektiven der Steuer- und Finanzpolitik“ steht in der rotgrünen Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober letzten Jahres:
Die neue Bundesregierung tritt dafür ein, daß zukünftige Aufgabenverlagerungen im Verhältnis der
staatlichen Ebenen - Bund einerseits, Länder und
Gemeinden andererseits - im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs berücksichtigt werden
({0}).
({1})
Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken
und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden
Prüfung unterziehen.
Diese eindeutige Stellungnahme zur Gewährleistung
der kommunalen Selbstverwaltung hat auch nach einem
Jahr für uns - so denke ich - volle Gültigkeit.
({2})
Diejenigen, die etwas länger als ich in diesem Parlament
sitzen, werden sich an eine Reihe von SPD- und Grünen-Anträgen zum Thema Kommunalfinanzen erinnern.
Das ist Vergangenheit. Die Zeit der Opposition ist für
Rotgrün im Bund vorbei.
Die angespannte Finanzlage vieler Gemeinden bleibt
weiter bestehen. Hier ist es ein schwacher Trost, daß gegenüber der Defizitquote des Bundes von 12,4 Prozent
in 1998 die der Länder und ihrer Gemeinden nur
3,6 Prozent betrug. Das aber sind nur Prozentzahlen. Jeder von uns kennt - neben Städten und Gemeinden, denen es momentan finanziell gut bis sehr gut geht- auch
solche Städte und Gemeinden in seinem Bereich, die
Haushaltssicherungskonzepte fahren müssen, bei denen
die kommunale Selbstverwaltung nur noch darin besteht,
zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die freiwilligen
Leistungen gestrichen werden. In vielen Gemeinden ist
das Tafelsilber bereits verkauft, und kommunale Investitionen sind unter der Rubrik „wünschenswert, aber
nicht realisierbar“ ausgewiesen.
({3})
Der Weg aus dieser Krise kann unserer Meinung nach
nur in der Sicherung bzw. Wiederherstellung der
finanzpolitischen Handlungsfähigkeit aller staatlichen
Ebenen erfolgen.
({4})
Um diese zu erreichen, hat das Bundeskabinett am
25. August dieses Jahres das Zukunftsprogramm 2000
beschlossen. Wie Sie alle wissen, umfaßt dieses Reformpaket das Haushaltssanierungsgesetz, das Steuerbereinigungsgesetz 1999, das Familienentlastungsgesetz
sowie weitere Maßnahmen im steuerlichen Bereich.
({5})
Die diesem Programm zugrunde liegenden Zahlen bedeuten insgesamt eine Entlastung der kommunalen Ebene und stärken damit ihre Finanzkraft.
Die isolierte Betrachtung einzelner Maßnahmen, die
sich für einzelne Kommunen möglicherweise belastend
auswirken, wird dem Gesamtprogramm nicht gerecht.
Ich denke, wir müssen die Sache ein wenig globaler betrachten.
({6})
Ziel des Zukunftsprogramms ist die Aufrechterhaltung
der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit des Bundes.
Nur wenn diese gewährleistet ist, können auch weiterhin
finanzschwache Länder und Gemeinden in angemessener Weise unterstützt werden.
({7})
Ich denke dabei vor allem an den Aufbau Ost, der ganz
stark von diesem Punkt abhängig ist. Das Zukunftsprogramm enthält konkrete Entlastungen für die Kommunen. Sie sind im Durchschnitt auf 1,1 Milliarden DM für
die Jahre 2000 bis 2003 veranschlagt. Dazu kommen
noch die positiven Auswirkungen des steuerlichen Subventionsabbaus.
Ich möchte Sie jetzt nicht reihenweise mit Zahlen
belasten, sondern einige Entlastungen kurz in Oberbegriffen beschreiben. So gibt es für die Kommunen ein
erhebliches Einsparpotential im sozialen Bereich, da
die Erhöhung des Kindergeldes Entlastungen bei der Sozialhilfe für die Kommunen nach sich ziehen wird. Daß
das nicht ganz unumstritten ist, wissen wir, aber das ist
derzeit die rechtliche Lage.
Gerade in den neuen Ländern wirken sich das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit,
das ungekürzt fortgeführt werden soll, und die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik begrenzend auf die zu leistende Sozialhilfe aus.
({8})
Entlastungen für die Kommunen werden auch im Bereich der Personalkosten anfallen. Hier sind einerseits
die Begrenzung des Zuwachses der Pensionen und Beamtengehälter und andererseits die Begrenzung der
Rentenversicherungsbeiträge im Arbeitgeberanteil zu
nennen.
({9})
Zudem hoffen wir darauf, daß die Tarifabschlüsse einigermaßen niedrig ausfallen; hier könnten also auch noch
Entlastungsmöglichkeiten bestehen. Außerdem wird es
Entlastungen im steuerlichen Bereich geben. Entsprechend ihrem Anteil am Steueraufkommen werden die
Kommunen vom Abbau steuerlicher Subventionen ganz
erheblich profitieren.
Nicht verschweigen möchte ich Maßnahmen aus dem
Sparpaket, die eine gewisse Belastung für einzelne nicht für alle - Kommunen darstellen können. Der
Rückzug des Bundes aus der Mitfinanzierung des
Wohngeldes führt zu einer Kostentragungspflicht der
Länder, die die Verwaltungszuständigkeit im Bereich
der öffentlichen Fürsorge besitzen. Die Finanzverantwortlichkeit im Verhältnis zwischen Ländern und
Kommunen regelt das Landesrecht. Darauf kann der
Bund überhaupt keinen Einfluß nehmen. Bestenfalls
kann er empfehlend tätig werden.
Die vorgesehene Angleichung des pauschalierten
Wohngeldes an das Tabellenwohngeld zieht Minderausgaben bei der Sozialhilfe nach sich und führt daher zu
keiner zusätzlichen Belastung. Die Rückführung des
Bundesanteils an den Kosten des Unterhaltsvorschußgesetzes belastet zunächst die Länder. Inwieweit diese die
Kommunen an der Finanzierung beteiligen, ist dort zu
klären. Nordrhein-Westfalen tut das, um säumige Unterhaltszahler ein wenig mehr unter Druck zu setzen. Wie
ich gehört habe, hat diese Vorgehensweise Erfolg.
({10})
Die Belastungen durch das Auslaufen der originären
Arbeitslosenhilfe werden nicht so hoch sein, wie es uns
die kommunalen Spitzenverbände immer einreden wollen, da nur ein Teil der heutigen Leistungsempfänger in
Zukunft auf Sozialhilfe angewiesen sein wird.
Die Mindereinnahmen auf Grund des Familienentlastungsgesetzes treffen Bund, Länder und Gemeinden entsprechend ihrem Anteil an den Steuerarten - gleichermaßen. Auch an der vorgesehenen Kindergelderhöhung, die wir aus Gerechtigkeitsgründen vornehmen
wollen, sind Bund, Länder und Gemeinden im Verhältnis 42,5 : 42,5 : 15 beteiligt. Dieser Schlüssel ist ebenfalls üblich und vorgegeben. Ich denke, er hat sich bewährt.
Die geplante Unternehmensteuerreform wird die Einnahmestruktur der kommunalen Ebene nicht verschlechtern. Wir werden die finanziellen Belange der
Kommunen im Auge behalten. Diese Reform wird
gründlich vorbereitet werden. Wir werden uns auch mit
den Kommunen zusammensetzen, um zu versuchen, die
ganzen Probleme, die mein Vorredner angesprochen hat,
in den Griff zu bekommen.
Insgesamt läßt sich also feststellen, daß die kommunale Ebene nur durch eine Abbremsung der Staatsverschuldung gestärkt werden kann.
({11})
- Bitte nicht mißverstehen! Dies war kein Koalitionsangebot. - Wie die direkten Auswirkungen des Sparpaketes auf einzelne Gemeinden ausfallen werden, liegt in
der Hoheit der Länder. Nicht der Bund, sondern die
Länder sind für die Finanzen der Kommunen zuständig.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt es deshalb ausdrücklich, daß die Länder bei der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs die Kommunen mit an den Tisch
holen wollen.
({12})
Wir fühlen uns auf dem Boden unserer Koalitionsvereinbarung den Gemeinden stark verpflichtet und freuen
uns über jeden, der dies ebenso sieht. Ein gesonderter
Antrag wie der vorliegende ist dafür nicht notwendig.
Ich danke Ihnen.
({13})
Liebe Frau
Kollegin, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses
zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Götz.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die rotgrüne Bundesregierung ist - entgegen anderslautenden Behauptungen - gerade dabei, die kommunale
Selbstverwaltung auszuhöhlen. Sie nennt das Ganze
auch noch sparen.
({0})
Meine Damen und Herren von der Koalition, der
Bund hat auch gegenüber den Städten und Gemeinden in
unserem Land ein hohes Maß an Verantwortung. Frau
Kollegin, wir haben 1994 Art. 28 des Grundgesetzes
gemeinsam geändert und damit die Mitverantwortung
des Bundes für die kommunalen Finanzen hervorgehoben. Wir sind während unserer Regierungszeit dieser
Mitverantwortung des Bundes gerecht geworden. So
werden die Kommunen allein durch die Pflegeversicherung jährlich um 10 Milliarden DM entlastet.
Auch auf der Einnahmenseite haben wir langfristig
wirkende strukturelle Veränderungen vorgenommen. So
ist unbestritten, daß der Tausch von Gewerbesteuereinnahmen gegen eine unmittelbare Beteiligung an der Umsatzsteuer für die Kommunen langfristig ein guter
Tausch war. Was aber passiert jetzt? Unsere positiven
Reformschritte als Element einer langfristigen Gesundung der Kommunalfinanzen werden durch diese
Bundesregierung schon innerhalb weniger Monate zerstört.
({1})
Während wir die Kommunen von den Pflegekosten
entlastet haben, wollen Sie mit einem Federstrich
Wohngeldkosten in einer Größenordnung von 2,5 bis
3 Milliarden DM vom Bund auf die Kommunen verschieben.
({2})
Das ist sachlich falsch und wird zu einem Sprengsatz für
die kommunalen Haushalte werden.
({3})
- Lieber Herr Kollege, mit Sparen, wie Sie es ankündigen, hat das nichts zu tun. Das ist ein Verschiebebahnhof pur und sonst nichts.
Falls Sie Ihre Pläne durchsetzen - was ich übrigens
erheblich bezweifle, weil auch die von Ihnen regierten
Länder im Bundesrat das nicht mitmachen werden -,
würde das im nächsten Jahr zu einem Schub bei den Sozialkosten von 10 Prozent allein in diesem Bereich führen. Mit den Maßnahmen, die Sie dem Deutschen Bundestag zur Beschlußfassung vorgelegt haben, werden Sie
der Verantwortung des Bundes für die Kommunalfinanzen nicht gerecht.
Die Frau Kollegin hat vorhin in ihrer Rede die Koalitionsvereinbarung zitiert - richtig so. Große Worte, einverstanden. Die Erklärung, das Konnexitätsprinzip
einzuhalten - nach dem Motto: Wer bestellt, bezahlt -,
hat auch mir Freude bereitet. Viele tausend Kommunalpolitiker haben das positiv zur Kenntnis genommen.
Das ist allerdings ein Jahr her. Inzwischen ist die Zeit
vorangeschritten. Inzwischen haben Sie mit dem Bruch
Ihres Versprechens viele Menschen in diesem Lande
auch in diesem Bereich enttäuscht und getäuscht.
({4})
Oder wie können Sie mir erklären, was es mit der Berücksichtigung des Konnexitätsprinzips zu tun hat,
wenn Sie die Bezahlung des pauschalierten Wohngeldes,
das sich innerhalb von vier Jahren auf 10 Milliarden DM
anhäuft, einfach den Kommunen zuschieben? Was hat
es mit dem Konnexitätsprinzip zu tun, wenn der Bund
einseitig seinen Finanzierungsanteil beim Unterhaltsvorschuß reduziert? Oder was hat es mit dem Konnexitätsprinzip zu tun, wenn Sie die Leistungen des Bundes
für den Zivildienst kürzen und erwarten, daß die Kommunen und die Träger der freien Wohlfahrtspflege vor
Ort das fehlende Geld drauflegen? Der Zivildienst ist ein
außerordentlich wichtiges Element der sozialen Dienste
in den Städten und Gemeinden. Es ist schon erstaunlich,
daß eine Partei, die von sich auch noch behauptet, von
sozialer Gerechtigkeit mehr zu verstehen als andere, ohne Vorberatung mit der örtlichen Ebene kaltschnäuzig
soziale Netzwerke des Helfens zerschneidet und damit
zerstört.
({5})
Was hat es mit Konnexität zu tun, wenn Sie unter der
Überschrift einer sogenannten ökologischen Steuerreform den öffentlichen Personennahverkehr in den nächsten vier Jahren zusätzlich mit 2,5 Milliarden DM zur
Kasse bitten?
({6})
- Die Entlastung bewegt sich im 10-prozentigen Bereich. Das hat weder mit Stärkung der kommunalen
Selbstverwaltung noch mit Öko noch mit einer umweltverträglichen Verkehrspolitik zu tun.
({7})
Ich sage noch einmal: Das ist Abkassieren pur.
({8})
Sie nehmen mit Ihrem Handeln - nicht mit den Papieren, die Sie drucken, sondern mit Ihrem Handeln - den
Städten und Gemeinden die Luft zum Atmen. Das ist die
Wahrheit.
Die Menschen in den Städten und Gemeinden müssen
dafür teuer bezahlen: höhere Fahrpreise bei Bus und
Bahn, reduzierte kommunale Angebote in Schulen und
Schwimmbädern, bei der Vereins- und Kulturförderung.
Viele freiwillige Leistungen sind heute nicht mehr möglich.
({9})
- Die Kommunen haben selbstverständlich Vereinsförderung und kulturelle Förderung betrieben.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Auch in
den investiven Bereichen werden den Kommunen die
Möglichkeiten genommen. Wir brauchen kommunale
Investitionen, auch zur Entlastung am Arbeitsmarkt.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig?
Aber ja.
Herr Kollege Götz, Ihre Rede verschlägt
mir wirklich etwas den Atem.
Das soll sie ja auch.
Insofern meine Frage: Stimmen Sie mir zu,
daß Sie mit der Unsumme von Steuersubventionen, die
Sie in den letzten Legislaturperioden gewährt haben ich sage nur: Fördergebietsgesetz mit 50 Prozent Sonderabschreibung -, die Einnahmeseite von Bund, Ländern und vor allem auch Gemeinden stark heruntergefahren haben, weil Sie es Steuermillionären gestattet haben, sich steuerlich auf null zu rechnen, so daß es in Ihrer Verantwortung liegt, daß unter anderem den Kommunen das Wasser bis zum Hals steht? Insofern finde
ich Ihre Rede wirklich ziemlich zynisch. Sie sollten auf
meine Frage einmal eine ehrliche Antwort geben und
keine Schaurede halten.
({0})
Erstens gebe ich Ihnen darauf eine ehrliche Antwort - das mache ich immer -, und
zwar folgende: Sie haben die Wiedervereinigung in vielen Bereichen dieses Hauses nicht gewollt.
({0})
Wir haben, auch in den neuen Ländern, finanzielle
Rahmenbedingungen schaffen müssen, damit sich der
Wiederaufbau schnell vollzog. Es mag sein, daß es da in
vielen Bereichen auch Fehlentwicklungen gab; das wird
zugestanden.
Zweitens eine Bemerkung. Das, was Sie kritisieren die Abschreibungsmöglichkeiten -, ist finanzpolitisch
lediglich eine Frage der Liquidität. Im Klartext: Es werden Einnahmen auf der Zeitachse verschoben. Das heißt,
die negativen Auswirkungen, die Sie jetzt beschreiben,
sind Summen, die letzten Endes dem Steuerzahler oder
dem Staat insgesamt zugute kommen. Das, was ich kritisiere, ist der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der Unterschied zwischen dem, was diese Bundesregierung im Rahmen des Bundestagswahlkampfes
angekündigt hat, dem, was sie in die Koalitionsvereinbarung geschrieben hat, und dem, was sie jetzt auf den
Tisch legt. Hier gibt es eine riesige Bandbreite, ein riesiges Spektrum von Dingen, die nicht zusammenpassen.
Das kritisiere ich.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage der Kollegin EichstädtBohlig?
Wenn es Spaß macht, natürlich.
Darf ich die Nachfrage stellen, ob Sie mir
zustimmen, daß Ihr Bild mit den verschobenen Einnahmen einfach nicht stimmt? Erstens nützt es den Kommunen nichts, wenn sie ihre Einnahmeverluste lediglich
zu einem anderen Zeitpunkt haben. Zweitens haben Sie
mit Ihren Steuergeschenken so viele leerstehende Büropaläste, leerstehende Siedlungen, leerstehende Gewerbeäcker - beleuchtete Äcker - gefördert, daß dauerhaft
steuerliche Verluste gerade auch für die Kommunen und
für die sonstigen öffentlichen Hände entstehen. Stimmen
Sie mir da zu, Herr Kollege Götz?
Sind es in Ihren Augen
Steuergeschenke, wenn der Staat Rahmenbedingungen
schafft, um ein von Sozialismus und Kommunismus zerstörtes Land wieder aufzubauen? Sind das in Ihren Augen
Steuergeschenke? Diese Frage stelle ich an Sie zurück.
({0})
Meiner Meinung nach täuschen Sie Sparen vor und verschieben in Wirklichkeit die Finanzprobleme, die Sie
sich selbst geschaffen haben, auf die unterste Ebene: auf
die Kommunen, auf die Rentner, auf die Sozialhilfeempfänger, also auf diejenigen, die sich am wenigsten wehren können. Das ist doch unsozial.
({1})
Herr Kollege,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Brinkmann?
Aber gern, macht ja Spaß.
({0})
Ganz abgesehen davon, daß ich in dieser Woche insbesondere von
Rednern Ihrer Fraktion immer wieder zur Kenntnis
nehmen mußte, daß Sie offensichtlich nicht wissen, daß
es einen Bundeskanzler in diesem Hause gegeben hat,
der wie kaum ein anderer die Grundlagen für die deutsche Einheit gelegt hat - das war nämlich Willy Brandt,
ein Sozialdemokrat; das ist bei Ihnen offensichtlich immer noch nicht angekommen -,
({0})
möchte ich Sie fragen, ob Ihnen eigentlich bekannt ist,
daß in der Zeit Ihrer alten Bundesregierung in einigen
Ländern bis zu 30 Prozent aller Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept erarbeiten mußten, weil sie die
Einnahmen nicht mehr realisieren konnten, die sie
brauchten, um ihre Verwaltungsausgaben sicherzustellen?
Ich teile Ihre Auffassung,
daß der Aufbau nach 1990 eine gesamtstaatliche Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden war. Das heißt,
die Herausforderungen, die Teilung und Sozialismus uns
auferlegt haben, waren die Grundlage für eine ganze
Reihe von Ausgaben der öffentlichen Hand. Daran waren auch die Kommunen beteiligt, das ist unstrittig. Was
haben wir gemacht? Wir haben versucht, durch unsere
Reformschritte - ich habe es vorhin gesagt - die kommunalen Haushalte zu entlasten. Das haben wir auch erreicht. Wenn Sie heute Haushaltsplanberatungen in den
Kommunen verfolgen und die Ausführungen von kommunalen Kämmerern hören, dann werden Sie erleben,
daß sich eine Stadt nach der anderen darüber freut, daß
die Gewerbesteuereinnahmen gestiegen sind, daß die
Rahmenbedingungen jetzt wieder in Ordnung sind. Ich
kritisiere, daß das, was sich in den letzten drei bis vier
Jahren zum Positiven entwickelt hat, von Ihnen mit Ihrer
Politik, mit den Entscheidungen, die Sie treffen wollen,
innerhalb von wenigen Monaten zerstört wird.
({0})
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Brinkmann?
Bitte sehr.
Haben Sie
vielleicht vergessen, werter Kollege, daß in Ihrer Regierungszeit der Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Städtetag zweimal - in zwei verschiedenen Jahren
- heftigst kritisiert haben, daß durch Kürzungen im
Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit die Sozialhilfetats
der Kommunen erheblich ausgeweitet werden mußten,
weil Sie nämlich einen Verschiebebahnhof von arbeitsmarktpolitischen Leistungen hin zur Sozialhilfe gemacht
haben und weil diese Ausgaben einseitig zu Lasten der
Kommunen finanziert werden mußten?
Das habe ich zur Kenntnis
genommen. Aber ich habe auch zur Kenntnis genommen
- Entschuldigung, lassen Sie mich auch einen zweiten
Satz sagen, damit Ihre Frage beantwortet werden kann -,
daß im Bereich der Sozialhilfe - wenn Sie vorhin richtig
zugehört hätten, müßten Sie das mitbekommen haben die Haushalte der Kommunen durch die Einführung des
Pflege-Versicherungsgesetzes um jährlich 10 Milliarden
DM entlastet worden sind.
({0})
Das ist also ausgeglichen. Wenn Sie heute mit Vertretern der kommunalen Spitzenverbände reden, dann fallen denen, sofern noch vorhanden, sämtliche Haare aus,
({1})
wenn sie darüber nachdenken, was Sie auch im Bereich
der Arbeitsmarktpolitik, etwa durch das Verschieben der
Arbeitslosenhilfe in den Sozialhilfebereich - das haben
Sie ja ebenfalls als Gesetzesvorlage in petto -, planen.
Wir kritisieren also das, was Sie jetzt an Belastungen
für die kommunalen Haushalte planen. Ich sage es Ihnen
noch einmal: Es würde den Kommunen, den Städten und
Gemeinden, das Wasser abdrehen, wenn diese Gesetzentwürfe, so wie sie vorgelegt worden sind, Gesetz würden. Aber ich bezweifle, daß das der Fall sein wird.
Die Kommunen erwarten keine Geschenke. Auch das
sage ich. Aber was sie zu Recht erwarten können, ist
eine faire Partnerschaft. Deshalb lassen Sie mich im folgenden vier wichtige Kernelemente einer ausgewogenen
Beziehung zwischen den Kommunen und dem Bund
kurz darstellen.
Erstens. Wir brauchen eine Selbstbindung des Bundes
an das Konnexitätsprinzip, und das darf nicht einfach
nur in der Koalitionsvereinbarung stehen. Das Konnexitätsprinzip bedeutet ja nichts anderes, als daß der Bund
darauf verzichtet, seine politische Macht und seine
finanzielle Stärke zu Lasten des Schwächeren, subsidiären Partners zu mißbrauchen. Das geschieht im Moment.
Zweitens. Nur über eine Konsolidierung auf der Ausgabenseite können die Städte und Gemeinden Spielraum
für notwendige Investitionen gewinnen. Die Kommunen
selbst haben in den letzten Jahren mit großer Verantwortung erfolgreich Ausgabenkonsolidierung betrieben.
Es ist deshalb unfair, wenn der Bund jetzt die Konsolidierungserfolge der Kommunen durch Ausgabenverlagerungen auf seinen eigenen Haushalt umlenkt.
({2})
Es ist auch staatspolitisch unklug. Konsolidierungsbereitschaft und Sparwille dürfen nicht bestraft, sondern
müssen unterstützt werden.
({3})
- Genau, Herr Kollege Hörster.
Wir brauchen drittens eine schrittweise Umstrukturierung der kommunalen Einnahmeseite. Unser Gemeindesteuersystem gehört auf den Prüfstand. Die Entwicklung
ist weitergegangen. Die Gewerbesteuerumlage kann
nicht ins Uferlose gesteigert werden. Daß die Grundsteuer als zweite wichtige kommunale Steuer der Reform bedarf, ist unstrittig.
({4})
Rainer Brinkmann ({5})
- Ich bin jetzt bei der Grundsteuer. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann können Sie sie stellen.
Dagegen habe ich überhaupt nichts.
({6})
Die Grundsteuer mit dem Einheitswert als Bemessungsgrundlage ist heute so kompliziert, daß das geändert werden muß. Das wissen wir. Wir sollten die Chance nutzen und das nicht einfach nur ändern, sondern zu
einer radikalen Vereinfachung des Systems kommen.
Das wäre auch ein Beitrag zu mehr Transparenz, zum
Abbau von Bürokratie und damit zu einer Verschlankung des Staates.
Eines will ich auch noch sagen: Bundesfinanzminister
Theo Waigel hat in der vergangenen Legislaturperiode
persönlich mit allen wichtigen Repräsentanten der
kommunalen Spitzenverbände gesprochen. Soweit ich
weiß - vielleicht täusche ich mich auch -,
({7})
hat es seit dem Amtsantritt dieser Bundesregierung außer den regelmäßigen Kontakten etwa im Finanzplanungsrat - noch kein besonderes Gespräch des Bundesfinanzministers mit den kommunalen Spitzenverbänden
gegeben.
({8})
- Gut. Ich freue mich, wenn das der Fall ist.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, von der Regierungsbank
aus dürfen Sie nicht dazwischenrufen.
Nach meiner Information
haben kommunale Vertreter lediglich als Gast am Katzentisch bei der Diskussion um die Unternehmensteuerreform gesessen. Wenn Sie das darunter verstehen, dann
mögen Sie recht haben.
Lassen Sie mich viertens sagen: Die meisten öffentlichen Aufgaben in Deutschland werden in den Städten,
Gemeinden und Kreisen wahrgenommen. Wenn wir
Subsidiarität und Föderalismus ernst nehmen, müssen
wir Wege finden, daß die Kommunen, die die Aufgaben
wahrzunehmen haben, auch die dafür notwendigen
finanziellen Mittel zur Verfügung erhalten. Deshalb
müssen die Kommunen in die Gespräche über die
Finanzreform von Bund und Ländern als gleichberechtigte Partner einbezogen werden.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
lassen Sie mich zum Schluß folgendes anmerken:
Deutschland ist ein starkes Land. Leistungsfähige Städte
und Gemeinden sind die Grundvoraussetzung dafür, daß
wir ein starkes Land bleiben. Zerstören Sie dieses für die
Menschen in unserem Land wichtige Gut nicht! Wir
sollten das Erfolgsmodell „kommunale Selbstverwaltung“ nicht schwächen, sondern stärken.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte am Anfang darauf hinweisen, daß es von
Herrn Dr. Rössel nicht ganz uneigennützig war, sich hier
hinzustellen und sich für die Kommunen stark zu machen. Ich will jetzt keine Werbung betreiben, aber er ist
immerhin vom „Zentralkomitee der SED“ als Kandidat
für die Oberbürgermeisterwahl in Halle am 13. Februar
vorgeschlagen worden.
({0})
- Wir wissen, daß er schon immer kommunalpolitischer
Sprecher war. Er ist aber auch Bundespolitiker und hat
an anderer Stelle eine gewisse Verantwortung zu übernehmen. Er hat hier nicht in populistischer Weise ein
Horrorbild zu zeichnen und eine isolierte Darstellung
abzugeben, was die Belastung der Kommunen durch
Maßnahmen des Bundes betrifft. Diese Unseriosität, gepaart mit Populismus, ist wirklich kaum auszuhalten.
({1})
- Ich habe nur gesagt, daß das, was er uns geboten hat,
nicht ganz uneigennützig war. Die Bevölkerung sollte
wissen, daß er sich hier zwar für die Kommunen einsetzt, aber als Bundespolitiker eine andere Rolle zu
spielen hat.
Ich möchte noch einige Anmerkungen zu Herrn Götz
machen. Herr Götz, Sie wissen doch genausogut wie
wir, daß es bezüglich der Finanzlage der Städte, der
Gemeinden und Landkreise in den letzten Jahren große
Schwierigkeiten gab, daß insbesondere in den Bereichen, die Sie genannt haben - im kulturellen Bereich,
aber auch im Bereich der Jugendhilfe, der Jugendpflege
und der Jugendhäuser -, massiv abgebaut wurde. Es
macht aber wenig Sinn, jetzt, da wir in gemeinsamer
Verantwortung die zukünftige Finanzplanung beraten,
so zu tun, als sei in den letzten Jahren alles unproblematisch gewesen. Sie versuchen, den Schwarzen Peter einer
Regierung zuzuschieben, die für Ihre Entscheidungen
relativ wenig konnte. Das weiß auch jeder.
({2})
Eines finde ich sehr unehrlich - von der F.D.P. hören
wir vielleicht noch etwas dazu -: Die alte Koalition hatte
doch Bestrebungen, die Gewerbesteuer ganz abzuschaffen. Aber als es um die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ging, haben wir alle in diesem Hohen Haus die
wichtige Bedeutung des Bindeglieds zwischen Gemeinden und Unternehmen im Grundgesetz noch einmal bestätigt. Es war klar, daß ein eigenes Hebesatzrecht für
die Kommunen gewährleistet sein muß; darin waren wir
uns einig.
Ihr damaliger Koalitionspartner hat aber ein ganz anderes Interesse. Nach den letzten Verlautbarungen
möchte er die Gewerbesteuer abschaffen und für die
Kommunen eine andere anteilige Beteiligung an der
Einkommensteuer und/oder an der Umsatzsteuer. Daß
dies derzeit überhaupt nicht zur Diskussion steht - ({3})
- Das weiß ich. Ich kenne die Vertreter der kommunalen
Spitzenverbände gut genug, um zu wissen, daß sie die
Sorge haben, daß auf Bundesebene eine Partei, die relativ wenig Interesse an kommunalpolitischen Entwicklungen hat, den Versuch unternimmt, ihnen dieses Hebesatzrecht zu nehmen, das ihnen heute zu stetigen Einnahmen verhilft.
({4})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?
Gerne.
Zu meinen vorherigen Ausführungen möchte ich abschließend noch sagen, daß das mit uns so nicht zu machen sein wird. Wenn wir etwas ändern werden und
wenn es zu einer Regelung kommen wird, dann wird
dies nur unter Berücksichtigung des gemeinsamen Interesses von Bund, Ländern und Kommunen unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenvertretungen geschehen. Nur wenn die kommunalen Spitzenvertretungen
dieses Vorhaben entsprechend absegnen, dann kann der
Bund Änderungen vornehmen. Dies kann nicht mit der
Brechstange geschehen, wie Sie es vorsehen.
Herr Götz, bitte.
Sie haben das Stichwort
„Gewerbesteuer in der letzten Legislaturperiode“ angesprochen. Ist Ihnen aus meiner Rede noch meine Aussage in Erinnerung, daß die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, eines ganz wichtigen Teils der Gewerbesteuer, ein wichtiges reformpolitisches Element war? Ich
sagte, ihre Abschaffung sei deshalb möglich geworden,
weil es gelungen sei, den Kommunen unmittelbar - darauf liegt die Betonung - eine Beteiligung an der Umsatzsteuer zuzuordnen, so daß die Kommunen durch
diese Veränderungen der Gewerbesteuer heute nicht
schlechter gestellt seien. Unser Ziel war es immer, im
Zuge der Reform der Gewerbesteuer die notwendigen
Voraussetzungen für einen finanziellen Ausgleich für
wegfallende Einnahmen der Kommunen zu schaffen. Ist
Ihnen das noch in Erinnerung?
Das ist mir sehr gut in Erinnerung; aber darum ging es
an dieser Stelle nicht.
Ich habe gesagt: In der damaligen Diskussion war für
uns Voraussetzung für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, daß den Kommunen das, was ihnen an Einnahmen entgeht - Sie haben es soeben angesprochen -,
an anderer Stelle zur Verfügung gestellt wird. Meines
Wissens wurden die fehlenden Einnahmen sogar ein
bißchen überkompensiert. Dazu werde ich gleich etwas
sagen, wenn ich über die Be- und Entlastungsvolumina
- es geht um Milliardenbeträge - sprechen werde.
({0})
- Das bestreite ich gar nicht. - Ich habe betont, daß wir
dieses Vorhaben damals mitgetragen haben. Wenn Sie
sich richtig erinnern: Die Grünen gehörten zu denjenigen,
die die Auffassung vertreten haben, daß die Gewerbekapitalsteuer keine zeitgemäße Steuer ist, weil sie eine
Substanzbesteuerung darstellt. Aus unserer Sicht war
es daher - egal, ob man rote oder schwarze Zahlen
schrieb - vertretbar, diese Steuer möglichst schnell abzuschaffen. Wir haben dazu sogar eine Vorlage eingebracht.
Uns waren auch die Folgewirkungen klar. Aber Ihr
damaliger Koalitionspartner, die F.D.P., hat ein weitergehendes Interesse. Solange es keine einvernehmliche
Klärung mit den Kommunen gibt, ist das Vorhaben der
F.D.P. zum Schaden der Kommunen. Würde man es
umsetzen, würde in der öffentlichen Diskussion unheimlich viel Unruhe ausgelöst. Ich bin in kommunalen
Bereichen viel unterwegs. Dort heißt es immer: Die Regierung plant. Ich entgegne dem stets: Die alte Regierung hat geplant; wir sind es nicht. - Die F.D.P. verfolgt
eine Politik, bei der die Interessen der Kommunen, was
die Gesamtentwicklung angeht, nicht ausreichend in die
Beratungen einbezogen worden sind.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Solms?
Bitte schön, gerne.
Liebe Frau
Kollegin, wenn Sie schon unsere Absichten zitieren,
dann tun Sie es bitte auch richtig. Würden Sie bitte zur
Kenntnis nehmen, daß es seit Jahrzehnten und damit ein
langfristiges Projekt der F.D.P. war, die Finanzen der
Gemeinden auf andere Einnahmequellen zu stützen,
nämlich auf solche, die stabil und nicht konjunkturabhängig, also nicht zyklisch, sind?
({0})
Unser Ziel ist seit langem, die Gemeinden in die Lage zu
versetzen, eine mittelfristige Haushaltsplanung vorzunehmen, die verläßlich ist.
Deswegen haben wir in der sozialliberalen Koalition
für die Abschaffung der Lohnsummensteuer und in der
letzten Koalition für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer gesorgt. Als letztes Element muß natürlich
eine Beseitigung der Gewerbesteuer insgesamt folgen.
Dies muß aber durch den Ersatz in Form von stabilen
Einnahmen aus der Umsatzsteuer und aus der Lohn- und
Einkommensteuer geschehen. Dies stand schon 1994 im
Koalitionsvertrag der alten Koalition. Das Vorhaben
konnte leider nicht verwirklicht werden, weil die Diskussion mit den Kommunen noch nicht weit genug gediehen war.
Ich sage Ihnen voraus: Die Diskussion in diese Richtung wird weitergehen. Auch die Kommunen werden ihr
Interesse an einer solchen Umgestaltung zeigen, weil sie
an verläßlichen und gleichmäßig fließenden Steuerquellen mehr als an einer zyklischen Gewerbesteuer interessiert sind.
Danke schön, Herr Solms. Das war eine gute Steilvorlage. Sie haben im Prinzip das bestätigt, was ich gesagt
habe.
Außerdem haben Sie noch einmal darauf hingewiesen, daß es in der alten Koalition nicht gelungen ist, Ihren Wunsch umzusetzen, weil sich die kommunalen
Spitzenverbände mit Ihren diesbezüglichen Vorstellungen nicht haben anfreunden können. Man hat kein Ergebnis zustande gebracht, da die Finanzierungsfrage
vollkommen offengeblieben ist. Wir haben dieses jetzt
- das wissen natürlich auch Sie - auf der Basis des Koalitionsvertrages durch die Bund-Länder-Kommissionen
bereits in Angriff genommen. Dazu gehört die Entwicklung des kommunalen Finanzausgleiches genauso
wie die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern.
Das muß entwickelt werden, da es ab dem Jahre 2003
bzw. 2004 neu zu regeln sein wird. Das wissen ja auch
Sie.
Außerdem haben wir auf Grund der Überlegungen
der Oberfinanzdirektionen der Länder - das geht auch
an die Adresse von Herrn Götz; Sie haben das ja unter
dem Stichwort Grundsteuer angesprochen -, wie die
Grundsteuer in Zukunft ausgestaltet werden soll, eine
Kommission eingesetzt. Wir haben in diesem Jahr in
Übereinstimmung mit den Formulierungen des Koalitionsvertrages konkrete Schritte unternommen, die genau
in diese Richtung gehen und die die kommunalen Spitzenverbände bei der Entwicklung der Finanzplanung
einbinden, um die Finanzkraft der Kommunen und vor
allen Dingen auch die kommunale Selbstverwaltung zu
stärken. Diese stellt nämlich für uns ein wesentliches
Element einer demokratischen Gesellschaft dar. Das ist
überhaupt keine Frage. Deswegen noch einmal vielen
Dank für Ihre Ausführungen. Diese haben meine Gedanken, die ich hier vorgetragen habe, sehr gut ergänzt.
({0})
Ich komme nun zu den Zahlen. In ihren isolierten
Darstellungen haben Herr Dr. Rössel genauso wie Herr
Götz so getan, als ob die in unserem Zukunftsprogramm
getroffenen Entscheidungen bei den Kommunen zu
Mehrausgaben und enormen Problemen in der Finanzierung von verschiedensten Maßnahmen führen. Das Reformpaket entlastet die Kommunen aber an zahlreichen
Punkten; das sollte hier nicht verschwiegen werden. Das
sollte man auch in der Öffentlichkeit - die Kollegin von
der SPD hat ja schon viele Punkte angesprochen - sagen, anstatt immer so zu tun, als ob irgend jemandem
etwas genommen wird.
Letztendlich muß man immer sehen, was hinten dabei
herauskommt. Das haben Sie selber gesagt; einer von
Ihnen hat ja diesen Satz geprägt.
({1})
Es ist auch richtig, daß allein das interessiert. Es interessieren nicht die einzelnen Maßnahmen, sondern es interessiert, was diese an den Strukturen ändern und verbessern und was finanziell letztlich herüberkommt. Es ist
vollkommen klar, daß sich für die Kommunen durch die
Begrenzung des Zuwachses bei den Renten, den Pensionen, den Beamtenbezügen, den Gehältern und durch die
Änderungen bei der Eigenheimzulage im Zeitraum von
2000 bis 2003 Mehreinnahmen in einer Größenordnung
von 4 Milliarden DM ergeben.
({2})
Hierbei sind die dämpfenden Auswirkungen des Sparpakets auf den Tarifbereich überhaupt noch nicht berücksichtigt worden. Da die Kommunen ja bekanntermaßen einen relativ hohen Angestelltenanteil haben,
wird sich hier noch einmal eine zusätzliche Entlastung
ergeben.
Gestatten Sie
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?
Ja, gerne. Herr Götz, bitte.
Frau Kollegin, habe ich es
richtig verstanden, daß Sie mit Ihren letzten Bemerkungen den Ausgang der Tarifverhandlungen schon vorweggenommen haben?
Wir haben Vorschläge zum Zuwachs der Renten gemacht. Es handelt sich dabei übrigens nicht um eine
Rentenkürzung - das möchte ich in diesem Zusammenhang noch einmal klar sagen -, sondern wir nehmen einen Inflationsausgleich vor, der so von der alten Regierung in den letzten Jahren nie vorgenommen wurde.
({0})
Die Rentner und Rentnerinnen werden in den nächsten
zwei Jahren durch diese Anpassung in Höhe der Inflationsrate - 0,7 Prozent im nächsten Jahr und 1,4 Prozent
im Jahre 2001 - mehr bekommen, als sie in den letzten
fünf Jahren im Durchschnitt von der alten Koalition bekommen haben. Dieses sage ich an dieser Stelle noch
einmal zur Klarstellung. Es wird ja immer so getan, als
ob man etwas nehme. Hier wird vielmehr mehr gegeben,
als die alte Regierung gegeben hätte.
Wenn Sie, Herr Götz, jetzt ansprechen -
Frau Kollegin,
bitte beantworten Sie die Frage etwas kürzer. Sie müssen auch noch mit Ihrer Rede zum Schluß kommen.
Ja.
Sie sagten, wir griffen den Tarifverhandlungen vor.
Wir haben darum gebeten, daß man im Rahmen der Tarifverhandlungen von beiden Seiten darauf hinwirken
solle.
({0})
Ich hoffe, daß es im Sinne des Allgemeinwohls so geschehen wird, und ich gehe auch davon aus, daß es so
geschehen wird; die Signale sind ziemlich klar.
({1})
Ich möchte zu dem, was
Sie über die Renten gesagt haben - ({0})
- Es nützt nichts, es hilft nichts. - Wissen Sie nicht genau, daß das, was Sie gesagt haben, falsch ist und nicht
der Realität entspricht? Sie nehmen doch den Rentnern
etwas weg, was den Rentnern zusteht. Darum geht es.
({1})
Es gibt Tabellen, aus denen eindeutig hervorgeht, wie
sich die Rentenanpassung in den letzten Jahren entwikkelt hat, und zwar die reale Anpassung im Verhältnis zu
dem, was als Inflationsausgleich hätte gewährt werden
müssen.
({0})
1994 gab es einen Ausreißer; das war das Wahljahr. Die
Rentnerinnen und Rentner sind nicht dumm. Sie wissen,
was sie am Monatsende an Rente bekommen. Diejenigen, die schon einige Jahre lang Rente beziehen, wissen,
was sie bekommen haben, und sie werden sehen, was sie
in den Jahren 2000 und 2001 bekommen werden. Bei
vielen von denen, die jetzt durch die Kampagnen, die
Sie in den letzten Wochen leider gestartet haben,
({1})
irritiert und durcheinander gebracht worden sind, wird
ein Aha-Erlebnis einsetzen. Dann wird die Stimmung
kippen, und dann werden sie ganz klipp und klar sehen,
daß sie mehr haben, als sie vermutet haben.
({2})
Ich bitte jetzt
darum, daß die Rednerin zum ursprünglichen Thema zurückkommt und in ihrer Rede fortfährt. Wir wollen doch
alle mit dieser Debatte heute noch zu Ende kommen.
({0})
Das tue ich gerne, Frau Präsidentin.
Ich möchte nur fairerweise noch erwähnen, daß die
finanzielle Situation des Bundes dramatisch schlechter
als die der Länder und auch die der Gemeinden ist. Dazu
ein paar Zahlen, weil auch Sie gerne mit Zahlen argumentieren: Von 1994 bis 1998 sank der Bundesanteil am
gesamten Steueraufkommen von 48,2 Prozent auf 41
Prozent.
({0})
Im gleichen Zeitraum konnten die Länder ihren Anteil
von 34,2 Prozent auf 41,3 Prozent erhöhen. Der Anteil
der Gemeinden - darum geht es heute - hat sich von
12,4 Prozent auf 12,6 Prozent erhöht. Das heißt, daß in
der Konsequenz dieser Verteilung des Steueraufkommens der Anteil desjenigen, der mehr aufzubringen hatte, seit 1993, seit dem FKP, gesunken ist, während der
Anteil der Länder über die Jahre stieg. Auch bei den
Kommunen hat sich der Steueranteil leicht nach oben
entwickelt. Dasselbe Bild zeigen die Zinsausgaben, die
Zinsquote und all die Entwicklungen, die damit zusammenhängen.
({1})
An die Adresse der PDS möchte ich sagen, daß sie
ein verzerrtes und insoweit falsches Bild gezeichnet hat.
Insgesamt weist die kommunale Ebene nach den Kassenergebnissen 1998 erstmals seit 1989 deutliche Überschüsse aus. Gegenüber einem Fehlbetrag in Höhe von
5,9 Milliarden DM im Jahre 1997 ergab sich 1998 ein
Überschuß von 4,8 Milliarden DM. Das muß man hier
bitte schön auch einmal auf Ihrer Seite zur Kenntnis
nehmen.
({2})
Ich möchte abschließend feststellen, daß vom Erfolg
des Zukunftsprogramms 2000 alle staatlichen Ebenen
sowie die Gesellschaft insgesamt profitieren werden.
Der Reformstau wird aufgelöst werden. Viele falsche Informationen in diesem Zusammenhang werden in den
nächsten Wochen korrigiert werden.
({3})
Ich bin sehr zuversichtlich, daß Bund, Länder und
Kommunen dieses Zukunftsprogramm gemeinsam tragen werden.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Zeitrahmen
für ein solches Thema und eine solche Debatte ist sehr
kurz bemessen - völlig unangemessen für ein solch
komplexes Thema. Das zeigt den Stellenwert, den
Kommunalpolitik in diesem Hause hat.
({0})
Eine umfassende Gemeindefinanzreform ist in der
Tat dringend geboten; sie ist aber unabdingbar mit der
Notwendigkeit einer vollständigen Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen verbunden.
({1})
Es ist außerordentlich bedauerlich, daß die Gemeinsame
Verfassungskommission die Chance der notwendigen
Veränderung nicht genutzt hat. Da saßen die Gemeinden
sozusagen am Katzentisch. Das macht ebenfalls deutlich, daß die Kommunen sowohl beim Bund als auch bei
den Ländern nicht sehr hochrangig angesiedelt sind.
Von der erhöhten Umsatzsteuerzuweisung von 7 Prozent
für die Länder haben die Gemeinden keinen Pfennig gesehen. Auch das muß hier einmal festgestellt werden. Da
sind die Länder in der Pflicht.
({2})
Der PDS-Antrag spricht einerseits eine Vielzahl erkannter Probleme an, enthält andererseits aber kaum
realistische Lösungsansätze, und wenn, dann falsche.
({3})
Revitalisierung der Gewerbesteuer - das hätte uns gerade noch gefehlt! Die Gewerbesteuer muß endgültig
abgeschafft werden.
({4})
Sie ist nämlich eine mittelstandsfeindliche und wettbewerbsverzerrende Steuer, die sich gerade bei inhaberbezogenen kleinen und mittelständischen Betrieben wie
eine zweite Einkommensteuer auswirkt.
({5})
Aber das können Sie ja nicht wissen. Deswegen sage ich
es Ihnen noch einmal.
Über den Ausgleich hat Ihnen der Kollege Solms
eben etwas gesagt. Ich bin übrigens sehr erfreut, daß
Frau Kollegin Scheel ihm zugestimmt hat. Wir werden
sehen, wie sich das im täglichen Handeln auswirkt.
Die PDS fordert eine Flächennutzungssteuer und damit nichts anderes als eine Erhöhung der Grundsteuer.
({6})
Darüber hinaus haben Sie die Vermögensteuer angeführt.
({7})
Damit präsentieren Sie sich hier als Steuererhöhungspartei für die Gemeinden. So nicht!
({8})
Die Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen
föderalen Ebenen muß neu geregelt werden. Diejenige
Körperschaft, die eine Aufgabe zu erfüllen hat, muß die
daraus entstehenden Ausgaben tragen.
({9})
Sonst gibt es keinen Anreiz für eine wirtschaftliche
Ausgestaltung und Durchführung von Gemeinschaftsaufgaben, da die finanziellen Folgen von unterschiedlichen Gebietskörperschaften getragen werden müssen.
Ohne das vielbeschriebene Konnexitätsprinzip wird
eine sachgerechte Verteilung und Konzentration öffentlicher Mittel nicht erreicht. Mittelfristig müssen wir die
sogenannten Gemeinschaftsaufgaben und ihre Mischfinanzierung abschaffen. Die Mischfinanzierungstatbestände sind ein ganz entscheidendes Hindernis beim Abbau und bei der Deregulierung von ins Kraut gewachsenen Verwaltungsstrukturen.
Aber - auch heute morgen war es hier wieder hörbar
- alles Klagen und Jammern darüber hilft uns überhaupt
nicht weiter. Es ist dieses Parlament, das endlich die Initiative ergreifen und handeln muß.
({10})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Für die F.D.P.
ist eine Reform der Finanzverfassung mit einer umfassenden Gemeindefinanzreform überfällig.
({11})
Die heutige Debatte - auch wenn sie eine Kurzdebatte
ist - muß der Auftakt für eine gemeindefreundliche Politik von Bund und Ländern sein.
({12})
Die Bundesregierung, verehrte Frau Kollegin Scheel, hat
auch auf diesem Politikfeld einen miserablen Start hingelegt.
({13})
Der Verschiebebahnhof „Sparpaket“, das Sie auch noch
„Zukunftsprogramm“ nennen, beinhaltet ganz erhebliche
und unrentable Mehrbelastungen für die Gemeinden.
({14})
Genau das ist der falsche Weg, den wir nicht mitgehen
werden.
({15})
Stellung und Ansehen des Staates entwickeln sich vor
allem auf kommunaler Ebene. Die verbalen Bekundungen von allen Seiten müssen endlich dazu führen, daß
danach auch gehandelt wird. Nur daran kann ich heute
appellieren.
Ich danke Ihnen.
({16})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1302 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages ein auf Mittwoch, den 6. Oktober 1999,
13 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.