Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/1/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die vorgesehene Tagesordnung eintreten, teile ich mit, daß interfraktionell vereinbart worden ist, die heutige Tagesordnung um Zusatzpunkt 3, „Beratung der Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses zur Änderung der Richtlinien zur Überprüfung auf eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit“, Drucksache 14/1698, zu erweitern. Die Beratung soll jetzt gleich vor Tagesordnungspunkt 12 erfolgen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 3 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Änderung der Richtlinien zur Überprüfung auf eine Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik gemäß § 44b des Abgeordnetengesetzes ({1}) - Drucksache 14/1698 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Hilsberg Joachim Hörster Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen daher gleich zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses auf Drucksache 14/1698. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluß- empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege ({2}) - Drucksache 14/1578 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Edith Niehuis.

Dr. Edith Niehuis (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001609

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute debattieren wir in der ersten Lesung den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Altenpflegegesetzes. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich die längst überfällige bundeseinheitliche Regelung der Altenpflegeausbildung. ({0}) Seit Mitte der 80er Jahre, also seit 15 Jahren, hat es immer wieder Versuche gegeben, eine bundeseinheitliche Regelung für einen anerkannten Fachberuf Altenpflege zu schaffen. All diese Versuche sind gescheitert. Diese Situation ist angesichts des Wildwuchses, den wir in der Altenpflegeausbildung in Deutschland vorfinden, schon lange nicht mehr hinnehmbar. ({1}) Wir haben in 16 Ländern 17 verschiedene Ausbildungen. Ziele, Inhalte, Dauer und Strukturen sind unterschiedlich. Es gibt nicht einmal in jedem Bundesland für die Altenpflege eine Erstausbildung. Nicht überall wird eine Ausbildungsvergütung gezahlt. Im Gegenteil: Hier und dort wird auch noch Schulgeld verlangt. Wir erlau5276 ben uns diese strukturelle Nachlässigkeit in der Ausbildung in einem Berufsfeld, in dem hinsichtlich der erforderlichen professionellen Qualifikation gerade nicht Nachlässigkeit, sondern äußerste Sorgfalt gefordert wäre. ({2}) Es geht um die Pflege von älteren und alten Menschen. Ich bin sicher: Über die Fraktionen hinweg verbindet uns das Anliegen, die Pflege für ältere und alte Menschen auf hohem Niveau sicherzustellen. Dazu brauchen wir das Engagement qualifizierter Pflegekräfte. Vor allem Altenpflegerinnen und Altenpfleger tragen wesentlich dazu bei, daß eine qualifizierte und menschenwürdige Betreuung und Versorgung gewährleistet ist. Durch die Veränderung der Pflegelandschaft hat sich ihr Aufgabenfeld, insbesondere im ambulanten Bereich, erheblich erweitert. Aber auch die Anforderungen in den Pflegeeinrichtungen haben sich durch die steigende Zahl hochbetagter und schwerpflegebedürftiger Menschen verändert. Von 1993 bis 1998 hat sich die Zahl der beschäftigten Altenpflegekräfte in Deutschland um zirka 40 Prozent auf 268 000 erhöht. Alle kennen die Zahlen der demographischen Entwicklung. Der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften wird weiter steigen. Obwohl all dies bekannt ist und bekannt war, hat es die Regierung Kohl versäumt, eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung einzuführen. Wir haben über 360 Ausbildungsberufe. Neue kommen hinzu; alte werden modernisiert. Aber die Altenpflege wurde immer übersehen. Zugleich ist festzustellen, daß über 90 Prozent der Altenpflegekräfte Frauen sind. ({3}) Man kann schon vermuten, daß das Übersehen dieses Berufes damit zu tun hat, daß es sich um einen typischen Frauenberuf handelt. So ein Verhalten ist nicht zulässig. ({4}) Die Bundesregierung hat deshalb zu Beginn dieser Legislaturperiode angekündigt, daß sie einen neuen Vorstoß für ein bundeseinheitliches Berufszulassungsund Ausbildungsgesetz unternehmen wird. Das erwarten die Betroffenen, das heißt die Pflegekräfte und auch die zu Pflegenden. Die alte Bundesregierung hat in diesem Bereich sehr viel Porzellan zerschlagen. Über mehrere Legislaturperioden hinweg gab es vielversprechende Ankündigungen, aber nichts geschah. Dringender Regelungsbedarf besteht; denn bisher ist es nicht gelungen, dem Beruf insgesamt ein klares Profil zu geben und das Berufsumfeld attraktiv zu gestalten. Er zeichnet sich vielmehr durch hohe Arbeitsbelastung, geringe Berufsverweildauer, schlechte Aufstiegsmöglichkeiten usw. aus. Die Altenpflege, meine Damen und Herren, steht immer noch nicht gleichberechtigt neben der Krankenpflege. Dies zeigt sich allein daran, daß Altenpflegerinnen im Gegensatz zu Krankenschwestern nur in sehr engen Grenzen als Leiterinnen von ambulanten Pflegediensten akzeptiert werden. Darum ist es dringend nötig, daß wir heute gemeinsam über den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Altenpflegeausbildung debattieren. ({5}) Ziel ist eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung. Es muß sichergestellt werden, daß die Ausbildung vergütet wird, die Ausbildungsinhalte bundesweit gleich sind und Abschlußzeugnisse überall in Deutschland die gleiche Kompetenz bescheinigen. Um dies zu erreichen, sollen die 17 verschiedenen Ländergesetze durch eine bundeseinheitliche Regelung abgelöst werden. Das heißt jedoch nicht, daß wir den Beruf ganz neu erfinden müssen. Es war gerade ein Verdienst der Länder, Ausbildungsgänge für die Altenpflege eingeführt und in beachtlichem Umfang immer wieder modernisiert zu haben. Bestimmte Strukturen, die sich bewährt haben, sollen erhalten bleiben. Das Gesetz regelt die Ausbildung und Zulassung für die Berufe der Altenpflege, das heißt für Altenpflegerinnen und Altenpfleger sowie für Altenpflegehelferinnen und Altenpflegehelfer. Diese Berufsbezeichnungen werden dadurch dann endlich auch gesetzlich geschützt. Die Regelausbildungszeit soll drei Jahre betragen. Sie besteht aus theoretischem und fachpraktischem Unterricht und einer praktischen Ausbildung, die zeitlich überwiegen wird. Wir haben uns für diese sogenannte quasi-duale Ausbildung entschieden, weil wir davon ausgehen, daß die Schülerinnen und Schüler so am besten auf die Berufstätigkeit vorbereitet werden können. Sowohl der Schule als auch dem Träger der praktischen Ausbildung soll eine besondere Verantwortung für die Ausbildung übertragen werden. Dieses Modell hat sich auch schon in der Krankenpflegeausbildung bewährt. Die Ausbildung muß ein ganzheitliches Pflegekonzept vermitteln. Darauf sind auch die Ausbildungsziele abgestellt. Dieses bedeutet, daß die Ausbildung auf soziale und psychosoziale Aufgaben, auf Kenntnisse über die normalen Alterungsprozesse, aber auch verstärkt auf medizinisch-pflegerische Aufgaben auszurichten ist. So muß zum Beispiel gerade auf Altersdemenz professionell reagiert werden. In einer in der letzten Woche auf dem Welt-Alzheimer-Tag hier in Berlin vorgestellten Studie wurde noch einmal bestätigt, daß die Zahl der Alzheimer-Erkrankungen dramatisch ansteigen wird. Bis zum Jahr 2030 muß mit einer Zunahme der Demenzerkrankungen bei über 65jährigen um 60 Prozent gerechnet werden. Das heißt, 1,8 bis 2,5 Millionen alte Menschen werden von dieser Krankheit betroffen sein. Darauf müssen die Schülerinnen und Schüler umfassend vorbereitet werden. Das sind wir allen Betroffenen schuldig. ({6}) Die Einzelheiten wie konkrete Ausbildungsinhalte und Stundenzahlen sind nicht im Gesetz enthalten, sondern werden gesondert in einer Ausbildungs- und Prüfungsverordnung festgelegt. Auf Grund der beruflichen Anforderungen müssen allerdings die Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung festgelegt werden. Voraussetzung soll der Realschulabschluß bzw. der erweiterte Hauptschulabschluß sein. Für die Organisation und Ausgestaltung der schulrechtlichen Strukturen werden auch in Zukunft die Länder verantwortlich bleiben. Wie in der Krankenpflege wollen wir auch für die Altenpflege die Erstausbildung bundesweit ermöglichen. Diese ist zum Beispiel in Bayern nicht möglich. Ich erwähne dies, weil wir alle wissen, daß es der Freistaat Bayern war, der über den Bundesrat jahrelang eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung blockiert hat. ({7}) Das bayerische Verständnis von Pflegekräften wurde in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 13. November 1996 so formuliert: Die Altenpflege sollte insbesondere für Frauen nach der Erziehungsphase ihrer Kinder, für Berufswechsler und ältere Bewerber offengehalten werden. Eine dreijährige Erstausbildung ist hierfür nicht geeignet. So die Ansicht Bayerns. Hier kommt, meine Damen und Herren, ein Verständnis von Altenpflegeberuf zum Ausdruck, das nicht mehr der Realität entspricht. ({8}) Es geht dabei anscheinend immer noch um die pflegende Hand der erfahrenen Frau, weniger um professionelle Kenntnisse. Der ehemalige Arbeitsminister Norbert Blüm hat es hier im Plenum einmal so ausgedrückt: „Dazu braucht man ein gutes Herz und eine ruhige Hand.“ ({9}) - Natürlich braucht man ein gutes Herz. Aber das gilt nicht nur für Pflegeberufe. Ein gutes Herz braucht man hoffentlich für alle Berufe. ({10}) Pflegeberufe bedürfen ebenso wie andere Berufe auch der professionellen Qualifikation. In Richtung CDU/CSU möchte ich doch noch einmal eines klarstellen: Das Argument, dem Bund fehle die Gesetzgebungskompetenz für dieses Vorhaben, ist und bleibt vorgeschoben. Wer sich ernsthaft mit dem Berufsalltag auseinandersetzt und vor der Entwicklung der letzten Jahre nicht die Augen verschließt, der weiß um die umfassenden medizinisch-pflegerischen Aufgaben, die es zu verrichten gilt. Zur Verdeutlichung brauche ich dazu nur wieder das Stichwort Demenz zu nennen. Ein Ländervergleich zeigt im übrigen, daß gerade die bayerischen Ausbildungsanforderungen von den mittlerweile weiterentwickelten Standards anderer Länder deutlich abweichen. Da gibt es eine zweijährige Ausbildung, ({11}) keine Erstausbildung und keine Ausbildungsvergütung, sondern Schulgeld. Das sind überholte Maßstäbe, die dem heutigen Anspruch an einen modernen Pflegeberuf nicht mehr gerecht werden. ({12}) Ganz wichtig ist mir auch die Festschreibung der Ausbildungsvergütung, die wir in diesem Gesetz geregelt haben; denn ohne Zweifel ist es für die Motivation von Jugendlichen schon von Bedeutung, ob sie eine Ausbildungsvergütung bekommen oder nicht. Wir werden noch viele Gelegenheiten haben, über Einzelheiten dieses Gesetzentwurfs zu debattieren. Der Bundesrat hat schon viele wichtige Vorschläge dazu unterbreitet, wie eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung gestaltet werden sollte. Als Bundesregierung werden wir uns diesen Vorschlägen des Bundesrates nicht verschließen. Ich hoffe, daß auf dieser Grundlage auch ein breiter Konsens im Deutschen Bundestag geschaffen werden kann. Ich setze auf Ihre Unterstützung und auf eine baldige Verabschiedung nach 15 Jahren hier im Deutschen Bundestag. Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die CDU/CSUFraktion hat nun Kollegin Anke Eymer das Wort.

Anke Eymer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000509, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Initiative zum Altenpflegegesetz ist eine sehr erfreuliche Initiative, obwohl es ja bereits der zweite Anlauf ist. Wie bekannt, haben wir schon in der letzten Legislaturperiode den Versuch unternommen, die Altenpflegeausbildung bundeseinheitlich zu regeln. Im Kern bestand die Auseinandersetzung in der Frage, ob es notwendig und rechtlich möglich ist, daß dieser Ausbildungszweig bundeseinheitlich geregelt wird. Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt genau dieses Ziel: eine bundesrechtliche Grundlage für eine bundeseinheitliche Ausbildung in der Altenpflege zu schaffen. Die Aufgabe der Altenpfleger und Altenpflegerinnen ist es, älteren Menschen zu helfen, ihre körperliche, geistige, aber auch ihre seelische Gesundheit zu fördern, diese zu erhalten oder, wenn möglich, sogar wiederzuerlangen. Vor diesem Hintergrund soll die Altenpflege ein gefächertes Hilfsangebot der persönlichen Beratung, Betreuung und Pflege in stationären, teilstationären und ambulanten Diensten und anderen Einrichtungen ermöglichen. Dies ist ein ganzheitlicher Ansatz. Dementsprechend erstrecken sich die Ausbildungsinhalte sowohl auf medizinisch-pflegerische als auch auf sozialpflegerische Aspekte. Wenn die Ausbildung zur Altenpflegerin oder zum Altenpfleger nun im Rahmen einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes und unter Beachtung der schulrechtlichen Strukturen der Länder als eigenständige Ausbildung geregelt werden kann, so ist dies nur zu begrüßen. ({0}) Richtig ist: Auf Grund der demographischen Entwicklung nimmt der Bedarf an qualifizierten Altenpflegekräften zu. Hinzu kommt ein erheblicher Nachqualifizierungsbedarf in der stationären Pflege, besonders aber in der ambulanten Pflege, jedoch auch in der Hauspflege. Die explosionsartige Zunahme dementer Patienten und auch von Alzheimer-Patienten, von schwerstpflegebedürftigen oder mehr multimorbiden Patienten führt zu immer höheren Anforderungen an die Altenpflegekräfte im Umgang mit den Betroffenen. Frau Staatssekretärin, ich stimme Ihnen da zu; Sie haben das ja bereits erwähnt. Gleichzeitig ist richtig - auch da sind wir uns einig -, daß der Beruf der Altenpflegerin oder des Altenpflegers nicht immer die notwendige Anerkennung gefunden hat und findet. Dieses beruht nicht zuletzt auf dem uneinheitlichen Berufsbild. ({1}) Daher ist richtig, daß ein Altenpflegegesetz ein wichtiger Schritt ist, um die professionelle Pflege sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht zu sichern. Das Ziel muß eine Altenpflege sein, die fachlich kompetent und auch menschlich ist. Ich meine, daß die Pflege mit Herz durchaus dazugehört. ({2}) Die Gestaltung des Gesetzentwurfes zeigt, daß man sich im Sinne der Vereinheitlichung am Krankenpflegegesetz orientiert hat: Die Dauer der Regelausbildung von drei Jahren, die Regelung der Zugangsvoraussetzungen, der Schutz der Berufsbezeichnung, die Gestaltung des Ausbildungsverhältnisses und der Anspruch auf Ausbildungsvergütung folgen diesem Vorbild. Eine berufsbegleitende und damit eine entsprechend verlängerte Ausbildung ist möglich. Das bedeutet eine frühere, für die Altenpflege nützliche Ausbildung kann zur Verkürzung der Ausbildung in der Altenpflege führen. Für Berufsrückkehrerinnen, zum Beispiel nach der Familienphase, bedeutet dies einen erleichterten Wiedereinstieg ins Berufsleben. Denn auf der Lebenserfahrung und dem Allgemeinwissen erwachsener Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung kann man aufbauen. Gerade dieser Kreis hat auf Grund der Lebenserfahrung ein weitaus höheres Humankapital beizusteuern, was besonders wichtig ist. Denn - ich sage es noch einmal - oft gilt: Es ist besser, Hinwendung, Zuspruch, Herzlichkeit zu geben, als die in der Pflegeplanung vorgegebenen Punkte statisch abzuarbeiten. ({3}) Es darf aber nicht sein, daß gerade junge Menschen, die sich für diesen verantwortungsvollen Beruf entschieden haben, nach einer theoretischen Schulausbildung plötzlich mit einer Berufspraxis konfrontiert werden, die sie völlig überfordert. Daher ist es unbedingt notwendig, eine praxisnahe Ausbildung zu schaffen, die die Menschen fachlich, aber auch psychisch auf diesen Beruf vorbereitet. Gut im vorliegenden Entwurf ist die fachlich-praktische Betonung der Ausbildung gegenüber der eher theoretischen vieler Landesgesetze. Aber trotz all dieser positiven Ansätze zeigt der Gesetzentwurf noch reichlich Klärungsbedarf. Zunächst einmal sind 50 Prozent der Tätigkeiten in der Altenpflege Arbeitsabläufe, die nicht von drei Jahre lang ausgebildeten Kräften durchgeführt werden müssen, sondern durchaus in den Hilfebereich fallen. Ich denke an Arbeiten wie Bettenmachen oder auch Körperpflege. Sie können durchaus von jemandem mit einer einjährigen Ausbildung durchgeführt werden. Hierzu braucht man nur eine sinnvolle Rahmengesetzgebung. Aber es stellt sich vehement die Frage nach der Finanzierung. Dazu, Frau Staatssekretärin, haben Sie mir zuwenig gesagt. Diese Finanzierung, so scheint es mir, ist noch nicht abschließend geklärt. Ein ausgereiftes Altenpflegegesetz darf sich aber nicht um die Fragen der Finanzierung drücken. Dies ist der entscheidende Punkt des Gesetzes. Die Länder bleiben zwar für die Finanzierung der Kosten der schulischen Ausbildung verantwortlich; die Finanzierung der Ausbildungsvergütung soll aber über die Entgelte für die ausbildenden Einrichtungen erfolgen. ({4}) - Das sehe ich anders. Die Kosten können angeblich über die Pflegeversicherung refinanziert werden. Aber dabei muß gesichert sein, daß der Ausbildende nicht ökonomisch schließlich der Dumme ist. Die Pflegeversicherung ist nämlich in ihren Entgelten festgelegt, wie wir wissen. So bleiben im Prinzip nur zwei Möglichkeiten übrig: Entweder bleibt vom Entgelt nicht mehr so viel übrig, denn es müssen nun einmal die Ausbildungskosten abgezogen werden, oder das Entgelt wird erhöht, um die Kosten abzudecken. Dann wird die Pflege teurer, und die KonkurAnke Eymer ({5}) renzfähigkeit des ausbildenden Einrichtungsträgers sinkt. ({6}) - Ja, das ist die Folge davon. Daß die Sozialhilfe gemäß Paragraph 93 BSHG die Ausbildungskosten bezahlen wird, bezweifle ich stark. Nun haben einige Bundesländer bereits ein sogenanntes Umlageverfahren eingeführt. Das Ergebnis ist, daß viele Klageverfahren gegen entsprechende Umlagebescheide anhängig sind, die sich unter anderem auf die Verfassungswidrigkeit einer Umlagefinanzierung stützen. Das Umlageverfahren soll die Finanzierung der Aufwendungen für die Ausbildung sicherstellen. Was ist jedoch mit den ambulanten Diensten und der Hauspflege, die sich frei von institutionellen Einrichtungen gebildet hat? Was ist mit denjenigen, die ausbilden, oder sollen diese ebenfalls zahlen? Ich denke, wir müssen noch einmal sehr intensiv darüber diskutieren, wie eine optimale Finanzierung aussehen kann, wobei besonders darauf geachtet werden muß, daß nicht neue Abrechnungsbürokratien das Kind mit dem Bade ausschütten. Also, der vorliegende Gesetzentwurf über die Berufe in der Altenpflege enthält nicht nur gute Teile; der Bundesrat hat schon Korrekturen angemahnt. Wir müssen über diese Mahnung hinausgehen und auch noch fragen: Weshalb geben so viele den erlernten Beruf auf? - Das geschieht doch nicht auf Grund der langen Ausbildung. Die Gründe liegen eher in den Arbeitsbedingungen für die Altenpflegekräfte. Für diese ist gleichzeitig ein emotionaler und organisatorischer Spagat zwischen bürokratisch ablaufender Pflege im Minutentakt und einer humanen, hinwendungsvollen Pflege zu absolvieren. Gefordert ist daher nicht allein eine Neuregelung der Ausbildung, sondern es sind Veränderungen der Rahmenbedingungen für die Ausübung des Pflegeberufes an sich erforderlich. Danke fürs Zuhören. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN erteile ich nun Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit zehn Jahren diskutiert nun der Deutsche Bundestag über eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung. 1989 von der damaligen Ministerin Lehr erarbeitet, kurz darauf wieder zurückgezogen, 1994 von der hessischen Landesregierung in den Bundesrat eingebracht, wurde der Gesetzentwurf kurzerhand auf Eis gelegt. Gesetzentwürfe der Grünen und der SPD wurden von der alten Regierung immer wieder von der Tagesordnung gestimmt. Zu stark war das Land Bayern, zu stark die CSU. Aber da bekanntlich aller guten Dinge drei sind, werden wir heute einen neuen Anlauf nehmen, auch wenn wir wissen, daß der Bundesrat hier ein gewichtiges Wort mitzureden hat. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, wir haben es gerade gehört: Inhaltlich sind wir uns relativ einig, und ich nehme Sie einfach beim Wort, wenn Sie sagen, Sie machen keine Blockadepolitik. ({0}) Herrn Blüm werden heute morgen die Ohren klingeln, wenn er so häufig zitiert wird. Ein Zitat von ihm: „Pflegen kann jeder.“ Ich füge hinzu „und jede“, und das „gute Herz“ und die „ruhige Hand“ sind von der Staatssekretärin bereits erwähnt worden. Die hohen Anforderungen in den gerontologischen und geriatrischen Bereichen können jedoch nur mit einem guten Herzen und einer ruhigen Hand nicht erfüllt werden. Die Fachwelt war daraufhin auch sehr empört. Daß gerade in einem zu 90 Prozent von Frauen ausgeübten Beruf diese Fähigkeiten als ausreichend anerkannt wurden, war bezeichnend auch für die alte Bundesregierung. Schlechte Arbeitsbedingungen, geringe Bezahlung, fehlende Aufstiegschancen - das sind alles Merkmale für typische Frauenberufe. Auch hier hat also die rotgrüne Regierung einen Reformstau zu beseitigen, und das tun wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. ({1}) Es wurde schon darauf hingewiesen: Noch immer gibt es in den 16 Bundesländern 17 unterschiedliche Ausbildungen. In einigen Ländern beträgt die Ausbildungsdauer zwei Jahre, in anderen drei. Die Abschlüsse sind nicht vergleichbar und werden in den jeweils anderen Bundesländern nicht anerkannt. In einigen Einrichtungen muß noch Schulgeld gezahlt werden, während anderenorts Ausbildungsvergütungen gezahlt werden. Daß die heutige Ausbildung nicht dem qualitativen Anspruch an die Pflege alter Menschen und den entsprechenden fachlichen Anforderungen entspricht, zeigt auch die hohe Unzufriedenheit in diesem Beruf. Die Ausstiegsrate in der Altenpflege ist so hoch wie in keinem anderen Beruf. Denn bereits am Ende der Ausbildung plant ein Drittel den sofortigen Ausstieg. Im ersten Berufsjahr gibt bereits jede vierte Frau den Beruf auf. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt nur zwei Jahre. Ich finde, das können wir nicht länger hinnehmen. ({2}) Nach langer Zeit des Stillstands hat nun die neue Bundesregierung bundeseinheitliche Regelungen vorgesehen. Es ist, wie Sie sich vorstellen können, kein Pappenstiel, 16 Länder davon zu überzeugen, daß sie ihre Gesetze zugunsten einer bundeseinheitlichen Regelung zurücknehmen müssen. Das ist ein hartes Stück Arbeit. So hat auch der Bundesrat eine Reihe von unserer Meinung nach positiven Änderungen vorgesehen, wobei in der Stellungnahme der Bundesregierung die meisten übernommen werden. Der Gesetzentwurf legt nun eine Anke Eymer ({3}) Regelausbildungsdauer von drei Jahren fest, regelt Mindeststandards und schreibt künftig eine Ausbildungsvergütung fest. Ich finde, das ist zunächst ein sehr großer Fortschritt. ({4}) Einem Kritikpunkt des Bundesrates muß ich mich allerdings anschließen. Ich finde es problematisch, daß die dreijährige Ausbildung durch eine generelle Verkürzungsmöglichkeit von bis zu 12 Monaten für Umschülerinnen und Umschüler unterlaufen werden kann. Denn zwei Drittel aller Auszubildenden in der Altenpflege sind Umschülerinnen und Umschüler. Das bedeutet: Die Ausbildungsdauer würde sich für die meisten Auszubildenden tatsächlich auf zwei Jahre belaufen, ohne daß diese eine einschlägige Vorbildung vorweisen müßten. Mir hat noch niemand plausibel erklären können, wieso zum Beispiel ein Bergmann, der wegen einer Zechenschließung eine Umschulung zum Altenpfleger anstrebt, eine Reduzierung seiner Ausbildungsdauer um ein Jahr erfährt. Gerade aus den entsprechenden Schulen hört man, daß dieser Personenkreis eigentlich eine längere Ausbildungsdauer bräuchte, weil das Lernen erst wieder gelernt werden muß. Daß mit diesem Gesetzentwurf auch eine einjährige Altenpflegehelferinnen- und Altenpflegehelferausbildung geregelt wird, ist der bestehenden Situation und der Zustimmungsbereitschaft der Länder geschuldet. Die Einführung eines Helferinnen- und Helferberufes in der Altenpflege führt meines Erachtens nicht zu einer Aufwertung und Professionalisierung dieses Pflegeberufs. ({5}) Die zu pflegenden Menschen erwarten eine qualifizierte Pflege. Sie machen keinen Unterschied, ob nun eine Pflegerin oder eine Helferin an ihrem Bett steht. Über dieses Problem sollten wir noch mit den Ländern sprechen. ({6}) Aber auch arbeitsmarktpolitisch gesehen ist dies eine Sackgasse. Denn bei der Anrechnung der Fachkraftquote zählen die Helferinnen nicht mit. Für die Heime sind sie viel zu teuer; denn es gibt ungelernte Kräfte, die eingestellt werden können. Das ist der Grund dafür, weshalb in einigen Ländern - es gibt ja nicht in allen Ländern Helferinnen - eine Vielzahl von Altenpflegehelferinnen erwerbslos ist. Die fachlichen Anforderungen an das ausbildende Lehrpersonal für Altenpflegeschulen und für die praktische Ausbildung nehmen Rücksicht auf die Unterschiedlichkeit der Ausbildungsstätten der einzelnen Länder. Für die Altenpflegeschulen gilt nur, daß in ausreichender Zahl pädagogisch qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung stehen müssen. Für die Qualifikation der Ausbilderinnen und Ausbilder in der praktischen Ausbildung sind keine Kriterien vorgesehen. Diese Qualitätsstandards entsprechen meiner Meinung nach nicht den Qualifikationen, die im Rahmen eines dualen Systems gefordert werden. ({7}) Langfristig gesehen müssen hier Verbesserungen erfolgen. Aber das ist natürlich eine Angelegenheit der Länder. Was uns Bündnisgrüne besonders freut, ist, daß mit diesem Gesetzentwurf nach einer über zehn Jahre dauernden Reformdiskussion der Einstieg in die integrierte Pflegeausbildung möglich wird. Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege können - zunächst in einem Modellversuch - in einem einheitlichen Ausbildungsberuf zusammengefaßt werden. ({8}) - Danke schön, Herr Kollege Goldmann. - Diese Notwendigkeit hat erfreulicherweise auch der Bundesrat gesehen und hat eine Öffnungsklausel für Modellversuche der Länder eingebracht. Ich bin sehr gespannt darauf, welches Land als erstes den Reformschritt wagt, der von der Fachwelt seit langem gefordert wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend läßt sich sagen: Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Es sind keine Wege für weiterreichende Reformen verstellt, so daß wir mit Fug und Recht behaupten können: Hier wurde ein Schritt in Richtung einer qualifizierten Berufsausbildung insbesondere für Frauen 90 Prozent der in der Altenpflege Tätigen sind Frauen getan. Daneben - das freut mich angesichts des heutigen Internationalen Tages der Senioren ganz besonders kommt diese Ausbildung natürlich auch der professionelleren Pflege alter Menschen zugute. Ich finde, dafür lohnen sich alle Anstrengungen. Lassen Sie uns in den Ausschußberatungen über diese Ziele einig sein, so daß wir in Kürze ein gutes Gesetz vorlegen können. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle sind sich seit langem einig: Es muß eine bundesweit einheitliche Regelung der Altenpflegeausbildung geben. Die F.D.P. drängt seit sehr vielen Jahren auf ein Altenpflegegesetz. ({0}) - Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Deshalb begrüßen wir, daß die Bundesregierung einen neuen Anlauf unternimmt, diese fast unendliche Geschichte zu einem Abschluß zu bringen. Seit Mitte der 80er Jahre wird versucht, zu einem Altenpflegegesetz zu kommen. Zuletzt waren die Bemühungen an der Blockadehaltung Bayerns gescheitert. ({1}) Aber sowohl die betroffenen alten Menschen als auch die jungen Auszubildenden haben ein Anrecht auf einen Schutz der Berufsbezeichnung, auf einen bundeseinheitlichen Ausbildungsstandard, auf bundeseinheitliche Zugangsvoraussetzungen sowie auf eine Regelung der Ausbildungsvergütung. ({2}) Für die älteren Bürgerinnen und Bürger, die auf Pflege angewiesen sind, sichert das Gesetz einen gewissen einheitlichen Ausbildungsstandard ihres Pflegers oder ihrer Pflegerin auf hohem Niveau. Für die jungen Menschen wird zugleich die Attraktivität dieses wichtigen Berufszweiges erhöht. Sehr vernünftig ist an dem Gesetzentwurf aus unserer Sicht, daß eine Ausbildung in bestimmten anderen Pflege- und Heilberufen angerechnet werden kann. So entsteht Flexibilität auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt, die für die Zukunft der Arbeit in Deutschland von entscheidender Bedeutung ist. Deshalb unterstützen wir auch die Absicht, eine integrierte Ausbildung für Kranken- und Altenpflege anzustreben und modellhaft eine gemeinsame Ausbildung zu erproben. ({3}) Die Anerkennung der Haushaltsführung als Kriterium für die Verringerung der Ausbildungsdauer sehen wir etwas kritisch. Wir sind der Auffassung, daß schwer nachprüfbar ist, ob wirklich ein Erwerb von Kenntnissen im Sinne des Altenpflegeberufes vorliegt. Wir sind für objektiv nachweisbare Kriterien, die zur Verkürzung der Ausbildungsdauer berechtigen. Das Ziel eines möglichst hohen fachlichen Qualitätsniveaus der Altenpfleger muß Vorrang haben vor etwa wünschenswerten familienpolitischen Signalen. Dies liegt eigentlich im Interesse der auf professionelle Hilfe angewiesenen Pflegebedürftigen. Wesentlich ist, daß auch im Hinblick auf die Ausbildungsvergütung nun eine bundesweit einheitliche Regelung getroffen wird. Die Ausbildungsvergütung stärkt die Attraktivität der Ausbildung. Es gibt einen wachsenden Bedarf an qualifizierter Altenpflege. Die Vergütung hilft, eine ausreichende Zahl qualifizierter Fachkräfte dafür zu gewinnen. Meine Damen und Herren, es ist vorhin schon erwähnt worden: Die Finanzierung der Ausbildung und damit auch die Ausbildungsvergütung ist ein schwieriges Thema, Frau Eymer. Sie sollte möglichst einfach und ohne besonderen Verwaltungsaufwand geregelt werden. Die von der Bundesregierung zunächst vorgesehene Regelung - Erstattungsverfahren durch alle an der praktischen Ausbildung beteiligten Betriebe und darüber hinaus eine Verordnungsermächtigung für die Länder mit der Möglichkeit, die nicht an der Ausbildung beteiligten Betriebe im Wege eines Umlageverfahrens zu beteiligen - war zu kompliziert und verwaltungstechnisch sehr aufwendig. Darin stimmt die F.D.P. dem Bundesrat zu. Ein Ausgleich über ein Umlageverfahren - wenn denn die Länder eine entsprechende Verordnung erlassen - erscheint uns sinnvoller. Jedoch müssen die hinsichtlich des Umlageverfahrens bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken geklärt werden. Eine Umlage für alle, auch für die nicht an der Ausbildung beteiligten Betriebe, erscheint aus Wettbewerbsgründen gerechter, zumal damit die Kosten für die einzelne Ausbildungsstätte gering gehalten werden können. ({4}) Ansonsten bevorzugen wir die Regelung, den Träger der praktischen Ausbildung die Kosten der Ausbildungsvergütung tragen zu lassen, die er über die Entgelte für seine Leistungen refinanzieren kann. Allerdings müssen im Laufe dieses Gesetzgebungsverfahrens die noch laufenden Rechtsstreitigkeiten in einzelnen Bundesländern in dieser Hinsicht berücksichtigt werden. Sicherlich läßt der Gesetzentwurf Wünsche offen. In manchen Details sind wir noch ein gutes Stück von einer bundeseinheitlichen Regelung entfernt, besonders im Bereich der Altenpflegehilfeausbildung. Doch ist der Gesetzentwurf ein wichtiger Schritt zu einheitlichen Ausbildungsstandards. Die F.D.P. hofft, daß die Beratungen noch problematische Punkte klären helfen und daß sich auch der Bundesrat diesmal zu einer positiven Entscheidung durchringen kann. Wir werden konstruktiv an den weiteren Beratungen mitwirken, um endlich zum längst überfälligen Altenpflegegesetz zu kommen. Packen wir es an! ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Begründung des Gesetzentwurfs ist die Aufgabe des Altenpflegeberufes definiert - ich stimme dieser Definition voll und ganz zu -: Aufgabe der Altenpflegerinnen und Altenpfleger ist es, älteren Menschen zu helfen, die körperliche, geistige und seelische Gesundheit zu fördern, zu erhalten und wiederzuerlangen. Mit einem neuen Altenpflegegesetz soll ein sozialpädagogisches Berufsprofil gesichert werden, das den älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein Leben in Anstand und Würde ermöglicht. Ziel ist es aber nicht, den Altenpflegerinnen- und Altenpflegerberuf in einen Heilhilfsberuf umzuwidmen. Genauso wenig, wie ein Kind ein „kleiner Erwachsener“ ist, genauso wenig ist ein älterer Mensch ein Langzeitkranker. Dieser Tatsache muß mit professioneller Altenpflege Rechnung getragen werden. Wie Frau Staatssekretärin Niehuis schon beKlaus Haupt merkte: Der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften wird weiter steigen. Mit der schon längst fälligen Neuordnung der Altenpflegeausbildung müssen Qualitätsstandards und umfassende Sozialpflege gesichert werden. Ebenso sollten Betreuung, Anleitung, Beaufsichtigung, Aktivierung und die Beachtung sozialpädagogischer Aspekte möglich sein. Der Gesetzentwurf bringt aber keinen Qualitätsgewinn. Er bewirkt vielmehr eine gravierende Verschlechterung der Altenpflegeausbildung. Er schraubt erreichte Qualitätsstandards zurück ({0}) und verschiebt das Profil der Altenpflege deutlich in Richtung eines medizinisch-pflegerischen Profils. ({1}) In seiner Orientierung folgt er dem Krankenpflegegesetz. Die in verschiedenen Ländern auf hohem Niveau entwickelten Ausbildungsordnungen für die Altenpflege stellen für uns unverständlicherweise keine Basis für den Gesetzentwurf dar. Die wesentlichen grundsätzlichen Einwände sind: Erstens. Aus dem bewährten sozialpflegerischen Berufsprofil wird ein Heilhilfsberuf gemacht. Zweitens. Die dreijährige Ausbildung wird zum Sonderfall, die zweijährige Ausbildung zur Regel. Umfangreiche Verkürzungsmöglichkeiten machen aus der in den Ländern jetzt überwiegend dreijährigen Ausbildung eine zweijährige Ausbildung. Der Bund geht davon aus, daß nur in einem Drittel der Fälle überhaupt noch eine dreijährige Ausbildung absolviert wird. Drittens. Eine klare Ansiedlung im System beruflicher Bildung - im Schulrecht oder im Berufsbildungsgesetz - erfolgt nicht. Die Modellschule aber ist eine Schule im Niemandsland der Berufsbildungssystematik. Uneinheitliche Niveaus - ich nenne in diesem Zusammenhang Schulen besonderer Art in Abgrenzung gegenüber dem Schulrecht - bleiben unangetastet. Das Berufsbildungsgesetz wird ausgeschlossen. Das Schulrecht wird zwar zugelassen, jedoch durch die Konstruktion des Gesetzes strukturell gefährdet. Viertens. Das Niveau der theoretischen Ausbildung wird strukturell nicht gesichert; einer Absenkung nach unten werden Tür und Tor geöffnet. ({2}) Die Mindestqualifikation für leitende Lehrkräfte wird unterhalb eines Fachhochschulstudiums festgeschrieben. Fünftens. Das Gesetz sieht eine im Grundsatz und im Detail höchst problematische Zwitterstellung zwischen Arbeitsrecht und Schülerstatus - gegebenenfalls im Rahmen von Schulrecht - für den Studierenden vor. Sechstens. Die Zahlung einer Ausbildungsvergütung bei einer Ausbildung an berufsbildenden Schulen schließt sich schulrechtlich derzeit zum Beispiel in den Ländern Berlin und Bayern aus. Siebtens. Das Gesetz schließt die Zahlung von Schulgeld aus. Die Fachschulen arbeiten, finanzieren aber aus den Schulgeldern ihre Sachkosten. Ohne diese können sie ihren Ausbildungsauftrag nicht wahrnehmen. Achtens. Die im Gesetz vorgeschlagene Umlagefinanzierung ist rechtlich umstritten. Ausbildungskapazitäten wären bedroht. Fazit. Die geforderte Qualitätsprüfung für die Altenpflegeausbildung bringt dieser Gesetzentwurf ebensowenig wie die erhoffte Vereinheitlichung der Ausbildungen. Der Bundesrat und zahlreiche Fachverbände fordern Korrekturen des Gesetzentwurfes. Das sollte auch geschehen. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Christa Lörcher, SPD-Fraktion.

Christa Lörcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste aus dem Pflegebereich und aus anderen Bereichen! „Altenpflege, ein Beruf mit Zukunft“, so werben viele Altenpflegeschulen für eine Ausbildung in einem sehr schönen und sehr anspruchsvollen Beruf. Positiv sind die Ziele der Ausbildung und der Arbeit in der Altenpflege. Ich zitiere den Deutschen Berufsverband für Altenpflege zu dem Berufsbild Altenpfleger/Altenpflegerin: Ziel ... ist es, für die Würde, die Rechte und das Wohlbefinden alter Menschen einzustehen. Planung und Gestaltung aller Dienste sollen sich leiten lassen von folgenden Gedanken: Unterstützung geben bei der Gestaltung des persönlichen Lebensraumes alter Menschen, ihre Kompetenzen schützen und fordern; sich an ihren individuellen Lebensgeschichten orientieren, ihnen einen anerkannten Platz in der Gesellschaft sichern helfen. ({0}) Anspruchsvoll sind die Aufgaben in der Altenpflege, und sie werden immer anspruchsvoller. Die Unterstützung bei der Lebensgestaltung umfaßt nicht nur die Betreuung und Beratung, Ermutigung und Begleitung alter Menschen, sondern auch die Mitwirkung bei Prävention und Rehabilitation, Pflegeplanung und pflegerische Versorgung, Reflexion der eigenen beruflichen Arbeit - gerade angesichts der Belastungen, die in diesem Beruf zu bewältigen sind -, Anleitungsaufgaben und Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team. Trotz guter Ziele und anspruchsvoller Aufgaben - wir haben es gehört - ist die Verweildauer im Beruf gering: Ausbildung, besonders die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, Arbeitsbedingungen, physische und psychische Belastungen und die mangelnden Aufstiegschancen sind häufig genannte Gründe für Unzufriedenheit und Flucht aus dem Beruf. Die Bevölkerungsentwicklung in unserem Land ist bekannt. Ausführlich haben wir die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, auf die sozialen Sicherungssysteme und auf die sozialen Dienste in der EnqueteKommission „Demographischer Wandel“ diskutiert. Der Bedarf an qualifizierten Pflegeleistungen wird - wir haben es heute mehrfach gehört - steigen. Wir leisten uns 17 Ausbildungsregelungen in 16 Bundesländern, und das in einem Europa, in dem immer mehr Mobilität und Zusammenarbeit gefordert ist. Das müssen wir ändern; wir sind auf dem Weg dazu. ({1}) Dieser Weg ist heute aufgezeigt worden; ich will die Vorgeschichte jetzt gar nicht wiederholen. Er war gekennzeichnet von Hindernissen und Hürden. Ich hoffe im Interesse der Pflegebedürftigen und der Pflegenden, daß dieser Weg jetzt zu einem guten Ende führt und daß das Ziel in nicht allzu ferner Zeit erreicht wird. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung hat Vorläufer aus Bundestag und Bundesrat. Eine Anhörung zum damaligen Gesetzentwurf im November 1996 hat dringenden Handlungsbedarf bestätigt. Jetzt haben wir die Chance, nachdem Kabinett und Bundesrat den aktuellen Gesetzentwurf begutachtet und Stellung dazu genommen haben, diesen Entwurf im Ausschuß und mit den Verbänden ausführlich zu diskutieren und, wenn nötig, Änderungsvorschläge einzubringen. Die SPDFraktion wird eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf beantragen. „Qualität erfordert Qualifikation“, fordert der Bundesausschuß der Lehrerinnen und Lehrer für Pflegeberufe. Ich freue mich über das Engagement der Kolleginnen und Kollegen für hohe Standards in der Ausbildung für Pflegeberufe. ({2}) Ebenso freue ich mich über die ausführlichen Stellungnahmen zum Beispiel meiner Gewerkschaft, der ÖTV, oder der Arbeiterwohlfahrt und vieler anderer Verbände und Organisationen. Ich will nur einige Aspekte aus den genannten Schreiben und Stellungnahmen anführen. Der erste Punkt: Eine einheitliche dreijährige Ausbildungsdauer mit bundeseinheitlichen Standards wird allgemein begrüßt. Ebenso wird eine Ausbildungsvergütung, die sich an der Vergütung in der Krankenpflege orientiert, von vielen als Fortschritt betrachtet. Allerdings muß die Finanzierung dieser Ausbildungsvergütung möglichst gerecht und einfach sein, und ihre Rechtmäßigkeit muß abgeklärt sein. Auch dazu ist schon einiges ausgeführt worden. Der zweite Punkt: Eine Altenpflegehelferausbildung ist nach wie vor sehr umstritten. Aus altenpolitischer wie aus bildungs- und frauenpolitischer Sicht ist eine Helferausbildung abzulehnen. Das Argument, ein Jahr Ausbildung ist besser als keine Ausbildung, ist zwar nicht von der Hand zu weisen, aber es entkräftet nicht die Tatsache, daß die Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlechter sind als die von Fachkräften, daß die geringere Qualifikation eine geringere Bezahlung zur Folge hat und daß oft ohne rechtliche Grundlage Tätigkeiten ausgeübt werden müssen, für die keine Qualifikation erworben wurde. Das, denke ich, ist der entscheidende Punkt. ({3}) Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung überläßt die Entscheidung über eine Helferausbildung den Ländern. Damit können bundeseinheitliche Standards für den Beruf Altenpflegehelferin/Altenpflegehelfer kaum erreicht werden. Ich denke aber, es wäre sinnvoll, diese Ausbildung auf eine gewisse Zeit zu begrenzen und dann auf wirklich qualifizierte Fachkräfte zu setzen. Der dritte Punkt: Sehr großen Diskussionsbedarf haben die im Gesetzentwurf vorgesehenen Verkürzungsmöglichkeiten ausgelöst. Besonders die Tatsache, daß die Führung eines Familienhaushalts unter bestimmten Bedingungen zu einer Verkürzung der Ausbildung führen sollte, hat Empörung bei den Fachverbänden hervorgerufen, da die Qualität der Ausbildung dadurch in Frage gestellt wird. Der Bundesrat hat diese Möglichkeit der Verkürzung gestrichen, und die Bundesregierung hat der Streichung zugestimmt. Insofern ist das vom Tisch. Über die Verkürzung bei Umschulungsmaßnahmen ist schon gesprochen worden. Ich glaube, darauf brauche ich nicht noch einmal einzugehen. Ich denke, auch hier wäre es sinnvoll, das auf einen bestimmten Zeitraum, zum Beispiel auf fünf Jahre, zu begrenzen. Der vierte Punkt: Bei der Fehlzeitenregelung, der Dauer der Probezeit und der Regelung des Ausbildungsverhältnisses sind im Gesetzentwurf zum Teil ungünstigere Rahmenbedingungen als im Berufsbildungs- und im Krankenpflegegesetz enthalten. Dies sollte im Interesse der Schülerinnen und Schüler - diese sind meiner Erfahrung nach zwischen 18 und 50 Jahre alt, es sind also Erwachsene - nochmals überprüft werden. Ich denke, hier kann man noch bessere Regelungen finden. In der Anhörung werden wir sicher noch darauf eingehen. Der fünfte Punkt: Bei der Finanzierung der Ausbildung sind die Kosten für die Ausbildungsstätten mit Betriebs- und Verwaltungsaufwand wie bisher von den Ländern aufzubringen. Über die Finanzierung der Ausbildungsvergütungen ist bereits gesprochen worden. Die Bundesregierung hat einen anderen Vorschlag gemacht als der Bundesrat. Ich denke, es sollte eine möglichst einfache und gerechte Finanzierung gefunden werden. Das Umlageverfahren - das wissen wir alle - ist eigentlich die gerechteste Lösung, und zwar deswegen, weil es alle Institutionen einbezieht und mehr Ausbildungsplätze schafft, indem es die Betriebe, die nicht ausbilden, zur Finanzierung heranzieht und damit Anreize zur Ausbildung schafft. Der sechste Punkt: In § 29 des vorliegenden Gesetzentwurfs wird ausdrücklich betont, daß das Berufsbildungsgesetz für die Berufe in der Altenpflege und in der Altenpflegehilfe keine Anwendung findet. Dem Vorschlag des Bundesrates, die in Hamburg durchgeführte Regelung der Ausbildung nach dem BBiG bis zum 31. Juli 2006 zu belassen, hat die Bundesregierung zugestimmt. Ich möchte für die SPD-Fraktion und die Mitglieder im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sagen, daß wir bei allen Beratungen betont haben, daß die Standards des Berufsbildungsgesetzes auch für die Pflegeberufe Maßstab sein müssen. Das gilt insbesondere für den Status von Auszubildenden, für die Ausbildungs- und Rahmenpläne und für die Qualifikation der Lehr- und Fachkräfte für die theoretische und praktische Ausbildung. ({4}) Qualität erfordert Qualifikation, dieser Satz gilt für die Pflegekräfte ebenso wie für die Lehrkräfte und die Ausbilderinnen und Ausbilder. Langfristig ist natürlich die integrierte Ausbildung sinnvoll. Ich kürze diesen Punkt jetzt einfach ab, weil er schon mehrfach erwähnt worden ist. Ich freue mich, daß auch die F.D.P.-Fraktion diese Art der Ausbildung für sinnvoll hält. Ich glaube wirklich, daß wir gemeinsam eine gute Lösung erzielen können. „Älter werden ist die einzige Chance, länger zu leben.“ Dies wurde mir im KDA, Kuratorium Deutsche Altershilfe, einmal gesagt. Nutzen wir diese Chance und bereiten wir uns und andere auf das Älterwerden vor! Die Pflegebedürftigen erwarten von uns qualifizierte und würdige Pflege. Sie erwarten Respekt vor ihrer Person und Biographie. Sie sind dankbar für Zuwendung und menschliche Wärme. Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte in den Altenpflegeschulen und die Pflegekräfte in den Institutionen erwarten von uns hohe Qualitätsstandards für Ausbildung und Arbeit in der Pflege. ({5}) Wenn wir dies Schritt für Schritt verwirklichen, dann kann Altenpflege ein schöner und anspruchsvoller Beruf sein, in dem Frauen und Männer kompetent und menschlich den letzten Lebensabschnitt von Menschen begleiten, die diese Hilfe brauchen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Walter Link, CDU/CSU-Fraktion.

Walter Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf Grund der demographischen Entwicklung müssen wir in den nächsten Jahren mit einer verstärkten Nachfrage nach qualifiziertem Pflegepersonal in der Altenpflege rechnen. So sind zum Beispiel heute in der Bundesrepublik Deutschland 21 Prozent der Menschen über 60 Jahre alt. Im Jahr 2030 werden es 30 Prozent, im Jahr 2040 fast 40 Prozent sein. Nun wissen wir, daß die meisten Menschen auch im hochbetagten Alter alleine und gut zurechtkommen und leben. Dennoch wird es für einen Teil der Menschen von großer Wichtigkeit sein, Hilfen zu haben. Wir müssen nach heutigem Kenntnisstand davon ausgehen, daß die Zahl der Pflegebedürftigen von jetzt 1,6 Millionen auf 2,5 Millionen bis 2,8 Millionen im Jahre 2040 steigen wird. Wir haben in einem Zwischenfazit der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ auch deutlich gemacht, daß eine Konzentration der Pflegebedürftigkeit auf die hochbetagten Menschen wie könnte es anders sein - sowohl die Familien als auch das Altenpflegepersonal besonders fordern wird. Wir können und sollten nicht verschweigen, daß zwischen dem 60. und dem 90. Lebensjahr das Risiko von Demenzerkrankungen steigt. Bereits heute leiden 800 000 Menschen in unserem Lande an einer Form der Demenz. Nach Hochrechnungen könnten es bis zum Jahr 2010 auf Grund der kontinuierlich steigenden Lebenserwartung 1,7 Millionen Menschen sein. Hier gibt es Grenzen bei der Pflege durch Angehörige in der Familie. Wir brauchen qualifiziertes Pflegepersonal, soziale Netzwerke und Dienste, die flexibel den privaten mit dem professionellen Sektor verbinden. Diese Zahlen und Fakten zeigen deutlich: Dem Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers kommt eine immer größere Bedeutung zu. Aufgabe der Altenpflegerinnen und Altenpfleger ist es, älteren Menschen zu helfen, die körperliche, geistige und seelische Gesundheit zu fördern, zu erhalten oder auch wiederzuerlangen. Sorge bereitet uns, daß ein Drittel aller Altenpflegerinnen und Altenpfleger die Aufgabe des Berufs bereits am Ende ihrer Ausbildung plant. 35 Prozent von ihnen begründen den frühen Ausstieg mit psychischer und physischer Überbelastung im Beruf. Die Altenpflegerinnen und Altenpfleger fühlen sich in ihrer Ausbildung nicht genügend auf praktische Tätigkeitsanforderungen und Krisenbewältigung vorbereitet. Besonders fordern sie, daß Altersheilkunde und Alterspsychiatrie in ihrer Ausbildung eine größere Rolle spielen müssen. Hier wird sehr deutlich, daß die Ausbildung eine gesunde Mischung von Praxis und Theorie sein muß. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung hat zum Ziel, die Ausbildung, Prüfung und staatliche Anerkennung von Altenpflegerinnen und Altenpflegern bundeseinheitlich zu regeln. Dieses Anliegen ist kein neues. Seit 1989 hat es immer wieder Bestrebungen in diese Richtung gegeben. Aber es hat bis heute immer wieder von seiten der verschiedensten Bundesländer Widerstand gegen eine solche bundeseinheitliche Regelung gegeben. Wir müssen uns in der Tat fragen, ob die Begründung im Gesetzentwurf für eine Bundeskompetenz wirklich ausreichend ist. Die Bundesregierung ordnet die Tätigkeit in der Altenpflege in den Bereich der Heilberufe ein. Sie begründet dies nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 19 des Grundgesetzes damit, daß die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung sei. Hierzu gibt es widersprüchliche Äußerungen aus den Fraktionen des Deutschen Bundestages und aus den Ländern. Es sind nicht nur die Bayern oder die CSU ({0}) - ich freue mich im übrigen darüber, daß die CSU bei uns so stark ist -, ({1}) sondern mittlerweile fünf Länder, die, wenn Sie den Gesetzentwurf der Bundesregierung und die Anfragen und Äußerungen des Bundesrates dazu lesen, mittlerweile 100 Änderungen zu diesem Gesetz beantragt haben. ({2}) - Frau Kollegin Lörcher, das muß einen doch nachdenklich machen. Wenn Sie die Bundeseinheitlichkeit erreichen wollen, dann würde ich an Ihrer Stelle mehr werben, auch bei den anderen. ({3}) Die Frage ist: Ist die Altenpflege nicht vielmehr überwiegend eine sozialpflegerische Betreuung, Beratung, Unterstützung, helfende Begleitung und Versorgung unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger? Die Altenpflegerinnen und Altenpfleger heilen nicht in erster Linie Krankheiten und entlassen den gesunden Menschen aus der Pflege. Nein, sie helfen den älteren Menschen, sie pflegen und betreuen sie. ({4}) - Die Übereinstimmung mit Ihnen ist mir fast peinlich. Damit ist eigentlich klar: Die Altenpflege ist ein sozialpflegerischer Beruf, für den die Kompetenz des Bundes nicht durch die genannten Artikel unseres Grundgesetzes abgedeckt ist. Immer mehr Bundesländer - ich sage an dieser Stelle noch einmal: nicht nur Bayern - haben Zweifel im Hinblick darauf angemeldet, daß der Bund sich in ihre Angelegenheiten einmischt. Wir nehmen jedenfalls die Kritik sehr ernst, wenn auch die Bundesratsbank heute morgen schlecht besetzt ist, und werden dies in die Diskussion der nächsten Wochen und Monate einbringen. Heute ist ja erst die erste Lesung. Wir kommen noch zu Anhörungen und Fachgesprächen zusammen. Vielleicht einigen wir uns ja noch. Diese Länder fragen: Müssen wir denn alles immer zentral regeln? ({5}) Für die betroffenen Berufsangehörigen ist vor allem wichtig, daß die in einem Bundesland absolvierte Ausbildung in den anderen Ländern anerkannt wird. ({6}) Um dies sicherzustellen, haben die Kultusministerkonferenz sowie die Arbeits- und Sozialministerkonferenz 1984/85 eine entsprechende Rahmenvereinbarung abgeschlossen. Es findet ja die gegenseitige Anerkennung statt. Im übrigen haben sie sich gesagt, wir befinden uns in einer Experimentierphase. Diese dauert bis 2001 an. Darauf hat man sich geeinigt. Wir, die CDU/CSU, haben uns immer für klare Abgrenzungen der Zuständigkeiten und der Verantwortlichkeiten zwischen Kommunen, Ländern, Bund und auch Europa eingesetzt. Es wird immer wieder argumentiert, man brauche das Altenpflegegesetz, weil ein Mangel an gut ausgebildeten Altenpflegerinnen und Altenpflegern besteht. Es ist nicht zu bezweifeln - das habe ich eingangs gesagt -, daß hier eine große Welle auf uns zukommen wird. Fakt ist aber auch, daß wir von 1995 auf 1996 trotz der mangelnden Bundeszuständigkeit 28 000 Vollzeitkräfte in der Pflege neu hinzubekommen haben. Wenn wir den Altenpflegerinnen und Altenpflegern bei ihrer schweren sozialpflegerischen Tätigkeit helfen wollen, so müssen die Bundesländer ihre überwiegend schulrechtlichen Ausbildungsregelungen auf die Erfordernisse der Praxis einstellen. Das fordere ich jedenfalls für meine Fraktion nachdrücklich. Ich fasse zusammen: Heute ist die erste Lesung des Gesetzentwurfes über die Berufe in der Altenpflege. Wir sehen den Diskussionsbedarf der Länder und werden in den Beratungen des Ausschusses und gegebenenfalls in einer Anhörung mit Fachleuten die Kritikpunkte diskutieren. Heute bleibt mir noch zu sagen, daß trotz der fehlenden Bundeskompetenz, weshalb Ihrer Ansicht nach alles so schwierig ist, zigtausende Altenpflegerinnen und Altenpfleger sowie -helferinnen und -helfer einen sehr schweren, aber auch wunderbaren Dienst an unseren alten Menschen tun. Dafür danken wir ihnen von Herzen. ({7}) Damit wäre ich bei der Äußerung, Frau Staatssekretärin, die Sie gegenüber Norbert Blüm gemacht haben: mit Herz und ruhiger Hand. ({8}) Ich würde es so formulieren, wie es in einem evangelischen Gesangbuch heißt: mit Herz und Mund und Händen, so sind Norbert Blüm und wir Christlich-Soziale aus der Gewerkschaftsbewegung nun mal. Damit haben wir in diesem Jahrhundert hervorragende Arbeit geleistet. ({9}) Ich bin sicher: Das werden wir - ganz modern - auch im nächsten Jahrhundert tun. ({10}) Walter Link ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1578 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ({0}) - Drucksache 14/1211 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr, Bau und Wohnungswesen Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSUFraktion bringt heute die Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ein. Lassen Sie mich zu Beginn etwas zu den Rahmenbedingungen sagen, unter denen wir dieses Gesetz sehen. Es steht im Zusammenhang mit der Lösung der Probleme der Arbeitslosigkeit. Ich stelle hier noch einmal fest: Die Arbeitslosigkeit ist das größte soziale Problem, die größte soziale Ungerechtigkeit. Es bleibt die größte Aufgabe, hier alles zu tun, um Hilfe zu schaffen. ({0}) Neuerdings hat man ein bißchen den Eindruck, daß auch bei der Regierungskoalition nicht mehr ganz klar ist, was Priorität hat und daß die Frage der Verschuldung, die gebraucht wird, um das Einsparen zu begründen, den obersten Stellenwert bekommen hat. Es ist sicherlich richtig, sparsame Haushaltsführung ist notwendig. Gerade auch im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit ist sie eine Hilfe. Arbeitslose in Arbeit zu bringen bedeutet für den einzelnen, daß er freier ist, für sich selber zu sorgen. Wenn er in Arbeit ist, bedeutet das für den Staat bzw. für die Bundesanstalt für Arbeit weniger Ausgaben und mehr Einnahmen. Das geht also alles zusammen; es ist ein Beitrag zur Konsolidierung. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - das wissen wir alle inzwischen - ist schwierig. Es gibt kein Patentrezept. Es gibt kein Schräubchen, an dem man einfach dreht, und schon ist das Problem gelöst. Es ist notwendig, ein Bündel von Maßnahmen in Gang zu setzen. Dabei gilt es erstens, so viele Arbeitsplätze wie möglich im ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, und zweitens, Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu verwenden und Arbeitsmarktmaßnahmen nur dort als Ausnahme vorzusehen, wo sie Hilfestellung leisten können. Diese Reihenfolge ist für uns wichtig. Bundeskanzler Schröder hat die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur Meßlatte seines eigenen Überlebens gemacht. ({1}) - Doch, das ist so. Das können Sie in der Regierungserklärung nachlesen. Vielleicht wollen Sie das nicht mehr wahrhaben, aber er hat es gesagt. Er wird daran gemessen werden. ({2}) Die wirklich vorhandene Reduzierung der Arbeitslosigkeit um 400 000 ist im letzten Jahr passiert, also noch unter der Regierung Helmut Kohl, unter einer CDU/CSU-geführten Regierung. ({3}) - Nein, es sind in der Tat - das können Sie doch in allen Statistiken nachlesen - im letzten Jahr 400 000 Arbeitslose weniger geworden. Diese Reduzierung trägt durch. Jetzt kann man feststellen - ich werde hier keine Rede halten, in der ich das nicht deutlich sage -: Seit März steigt die Arbeitslosigkeit unter Bundeskanzler Schröder Monat für Monat saisonbereinigt an. Auch das können Sie nachlesen. Bisher ist die Meßlatte von Schröder nicht erreicht worden. ({4}) Meine Damen und Herren, es kann auch nicht darum gehen, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf die Frage zu reduzieren, wie man neue Berechnungsmodelle erstellen kann, um möglicherweise statistisch zu einer Bereinigung des Problems zu kommen. ({5}) Wenn das gemacht wird, müssen wir darüber reden, welche Auswirkungen das auf bisherige Zahlen hat. Reine Statistik werden wir nicht hinnehmen; es ist Wählertäuschung, wenn man dafür sorgt, daß die Arbeitslosigkeit statistisch zurückgeht, wenn aber ansonsten auf dem Arbeitsmarkt nichts passiert. Das muß man deutlich festhalten. Ich will ein weiteres festhalten - auch das werde ich in jeder Rede, die ich hier halten werde, sagen -: Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat verdeutlicht, daß wir allein in den nächsten drei Jahren aus demographischen Gründen einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um 600 000 haben werden - Jahr für Jahr 200 000 -, nämlich einfach deswegen, weil weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten, als ältere Menschen herausgehen werden. Auch dies ist eine Zahl, die man im Kopf haben muß, damit nicht hinterher irgendwer sagt, Schröder habe die Arbeitslosigkeit um 600 000 verringert. Diese Verringerung ergibt sich rein aus demographischen Gründen; ich will das hier festhalten, weil wir das irgendwann in der Diskussion mit Ihnen möglicherweise brauchen. ({6}) - Genau das will ich jetzt tun. Wenn wir nicht abwarten wollen, wenn wir uns nicht darauf beschränken wollen, Statistiken zu bereinigen, dann müssen wir handeln. Unser Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes tut dies. Schon bisher ist Arbeitnehmerüberlassung ein unverzichtbarer Bestandteil des Arbeitsmarktes. Sie leistet Hilfestellung, indem unter der Aufsicht der Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit im Rahmen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Chancen auf dem Arbeitsmarkt geboten werden. Es gibt Abbau von Arbeitslosigkeit durch Personaleinstellungen bei Zeitarbeitsunternehmen. Im Juni 1997 gab es bereits rund 160 000 Leiharbeitnehmer. Ich nenne Ihnen die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit für den Stichtag 31. Dezember 1998: Da waren es 202 000 Beschäftigte bei Zeitarbeitsunternehmen; im Vorjahr waren es 167 000. Alle Statistiken, die es gibt, und alle Angaben der Verleihunternehmen selber zeigen deutlich, daß es eine steigende Tendenz gibt. Also müssen wir Interesse daran haben, auch in den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung mehr Flexibilität hineinzubekommen. ({7}) Die Leiharbeitnehmer sind überwiegend jüngere Männer, die im gewerblichen Bereich tätig sind. Die Expansion bei der Leiharbeit findet zur Zeit hauptsächlich über den verstärkten Einsatz von gering qualifiziertem Personal statt. Wir müssen einige Beschränkungen aus dem Gesetz entfernen, um die Leiharbeit auch für andere Problemgruppen interessant zu machen. Was wollen wir also verändern? Wir wollen zunächst die zulässige Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers an denselben Entleiher - sie ist bisher auf zwölf Monate beschränkt - auf 36 Monate erweitern. ({8}) - Ja, ich weiß, daß Sie eher für Beschränkungen und Kontrolle sind. Aber ich bin dafür, hier mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten zu schaffen, damit Arbeitslose auch in diesem Bereich die Chance erhalten, Arbeit zu bekommen. Das ist wichtiger, als im Gesetz Beschränkungen durchzusetzen. ({9}) Warum sind wir für diese Ausweitung? Sie wird gerade Arbeitslosen mit höherer Qualifikation, etwa Ingenieuren oder Programmierern, in diesem Bereich Hilfestellung bieten, weil für diese Kräfte hauptsächlich längerfristige Verträge gefordert werden. Sie kann auch helfen, die Zeitspanne des Erziehungsurlaubs - das sind drei Jahre - zu überbrücken. Auch hier wird es neue Möglichkeiten geben. Wir sollten diesen Weg gehen und diesen Gruppen das eröffnen. Der zweite Punkt, bei dem wir eine Veränderung durchsetzen wollen, betrifft das Synchronisationsverbot, das wir streichen wollen. Bisher verhält es sich bei einem Arbeitslosen, der von einer Verleihfirma übernommen wird und der dann an einen Entleiher weitergegeben wird, so, daß die Zeit, die er bei dem Zeitarbeitsunternehmen ist, nicht mit der Zeit identisch sein darf, in der das Leihunternehmen ihn an einen Arbeitgeber weitergibt. Dies führt dazu, daß viele Arbeitslose nicht vermittelt werden können, weil in diesem Bereich die Nachfrage befristet ist und es nicht längerfristig gemacht wird. Die Erfahrung zeigt, daß sich für jemanden, der in einem Zeitarbeitsverhältnis ist, automatisch eine Anschlußarbeit ergibt. Das wird bisher durch das Gesetz blockiert. Hier sollten wir mehr Flexibilität einführen und sollten die starren Regeln lockern; auch das wird Arbeitslosen helfen. ({10}) Weiterhin wollen wir die Beschränkung in bezug auf befristete Arbeitsverträge abschaffen. Für einige besonders anspruchsvolle Arbeitsplätze sehen Zeitarbeitsunternehmen bisher die Möglichkeit vor, daß sie nur ein einziges Mal befristet vergeben werden. Wegen des bisher geltenden Rechts zur Befristung können Zeitarbeitsunternehmen viele geeignete Arbeitsuchende nicht einstellen. Auch hier soll mehr Flexibilität her, die hilft, Arbeitslose in Arbeit zu bringen. Ebenso sollte eine Streichung der gesetzlichen Wiedereinstellungssperre von drei Monaten vorgesehen werden, weil wir mehr Möglichkeiten und mehr Flexibilität erwarten können, wenn wir allen Beteiligten mehr Freiräume geben. Dann können die Entscheidungen der Betroffenen zu dem Ergebnis führen, daß Menschen, ob sie gering oder hoch qualifiziert sind, ob sie für eine kürzere oder längere Zeit arbeiten wollen, Arbeit finden, daß also mehr Arbeitslose in Arbeit gebracht werden können. Das ist nicht nur ein Beitrag für diese Menschen, sondern auch für den Staat, der auch an dieser Stelle zum Sparen aufgefordert ist. Ich sage es noch einmal: Dadurch, daß Menschen in Arbeit gebracht werden, werden Kosten bei der Bundesanstalt für Arbeit, beim Staat gespart. Zeitgleich wird so für mehr Einnahmen gesorgt. Ich bitte Sie, die Beratung in den Ausschüssen wohlwollend anzugehen. Wir können uns hier noch ein Stückchen bewegen, weil mehr Flexibilität möglich ist. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Ich wünsche uns allen eine gute Beratung. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben von Herrn Meckelburg wieder viel gehört, aber wenig zum Antrag. Es waren viele Allgemeinplätze; er sagte wenig zu dem, was uns alle berühren müßte: In dieser Republik sind in der Tat zu viele Menschen arbeitslos. Nach der Statistik sind zur Zeit 4,1 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Bei diesen 4,1 Millionen Arbeitslosen handelt es sich überwiegend um die Erbschaft, die Sie uns nach konservativ-wirtschaftsliberaler Politik hinterlassen haben. ({0}) Nun stellt die an dieser Politik hauptbeteiligte Fraktion einen Antrag zur Änderung der Arbeitnehmerüberlassung, um so die Arbeitslosigkeit abzubauen. Für dieses Ziel haben wir Sozialdemokraten viel Sympathie; das ist unbestritten; denn für die SPDBundestagsfraktion ist es das wichtigste politische Ziel, die Arbeitslosigkeit in unserem Lande abzubauen. ({1}) Deshalb sehen wir in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeiten, die die Arbeitnehmerüberlassung bietet. Zeitarbeit kann Perspektiven eröffnen, zum Beispiel wenn Auftragsspitzen kurzfristig Mehrarbeit notwendig machen. ({2}) Dabei darf die Zeitarbeit nicht gegen die Stammbelegschaft ausgespielt werden. Sie muß vielmehr ergänzend wirken. ({3}) Zeitarbeit darf nicht in Konkurrenz zur Stammbelegschaft treten. Deshalb dürfen Stammbelegschaften nicht abgebaut und durch Leiharbeitnehmer ersetzt werden. Mehr Beschäftigung kann zum Beispiel durch den Abbau der Mehrarbeit mittels neu eingestellter Zeitarbeitnehmer entstehen. Arbeitnehmerüberlassung so angewandt schafft Vertrauen. Das ist seriös. Zirka 2 Milliarden Überstunden werden jährlich geleistet. Eine Reduzierung um 50 Prozent könnte ungefähr 400 000 neue Arbeitsplätze bringen. Zeitarbeit bedeutet Arbeit auf Zeit, eben vorübergehende Arbeit. ({4}) Schon die Eigenbezeichnung der Verleiher deutet auf die Beschränkung ihrer Arbeitsmarktfunktion hin: Zeitarbeitsbranche, Arbeit auf Zeit. Im Unterschied dazu sind die Arbeitsverhältnisse der Stammbelegschaft unbefristet. Für die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit sind uns viele wirksame Mittel recht. Da gibt es keinen Königsweg. Die Chancen der Arbeitnehmerüberlassung zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit würden wir gerne dort ergreifen, wo sie hilft, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Darauf sollten wir uns konzentrieren. ({5}) Allerdings haben weite Teile der Öffentlichkeit keine hohe Meinung von Zeitarbeit. Sie hat bei den Beschäftigten und oft auch bei den Entleihern einen anrüchigen Ruf. Es ist kein Geheimnis, daß die Personalreservequote in Unternehmen oft zu Lasten der Stammbelegschaft reduziert wird. Stammbelegschaft raus, Leiharbeiter rein - das ist nicht die erwünschte Lösung und hilft nicht, die Arbeitslosigkeit abzubauen. In den Betrieben entstehen genau vor diesem Hintergrund Konflikte zwischen der Unternehmensleitung und den Betriebsräten. Davon sind über 200 000 Leiharbeiter und über 8 000 Verleiher betroffen. Darüber beklagen sich Unternehmen ebenso wie Beschäftigte und Betriebsräte zu Recht. Da müssen wir etwas ändern. Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen die Vorbehalte gegen die Arbeitnehmerüberlassung beseitigen, insbesondere dort, wo ihre Anwendung zu mehr Beschäftigung führt. An dieser Stelle muß die Arbeitnehmerüberlassung in der Diskussion raus aus der Schmuddelecke. Wir müssen soziale und rechtliche Strukturen verbessern, allein um den Mißbrauch von Zeitarbeitsverhältnissen zu Lasten der Stammbelegschaft zu verhindern. Dazu können wir das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nicht isoliert betrachten; vielmehr müssen wir es im Gesamtzusammenhang sehen. Wir müssen zum Beispiel verstärkt darüber nachdenken, ob wir in diesem Zusammenhang nicht auch das Betriebsverfassungsgesetz verändern müssen. ({6}) Ich könnte mir eine Regelung gut vorstellen, durch die Zeitarbeitnehmer, die länger bei einem Entleiher tätig waren, bei Neueinstellungen bevorzugt eingestellt werden und zu deren Durchsetzung der Betriebsrat erweiterte Rechte bekommt. ({7}) Auch könnte man Leiharbeitnehmern eine Rechtsstellung geben, die eine stärkere Vertretung durch den Betriebsrat des Entleihers ermöglicht. Oder man könnte die Entwicklung von humanem Kapital auch für Leiharbeiter bewerkstelligen, damit sie in Fragen der Weiterbildung, der Qualifizierung, des Arbeitsschutzes und des Gesundheitsschutzes nicht allein gelassen werden. ({8}) Diese Beispiele machen deutlich, daß wir über Veränderungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes gründlicher und im Zusammenhang nachdenken müssen. Nach Ihren Vorstellungen würden weitere Schutzrechte für Leiharbeitnehmer nur abgebaut werden. Allerdings ist der bisherige Zeitrahmen von zwölf Monaten, wie Sie sicherlich wissen, in aller Regel völlig ausreichend, wenn wir Zeitarbeit als Sprungbrett ins unbefristete Arbeitsverhältnis, ins unbefristete Erwerbsleben, in sogenannte Normalarbeitsverhältnisse verstehen. Die Ausdehnung auf 36 Monate kann zu einer Vernichtung von Stammarbeitsplätzen führen. Auch deshalb wollen wir Arbeitnehmerüberlassungen nicht zu unsozialer Konkurrenz zwischen Normal- und Leiharbeitsverhältnissen erweitern. Sie haben in den letzten 16 Jahren Schutzvorschriften abgebaut, ohne damit mehr Beschäftigung zu bekommen. Sie haben 16 Jahre etwas vorgelebt, was arbeitsmarktpolitisch nicht erfolgreich war. ({9}) Herr Meckelburg, heute sagen Sie, unsere Politik bestehe nur in Sparen. Wir müssen sparen, weil durch Ihre Politik die öffentlichen Kassen, auch die Sozialkassen, derart angeknackst und quasi leer sind, daß wir nicht auf Beitragssteigerungen, sondern auf Beitragssenkungen in den Sozialversicherungen bauen. Damit das geschehen kann, müssen wir die Arbeitslosigkeit wirksam reduzieren. ({10}) Wir wollen mit Arbeitnehmerüberlassungen zusätzliche Beschäftigungschancen ergreifen. CDU und CSU wollen mit ihrem Gesetzentwurf die Beschränkung der Dauer des Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeitnehmern und Verleihern auf die Dauer der erstmaligen Überlassung an einen Entleiher grundsätzlich aufheben. Dies bedeutet wiederholte Befristung von Arbeitsverhältnissen. Letztendlich bedeutet dies Arbeit auf Abruf. Tagelöhnerarbeit ist eines Sozialstaats unwürdig. Arbeit nach Gutsherrenart - den brauche ich heute, und den brauche ich morgen - ist eine Politik, die wir nicht mittragen können. ({11}) Mit einer solchen Politik trägt der Verleiher fast kein unternehmerisches Risiko mehr, weil dieses Risiko auf die Sozialversicherung übertragen werden würde, und zwar zu Lasten der Versichertengemeinschaft. Dies können wir so nicht hinnehmen. Wir müssen den Menschen Sicherheit bieten, sowohl den Leiharbeitnehmern als auch den Verleihern. Mit Ihrem Gesetzentwurf haben Sie sich wieder einmal zum Erfüllungsgehilfen der Arbeitgeberverbände gemacht. Die Kernpunkte Ihres Entwurfs haben Sie deren Verbandsforderungen fast wortwörtlich entnommen. Das haben wir Sozialdemokraten zwar oft vermutet. Aber daß Sie noch immer vortäuschen, Sie betrieben im Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland Politik, ist schon ziemlich unverschämt. ({12}) Nach gängigen Vorstellungen der Logik vom sozialen Ausgleich müßte die Gesetzgebung nun allein nach den Vorstellungen der Gewerkschaften erfolgen. Wir Sozialdemokraten werden diesen Verlockungen allerdings nicht nachgeben. Wir Sozialdemokraten werden uns als Partei der sozialen Gerechtigkeit zusammen mit unserem Koalitionspartner sowohl mit den Gewerkschaften als auch mit den Arbeitgeberverbänden für eine ausgewogene Lösung der Probleme der Arbeitnehmerüberlassung einsetzen. Wir dürfen die Menschen in unserer Republik mit gesetzlichen Schnellschüssen nicht weiter verunsichern. Der Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU würde sich ganz schnell als Rohrkrepierer in Sachen Abbau der Arbeitslosigkeit erweisen, wenn wir ihn mittragen und verabschieden würden. Durch Ihre Vorstellungen werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegenteil: Durch Ihre Vorstellungen werden Stammarbeitsplätze vernichtet. Sie entlasten damit die Arbeitslosenversicherung nicht, Sie belasten sie zusätzlich. ({13}) Deshalb setzen wir für Arbeitnehmerüberlassungen feste soziale Standards fest und knüpfen sie an Bedingungen: Sie müssen der Förderung von Beschäftigung dienen und quasi ein Sprungbrett in Normalarbeitsverhältnisse darstellen. Das hat im übrigen auch Ihr Parteimitglied, der Christdemokrat Bernhard Jagoda, vor kurzem in einem interessanten Aufsatz zur Zeitarbeit noch einmal ganz deutlich gemacht. Er sagte: Etwa 30 Prozent der Zeitarbeitsverhältnisse werden nach vier Monaten in Normalarbeitsverhältnisse überführt. Längere Beschäftigungszeiten, als sie im Zeitarbeitsbereich heute in der Regel üblich sind, sind nicht notwendig. Dafür gibt es überhaupt keinen Anlaß; das macht keinen Sinn und würde den Wettbewerb zwischen Normalarbeitsverhältnissen und Leiharbeitsverhältnissen nur ausdehnen. Das wäre eines Sozialstaates unwürdig. Die arbeitsrechtliche Stellung von Leiharbeitsverhältnissen zu den Normalarbeitsverhältnissen muß weiter verbessert werden. Insbesondere denke ich dabei an den betriebsverfassungsrechtlichen Rahmen, an die Zuständigkeit des Betriebsrates und auch an die Möglichkeit des Betriebsrates, Zeitarbeitsverhältnisse in Normalarbeitsverhältnisse des ersten Arbeitsmarktes umzuwandeln. Natürlich hilft die Wiederherrichtung des Synchronisationsverbotes und der Ausschluß von Befristung. Im Rahmen von Zeitarbeit ist Befristung kein wirksames Mittel, um mehr Beschäftigung zu erreichen. Ich habe dazu umfangreich Stellung bezogen. Insbesondere ist es wichtig, daß die Qualifizierung von Leiharbeitnehmern in Zeitarbeitsverhältnissen nicht auf der Strecke bleibt. Erfolg in der Arbeitsmarktpolitik werden wir nur haben, wenn wir Qualifizierungsmaßnahmen für diesen Personenkreis ermöglichen und fördern. In Ihrem Gesetzentwurf finden wir an keiner Stelle ein Konzept, das sich schlüssig mit diesen Zielen verbinden läßt. Deshalb lehnen wir ihn ab. Ein solcher Gesetzentwurf, der nicht der Beschäftigung dient, muß verschwinden. Wir wollen Beschäftigung fördern, Arbeitsplätze schaffen und Lösungsansätze mit beiden Sozialpartnern prüfen. Dieser Weg, den wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten eingeschlagen haben, ist ausgewogen. Wir werden ihn konsequent weitergehen, bis er Erfolg zeigt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die F.D.P.Fraktion spricht nun Kollege Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir sollten es uns zur guten Gewohnheit machen, zu Beginn jeder Debatte, die sich mit arbeitsmarktpolitischen Fragen befaßt, einen Blick auf die Schröder-Uhr der „Wirtschaftswoche“ zu werfen. Diese Schröder-Uhr, die die Entwicklung der Arbeitslosigkeit seit dem Amtsantritt des Herrn Bundeskanzlers dokumentiert, zeigt mit Stand dieser Woche ein Plus - ich muß das leider betonen - von 58 300 Arbeitslosen bei einem gleichzeitigen Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen um 367 000. ({0}) Das sind, Herr Brandner, in der Tat eindrucksvolle Zahlen. Sie zeigen, daß Sie entgegen Ihren Ankündigungen unfähig sind, eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen. ({1}) Ebenso eindrucksvoll - dabei handelt es sich allerdings um eine positive Entwicklung - ist die Bilanz der Zeitarbeitsbranche. Von Dezember 1997 bis Dezember 1998 stieg die Zahl der Zeitarbeitsbetriebe von 4 036 auf 4 581 an, also um rund 13 Prozent. Im gleichen Zeitraum beschäftigten diese Betriebe 20,9 Prozent mehr Mitarbeiter - Kollege Meckelburg hat die Zahl schon genannt -: Es waren im Dezember 1998 202 000 gegenüber 167 000 im Vergleichsmonat Dezember 1997. ({2}) - Das sind neue Arbeitsplätze. [Klaus Brandner [SPD]: Zu Lasten der ande- ren!) - Nein, Herr Brandner, Sie müssen da Ihre ideologischen Scheuklappen einmal ablegen. ({3}) Ich denke, daß diese Branche bewiesen hat, daß die Eröffnung der Möglichkeit des flexiblen Einsatzes von Arbeitnehmern Arbeitsplätze in beträchtlichem Umfang schaffen kann. Ich erinnere daran - soviel Zeit sollte sein, Herr Meckelburg; das sollten wir immer tun -, daß in den Zeitraum, für den ich eben die Zahlen genannt habe, die letzte Arbeitnehmerüberlassungsgesetzreform gefallen ist. Damals hat die alte Bundesregierung die höchstzulässige Überlassungsdauer eines Zeitarbeitnehmers von neun auf zwölf Monate verlängert. Die damalige Opposition war seinerzeit dagegen. Hätten Sie sich damals durchgesetzt, Herr Brandner, wäre die dynamische Entwicklung dieser Branche nicht möglich gewesen, und wir müßten heute 34 695 Arbeitslose mehr bei der Schröder-Uhr berücksichtigen. ({4}) 64,9 Prozent der Zeitarbeitnehmer, Herr Thönnes, waren vorher ohne Beschäftigung. 10 Prozent von ihnen hatten vor ihrer Tätigkeit bei einem Zeitarbeitsunternehmen noch nie Arbeit. Das sind Zahlen, die uns alle hier aufhorchen lassen. Weil Sie so skeptisch gucken, Herr Brandner und Herr Thönnes, empfehle ich Ihnen einen Blick über den Tellerrand nach Holland. In den Niederlanden ist die Zeitarbeit weit verbreitet. Die großen, auch in Deutschland bekannten Zeitarbeitsunternehmen kommen in vielen Fällen von dort. Bei unseren holländischen Nachbarn kommt man ins Arbeitsamt hinein und hat auf der einen Seite den Schalter der Arbeitsvermittlung, auf der anderen gleich mehrere Schalter von Zeitarbeitsunternehmen. Die Kunden - die Arbeitslosen versteht man dort als Kunden - reicht man sich gegenseitig so zu, wie es für die Kunden, die Arbeitslosen, selbst am besten ist. ({5}) Davon können wir lernen. In Holland hat man begriffen, daß die beste Methode zur Wiedereingliederung von Arbeitslosen in das Erwerbsleben - gerade Langzeitarbeitlose haben hier ja erhebliche Probleme - das „Training on the job“ ist. ({6}) - Ja, gerne. In der Bundesrepublik leisten die Zeitarbeitsfirmen die Integration von 150 000 Arbeitnehmern pro Jahr. Diese Menschen werden ohne staatliche Förderpro- gramme und ohne in Bündnissen für Arbeit ausgearbei- tete Beschäftigungsinitiativen in den ersten Arbeitsmarkt zurückgeführt. Das kostet keinen einzigen Steuerpfen- nig. Darüber müßte der Bundesfinanzminister, Herr Eichel, vor Begeisterung sprühen. [Klaus Brandner [SPD]: Dazu steht im Antrag nichts, Herr Kolb) Die holländischen Erfahrungen zeigen, daß die Beschäftigungsentwicklung einen dynamischen, positiven Verlauf nimmt, wenn man den Arbeitsmarkt von künstWolfgang Meckelburg lich angelegten Fesseln befreit. Angesichts dessen empfand ich es schon als enttäuschend, was Sie hier gesagt haben. Ihren Worten und zwischen den Zeilen war ständig „Regulierung, Regulierung, Regulierung“ zu entnehmen. Mit diesen Methoden werden Sie die Situation am Arbeitsmarkt nicht nachhaltig verbessern können. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kolb, Sie stellten gerade fest, daß wir den Arbeitsmarkt von Fesseln befreien müßten. Ist Ihnen bekannt, daß in den Niederlanden bei den Leiharbeitnehmern regelmäßig tarifvertragliche Bedingungen herrschen, daß also die Grundlage des Arbeitsverhältnisses die Anwendung des jeweiligen für den Betrieb zuständigen Tarifvertrages ist, ({0}) so daß hier eine „Fessel“ vorhanden ist, die Sie im Kern beseitigen wollen?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich verstehe einen Tarifvertrag nicht als Fessel. Wenn Sie den Antrag der CDU/CSU aufmerksam gelesen haben, werden Sie festgestellt haben, daß dies sehr wohl in dem Antrag enthalten ist. Zum anderen gibt es mittlerweile in dieser Branche auch in Deutschland erste Tarifverträge. Das sehe ich als durchaus positiv an. Ich bin nicht gegen tarifvertragliche Regelungen, sondern ich bin dagegen, daß der Gesetzgeber alles und jedes zu regulieren versucht. ({0}) Dabei will ich durchaus konzedieren, Herr Brandner, daß ich nicht gegen jede Regelung bin. Unter den Zeitarbeitsfirmen gibt es - das sagt der Bundesverband Zeitarbeit selbst - schwarze Schafe, die auf kurzfristige Profiterzielung zu Lasten ihrer Beschäftigten aus sind. Das darf selbstverständlich nicht sein. Daher ist die ordnende Hand des Staates in Form des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes bis zu einem gewissen Punkt sinnvoll. Meines Erachtens sind wir aber an einem Punkt angekommen, an dem eine Überregulierung besteht, die zu beseitigen ist. Angesichts der Erfahrungen mit gelokkerten Bestimmungen im Bereich der Zeitarbeit insbesondere in den Niederlanden müssen wir uns fragen, ob wir hier nicht zu weitergehenden Veränderungen kommen wollen. Deswegen - das sage ich für meine Fraktion - begrüßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf der CDU/CSU. Er geht in die richtige Richtung. Damit werden noch nicht die gleichen Zustände wie in Holland erreicht. Es werden aber gegenüber der jetzigen Situation weitreichende Verbesserungen erzielt, ohne daß man großzügige Freiräume für schwarze Schafe schafft. Es ist - das sage ich anerkennend - ein gut durchdachter Gesetzentwurf; er könnte durchaus auch von uns stammen. ({1}) Mit der Verlängerung der maximalen Verweildauer des Leiharbeitnehmers bei einem Entleiher auf drei Jahre werden einige Vorteile erzielt. Insofern verändert das die Situation gegenüber dem bisherigen Zustand entscheidend; denn Hochqualifizierte werden jetzt erstmals für die Zeitarbeitsfirmen interessant werden. Wir wissen, daß wir in einigen Bereichen eine sehr hohe Akademikerarbeitslosigkeit haben, die man ebenfalls mit Hilfe von Zeitarbeit reduzieren kann. Auch den Denkansatz, daß Mutterschaftsurlaubsvertretungen nicht mehr auf mehrere Zeitarbeiter verteilt werden müssen, finde ich sehr positiv. Die Lockerungen beim Verbot der Synchronisation versprechen überdies die Beschäftigung weiterer Gruppen von Arbeitnehmern. Es besteht dann die Möglichkeit, daß Menschen von Zeitarbeitsfirmen eingestellt werden, auch wenn noch ungewiß ist, ob für diese Arbeitnehmer eventuell ein Folgeauftrag zu akquirieren ist. Fazit: Nutzen wir die Chance, und lassen wir in diesem Bereich ein bißchen mehr Flexibilität zu. Die Erfahrungen in anderen Ländern und die Zahlen bei uns sprechen dafür, daß wir einigen hunderttausend Bürgern eine reale Arbeitsplatzperspektive und damit vielen Familien Hoffnung auf ein Ende der Arbeitslosigkeit geben können. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) - Herr Meckelburg, wir trinken nicht nur aus einem Glas, sondern wir haben auch etwas anderes gemein: Wir haben im letzten Jahr sehr viel gelernt, Sie in der Opposition und wir in der Regierung. Ich habe festgestellt: Ihnen jedenfalls hat die Opposition sehr gutgetan, ({1}) denn Sie haben nach 16 Jahren Regierung, nach denen Sie vier Millionen Arbeitslose hinterlassen haben, in einem Jahr endlich gelernt, daß das erste Ziel der Politik in der Bundesrepublik Deutschland sein muß, diese Arbeitslosigkeit abzubauen. Ich begrüße, daß das auch bei Ihnen endlich angekommen ist. ({2}) Sie haben, Herr Meckelburg, auch richtig gelernt, daß dazu natürlich ein Bündel von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gehört. Ich bestätige Ihnen ebenfalls, daß die Zeitarbeit bei den privaten, aber auch bei den gemeinnützigen Zeitarbeitsfirmen Element eines Bündels für eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik sein kann. Die Zeitarbeitsfirmen wurden anfänglich sehr angefeindet und zum Beispiel als moderne Sklavenhändler verdächtigt. ({3}) Die Entwicklung hat gezeigt, daß sich diese umstrittenen Zeitarbeitsfirmen bewährt haben. ({4}) Es gibt auch weiterhin schwarze Schafe; das haben wir sogar von Ihnen gehört, Herr Kolb. Aber es gibt auch viele positive Beispiele, und darüber sollten wir ebenfalls sprechen. Eines jedoch ist natürlich falsch, Herr Kolb: Wenn Sie im Zusammenhang mit arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen die Niederlande erwähnen - andere erwähnen auch Dänemark -, dann unterstellen Sie, daß die positiven Arbeitsmarkteffekte ein Erfolg der Deregulierung sind. Richtig ist doch aber vielmehr, daß gerade die Form von Arbeitsmarktpolitik in den Niederlanden mit sehr starker Regulierung, und zwar in sozialpolitischem Sinne, zu tun hat, ({5}) zum Beispiel durch ein Mindestlohnniveau. Auch in Dänemark gibt es sehr starke Regulierungen durch ein sehr hohes Arbeitslosengeld. Ich sage Ihnen deswegen: Wenn Sie in diesem Bereich über Deregulierung sprechen, dann müssen Sie auch den Mut haben, über Regulierung zu sprechen, denn das gehört zusammen. ({6}) Zeitarbeitsfirmen sind keine normalen Arbeitgeber; das wissen auch Sie. Deswegen macht es aus vielen Gründen keinen Sinn, sie gleichzustellen. ({7}) Sie arbeiten in einem Dreiecksverhältnis. Sie sind sozusagen der doppelte Arbeitgeber für die Beschäftigten. Aber es ist auch so, daß die Form der flexiblen Arbeitsvermittlung, die eine Ergänzung der staatlichen Arbeitsvermittlung ist, dazu geführt hat, daß hinsichtlich des Übergangs gerade von Langzeitarbeitslosen, auch von gering qualifizierten Langzeitarbeitslosen, in den ersten Arbeitsmarkt hohe Vermittlungsquoten zu verzeichnen sind. Das bedeutet schon, daß diese Firmen eine Brückenfunktion für die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt haben. Das ist auch der Grund, warum ein großer Anstieg der Zahl der Arbeitskräfte, die in diesem Bereich arbeiten, erfolgt ist, eine Verdopplung in den letzten fünf Jahren. Das ist auch der Grund dafür, warum wir mittlerweile etwa 10 000 Firmen haben, die dieses betreiben. Zeitarbeitsfirmen sind keine Konkurrenz zur Bundesanstalt für Arbeit, zur Arbeitsvermittlung, wie anfänglich befürchtet wurde, sondern eine Ergänzung. Man sieht das insbesondere, wenn man das zentrale Problem der Langzeitarbeitslosigkeit betrachtet. Es ist schon erstaunlich - die Zahlen sind schwierig zu deuten, weil sie nicht ganz flächendeckend sind -, aber alle Zahlen, die es dazu gibt, zeigen, daß dort der Vermittlungsgrad von Langzeitarbeitslosen in vorübergehende Beschäftigung, aber dann auch in Dauerbeschäftigung sehr hoch, signifikant hoch ist. ({8}) Ich denke, das liegt auch daran, daß die Zeitarbeitsfirmen so etwas wie eine Pufferfunktion übernehmen, eine Art Barriere darstellen vor der Angst der Arbeitgeber, Langzeitarbeitslose einzustellen. Insofern ist dieses immer auch kritisch beäugte Testfeld für Arbeitgeber, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für eine Zeit sozusagen ausprobieren zu können und nicht nur die Auftragsspitzen abzufangen, sondern eben auch zu schauen, wie deren Qualifikation ist, durchaus eine positive Möglichkeit im Sinne der Integration von Langzeitarbeitslosen. ({9}) Meine Damen und Herren, man muß das Problem wirklich umfassend betrachten. Es sind flexible Formen der Arbeitsvermittlung, aber zu dieser Bilanz gehört auch noch etwas anderes. Zu dieser Bilanz gehört auch, daß die Beschäftigten in solchen Arbeitsverhältnissen in der Regel etwa 20 bis 30 Prozent geringere Bruttolöhne im Vergleich zu Arbeitnehmern erhalten, die vergleichbare Tätigkeiten ausüben. Dies, meine Damen und Herren, müssen wir auch berücksichtigen, und genau dies ist auch der Grund, warum eine Regulierung in diesem Bereich notwendig ist und bleiben wird. ({10}) Zeitarbeitsfirmen vermitteln Arbeitskräfte, die einen hohen Einsatz an Mobilität, an Flexibilität und an Bereitschaft dokumentieren, auch dadurch, daß sie geringere Löhne in Kauf nehmen. ({11}) Das bedeutet aber auch, daß wir nicht hinnehmen können, daß diese hohe Mobilität ausgenutzt wird, ({12}) indem sie langfristig zu Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zweiter Klasse gemacht werden. ({13}) Wir können hier keinen Markt eröffnen, der diese Arbeitnehmer auf lange Frist in ungeschützteren Arbeitsverhältnissen läßt. Deswegen ist Ihr Antrag, die Verleihdauer auf drei Jahre auszudehnen, hochproblematisch, sozialpolitisch problematisch, aber auch beschäftigungspolitisch überhaupt nicht einsichtig, weil natürlich ein Arbeitgeber nach einem Jahr längst erkennen kann, ob er diesen Beschäftigten in ein Langzeitarbeitsverhältnis übernehmen kann. Das bedeutet auch für die Beschäftigten einfach eine Schlechterstellung, die langfristig überhaupt nicht hinzunehmen ist. Außerdem: Die Statistiken sprechen dafür, daß diese Arbeitsverhältnisse in der Regel nur drei bis sechs Monate dauern. Das heißt, Sie argumentieren hier mit diesen Forderungen an der Realität vorbei. Meine Damen und Herren, die Zeitarbeitsbranche ist in Bewegung; das wissen wir. Es fehlt ihr immer noch an Transparenz, aber es gibt Entwicklungen. Der Bundesverband der Zeitarbeitsfirmen wird immer größer. ({14}) Ich sagte es eingangs: Es gibt positive Entwicklungen, zum Beispiel mit Tarifverträgen, wie sie in Hannover zur EXPO mit der Firma Adecco abgeschlossen worden sind. ({15}) Meine Damen und Herren, aber das heißt noch lange nicht, daß es in irgendeiner Weise arbeitsmarktpolitischen Sinn macht, das Synchronisationsverbot aufzuheben, wie Sie es hier fordern. Ich habe den Eindruck, Herr Meckelburg, Sie haben noch nicht einmal kapiert, worum es dabei geht. ({16}) Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, das Synchronisationsverbot würde verhindern, daß Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Anschlußarbeitsverhältnis bekommen. Gerade das Gegenteil ist doch der Fall. Dadurch, daß hier verhindert wird, daß eine Politik des „hire and fire“ betrieben wird, und die Arbeitnehmer weiterhin den Zeitarbeitsfirmen zur Verfügung stehen, kümmern sich diese Firmen auch um die Weiterbeschäftigung. Das heißt, die Chance bzw. die Wahrscheinlichkeit, daß sie ein Anschlußarbeitsverhältnis bekommen, ist größer und über das vorgesehene Synchronisationsverbot stärker abzusichern als über jede andere Regelung. In Ihrem Gesetzentwurf findet sich darüber hinaus ein völlig sachfremdes Argument zur Begründung der Aufhebung des Synchronisationsverbotes. Deswegen glaube ich weiterhin, daß Sie nicht einmal kapiert haben, worüber Sie sprechen. ({17}) Da haben Sie geschrieben, das Synchronisationsverbot und auch befristete Arbeitsverträge würden verhindern, daß in den Unternehmen Arbeitnehmer, die in den Erziehungsurlaub gehen, durch einen einzigen Leiharbeiter ersetzt werden, weil die Befristung der Arbeitsverträge zu kurz sei. Das ist doch alles Humbug. Wer hindert denn, wenn jemand in den Erziehungsurlaub geht, einen Arbeitgeber daran, ein befristetes Arbeitsverhältnis abzuschließen? Kurz und krumm, Sie wollen hier letzten Endes eine Regelung wieder einführen, die beschäftigungspolitisch keinen Sinn macht, ({18}) die das Risiko auf die Arbeitnehmer abwälzt und den diesbezüglichen Firmen überhaupt kein unternehmerisches Risiko zugesteht. Das, denke ich, ist der falsche Weg. Gleichwohl wird an der Problematik der Synchronisation ein wichtiger arbeitsmarktpolitischer Problembereich aufgespießt. Dies umfaßt die Fragestellung: Was passiert mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zwischen zwei Jobs? Der Arbeitsmarkt ist hochflexibel und weist Bewegung auf, da die Menschen immer häufiger zwischen Jobs wechseln müssen. Dies betrifft gerade auch diejenigen, die bei Zeitarbeitsfirmen arbeiten. Es wäre ein von Ihnen nach vorne gewandter Vorschlag gewesen, dieses Thema so aufzugreifen, wie das beispielsweise die gemeinnützigen Zeitarbeitsfirmen tun, nämlich einmal darüber nachzudenken, ob wir die Synchronisation bei den Zeitarbeitsfirmen nicht mit einem Qualifikationsangebot an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbinden können, beispielsweise über die Bundesanstalt für Arbeit. Das heißt, daß wir das flexible Instrument der Arbeitsvermittlung mit einer Qualifikation im Sinne einer zusätzlichen Unterstützung, auf den ersten Arbeitsmarkt zu gelangen, verbinden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Dückert, Kollegin Luft möchte noch eine Zwischenfrage stellen. Sie haben die Chance, Ihre Redezeit, die Sie schon deutlich überschritten haben, noch ein bißchen zu verlängern. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen, Herr Präsident. - Bitte, Frau Luft.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Dückert, Sie haben ein Hohelied auf die Zeitarbeit gesungen und betont, damit müßten Lohnabstriche in Kauf genommen werden. Ich möchte Sie fragen, welchen Resonanzboden diese Thesen wohl in den neuen Bundesländern finden werden, wo heute die Masse der Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft nicht mehr tarifgebunden ist und wo es - insbesondere in Thüringen - Stundenlöhne in Höhe von 8 DM brutto gibt. Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen, daß dies für die neuen Bundesländer ein guter Weg ist. Dort herrscht eine Arbeitslosigkeit von offiziell 17 Prozent. Das heißt, gerade den neuen Bundesländern müßten wir im Rahmen dieser Debatte eine Perspektive anbieten.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Luft, Sie sprechen einen wichtigen Bereich an. Ich habe nicht dafür plädiert, daß wir, wie die CDU/CSU das fordert, die Schranken so verändern, daß die Möglichkeit des Lohndumping eröffnet wird. Aus Diskussionen mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die nur über Zeitarbeitsfirmen zu Beschäftigung gekommen sind und keine andere Chance gehabt hatten, weiß ich, daß die von mir dargestellte flexible Form der Arbeitsvermittlung weiter aufgegriffen werden muß. Wir müssen von der sehr rückwärtsgewandten, ideologischen Diskussion wegkommen, die davon geprägt ist, daß über die Bundesanstalt für Arbeit, das heißt über staatliche Einrichtungen, eine Arbeitsvermittlung erfolgen sollte. Wir müssen verschiedene Elemente wählen und müssen sie tarifvertraglich absichern; das habe ich vorhin schon gesagt. Der Weg, den beispielsweise Adecco bei der EXPO gegangen ist, ist einer, den man sehr viel intensiver verfolgen sollte. Dieser bringt die Beschäftigten in tarifvertraglich gebundene, mit Qualifikationsprogrammen versehene Arbeitsverhältnisse, die ihnen den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt eröffnen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich weiß, ich muß jetzt zum Schluß kommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Aber ganz schnell.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden diesen Weg weiterverfolgen, aber nicht im sozialpolitischen Niemandsland enden. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, Zeitarbeit bewirkt sicherlich viel. Ein Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit ist sie ganz bestimmt nicht. Schon während der Regierungszeit der CDU/CSU und F.D.P. hat sich Deregulierung beschäftigungspolitisch in der Regel als Flop erwiesen. Insofern ist der Weg der Deregulierung genau der falsche Weg. ({0}) Nach meiner Auffassung gehört Leiharbeit immer noch zu einem düsteren Kapitel des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik. Wer die Leiharbeit heutzutage noch ausweiten möchte, muß wissen, was dann passiert. Das bedeutet noch mehr Sozialdumping, einen noch größeren Druck auf das Tarifgefüge und das Lohnniveau insgesamt sowie schließlich eine Entwicklung in den Betrieben mit olympiareifen Kernmannschaften und Randbelegschaften, die nach Belieben geheuert und gefeuert werden können. Diese Entwicklung möchte die PDS nicht. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen Sie doch nur eines: Den Zeitarbeitsfirmen wird es erleichtert, mit dem Verleih von Menschen Geld zu machen. Sie mögen dies wollen. Wir wollen das einschränken. ({2}) Aus der Sicht der PDS gibt es überhaupt keinen Grund, Leiharbeit zu fördern. Die Zeitarbeit boomt nämlich schon unter den gegenwärtigen gesetzlichen Bedingungen. Entsprechende Zahlen sind hier schon genannt worden. Es gibt mehrere tausend Zeitarbeitsfirmen. Im vergangenen Jahr waren mehr als eine halbe Million Menschen bei Leiharbeitsfirmen beschäftigt. In den letzten fünf Jahren hat in diesem Bereich eine Verdoppelung dieser Zahl stattgefunden. Das zeigt offensichtlich, daß die gegenwärtige Gesetzeslage eine wirkungsvolle Nutzung des Instruments der Arbeitnehmerüberlassung in keiner Weise behindert. Das Gegenteil ist der Fall. ({3}) Die Beantwortung der Frage, ob Zeitarbeit wirklich ein Sprungbrett in einen festen Job darstellt, bleibt nach wie vor im Bereich der Spekulation. Diesbezügliche Zahlen gibt es nicht. Diese Vorstellung aber ist das Hauptmotiv für viele Menschen, sich auf die miesen Bedingungen der Zeitarbeit einzulassen. Diesen Menschen noch mehr Deregulierung zuzumuten, bedeutet für sie leider überhaupt keine Alternative. Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter werden heute zu weit schlechteren Arbeitsbedingungen beschäftigt als ihre Kolleginnen und Kollegen, die feste Arbeitsverträge haben. Ihr Einkommen liegt deutlich unter dem tarifvertraglicher Beschäftigung. Die Zahlung eines um 20 Prozent geringeren Einkommens - diese Zahl ist hier schon genannt worden - ist für die meisten Zeitarbeitsfirmen die Regel. Selbst in dem jetzt im Rahmen der EXPO 2000 abgeschlossenen Tarifvertrag liegen die Bruttostundenlöhne zwischen 13,50 DM und 26 DM. Das ist wahrlich nicht üppig. Im Gegenteil: Hier findet eine Festschreibung von Niedriglöhnen in diesem Bereich statt. ({4}) Selbst der Geschäftsführer der Adecco gibt dies zu. Er spricht von schwarzen Schafen unter den Zeitarbeitsfirmen, die heute immer noch Stundenlöhne von weniger als 10 DM zahlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie wollen diese Entwicklung befördern. Wir wollen, daß das Sozialdumping in diesem Bereich endlich gestoppt wird. Wir wissen: Leiharbeit ist in der Bundesrepublik heute eine feste Größe. Aber gerade deshalb ist es wichtig, daß nicht weniger, sondern mehr Sozialstandards in diesem Bereich durchgesetzt werden. Die Union aber will genau das Gegenteil. Das machen wir nicht mit. ({5}) Mehr als die Hälfte der bei Leihfirmen Beschäftigten haben ein tatsächliches Arbeitsverhältnis von einer Dauer zwischen einer Woche und drei Monaten. Zehn Prozent dieser Beschäftigten arbeiten weniger als eine Woche bei diesen Leihfirmen. Stellen Sie von der CDU/CSU sich einmal vor, was passieren würde, wenn Ihr Vorschlag, daß Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer nur für die Dauer ihrer ersten Verleihung eingestellt werden können, angenommen würde. Das führt zu einem Heuern und Feuern im Bereich der Leiharbeit ohne Ende. Auch das ist für uns nicht hinnehmbar. Die Verlängerung der Verleihdauer auf drei Jahre hat zur Folge, daß Arbeitnehmer in diesem Bereich noch länger unter Druck gesetzt werden können, schlecht bezahlte, mit miesen Arbeitsbedingungen und unzureichendem Arbeitsschutz ausgestattete Jobs akzeptieren zu müssen. Sie sollten einmal in Ihren eigenen Bericht über die Wirkungen von Arbeitnehmerüberlassungen schauen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU. Darin haben Sie selber festgestellt: Leiharbeitnehmer wagen nur selten, sicherheitswidrige Arbeitsbedingungen anzuzeigen, weil sie hoffen, bei einem Wohlverhalten einen Dauerarbeitsplatz zu erhalten. Das ist genau die Realität. Diesen Druck sollten wir nicht erhöhen. ({6}) - Nein, das ist nicht Ideologie, sondern einfach Realität, lieber Herr Kollege Kolb. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Alles in allem wird das Instrument der Leiharbeit schon heute viel zu häufig mißbraucht, um tarifliche und soziale Standards auszuhebeln. Das muß unbedingt anders werden. Darum setzt sich die PDS dafür ein, daß mit einer Reform des Betriebsverfassungsgesetzes auch Leiharbeiter zur Belegschaft desjenigen Betriebes gezählt werden, an den sie ausgeliehen werden, und daß sie zum Vertretungsbereich der Betriebsräte gehören. Das halten wir für den richtigen Weg. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die allerletzte.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja. - Daß sich Unternehmer mit dem Verleih von Menschen eine gol- dene Nase verdienen, zeigt der erste erfolgreiche Bör- sengang einer Leiharbeitsfirma. Die Beschäftigten sol- chen Firmen schutzlos zu überlassen liegt nicht im In- teresse der PDS. [Beifall bei der PDS - Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wer soll denn das Geld verdienen, das Sie umverteilen wollen?)

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Franz Thönnes, SPD-Fraktion.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über dieses wichtige Thema der Zeitarbeit in der Arbeitswelt sprechen, dann müssen wir zunächst versuchen, uns gemeinsam darüber im klaren zu sein, daß sich die Arbeitswelt vor dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbs, des technologischen Wandels und der kürzeren Phasen von Produktinnovationen in einem rasanten Tempo verändert. Klarheit muß auch darüber herrschen, daß es den Job fürs Leben nicht mehr gibt. ({0}) Alle haben sich auf diese Situation einzustellen und müssen darauf ihre politischen Ziele ausrichten. Wir müssen außerdem feststellen, daß sich bei den Menschen die Ausdifferenzierung von Interessen weiterentwickelt, daß die Individualität weiter zunimmt und daß neue Formen der Betriebs- und Unternehmensorganisation Platz greifen. Das heißt aber auch: Wenn man eine vernünftige und seriöse Arbeitsmarktpolitik machen will, dann darf man nicht nur einseitig Unternehmensinteressen im Auge haben, sondern man muß auch an die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich eines guten sozialen Gefüges denken. ({1}) Es ist völlig richtig: Die Zeitarbeitsbranche hat in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung durchgemacht. Es ist schon die Zahl von 220 000 Beschäftigten genannt worden, die 1999 in dieser Branche gearbeitet haben. Das heißt aber im Klartext - diese Zahl ist überhaupt noch nicht genannt worden -, daß 360 000 Arbeitnehmer in diesem Bereich zirkulieren. Diese Tatsache unterstützt nicht unbedingt die Aussage, daß hier feste Arbeitsplätze entstehen. Es ist vielmehr ein Markt, der in ständiger Bewegung ist. ({2}) Dies muß der Klarheit halber gesagt werden. Man muß an dieser Stelle aber auch den Bericht der alten Bundesregierung zur Kenntnis nehmen. In diesem Bericht wird deutlich gesagt: Alle Erfahrungsberichte zeigen: Diese Branche hat nur geringen Einfluß auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. - Man sollte deswegen in der Diskussion ein bißchen mehr für Klarheit und Wahrheit sorgen und nicht gleich über Hunderttausende von Beschäftigten reden, die in der Zukunft dort arbeiten werden. Die Branche selbst rechnet im Jahr 2 000 mit 250 000 Beschäftigten. Das wäre eine Steigerung von 30 000 und ist daher wert, daß man sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzt. Man sollte aber auch ein bißchen darauf schauen, welche Qualifikationen sich hinter diesen Tätigkeiten verbergen. In diesem Zusammenhang muß man feststellen: Es gibt 25 Prozent Hilfskräfte in diesem Bereich gegenüber 0,9 Prozent Hilfskräfte in der Gesamtwirtschaft. Wer über Zeitarbeit spricht, der muß berücksichtigen - die Vorredner aus meiner Fraktion haben diesen Punkt schon erwähnt -, daß Beschäftigung und Qualifizierungspotentiale zusammengehören. Diese Tatsache blenden Sie aber leider völlig aus. ({3}) Lassen Sie uns nun darüber sprechen, welche Vorteile die Unternehmen haben. Diese Vorteile will keiner geringschätzen. Es geht darum, unvorhergesehenen Arbeitsanfall leichter erledigen zu können, Urlaubsvertretungen zu besetzten und saisonale Spitzen abzudecken. Man sollte aber auch zur Kenntnis nehmen, was der Bundesverband für Zeitarbeit auf der Basis eines Gutachtens des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft sagt: Die Inanspruchnahme von Leiharbeitnehmern ist nur selten Bestandteil langfristig angelegter Personalpolitik. - Also erwecken Sie bitte nicht den Eindruck, als würden dort langfristig organisierte neue Arbeitsplätze entstehen. ({4}) Es geht darum, Spitzen aufzufangen und Engpässe zu bewältigen. Dies sagt selbst der entsprechende Fachverband. Gehen Sie nicht über dessen Interpretationen hinaus! Damit können auch Sie die Frage, ob die Arbeitslosigkeit dadurch in einem großen Maße reduziert werden kann, nicht so einfach beantworten, weil keiner von uns weiß - aber Vermutungen sprechen an vielen Stellen dafür -, ob nicht die Kernbelegschaft der Betriebe reduziert wird, ob nicht outgesourct wird, so daß die Beschäftigungspotentiale am Ende den Zeitarbeitsfirmen zugute kommen. Deswegen bitte ich Sie, mit etwas mehr Zurückhaltung und Glaubwürdigkeit über das Thema zu reden. Sonst verrennen Sie sich beim Komplex der Arbeitslosigkeit. ({5}) Welche Position haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Gefüge? Zeitarbeit kann für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine große Chance sein, wieder in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Sie erweitert den Horizont, weil man mehrere Arbeitstechniken, mehrere Arbeitsfelder kennenlernt. Die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig. 30 bis 50 Prozent finden am Ende einen Job beim Entleiher, weil sie sich dort eingegliedert haben. Und - auch diese Zahlen müssen wir zur Kenntnis nehmen -: Mehr als 60 Prozent der Zeitarbeitnehmer waren vorher arbeitslos, 43 Prozent sogar länger als ein Jahr. ({6}) Das heißt, Zeitarbeit kann zur Wiedereingliederung beitragen. Aber Sie müssen auch deutlich sagen: Wo Licht ist, ist auch immer Schatten. ({7}) Reden wir nun ein bißchen über den Schatten, den Sie auszusparen versuchen. ({8}) - Mein lieber Herr Kolb, daß Sie sich als Vertreter einer Partei, die in der Vergangenheit immer auf Leihstimmen der CDU/CSU angewiesen war, beim Thema Leiharbeit mit Zurufen besonders hervortun, verstehe ich ja. Daß Sie das mittlerweile aber, wie bei der Landtagswahl in Thüringen, so weit treiben, daß Ihr Landesvorsitzender Ihre Stimmen gleich der CDU überläßt, das allerdings halte ich für ein Ding der Unmöglichkeit. ({9}) - Wenn Sie mit den Zwischenrufen sachlich bleiben, reden wir weiter über die Situation der Arbeitnehmer. Diese Arbeitnehmer haben nicht, wie viele andere Beschäftigte, die Möglichkeit, kollegiale Kontakte in den Unternehmen aufzubauen. Das Betriebsgefüge ist in sozialer Hinsicht für sie anders als für die anderen Arbeitnehmer. Das widerspricht im übrigen den modernen Unternehmensphilosophien, die auf Corporate Identity Wert legen. Der Bericht der Bundesregierung besagt: Das Lohnniveau ist teilweise auf das Niveau von 1991 zurückgefallen. Die Bundesanstalt für Arbeit schreibt: Das Lohnniveau bei Leiharbeitnehmern, die zu gewerblichen Hilfsarbeiten überlassen werden, ist nicht selten so weit gesunken, daß Verleiher den Übergangspreis niedriger gestalten können, als Entleiher für die Lohn- und Lohnnebenkosten ihrer Arbeitnehmer kalkulieren können. Diese Ungleichgewichte müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen. Man kann nicht auf das Schiff Leiharbeit springen und dabei vergessen, daß Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Ende unter Dumpinglöhnen leiden müssen. ({10}) - Nein, ich will überhaupt kein Totschlagargument bringen. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie wir diese Bedingungen verbessern können und wie wir vermeiden können, daß die nachgewiesenen Lohndefizite 10 bis 40 Prozent betragen. Das alles beruht auf Daten, die statistisch erfaßt sind. Sie wissen doch ganz genau, daß das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz genaue Berichte vorschreibt. Es geht darum, dies zur Kenntnis zu nehmen. ({11}) Dann kommen Sie mit dem Argument von Tarifverträgen. Ja, wo gilt denn der Tarifvertrag? Wo haben wir denn eine Situation wie in Holland? Von 1985 und 1989 gab es einen Tarifvertrag mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft. Der ist aufgekündigt, ist nicht verlängert worden. Man findet heute drei, vier einzelbetriebliche Tarifverträge. Das heißt, den Schutz, den es in anderen Ländern gibt, finden wir in Deutschland nicht. Deswegen gilt es, den Dialog über die Frage, die Sie diskutieren wollen, gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern zu führen. ({12}) Ich kann den Kollegen Brandner nur unterstützen in der Auffassung, daß wir uns auch über den Begriff des Betriebes Gedanken machen müssen, daß wir uns über die Einflußmöglichkeiten der Betriebsräte Gedanken machen müssen, daß wir uns über die Benachteiligung in bezug auf die Interessenvertretung Gedanken machen müssen, unter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zeitarbeitsunternehmen leiden, weil sie schlichtweg nicht die gleichen Mitbestimmungs- und Interessenvertretungsmöglichkeiten haben wie die anderen Arbeitnehmer. ({13}) Nun komme ich zu einem ganz brisanten Thema, das mich bei der Lektüre sehr erstaunt hat. Im Bericht der Bundesregierung steht: Leiharbeitnehmer werden öfter zu Tätigkeiten herangezogen, bei denen hohe Schutzanforderungen zu beachten sind oder deren Ausführungen bei der Stammbelegschaft unbeliebt sind. Leiharbeitnehmer sind erfahrungsgemäß wegen des häufiger wechselnden Einsatzortes größeren Gefahren ausgesetzt als andere Arbeitnehmer. Man stellt häufigere Verstöße gegen den Arbeitnehmerschutz, häufigere Verstöße gegen Arbeitgeberpflichten zum Arbeitsschutz fest. Man stellt ebenso fest, daß die Probleme des Arbeitsschutzes für Leiharbeitnehmer in den letzten Jahren zugenommen haben. Diese Ausführungen stammen nicht von mir, sondern vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit- und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit; daher ist es hier an dieser Stelle unverdächtig. Das gleiche sagt sogar der Bundesverband für Zeitarbeitsunternehmen, der seine Aktivitäten für die Arbeitssicherheitspolitik in den letzten Jahren verstärkt hat. Es bleibt dennoch dabei: Jeder vierte Betrieb im Bereich der Zeitarbeitsunternehmen ist bei den jährlichen Überprüfungen mit einem Bußgeldverfahren belegt worden. Wir müssen uns doch darüber Gedanken machen, warum das so ist. Es geht hier nicht um einige schwarze Schafe, sondern es geht um 25 Prozent. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Ihren Gesetzentwurf reden, müssen wir uns seine Kernpunkte ansehen. Die Befristung haben wir schon einmal, nämlich von neun auf zwölf Monate, verlängert. Auch der Bericht der Bundesregierung hat über die vorherigen Verlängerungen gesagt, daß sie nicht zu längeren Beschäftigungszeiträumen in diesem Bereich geführt haben. 11 Prozent der Arbeitsverhältnisse dauern weniger als eine Woche. 57 Prozent dauern eine Woche bis drei Monate, und 32 Prozent drei Monate und länger. Eines kommt noch hinzu: Zweieinhalbmal pro Jahr wird die durchschnittliche Beschäftigtenzahl im Verleihgewerbe umgeschlagen. Das ist siebenmal höher als in der Gesamtwirtschaft. ({14}) Reden Sie bitte nicht über „diese festen Arbeitsplätze“. Ich will als Argument akzeptieren, daß man sagt: Zeitarbeit kann ein Sprungbrett in Beschäftigung hinein sein, und sie verhindert, daß man zu Hause sitzt und einem die Decke auf den Kopf fällt. Man darf das aber nicht zu hoch stilisieren und so tun, als ließe sich Arbeitslosigkeit so in feste Arbeitsplätze umwandeln. Wenn ich Ihren Gesetzentwurf bewerte, dann muß ich feststellen, daß die Streichung des Verbots der wiederholten Befristung nicht zu einer wesentlich größeren Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschäftigen, führt. Im übrigen sage ich Ihnen: Sie wissen ganz genau, daß am 31. Dezember die Frist für die Befristung nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz ausläuft und die Entscheidung darüber, wie wir mit Befristungen umgehen werden, neu ansteht. Das muß doch im Gesamtzusammenhang diskutiert werden. Wenn man die Streichung der gesetzlichen Wiedereinstellungssperre und die Zulassung der befristeten Arbeitsverhältnisse addiert, dann führt das unweigerlich dazu - „hire and fire“ und Kapovaz sind genannt worden ({15}) - hören Sie doch zu; ich habe gesagt: sie sind genannt worden -, daß ein anderes Beziehungsverhältnis zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer entsteht, daß es nicht die soziale Verpflichtung des Arbeitgebers gibt, den Arbeitnehmer bei nicht vorhandenen Aufträgen weiterzubeschäftigen, und dann kann es wirklich dazu kommen, daß das Beschäftigungsrisiko einzig und allein auf den Arbeitnehmer verlagert wird. Das werden Sie mit uns nicht hinbekommen, das machen wir nicht mit. Rechte und Pflichten sind von beiden Seiten zu tragen. ({16}) Es ist schlitzohrig - das sage ich Ihnen -, den Begriff des Tarifvertrags als sogenannte Schutzvoraussetzung hineinzuschreiben, wissend, daß es ihn für diesen großen Bereich überhaupt nicht gibt. Das darf man nicht machen, das ist Blendwerk. Man kann Sachen nicht einfach herbeireden, die überhaupt nicht vorhanden sind. Wenn Sie sie herausgelassen hätten, wäre es wenigstens ehrlich gewesen, so aber erwecken Sie den Eindruck, daß auch noch ein Deckmantel darüber gelegt und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Schutz vorgegaukelt werden soll. Aber selbst wenn es so wäre, muß ich Ihnen deutlich sagen: Sie wissen ganz genau - Sie, Kollege Laumann, haben nach dem Experten gefragt -, daß der Tarifvertrag nur für die Arbeitnehmer gilt, die Arbeit haben, und nicht für die, die keine haben. Er hat mit der Zahlung von Beiträgen in die Arbeitslosenversicherung, mit Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe nichts zu tun. Deswegen trägt Ihr vorliegender Gesetzentwurf am Ende mit dazu bei, daß dieses Risiko nicht nur den Arbeitnehmern, sondern der Gesamtheit der Beitragszahler, also auch den Arbeitgebern, die ordentliche Arbeitsverhältnisse abgeschlossen haben, überlassen wird. In diese Situation haben Sie uns mit Ihrer Politik in den letzten 16 Jahren schon lange genug hineingeritten. Wir wollen keinen weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten, auch nicht der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. ({17}) Ich betone auch: Über den Kern Ihres Gesetzentwurfs zu diskutieren lohnt sich. Aber er muß aufgepeppt und mit Erfahrungsberichten verglichen werden. Sie wissen ganz genau: 1996 gab es den letzten Erfahrungsbericht. Die Bundesregierung gibt alle vier Jahre einen solchen Bericht heraus. Im Jahr 2000 steht der nächste an. Wir werden die Erfahrungen der Gewerkschaften und der Zeitarbeitsunternehmen, die abgefragt werden, in die Beratungen einbeziehen. Wir werden keine Schnellschüsse wie Sie machen. Wir werden gute handwerkliche Arbeit leisten, ({18}) wenn es um die Reform der Arbeitsförderung geht. Die jetzt diskutierte Frage wird dann auch eine Rolle spielen. Lassen Sie sich von unserer guten handwerklichen Arbeit überraschen! Wir werden keine Flickschusterei betreiben, wie Sie sie uns in der Arbeitsmarktpolitik hinterlassen haben. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte am heutigen Morgen hat zumindest einen neuen Aspekt gebracht, Herr Thönnes, nämlich daß Sie jetzt gute handwerkliche Arbeit leisten wollen. Dies ist in der heutigen Diskussion um die Arbeits- und Sozialpolitik wirklich etwas Neues, ({0}) wenn man bedenkt, daß sich die Gesetze zur Neuregelung der 630-DM-Jobs und zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit gerade nicht durch gute handwerkliche Arbeit auszeichneten. ({1}) - Wenn man hier von handwerklicher Arbeit gesprochen hätte, dann wäre dies eine Beleidigung für jeden Handwerker gewesen. - Deshalb finde ich es toll, wenn Sie heute sagen, daß Sie zu einer soliden Gesetzgebungsarbeit zurückkehren wollen. Dies ist erst einmal etwas Positives und Neues. ({2}) Über den nächsten Punkt muß man eigentlich nachdenklich werden. Heute haben die Redner aller Fraktionen - wenn man von der PDS einmal absieht - darauf hingewiesen, daß sich die Bedingungen der Leiharbeit in Deutschland in den letzten zehn Jahren stark verändert haben. Auch ich habe vor zehn Jahren Leiharbeit als eine Form der Arbeit betrachtet, der man nicht ganz trauen könne. Auch ich habe viele Bedenken gehabt. Damals waren im Bereich der Leiharbeit viele Firmen tätig, die sich damit besser nicht beschäftigt hätten. Diese Firmen haben überhaupt keine moralischen Ansprüche an ihre Tätigkeit gestellt. Aber dies hat sich in den letzten zehn Jahren maßgeblich verändert. Es gibt jetzt sehr viele grundsolide Verleihfirmen. Die großen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sind ja nicht zufällig entstanden; vielmehr sind sie entstanden, weil sie notwendig waren. Wenn Sie sich heute in einem Betrieb, der im Anlagenbau tätig ist, umschauen, dann wird man Ihnen dort sagen, daß die Zeitspanne zwischen Auftragseingang und Auftragserlediung immer kürzer wird. Wenn wir nicht wollen, daß die dadurch entstehende Mehrarbeit über Überstunden geleistet wird, dann müssen wir es als etwas ganz Normales akzeptieren, daß Betriebe die Dienstleistungen einer Firma für den Verleih von Zeitarbeitnehmern in Anspruch nehmen. Wenn die Arbeit der Verleihfirmen mit Vorsicht zu genießen ist, dann ist es richtig, neben dem normalen Arbeitsrecht, das für jeden Arbeitgeber in Deutschland gilt, auch zukünftig das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zu haben. Daran wollen auch wir von der CDU/CSU nichts ändern. Aber wir meinen, daß auf Grund der Entwicklung der Zeitarbeit in Deutschland der Zeitpunkt gekommen ist, die Fesseln, die durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz angelegt worden sind damals sicherlich aus guten Gründen, weil es so viele schwarze Schafe in dieser Branche gab -, ein bißchen zu lösen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Laumann, Sie haben gerade behauptet, daß die Leiharbeitsfirmen grundsolide geworden seien. ({0}) Meinen Sie nicht, daß auch in solchen Betrieben gewerkschaftlichen Rechten Geltung verschafft werden müßte und Betriebsräte zugelassen werden müßten? Sind Sie nicht der Meinung, daß die Arbeitgeber auch für diesen Bereich einen Tarifvertrag schließen müßten? Würden Sie, auch wenn dies alles nicht vorhanden ist, trotzdem sagen, daß diese Firmen grundsolide sind? Ich sehe eine gewisse Schwierigkeit darin, hier eine Solidität zu akzeptieren, wenn bestehende Gesetze nicht eingehalten werden; denn im Betriebsverfassungsgesetz heißt es ja, daß auch der Arbeitgeber den Betriebsrat fördern und einsetzen soll.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Dreßen, ein Betriebsrat ist etwas Vernünftiges und Gutes. Das gehört zu einer Firma dazu. ({0}) Unternehmer, die die Bildung von Betriebsräten verhindern, sind nicht gut beraten. Aber ich sage Ihnen auch: Die Welt ist so, wie sie ist. Wir können nicht erwarten, daß die Unternehmer die Betriebsräte gründen. Das müssen die Arbeitnehmer schon selbst machen. Dabei müssen die Gewerkschaften die Arbeitnehmer unterstützen; dafür sind sie da. Ich finde auch, es ist eine schöne Aufgabe für jeden Gewerkschaftssekretär, sich in diesem Bereich zu engagieren. Das ist vielleicht besser, als immer nur Parteipolitik zu machen. ({1}) Es ist natürlich klar, daß die Bildung von Betriebsräten in Verleihfirmen, in denen die Menschen oft nur wenige Wochen oder Monate beschäftigt sind, viel schwerer handhabbar und zu organisieren ist, als wenn man Stammbelegschaften hat. Ich meine, da muß auch die Gewerkschaftsbewegung überlegen, wie man so etwas machen kann. Das ist nicht nur die Aufgabe von Politik, erst recht nicht die von Unternehmern. Ich meine, die Arbeitnehmer sind heute so klug - sie sind gebildet und haben Rückgrat -, daß sie es selbst durchsetzen können. ({2}) Jetzt wieder zurück zu dem eigentlichen Thema. Ich war eben dabei, zu sagen, daß wir ein zusätzliches Arbeitsrecht in diesem Bereich brauchen. Aber wir als CDU/CSU sind der Meinung, daß wir es wegen der Entwicklung, die im Grunde niemand hier in Frage gestellt hat, verantworten können, dieses Recht zu lockern. Man steht bei Schutzrechten - auch bei diesem Schutzrecht - immer vor einer Abwägungsfrage. Das Schutzrecht ist immer gut für diejenigen, die im System sind. Als Politiker muß ich aber auch sehen: Wie schaffe ich es, zu verhindern, daß andere, die gerne in dieses System hinein wollen - in diesem Fall, weil sie arbeitslos sind -, auf Grund übertriebener Schutzfunktionen keine Chance haben, hier einzusteigen? Damit bin ich bei dem von Ihnen am meisten kritisierten Vorschlag, nämlich dem Vorschlag, das sogenannte Synchronisationsverbot aufzuheben. Ich habe mir darüber Gedanken gemacht. Natürlich ist es ein Einschnitt, wenn Sie den Verleihfirmen sagen, sie müßten nicht unbedingt eine anschließende Beschäftigung garantieren. Das ist eine wesentliche Veränderung. Wir haben diesen Vorschlag aber deswegen gemacht, weil wir glauben - auch auf Grund von Gesprächen, die wir mit Zeitarbeitnehmern und mit Betrieben, die es so machen, geführt haben; wir haben über mehrere Tage auch Gespräche in Holland geführt -, daß wir auf diese Weise vor allem Menschen, die sehr lange arbeitslos sind und die angesichts dessen, wie der Arbeitsmarkt heute funktioniert, kaum eine Chance haben, wieder einzusteigen, die Möglichkeit geben, Arbeit zu finden. Deswegen haben wir uns bei dieser Abwägung so entschieden. Ich meine, wir sollten über diese Frage auch so im Ausschuß beraten. Vielleicht können wir dann Ihre Ideen doch so anreichern, daß Sie ein Jahr später unter Ihrem Briefkopf einen ähnlichen Gesetzentwurf einbringen, den Sie dann durchsetzen könnten. Ein weiterer Punkt ist folgender: Zeitarbeit hat auch etwas mit Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt zu tun. 30 Prozent der Menschen, die bei Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sind, finden bei den Firmen, in die sie entliehen worden sind, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Das heißt, daß die Zeitarbeit, die den Staat keine Mark kostet, eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt auf jeden Fall genausogut, wenn nicht sogar besser schafft, als es über die Arbeitsverwaltung mit ABM und anderen Maßnahmen gemacht wird. ({3}) Das sagen einem auch Menschen, die sehr lange arbeitslos waren. Sie sagen: Mein größtes Problem ist, daß ich in keine Firma, in kein Büro hineinkomme, um einmal zu beweisen, daß ich arbeitswillig bin, daß ich pünktlich bin und daß ich auch etwas leisten kann. Menschen haben auf diesem Wege die Möglichkeit, gerade dorthin zu kommen, wo eine gute Auftragslage ist. Deswegen gibt es auch die guten Erfolge, daß 30 Prozent in den ersten Arbeitsmarkt gehen. Deswegen werden wir eine Vorschrift im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nicht ändern: daß nämlich jede Verleihfirma auf jeden Fall einen Arbeiter gehen lassen muß - und zwar sofort -, wenn er ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gefunden hat. Das ist in diesem Bereich eine sinnvolle Schutzvorschrift. Deswegen sollten Sie überlegen, ob wir das Synchronisationsverbot nicht doch abschaffen können. Sie haben heute oft angesprochen, daß wir in diesem Bereich tarifvertragliche Regelungen brauchen. Ja, wir brauchen diese Regelungen, aber wie können wir sie durchsetzen? Ich glaube, wir können sie durchsetzen, wenn wir das Lösen von Fesseln, das uns durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ermöglicht wird, daran binden, daß es in diesem Bereich Tarifverträge und Tarifrecht gibt. Dann werden nämlich die Betriebe, die die Vorteile dieses Gesetzes nutzen wollen, ein großes Interesse daran haben, daß sie zu tarifvertraglichen Vereinbarungen für Entlohnung, Arbeitszeit und all diese Dinge gelangen. Diejenigen, die das nicht tun, werden dann die Vorteile dieses Gesetzes schlicht und ergreifend nicht nutzen können. Ich glaube, daß wir gerade damit einen Anreiz schaffen werden, in diesem Bereich endlich zu tarifvertraglichen Regelungen zu kommen. Das ist auch sehr deutlich geworden, als wir mit einigen Kollegen aus der Arbeitsgruppe der CDU/CSU in Holland waren: Man kann die Zeitarbeit nur dann verantwortungsbewußt ausweiten, wenn wir hier zu anderen, besseren tarifvertraglichen Regelungen kommen, so wie wir sie auch im ersten Arbeitsmarkt haben. Zeitarbeit darf keine Zone sein, in der das Tarifrecht nicht gilt. Das ist auch in Holland nicht so. Im übrigen glaube ich nicht, daß die Zeitarbeit in Deutschland jemals eine so große Rolle spielen wird wie in Holland. In Holland herrscht da eine ganz andere Mentalität als bei uns; das muß man sehr wohl sehen. Ich bin auch der Meinung, Zeitarbeit muß nicht unbedingt reguläre Beschäftigung ersetzen. Mir ist reguläre Beschäftigung in der Abwägung auf jeden Fall lieber und sympathischer - aber darum geht es nicht. Es geht darum, daß man die neue Entwicklung in der Arbeitswelt - von Auftragsvergabe bis -erledigung muß alles schneller fertig werden; ich nenne hierzu auch das Thema Überstunden - mit diesem Vehikel in den Griff bekommen kann. Es hat auch gute Entwicklungen im Bereich von Menschen, die langzeitarbeitslos sind, gegeben. Das Beeindruckendste für mich ist, wie viele Langzeitarbeitslose in Holland über Zeitarbeit in eine reguläre Beschäftigung kommen. Das liegt auch daran, daß das Stigma der Langzeitarbeitslosigkeit bei der Zeitarbeit nicht vorhanden ist. Wenn ein Unternehmer fünf Schweißer braucht und sie über eine Leihfirma holt, schaut er sich deren Biographien - wann ist er zur Schule gegangen, wie lange hat er eine Lehre gemacht, wie hat er seine Gesellenprüfung bestanden - vorher gar nicht an. Er hat Schweißer bestellt, und die müssen eine bestimmte Schweißarbeit können. Wenn er sieht, daß einer dieser Arbeitnehmer anschließend eine gute Schweißarbeit abliefert, und wenn er in seiner Firma auf Dauer einen Schweißer mehr braucht und ihn auch ständig beschäftigen und bezahlen kann, dann stellt er ihn ein. Ich glaube, das ist eine tolle Geschichte, wie sie sich praktisch in der Arbeitswelt bei uns in Deutschland Tag für Tag abspielt. Ich möchte zum Schluß um eines bitten. Die heutige Debatte hat auch gezeigt, daß man bei der Einschätzung von Zeitarbeit hier im Hause - die PDS ausgenommen nicht weit auseinanderliegt. Wir sollten im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung sehen, ob die Regelungen alle so umsetzbar sind, wie wir sie vorgeschlagen haben. Ich gebe auch zu, daß wir - wie immer im Leben - nicht der Weisheit letzten Schluß gepachtet haben. Sie können Änderungsanträge stellen. Ich finde, dann könnten wir zu einer vernünftigen Beratung in diesem Bereich kommen. Wenn Sie am Ende Probleme damit haben, diesem Antrag zuzustimmen, weil „CDU/CSU“ draufsteht, können wir daraus auch ein „Interfraktionell“ machen; dann fällt es Ihnen leichter. Mir geht es nur darum, daß wir die Möglichkeit nutzen sollten - es gibt ja nicht den Königsweg aus der Arbeitslosigkeit -, eine Branche, der wir vor zehn Jahren - zu Recht - durch Gesetze enge Fesseln angelegt haben, die aber in vielen Bereichen bewiesen hat, daß sie sich sehr positiv entwickelt hat, Schritt für Schritt in das normale Arbeitsrecht zu entlassen. Das ist das, was ich mir wünsche. Einen Satz noch zur PDS. Sie, Frau Knake-Werner, haben eben gesagt, die Deregulierung habe in Deutschland in die Irre geführt. ({4}) Ich kann nur sagen: Ihre Partei hat viel mit einem Staat zu tun, in dem alles reguliert war. Diese Regulierung hatte bei Ihnen zum Stillstand geführt. Deswegen waren Sie nicht einmal mehr in der Lage, in Ihrem Land eine gute Sozialpolitik zu finanzieren. Denn auch das gehört dazu: Wir können nur Sozialpolitik machen, wenn wir den Arbeitsmarkt im Griff haben, wenn Geld verdient wird, wenn Steuern und Beiträge gezahlt werden dann können wir uns auch um die armen Leute kümmern. Wenn Sie uns bei der Zeitarbeit unterstützen und die Arbeitsämter deswegen weniger Arbeitslosengeld auszahlen müssen, haben Sie vielleicht für Herrn Eichel auch einen Deckungsvorschlag, so daß Sie den Griff in die Pflegekasse von 400 Millionen DM nicht machen müssen. Schönen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge gibt es, soweit ich das sehe, nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Chancen der Gen- und Biotechnologie nicht verspielen - Drucksache 14/1316 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch gibt es nicht; dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Herr Kollege Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Chancen der Genund Biotechnologie nicht verspielen“ - das ist der Titel unseres Antrags. Lassen Sie mich in den wenigen Minuten, die ich zur Verfügung habe, ganz kurz begründen, warum wir diesen Antrag gestellt haben. Der Hintergrund ist die riesengroße Herausforderung durch das Wachstum der Weltbevölkerung. In diesem Monat überschreiten wir die Sechs-Milliarden-Grenze. Überfluß an Nahrungsmitteln gibt es eigentlich nur in den entwickelten Ländern, in Nordamerika, in Europa und in einigen wenigen anderen Ländern. In allen anderen Ländern gibt es Hunger. Rund 800 Millionen Menschen der Weltbevölkerung leben in Hunger und sind unzureichend ernährt. Zehn Millionen Menschen sterben Jahr für Jahr an den Folgen von Nahrungsmangel. Jedes Jahr verlieren wir 7 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche durch Ausdehnung der Wüsten, Überschwemmung, Wind- und Wassererosion, Versalzung und Übernutzung. Die Herausforderung lautet also, mit einer gleichbleibenden Fläche eine explosiv wachsende Bevölkerung gesund und zu erschwinglichen Preisen zu ernähren. ({0}) Ohne die Biotechnologie und die Gentechnik werden wir diese Herausforderung wohl nicht meistern können. Das ist die eine Seite. Die andere Seite hat mit folgendem zu tun: Die Welt wartet nicht auf Deutschland und Europa. Vielmehr geht der Fortschritt in anderen Teilen dieser Erde sehr viel schneller vonstatten. Deshalb müssen wir auch die Frage stellen: Wie sieht es denn mit den Arbeitsplätzen aus? Können mit Hilfe der Gen- und Biotechnologie zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden? Man geht davon aus, daß in Europa etwa 10 Prozent der Gesamtwirtschaft durch die Bio- und Gentechnik beeinflußt werden. Diesem Bereich wird eine Wertschöpfung von 900 Milliarden DM vorausgesagt, und dabei wird es sich um neun Millionen Arbeitsplätze handeln. In Deutschland finden derzeit etwa 35 000 bis 40 000 Menschen in diesem Bereich Arbeit und Brot. Man geht in einer Studie davon aus, daß es bis zum Jahr 2000 etwa zwischen 80 000 und 110 000 Menschen sein werden. ({1}) Der Verzicht auf die Bio- und Gentechnik würde bedeuten, daß man diese Arbeitsplätze der Konkurrenz auf dem Weltmarkt überläßt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Heinrich, Sie haben eben Zahlen dahin gehend genannt, wie viele Arbeitsplätze in der Biotechnologie zu erwarten sind. Sie haben vorher von der Landwirtschaft gesprochen. Sie wissen genauso wie ich, daß sich die Biotechnologie auch in der Medizin sehr auswirkt. Können Sie quantifizieren, wie sich die Biotechnologie in der Landwirtschaft auswirkt? Können Sie sagen, ob es in der Landwirtschaft, wenn man die Gesamtzahl der Arbeitsplätze betrachtet, auf Grund der Umstellung der Methoden und der Industrialisierung der Landwirtschaft nicht vielleicht sogar weniger Arbeitsplätze geben wird?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann das nicht quantifizieren und auch keine genauen Zahlen angeben. Richtig ist natürlich, daß im Moment die große Zahl der Arbeitsplätze auf den Arzneimittelbereich entfällt. Dieser Einsatz der Biotechnologie wird in unserer Gesellschaft bemerkenswerterweise - dort hat er direkt Einfluß auf unsere Gesundheit - akzeptiert. Dies gilt auch für den Lebensmittelbereich, zum Beispiel für die Käseproduktion. Da redet doch kein Mensch von der Gentechnik, und wir haben sie sozusagen jeden Tag auf dem Tisch. Die Gefährdung der Arbeitsplätze ist weitaus größer, wenn die Wettbewerbsfähigkeit verlorengegangen ist, als wenn eine technische Entwicklung nicht vollzogen wird. ({0}) Wir müssen uns darüber klar sein: 90 Prozent der deutschen Landwirte setzen ihre Produkte auf Märkten mit internationaler Konkurrenz ab. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Bauern ist deshalb mit dafür entscheidend, ob wir der Konkurrenz standhalten können. Wir brauchen natürlich auch in Zukunft eine umweltverträgliche Produktion. Genau diese Anforderungen stellen wir an die Gentechnik. Sie soll nicht nur den Herausforderungen der Ernährung der Bevölkerung gerecht werden, sondern auch auf einer für Mensch und Umwelt verantwortbaren Umweltpolitik beruhen. Hier lassen wir überhaupt keinen Zweifel aufkommen. ({1}) Im Augenblick wird davon gesprochen, wir müßten Monitoring durchführen. Ich bin sehr dafür. Voraussetzung für ein zuverlässiges Monitoring aber sind Freisetzungsversuche. Wie sieht die Situation in Europa aus? In den USA wurden 10 000 Freisetzungsversuche durchgeführt, in Deutschland ganze 60 und in Frankreich 270. Ähnliche Zahlen sind für Großbritannien, Belgien und die Niederlande zu nennen. - Daran sieht man sehr deutlich, an welcher Stelle wir hier stehen. Ich frage Sie, ob wir nicht die in über 10 000 Freisetzungsversuchen in den USA - diese wurden wissenschaftlich durch Monitoring begleitet, also kontrolliert gewonnene Sicherheit auf uns übertragen können. Wenn wir Freilandversuche machen, haben wir es hauptsächlich mit radikalen Gentechnikgegnern zu tun. Diese verwüsten die Felder und verhindern die Erfahrungen, die wir erst aus der Freisetzung erzielen, von vornherein. Quer durch die Republik kann ich Ihnen Felder zeigen, die verwüstet worden sind, und zwar von jenen, die die Sicherheit grundsätzlich ideologisch diskutieren und auf wissenschaftliche Ergebnisse überhaupt keine Reaktion zeigen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ihre Redezeit ist schon abgelaufen. Es besteht aber noch ein Wunsch nach einer Zwischenfrage. Diese lasse ich noch zu, wenn Sie nach der Beantwortung nicht in Ihrer Rede fortfahren.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte Sie fragen, wie Sie es beurteilen, daß zum Beispiel die Österreicher gentechnisch veränderten Mais nicht in ihrem Land haben wollen, weil die österreichische Landwirtschaft Angst hat, daß sich sonst das Marketing für ihre Produkte verschlechtern könnte. Österreich möchte damit werben, daß es gentechnikfrei ist, und verspricht sich davon einen Beschäftigungseffekt und bessere Absatzchancen. Wieso sind Sie so sicher, daß die landwirtschaftlichen Produzenten in Deutschland nicht ähnlich denken?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dieser Frage stehe ich sehr sympathisch gegenüber. Ich bin aber der Meinung, daß man gegenüber dem Verbraucher offen sein muß. Dazu gehört eine klare Deklarierung. Wir brauchen eine Kennzeichnung, damit klar ist, was gentechnisch verändert wurde und was nicht. Bereits heute hat jeder in Deutschland, in Österreich und in jedem anderen europäischen Land die Möglichkeit, die Produkte positiv zu deklarieren, das heißt, sie dergestalt zu kennzeichnen, daß garantiert keine gentechnisch veränderten Bestandteile enthalten sind. ({0}) Diese Möglichkeit hat heute jeder. ({1}) - Ich gehe noch einen Schritt weiter, um diese Frage ordentlich zu beantworten. - Das generelle Verbot bringt Sie und erst recht die Österreicher in allergrößte Bedrängnis; denn auf einem liberalisierten europäischen Markt werden einzelne Verbote früher oder später unterlaufen. Ihre Einhaltung läßt sich nicht kontrollieren. Wo würde man hinkommen, wenn man jeden Sack Mehl kontrollieren würde? Es ist völlig ausgeschlossen, daß wir uns in Europa wieder zu einem Flickenteppich entwickeln, der dadurch gekennzeichnet ist, daß jeder Nationalstaat seine eigenen Vorstellungen verwirklichen will. Ich plädiere deshalb nachdrücklich für eine europäische Zulassung und für ein mit unabhängigen Wissenschaftlern besetztes Gremium, das entsprechende Zulassungskriterien erarbeiten und begleiten soll, so daß wir in Europa eine einheitliche Regelung haben. Wer den Binnenmarkt ernst nimmt und wer vor allen Dingen den Verbrauchern verspricht, daß durch nationale Maßnahmen tatsächlich etwas für den Verbraucherschutz bewirkt wird, der darf mit solchen Maßnahmen nicht kommen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Heinrich, kommen Sie bitte zum Schluß.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wer dies verspricht, der muß eine einheitliche europäische Regelung anstreben. Ich bedanke mich. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heino Wiese.

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Heinrich, wir befassen uns heute mit dem F.D.P.-Antrag „Chancen der Gen- und Biotechnologie nicht verspielen“. ({0}) - Ich würde eher sagen: Was Sie uns mit diesem Antrag zugemutet haben, ist reine Zeitverschwendung. ({1}) Dieser Antrag besteht aus einer Mischung von Selbstverständlichkeiten und unbegründeten Behauptungen. Vielleicht stimmt ja doch das, was am letzten Dienstag in der „FAZ“ zu lesen war: ({2}) ... der Aktionismus der F.D.P. wirkt kopflos. Muß sie solche Scheingefechte führen, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden? ({3}) Sie fordern Unterstützung für eine verantwortbare Stärkung der Bio- und Gentechnik. ({4}) - Das tue ich ja. - Natürlich sind wir für eine Stärkung der grünen Gentechnik, und die Bundesrepublik hat sich vorgenommen, die verantwortbaren Potentiale der Bio- und Gentechnologie systematisch weiterzuentwikkeln. ({5}) - Ich möchte keine Zwischenfrage von Herrn Abgeordneten Ronsöhr zulassen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Ronsöhr, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen oder nicht? ({0})

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das einzige, was ich in der Gentechnologie fürchte, ist, daß es von dir zwei geben könnte. ({0}) Ministerin Bulmahn hat unter anderem gerade das Pflanzengenomprojekt GABI gestartet, um in dem wichtigen Bereich der mittelständischen Industrie ein Zeichen zu setzen und entsprechende Innovationen zu ermöglichen. 32 Millionen DM werden bis Ende 2000 von der Bundesregierung für dieses Projekt zur Verfügung gestellt. Es gilt, was ich eben schon zu Herrn Ronsöhr gesagt habe: Es gibt nicht nur Chancen, sondern auch Risiken in der Gentechnologie. Deswegen sind Risikovorsorge und Sicherheitsforschung von zentraler Bedeutung. Denn es geht nicht nur um das, was technisch möglich ist; vielmehr geht es auch darum, vernünftige und nutzbringende Anwendungsmöglichkeiten zu entwickeln und unvertretbare Risiken zu vermeiden. Deswegen wurde 1996 beim Büro zur Technikfolgenabschätzung der Bericht „Gentechnik, Züchtung und Biodiversität“ in Auftrag gegeben. Das TAB-Büro hat in anderthalb Jahren Arbeit den derzeitigen Wissensstand zusammengetragen. Wirkungsketten, von denen man beim Einsatz neuer Pflanzensorten in der Landwirtschaft ausgeht, wurden beschrieben, und die Erhaltungsmöglichkeiten für die biologische Vielfalt wurde dargestellt und diskutiert.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, auch von Herrn Heinrich nicht. Die wissenschaftliche Qualität der Ergebnisse dieses Berichtes ist bei uns im Ausschuß ausdrücklich bestätigt worden. Aus diesem Bericht haben wir unseren Antrag entwickelt. Heute behaupten Sie, er gehe in die falsche Richtung. Als wir diesen Antrag im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten diskutierten, haben Sie nichts dergleichen geäußert. Im Gegenteil, es bestand Konsens darüber. Mit Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der F.D.P., reißen Sie Gräben auf, die wir doch längst wieder zugeschüttet hatten. Sie stellen sich als Gentechnikbefürworter und uns als Verweigerer dar. Diese Strategie ist lächerlich und bringt uns in der Sache überhaupt nicht weiter. ({0}) Eine Technologie an sich ist doch weder gut noch schlecht. Sie muß danach beurteilt werden, welche Problemlösungen sie ermöglicht und welche Risiken sie in sich birgt. Hier lenkend und gestaltend einzugreifen ist unsere gemeinsame Aufgabe. Ich möchte noch kurz auf das so häufig bemühte Argument, Gentechnik sichert die Welternährung, eingehen. Ich brauche Ihnen von der F.D.P. doch sicherlich nicht zu erklären, daß Unternehmen auf dem freien Markt in erster Linie Gewinn erwirtschaften wollen und müssen. Die sogenannten Entwicklungsländer sind aber kein entsprechend gewinnversprechender Markt. Deshalb wird an den dort üblichen Nahrungsmittelpflanzen kaum geforscht, dafür aber um so mehr an denen, die auf dem europäischen und amerikanischen Markt abgesetzt werden. ({1}) Ich zitiere aus dem Kompendium „Gentechnik und Lebensmittel“, an dem die Firmen Agrevo, Monsanto und Novartis, die alle unabhängig von der SPD sind, mitgewirkt haben: Die meisten der bisher hergestellten gentechnisch veränderten Kulturpflanzen sind für die Landwirtschaft der kapitalstarken industrialisierten Länder bestimmt. Landwirte in den Entwicklungsländern können sich dieses Saatgut nicht leisten. So steht es in dem Bericht. Die Hungerproblematik in den Entwicklungsländern ist in erster Linie auch ein Verteilungsproblem. Da kann die Gentechnologie nur begrenzt helfen. Wir können nicht darauf hoffen, daß uns die Unternehmen die Verantwortung dafür abnehmen. Ich möchte aber ausdrücklich betonen, daß natürlich alle Entwicklungen, die geeignet sind, den Welthunger zu bekämpfen, von uns unterstützt werden. Meine Damen und Herren, wir haben die systematische Weiterentwicklung der verantwortbaren Potentiale der Bio- und Gentechnologie auch in unserer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Es hätte also dieses F.D.P.-Antrages gar nicht bedurft. ({2}) - Das ist doch gar nicht wahr. Wir haben unter anderem das Programm, von dem ich gerade geredet habe, aufgelegt. ({3}) - Das ist doch gar nicht wahr. ({4}) In Brüssel hat die Bundesregierung in Verhandlungen versucht, die Zulassungsbestimmungen zu vereinfachen und die Instanzenwege zu verkürzen. Dieses Vorhaben ist zugegebenermaßen von der alten Regierung angestoßen worden, aber wurde unter der jetzigen Regierung fortgeführt. Insofern gibt es hier eine Kontinuität. Sie können an dieser Stelle keinen Konflikt aufbauen, den es in dieser Form nicht gibt. ({5}) Zum Schluß noch eine kleine Anmerkung zu der Frage, wie man mit Freilandversuchen umgehen soll. Ich weiß nicht, was der Bund da machen soll. Natürlich ist es sinnvoll, daß die Polizei der Länder die Felder schützt. Ich kann mir aber schlecht vorstellen, was der Deutsche Bundestag dazu beitragen soll. Oder sollen wir den Bundesverteidigungsminister auffordern, jetzt Soldaten so, wie sie der Alte Fritz um Kartoffelfelder aufgestellt hat, um diese Felder zu stellen? Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie wollen jetzt aber wohl keinen Unterschied zwischen den Kartoffeln und der Gentechnologie in diesem Sinne machen. ({0}) Wir müssen jetzt mit der Debatte fortfahren. Das Wort hat der Kollege Meinolf Michels.

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte den Antrag der F.D.P. für durchaus richtig, denn er veranlaßt uns alle, sich mit diesem wichtigen Zukunftsthema im Deutschen Bundestag auseinanderzusetzen. Seit Anfang der 70er Jahre ist es der Wissenschaft möglich, gezielt in die Erbsubstanz einzugreifen. Die wissenschaftliche Erkenntnis auf diesem Gebiet ist frappierend. Gleichzeitig sind die warnenden Stimmen mit unterschiedlicher Gewichtung geblieben. Im medizinischen Bereich - das hat Herr Kollege Heinrich eben schon ausgeführt - ist die Möglichkeit gentechnischen Eingreifens auch in der praktischen Anwendung voll akzeptiert. Bei genetisch veränderten Pflanzen für die Nahrungsmittelversorgung - hier ist der Grund für den Antrag zu sehen - sind bei uns die Ängste sehr groß. Während im medizinischen Bereich, zum Beispiel bei Insulin, das durch gentechnische Verfahren gewonnen wurde, der gesundheitlich helfende Effekt sofort erkennbar ist, bestehen im Bereich der Nahrungsmittelproduktion die Ängste wegen der Nichtdurchschaubarkeit nach wie vor fort. Diese Sorge der Verbraucher müssen wir sehr ernst nehmen. Wir Menschen haben in der Regel gegenüber Neuem, uns Unbekanntem immer Vorbehalte, zumindest so lange, bis wir die Unbedenklichkeit und den praktischen Nutzen zweifelsfrei verinnerlicht haben. Durch Kennzeichnung gentechnisch veränderter Produkte sind die Verbraucher in der Lage, sich für oder gegen den Kauf solcher Produkte zu entscheiden. Heino Wiese ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Michels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weisheit?

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern, selbstverständlich.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Michels, würden Sie mir zustimmen, daß es sich nicht in erster Linie um Angst handelt, sondern auch um die schlichte Überlegung der Menschen auf einem Kontinent, auf dem Nahrungsmittel im Überfluß da sind, ob es überhaupt notwendig ist, etwas zu ändern, und zu wessen Nutzen da etwas getan wird? ({0})

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stimme Ihnen nicht zu. Wenn Sie bitte weiter zuhören, werde ich die Begründung dafür gleich liefern. Der Gesetzgeber hat die berechtigten Sorgen aufzunehmen, aber auch für die notwendigen Fortschritte Sorge zu tragen. Der Deutsche Bundestag hat dazu 1984 eine Enquetekommission eingesetzt. Die Erkenntnisse aus deren sorgfältigen Beratungen sind 1990 in das Gentechnikgesetz eingeflossen. Dieses Gesetz trägt den berechtigten Schutzbedürfnissen der Verbraucher in hohem Maße Rechnung, läßt aber auch die verantwortungsvolle Nutzung neuer Erkenntnisse zur Erzeugung von gentechnisch veränderten Produkten zu. Zum Beispiel ist es gelungen, beim Mais eine Zünsler-Resistenz zu erreichen. Ohne den Einsatz von Insektiziden ist Maisanbau auf dieser veränderten Grundlage heute in den USA und Kanada bereits die Regel. Bei der Zuckerrübe können wir davon ausgehen, daß mit Hilfe der Gentechnologie demnächst die Infektion durch den Rizomania-Virus ausgeschlossen werden kann. Die bisher geringen Möglichkeiten zur Bekämpfung dieses Virus sind außerordentlich umweltbelastend und wenig erfolgreich. Daher ist - ich unterstütze das, was Herr Kollege Heinrich dazu gesagt hat - die ideologisch motivierte Zerstörung von Freilandversuchen nicht nur als eine Straftat anzusehen, sondern in höchstem Maße zukunftsschädigend. Nach zirka 20 Jahren Erfahrung sind wir heute in der Lage, durch gezielten Eingriff einzelne Inhaltsstoffe von Pflanzen zu verändern. So wird zum Beispiel an Pflanzen geforscht, die mit weniger Wasser gleiche Ertragsleistungen erbringen oder die Nutzung übersalzter Böden wieder ermöglichen. - Herr Kollege Weisheit, jetzt haben Sie die Antwort auf Ihre Zwischenfrage. ({0}) Die bisherigen Forschungsergebnisse der Biotechnologie lassen eine weltweite Nutzung dieser Kenntnisse zu. Zweifelsohne haben wir es da mit einer Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts zu tun, die auch für den weltweiten Bevölkerungsanstieg und den daraus resultierenden steigenden Bedarf an Nahrungsmitteln eine weitreichende Bedeutung hat. ({1}) In den nächsten 25 Jahren wird die Zahl der Menschen von heute 6 Milliarden auf schätzungsweise 8 Milliarden anwachsen. Während heute für jeden unserer Mitmenschen zirka 0,28 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche zur Verfügung stehen, werden es in 25 Jahren unter 0,2 Hektar sein. Für unsere Nachkommen wird es bei einer weitaus größeren Zahl von Menschen keinesfalls ein Mehr an Ackerfläche geben. ({2}) Im Gegenteil: Zusätzlicher Siedlungsflächenbedarf und Erosion werden den Anteil nutzbaren Bodens weiter mindern. Mit Sicherheit werden die Möglichkeiten der Gentechnik nicht die alleinigen Problemlöser von heute und in der Zukunft sein. Bei sorgfältigstem und verantwortungsvollem Vorgehen wird die Biotechnologie aber einen unverzichtbaren Beitrag zur Ernährungssicherung leisten können. Die FAO unterstellt, daß die Biotechnologie in der Landwirtschaft eine der vielversprechendsten Technologien sein wird. Die FAO geht davon aus: In Verbindung mit traditionellen oder herkömmlichen Züchtungsmethoden kann sie die Pflanzerträge erhöhen, die Widerstandsfähigkeit von Nutzpflanzen gegenüber Schädlingen oder Krankheiten verbessern, Toleranz gegenüber ungünstigen Witterungsbedingungen entwickeln, den Nährwert verschiedener Nahrungsmittel erhöhen und die Haltbarkeit der Erzeugnisse … verbessern.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Michels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wodarg?

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Michels, da Sie gerade die FAO ansprechen: Meinen Sie nicht auch, daß Sie hier ein wenig differenzieren müßten und, wenn Sie hier so lobend die Möglichkeiten der Biotechnologie erwähnen, auch ein Wort zu dem verlieren müßten, was die FAO zu der Problematik der „farmers rights“, der Rechte der Landwirte, sagt, Saatgut selbst zu vermehren, selbst zu handeln und selbst herzustellen? Auch zu der negativen Seite - die im Vordergrund der Kritik steht -, daß durch Patentrechte großer Konzerne den Landwirten diese Möglichkeit genommen wird, hätte ich gerne etwas von Ihnen gehört.

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, mit Sicherheit ist das ein sehr wichtiger Bereich, der aber nicht in den mir zur Verfügung stehenden Zeitrahmen hineinpaßt. Wir haben uns im Europarat mit dieser Frage sehr eingehend beschäftigen können. Ich denke, es gibt zwischen uns beiden in dieser Frage keinen Dissens. Am 5. Oktober wird in Hannover die BiotechnicaMesse mit einem Rekord an Ausstellern eröffnet. In Deutschland gibt es zur Zeit 543 Biotechnikfirmen im engsten Sinne, allein 33 Neugründungen in diesem Jahr. Insgesamt beschäftigten sich 1 330 Firmen mit diesem Bereich. Nach Großbritannien verzeichnet Deutschland damit die höchsten Zuwachsraten bei Unternehmensgründungen. Vorgespräche für die Hannover-Messe haben ergeben, daß im Bereich der Biotechnologie eine große und steigende Zahl von hochwertigen Arbeitsplätzen entstanden ist und weiterentwickelt werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, höchstmögliche Sicherheit bei der gentechnologischen Forschung schafft das Vertrauen, welches unabdingbar notwendig ist, um auch in Zukunft in unserem Land Entwicklungschancen für alle Menschen dieser Welt zu ermöglichen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! In dieser Debatte um die Gentechnik übernimmt ganz offensichtlich die F.D.P. die jetzt als Sloterdijksche Position bekannte deterministische und autoritäre Ausrichtung Arme Liberale! ({0}) Sie sind sich nicht einmal dafür zu schade, die Bundesregierung dafür zu rügen, daß sie die Entscheidungen von Nachbarländern kritisiert, die nämlich die problematische Freisetzung von gentechnisch verändertem Mais aussetzen möchten. ({1}) Diese Position ist blauäugig und ideologiebeladen. Sie verkennt nämlich auch das Wesen der Gentechnik. Sie kann nicht per Knopfdruck gute Produkte herstellen, das Gute im Menschen zum Beispiel herbeiführen. Das kann sie nicht leisten. Ein gentechnischer Eingriff kann eine Vielzahl von sichtbaren und unsichtbaren Veränderungen bewirken, gewünschte ebenso wie unerwünschte. Dabei sind auch noch die gentechnisch veränderten Freisetzungen in die Umwelt nicht rückholbar. Deshalb orientiert sich die Technologiepolitik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an einer Problemorientierung. ({2}) Wir fragen uns: Was kann die Gentechnik genau wie andere neue Techniken, zum Beispiel die Atomtechnik, zur Lösung der drängenden Zukunftsfragen beitragen? Sie muß deswegen ebenso wie solche Technologien an ökologischen, sozialen, ethischen und ökonomischen Kriterien gemessen werden können. Ganz richtig - das haben Sie auch erwähnt -, im Bereich grüner Gentechnik sind das die Fragen der Welternährung, der Schutz der Umwelt genauso wie Arbeitsplätze und Einkommen. Sie sind zu sichern, ohne unvertretbare Risiken zuzulassen. Da müssen wir uns eben fragen, inwieweit die Gentechnik dazu beitragen kann. Die Bundesregierung fördert die Biotechnologie in zahlreichen Projekten, von den Genomprojekten bis zu Bio-Regio, bis Bio-Chance. In diesen Bereichen werden die Chancen ausgelotet. Aber wir unterstützen die Abwägungsprozesse. In weiten Bereichen wendet man sich im Zuge dieser Abwägungsprozesse gegen gentechnische Lösungen. Großbritannien, Frankreich, Griechenland, früher einmal für eine gewisse Zeit Protagonisten de Gentechnik und des damit verbundenen Machbarkeitswahns, sind inzwischen diejenigen Länder, die aus den Erfahrungen aus dem Umgang mit der Gentechnologie Rückschlüsse ziehen. Auch in den USA sind die Diskussionen zunehmend kritischer geworden. Das hier auszublenden ist nun wirklich naiv. Die Deutsche Bank - vielleicht ist das ein Argument, das die Liberalen in irgendeiner Form interessieren könnte - rät ihren Anlegern schon ganz offiziell von Investitionen in diesem Bereich ab. Ich will auf den Mais eingehen, den Sie hier so rühmen und der in Ihrem Antrag vorkommt. Der gentechnisch veränderte Mais, so sagen Sie, kommt ohne Pestizide aus. Es handelt sich hier um ein im Inneren der Pflanze erzeugtes Pestizid - im Gegensatz zu Pestiziden, die von außen aufgebracht werden. ({3}) - Ich weiß, es ist BT, natürlich. Es ist ein Pestizid oder ein Wirkstoff, der auch im ökologischen Landbau eingesetzt wird. Das ändert nichts daran. Diese Technologie im Inneren der Pflanze etwa Giftstoffe zu erzeugen, wirkt sich genauso aus wie die Methode, Wein vom ersten Blatt im Frühjahr an bis hin zur Lese im Herbst im Sprühnebel stehenzulassen. Das heißt, mit dem Einsatz eines solchen inneren Insektizids machen Sie nichts anderes, als die Nützlinge in der Umwelt - im Gegensatz zu den Pestiziden - über eine lange Zeit hinweg einer entsprechenden intensiven Einwirkung auszusetzen. Das hat dann eine qualitativ und quantitativ andere Dimension, als sie die Pestizide haben, die ich übrigens gar nicht verteidigen möchte. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. ({0}) - Wieso? Ich freue mich darauf.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Höfken, ich freue mich auch und bin sehr dankbar, daß Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben eben doch sehr stark nur die Risiken der Gentechnologie betont, wobei Sie von Abwägungsprozessen sprechen. Sind Sie nicht der Auffassung, daß Sie von vornherein auch bei Abwägungsprozessen nur auf die Risiken hinweisen werden, weil Sie die Risiken höher einschätzen als die Vorteile, die uns die Gentechnik auch bietet? Ist das nicht ein fundamentaler Widerspruch zu dem, was nicht alle, aber einige aus der SPD sagen? Ich habe neulich eine anläßlich einer Veranstaltung im Bundessortenamt in Hannover von Bundeslandwirtschaftsminister Funke gehaltene Rede gelesen. Dort hat er sich eindeutig für die Gentechnik ausgesprochen. Ich möchte wissen, für was die Koalition in diesem Bereich steht.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Diese Frage ist gut zu beantworten. Das haben wir übrigens auch im Koalitionsvertrag festgelegt. Es geht uns darum, einen gesellschaftlichen Prozeß zu initiieren, ({0}) Bewertungskriterien für die Nutzen- und Risikopotentiale der Gentechnik zu entwickeln und danach zu entscheiden, welche Bereiche der Gentechnik Chancen und welche Risiken beinhalten. Da muß man ganz klar feststellen: Nach einem solchen Diskussionsprozeß, der im übrigen bis heute nicht in Gang gekommen ist, ({1}) wird es Bereiche der Gentechnik geben, die auf Grund ihres Nutzens unterstützt werden, und solche, die auf Grund der Risikobewertung nicht unterstützt werden. ({2}) Dazu gehören vielleicht der BT-Mais oder aber bestimmte Bereiche der grünen Gentechnik. Andere Bereiche, zum Beispiel diagnostische Verfahren bei der Tieroder Pflanzenzucht, werden zu den unterstützungswürdigen Bereichen gehören. Es ist notwendig - das kritisiere ich an dem Antrag der F.D.P. -, ({3}) einen solchen Prozeß, wie er beispielsweise im Monitoring angelegt ist, tatsächlich ernst zu nehmen. Man kann doch nicht dann, wenn plötzlich auf Grund einer Bewertung, die jetzt in unseren Nachbarländern erfolgte, eine kritische Haltung entsteht, sagen: Das möchten wir nicht hören; wir möchten die Ergebnisse einer solchen Bewertung nicht wahrnehmen. Das geht nicht. Da verliert die Politik der Opposition wie auch die Haltung der Industrie an Glaubwürdigkeit. Die Glaubwürdigkeit hat im Laufe der Diskussionen über die Gentechnik schwer gelitten. Jahrelang hat uns die Industrie erzählt, es gebe keine Auswilderung von gentechnisch veränderten Organismen. Heute müssen wir uns damit auseinandersetzen, daß wir Grenzwerte für gentechnische Immissionen benötigen. Das ist eine wahrhaftig traurige Entwicklung. Nichtsdestotrotz brauchen wir einen solchen gesellschaftlichen Prozeß. In solch einen Prozeß müssen Ökologen, Ökonomen sowie Soziologen und Ethiker einbezogen werden. Dann werden wir uns entscheiden können, welche Bereiche dieser Technik wir nutzen werden. Entsprechend werden wir auch die Risiken bewerten. Wie andere Entwicklungen, zum Beispiel im Bereich der Atomtechnologie, zeigen, ist es notwendig, in diesen Bereichen verantwortungsvoll zu handeln. Danke. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Heinrich, es ist immer höchst löblich, den Hunger in der Welt zu einem zentralen Thema zu machen. Da besteht überhaupt kein Dissens. ({0}) Selbst die Hoffnung auf viele tausend Arbeitsplätze, den Schutz der Umwelt oder gar die Stärkung des Standortes Deutschland kann man nicht oft genug in Erinnerung rufen. Vermißt habe ich in Ihrer Aneinanderreihung nur noch den Hinweis, daß mit der Gentechnik sämtliche Krankheiten ausgerottet werden können. ({1}) Dann hätten Sie nach meiner Ansicht wirklich alles aus der Gentechnikwerbekiste herausgegriffen. Eines muß ich Ihnen sagen: Ich verstehe Ihr Problem ja. Denn es ist natürlich nicht einfach, neben der Bundesregierung als wahrer Förderer der Gentechnik aufzufallen. ({2}) Ihre Handlungsaufforderungen an die Bundesregierung können mich insofern nur verwundern. Was wollen Sie eigentlich? Sie müßten doch zufrieden sein. Denn sei es Minister Funke oder sei es Ministerin Bulmahn, das halbe Kabinett zieht durch die Gegend und macht Werbung für die sogenannte grüne Gentechnik. Insofern müßten Sie doch zufrieden sein. ({3}) Der Antwort auf unsere Kleine Anfrage haben Sie zudem entnehmen können, daß die Bundesregierung nicht im Traum daran denkt, der Beschlußempfehlung des Umweltausschusses zu den Verkaufsverboten von gentechnisch verändertem Mais zu folgen. Schon seit der enttäuschenden rotgrünen Koalitionsvereinbarung zum Thema Gentechnik und noch vielmehr nach dem ersten Jahr Regierungsgeschäft ist deutlich, daß die Regierung nicht bereit ist, der Chemie- und Saatgutindustrie klare Grenzen vorzugeben. Auch bei den Verhandlungen zur neuen EUFreisetzungsrichtlinie gehörte die Bundesregierung zu den Bremsern, als es um verbraucherfreundliche, ökologisch sinnvolle Verschärfungen der Richtlinie oder gar um ein Moratorium für Freisetzungen gentechnisch veränderter Organismen ging. Geringfügige Verbesserungen der Richtlinie sind jetzt vom Ministerrat in Brüssel vereinbart worden, beispielsweise die Genehmigungsbefristung von zehn Jahren oder die verpflichtende Öffentlichkeitsbeteiligung bei Freisetzungen. Die Einigung ist aber nur deshalb zustande gekommen, weil die Überwindung des faktischen EU-Zulassungsmoratoriums für gentechnisch veränderte Organismen das erklärte Ziel auch dieser Bundesregierung war. Dabei ist ein Zulassungsmoratorium die absolut richtige Konsequenz aus den offenkundigen Risiken von Freisetzungen. Diese richten sich auch gegen die wichtige Weiterentwicklung der ökologischen Landwirtschaft. Im übrigen existiert der unübersehbare Wille der Menschen, keine gentechnisch manipulierten Lebensmittel essen zu wollen. Meiner Ansicht nach wäre also ein Stopp der Freisetzungen gentechnisch veränderter Organismen das Richtige. Das ist unsere Forderung. ({4}) - Das ist nicht die Arroganz des Satten. Ich möchte, auch wenn ich satt bin, nicht, daß die Menschen, die Hunger haben, gentechnisch manipulierte Lebensmittel essen müssen. ({5}) Die müssen vielmehr etwas von unserem Reichtum abbekommen. Von Gentechnik können sie nur krank werden und nicht satt. ({6}) Zu den reellen Problemen des weltweiten Einsatzes der Gentechnik und dem Erhalt biologischer Vielfalt findet sich ({7}) - ich habe im Sozialismus nicht gehungert - im Antrag der F.D.P. ebenfalls kein erhellender Gedanke. Es findet sich kein Wort zum ungehinderten, weltweiten Gentechnikhandel, kein Wort zur Saatgutmonopolisierung, ({8}) keine Stellungnahme gegen „Biopiraterie“, wie der Europarat die ausufernde Patentierung von genetischem Material aus Ländern des Südens nannte. ({9}) - Ich kann damit leben. Ich habe nicht gehungert. - Hier wären Widerstand und klare Beschlüsse angesagt, nicht aber billiger Populismus gegen den Sozialismus, der sowieso zu Ende ist. Wir werden weiter dafür kämpfen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete René Röspel. - Ist es richtig, daß das Ihre erste Rede ist?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dann hören wir genau zu.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einen wunderschönen guten Tag! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ich kann verstehen, daß Sie als relativ kleine Fraktion nur über wenige Fachleute und auch über wenig Zeit verfügen, um sich wissenschaftlichen Publikationen zu widmen und sie entsprechend auszuwerten. Aber vielleicht schaffen Sie es irgendwann einmal, zum Kiosk zu gehen und sich wenigstens Zeitschriften oder populärwissenschaftliche Magazine zu kaufen. Dann wäre uns vielleicht Ihr oberflächlicher, dünner und unwissenschaftlicher Antrag hier erspart geblieben. ({0}) - Sie dürfen gern intelligente Zwischenfragen stellen, ({1}) aber Ihre Zurufe sind nicht sehr förderlich. Sie behaupten in Ihrem Antrag beispielsweise, die Welternährung sei langfristig nur mit den Zukunftstechnologien wie Bio- und Gentechnologie zu sichern. Wenn Sie zum Kiosk gegangen wären und sich die wirklich nicht industrie- und technikfeindlichen „VDINachrichten“ gekauft hätten - also das Organ des Vereins Deutscher Ingenieure -, wären Sie auf einen Artikel mit der Überschrift gestoßen: „Gen-food wird den Welthunger nicht stoppen“. Dann hätten Sie einen sehr differenzierten und guten Artikel gelesen und vielleicht einen anderen oder gar keinen Antrag gestellt. Wenn Sie sich vielleicht hin und wieder bemühen würden, die Zeitschrift „New Scientist“ zu lesen: Die berichtet über eine Studie des US-amerikanischen Landwirtschaftsministeriums vom Sommer, also des Landwirtschaftsministeriums des Landes mit der größten Anbaufläche für gentechnisch veränderte Organismen von über 20 Millionen Hektar. Das US-amerikanische Landwirtschaftsministerium sagt, daß es nicht so ist, daß gentechnisch veränderte Organismen oder Pflanzen zu mehr Erträgen oder einem geringeren Einsatz von Pestiziden führen. Das sind Fakten, die das amerikanische Landwirtschaftsministerium feststellt. Dies betrifft die Ökologie. Sie wissen vielleicht, daß es neuerdings ein ganz interessantes Medium gibt: das Internet. Ich habe ein wenig zur Ökonomie und zu den Auswirkungen der Biotechnologie auf den Arbeitsmarkt recherchiert. Dabei bin ich in einer Datei gelandet, die relativ kritisch mit den Chancen der Biotechnologie und ihrer Wirtschaftlichkeit umging und noch einmal auf etwas hinwies, was auch am Dienstag in den „Tagesthemen“ zu sehen war, nämlich daß die Preise und auch die Akzeptanz für gentechnisch veränderte Pflanzen sinken. Als dann irgendwann in dieser Internetdatei die Überschrift „GMOs are dead“ - also: Gentechnisch manipulierte Organismen sind tot, haben keine Zukunft - auftauchte, wurde es mir zu bunt, und ich habe nachgesehen, in welcher radikalen Datei ich gelandet bin. Ich muß Ihnen sagen: Es war die Internetseite der Deutschen Bank AG. Befassen Sie sich bitte damit. Suchen Sie es raus. Es gibt diese Datei mit diesem Artikel. Die Analysten raten: Verkauft eure Aktien, weil die Unsicherheit sehr groß ist und diese Technologie keine Chance hat! Befassen Sie sich damit! Sie können dieses Argument im Internet nachlesen. Das zur ökologischen und ökonomischen Seite. In Ihrem Antrag behaupten Sie ferner, wir verschlechterten die Rahmenbedingungen für diese Technologie. ({2}) Worauf beziehen Sie sich in diesem Zusammenhang? Wir haben die Länder Österreich und Luxemburg in ihrer Haltung unterstützt, keinen gentechnisch veränderten Mais einzusetzen. Ich habe im Umweltausschuß versucht, Ihnen zu erklären, worum es dabei geht. Der gentechnisch veränderte Mais enthält das Gen eines Bodenbakteriums. Das führt dazu, daß dieser Mais permanent ein Insektizid abgibt, mit dem man den Maiszünsler bekämpfen kann. Das ist soweit in Ordnung. Aber das führt auch zu zwei großen Nachteilen oder sogar Gefahren: Die erste Gefahr ist, daß nicht nur „Lästlinge“, sondern auch Nützlinge bekämpft werden. Ich nenne zum Beispiel die Florfliege. Lesen Sie dazu die Veröffentlichung von Hilbeck et al. aus dem Jahr 1998, oder lesen Sie in diesem Zusammenhang Berichte der Biologischen Bundesanstalt. Es sind also auch Nützlinge betroffen. Die zweite große Gefahr ist, daß durch eine ständige Produktion dieses Insektizids durch die Pflanze sehr wahrscheinlich eine Resistenz entstehen kann, weil sich die „Lästlinge“ an dieses Gift gewöhnen. In dem eben erwähnten Bericht der Deutschen Bank - es ist mir fast eine Freude, diese Quelle zu zitieren, weil Sie der Deutschen Bank vielleicht mehr Glauben schenken - steht, daß die Firma Mycogen, die dieses Gen im wesentlichen entwickelt hat, der Meinung ist: Diesen Mais können wir eh nur über 10 Jahre einsetzen, weil die Resistenzen dann wahrscheinlich so groß sind, daß man ihn nicht mehr vermarkten kann. ({3}) - Nein, wir wollen nur einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser Technik. ({4}) Man kann nicht einfach etwas einpflanzen, ohne diese Entwicklung ökologisch langfristig zu begleiten. Um Ihr Argument zu entkräften, zitiere ich aus unserer Koalitionsvereinbarung: Die neue Bundesregierung wird die verantwortbaren Innovationspotentiale der Bio- und Gentechnologie systematisch weiterentwickeln. Wenn Sie sich die Mittel für Forschung und Entwicklung im Haushalt ansehen, dann können Sie feststellen, daß wir in diesem Jahr 10 Millionen DM mehr für die Entwicklung und Forschung in der Biotechnologie zur Verfügung stellen. Die Hälfte davon wird sinnvollerweise für die Sicherheitsforschung aufgewandt, damit wir endlich Langzeitbeobachtungen durchführen können. Auch die neue Freisetzungsrichtlinie wird nicht die rasche Erteilung von Genehmigungen in den Vordergrund stellen, sondern das, was den Menschen nutzt: den Gesundheitsschutz und den vorbeugenden Umweltschutz. Diese Aspekte dürfen nicht in den Hintergrund gerückt werden. ({5}) Diese Maßnahmen dienen einem vernünftigen Umgang mit der Bio- und Gentechnologie. Nur wenn wir ehrlich und offen mit den Stärken und Schwächen dieser Technologie umgehen, werden wir Akzeptanz in der Bevölkerung erreichen. Der von der F.D.P. vorgelegte Antrag, der falsche Erwartungen weckt, führt genau in die falsche Richtung. Damit werden nur Luftschlösser gebaut. Ich lade Sie ein: Gehen Sie mit uns den vernünftigen Weg, mit dieser neuen Technologie, deren Auswirkungen wir in wissenschaftlicher Hinsicht nur unzureichend verstehen, offen und ehrlich umzugehen. Nur dann wird sie eine Chance haben. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich möchte Ihnen, Herr Kollege, im Namen des Hauses für Ihre Rede danken. Zum Inhalt darf ich aus Neutralitätsgründen nichts sagen. Ich darf aber sagen, daß Ihre Rede rhetorisch wunderbar war. ({0}) Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1316 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Einstieg in eine umfassende Reform der Finanzierung der Städte, Gemeinden und Landkreise ({1}) - Drucksache 14/1302 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({2}) Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Rössel.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS-Bundestagsfraktion beantragt den Einstieg in eine umfassende Reform der Finanzierung der Städte, Gemeinden und Landkreise. Die Lage auf diesem Gebiet ist in der Tat vielerorts dramatisch. Dafür tragen neben hausgemachten Problemen vor Ort in hohem Maße der Bund und die Länder die Verantwortung. Die Folge der Situation: seit 1994 ständig rückläufige kommunale Investitionen, woraus außerordentlich negative Auswirkungen auf Handwerk und Gewerbe und deren Beschäftigungssituation resultieren. Städte und Gemeinden fallen als Auftraggeber immer mehr aus. ({0}) - Jawohl, ein Drama. Die negativen Folgen sind: einerseits weniger Geld für soziale und soziokulturelle Vereine - das soziale Leben in den Städten und Gemeinden ist stark beeinträchtigt -, andererseits eine steigende Kreditmarktverschuldung. Die Kreditmarktschulden der Kommunen betragen bereits 200 Milliarden DM, wobei die Pro-Kopf-Verschuldung der Kommunen in Ostdeutschland bereits über der im Altbundesgebiet liegt. Die Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen ließ vieles erwarten. Die Finanzkraft der Kommunen sollte gestärkt werden. Eine Bund-Länder-Kommission wurde eingesetzt. Aber das Thema Reform der Kommunalfinanzierung blieb ausgespart. Hinzu kam das Steuerentlastungsgesetz, das den Kommunen im Jahre 2002 Einnahmeausfälle in einem Umfang von etwa 7 Milliarden DM jährlich aufbürdet. Die Amtsübernahme von Hans Eichel im Finanzressort ließ deshalb vieles erwarten, weil er mehr als ein Jahrzehnt Oberbürgermeister in Kassel war. Er hat zwar kommunalfreundliche Entscheidungen propagiert; getan hat er aber das Gegenteil: Er hat das kommunalfreundliche Sparpaket initiiert. Ein Drittel der Einsparungen im Bundeshaushalt soll allein zu Lasten der Kommunen gehen. Das ist unverantwortlich und wird von der PDS ganz entschieden abgelehnt. ({1}) Statt dieser Unverlagerung auf die kommunalen Haushalte ist in der Tat eine umfassende Reform der Finanzierung der Städte, Gemeinden und Landkreise dringend notwendig, wofür die PDS besagten Antrag eingebracht hat. Dieses Thema ist außerordentlich wichtig: zur Stärkung der Demokratie - kommunale Selbstverwaltung ist ohne angemessene Finanzen nichts wert ({2}) ebenso wie für Wirtschaftsförderung und Beschäftigungsförderung. Schließlich dient es dazu, den Gemeinwohlauftrag der Kommunen zu erfüllen. Die PDS schlägt vor, daß sich der Prozeß der Reform der Kommunalfinanzierung in zwei grundlegenden Stufen vollzieht. In einer ersten Stufe sollten vor allem folgende Aufgaben angegangen werden: Erstens. Wir verlangen, daß gleichzeitig mit der in großem Umfang erfolgten Übertragung von Aufgaben auf Städte, Gemeinden und Landkreise auch die Finanzverantwortung dorthin verlagert wird. Dieser Grundsatz wird immens verletzt. Da er verletzt wird, muß zwingend über Änderungen des Grundgesetzes und bundesgesetzliche Regelungen nachgedacht werden. ({3}) Wir verlangen also die Verankerung dieses Grundsatzes im Grundgesetz. Zweitens. Die Einnahmebasis der Kommunen muß dauerhaft und nachhaltig gestärkt werden, so daß diese in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Steuerkraftstärkung bedeutet: Wiederbelebung der Gewerbesteuer dergestalt, daß die Bemessungsgrundlage der Gewerbeertragsteuer erweitert und leistungsfähige, kapitalkräftige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Rechtsanwaltskanzleien - ab einer bestimmten Ertragsgrenze - in die Gewerbesteuerpflicht einbezogen werden. Warum soll ein kleiner Handwerksbetrieb Gewerbesteuer bezahlen, wenn gleichzeitig diese kapitalkräftigen Gesellschaften aber ausgespart bleiben? Also Revitalisierung der Gewerbesteuer! Zudem brächte die Wiedereinführung einer - reformierten - Vermögensteuer den Kommunen Mehreinnahmen in Höhe von mindestens 5 Milliarden DM im Jahr. Dafür tritt die PDS mit Nachdruck ein, denn dies ist ein Weg hin zu einer soliden Finanzausstattung. ({4}) Drittens. Wir schlagen vor, daß die Grundsteuer als wichtige kommunale Einnahme erhalten bleibt, sie aber um eine ökologische Komponente ergänzt wird. Viertens setzen wir uns dafür ein, daß die Kommunen in Ostdeutschland, die unter der desolaten Finanzsituation besonders leiden, dauerhaft und nachhaltig gestärkt werden, indem eine Investitionspauschale vom Bund direkt an die Städte und Gemeinden ausgereicht wird, so wie das 1991 und 1993 bereits der Fall war. In einer zweiten Stufe der Reform der Kommunalfinanzierung schließlich wollen wir eine Neuordnung der Finanzbeziehungen der öffentlichen Haushalte - deutscher Beitrag zum EU-Haushalt, Bund, Länder und Gemeinden - angehen dergestalt, daß die kommunalen Haushalte deutlich gestärkt werden. Zur Zeit sind sie die letzten in der Kette der öffentlichen Haushalte. Den letzten beißen bekanntlich die Hunde. ({5}) Ein Programm für die Kommunalfinanzreform ist von der PDS aufgelegt. Wir haben Vorschläge unterbreitet und erwarten partei- und fraktionsübergreifend eine lebhafte Diskussion auf diesem für die Bevölkerung so wichtigen Gebiet. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter der Überschrift „Weitere Grundsätze und Perspektiven der Steuer- und Finanzpolitik“ steht in der rotgrünen Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober letzten Jahres: Die neue Bundesregierung tritt dafür ein, daß zukünftige Aufgabenverlagerungen im Verhältnis der staatlichen Ebenen - Bund einerseits, Länder und Gemeinden andererseits - im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs berücksichtigt werden ({0}). ({1}) Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prüfung unterziehen. Diese eindeutige Stellungnahme zur Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung hat auch nach einem Jahr für uns - so denke ich - volle Gültigkeit. ({2}) Diejenigen, die etwas länger als ich in diesem Parlament sitzen, werden sich an eine Reihe von SPD- und Grünen-Anträgen zum Thema Kommunalfinanzen erinnern. Das ist Vergangenheit. Die Zeit der Opposition ist für Rotgrün im Bund vorbei. Die angespannte Finanzlage vieler Gemeinden bleibt weiter bestehen. Hier ist es ein schwacher Trost, daß gegenüber der Defizitquote des Bundes von 12,4 Prozent in 1998 die der Länder und ihrer Gemeinden nur 3,6 Prozent betrug. Das aber sind nur Prozentzahlen. Jeder von uns kennt - neben Städten und Gemeinden, denen es momentan finanziell gut bis sehr gut geht- auch solche Städte und Gemeinden in seinem Bereich, die Haushaltssicherungskonzepte fahren müssen, bei denen die kommunale Selbstverwaltung nur noch darin besteht, zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die freiwilligen Leistungen gestrichen werden. In vielen Gemeinden ist das Tafelsilber bereits verkauft, und kommunale Investitionen sind unter der Rubrik „wünschenswert, aber nicht realisierbar“ ausgewiesen. ({3}) Der Weg aus dieser Krise kann unserer Meinung nach nur in der Sicherung bzw. Wiederherstellung der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit aller staatlichen Ebenen erfolgen. ({4}) Um diese zu erreichen, hat das Bundeskabinett am 25. August dieses Jahres das Zukunftsprogramm 2000 beschlossen. Wie Sie alle wissen, umfaßt dieses Reformpaket das Haushaltssanierungsgesetz, das Steuerbereinigungsgesetz 1999, das Familienentlastungsgesetz sowie weitere Maßnahmen im steuerlichen Bereich. ({5}) Die diesem Programm zugrunde liegenden Zahlen bedeuten insgesamt eine Entlastung der kommunalen Ebene und stärken damit ihre Finanzkraft. Die isolierte Betrachtung einzelner Maßnahmen, die sich für einzelne Kommunen möglicherweise belastend auswirken, wird dem Gesamtprogramm nicht gerecht. Ich denke, wir müssen die Sache ein wenig globaler betrachten. ({6}) Ziel des Zukunftsprogramms ist die Aufrechterhaltung der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit des Bundes. Nur wenn diese gewährleistet ist, können auch weiterhin finanzschwache Länder und Gemeinden in angemessener Weise unterstützt werden. ({7}) Ich denke dabei vor allem an den Aufbau Ost, der ganz stark von diesem Punkt abhängig ist. Das Zukunftsprogramm enthält konkrete Entlastungen für die Kommunen. Sie sind im Durchschnitt auf 1,1 Milliarden DM für die Jahre 2000 bis 2003 veranschlagt. Dazu kommen noch die positiven Auswirkungen des steuerlichen Subventionsabbaus. Ich möchte Sie jetzt nicht reihenweise mit Zahlen belasten, sondern einige Entlastungen kurz in Oberbegriffen beschreiben. So gibt es für die Kommunen ein erhebliches Einsparpotential im sozialen Bereich, da die Erhöhung des Kindergeldes Entlastungen bei der Sozialhilfe für die Kommunen nach sich ziehen wird. Daß das nicht ganz unumstritten ist, wissen wir, aber das ist derzeit die rechtliche Lage. Gerade in den neuen Ländern wirken sich das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das ungekürzt fortgeführt werden soll, und die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik begrenzend auf die zu leistende Sozialhilfe aus. ({8}) Entlastungen für die Kommunen werden auch im Bereich der Personalkosten anfallen. Hier sind einerseits die Begrenzung des Zuwachses der Pensionen und Beamtengehälter und andererseits die Begrenzung der Rentenversicherungsbeiträge im Arbeitgeberanteil zu nennen. ({9}) Zudem hoffen wir darauf, daß die Tarifabschlüsse einigermaßen niedrig ausfallen; hier könnten also auch noch Entlastungsmöglichkeiten bestehen. Außerdem wird es Entlastungen im steuerlichen Bereich geben. Entsprechend ihrem Anteil am Steueraufkommen werden die Kommunen vom Abbau steuerlicher Subventionen ganz erheblich profitieren. Nicht verschweigen möchte ich Maßnahmen aus dem Sparpaket, die eine gewisse Belastung für einzelne nicht für alle - Kommunen darstellen können. Der Rückzug des Bundes aus der Mitfinanzierung des Wohngeldes führt zu einer Kostentragungspflicht der Länder, die die Verwaltungszuständigkeit im Bereich der öffentlichen Fürsorge besitzen. Die Finanzverantwortlichkeit im Verhältnis zwischen Ländern und Kommunen regelt das Landesrecht. Darauf kann der Bund überhaupt keinen Einfluß nehmen. Bestenfalls kann er empfehlend tätig werden. Die vorgesehene Angleichung des pauschalierten Wohngeldes an das Tabellenwohngeld zieht Minderausgaben bei der Sozialhilfe nach sich und führt daher zu keiner zusätzlichen Belastung. Die Rückführung des Bundesanteils an den Kosten des Unterhaltsvorschußgesetzes belastet zunächst die Länder. Inwieweit diese die Kommunen an der Finanzierung beteiligen, ist dort zu klären. Nordrhein-Westfalen tut das, um säumige Unterhaltszahler ein wenig mehr unter Druck zu setzen. Wie ich gehört habe, hat diese Vorgehensweise Erfolg. ({10}) Die Belastungen durch das Auslaufen der originären Arbeitslosenhilfe werden nicht so hoch sein, wie es uns die kommunalen Spitzenverbände immer einreden wollen, da nur ein Teil der heutigen Leistungsempfänger in Zukunft auf Sozialhilfe angewiesen sein wird. Die Mindereinnahmen auf Grund des Familienentlastungsgesetzes treffen Bund, Länder und Gemeinden entsprechend ihrem Anteil an den Steuerarten - gleichermaßen. Auch an der vorgesehenen Kindergelderhöhung, die wir aus Gerechtigkeitsgründen vornehmen wollen, sind Bund, Länder und Gemeinden im Verhältnis 42,5 : 42,5 : 15 beteiligt. Dieser Schlüssel ist ebenfalls üblich und vorgegeben. Ich denke, er hat sich bewährt. Die geplante Unternehmensteuerreform wird die Einnahmestruktur der kommunalen Ebene nicht verschlechtern. Wir werden die finanziellen Belange der Kommunen im Auge behalten. Diese Reform wird gründlich vorbereitet werden. Wir werden uns auch mit den Kommunen zusammensetzen, um zu versuchen, die ganzen Probleme, die mein Vorredner angesprochen hat, in den Griff zu bekommen. Insgesamt läßt sich also feststellen, daß die kommunale Ebene nur durch eine Abbremsung der Staatsverschuldung gestärkt werden kann. ({11}) - Bitte nicht mißverstehen! Dies war kein Koalitionsangebot. - Wie die direkten Auswirkungen des Sparpaketes auf einzelne Gemeinden ausfallen werden, liegt in der Hoheit der Länder. Nicht der Bund, sondern die Länder sind für die Finanzen der Kommunen zuständig. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt es deshalb ausdrücklich, daß die Länder bei der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs die Kommunen mit an den Tisch holen wollen. ({12}) Wir fühlen uns auf dem Boden unserer Koalitionsvereinbarung den Gemeinden stark verpflichtet und freuen uns über jeden, der dies ebenso sieht. Ein gesonderter Antrag wie der vorliegende ist dafür nicht notwendig. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Frau Kollegin, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Götz.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rotgrüne Bundesregierung ist - entgegen anderslautenden Behauptungen - gerade dabei, die kommunale Selbstverwaltung auszuhöhlen. Sie nennt das Ganze auch noch sparen. ({0}) Meine Damen und Herren von der Koalition, der Bund hat auch gegenüber den Städten und Gemeinden in unserem Land ein hohes Maß an Verantwortung. Frau Kollegin, wir haben 1994 Art. 28 des Grundgesetzes gemeinsam geändert und damit die Mitverantwortung des Bundes für die kommunalen Finanzen hervorgehoben. Wir sind während unserer Regierungszeit dieser Mitverantwortung des Bundes gerecht geworden. So werden die Kommunen allein durch die Pflegeversicherung jährlich um 10 Milliarden DM entlastet. Auch auf der Einnahmenseite haben wir langfristig wirkende strukturelle Veränderungen vorgenommen. So ist unbestritten, daß der Tausch von Gewerbesteuereinnahmen gegen eine unmittelbare Beteiligung an der Umsatzsteuer für die Kommunen langfristig ein guter Tausch war. Was aber passiert jetzt? Unsere positiven Reformschritte als Element einer langfristigen Gesundung der Kommunalfinanzen werden durch diese Bundesregierung schon innerhalb weniger Monate zerstört. ({1}) Während wir die Kommunen von den Pflegekosten entlastet haben, wollen Sie mit einem Federstrich Wohngeldkosten in einer Größenordnung von 2,5 bis 3 Milliarden DM vom Bund auf die Kommunen verschieben. ({2}) Das ist sachlich falsch und wird zu einem Sprengsatz für die kommunalen Haushalte werden. ({3}) - Lieber Herr Kollege, mit Sparen, wie Sie es ankündigen, hat das nichts zu tun. Das ist ein Verschiebebahnhof pur und sonst nichts. Falls Sie Ihre Pläne durchsetzen - was ich übrigens erheblich bezweifle, weil auch die von Ihnen regierten Länder im Bundesrat das nicht mitmachen werden -, würde das im nächsten Jahr zu einem Schub bei den Sozialkosten von 10 Prozent allein in diesem Bereich führen. Mit den Maßnahmen, die Sie dem Deutschen Bundestag zur Beschlußfassung vorgelegt haben, werden Sie der Verantwortung des Bundes für die Kommunalfinanzen nicht gerecht. Die Frau Kollegin hat vorhin in ihrer Rede die Koalitionsvereinbarung zitiert - richtig so. Große Worte, einverstanden. Die Erklärung, das Konnexitätsprinzip einzuhalten - nach dem Motto: Wer bestellt, bezahlt -, hat auch mir Freude bereitet. Viele tausend Kommunalpolitiker haben das positiv zur Kenntnis genommen. Das ist allerdings ein Jahr her. Inzwischen ist die Zeit vorangeschritten. Inzwischen haben Sie mit dem Bruch Ihres Versprechens viele Menschen in diesem Lande auch in diesem Bereich enttäuscht und getäuscht. ({4}) Oder wie können Sie mir erklären, was es mit der Berücksichtigung des Konnexitätsprinzips zu tun hat, wenn Sie die Bezahlung des pauschalierten Wohngeldes, das sich innerhalb von vier Jahren auf 10 Milliarden DM anhäuft, einfach den Kommunen zuschieben? Was hat es mit dem Konnexitätsprinzip zu tun, wenn der Bund einseitig seinen Finanzierungsanteil beim Unterhaltsvorschuß reduziert? Oder was hat es mit dem Konnexitätsprinzip zu tun, wenn Sie die Leistungen des Bundes für den Zivildienst kürzen und erwarten, daß die Kommunen und die Träger der freien Wohlfahrtspflege vor Ort das fehlende Geld drauflegen? Der Zivildienst ist ein außerordentlich wichtiges Element der sozialen Dienste in den Städten und Gemeinden. Es ist schon erstaunlich, daß eine Partei, die von sich auch noch behauptet, von sozialer Gerechtigkeit mehr zu verstehen als andere, ohne Vorberatung mit der örtlichen Ebene kaltschnäuzig soziale Netzwerke des Helfens zerschneidet und damit zerstört. ({5}) Was hat es mit Konnexität zu tun, wenn Sie unter der Überschrift einer sogenannten ökologischen Steuerreform den öffentlichen Personennahverkehr in den nächsten vier Jahren zusätzlich mit 2,5 Milliarden DM zur Kasse bitten? ({6}) - Die Entlastung bewegt sich im 10-prozentigen Bereich. Das hat weder mit Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung noch mit Öko noch mit einer umweltverträglichen Verkehrspolitik zu tun. ({7}) Ich sage noch einmal: Das ist Abkassieren pur. ({8}) Sie nehmen mit Ihrem Handeln - nicht mit den Papieren, die Sie drucken, sondern mit Ihrem Handeln - den Städten und Gemeinden die Luft zum Atmen. Das ist die Wahrheit. Die Menschen in den Städten und Gemeinden müssen dafür teuer bezahlen: höhere Fahrpreise bei Bus und Bahn, reduzierte kommunale Angebote in Schulen und Schwimmbädern, bei der Vereins- und Kulturförderung. Viele freiwillige Leistungen sind heute nicht mehr möglich. ({9}) - Die Kommunen haben selbstverständlich Vereinsförderung und kulturelle Förderung betrieben. Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Auch in den investiven Bereichen werden den Kommunen die Möglichkeiten genommen. Wir brauchen kommunale Investitionen, auch zur Entlastung am Arbeitsmarkt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber ja.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Götz, Ihre Rede verschlägt mir wirklich etwas den Atem.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das soll sie ja auch.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Insofern meine Frage: Stimmen Sie mir zu, daß Sie mit der Unsumme von Steuersubventionen, die Sie in den letzten Legislaturperioden gewährt haben ich sage nur: Fördergebietsgesetz mit 50 Prozent Sonderabschreibung -, die Einnahmeseite von Bund, Ländern und vor allem auch Gemeinden stark heruntergefahren haben, weil Sie es Steuermillionären gestattet haben, sich steuerlich auf null zu rechnen, so daß es in Ihrer Verantwortung liegt, daß unter anderem den Kommunen das Wasser bis zum Hals steht? Insofern finde ich Ihre Rede wirklich ziemlich zynisch. Sie sollten auf meine Frage einmal eine ehrliche Antwort geben und keine Schaurede halten. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens gebe ich Ihnen darauf eine ehrliche Antwort - das mache ich immer -, und zwar folgende: Sie haben die Wiedervereinigung in vielen Bereichen dieses Hauses nicht gewollt. ({0}) Wir haben, auch in den neuen Ländern, finanzielle Rahmenbedingungen schaffen müssen, damit sich der Wiederaufbau schnell vollzog. Es mag sein, daß es da in vielen Bereichen auch Fehlentwicklungen gab; das wird zugestanden. Zweitens eine Bemerkung. Das, was Sie kritisieren die Abschreibungsmöglichkeiten -, ist finanzpolitisch lediglich eine Frage der Liquidität. Im Klartext: Es werden Einnahmen auf der Zeitachse verschoben. Das heißt, die negativen Auswirkungen, die Sie jetzt beschreiben, sind Summen, die letzten Endes dem Steuerzahler oder dem Staat insgesamt zugute kommen. Das, was ich kritisiere, ist der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der Unterschied zwischen dem, was diese Bundesregierung im Rahmen des Bundestagswahlkampfes angekündigt hat, dem, was sie in die Koalitionsvereinbarung geschrieben hat, und dem, was sie jetzt auf den Tisch legt. Hier gibt es eine riesige Bandbreite, ein riesiges Spektrum von Dingen, die nicht zusammenpassen. Das kritisiere ich.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage der Kollegin EichstädtBohlig?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es Spaß macht, natürlich.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Darf ich die Nachfrage stellen, ob Sie mir zustimmen, daß Ihr Bild mit den verschobenen Einnahmen einfach nicht stimmt? Erstens nützt es den Kommunen nichts, wenn sie ihre Einnahmeverluste lediglich zu einem anderen Zeitpunkt haben. Zweitens haben Sie mit Ihren Steuergeschenken so viele leerstehende Büropaläste, leerstehende Siedlungen, leerstehende Gewerbeäcker - beleuchtete Äcker - gefördert, daß dauerhaft steuerliche Verluste gerade auch für die Kommunen und für die sonstigen öffentlichen Hände entstehen. Stimmen Sie mir da zu, Herr Kollege Götz?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind es in Ihren Augen Steuergeschenke, wenn der Staat Rahmenbedingungen schafft, um ein von Sozialismus und Kommunismus zerstörtes Land wieder aufzubauen? Sind das in Ihren Augen Steuergeschenke? Diese Frage stelle ich an Sie zurück. ({0}) Meiner Meinung nach täuschen Sie Sparen vor und verschieben in Wirklichkeit die Finanzprobleme, die Sie sich selbst geschaffen haben, auf die unterste Ebene: auf die Kommunen, auf die Rentner, auf die Sozialhilfeempfänger, also auf diejenigen, die sich am wenigsten wehren können. Das ist doch unsozial. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Brinkmann?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern, macht ja Spaß. ({0})

Rainer Brinkmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ganz abgesehen davon, daß ich in dieser Woche insbesondere von Rednern Ihrer Fraktion immer wieder zur Kenntnis nehmen mußte, daß Sie offensichtlich nicht wissen, daß es einen Bundeskanzler in diesem Hause gegeben hat, der wie kaum ein anderer die Grundlagen für die deutsche Einheit gelegt hat - das war nämlich Willy Brandt, ein Sozialdemokrat; das ist bei Ihnen offensichtlich immer noch nicht angekommen -, ({0}) möchte ich Sie fragen, ob Ihnen eigentlich bekannt ist, daß in der Zeit Ihrer alten Bundesregierung in einigen Ländern bis zu 30 Prozent aller Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept erarbeiten mußten, weil sie die Einnahmen nicht mehr realisieren konnten, die sie brauchten, um ihre Verwaltungsausgaben sicherzustellen?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich teile Ihre Auffassung, daß der Aufbau nach 1990 eine gesamtstaatliche Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden war. Das heißt, die Herausforderungen, die Teilung und Sozialismus uns auferlegt haben, waren die Grundlage für eine ganze Reihe von Ausgaben der öffentlichen Hand. Daran waren auch die Kommunen beteiligt, das ist unstrittig. Was haben wir gemacht? Wir haben versucht, durch unsere Reformschritte - ich habe es vorhin gesagt - die kommunalen Haushalte zu entlasten. Das haben wir auch erreicht. Wenn Sie heute Haushaltsplanberatungen in den Kommunen verfolgen und die Ausführungen von kommunalen Kämmerern hören, dann werden Sie erleben, daß sich eine Stadt nach der anderen darüber freut, daß die Gewerbesteuereinnahmen gestiegen sind, daß die Rahmenbedingungen jetzt wieder in Ordnung sind. Ich kritisiere, daß das, was sich in den letzten drei bis vier Jahren zum Positiven entwickelt hat, von Ihnen mit Ihrer Politik, mit den Entscheidungen, die Sie treffen wollen, innerhalb von wenigen Monaten zerstört wird. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Brinkmann?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Rainer Brinkmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Haben Sie vielleicht vergessen, werter Kollege, daß in Ihrer Regierungszeit der Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Städtetag zweimal - in zwei verschiedenen Jahren - heftigst kritisiert haben, daß durch Kürzungen im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit die Sozialhilfetats der Kommunen erheblich ausgeweitet werden mußten, weil Sie nämlich einen Verschiebebahnhof von arbeitsmarktpolitischen Leistungen hin zur Sozialhilfe gemacht haben und weil diese Ausgaben einseitig zu Lasten der Kommunen finanziert werden mußten?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das habe ich zur Kenntnis genommen. Aber ich habe auch zur Kenntnis genommen - Entschuldigung, lassen Sie mich auch einen zweiten Satz sagen, damit Ihre Frage beantwortet werden kann -, daß im Bereich der Sozialhilfe - wenn Sie vorhin richtig zugehört hätten, müßten Sie das mitbekommen haben die Haushalte der Kommunen durch die Einführung des Pflege-Versicherungsgesetzes um jährlich 10 Milliarden DM entlastet worden sind. ({0}) Das ist also ausgeglichen. Wenn Sie heute mit Vertretern der kommunalen Spitzenverbände reden, dann fallen denen, sofern noch vorhanden, sämtliche Haare aus, ({1}) wenn sie darüber nachdenken, was Sie auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, etwa durch das Verschieben der Arbeitslosenhilfe in den Sozialhilfebereich - das haben Sie ja ebenfalls als Gesetzesvorlage in petto -, planen. Wir kritisieren also das, was Sie jetzt an Belastungen für die kommunalen Haushalte planen. Ich sage es Ihnen noch einmal: Es würde den Kommunen, den Städten und Gemeinden, das Wasser abdrehen, wenn diese Gesetzentwürfe, so wie sie vorgelegt worden sind, Gesetz würden. Aber ich bezweifle, daß das der Fall sein wird. Die Kommunen erwarten keine Geschenke. Auch das sage ich. Aber was sie zu Recht erwarten können, ist eine faire Partnerschaft. Deshalb lassen Sie mich im folgenden vier wichtige Kernelemente einer ausgewogenen Beziehung zwischen den Kommunen und dem Bund kurz darstellen. Erstens. Wir brauchen eine Selbstbindung des Bundes an das Konnexitätsprinzip, und das darf nicht einfach nur in der Koalitionsvereinbarung stehen. Das Konnexitätsprinzip bedeutet ja nichts anderes, als daß der Bund darauf verzichtet, seine politische Macht und seine finanzielle Stärke zu Lasten des Schwächeren, subsidiären Partners zu mißbrauchen. Das geschieht im Moment. Zweitens. Nur über eine Konsolidierung auf der Ausgabenseite können die Städte und Gemeinden Spielraum für notwendige Investitionen gewinnen. Die Kommunen selbst haben in den letzten Jahren mit großer Verantwortung erfolgreich Ausgabenkonsolidierung betrieben. Es ist deshalb unfair, wenn der Bund jetzt die Konsolidierungserfolge der Kommunen durch Ausgabenverlagerungen auf seinen eigenen Haushalt umlenkt. ({2}) Es ist auch staatspolitisch unklug. Konsolidierungsbereitschaft und Sparwille dürfen nicht bestraft, sondern müssen unterstützt werden. ({3}) - Genau, Herr Kollege Hörster. Wir brauchen drittens eine schrittweise Umstrukturierung der kommunalen Einnahmeseite. Unser Gemeindesteuersystem gehört auf den Prüfstand. Die Entwicklung ist weitergegangen. Die Gewerbesteuerumlage kann nicht ins Uferlose gesteigert werden. Daß die Grundsteuer als zweite wichtige kommunale Steuer der Reform bedarf, ist unstrittig. ({4}) Rainer Brinkmann ({5}) - Ich bin jetzt bei der Grundsteuer. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann können Sie sie stellen. Dagegen habe ich überhaupt nichts. ({6}) Die Grundsteuer mit dem Einheitswert als Bemessungsgrundlage ist heute so kompliziert, daß das geändert werden muß. Das wissen wir. Wir sollten die Chance nutzen und das nicht einfach nur ändern, sondern zu einer radikalen Vereinfachung des Systems kommen. Das wäre auch ein Beitrag zu mehr Transparenz, zum Abbau von Bürokratie und damit zu einer Verschlankung des Staates. Eines will ich auch noch sagen: Bundesfinanzminister Theo Waigel hat in der vergangenen Legislaturperiode persönlich mit allen wichtigen Repräsentanten der kommunalen Spitzenverbände gesprochen. Soweit ich weiß - vielleicht täusche ich mich auch -, ({7}) hat es seit dem Amtsantritt dieser Bundesregierung außer den regelmäßigen Kontakten etwa im Finanzplanungsrat - noch kein besonderes Gespräch des Bundesfinanzministers mit den kommunalen Spitzenverbänden gegeben. ({8}) - Gut. Ich freue mich, wenn das der Fall ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Parlamentarische Staatssekretärin, von der Regierungsbank aus dürfen Sie nicht dazwischenrufen.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nach meiner Information haben kommunale Vertreter lediglich als Gast am Katzentisch bei der Diskussion um die Unternehmensteuerreform gesessen. Wenn Sie das darunter verstehen, dann mögen Sie recht haben. Lassen Sie mich viertens sagen: Die meisten öffentlichen Aufgaben in Deutschland werden in den Städten, Gemeinden und Kreisen wahrgenommen. Wenn wir Subsidiarität und Föderalismus ernst nehmen, müssen wir Wege finden, daß die Kommunen, die die Aufgaben wahrzunehmen haben, auch die dafür notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung erhalten. Deshalb müssen die Kommunen in die Gespräche über die Finanzreform von Bund und Ländern als gleichberechtigte Partner einbezogen werden. Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluß folgendes anmerken: Deutschland ist ein starkes Land. Leistungsfähige Städte und Gemeinden sind die Grundvoraussetzung dafür, daß wir ein starkes Land bleiben. Zerstören Sie dieses für die Menschen in unserem Land wichtige Gut nicht! Wir sollten das Erfolgsmodell „kommunale Selbstverwaltung“ nicht schwächen, sondern stärken. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte am Anfang darauf hinweisen, daß es von Herrn Dr. Rössel nicht ganz uneigennützig war, sich hier hinzustellen und sich für die Kommunen stark zu machen. Ich will jetzt keine Werbung betreiben, aber er ist immerhin vom „Zentralkomitee der SED“ als Kandidat für die Oberbürgermeisterwahl in Halle am 13. Februar vorgeschlagen worden. ({0}) - Wir wissen, daß er schon immer kommunalpolitischer Sprecher war. Er ist aber auch Bundespolitiker und hat an anderer Stelle eine gewisse Verantwortung zu übernehmen. Er hat hier nicht in populistischer Weise ein Horrorbild zu zeichnen und eine isolierte Darstellung abzugeben, was die Belastung der Kommunen durch Maßnahmen des Bundes betrifft. Diese Unseriosität, gepaart mit Populismus, ist wirklich kaum auszuhalten. ({1}) - Ich habe nur gesagt, daß das, was er uns geboten hat, nicht ganz uneigennützig war. Die Bevölkerung sollte wissen, daß er sich hier zwar für die Kommunen einsetzt, aber als Bundespolitiker eine andere Rolle zu spielen hat. Ich möchte noch einige Anmerkungen zu Herrn Götz machen. Herr Götz, Sie wissen doch genausogut wie wir, daß es bezüglich der Finanzlage der Städte, der Gemeinden und Landkreise in den letzten Jahren große Schwierigkeiten gab, daß insbesondere in den Bereichen, die Sie genannt haben - im kulturellen Bereich, aber auch im Bereich der Jugendhilfe, der Jugendpflege und der Jugendhäuser -, massiv abgebaut wurde. Es macht aber wenig Sinn, jetzt, da wir in gemeinsamer Verantwortung die zukünftige Finanzplanung beraten, so zu tun, als sei in den letzten Jahren alles unproblematisch gewesen. Sie versuchen, den Schwarzen Peter einer Regierung zuzuschieben, die für Ihre Entscheidungen relativ wenig konnte. Das weiß auch jeder. ({2}) Eines finde ich sehr unehrlich - von der F.D.P. hören wir vielleicht noch etwas dazu -: Die alte Koalition hatte doch Bestrebungen, die Gewerbesteuer ganz abzuschaffen. Aber als es um die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ging, haben wir alle in diesem Hohen Haus die wichtige Bedeutung des Bindeglieds zwischen Gemeinden und Unternehmen im Grundgesetz noch einmal bestätigt. Es war klar, daß ein eigenes Hebesatzrecht für die Kommunen gewährleistet sein muß; darin waren wir uns einig. Ihr damaliger Koalitionspartner hat aber ein ganz anderes Interesse. Nach den letzten Verlautbarungen möchte er die Gewerbesteuer abschaffen und für die Kommunen eine andere anteilige Beteiligung an der Einkommensteuer und/oder an der Umsatzsteuer. Daß dies derzeit überhaupt nicht zur Diskussion steht - ({3}) - Das weiß ich. Ich kenne die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände gut genug, um zu wissen, daß sie die Sorge haben, daß auf Bundesebene eine Partei, die relativ wenig Interesse an kommunalpolitischen Entwicklungen hat, den Versuch unternimmt, ihnen dieses Hebesatzrecht zu nehmen, das ihnen heute zu stetigen Einnahmen verhilft. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne. Zu meinen vorherigen Ausführungen möchte ich abschließend noch sagen, daß das mit uns so nicht zu machen sein wird. Wenn wir etwas ändern werden und wenn es zu einer Regelung kommen wird, dann wird dies nur unter Berücksichtigung des gemeinsamen Interesses von Bund, Ländern und Kommunen unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenvertretungen geschehen. Nur wenn die kommunalen Spitzenvertretungen dieses Vorhaben entsprechend absegnen, dann kann der Bund Änderungen vornehmen. Dies kann nicht mit der Brechstange geschehen, wie Sie es vorsehen. Herr Götz, bitte.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben das Stichwort „Gewerbesteuer in der letzten Legislaturperiode“ angesprochen. Ist Ihnen aus meiner Rede noch meine Aussage in Erinnerung, daß die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, eines ganz wichtigen Teils der Gewerbesteuer, ein wichtiges reformpolitisches Element war? Ich sagte, ihre Abschaffung sei deshalb möglich geworden, weil es gelungen sei, den Kommunen unmittelbar - darauf liegt die Betonung - eine Beteiligung an der Umsatzsteuer zuzuordnen, so daß die Kommunen durch diese Veränderungen der Gewerbesteuer heute nicht schlechter gestellt seien. Unser Ziel war es immer, im Zuge der Reform der Gewerbesteuer die notwendigen Voraussetzungen für einen finanziellen Ausgleich für wegfallende Einnahmen der Kommunen zu schaffen. Ist Ihnen das noch in Erinnerung?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist mir sehr gut in Erinnerung; aber darum ging es an dieser Stelle nicht. Ich habe gesagt: In der damaligen Diskussion war für uns Voraussetzung für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, daß den Kommunen das, was ihnen an Einnahmen entgeht - Sie haben es soeben angesprochen -, an anderer Stelle zur Verfügung gestellt wird. Meines Wissens wurden die fehlenden Einnahmen sogar ein bißchen überkompensiert. Dazu werde ich gleich etwas sagen, wenn ich über die Be- und Entlastungsvolumina - es geht um Milliardenbeträge - sprechen werde. ({0}) - Das bestreite ich gar nicht. - Ich habe betont, daß wir dieses Vorhaben damals mitgetragen haben. Wenn Sie sich richtig erinnern: Die Grünen gehörten zu denjenigen, die die Auffassung vertreten haben, daß die Gewerbekapitalsteuer keine zeitgemäße Steuer ist, weil sie eine Substanzbesteuerung darstellt. Aus unserer Sicht war es daher - egal, ob man rote oder schwarze Zahlen schrieb - vertretbar, diese Steuer möglichst schnell abzuschaffen. Wir haben dazu sogar eine Vorlage eingebracht. Uns waren auch die Folgewirkungen klar. Aber Ihr damaliger Koalitionspartner, die F.D.P., hat ein weitergehendes Interesse. Solange es keine einvernehmliche Klärung mit den Kommunen gibt, ist das Vorhaben der F.D.P. zum Schaden der Kommunen. Würde man es umsetzen, würde in der öffentlichen Diskussion unheimlich viel Unruhe ausgelöst. Ich bin in kommunalen Bereichen viel unterwegs. Dort heißt es immer: Die Regierung plant. Ich entgegne dem stets: Die alte Regierung hat geplant; wir sind es nicht. - Die F.D.P. verfolgt eine Politik, bei der die Interessen der Kommunen, was die Gesamtentwicklung angeht, nicht ausreichend in die Beratungen einbezogen worden sind.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Solms?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin, wenn Sie schon unsere Absichten zitieren, dann tun Sie es bitte auch richtig. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß es seit Jahrzehnten und damit ein langfristiges Projekt der F.D.P. war, die Finanzen der Gemeinden auf andere Einnahmequellen zu stützen, nämlich auf solche, die stabil und nicht konjunkturabhängig, also nicht zyklisch, sind? ({0}) Unser Ziel ist seit langem, die Gemeinden in die Lage zu versetzen, eine mittelfristige Haushaltsplanung vorzunehmen, die verläßlich ist. Deswegen haben wir in der sozialliberalen Koalition für die Abschaffung der Lohnsummensteuer und in der letzten Koalition für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer gesorgt. Als letztes Element muß natürlich eine Beseitigung der Gewerbesteuer insgesamt folgen. Dies muß aber durch den Ersatz in Form von stabilen Einnahmen aus der Umsatzsteuer und aus der Lohn- und Einkommensteuer geschehen. Dies stand schon 1994 im Koalitionsvertrag der alten Koalition. Das Vorhaben konnte leider nicht verwirklicht werden, weil die Diskussion mit den Kommunen noch nicht weit genug gediehen war. Ich sage Ihnen voraus: Die Diskussion in diese Richtung wird weitergehen. Auch die Kommunen werden ihr Interesse an einer solchen Umgestaltung zeigen, weil sie an verläßlichen und gleichmäßig fließenden Steuerquellen mehr als an einer zyklischen Gewerbesteuer interessiert sind.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Solms. Das war eine gute Steilvorlage. Sie haben im Prinzip das bestätigt, was ich gesagt habe. Außerdem haben Sie noch einmal darauf hingewiesen, daß es in der alten Koalition nicht gelungen ist, Ihren Wunsch umzusetzen, weil sich die kommunalen Spitzenverbände mit Ihren diesbezüglichen Vorstellungen nicht haben anfreunden können. Man hat kein Ergebnis zustande gebracht, da die Finanzierungsfrage vollkommen offengeblieben ist. Wir haben dieses jetzt - das wissen natürlich auch Sie - auf der Basis des Koalitionsvertrages durch die Bund-Länder-Kommissionen bereits in Angriff genommen. Dazu gehört die Entwicklung des kommunalen Finanzausgleiches genauso wie die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern. Das muß entwickelt werden, da es ab dem Jahre 2003 bzw. 2004 neu zu regeln sein wird. Das wissen ja auch Sie. Außerdem haben wir auf Grund der Überlegungen der Oberfinanzdirektionen der Länder - das geht auch an die Adresse von Herrn Götz; Sie haben das ja unter dem Stichwort Grundsteuer angesprochen -, wie die Grundsteuer in Zukunft ausgestaltet werden soll, eine Kommission eingesetzt. Wir haben in diesem Jahr in Übereinstimmung mit den Formulierungen des Koalitionsvertrages konkrete Schritte unternommen, die genau in diese Richtung gehen und die die kommunalen Spitzenverbände bei der Entwicklung der Finanzplanung einbinden, um die Finanzkraft der Kommunen und vor allen Dingen auch die kommunale Selbstverwaltung zu stärken. Diese stellt nämlich für uns ein wesentliches Element einer demokratischen Gesellschaft dar. Das ist überhaupt keine Frage. Deswegen noch einmal vielen Dank für Ihre Ausführungen. Diese haben meine Gedanken, die ich hier vorgetragen habe, sehr gut ergänzt. ({0}) Ich komme nun zu den Zahlen. In ihren isolierten Darstellungen haben Herr Dr. Rössel genauso wie Herr Götz so getan, als ob die in unserem Zukunftsprogramm getroffenen Entscheidungen bei den Kommunen zu Mehrausgaben und enormen Problemen in der Finanzierung von verschiedensten Maßnahmen führen. Das Reformpaket entlastet die Kommunen aber an zahlreichen Punkten; das sollte hier nicht verschwiegen werden. Das sollte man auch in der Öffentlichkeit - die Kollegin von der SPD hat ja schon viele Punkte angesprochen - sagen, anstatt immer so zu tun, als ob irgend jemandem etwas genommen wird. Letztendlich muß man immer sehen, was hinten dabei herauskommt. Das haben Sie selber gesagt; einer von Ihnen hat ja diesen Satz geprägt. ({1}) Es ist auch richtig, daß allein das interessiert. Es interessieren nicht die einzelnen Maßnahmen, sondern es interessiert, was diese an den Strukturen ändern und verbessern und was finanziell letztlich herüberkommt. Es ist vollkommen klar, daß sich für die Kommunen durch die Begrenzung des Zuwachses bei den Renten, den Pensionen, den Beamtenbezügen, den Gehältern und durch die Änderungen bei der Eigenheimzulage im Zeitraum von 2000 bis 2003 Mehreinnahmen in einer Größenordnung von 4 Milliarden DM ergeben. ({2}) Hierbei sind die dämpfenden Auswirkungen des Sparpakets auf den Tarifbereich überhaupt noch nicht berücksichtigt worden. Da die Kommunen ja bekanntermaßen einen relativ hohen Angestelltenanteil haben, wird sich hier noch einmal eine zusätzliche Entlastung ergeben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne. Herr Götz, bitte.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, habe ich es richtig verstanden, daß Sie mit Ihren letzten Bemerkungen den Ausgang der Tarifverhandlungen schon vorweggenommen haben?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben Vorschläge zum Zuwachs der Renten gemacht. Es handelt sich dabei übrigens nicht um eine Rentenkürzung - das möchte ich in diesem Zusammenhang noch einmal klar sagen -, sondern wir nehmen einen Inflationsausgleich vor, der so von der alten Regierung in den letzten Jahren nie vorgenommen wurde. ({0}) Die Rentner und Rentnerinnen werden in den nächsten zwei Jahren durch diese Anpassung in Höhe der Inflationsrate - 0,7 Prozent im nächsten Jahr und 1,4 Prozent im Jahre 2001 - mehr bekommen, als sie in den letzten fünf Jahren im Durchschnitt von der alten Koalition bekommen haben. Dieses sage ich an dieser Stelle noch einmal zur Klarstellung. Es wird ja immer so getan, als ob man etwas nehme. Hier wird vielmehr mehr gegeben, als die alte Regierung gegeben hätte. Wenn Sie, Herr Götz, jetzt ansprechen -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, bitte beantworten Sie die Frage etwas kürzer. Sie müssen auch noch mit Ihrer Rede zum Schluß kommen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Sie sagten, wir griffen den Tarifverhandlungen vor. Wir haben darum gebeten, daß man im Rahmen der Tarifverhandlungen von beiden Seiten darauf hinwirken solle. ({0}) Ich hoffe, daß es im Sinne des Allgemeinwohls so geschehen wird, und ich gehe auch davon aus, daß es so geschehen wird; die Signale sind ziemlich klar. ({1})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte zu dem, was Sie über die Renten gesagt haben - ({0}) - Es nützt nichts, es hilft nichts. - Wissen Sie nicht genau, daß das, was Sie gesagt haben, falsch ist und nicht der Realität entspricht? Sie nehmen doch den Rentnern etwas weg, was den Rentnern zusteht. Darum geht es. ({1})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt Tabellen, aus denen eindeutig hervorgeht, wie sich die Rentenanpassung in den letzten Jahren entwikkelt hat, und zwar die reale Anpassung im Verhältnis zu dem, was als Inflationsausgleich hätte gewährt werden müssen. ({0}) 1994 gab es einen Ausreißer; das war das Wahljahr. Die Rentnerinnen und Rentner sind nicht dumm. Sie wissen, was sie am Monatsende an Rente bekommen. Diejenigen, die schon einige Jahre lang Rente beziehen, wissen, was sie bekommen haben, und sie werden sehen, was sie in den Jahren 2000 und 2001 bekommen werden. Bei vielen von denen, die jetzt durch die Kampagnen, die Sie in den letzten Wochen leider gestartet haben, ({1}) irritiert und durcheinander gebracht worden sind, wird ein Aha-Erlebnis einsetzen. Dann wird die Stimmung kippen, und dann werden sie ganz klipp und klar sehen, daß sie mehr haben, als sie vermutet haben. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich bitte jetzt darum, daß die Rednerin zum ursprünglichen Thema zurückkommt und in ihrer Rede fortfährt. Wir wollen doch alle mit dieser Debatte heute noch zu Ende kommen. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das tue ich gerne, Frau Präsidentin. Ich möchte nur fairerweise noch erwähnen, daß die finanzielle Situation des Bundes dramatisch schlechter als die der Länder und auch die der Gemeinden ist. Dazu ein paar Zahlen, weil auch Sie gerne mit Zahlen argumentieren: Von 1994 bis 1998 sank der Bundesanteil am gesamten Steueraufkommen von 48,2 Prozent auf 41 Prozent. ({0}) Im gleichen Zeitraum konnten die Länder ihren Anteil von 34,2 Prozent auf 41,3 Prozent erhöhen. Der Anteil der Gemeinden - darum geht es heute - hat sich von 12,4 Prozent auf 12,6 Prozent erhöht. Das heißt, daß in der Konsequenz dieser Verteilung des Steueraufkommens der Anteil desjenigen, der mehr aufzubringen hatte, seit 1993, seit dem FKP, gesunken ist, während der Anteil der Länder über die Jahre stieg. Auch bei den Kommunen hat sich der Steueranteil leicht nach oben entwickelt. Dasselbe Bild zeigen die Zinsausgaben, die Zinsquote und all die Entwicklungen, die damit zusammenhängen. ({1}) An die Adresse der PDS möchte ich sagen, daß sie ein verzerrtes und insoweit falsches Bild gezeichnet hat. Insgesamt weist die kommunale Ebene nach den Kassenergebnissen 1998 erstmals seit 1989 deutliche Überschüsse aus. Gegenüber einem Fehlbetrag in Höhe von 5,9 Milliarden DM im Jahre 1997 ergab sich 1998 ein Überschuß von 4,8 Milliarden DM. Das muß man hier bitte schön auch einmal auf Ihrer Seite zur Kenntnis nehmen. ({2}) Ich möchte abschließend feststellen, daß vom Erfolg des Zukunftsprogramms 2000 alle staatlichen Ebenen sowie die Gesellschaft insgesamt profitieren werden. Der Reformstau wird aufgelöst werden. Viele falsche Informationen in diesem Zusammenhang werden in den nächsten Wochen korrigiert werden. ({3}) Ich bin sehr zuversichtlich, daß Bund, Länder und Kommunen dieses Zukunftsprogramm gemeinsam tragen werden. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Zeitrahmen für ein solches Thema und eine solche Debatte ist sehr kurz bemessen - völlig unangemessen für ein solch komplexes Thema. Das zeigt den Stellenwert, den Kommunalpolitik in diesem Hause hat. ({0}) Eine umfassende Gemeindefinanzreform ist in der Tat dringend geboten; sie ist aber unabdingbar mit der Notwendigkeit einer vollständigen Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen verbunden. ({1}) Es ist außerordentlich bedauerlich, daß die Gemeinsame Verfassungskommission die Chance der notwendigen Veränderung nicht genutzt hat. Da saßen die Gemeinden sozusagen am Katzentisch. Das macht ebenfalls deutlich, daß die Kommunen sowohl beim Bund als auch bei den Ländern nicht sehr hochrangig angesiedelt sind. Von der erhöhten Umsatzsteuerzuweisung von 7 Prozent für die Länder haben die Gemeinden keinen Pfennig gesehen. Auch das muß hier einmal festgestellt werden. Da sind die Länder in der Pflicht. ({2}) Der PDS-Antrag spricht einerseits eine Vielzahl erkannter Probleme an, enthält andererseits aber kaum realistische Lösungsansätze, und wenn, dann falsche. ({3}) Revitalisierung der Gewerbesteuer - das hätte uns gerade noch gefehlt! Die Gewerbesteuer muß endgültig abgeschafft werden. ({4}) Sie ist nämlich eine mittelstandsfeindliche und wettbewerbsverzerrende Steuer, die sich gerade bei inhaberbezogenen kleinen und mittelständischen Betrieben wie eine zweite Einkommensteuer auswirkt. ({5}) Aber das können Sie ja nicht wissen. Deswegen sage ich es Ihnen noch einmal. Über den Ausgleich hat Ihnen der Kollege Solms eben etwas gesagt. Ich bin übrigens sehr erfreut, daß Frau Kollegin Scheel ihm zugestimmt hat. Wir werden sehen, wie sich das im täglichen Handeln auswirkt. Die PDS fordert eine Flächennutzungssteuer und damit nichts anderes als eine Erhöhung der Grundsteuer. ({6}) Darüber hinaus haben Sie die Vermögensteuer angeführt. ({7}) Damit präsentieren Sie sich hier als Steuererhöhungspartei für die Gemeinden. So nicht! ({8}) Die Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen föderalen Ebenen muß neu geregelt werden. Diejenige Körperschaft, die eine Aufgabe zu erfüllen hat, muß die daraus entstehenden Ausgaben tragen. ({9}) Sonst gibt es keinen Anreiz für eine wirtschaftliche Ausgestaltung und Durchführung von Gemeinschaftsaufgaben, da die finanziellen Folgen von unterschiedlichen Gebietskörperschaften getragen werden müssen. Ohne das vielbeschriebene Konnexitätsprinzip wird eine sachgerechte Verteilung und Konzentration öffentlicher Mittel nicht erreicht. Mittelfristig müssen wir die sogenannten Gemeinschaftsaufgaben und ihre Mischfinanzierung abschaffen. Die Mischfinanzierungstatbestände sind ein ganz entscheidendes Hindernis beim Abbau und bei der Deregulierung von ins Kraut gewachsenen Verwaltungsstrukturen. Aber - auch heute morgen war es hier wieder hörbar - alles Klagen und Jammern darüber hilft uns überhaupt nicht weiter. Es ist dieses Parlament, das endlich die Initiative ergreifen und handeln muß. ({10}) Lassen Sie mich abschließend sagen: Für die F.D.P. ist eine Reform der Finanzverfassung mit einer umfassenden Gemeindefinanzreform überfällig. ({11}) Die heutige Debatte - auch wenn sie eine Kurzdebatte ist - muß der Auftakt für eine gemeindefreundliche Politik von Bund und Ländern sein. ({12}) Die Bundesregierung, verehrte Frau Kollegin Scheel, hat auch auf diesem Politikfeld einen miserablen Start hingelegt. ({13}) Der Verschiebebahnhof „Sparpaket“, das Sie auch noch „Zukunftsprogramm“ nennen, beinhaltet ganz erhebliche und unrentable Mehrbelastungen für die Gemeinden. ({14}) Genau das ist der falsche Weg, den wir nicht mitgehen werden. ({15}) Stellung und Ansehen des Staates entwickeln sich vor allem auf kommunaler Ebene. Die verbalen Bekundungen von allen Seiten müssen endlich dazu führen, daß danach auch gehandelt wird. Nur daran kann ich heute appellieren. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1302 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf Mittwoch, den 6. Oktober 1999, 13 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen.