Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung
ist eröffnet.
({0})
Der Deutsche Bundestag weiß sich in diesen Tagen
einig mit den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland in der Trauer über die Opfer der
heftigen Erdbeben, die Taiwan in den letzten Tagen,
seit der Nacht zu Dienstag, dem 21. September 1999,
heimgesucht haben. Mehr als 2 000 Menschen starben,
fast 8 000 wurden verletzt, und mehr als 600 Menschen
werden immer noch unter den Trümmern vermißt. Rund
100 000 Menschen sind ohne Obdach.
Spontan war die internationale Hilfsbereitschaft, und
sie verdient Dank und Anerkennung. Ich spreche im
Namen des Deutschen Bundestages den betroffenen
Bürgern Taiwans unser tiefes Mitgefühl aus.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich
folgendes bekannt:
Der frühere Kollege Günter Verheugen hat am 16.
September 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeordnete Reinhold Strobl am 17. September 1999 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich.
({1})
Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 29.
September 1999 mitgeteilt, daß der Abgeordnete Uwe
Hiksch nach seinem Austritt aus der SPD seit dem 28.
September 1999 nicht mehr Mitglied der SPDBundestagsfraktion ist.
({2})
Sodann teile ich mit, daß der Kollege Hans Martin
Bury als stellvertretendes Mitglied aus dem Vermittlungsausschuß ausscheidet. Die Fraktion der SPD
schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Anke Fuchs
({3}) vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre
keinen Widerspruch. Damit ist die Kollegin Anke Fuchs
als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß
bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, auf die für
Freitag vorgesehene Beratung des Antrags der Fraktion
der Bündnis 90/ Die Grünen „Verbot quecksilberhaltiger
Fieberthermometer“ zu verzichten
({4})
und den Antrag statt dessen bereits heute ohne Debatte
an die Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? ({5})
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion der
F.D.P. hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Gesetzentwurfs zur Sicherung der Pressefreiheit zu erweitern. Das Wort zu diesem Geschäftsordnungsantrag hat der Kollege van Essen.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion
möchte heute in eine erste Lesung ihres Gesetzentwurfes
zur Sicherung der Pressefreiheit eintreten und bittet Sie
dafür um Ihre Zustimmung. Nachdem die Vertretungen
der Journalisten, aber auch Verleger und Intendanten
immer drängender die notwendigen gesetzlichen Schritte
zu einer Verbesserung der Pressefreiheit fordern, bin ich
davon ausgegangen, daß unser Debattenwunsch in der
interfraktionellen Runde der Ersten Geschäftsführer
nicht auf den Widerstand der anderen Fraktionen stoßen
würde. Leider war es nicht so. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion bedauert es sehr, daß sie offensichtlich
allein an einer Verbesserung der für eine Demokratie so
wichtigen Pressefreiheit interessiert ist.
({0})
Die Sache duldet nämlich keinen Aufschub. Wollen
wir zusehen, daß - ähnlich wie in Bremen - unter
Durchbrechung jedes Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
Redaktionsräume weiter durchsucht werden? Wollen wir
untätig bleiben,
({1})
wenn weiter Filmmaterial von Fernsehanstalten über
Demonstrationen nur deshalb beschlagnahmt wird, weil
die Polizei ihre eigene Beweissicherungspflicht nicht so
ernstgenommen hat, wie sie es eigentlich müßte, und
deshalb Kameraleute unnötig in Gefahr geraten? Läßt es
uns kalt - wie offensichtlich Herrn Schlauch -, wenn die
neuen elektronischen journalistischen Medien nicht vom
gesetzlichen Schutz erfaßt sind?
Eine rechtlich klar abgestützte Pressefreiheit, ohne juristische Grauzone, ist fundamental für eine Demokratie
und verträgt nicht den Verschiebebahnhof, den SPD und
Grüne heute offensichtlich ansteuern.
({2})
Es komme mir niemand mit dem Argument, man
brauche Zeit, um unseren Entwurf zu prüfen. Alles, was
wir vorgeschlagen haben, liegt seit Jahren auf dem Tisch
({3})
und konnte seit drei Wochen genau gelesen werden.
({4})
- Richtig, Herr Schlauch, wir haben dafür gekämpft, und
wir tun es weiter.
({5})
Es ist für uns auch kein Argument, daß die Bundesjustizministerin ähnliches plane. Erstens ist das Parlament
insgesamt und die Opposition im besonderen keine Unterabteilung irgendeines Ministeriums,
({6})
und zweitens wartet die Öffentlichkeit inzwischen auf so
viele von der Ministerin angekündigte Vorhaben, daß
dies die Verschiebung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
bedeuten würde.
({7})
Pressefreiheit ist eine der Basissäulen der Demokratie. Wir brauchen die Diskussion jetzt.
({8})
Deshalb bitte ich Sie um die Zustimmung zu unserem
Vorschlag, heute darüber zu debattieren.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die SPDFraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Wilhelm
Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist schon abenteuerlich, wie der Kollege van Essen den Geschäftsordnungsantrag seiner Fraktion hier begründet. Jemand, der
16 Jahre lang die Gelegenheit gehabt hat, dies in diesem
Hause mit seinem Koalitionspartner durchzusetzen, findet nun nicht mehr die Zeit, noch ein oder zwei Wochen
zu warten. Was hier passiert, ist so was von heuchlerisch, daß wir das nicht akzeptieren können.
({0})
Es ist in diesem Hause mit gutem Grund in der Geschäftsordnung festgelegt, daß es Fristen gibt. Die sind
in aller Regel eingehalten worden, sowohl in der vergangenen Wahlperiode mit Ihrer Mehrheit als auch in
dieser Wahlperiode mit unserer Mehrheit. Denn wir
müssen den Fraktionen des Hauses Gelegenheit geben,
sich auf die Dinge vorzubereiten. Wenn wir zudem noch
wissen, daß in dem Ministerium, das Sie gerade angesprochen haben, nämlich im Ministerium der Justiz, ein
entsprechender Gesetzentwurf zur Pressefreiheit erarbeitet wird - an dem wir übrigens mitwirken -, dann, so
kann ich nur sagen, ist es völlig übertrieben, an dieser
Stelle diese Hast an den Tag zu legen. Wir meinen, daß
diese uns derzeit eher schadet, als daß sie uns hilft. Lassen Sie uns das nächste Sitzungswoche, wenn Sie ein
Aufsetzungsrecht haben, ordentlich miteinander beraten.
Da es dann der Geschäftsordnung entspricht, gibt es
überhaupt keinen Grund, das abzulehnen.
Zum heutigen Zeitpunkt erkläre ich für meine Fraktion - gleichermaßen für die Koalition -, daß wir nicht
daran interessiert sind, dieses Thema gewissermaßen
über das Knie zu brechen. Wir werden selbst einen sorgfältig erarbeiteten Gesetzentwurf vorlegen. Das, was Sie
uns jetzt präsentieren - ohnehin nur in einem Schnellschußverfahren -, wäre dem sicherlich nicht angemessen. Es ist überhaupt kein Verschiebebahnhof, schon gar
nicht verschieben wir die Angelegenheit auf den SanktNimmerleins-Tag. Die Debatte findet nur nicht heute
statt. Dem bitte ich Sie zuzustimmen.
({1})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort der Kollegin Kristin Heyne.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bezeichnend, daß in dieser Geschäftsordnungsdebatte - ich
finde das eigentlich einen sehr guten Stil - die anderen
beiden Oppositionsfraktionen nicht reden.
({0})
- Sie standen nicht auf der Rednerliste. Dann kommt
gleich noch ein Beitrag. Aber der Kollege von der CDU
zumindest möchte nicht reden. Ich glaube, das macht
schon deutlich, daß es nicht darum geht, die Rechte der
Opposition zu unterdrücken.
Lieber Kollege van Essen, Sie wissen, was der tiefere
Sinn einer Geschäftsordnungsdebatte ist. Sie haben die
Gelegenheit genutzt, noch einmal eindrücklich darzustellen, daß es notwendig ist, die Pressefreiheit zu sichern, und das gerade durch eine Zuspitzung des Zeugnisverweigerungsrechts für Journalisten. Ich will ganz
deutlich sagen, lieber Kollege van Essen: Das ist nicht
der Punkt, über den wir heute streiten.
Für eine freie Presse und für die freie Berichterstattung ist es in der Demokratie grundlegend, daß Journalisten ihre Informanten nicht preisgeben müssen. Bündnis
90/Die Grünen haben in der vergangenen Legislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt.
Von der F.D.P. gab es dazu keinerlei Unterstützung, Sie
haben sich weggedrückt. Jetzt, wo es nichts mehr durchzusetzen gibt, schwenken Sie das liberale Fähnchen.
({1})
Es ist erklärtes und wichtiges rechtspolitisches Ziel
der Koalition, die Pressefreiheit zu sichern. Wir wollen
das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten auch
unter Berücksichtigung der neuen Kommunikationstechnologien verbessern. Das ist keine Frage in der Koalition, das wird geschehen.
Strittig ist jetzt einzig die Frage, ob der Gesetzentwurf der F.D.P. heute oder in der nächsten Woche, wenn
bereits das Aufsetzungsrecht besteht, verhandelt wird.
Ich möchte ganz klar sagen: Es hat gute Gründe, daß wir
einen Antrag nicht sofort aufsetzen, sondern eine Frist
von drei Wochen einräumen. Denn wenn wir uns als
Parlament noch einigermaßen ernst nehmen, ist es gut,
wenn jede Fraktion vor der Debatte hier im Plenum eine
gewisse Zeit hat, ihre eigene Position zu finden, in den
Arbeitsgruppen und Fraktionsgremien zu diskutieren
und - sofern sie es will - mit einer eigenen Vorlage in
die Debatte einzusteigen.
Eine sachgerechte Debatte braucht eine solche Vorbereitungszeit. Wenn wir das Parlament als Ort des gezielten Streits um die beste Lösung ansehen, dann sollten wir die selbst gesetzten Spielregeln auch einhalten.
Es darf nicht sein, daß dieses Haus zu einer reinen
Wahlkampfbühne verkommt.
({2})
Lieber Kollege van Essen, bei allem Verständnis für die
Nervosität in den kleinen Parteien - diese können wir
Ihnen durchaus nachfühlen.
Natürlich gibt es eilbedürftige Vorlagen und Anträge,
die eine Woche später verhandelt unter Umständen
schon ihren Sinn verloren haben. Für solche Fälle hat es
immer einvernehmliche Regelungen gegeben. Das wird
auch so bleiben. Daß aber ein erheblicher Schaden entsteht, wenn wir Ihren Antrag, verehrter Kollege van Essen, erst in der nächsten Woche verhandeln, kann ich
nicht nachvollziehen. Ein solcher Eilbedarf erschließt
sich mir vor dem Hintergrund, daß Sie nicht nur 16,
sondern 29 Jahre Zeit hatten, diese Sicherung durchzusetzen, nicht.
({3})
Lassen Sie uns in sorgfältigen Beratungen zu einem
guten Gesetz kommen. Meine Fraktion lehnt den Antrag
auf Änderung der Tagesordnung für heute ab.
({4})
Für die PDSFraktion hat das Wort der Kollege Roland Claus.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich will es noch einmal sagen, damit wir
richtig verstanden werden: Wir befinden uns in der Geschäftsordnungsdebatte, und das Parlamentsrecht, das
wir uns selbst gegeben haben, besagt, daß man, wenn
man einen Antrag einbringt, drei Wochen warten muß,
bevor er behandelt wird.
({0})
Die F.D.P. wollte nur eine Woche warten.
Wenn ich das interpretieren darf, heißt das, die F.D.P.
schlägt uns vor, daß Gnade vor Parlamentsrecht ergehen
soll. Ich will Sie nur daran erinnern, daß Sie, meine Damen und Herren von den Freien Demokraten, gestern in
der Amnestiedebatte genau umgekehrt argumentiert haben.
({1})
Ich hatte schon überlegt, ob hier nicht Bundesminister
Eichel zur Debatte spricht; denn diese Debatte hätten
wir uns wirklich sparen können. Wir hätten sie uns auf
zwei Arten sparen können: zum einen, indem die F.D.P.
auf diese starrsinnige Reaktion verzichtet hätte, zum anderen, indem die Koalition etwas großmütiger gewesen
wäre - wir hatten das in der Besprechung auch angeregt
- und gesagt hätte, wir nehmen an einer solchen Diskussion keinen Schaden, lassen wir sie doch zu.
({2})
Aber beide Seiten wollten sich nicht bewegen.
Wir haben nicht in der Sache zu argumentieren, aber
eines will ich den Autorinnen und Autoren natürlich sagen: Sie nennen Ihren Gesetzentwurf „Gesetz zur Sicherung der Pressefreiheit“. Ich möchte Sie fragen: Geht es
nicht ein bißchen bescheidener? In dem Gesetzentwurf
ist nichts von dem enthalten, was darauf steht. Es ist
doch ein großes Wort.
({3})
Vielleicht haben Sie die Flucht in eine Tagesordnungsdebatte angetreten, weil der Inhalt ein bißchen
dürftig ist. Sie sagen sich wohl: Der wichtigste Kampf
ist der Kampf um die Überschriften. Sie hoffen auf die
Schlagzeile „F.D.P. für die Pressefreiheit und alle anderen dagegen“. Ich könnte Ihnen ein probates Mittel nennen. Wir könnten Ihnen nämlich mit unserer Zustimmung das Leben ganz schön schwer machen.
({4})
Aber solche taktischen Spiele würden bedeuten, dieses
Parlament nicht ernst zu nehmen. Deshalb fällt unsere
Zustimmung aus.
Die Beharrung auf dieser Tagesordnungsdebatte,
meine Damen und Herren, zeugt ein bißchen von Ihrer
Starrsinnigkeit. Ich will Ihnen eines sagen: Unsere
Kompetenz für bittere Niederlagen ist sicher unbestritten. Man muß Niederlagen auch als Niederlagen annehmen, um sie überwinden zu können. Kommen Sie wieder runter, dann könnte es sein, daß Sie auch wieder
raufkommen.
({5})
An die Adresse der Koalition noch einmal der Aufruf:
Ersparen Sie uns diese Abstimmung. Wir werden uns,
wenn sie nicht zu verhindern ist, bei der Abstimmung
enthalten.
Vielen Dank.
({6})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir kommen zur Abstimmung. Wer
stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktion der
F.D.P.? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Damit ist der Antrag der Fraktion der F.D.P.
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
bei Stimmenthaltung von CDU/CSU und PDS bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion abgelehnt worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses
zu den gegen die Gültigkeit der Wahl zum 14.
Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 14/1560 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Dr. Wolfgang Bötsch
Anni Brandt-Elsweier
Manfred Grund
Hans-Joachim Hacker
Steffi Lemke
Hans-Christian Ströbele
Dieter Wiefelspütz
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Es wird aber
das Wort zur Berichterstattung gewünscht. Das Wort hat
die Kollegin Erika Simm.
Sehr verehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie nach jeder Bundestagswahl muß auch der 14. Bundestag über Wahleinsprüche entscheiden, in denen wahlberechtigte Bürger
und Bürgerinnen Einwendungen gegen die Vorbereitung
und Durchführung der Wahlen, gegen die Stimmenauszählung in Wahllokalen und Wahlkreisen oder gegen die
Vorschriften des Wahlrechtes selbst erheben.
Gegen die Wahlen zum 14. Deutschen Bundestag
sind 110 Wahleinsprüche eingegangen, über die heute
zu entscheiden ist. Diese Anzahl entspricht den in früheren Wahlperioden gemachten Erfahrungen, abgesehen
von der letzten, bei der wegen der Überhangmandatsfrage außergewöhnlich viele, nämlich rund 1450 Wahleinsprüche eingegangen waren.
Die Wahleinsprüche betreffen unterschiedliche Fragen des Wahlrechts. Überwiegend decken sie zwar keinen Wahlfehler auf, in einigen Fällen aber schon. Der
Wahlprüfungsausschuß geht jedem Vortrag gründlich
nach, nicht zuletzt um für künftige Wahlen Mißstände
abstellen zu können. Anregungen für eine Überprüfung
der Wahlrechtsvorschriften werden üblicherweise in
einer Entschließung mit Prüfungsbitten an die Bundesregierung zusammengefaßt. Dazu verweise ich auf Ziffer 3 der Beschlußempfehlung. Aus diesen Prüfungsbitten ist insbesondere die Anregung hervorzuheben, die
auch vom Bundeswahlleiter unterstützt wird, das Berechnungsverfahren durch die Einführung des Rangmaßzahlverfahrens nach Sainte Laguë/Schepers zu vereinfachen. Zu überlegen bleibt auch, ob es zweckmäßig
ist, weiterhin Umschläge für die Wahl in Wahllokalen
vorzuschreiben. Abgebaut werden sollten jedenfalls Beeinträchtigungen, die behinderten Menschen faktisch eine Teilnahme an der Wahl erschweren.
Die Vorbereitung der Beschlußempfehlungen des
Wahlprüfungsausschusses zu den einzelnen Wahleinsprüchen braucht insgesamt ihre Zeit; im Einzelfall mal
mehr, mal weniger. Trotzdem empfiehlt es sich nicht,
das Plenum mehrmals mit Wahleinsprüchen zu befassen,
sondern vielmehr die Entscheidung über alle eingegangenen Wahleinsprüche - so wie wir das heute tun - für
eine einzige Plenarberatung zusammenzufassen. Dies
dauert dann zwar bis zur Erledigung aller eingegangenen
Wahleinsprüche etwas länger, der Wahlprüfungsausschuß bemüht sich aber, möglichst rasch zu entscheiden. Zu berücksichtigen bleibt aber, daß oft zeitraubende Nachforschungen zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich sind. Außerdem können sich die Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses gerade im ersten
Jahr der Wahlperiode nicht nur mit Wahleinsprüchen befassen.
Wenn hier auch kein vollständiger Bericht über jeden
einzelnen Wahleinspruch möglich und angebracht ist, so
soll doch exemplarisch auf einige Gesichtspunkte hingewiesen werden, die bei der Wahl zum 14. Deutschen
Bundestag zu Einsprüchen geführt haben.
Erstaunlich ist, daß bei den Einsprüchen zur letzten
Bundestagswahl Beschwerden wiederholt werden, die
eigentlich geklärt sein sollten bzw. die sich auf Fehler
beziehen, die ausgemerzt sein sollten. Daß nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Überhangmandaten die entsprechenden Wahlrechtsvorschriften wiederum als verfassungswidrig angegriffen
werden, mag noch verständlich sein, weil das Bundesverfassungsgericht selber in dieser Frage gespalten war.
Aber weniger verständlich ist, daß in einigen Wahlbezirken noch immer in unzulässiger Weise einseitige
Wahlpropaganda zu nahe vor dem Eingang des Wahllokals gemacht wird. Selbstverständlich sollte auch sein,
daß Vertreter der Staatsorgane in amtlicher Eigenschaft
keine Wahlwerbung betreiben dürfen. Dennoch mußte in
einem Fall ein Wahlfehler festgestellt werden, weil ein
Bürgermeister im amtlichen Mitteilungsblatt seiner
Kommune eine bestimmte Kandidatin befürwortet hatte.
Bedauerlich ist auch, daß sich einige Wahlvorstände
nicht peinlich genau an die Wahlrechtsvorschriften halten. Die erforderliche Schulung an Hand der Broschüren
des Bundeswahlleiters hat stattgefunden. Trotz dieser
Schulung können Wahlfehler vorkommen und dann unübersehbare Auswirkungen haben. Beispiele dafür sind
der Wahleinspruch von Walter Hirche und anderen Mitgliedern der F.D.P., abgedruckt in Anlage 96, und der
Wahleinspruch von Axel Weirich, abgedruckt in Anlage
99. Die Wahleinsprüche beruhen auf einer Abweichung
des vorläufigen Wahlergebnisses vom endgültigen
amtlichen Wahlergebnis. Die F.D.P. hat danach nämlich einen Sitz an die PDS verloren. Für diese Wahleinsprüche spielen verschiedene Wahlfehler in verschiedenen Ländern eine Rolle. Es geht hier insbesondere darum, daß in einzelnen Wahlbezirken Stimmzettel ohne
amtliche Kuverts ausgegeben wurden und anschließend
teilweise für gültig und teilweise für ungültig erklärt
worden sind. Trotz dieser Fehler sind diese Wahleinsprüche letztlich nicht erfolgreich, also in der Sprache
des Wahlprüfungsrechts „offensichtlich unbegründet“,
weil eine Vergleichsrechnung ergeben hat, daß diese
Fehler letztlich auf die Mandatsverteilung keine Auswirkung hatten. Dies ist jedenfalls die Auffassung der
Mehrheit des Wahlprüfungsausschusses. Der F.D.P.Vertreter im Wahlprüfungsausschuß ist dieser Auffassung nicht gefolgt und beantragt deswegen getrennte
Abstimmung über die oben erwähnten Wahleinsprüche.
Ich bitte den Herrn Präsidenten, in entsprechender Weise zu verfahren.
Erlauben Sie mir noch einen Hinweis auf das geltende Wahlrecht, ohne daß ich Ihr Abstimmungsverhalten
beeinflussen möchte. Nach dem geltenden Wahlrecht
hätte eine Ablehnung der Beschlußempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses nicht zur Folge, daß dem
Wahleinspruch stattgegeben wird; vielmehr wird mit der
Ablehnung der Wahleinspruch an den Wahlprüfungsausschuß zurücküberwiesen, der dann noch einmal über
diesen Einspruch entscheidet. Eine erneute Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses muß der
Deutsche Bundestag dann akzeptieren.
Der Wahlprüfungsausschuß hat die Beschlußempfehlung einstimmig verabschiedet, bis auf die beiden
Wahleinsprüche der F.D.P., die ich vorher genannt habe,
die sind mit sechs gegen eine Stimme - ohne Enthaltungen - zurückgewiesen worden.
Herr Präsident, ich möchte Sie noch auf einen weiteren Sachverhalt hinweisen. In Anlage 41 der Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/1560 ist leider ein Fehler passiert. Dort heißt es: „Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen.“ Statt dessen muß es heißen: „Der Wahleinspruch wird als unzulässig zurückgewiesen.“ Ich bitte, in dieser Form über die Beschlußempfehlung entscheiden zu lassen.
Ich möchte die Gelegenheit nicht verstreichen lassen,
ohne mich bei den Kollegen im Wahlprüfungsausschuß
und insbesondere auch bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Sekretariats sehr herzlich für die kollegiale Zusammenarbeit zu bedanken.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zuzustimmen.
({0})
Wir kommen nun
zur Abstimmung. Die Fraktion der F.D.P. hat Einzelab-
stimmung zu den Beschlußempfehlungen des Wahlprü-
fungsausschusses zu den Anlagen 67, 86 und 96 unter
Nr. 2 der Drucksache 14/1560 verlangt.
Bevor wir abstimmen, weise ich darauf hin, daß - die
Kollegin Simm hat es gerade schon gesagt - bei Nicht-
zustimmung zu den Beschlußempfehlungen des Aus-
schusses diese gemäß § 13 des Wahlprüfungsgesetzes
als an den Wahlprüfungsausschuß zurückverwiesen
gelten.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung zu An-
lage 67? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlußempfehlung zu Anlage 67 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und
mehrheitlich der PDS gegen die Stimmen der F.D.P. und
bei einer Enthaltung von der PDS angenommen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung zu An-
lage 86? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen?
- Auch diese Beschlußempfehlung ist gegen die Stim-
men der F.D.P. mit den Stimmen des ganzen Hauses im
übrigen angenommen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung zu An-
lage 96? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen?
- Die Beschlußempfehlung zu Anlage 96 ist mit der
gleichen Mehrheit wie bei der Abstimmung zuvor ange-
nommen.
Wir stimmen jetzt über die übrigen Punkte der Be-
schlußempfehlung mit der von der Kollegin Simm so-
eben vorgetragenen Berichtigung zu Anlage 41 ab. Wer
stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußemp-
fehlung insgesamt ist mit den Stimmen des ganzen Hau-
ses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Lebenssituation von Kindern
und die Leistungen der Kinderhilfen in
Deutschland - Zehnter Kinder- und Jugend-
bericht - und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksachen 13/11368, 14/272 Nr. 115,
14/1681 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Stöckel
Ingrid Fischbach
Monika Balt
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({1}) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Einfüh-
rung des Gemeinschaftlichen Aktionspro-
gramms „Jugend“
- Drucksachen 14/74 Nr. 2.69, 14/1065 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Holetschek
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Klaus Grehn, Dr. Ruth
Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Kindergelderhöhung auch für Kinder im Sozialhilfebezug
- Drucksache 14/1308 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Finanzausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen
CDU/CSU und F.D.P. zum Zehnten Kinder- und Jugendbericht vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Zehnte Kinderund Jugendbericht vom August des vergangenen Jahres
ist in vielerlei Hinsicht ein bedrückendes Dokument.
Man kann ihm entnehmen, wie die Kinder unseres Landes in den Jahren der Kohl-Regierung zu einem Armutsrisiko geworden sind. Die damals verantwortliche Ministerin hat sich lange gescheut, diesen Bericht zu veröffentlichen.
Die vorgelegten Daten zur Einkommensarmut wurden damals mit der grotesken Begründung zurückgewiesen, es handele sich um „künstliche statistische Konstrukte“, die „mehr oder weniger willkürlich“ seien. Es
wurde behauptet, Armut gebe es eigentlich nicht, weil
die Sozialhilfe das Existenzminimum sichere. Ich sage
Ihnen: Das war der blanke Hohn. Was Sie sagten, gehörte zum letzten Wortgeklingel einer abgewirtschafteten Bundesregierung unmittelbar vor der Abwahl.
({0})
Was die Koalitionäre von damals hinterlassen haben,
das war mehr als nur ein Scherbenhaufen. Es war gerade
für die Kinder und Jugendlichen eine Katastrophe; denn
mit ihrer hemmungslosen und verantwortungslosen
Schuldenmacherei haben CDU/CSU und F.D.P. die junge Generation geradezu bestohlen. Sie haben den jungen
Leuten nicht nur den Zuschuß zum Zahnersatz geklaut;
vielmehr waren Sie auch auf dem besten Wege, ihnen
die Zukunft zu stehlen.
({1})
Den Anspruch auf den Zuschuß zum Zahnersatz haben wir den Jugendlichen sofort zurückgegeben. Um
den Schuldenberg abzubauen, um eine Politik umfassender sozialer Gerechtigkeit überhaupt wieder möglich
zu machen, um diesen Staat von Grund auf zu modernisieren, brauchen wir etwas mehr Zeit.
Ich möchte ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen der PDS richten. Sie haben einen Antrag vorgelegt,
mit dem Sie die Regelsätze der Sozialhilfe um den Betrag der Kindergelderhöhung anheben möchten.
({2})
Ich will einmal davon ausgehen, daß das gut gemeint ist.
Man könnte ja auch auf die Idee kommen, es sei eine
populistische Forderung und Sie wollten uns unterstellen, daß uns die Sozialhilfeempfänger gleichgültig seien.
({3})
Ich entgegne Ihnen darauf, daß wir die Sozialhilfe bereits um 3,5 Prozent angehoben haben, während die
Preissteigerungsrate nur bei 0,6 Prozent lag.
({4})
Ihr Modell würde dazu führen, daß die Kommunen noch
stärker durch Sozialhilfeleistungen belastet würden und
daß sie als Kostenträger mit hoher Wahrscheinlichkeit in
Präsident Wolfgang Thierse
anderen kinder- und jugendpolitischen Bereichen Einsparungen vornehmen würden.
({5})
Das haben wir auch auf dem Kindertag des Kinderhilfswerks in Berlin - die Ministerin war ja da - mit den hiesigen Trägern sehr intensiv diskutiert.
Wir verfolgen ein anderes Ziel.
({6})
Wir wollen nicht nur durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, sondern auch durch eine Verbesserung der sozialen
Infrastruktur die Grundlage dafür schaffen, daß Kinder
und Familien unabhängig von der Sozialhilfe werden.
Kollegin Gleicke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schenk?
Nein, ich möchte heute gerne im
Zusammenhang vortragen.
({0})
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht dehnt den
Armutsbegriff ausdrücklich auch auf die Lebenslagen
und die Umwelt der Kinder aus. Dazu gehören der Zugang zu Betreuungseinrichtungen, die Erreichbarkeit
von Schulen, die Spiel- und Freizeitmöglichkeiten zu
Hause, in der Nachbarschaft und in der näheren Umgebung. Dort, wo das Wohnen unattraktiv ist, beispielsweise wegen der hohen Umweltbelastung in den Innenstädten, gibt es soziale Brennpunkte bzw. entstehen
neue, wenn man nichts unternimmt. Mit unserem Programm „Die soziale Stadt“ machen wir die Städte auch
für Kinder und Jugendliche attraktiver. Wir fördern den
sozialen Wohnungsbau und arbeiten an einer gesamtdeutschen Wohngeldnovelle.
Kinder sind eine Bereicherung, nicht nur für ihre Eltern, sondern für die ganze Gesellschaft.
({1})
Deshalb ist auch die gesamte Gesellschaft für sie verantwortlich. Das sage ich in aller Deutlichkeit an die
Adresse all derer, die von Selbstverantwortung reden
und etwas ganz anderes meinen. Auch wir wollen mehr
Selbstverantwortung. Wir wollen aber keine Ellenbogengesellschaft, in der jeder gnadenlos seine eigenen
Interessen verfolgt. Gemeinwohl ist mehr als die Summe
von Einzelinteressen. Familien brauchen die Solidarität
der gesamten Gesellschaft.
({2})
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht sagt auch, daß
es zu den Aufgaben des Staates gehört, einen angemessenen und bedarfsgerechten Ausgleich zwischen denen,
die Kinder haben, und denen, die keine Kinder haben,
herzustellen. Es kann und darf doch nicht so sein, daß
ein Leben ohne Kinder Wohlstand bedeutet und ein Leben mit Kindern Verzicht und Entsagung.
({3})
Die Familien brauchen Unterstützung sowie gesicherte,
überschaubare und gerechte Rahmenbedingungen. Das
hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung eingefordert. Diese Entscheidung war gleichzeitig
eine nachträgliche Ohrfeige für die christliberale Koalition.
({4})
Wir haben das Familienförderungsgesetz und eine
Neuregelung des Familienleistungsausgleichs auf den
Weg gebracht. Ab dem Jahr 2000 gilt ein Betreuungsfreibetrag in Höhe von über 3 000 DM für jedes Kind
bis zur Vollendung des 16. Lebensjahrs. Das Kindergeld
wird noch einmal auf 270 DM im Monat für das erste
und zweite Kind erhöht. Diese Politik verdient wirklich
den Namen Kinder- und Familienpolitik.
({5})
Als Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU
und F.D.P., noch an der Regierung waren, haben Sie
sich nicht darum gekümmert. Das ist schlimm genug.
Etwas anderes finde ich ganz einfach beschämend:
Ich finde es unerträglich, wie Sie auf die Forderung nach
Ächtung der Gewalt in der Familie reagiert haben. Sie
haben damals behauptet, die Eltern würden durch entsprechende Gesetze in unverhältnismäßiger Weise kriminalisiert. Wir haben da andere Vorstellungen. Unser
Leitbild ist das einer gewaltfreien Erziehung. Durch das
Gesetz, das wir auf den Weg gebracht haben, sollen
Kinder vor körperlicher Bestrafung, seelischen Verletzungen und anderen Entwürdigungen geschützt werden.
Gleichzeitig wird ein Anspruch auf Beratung in einer
Not- und Konfliktlage festgeschrieben. Unser Anliegen
ist, die Eltern bei ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen.
Dabei ist festzustellen, daß die Länder mehr von den
Spielräumen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe
Gebrauch machen könnten, die ihnen durch die Ausführungsgesetze eingeräumt werden. Die Landesjugendämter haben hier eine wichtige Funktion, weil sie die
Tätigkeit der Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe und die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe anzuregen und zu fördern haben.
Der Kinder- und Jugendplan des Bundes fördert
zusätzlich die Handlungsfelder, die Leistungen für Kinder und Jugendliche bieten. Die Bundesregierung hat die
Mittel in diesem Haushalt deutlich - um 12 Millionen DM auf insgesamt 192 Millionen DM - erhöht. Wir
werden für die Weiterentwicklung präventiver Konzepte
und eine enge und verbindliche Kooperation und Vernetzung der Angebote sorgen, um frühzeitig, zielgenau
und umfassend Kindern und Jugendlichen helfen und sie
fördern zu können.
Die Chancengleichheit bleibt unser Ziel. Sie muß
endlich hergestellt werden. Das verlangt von uns eine
entschiedene Politik der sozialen Integration und der
Förderung benachteiligter Gruppen.
Beim Übergang in den Beruf stoßen insbesondere
Mädchen und junge Frauen nach wie vor auf große Hindernisse. Diese massive Benachteiligung im Erwerbsleben kann nicht länger hingenommen werden. Dafür
steht das Programm „Frau und Beruf“ der Bundesregierung.
Bundeskanzler Schröder hat in seiner letzten Regierungserklärung völlig zu Recht die Frage gestellt, wie
unsere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsere
Zukunft gestalten sollen,
({6})
wenn wir ihnen nicht einmal die Möglichkeit geben, für
sich selber zu sorgen. Deshalb war es so wichtig und
richtig, daß die neue Bundesregierung mit dem Sonderprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit entschlossen gegen diesen gesellschaftlichen Skandal vorgegangen ist.
({7})
Deshalb ist es gut, daß das Sonderprogramm allen Sparzwängen zum Trotz fortgesetzt wird. Für das Jahr 2000
werden erneut 2 Milliarden DM für laufende und neue
Maßnahmen zur Verfügung stehen.
({8})
Damit werden Brücken zu Ausbildung und Beruf geschlagen.
Aber auch die Arbeitgeber werden in die Verantwortung genommen. Im Rahmen des „Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ wurde ein
Ausbildungskonsens vereinbart. Allen Jugendlichen, die
bis zum heutigen Tage bei den Arbeitsämtern als unvermittelt gemeldet sind, wird je nach regionalen Gegebenheiten ein möglichst wohnortnahes Ausbildungsverhältnis im gewünschten Berufsfeld angeboten. Die Wirtschaft hat zugesagt, 1999 den demographisch bedingten
Zusatzbedarf an betrieblichen Lehrstellen zu decken und
mindestens 10 000 Lehrstellen zusätzlich anzubieten.
Darüber hinaus müssen Ausbildungsverbünde gestärkt
werden. Viele kleine und mittlere Unternehmen insbesondere im Handwerk sind nicht mehr zu einer vollständigen Ausbildung in der Lage. Ihnen müssen starke
Partnerbetriebe zur Seite gestellt werden.
Wir brauchen zukunftsorientierte Ausbildungsplätze.
Wir wollen in die Köpfe investieren. Die junge Generation hat längst verstanden, daß Innovation, Forschung
und Technologie wichtig sind. Berührungsängste kennt
sie in aller Regel nicht, im Gegenteil. Deshalb wollen
wir Zug um Zug die Schulen ans Netz bringen, nicht nur
um die Kinder und Jugendlichen mit einer faszinierenden Technik vertraut zu machen, sondern auch damit sie
lernen, mit dieser Technik verantwortungsvoll umzugehen. Denn die neuen Medien wirken auf die Persönlichkeit zurück und verändern gängige Wertvorstellungen. Wir müssen deshalb Wege finden, unsere Kinder
vor Inhalten wie Gewaltverherrlichung, Rassismus und
Pornographie wirkungsvoll zu schützen.
({9})
Verbote helfen da nur bedingt weiter. Was wir brauchen,
ist eine Erziehung zur Eigenverantwortung. Die Kinder
und Jugendlichen müssen einen Sinn darin sehen, in dieser Welt zu leben. Es geht um die Kultur des Aufwachsens in unserem Land.
Jugendliche lassen sich nicht einfach vorschreiben,
welche Wertvorstellungen sie haben sollen. Wenn unsere Werte Bestand haben sollen, dann müssen sie in der
Realität erlebbar sein. Vor allem wollen Jugendliche
Politik nicht einfach nur nachvollziehen. Sie wollen
vielmehr aktiv mitgestalten. Deshalb werden wir Kindern und Jugendlichen helfen, sich stärker direkt an der
Demokratie zu beteiligen.
Im Bildungsprozeß müssen Eigenschaften erworben
werden, die für den Erhalt und die Weiterentwicklung
eines sozialen und demokratischen Zusammenlebens
wichtig sind. Wir stehen in der Verantwortung, die
Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß sich die
Kinder und Jugendlichen entfalten und zu selbstbewußten Menschen heranwachsen können.
Es besteht die Chance, die Jugend für die Idee einer
offenen, freiheitlichen und sozialen Demokratie zu begeistern. Das bedeutet einen Staat, der nicht bevormundet, sondern Freiheit garantiert sowie Chancen und Perspektiven eröffnet, Bildungsstätten, die jedem Mann und
jeder Frau zugänglich sind, soziale Sicherungssysteme,
die als Solidargemeinschaften bei Krankheit und Not
eintreten und über einen gerechten Generationenvertrag
im Alter ein Leben in Würde ermöglichen, eine Gesellschaft, in der es sich lohnt, Verantwortung für andere zu
übernehmen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich erteile der Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Der Zehnte Kinderund Jugendbericht vom 25. August 1998, den unsere
frühere Bundesjugendministerin Claudia Nolte vorgelegt
hat, ist der erste Bericht, der sich ausschließlich Kindern
und Jugendlichen unter 14 Jahren widmet.
({0})
Er enthält viele Vorschläge, wie die Situation von Kindern und Jugendlichen verbessert werden kann. Der Bericht ist eine gute Grundlage zur Weiterentwicklung der
Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Er enthält viele
positive Vorschläge.
Ich hätte mir seinerzeit im Interesse der Familien und
Kinder eine sachliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des Berichts gewünscht. Doch Sie, meine
Damen und Herren von der damaligen Opposition, haIris Gleicke
ben einen dreihundertseitigen Bericht auf einen einzigen
Aspekt verengt, nämlich auf den der Kinderarmut. Wer
damals die von Ihnen aufgeregt angezettelte Kampagne
verfolgt hat, um den Bericht zu einem reinen Armutsbericht abzustempeln, der kann sich heute nur wundern.
Sie haben den Bericht zu reinen Wahlkampfzwecken
mißbraucht.
({1})
Sie haben versprochen, Kinderarmut zu beseitigen.
Was ist aus Ihren vollmundigen Versprechungen geworden? Sie haben bisher keinen einzigen neuen Arbeitsplatz geschaffen. An diesem Maßstab wollten Sie sich
immerhin messen lassen.
({2})
Sie planen, die Arbeitslosenhilfe abzubauen. Dies
hätte die Folge, daß weitere Haushalte mit Kindern
in die Abhängigkeit von Sozialhilfe gelangen würden. Die Familien, die bereits von Sozialhilfe leben, haben Sie mit Ihrer Steuerpolitik noch mehr belastet. Denn
die Auswirkungen der Energiesteuer treffen diese Familien ganz besonders, ohne daß sie an einer Entlastung
durch eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge
teilhaben.
({3})
Auch die Kindergelderhöhung geht an den Sozialhilfeempfängern vorbei. Kinderreiche haben Sie grundsätzlich aus Ihrer Förderung ausgeschlossen; denn es
gab keine Erhöhung für das dritte Kind und für weitere
Kinder. Auch im jetzt eingereichten Gesetzentwurf ist
dies nicht vorgesehen. Wie wir gestern in der Anhörung
zur Familienförderung gehört haben, wird dies von den
Verbänden als grobe Ungerechtigkeit empfunden.
({4})
Während unserer Regierungszeit haben wir die Leistungen für Familien von 27 Milliarden DM auf 77 Milliarden DM erhöht, also immerhin fast verdreifacht. Das
müssen Sie erst einmal nachmachen.
({5})
Der Vorschlag zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes ist, wie der Präsident des Deutschen Familienverbandes zu Recht feststellt, nur eine
Minimallösung und für Familien eine tiefe Enttäuschung. Sie haben im Wahlkampf große Erwartungen
geweckt, denen Sie jetzt in keinster Weise gerecht werden.
({6})
Und was das Schlimmste ist: Sie haben nicht nur den
Bericht, sondern vor allem die sozial Schwachen mißbraucht, um Stimmen zu gewinnen.
({7})
Gerade weil das Thema Armut sehr ernst zu nehmen ist
und wir kontinuierlich daran arbeiten müssen, Armut zu
verringern, sage ich Ihnen: Dieses Verhalten ist schäbig.
({8})
Keiner von uns hat je bestritten, daß es Armut in
Deutschland gibt.
({9})
So kann zum Beispiel Arbeitslosigkeit zu einer solchen
Situation führen. Wir müssen Armut von den Wurzeln
her bekämpfen.
({10})
Die Reformen, die wir eingeleitet haben, wurden von
Ihnen rückgängig gemacht. Sie dienten der Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. Ihre bisherige Politik hat dagegen
Arbeitsplätze vernichtet.
({11})
Ich erinnere nur an das 630-Mark-Gesetz.
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht, der sich auf
unsere Regierungszeit bezieht, stellt fest: Kindheit in
Deutschland ist eine gute Kindheit. Kinder können gesund aufwachsen. Ihnen stehen Schulen und Kindergärten offen. Das ist erfreulich. Und doch müssen wir weiter darauf hinwirken, daß die Kinderfreundlichkeit in der
Gesellschaft zunimmt. Kinder und Jugendliche brauchen
ein Klima der Sicherheit, in dem sie angstfrei leben
können. Sie sind angewiesen auf Anerkennung, Perspektiven und auch Verläßlichkeit.
Was haben Sie denn bislang getan, um Kindern und
Jugendlichen zu mehr Schutz zu verhelfen? Sie wollten
- so sieht es die Koalitionsvereinbarung vor - wirksamere Konzepte zum Schutz von Kindern vor sexueller
Gewalt entwickeln. Die Bundesjugendministerin bezeichnet dieses Thema als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Aber wo bleiben denn die Konzepte?
({12})
Wo bleibt die Weiterentwicklung der einschlägigen Gesetzgebung?
Sie erinnern sich: Auf Initiative der Union wurden in
der letzten Legislaturperiode eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen gegen Sexualverbrechen verabschieMaria Eichhorn
det. Ein Meilenstein war das im April 1998 in Kraft getretene Strafrechtsreformgesetz. Es hat für den sexuellen
Mißbrauch von Kindern und die Verbreitung kinderpornographischer Schriften eine stärkere strafrechtliche
Bewertung und ein bedeutend höheres Strafmaß als zuvor festgelegt. Weiterhin haben wir die Sicherungsmaßnahmen gegen rückfällige Täter verschärft. Besonders
wichtig sind auch die von uns initiierten Regelungen zur
Verbesserung des Schutzes kindlicher Opferzeugen.
Hinzu kommen vielfältige Präventionsmaßnahmen.
Bei Ihnen lese ich bisher nur Absichtserklärungen,
auch in dem heute vorgelegten Entschließungsantrag,
mehr nicht. Sie bräuchten nur unsere Empfehlungen
aufzugreifen
({13})
und könnten so den Schutz der Kinder wirksam weiterentwickeln.
({14})
Wir fordern, daß das Anbieten von Kindern für
Straftaten des sexuellen Mißbrauchs, besonders mittels
moderner Kommunikationstechnologien, härter bestraft
wird. Es ist Ihre Aufgabe, darauf hinzuwirken, daß in
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union europaweit
ausreichende Standards zur Bekämpfung der Kinderpornographie und sonstiger sexueller Ausbeutung von
Kindern und Jugendlichen geschaffen werden.
Wie kommen Sie denn Ihrer Pflicht nach, den Jugendschutz in den Medien zu verbessern? Bislang Fehlanzeige! Besonders die neuen Medien bieten viele
Chancen, aber auch Gefahren für Jugendliche. Die Union hat dafür gesorgt, daß mit dem Inkrafttreten des
Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetzes
nationale Schutzregelungen geschaffen wurden, die auch
international Vorbildfunktion haben.
Zum Ende der letzten Legislaturperiode hat meine
Fraktion einen Entschließungsantrag zum nationalen und
internationalen Jugendschutz vorgelegt. Er ist eine gute
Grundlage und Fundgrube für Ihre weitere Arbeit, wenn
Sie irgendwann einmal damit anfangen.
Die Kinder- und Jugendkriminalität ist ein alarmierendes Zeichen, auch wenn glücklicherweise nur eine
Minderheit der Jugendlichen kriminelle Taten begeht.
Die Kinder- und Jugendhilfe leistet einen wichtigen
Beitrag, um Jugendlichen, die auf die schiefe Bahn geraten sind, zu helfen. Doch das Grundwissen um Recht
und Unrecht, das der wichtigste Baustein der Prävention
ist, muß bereits in der Familie vermittelt werden. Hier
müssen zur Herausbildung des Rechtsbewußtseins
Werte wie Ehrlichkeit, Treue, Verantwortung und Rücksichtnahme geprägt werden.
Besonders im Hinblick auf jugendliche Täter ist die
elterliche Erziehungsverantwortung zu stärken. Ich frage
mich, meine Damen und Herren von der Regierungsfraktion: Wie sieht Ihr Beitrag zur Bekämpfung der Jugendkriminalität aus?
({15})
Wenn wir heute ernsthaft darüber sprechen, daß elterliche Erziehungsverantwortung gestärkt werden soll, dann
ist es schon ein Stück aus dem Tollhaus, wenn Mitglieder der Regierungsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
gleichzeitig eine Amnestie für Kleinkriminelle fordern.
({16})
Wie sollen denn Eltern darin bestärkt werden, ihren
Kindern den Unterschied zwischen Recht und Unrecht
beizubringen? Wie sollen sie die Einsicht in die Folgen
von Gesetzesübertretungen vermitteln, wenn Vertreter
der Regierungsfraktionen die Diskussion um Schuld und
Strafe der Lächerlichkeit und Beliebigkeit anheimstellen?
({17})
Wir haben mit der Reform des Kindschaftsrechts
die Rechte von Kindern nachhaltig gestärkt, was in dem
Bericht eine sehr positive Resonanz findet. Die von der
Regierung jetzt vorgelegte gesetzliche Festschreibung
des Rechts auf gewaltfreie Erziehung wird nichts bringen; denn die bestehenden gesetzlichen Tatbestände
wenden sich heute schon gegen unzulässige Erziehungsmethoden. In den Köpfen der Eltern und Erziehungsberechtigten muß sich etwas tun. Da haben Sie die
Möglichkeit, entsprechende Aufklärungsarbeit zu leisten.
({18})
Meine Damen und Herren, welche Perspektiven bieten Sie den Jugendlichen? Ihr Sofortprogramm gegen
Jugendarbeitslosigkeit hat sich als Potemkinsches Dorf
entwickelt, wie in der „FAZ“ vom 14. September 1999
nachzulesen ist.
Kollegin Eichhorn,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolf?
Bitte.
Danke schön. - Frau
Eichhorn, da Sie in Bayern und damit in der Nähe von
Österreich leben und da Sie in der letzten Legislaturperiode Mitglied im Familien- und Frauenausschuß waren,
frage ich Sie, ob Sie sich noch daran erinnern, wie wir
das dort diskutiert haben und was der Vertreter aus
Österreich gesagt hat? Er hat gesagt, auch sie wollten
nicht den Strafrichter in die Ehen bringen. Aber es sei
eine Frage der Bewußtseinsbildung, daß Kinder eine Erziehung erfahren dürften, die gewaltfrei sei. Er sagte, es
sei eine ganz wesentliche Bewußtseinsfrage, und deswegen hätten sie es in ihre Gesetzgebung hineingeschrieben. Können Sie dem folgen - wir machen doch auch
Gesetze zur Bewußtseinsveränderung - und sagen, daß
unsere Kinder gewaltfrei erzogen werden müssen?
Sehr geehrte Frau
Kollegin Wolf, wir haben mit der Reform des Kindschaftsrechts bereits einen entsprechenden Passus in das
Gesetz eingefügt - das wissen Sie -, der genau dieser
Bewußtseinsbildung dient. Eine Kriminalisierung der
Eltern, liebe Frau Kollegin, lehnen wir auf jeden Fall ab.
({0})
Ich komme zurück zu dem Artikel aus der „FAZ“
vom 14. September 1999, in dem es heißt, daß sich das
Sofortprogramm der Regierung zur Jugendarbeitslosigkeit als Potemkinsches Dorf erwiesen hat;
({1})
denn das Programm ersetzt keine Lehrstellen und keine
Arbeitsplätze.
({2})
Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit wie der
Arbeitslosigkeit insgesamt müssen Sie endlich eine
Steuerreform in Angriff nehmen, die die Wirtschaft, insbesondere den Mittelstand, entlastet, damit wieder neue
Arbeitsplätze geschaffen werden. Zur Verbesserung der
Chancen der Jugendlichen auf dem Ausbildungs- und
Arbeitsmarkt sollten Sie in den noch von Ihnen regierten
Bundesländern - es werden immer weniger - eine Bildungsreform vornehmen, die Schüler und Auszubildende auch international wettbewerbsfähig macht.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie haben noch einen weiten Weg vor sich. Nur durch Taten
können Sie beweisen, daß Sie die Verantwortung für
Kinder und Jugendliche ernst nehmen; denn Ankündigungen ersetzen keine Politik. Und das, was Sie bisher
im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik gemacht haben, Frau Ministerin, waren nur Ankündigungen.
({3})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Anlaß der heutigen Debatte ist eine Serie von Skandalen: der Skandal, daß es in einem der reichsten Länder
der Welt Kinderarmut gibt, der Skandal, daß diese
Kinderarmut in den letzten Jahren stark zugenommen
hat, und vor allem der Skandal, daß die alte Regierung
von Union und F.D.P. diesen Skandal zuerst vertuschen
und dann beschönigen wollte.
({0})
Dieser Skandal setzt sich leider in dem heute vorliegenden Entschließungsantrag von CDU und CSU fort.
Wer die reale Armut in diesem Land, wer die Erkenntnisse von unabhängigen, von ihm selbst bestellten Sachverständigen ohne schlüssige Argumente anzweifelt,
verspielt für mich jede kinderpolitische Glaubwürdigkeit.
({1})
Unabhängig davon ist festzustellen: Vielen Kindern
in unserem Land geht es heute besser als früheren Generationen von Kindern. Der Familienalltag ist demokratischer geworden, und der materielle Standard ist besser
denn je, aber eben nur im Durchschnitt, denn Armut ist
leider kein Randgruppenproblem mehr. Sie trifft das
Kind, dessen Vater zuwenig oder keinen Unterhalt bezahlt, sie trifft das Kind von arbeitslosen Eltern, und sie
trifft auch immer mehr Kinder in Familien mit regelmäßigem Einkommen. Das ist die Erblast, die die rotgrüne
Regierung hier vorgefunden hat.
Eine kinderfreundliche Politik kann uns erst dann gelingen, wenn sie auch den Wandel in den Familienstrukturen berücksichtigt. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht fordert aus vielen Gründen mehr Rechte für
Kinder.
Kollegin Deligöz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rönsch?
Nein,
ich werde dadurch doch nicht schlauer.
({0})
Das heißt zum einen, Kinder als eigenständige Persönlichkeiten ernst zu nehmen und ihre Beteiligungsrechte auszubauen, und auch deshalb fordern die Koalitionsfraktionen die Rücknahme der Vorbehalte der alten
Regierung gegen die UN-Kinderrechtskonvention.
Zum anderen wollen wir einen besseren Kinderschutz; denn es ist längst erwiesen: Die meisten Gewaltund Sexualverbrecher waren in ihrer Kindheit selbst Opfer brutalster Gewalt. Dem Kreislauf, daß Täter selbst
Opfer waren und später andere zu Opfern machen, wollen wir durchbrechen. Das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung ist dafür ein wichtiges rechtspolitisches Instrument.
({1})
Wir werden uns trotz der schwierigen Haushaltslage
dafür einsetzen, daß genügend Mittel für Aufklärung,
Prävention und Beratung zur Verfügung stehen. Ihr Einsatz für Beratungsstellen, aber auch für bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten ist sehr lobenswert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, und wenigstens
an dieser Stelle deutet sich bei Ihnen ein Kurswechsel
an. Wir werden Sie an Ihren Taten messen, nicht zuletzt
in der Länderkammer und in den Kommunen.
Thematisieren werden wir in dieser Wahlperiode aber
auch die ökologischen Kinderrechte, denn immer mehr
Kinder leiden an Rückenschmerzen, an Allergien, an
chronischen Krankheiten wie Asthma und NeurodermiMaria Eichhorn
tis. Viele dieser Gesundheitsprobleme sind umweltbedingt. Noch immer werden die Schadstoffgrenzwerte an
normalgewichtigen Erwachsenen ausgerichtet, und Luftschadstoffe werden in Nasenhöhe von Erwachsenen erfaßt. Das muß und das wird eine rotgrüne Umweltpolitik
ändern.
({2})
Leider nur gegen das Votum der Union tritt das neue
Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft. Hier geborene
Kinder ausländischer Eltern werden damit rechtlich von
Geburt an das, was sie nach unserem Willen bereits sind
und auch bleiben werden: Sie werden zu Inländern und
Inländerinnen. Dieses Geburtsrecht auf einen inländischen Paß ist nach internationaler Erfahrung ein wichtiger Baustein für eine gelungene Integration, und es ist
fair. Kinder ausländischer Eltern können nun zum Beispiel an Klassenfahrten ins Ausland teilnehmen, ohne
von Visabestimmungen behindert zu werden.
Mitentscheiden müssen Sie von der Opposition auf
jeden Fall beim Familienleistungsausgleich. Das Urteil
des Verfasssungsgerichts zur Familienbesteuerung hat
vor allem auf die Höhe der steuerlichen Freibeträge abgestellt. Diese entlasten um so stärker, je höher das Einkommen der Eltern ist. Um so wichtiger ist uns deshalb
eine weitere Erhöhung des Kindergeldes. Zum 1. Januar
2000 wird nun der Freibetrag erhöht, gleichzeitig aber
auch das Kindergeld für die ersten beiden Kinder um
nochmals 20 DM angehoben.
Das bedeutet eine Kindergelderhöhung von jährlich
600 DM pro Kind - und das innerhalb der ersten
15 Monate der rotgrünen Regierung.
({3})
Alleinerziehende mit kleinen und mittleren Einkommen
dürfen bei dieser Neuregelung des Familienleistungsausgleichs nicht benachteiligt werden. Die von uns eingeholten Expertisen bestätigen, daß dieses Ziel erreichbar ist.
({4})
Ganz wichtig ist mir ein weiterer sozialpolitischer
Punkt: Nach der bisherigen Gesetzeslage profitieren Sozialhilfeempfänger von dieser Kindergelderhöhung
nicht. Denn das gesamte Kindergeld und damit auch jede Erhöhung werden als Einkommen gewertet und von
der Sozialhilfe abgezogen. Nach den Befunden im
Zehnten Kinder- und Jugendbericht über die dramatische Erblast in bezug auf Kinderarmut halten wir dies in
der Tat für nicht hinnehmbar. Meine Fraktion hat deshalb nach Wegen gesucht, damit die im kommenden
Jahr anstehende Kindergelderhöhung auch den sozial am
meisten benachteiligten Kinder zugute kommt.
({5})
Dafür bieten sich zwei Wege an: Ein Weg ist die
Schaffung eines Sondertatbestands, zum Beispiel für den
Kinderbetreuungsaufwand, im Warenkorb der Sozialhilfe. Bei einer solchen Regelung ist allerdings darauf zu
achten, daß dieser Posten in der Praxis nicht mit anderen
Leistungen verrechnet werden kann, etwa mit den von
den Sozialhilfeträgern übernommenen Kindergartengebühren.
Ein anderer Weg ist eine Freistellungsregelung im
Kindergeldgesetz. Die Kindergelderhöhung um 20 DM
wird dabei als nicht anrechenbar auf andere Sozialhilfeleistungen definiert. Eine solche Freistellungsregelung
würde sich in eine lange Reihe von ähnlichen Bestimmungen einfügen, die schon heute Gültigkeit besitzen,
Freistellungsregelungen, die für alle bedürftigkeitsbezogenen Leistungen gelten, also auch für die Sozialhilfe.
Weil der Lösungsweg aus meiner Sicht noch offen
ist, kann ich dem PDS-Antrag an dieser Stelle nicht zustimmen. Ich finde es wieder einmal sehr bezeichnend,
daß sich die PDS zwar eine richtige Forderung ans Revers heftet, sich aber keine Gedanken über Umsetzungsprobleme macht. Das ist Opposition de Luxe.
({6})
Welcher Weg auch gewählt wird, die gute Nachricht
ist auf jeden Fall: Wir nehmen diese Sache mehr als
ernst. Ich hoffe, daß wir in der Koalition einen gemeinsamen Weg dafür finden werden, der nicht nur das
Sparpaket schont, sondern auch eine angemessene
Kompensation für die Kommunen vorsieht.
Auch Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker müssen
sich dem Kriterium der Generationengerechtigkeit
stellen. Die Schuldenlast des Bundes hat sich seit Beginn der 80er Jahre mehr als versechsfacht. Jährlich
müssen allein 80 Milliarden DM für Zinszahlungen aufgewendet werden. Wir meinen: Die Finanzierung der
Staatsaufgaben darf nicht auf künftige Generationen abgeschoben werden.
({7})
Dennoch ist klar, daß heute unterbleibende Ausgaben
für eine faire Bildungspolitik nicht folgenlos bleiben.
Zur Nachhaltigkeit gehört deshalb auch, daß wir die externen Kosten einer Sparpolitik offenlegen und vermeiden müssen, also Kosten, die durch Krankheit, sozialen
Abstieg sowie durch die Vergeudung von Talenten und
von gesellschaftlichen Ressourcen entstehen. Auch in
der Sparpolitik brauchen wir Kostenwahrheit. Generell
muß gelten: Bei den Kurzen wird nicht gekürzt!
Gerade in der Kinderpolitik sehe ich es als entscheidende Aufgabe, die Wahrnehmung für soziale Zusammenhänge zu schärfen. Denn nur so können wir die
Grundlagen dafür schaffen, daß eine freiheitliche Gesellschaft auf Dauer am Leben erhalten wird. Dies sollte
das Wissen um die Veränderbarkeit von sozialen Zuständen und vor allem den Willen, etwas zu verändern,
umfassen. Fehlen diese Voraussetzungen, entsteht ein
Nährboden für autoritäres Denken und repressive
Handlungsmuster. Die Passage im vorliegenden
CDU/CSU-Antrag, in dem gefordert wird, daß das Erwachsenenstrafrecht wieder bei Jugendlichen angeEkin Deligöz
wendet wird, ist in diesem Zusammenhang ein trauriges
Negativbeispiel.
({8})
Ähnliches erleben wir übrigens auch bei Migrantinnen
und Migranten, deren Probleme nicht auf soziale
Schwierigkeiten, sondern auf scheinbar unveränderliche
Faktoren wie Kultur und Religion zurückgeführt werden.
Zwei weitgehend verlorene Jahrzehnte in der Kinderund Jugendpolitik können wir mit einem einzigen Kraftakt nicht beheben. Der Weg zu einer kinderfreundlicheren Gesellschaft ist keine Kurzstrecke, sondern ein Marathon. Die rotgrüne Koalition ist auf diesem Weg erste
Schritte gegangen. Sie ist entschlossen, diesen Weg fortzuführen. Das ist in unserem Entschließungsantrag dokumentiert, und darauf können wir stolz sein.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun
der Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sind uns einig: Kinder sind
die Zukunft unserer Gesellschaft. Deshalb begrüßt die
F.D.P.-Fraktion diese kinderpolitische Debatte in diesem
Hohen Hause.
Wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig werden will,
muß sie Kindern mehr Chancen bieten. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht enthält wichtige Anregungen für
die zukünftige Kinderpolitik; wir danken ausdrücklich
der Kommission für ihre differenzierte und präzise Arbeit.
({0})
Die F.D.P. unterstützt grundsätzlich die von der Kommission geforderten Verbesserungen zur Kinderpolitik.
Ich möchte auf einiges eingehen.
Wichtig für die Entwicklung und das Aufwachsen
von Kindern ist ein intaktes Lebensumfeld. Es muß
nicht perfekt und problemlos sein, es muß aber Lösungen anbieten. Gute Wohnbedingungen sind für das
Aufwachsen der Kinder und für ihre Familien unabdingbar. Aber Kinder brauchen mehr Lebensraum auch im
unmittelbaren Wohnumfeld, etwa Spielplätze, Rückzugsräume und eine kindgerechte Infrastruktur.
({1})
Dabei sind die altersspezifisch differenzierten Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Wenn wir Kinder als Subjekte betrachten, müssen wir
sie ihrem Entwicklungsstand gemäß an den Entscheidungen beteiligen, die ihr Kinderleben berühren. Bei der
Planung der Stadt, des Wohnumfeldes oder des Verkehrs müssen Kinder stärker als bisher in die Entscheidungen einbezogen werden. Wirkliche mitbürgerliche
Kinderbeteiligung stellt nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Lebensumfeldgestaltung für Kinder dar, sondern
auch einen Beitrag für Erziehung zu demokratischem
Grundverhalten. Wesentlich für eine neue Kultur des
Aufwachsens unserer Kinder ist aber auch mehr Rücksichtnahme auf kindliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen im Alltag.
Neben diesem äußeren Lebensumfeld müssen wir
auch im inneren Lebensumfeld auf die Bedürfnisse der
Kinder Rücksicht nehmen. Das betrifft insbesondere
pornographische, gewaltverherrlichende Darstellungen
in den Medien, vor allem im Internet. Es muß einen
Raum, auch einen Zeitraum geben, wo sich Kinder frei
von schädlichen Einflüssen entwickeln können.
Der Familie kommt hier besondere Bedeutung zu.
Sie ist der wichtigste Ort für Kinder, um soziale Kompetenz zu entwickeln. Dabei muß der Begriff der Familie weit gefaßt werden; die heute in der Gesellschaft
vielfältig gegebenen Lebensentwürfe müssen berücksichtigt und toleriert werden. Jede Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft, in der Menschen miteinander leben und füreinander einstehen und in der Kinder aufwachsen, ist gleich zu behandeln; denn es geht um
Chancengleichheit für die Kinder, nicht um die Bewertung der Lebensentwürfe ihrer Eltern.
({2})
Selbstverständlich ist die finanzielle Ausstattung der
Familien ein entscheidender Faktor. Leider hat die Diskussion um den Begriff der Kinderarmut die Sachdiskussion um die wirtschaftliche Lage von Familien mit
Kindern im Kinder- und Jugendbericht zu sehr in den
Hintergrund gedrängt. Wie Armut zu definieren ist, ist
umstritten. Die Kommission mißt nicht Armut, sondern
Einkommensungleichheit.
Unabhängig von der Definition von Armut dürfen die
wirtschaftlichen Probleme von Familien mit Kindern
natürlich nicht vernachlässigt werden. Wir verkennen
nicht, daß es in vielfältiger Weise Not bei Kindern und
Jugendlichen gibt. Ebenso vielfältig müssen aber auch
die Lösungsansätze sein. Es trifft doch zu, daß gerade
Familien mit Kindern erheblichen finanziellen Belastungen ausgesetzt sind. Zugleich wird der Beitrag, den sie
durch das Erziehen der Kinder leisten, bisher nicht in
ausreichendem Maße honoriert. Die steigende Zahl von
Kindern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, ist ein
Alarmsignal.
Die F.D.P. begrüßt, daß die Bundesregierung durch
das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Handeln gezwungen wurde. Der von der Bundesregierung
vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Familienförderung geht aber unserer Ansicht nach nicht weit genug.
({3})
Von der Neuregelung in Form höherer Steuerfreibeträge
haben Familien mit geringem Einkommen nichts: Zwar
gibt es 20 DM mehr an Kindergeld, doch bei SozialhilEkin Deligöz
feempfängern wird das Kindergeld mit der Sozialhilfe
verrechnet. Bei den sozial Schwächsten kommt von der
Kindergelderhöhung nichts an.
Alleinerziehende werden durch den Wegfall des
§ 33 c Einkommensteuergesetz sogar schlechtergesellt
als bisher. Dazu kommt, daß die Regierung durch den
Ökosteuerunfug Familien mit Kindern in besonderem
Maße abschöpft.
({4})
Das, meine Damen und Herren, ist keine Familienpolitik
für die sozial Schwachen und schon gar kein sozialpolitischer Quantensprung.
({5})
Kein Wunder, daß die Enttäuschung bei vielen Familien
und vor allen Dingen bei den Familienverbänden sehr
groß ist!
({6})
Die F.D.P. fordert, daß das familiäre Existenzminimum, das aus dem existentiellen Sachenbedarf des Kindes, dem Betreuungsbedarf ab dem Jahr 2000 und dem
Erziehungsbedarf ab dem Jahre 2002 besteht, als Familiengeld zusammengefaßt wird. Erreicht das familiäre
Einkommen dieses Existenzminimum nicht, soll eine
Aufstockung als Kindergeldzuschlag erfolgen. Zusätzlich sollte es die Möglichkeit geben, Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten oder Betriebsausgaben
über den steuerlichen Pauschbetrag hinaus abzusetzen.
Meine Damen und Herren, Not bei Kindern und Jugendlichen hat aber noch andere Ursachen als die finanzielle Lage der Familien. Kinder leiden in unserer Gesellschaft nicht primär an ökonomischer Armut, sondern
vielmehr an emotionaler Armut.
({7})
Kinder brauchen Anerkennung und Geborgenheit. Sie
brauchen Menschen, die sie schützen, wenn sie nicht
weiterwissen oder weiterkönnen. Kinder brauchen buchstäblich menschliche Nähe und Wärme. Die aus dem
Mangel an emotionaler Zuwendung resultierende Not
von Kindern führt allzuoft zum Mißbrauch von Drogen,
zur Ausflucht in Gewalt oder in die Kriminalität. Hier
sind neben der Bundesregierung Länder und Kommunen, vor allem Kirchen, Schulen und ganz besonders
Eltern sowie jeder einzelne Bürger verantwortlich. Das
unverzichtbare Engagement des einzelnen für unsere
Kinder kann nicht durch Gesetze und staatliche Vorschriften allein verordnet werden.
({8})
Kinder sind gegenüber jeder Gewalt, die ihnen angetan wird, wehrlos. Besonders unmenschlich ist es, wenn
Kinder von denen verraten werden, denen sie besonders
vertrauen: von Eltern und Betreuern. Von den engsten
Bezugspersonen im Stich gelassen, sind sie mit ihrem
Leid völlig allein. Wir müssen gemeinsam alles daransetzen, gegen die Scheußlichkeit des sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu kämpfen und Kinder vor einem
Schicksal zu bewahren, das eigentlich in unvorstellbarer
Weise erniedrigt, demütigt und quält, das ihnen die
Kindheit nimmt und ihr ganzes weiteres Leben vergiftet.
({9})
Kinderschänder müssen geächtet werden. Wir dürfen
aber auch die Opfer nicht allein lassen. Wir müssen alles
tun, um ihnen trotz der erlittenen Gewalt die Chance
eines erfüllten Lebens zurückzugeben.
Die frühere Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat hier eigentlich Eindrucksvolles geleistet.
({10})
Liberale Justizminister wie Klaus Kinkel, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
haben mit großem Engagement dafür gesorgt, daß die
Herstellung und Verbreitung kinderpornographischer
Darstellungen mit bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug bestraft wird.
({11})
und daß der Mißbrauch von Kindern durch Deutsche im
Ausland auch in Deutschland strafrechtlich verfolgt
wird.
({12})
Auch die Verbesserung beim Schutz kindlicher Zeugen
trägt die Handschrift konsequenter liberaler Rechtspolitik.
({13})
Meine Damen und Herren, am 20. November wird
die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen
zehn Jahre alt. Sie ist eine wesentliche Grundlage für
Kinderpolitik zur Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft. Die F.D.P.-Fraktion hat die seinerzeitige
Vorbehaltserklärung der Bundesregierung bedauert.
({14})
SPD und Grüne waren als Oppositionsparteien gegen
diese Vorbehalte. Wir fordern Sie auf, der damaligen
Oppositionshaltung nun auch in der Regierungsverantwortung das entsprechende Handeln folgen zu lassen.
({15})
Wir werden es mit Sympathie begleiten.
Heben Sie die Vorbehalte auf. Sachlich ist diese Erklärung wegen der nicht gegebenen Rechtswirksamkeit
ohnehin überflüssig. Doch symbolisch wirkt sie wie ein
Vorbehalt gegen fortschrittliche Kinderpolitik. Sie belastet den Dialog mit den Kinderorganisationen, die einen
wesentlichen Beitrag für die zukünftige Gestaltung unKlaus Haupt
serer Gesellschaft leisten. Die Kinderkonvention muß
mit wirklichem Engagement umgesetzt werden, denn sie
ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer besseren Welt
für unsere Kinder.
Ein wichtiger Punkt der Kinderrechtskonvention ist
das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung. Unsere Gesellschaft braucht eine verstärkte Sensibilisierung
für gewaltfreie Erziehungsmittel.
({16})
Der verhängnisvolle Kreislauf von gelernter und weitergegebener Gewalt muß durchbrochen werden. Wir fordern insbesondere das Familienministerium auf, Überzeugungsarbeit gerade bei jungen Familien für gewaltlose Erziehung zu leisten. Denn die gesellschaftliche
Norm muß klar sein: Gewalt ist kein Erziehungsmittel.
({17})
Dieses Denken muß auch das vermeintliche Züchtigungsrecht ersetzen.
Unsere Gesellschaft braucht aber auch Zivilcourage
und Engagement der Menschen, die außerhalb der Familien als erste auf Mißhandlung von Kindern aufmerksam werden und helfend eingreifen könnten. Ärzte, Lehrer, Sportvereinstrainer und andere können bei entsprechender Aufmerksamkeit Gewalt gegen Kinder aufdekken und Hilfsmaßnahmen einleiten, wenn sie entsprechende Hilfen durch die Jugendämter etc. an die Hand
bekommen.
Die von der Koalition mit einer Gesetzesnovelle verfolgte Absicht, Gewalt in der Erziehung zu ächten, werden wir kritisch begleiten. Die F.D.P. wird intensiv an
den Beratungen der Gesetzesnovelle mitwirken, um eine
klare und praxisnahe Definition des Gewaltbegriffes zu
erreichen.
({18})
Eltern dürfen nicht kriminalisiert werden. Besonders die
internationalen Erfahrungen mit einem Gewaltverbot in
der Erziehung müssen berücksichtigt werden.
Meine Damen und Herren, auch Perspektivlosigkeit
ist ein Problem für Kinder in unserem Land. Das betrifft
alle Felder politischen Handelns. Perspektiven eröffnet
eine solide Wirtschaftspolitik, zum Beispiel mit einem
einfachen, dreigegliederten Steuersystem, am besten
mit den Steuersätzen 15, 25 und 35 Prozent. Wer statt
dessen Industrien von vorgestern subventioniert, während er zukunftsträchtige Technologien und Projekte
aufs Abstellgleis schiebt, beraubt die jüngere Generation
wesentlicher Chancen.
({19})
Perspektiven eröffnet eine Bildungspolitik mit flexiblen
Strukturen, verkürzten Ausbildungszeiten, höheren
Qualitätsstandards. Hochbegabte aus allen Bildungsschichten müssen frühzeitig erkannt und individuell gefördert werden.
({20})
Ebenso ist die individuelle Förderung von Lern- und
Leistungsschwachen sowie von Kindern mit Behinderungen unabdingbar. Perspektiven eröffnet der Erhalt
der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundlage für die künftigen Generationen. Ja, wir laufen in
Deutschland Gefahr, die Wohltaten von heute durch
Hypotheken zu Lasten kommender Generationen zu
finanzieren.
Politik für die Zukunft unserer Kinder bedeutet
schließlich auch, Gerechtigkeit zwischen den Generationen herzustellen. Die F.D.P. fordert daher die Bundesregierung auf, jährlich eine Generationenbilanz vorzulegen. Sie muß auf der einen Seite die Leistungen für Bildung und Ausbildung und auf der anderen Seite die Belastungen durch Staatsverschuldung, Pensionslasten,
Generationenverträge wie die gesetzliche Rentenversicherung darstellen. Eine solche Generationenbilanz ist
auch ein wichtiger Baustein für die Sicherung der Zukunft unserer Kinder.
({21})
Kinderpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Wer eine
kinderfreundliche Gesellschaft schaffen will, muß in allen Lebensbereichen mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse von Kindern nehmen. Alles staatliche Handeln muß
daraufhin überprüft werden, ob es der zukünftigen Generation Lasten auferlegt oder sie entlastet. Kinderfreundliche Politik bedeutet, Kinderrechte zu stärken,
unseren Kindern Perspektiven offenzuhalten und neue
zu eröffnen. Die F.D.P. wird jede Bemühung in dieser
Hinsicht leidenschaftlich unterstützen.
({22})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Das Grundkonzept des Zehnten
Kinder- und Jugendberichtes geht von dem Konstrukt
„Das Kind als Akteur in der Gesellschaft“ und „Das
Kind als eigenständiges Subjekt“ aus und fragt nach, wie
weit die Gesellschaft ihrer Verpflichtung, eine Kultur
des Aufwachsens von Kindern zu erreichen, nachkommt
und wie weit sie sie fördert und auch sichert.
Es ist der erste Bericht, der ausschließlich der Lebenssituation von Kindern und den darauf bezogenen
Kinderhilfen gewidmet ist. Neben der umfangreichen
und, wie ich meine, berechtigten Diskussion zum Thema
Kinderarmut wurde auch den spezifischen Rechten und
Partizipationschancen von Kindern breiter Raum gegeben. Den Sachverständigen, die an diesem Bericht mitgearbeitet haben, möchte ich an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sagen. Professor Krappmann, der
Leiter der Sachverständigenkommission, hat ja heute auf
der Besuchertribüne Platz genommen und verfolgt die
Debatte zu dem Zehnten Kinder- und Jugendbericht im
Deutschen Bundestag.
({0})
Es ist gut, daß der Zehnte Kinder- und Jugendbericht in
diesem Haus weiter behandelt wird. Ich hoffe, daß er zur
Grundlage der Arbeit der Bundesregierung gemacht
wird.
Enttäuschend sind allerdings einige der vorliegenden
Entschließungsanträge. Auf den Antrag der CDU/CSU und die Bemerkungen, die Frau Eichhorn in ihrer Rede
gemacht hat - möchte ich nicht weiter eingehen. Der
Bericht disqualifiziert sich aus meiner Sicht von selbst.
Seine Diktion ist noch bornierter und arroganter als seinerzeit die Stellungnahme der abgewählten Bundesregierung und zeigt eigentlich nur, daß einige Kolleginnen
und Kollegen in einer völlig anderen Welt leben. Das
Problembewußtsein ist fast gleich null. Bezeichnendes
Beispiel dafür sind die restriktiven Bewältigungsstrategien, wie sie in der Position zur Frage der Jugendkriminalität zum Ausdruck kommen. Wann, meine Damen
und Herren der CDU/CSU, sind Sie endlich bereit und
fähig dazu, das Kind nicht mehr über die Erwachsenen
zu definieren, sondern es als eigenständige Persönlichkeit zu akzeptieren?
({1})
Zum Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
Beginnen möchte ich mit einer positiven Forderung,
nämlich der Forderung nach Zurücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesregierung, die meine Zustimmung und die Zustimmung meiner Fraktion hat. Ich denke, daß diese Forderung schon längst überfällig war.
Es gibt aber noch viele Fragen in Ihrem Entschließungsantrag, die beantwortet werden müssen. Ich denke,
daß der Antrag insgesamt akzeptabler gewesen wäre,
wenn diese Fassung einen Monat nach der Regierungsübernahme vorgelegt worden wäre. Heute, mehr als ein
Jahr nach der Bundestagswahl, wirkt er aus meiner Sicht
einfach oberflächlich, unkonkret und halbherzig.
Sie sind vom Wähler unter anderem beauftragt, die
kinder- und familienpolitischen Probleme voranzubringen, an denen sich die Regierung Kohl 16 Jahre lang wenn sie es auch nicht zugibt - erfolg- und ideenlos abgearbeitet hat. Ich frage mich, was Sie mit diesem Antrag erreichen wollen: Warum diese Zurückhaltung und
Zögerlichkeit? Sie haben die Mehrheit und stellen die
Regierung in diesem Haus. Auf was und wen nehmen
Sie Rücksicht?
Die unter Punkt 4 des Antrages aufgeführten Verbesserungen in der Kinderpolitik sind beileibe nicht falsch.
Aber nach einem Jahr hätten Kinder, junge Menschen
und Erwachsene, die sich mit und für Kinder engagieren
sowie Verantwortung tragen, eigentlich konkretere Aussagen erwarten können.
({2})
Diese haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Grunde schon in der letzten Legislaturperiode gemacht. Ich
möchte das an drei Beispielen verdeutlichen.
Das erste Beispiel, die Stärkung der Kinderrechte.
Wie soll das geschehen? Wollen Sie - wie verschiedentlich angekündigt - Kinderrechte in die Verfassung
schreiben? Wenn ja, in welchem Umfang und wann?
Wo ist der entsprechende Antrag, der von der interessierten Öffentlichkeit diskutiert und möglichst noch in
dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann? Ich
behaupte, daß die Verankerung der Kinderrechte in der
Verfassung und deren Bekanntmachen ein weiterer
Schritt hin zu einem kinderfreundlichen Land ist. Kinderpolitik wird dann nicht länger Randgruppenpolitik
sein.
({3})
- Ach, Frau Rönsch, melden Sie sich doch, wenn Sie
etwas wissen wollen.
({4})
Wir gewähren Ihnen Unterstützung, indem wir erneut
einen Antrag zur Änderung des Grundgesetzes vorlegen,
nach dem Kinderrechte in der Verfassung festgeschrieben werden sollen. Auf diese Debatte und Ihr Abstimmungsverhalten, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, bin ich schon heute sehr gespannt.
Ein zweites Beispiel, die Verbesserung der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren und schulpflichtige
Kinder. Welche gesetzlichen Grundlagen wollen Sie dafür schaffen? Wo werden die Zuständigkeiten liegen?
Wird es einen Rechtsanspruch auf öffentlich geförderte
Betreuung von Kindern von null bis zwölf Jahren geben,
der im SGB VIII analog zum jetzigen Anspruch auf
einen Kitaplatz verankert wird? Wie stellen Sie sich auch uns als PDS werden diese Fragen immer gestellt die finanzielle Ausgestaltung eines solchen Anspruches
vor? In welchem Umfang beteiligte sich der Bund an
diesen Aufgaben?
Übrigens: Der Hinweis auf die politische Zuständigkeit der Länder und der Kommunen ist zwar nicht
grundsätzlich falsch, muß aber meiner Meinung nach im
Falle einer Erweiterung der Aufgaben der Länder und
der Kommunen neu überdacht werden. Wenn der
Rechtsanspruch auf Tagesbetreuung ausgedehnt wird, ist
der Bund verpflichtet, sich an den finanziellen Belastungen zu beteiligen. Alles andere wäre aus meiner Sicht
unseriös.
Unsere Forderung dazu ist, Bedingungen dafür zu
schaffen, daß eine Ganztagsbetreuung für Kinder von
null bis zwölf Jahren gesichert werden kann. Dazu wird
es von der PDS-Fraktion einen Antrag zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf geben. Ich verweise an diesem
Punkt auf die Frauendebatte, wo Frau Süssmuth genau
diese Forderung unterstützt hat.
Das dritte und letzte Beispiel ist die Kinderverträglichkeitsprüfung bei allen Gesetzesvorhaben. Natürlich
unterstützen wir diese Forderung. Wer aber wird diese
Prüfung vornehmen? Denken Sie zum Beispiel an einen
Kinderbeauftragten, an eine Ombudsperson, die mit ausreichenden personellen und finanziellen Mitteln und
politischer Kompetenz ausgestattet wird, um diese Prüfung durchzuführen und ihren Ergebnissen Geltung zu
verschaffen? Soll ein Gremium wie die Kinderkommission diese Aufgabe wahrnehmen, was ich übrigens sehr
begrüßen würde? Dann wäre allerdings auch hier eine
erhebliche Kompetenzerweiterung und die verbesserte
personelle Ausstattung unverzichtbar.
All das sind keine neuen Forderungen. Wichtig ist
aus meiner Sicht, daß dieser Diskussionsprozeß zur
Kinderverträglichkeitsprüfung schnellstens im Interesse
der Betroffenen geführt wird.
Meine Damen und Herren, Herbert Grönemeyers Vision „Gebt den Kindern das Kommando. Die Welt gehört in Kinderhände“ mag manchen erschaudern lassen.
Ich denke aber, sie ist richtig. Entsprechend den wachsenden Fähigkeiten und Einsichten sollen Kinder selbst
an der Lösung ihrer Probleme beteiligt werden. Eine
moderne Politik für und mit Kindern muß Mit- und
Selbstbestimmung ebenso wie soziale Gerechtigkeit
beinhalten.
Kinderfreundliche Politik setzt für mich und meine
Fraktion zuerst und vor allem die Emanzipation der Erwachsenen voraus. Da bleibt noch viel zu tun; das hat
die heutige Debatte gezeigt.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Frau Eichhorn, ich habe Ihnen gut zugehört.
Ich hatte den Eindruck, daß Sie Ihre Rede vom letzten
Jahr gehalten haben. Sie hätten eigentlich ein Jahr Zeit
gehabt, den Zehnten Jugendbericht zu lesen. Dann hätten Sie Ihre falschen Schlüsse auch nicht wiederholen
müssen.
({0})
Herr Haupt, ich schätze Sie als Kollegen in der Kinderkommission. Ich nehme Ihnen voll und ganz ab, was
Sie an guten Ideen, mit denen wir die Situation der Kinder verbessern können, vorgebracht haben. Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Christdemokraten und Sozialdemokraten hätten sich in 29 Jahren gewünscht, daß die
F.D.P. diese Vorschläge nicht ständig blockiert hätte.
({1})
Wie Kinder in Deutschland leben, dokumentiert der
Zehnte Kinder- und Jugendbericht. So wie dieser Bericht von der damaligen Regierung behandelt wurde,
kommt er allerdings einer Ressourcenverschwendung
gleich, und zwar nicht nur in finanzieller, sondern auch
in fachlicher Hinsicht. Es lag nicht daran, daß er vielleicht überflüssig gewesen wäre; nein, es lag vielmehr
daran, daß der Zehnte Jugendbericht die Versäumnisse
und die Zukunftshypotheken der 16 Jahre Ihrer Regierungsära deutlich widerspiegelte.
({2})
Mit der defensiven Stellungnahme der alten Bundesregierung wurde der Bericht erst auf Druck der Oppositionsparteien buchstäblich in den letzten Tagen der 13.
Legislaturperiode vorgelegt. Da war es für eine breite
öffentliche Diskussion und Würdigung zu spät. Sie hatten Ihre Chance, an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und Ihre
Reformfähigkeit zu beweisen. Sie haben sie nicht genutzt und statt dessen eine beschränkte, selbstgerechte
Debatte über die Armut von Kindern in Deutschland und
der Dritten Welt geführt.
({3})
Das hat uns Sozialdemokraten und die Grünen veranlaßt, heute, kurz nach dem Weltkindertag am 20.
September 1999 und vor dem 10. Jahrestag der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen am 20. November 1999, eine neue Debatte über unseren Entschließungsantrag anzufachen, die Bewertung des Berichts
vorzunehmen und deutlich zu machen: Das soll Grundlage unserer Regierungspolitik sein. Eine Politik, die die
Probleme und Zukunftschancen unserer Kinder und der
nachfolgenden Generationen aus dem Blick verliert,
wird es mit uns nicht geben.
({4})
Meine Damen und Herren, es muß damit Schluß sein,
daß heute bereits verfrühstückt wird, was die folgenden
Generationen erst noch erwirtschaften müssen. Das ist
die Erblast Ihrer Regierung, die Sie uns überlassen haben, und die größte soziale Ungerechtigkeit gerade gegenüber Kindern und Jugendlichen in unserem Land.
({5})
Die Rekordstaatsverschuldung, die Sie zu verantworten haben, hat die Gestaltungsspielräume von morgen in höchstem Maß gefährdet. Die Aussagen, die dazu
im Bericht der Sachverständigen stehen, haben Sie in Ihrer Stellungnahme schlicht bestritten.
({6})
Unser Zukunftsprogramm ist ein erster Schritt in eine
andere Richtung.
({7})
Er reicht noch nicht aus. Weitere werden folgen. Sie
müssen auch folgen, wenn der Politikwechsel zu einer
nachhaltigen sozialen und ökologischen, aber auch ökonomischen Entwicklung im Interesse der Kinder gelingen soll.
Meine Damen und Herren, noch nie hat es einen so
umfassenden Bericht über die Lebenssituation von KinRosel Neuhäuser
dern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland gegeben. Noch nie - der Sachverständigenkommission sei Dank auch seitens der SPD-Fraktion - hat es so
viele Anregungen und Empfehlungen für eine Politik
gegeben, die sich der unterschiedlichen Lebenswirklichkeit von Kindern stellt und es nicht bei den üblichen
Appellen zum Weltkindertag beläßt.
Sie, Frau Eichhorn, haben dagegen - auch heute wieder - zitiert: „Kindheit in Deutschland ist eine gute
Kindheit“.
({8})
Aber Sie haben die Sachverständigen nicht vollständig
zitiert. Sie haben sie vorsätzlich falsch zitiert, nämlich
durch die Weglassung von „aber das trifft nicht für alle
Kinder in Deutschland zu“.
Im Grunde wollten Sie nicht wahrhaben und wollten
Sie darüber hinwegtäuschen, daß am Ende Ihrer geistigmoralischen Wende immer mehr, nämlich über 1 Million, Kinder von Sozialhilfe leben müssen. Kinder zu haben ist in Deutschland für Normalverdienende immer
mehr zu einem Armutsrisiko geworden, vor allem weil
sich Ihre Familienpolitik, die Sie seit Wuermeling wie
eine Monstranz vor sich hertragen, zuletzt schlicht als
verfassungswidrig erwiesen hat.
({9})
Der Bericht formuliert dies auch eindeutig. Ich zitiere
die Sachverständigen:
Wir halten es für einen gesellschaftlichen Skandal,
daß der materielle Spielraum der Familien und damit ihre sozialisatorische und erzieherische Kraft in
den 80er und 90er Jahren durch sämtliche Reformen des Einkommens- und Steuersystems eingeengt statt erweitert wurde.
Herr Kollege Stökkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Rönsch?
Es tut mir leid, Frau Rönsch.
Ich glaube nicht, daß dies der Wahrheitsfindung dient,
und dies ist meine erste Rede.
({0})
- Sie wissen ja, was das ist.
Armut von Kindern war
({1})
und ist also ein Thema in Deutschland. Armut bedeutet
eben nicht nur finanzielle Armut durch geringes Einkommen. Es geht vor allen Dingen um die Folgeerscheinungen wie die Versorgung mit Arbeit, Bildung und
menschenwürdigem Wohnraum. Es geht um die Gesundheit von Kindern sowie um die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Die Tatsache, in einem reichen Land zu leben, erfahren Kinder
anders als Sie, nämlich aus der Sicht ihrer Lebensumstände im Vergleich mit den Gleichaltrigen in ihrem Lebensumfeld.
Die Dunkelziffer derjenigen, die auf Grund geringer
Einkommen Ansprüche auf Leistungen des Staates hätten, diese Ansprüche aber aus Scham oder Unwissenheit
nicht einfordern, ist noch weit höher einzuschätzen. Das
heißt, Armut findet mitten in unserer Gesellschaft statt.
Die Europäische Kommission hat hier eine klare Definition - Herr Haupt, die müßten auch Sie kennen -: Wer
mit seinem Einkommen 50 Prozent unter dem Durchschnittseinkommen in Europa liegt, ist als arm einzuschätzen. Armut gibt es vor allen Dingen bei Arbeitslosigkeit der Eltern, in Einelternfamilien, in kinderreichen
Familien und in Zuwandererfamilien.
Mit der Erhöhung des Kindergeldes um insgesamt 50
DM, der ersten Stufe der Steuerreform und den erhöhten
Freibeträgen beim Familienlastenausgleich ist es der
neuen Regierung gelungen, innerhalb eines Jahres mehr
für die Existenzsicherung von Kindern und Familien zu
erreichen als jeder vorherigen Regierung.
({2})
Wir hätten gern noch mehr gemacht, und es werden
auch weitere Stufen folgen. Aber das geht bei der
Erblast, die Sie uns hinterlassen haben, leider nicht sofort.
({3})
Allein die Steuerreform bis 2002 führt bei einer Familie mit zwei Kindern und durchschnittlichem Einkommen zu einer Entlastung von durchschnittlich 2 200
DM pro Jahr. Unser Zukunftsprogramm macht Schluß
mit einer unverantwortlichen und sozial ungerechten
Schuldenpolitik auf Kosten der Kinder und nachfolgender Generationen.
({4})
- Hört, hört! - Trotz der immensen Erblast, die wir von
Ihnen übernommen haben, wird es keine Kürzungen im
Bundeskinder- und -jugendhaushalt für die Kinder- und
Jugendhilfe geben.
({5})
Uns ist jedes Kind gleich viel wert. Wir werden deshalb nicht nur einen Armuts- und Reichtumsbericht erstellen, sondern es werden - ich sagte es bereits - weitere Schritte einer gerechteren und zielgenaueren Sozialund Steuerpolitik mit weniger bürokratischem Aufwand
folgen.
Meine Damen und Herren, ich will darauf eingehen,
daß auch innerhalb der Koalition Stimmen laut wurden
- ich selbst fand das am Anfang eigentlich auch richRolf Stöckel
tig -, die Erhöhung des Kindergeldes bei Sozialhilfeempfängern nicht als Einkommen anzurechnen. Es liegt
heute ein entsprechender Antrag der PDS-Fraktion vor,
der schon bewertet wurde. In der Tat wurden die Leistungen für Kinder in der Sozialhilfe nicht analog zu
dem Kindergeld und den Freibeträgen erhöht. Da es
beim Familienleistungsausgleich um die steuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten und nicht
etwa um das Existenzminimum steuerpflichtig Beschäftigter geht, besteht hier zunächst auch kein Zusammenhang. Wenn wir die konkreten Zahlen genauer betrachten, dann müssen wir feststellen, daß die gesamten monatlichen Sozialhilfeleistungen pro Kind durchschnittlich 641 DM betragen. Dazu kommen in den meisten
Fällen - das gilt nicht für alle Bundesländer - die Übernahme der Kindergartenbeiträge und die Gebührenbefreiung bei Inanspruchnahme anderer kommunaler Leistungen. Gering bis normal verdienende Arbeitnehmer
kommen kaum in den Genuß dieser staatlichen Förderung. Die Regelsätze bei der Hilfe zum Lebensunterhalt
sind von uns zum 1. Juli 1999 um 1,3 Prozent erhöht
worden. Diese Erhöhung lag über der Preissteigerungsrate von 0,6 Prozent.
Ich glaube nicht, daß die komplexen Benachteiligungen von Kindern in armen Familien, so wie sie im
Zehnten Kinder- und Jugendbericht beschrieben werden,
durch eine Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung
gelöst werden können. Bei unterhaltsempfangenden Alleinerziehenden wird der Betrag außerdem auch noch
geteilt. Was tatsächlich bei den Kindern ankommt - dies
kann ich auch aus meiner beruflichen Erfahrung bestätigen -, ist äußerst fraglich.
Nein, eine vernünftige Politik muß in gemeinsamer
Anstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden sowie
Tarifpartnern an erster Stelle dafür sorgen, daß alles dafür
getan wird, daß Eltern, und gerade auch alleinerziehende
Frauen, die dazu in der Lage sind, wieder Arbeit bekommen und nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sind.
({6})
Eine bedarfsgerechte Sicherung einer menschenwürdigen Existenz derjenigen, die es nicht aus eigener Kraft
schaffen können, muß gewährleistet werden. Sie können
sich darauf verlassen, daß die gesamte SPD-Fraktion
hinter diesem Ziel steht. In diesem Sinne werden wir
auch in Zukunft die Höhe der Sozialhilfeleistungen
überprüfen. Aber eines steht wohl fest: Der Verschiebebahnhof der Kohl-Ära muß ein Ende haben.
({7})
Sie wissen, daß Sie die Arbeitslosen in die Sozialhilfe
abgeschoben haben. Dies muß ich Ihnen nicht erklären.
Nicht nur die neue Bundesregierung, sondern auch die
Kommunen haben erkannt, daß wir aus der überbürokratisierten Verwaltung der Arbeitslosigkeit und der
Armut, die während Ihrer Regierungszeit entstanden ist,
herauskommen, indem wir sie aktiv bekämpfen. Dies ist
ein guter Weg.
({8})
Die 220 Millionen DM, mit denen die PDS die Gemeinden zusätzlich belasten will, sind meines Erachtens
in eine öffentliche Infrastruktur, etwa in zusätzliche Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche, sicherlich
besser investiert.
Auf keinen Fall sollte Sozialpolitik meiner Meinung
nach dazu führen, daß es attraktiver ist, Sozialhilfe zu
beziehen, als eine Arbeit aufzunehmen und sich weiterzuqualifizieren. Das Angebot dazu muß allerdings auch
bereitgestellt werden. Es geht also nicht darum, Leistungsempfänger zu diskriminieren, sondern darum, eine
vernünftige, menschenwürdige Sozialpolitik zu entwikkeln, die die Selbsthilfepotentiale der betroffenen Menschen aktiviert und ihnen neue Perspektiven gibt.
({9})
Um das zu erreichen, ist eine umfassende Reform - davon bin ich überzeugt - unserer sozialen Sicherungssysteme unausweichlich. Ich freue mich auf Ihre Vorschläge dazu.
Lassen Sie mich noch auf die Kinderrechte eingehen. Am 20. November 1989 wurde die Kinderrechtskonvention von den Vereinten Nationen verabschiedet.
Vor fast genau zehn Jahren verpflichtete sich die damalige Regierung beim Weltkindergipfel - einem großen
Event -, einen Zehn-Jahre-Aktionsplan zur Umsetzung
der Kinderrechte in Deutschland aufzustellen. Diesen
Plan hat es leider nicht gegeben.
1992 wurde die Kinderrechtskonvention in Deutschland ratifiziert. Die damalige Bundesregierung hat sie
als Meilenstein der Entwicklung des internationalen
Rechts gefeiert, allerdings nicht, ohne ihre defensive
Haltung in einer meiner Meinung nach unnötigen und
überflüssigen Erklärung im Anhang des Ratifizierungsgesetzes zu dokumentieren.
({10})
Seitdem fordern über 90 Organisationen, die sich in
Deutschland um die Angelegenheiten von Kindern
kümmern und die in der National Coalition zusammengeschlossen sind, die Rücknahme dieser Erklärung. Sie
haben 1995 dem VN-Kinderrechtskomitee in Genf eine
Überprüfung Ihrer Vorbehalte versprochen. Allerdings
ist nie etwas geschehen. Es wurde von Ihnen ein Vorbehalt zum Recht des Kindes auf ein grundsätzlich gemeinsames Sorgerecht der Eltern formuliert, obwohl die
Reform des Kindschaftsrechts in Arbeit war und die
Konvention selbst das Kindeswohl bei Trennung der
Eltern in den Mittelpunkt stellt. Das Kinderrechtskomitee der Vereinten Nationen, das die nationale Umsetzung regelmäßig überprüft, begrüßt dagegen sogar ausdrücklich die Stärkung der Rechte der Kinder in
Deutschland bei streitigen Sorgerechtsfällen durch unsere Kindschaftsrechtsreform.
Der Vorbehalt hinsichtlich des rechtlichen Beistandes
und des Rechtes auf Berufung bei Straftaten in Bagatellfällen ist formal sicherlich richtig, weil er beim InternaRolf Stöckel
tionalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte erklärt wurde.
Zum Ausländerrecht. Daß in der Konvention für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge ein Recht auf „angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe“ formuliert ist,
wurde von der damaligen Regierung als mögliches
Schlupfloch durch das bei uns geltende Einreise-, Asylund Ausländerrecht interpretiert. Wenn das deutsche
Ausländer- und Asylrecht mit den Verpflichtungen aus
der Genfer Flüchtlingskonvention, dem Haager Minderjährigenschutzübereinkommen und der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen im Einklang steht,
dann ist eine Erklärung über den Schutz vor sogenannten Fehl- und Überinterpretationen engagierter Flüchtlingsverbände womöglich überflüssig.
({11})
Anderenfalls müßte eine Überprüfung des Rechts und
der praktischen Konsequenzen unumgänglich sein.
Ich begrüße ausdrücklich, daß sich die neue Bundesregierung für den angemessenen Schutz und die humanitäre Hilfe für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge
und damit verbunden für ein entsprechendes europäisches Einwanderungs- und Flüchtlingsrecht vor allen
Dingen für Kinder einsetzen will.
({12})
Hinsichtlich der Altersgrenze für Soldaten sind wir
uns in dieser Gesellschaft einig, daß unter 18jährige
nicht zwangsrekrutiert und nicht als Kindersoldaten an
Kampfeinsätzen teilnehmen dürfen; das ist selbstverständlich. Die Bundesrepublik hat sich dafür auf internationalen Konferenzen, unter anderem auf denen der
Internationalen Arbeitsorganisation, eingesetzt.
Zusammengefaßt: Die weitgehende Rücknahme der
Vorbehalte-Erklärung der damaligen Bundesregierung
wäre ein deutliches Signal für mehr Kinderfreundlichkeit in Deutschland. Die Bundesregierung sollte in
ihrem Zweitbericht an das VN-Kinderrechtskomitee,
der in diesem Jahr vorgelegt wird, deutlich machen, daß
sie im Gegensatz zu Ihnen grundsätzlich offensiv darangeht, die Kinderrechtskonvention in Deutschland
umzusetzen, wie es auch die Sachverständigenkommission im Zehnten Kinder- und Jugendbericht empfohlen
hat.
({13})
Herr Kollege Stökkel, Ihre Redezeit ist überschritten.
Meine Damen und Herren, ich
danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, dies war die erste Rede des Kollegen
Stöckel. Unsere herzliche Gratulation!
({0})
- Herr Kollege Zöller, man sollte unter diesen Umständen etwas sanfter im Urteil sein.
Nun hat der Kollege Wolfgang Dehnel, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der vorliegende Zehnte Kinder- und Jugendbericht enthält eine sehr umfassende Bestandsaufnahme und Analyse über die Lage von Kindern
und über die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe.
Ich muß gleich am Anfang sagen: Herr Stöckel und Frau
Gleicke, von Erblast und Schuldenberg ist in diesem Bericht überhaupt nicht die Rede.
Im Gegensatz zu Ihnen teile ich das Urteil der Sachverständigen, daß Kindheit in Deutschland als eine gute
betrachtet werden kann,
({0})
zum Beispiel, weil Kinder gesund aufwachsen können
und weil ihnen Spielplätze, Kindergärten und Schulen
offenstehen. Kinder sind die Zukunft einer jeden Gesellschaft. Sie brauchen für ihr Aufwachsen optimale Bedingungen. Wir leben in Deutschland nicht in einer kinderfeindlichen, aber in einer zunehmend kinderentwöhnten Gesellschaft. Die demographischen Statistiken
sprechen eine deutliche Sprache.
Um dem entgegenzuwirken, haben die von der
CDU/CSU geführte Regierung und unsere Fraktion unter Vorsitz von Herrn Dr. Schäuble in den vergangenen
Jahren enorme Verbesserungen durchgesetzt.
({1})
- Ihre Kollegen haben schon gesagt, daß davon überhaupt nichts im Bericht steht. Sie täuschen sich jetzt
schon wieder. - Allein in den vergangenen Legislaturperioden haben wir den Familienleistungsausgleich - er
besteht aus Kindergeld und Kinderfreibetrag - um rund
35 Prozent auf 50 Milliarden DM erhöht.
({2})
Die Familienleistungen des Bundes betrugen 1997 fast
77 Milliarden DM. Das ist eine Leistung, die Sie nicht
kritisieren sollten.
({3})
Wir haben dafür gesorgt, daß die Erziehungsleistung
bei der Rente stärker anerkannt wird.
({4})
Wir haben durch ein Arbeitsprogramm mit vielfältigen
Maßnahmen den Schutz unserer Kinder vor sexuellem
Mißbrauch und vor der Kinderpornographie verbessert
sowie die Maßnahmen gegen Kindersextourismus verstärkt. Wir haben die Rechte von nichtehelichen Kindern
durch das neue Kindschaftsrecht gestärkt.
({5})
Wir haben die Kinderbetreuungsmöglichkeiten durch die
Verankerung eines Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz ausgebaut.
({6})
Es ist unmöglich, in zehn Minuten die Vielfalt der im
Bericht angesprochenen Themen sämtlich einer Bewertung zu unterziehen. Zur Verdeutlichung möchte ich den
Damen und Herren auf der Tribüne sagen, daß er
schließlich vier Hauptthemenkreise, 26 Gliederungspunkte und 340 Unterpunkte auf 300 Seiten enthält. Dazu kommen immerhin noch 40 Seiten mit Quellennachweisen. Diesen Umfang kann man nicht auf einen
Schlag bewältigen. Es bedarf also noch einer intensiveren Auswertung in den verschiedenen Gremien, bei
Verbänden und bei Trägern von Hilfeeinrichtungen. Ich
beschränke mich deshalb auf zwei Schwerpunkte des
Berichtes: die Kinderarmut und die Kinderrechte.
Für die Aussagen der Berichtskommission über einen
Anstieg der Kinderarmut gibt es keinerlei Beweise.
Das von der Kommission zugrunde gelegte Konzept, das
die Armutsschwelle bei der Hälfte des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung ansetzt, ist zur
Messung von Armut ungeeignet. Es stellt sich nämlich
selber in Frage. Würden sich alle Einkommen verdoppeln, wäre nach dieser Definition die Armut trotzdem
unverändert hoch. Das gebe ich einmal zu bedenken.
Ich selber bin in der Nachkriegszeit in einer kinderreichen Familie aufgewachsen. Ich habe wie viele Millionen anderer Kinder Entbehrungen und Mangel in der
damaligen Zeit erlebt.
({7})
- Darauf komme ich jetzt zu sprechen. - Jedoch haben
wir uns nie als arme Familie empfunden. Bescheidener
Lebensstil und das Leben in und mit der sozialistischen
Mangelwirtschaft haben sich bei uns tief eingeprägt.
Auch das war ein Grund, daß nach den Protesten und
Demonstrationen vor nun genau zehn Jahren die Mauer
fiel. Ich bin heute froh und glücklich, daß ich jetzt an
dieser Stelle für mein Land und meine Heimat in diesem
Hause reden darf.
({8})
20 Meter weiter hinter uns befand sich die Mauer. Sie
trennte unsere Kinder und Jugendlichen und auch uns
selbst von Freiheit und Demokratie. Auch daran sollte
man an diesem Tage denken.
Ich verweise darauf, daß zwischen 1984 und 1994 das
durchschnittliche Nettoeinkommen in den alten Bundesländern um 50 Prozent gestiegen ist. Auch das reale
Einkommen der einkommensschwachen Haushalte ist
gestiegen. Die von der Kommission vorgenommene
Gleichsetzung von Armut und Sozialhilfebezug ist nicht
akzeptabel. Insbesondere kann die steigende Zahl der
Sozialhilfeempfänger kein Hinweis auf wachsende Armut in unserer Gesellschaft sein, da durch Leistungsverbesserungen der Kreis der Leistungsberechtigten ausgeweitet wurde.
In Ostdeutschland haben sich die Einkommensverhältnisse seit der Wiedervereinigung ebenfalls deutlich
verbessert. Das reale Haushaltseinkommen hat sich allein von 1990 bis 1994 verdoppelt. In den neuen Bundesländern lag der Anteil der Kinder und Jugendlichen
aus einkommensschwachen Haushalten 1996 nach wie
vor niedriger als in den alten Ländern.
Ganz besonders möchte ich hervorheben, wie es in
dem neuen Bundesland aussieht, aus dem ich komme:
nämlich Sachsen. Die Berichtskommission führt neben
der materiellen Problematik unter anderem aus, daß
Kinderarmut auch dann entstehen könne, wenn soziale
Einrichtungen fehlen würden. Dies sei in den neuen
Ländern deutlich geworden, als nach der Wende Betreuungseinrichtungen für Kinder weggefallen seien. Diese
Aussage kann ich für Sachsen nicht bestätigen. Ich betone ausdrücklich: In Sachsen kann jedes Kind einen Platz
in der Kinderkrippe, im Kindergarten oder im Schulhort
bekommen, wenn seine Eltern dies wollen. Sachsen hat
in dieser Hinsicht keine Probleme.
({9})
In Wirklichkeit wurden und werden nämlich zwei Sachverhalte unzulässig vermischt: Aus dem Schließen von
Kindereinrichtungen wird automatisch die Schlußfolgerung gezogen, es seien nicht genügend Plätze vorhanden. Natürlich wurden Kindereinrichtungen auch in
Sachsen geschlossen, aber zum Teil wegen Asbestverseuchung, zum Teil wegen Baufälligkeit, deren Ursachen dem DDR-Regime anzulasten sind. Der Hauptgrund liegt aber darin, daß die Geburtenzahl zurückgegangen ist. Der Platzabbau wurde also hauptsächlich
durch die demographische Entwicklung bestimmt.
Weiterhin stellt die Kommission auf Seite 89 zwar
fest - Sie merken, ich habe den Bericht gelesen -, daß
ein zentrales Merkmal von Armut Einkommensarmut sei
und daß als arm gelte, wer Sozialhilfe beziehe oder weniger als die Hälfte des statistischen Pro-KopfEinkommens in der Bundesrepublik erreiche. Sie sagt
aber auch, daß Armut als Gefährdung der Aufrechterhaltung der physischen Existenz in Deutschland heute
selten sei. Insofern wird gesagt, daß es unterschiedliche
Definitionen und Meßverfahren für Armut gibt. Daher
ist es nicht möglich, eine zutreffende Zahl für das Ausmaß an Armut unter Kindern und ihren Familien zu ermitteln. Ich schlage deshalb vor, künftig diesen Armutsbegriff, der sehr umstritten ist, nicht mehr zu verwenden.
Statt dessen sind die bestehenden sozialen Differenzierungen exakter zu analysieren und ihre Folgen für die
Entwicklung kindlicher Sozialsituationen genauer zu
hinterfragen.
Meine Damen und Herren, zum Themenkomplex
„Kinder und ihre Rechte“ ist die Kommission der Auffassung, daß die Rechte der Kinder in der Sache ausreichend in der Verfassung verankert sind, ganz im Gegensatz zu Ihnen, Frau Neuhäuser, die Sie hier etwas
anderes wollen. Auch in den Gesetzen für Kinder- und
Jugendschutz, im alten Jugendwohlfahrts- und im neuen
Kinder- und Jugendhilfegesetz, sowie in der im Oktober
1997 verabschiedeten Kinderstrafrechtsreform hat nach
meiner Auffassung die Verantwortung der Eltern und
der Gesellschaft ebenso genügend Platz gefunden wie
das Recht der Kinder auf Schutz, Erziehung und soziale
Absicherung.
Ich zitiere:
Eine zusätzliche rechtlich zwingend vorgeschriebene Instanz zur Klärung von Konflikten zwischen
Minderjährigen und ihren Eltern unterhalb der
Schwelle der Gefährdung des Kindeswohls hält die
Kommission für nicht erforderlich.
So die Kommission.
Bei aller Sorge um zunehmende Gewaltbereitschaft
finde ich diesen Standpunkt richtig. Körperverletzungen
sind auch jetzt schon strafbar. Die Aufgabe muß dagegen heißen: Konfliktdeeskalierung im kleinen Familienkreis genau wie in der großen Politik. Programme zur
Prophylaxe sind hier allemal besser als Therapie. Der
Antrag der CDU/CSU-Fraktion zeigt Ihnen unsere Vorschläge auf, wie kinder-, jugend- und familiengerechte
Weichenstellungen auszusehen haben. Der vorgelegte
Koalitionsentwurf eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung wird dieser umfassenden und diffizilen Problematik überhaupt nicht gerecht.
({10})
Wie will man denn Ächtung einklagbar machen? Wie
wird die Beweislast gehandhabt? Auch in dieser Hinsicht bleibt die Bundesregierung uns viel zuviel schuldig.
({11})
Konzeptionslosigkeit ist auch hier ihre deutliche Handschrift.
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, daß das soziale Netz in der Bundesrepublik
eines der besten der Welt ist. Es ermöglicht ein Leben in
Würde, wie das Grundgesetz in Art. 1 vorgibt.
({12})
In Würde zu leben hat aber auch etwas mit Eigenverantwortung zu tun. Diese zu stärken muß zuallererst unsere Aufgabe sein.
({13})
Die Förderung sozial schwacher Bürger muß die gleiche Aufmerksamkeit finden wie die Förderung der Leistungsträger, die erst die Grundlagen für den sozialen
Ausgleich schaffen. Wenn dieses Prinzip verlassen wird
- die gegenwärtige Regierungspolitik bestätigt mich in
dieser Ansicht -, wird die Zukunft für Kinder und Jugendliche verbaut. Denn Zukunftssicht dürfen wir auch
nicht durch Parolen der PDS vernebeln lassen wie „Rot.
Radikal. Rüstig.“, wie ich sie auf diesem Blatt hier zeigen kann. - Das stammt aus der Vergangenheit; wir tun
unseren Kindern und Jugendlichen das Schlechteste an,
wenn wir so Wahlkampf machen.
Ein letztes Wort. In dem Bericht sind die Wörter
„Liebe“, „Zuwendung“, „Vertrauen“ und „Zutrauen“
überhaupt nicht enthalten. Das müssen Väter und Mütter
immer noch selber verinnerlichen. Dazu sind wir alle in
diesem Land aufgerufen.
({14})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht, den wir heute
hier debattieren, führt uns noch einmal vor Augen, daß
die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in
den Mittelpunkt der Politik gehört.
({0})
Junge Menschen stehen in einer sich immer schneller
wandelnden Gesellschaft vor Herausforderungen. Mädchen und Jungen scheinen immer früher aus ihrer Kindheit ins Erwachsenenleben hineinzuwachsen. Mittlerweile rangieren bei Kindern vielfach auch die Ängste
der Erwachsenen ganz oben auf der Sorgenskala. Diese
Ängste sind zum Beispiel die vor der Erwerbslosigkeit
der Eltern oder vor der eigenen Zukunft, in der sie möglicherweise selbst einmal arbeitslos werden.
Aufgabe unserer Gesellschaft und damit auch Aufgabe der Politik muß es sein, diese Ängste ernst zu nehmen
und Perspektiven aufzuzeigen.
({1})
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht ist eine klare
Bewertung der Politik der alten Bundesregierung und
damit eine Bestandsaufnahme ihres Scheiterns. Das haben wir von den Kolleginnen und Kollegen heute schon
des öfteren gehört. Eine Politik, die Familien mit Kindern 16 Jahre lang mit einem angestaubten Familienbegriff im Blick hatte, ist Ausdruck davon, daß die alte
Bundesregierung seit Jahren eher neben dem Leben als
mitten im Leben stand.
({2})
Erinnern wir uns an die Debatte, die wir vor mehr als
einem Jahr geführt haben, in der Frau Nolte den Armutsbegriff wegdefinieren wollte. Dies war angesichts
der Probleme, die in diesem Bericht angesprochen werden, ein hilfloses Unterfangen. Die Zahl von über
1 Million Kindern, die hier bei uns mit Sozialhilfe groß
werden, spricht eine deutliche Sprache. Nicht nur diese
Tatsache alleine ist dramatisch. Vielmehr müssen die
möglichen Folgen der Kinderarmut erschrecken.
({3})
- Nein, Frau Rönsch, auch ich gestatte keine Zwischenfrage.
({4})
Frau Rönsch, das können Sie doch wohl akzeptieren,
oder?
({5})
- Hören Sie mir doch einmal zu!
Soziale Ausgrenzung, die schon in der Schule be-
ginnt, und gesundheitliche Probleme wie Sprach- und
Eßstörungen sowie Konzentrationsschwächen zeigen
uns das Ausmaß der Kinderarmut. Dies haben Berliner
Ärzte in den letzten Tagen in einem Aufruf deutlich ge-
macht. Es kann nicht sein, daß wir unsere Augen davor
verschließen. Die sozialen Probleme in unserer Gesell-
schaft lassen sich nicht wegdefinieren.
[Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/
CSU]: Es kann nicht sein, daß diese Regierung
nicht weiß, über was sie redet!)
Die sozialen Probleme müssen wir lösen, so schwierig
und kompliziert sie manchmal auch erscheinen mögen.
Im ersten Jahr der rotgrünen Regierung haben wir
Familien mit Kindern entlastet. Das reicht natürlich
noch nicht aus. Besonders die Familien mit Kindern, die
nicht über mindestens ein Erwerbseinkommen verfügen,
müssen eine spürbare Verbesserung erfahren. Es kann
nicht sein, daß sie zum Beispiel von der Kindergelderhöhung nicht profitieren. Meine Kollegin Ekin Deligöz
hat auf diesen Punkt schon vorhin hingewiesen. Auch
ich sehe hier konkreten Handlungsbedarf.
Die Ergebnisse des Zehnten Kinder- und Jugendberichtes müssen für uns also eine Herausforderung sein,
die Probleme der Kinder und Jugendlichen ernsthaft zu
lösen. Junge Menschen brauchen ein sozial sicheres
Umfeld, um gestärkt in unsere Gesellschaft hineinzuwachsen. Dafür müssen und werden die Koalitionsfraktionen weiterhin arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren
heute nicht nur über den Zehnten Kinder- und Jugendbericht, sondern auch über das EU-Aktionsprogramm
„Jugend“. Gerade für viele junge Menschen ist Europa
längst nicht mehr nur eine fixe Idee. Vielmehr bietet ihnen Europa immer öfter echte Perspektiven. Der europäische Gedanke, die konkrete Ausgestaltung des Zusammenlebens Europas, spielt für junge Menschen eine
immer größere Rolle, ob es sich um ein Auslandsstudium in Spanien, einen Job in den Niederlanden mit
Wohnort auf der deutschen Seite der Euregio oder um
ein Schuljahr in der jeweiligen französischen Partnergemeinde handelt. Nicht zuletzt ist diese Entwicklung
dem Jugendaustausch und dem Engagement von Schulen und Trägern zu verdanken, das zum Teil weit über
den Rahmen von EU-Programmen hinausgeht.
Die im Aktionsprogramm „Jugend“ zusammengeführten unterschiedlichen Programme bündeln die guten
Erfahrungen der vergangenen Jahre und schaffen neue
Wege in der europäischen Politik und in der europäischen Jugendarbeit. Das von der Kommission und den
EU-Jugendministern verabschiedete Mehrjahresprogramm stellt drei wichtige Ziele in den Mittelpunkt: erstens die Förderung der Motivation Jugendlicher, sich
am Aufbau der EU aktiv zu beteiligen, zweitens die
Stärkung des solidarischen Gedankens und drittens die
Förderung von Unternehmergeist und Kreativität.
Bei all diesen Punkten sind die Begegnung und die
Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturen und
den verschiedenen europäischen Realitäten eine wichtige Grundlage für Toleranz auch im eigenen Land.
({6})
Mit dem Aktionsprogramm werden nicht nur Chancen
für junge Menschen eröffnet; vielmehr ist es auch ein
Baustein zur Bekämpfung von Nationalismus und
Fremdenfeindlichkeit. Rassismus, Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit treten wir am wirkungsvollsten
entgegen, wenn wir das Engagement Jugendlicher im
fremden kulturellen und sprachlichen Kontext unterstützen und die sozialen sowie persönlichen Fähigkeiten und
Kompetenzen möglichst vieler junger Menschen stärken. Gerade die europäischen Freiwilligendienste fördern diese Fähigkeit und schaffen eine gute Möglichkeit,
über den nationalen Tellerrand hinaus Perspektiven zu
entwickeln.
Im vorliegenden Entschließungsantrag haben sich die
Koalitionsfraktionen darüber hinaus noch einmal darauf
verständigt, ein nationales Freiwilligengesetz auf den
Weg zu bringen. Dabei geht es in erster Linie um die
rechtliche Absicherung deutscher Freiwilliger im Ausland und ausländischer Freiwilliger bei uns. Die Vorstellung meiner Fraktion schließt dabei ausdrücklich die
Einbeziehung von außereuropäischen Freiwilligen ein.
Wir wollen freiwilliges Engagement junger Bürgerinnen
und Bürger stärken und die Freiwilligendienste kontinuierlich und strukturell ausbauen. Dazu gehört auch,
daß wir dieses Engagement nicht nur den olympiareifen
Jugendlichen ermöglichen, sondern gerade auch benachteiligten jungen Menschen europäische Perspektiven eröffnen.
Freiwilliges Engagement setzt aber auch Partizipation
junger Menschen vor allem an der Erwerbsarbeit voraus. Nach wie vor ist die Erwerbsarbeit das entscheidende Identitätskriterium gerade für junge Menschen. Wenn
schon Kinder Angst vor Arbeitslosigkeit haben, dann
muß jede Anstrengung unternommen werden, damit sich
diese Angst in Perspektive wandelt. Dabei sind wir alle
gefordert.
({7})
Die Koalition hat im Gegensatz zur verflossenen KohlRegierung Worten auch Taten folgen lassen. Mit dem
Sofortprogramm „JUMP“ haben wir einen ersten guten
Schritt getan. Auch das reicht noch nicht aus. Deshalb
geht das Programm nächstes Jahr in die zweite Runde,
Frau Eichhorn. 180 000 Jugendliche haben wir bis jetzt
in diesem Programm, und ich hoffe, es werden noch
mehr. Damit eröffnen wir Perspektiven.
Politik für Kinder und Jugendliche bedeutet, ihnen
mit qualifizierter Ausbildung und Arbeit Chancen zu
geben, das heißt auch, Jugenderwerbslosigkeit zu thematisieren und alle gesellschaftlichen Kräfte zu mobilisieren, um den jungen Menschen zu zeigen: Wir entziehen uns nicht unserer Verantwortung, in die Zukunft der
Jungen zu investieren. Dies gilt insbesondere für Mädchen und junge Frauen, benachteiligte Jugendliche sowie Migrantinnen und Migranten.
Verantwortung bezieht sich aber nicht nur auf die sozialen Probleme und auf die Gestaltung einer kinderfreundlichen Gesellschaft. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht - Kollege Stöckel hat vorhin darauf hingewiesen - fordert zu Recht die volle Anerkennung der
UN-Kinderrechtskonvention.
({8})
Am 20. November dieses Jahres besteht die Kinderrechtskonvention nunmehr seit zehn Jahren - höchste
Zeit, die Vorbehalte der alten Bundesregierung aufzuheben. Bündnis 90/Die Grünen haben immer wieder kritisiert, daß die dort formulierten internationalen Rechte
der Kinder nicht vorbehaltlos anerkannt wurden. Herr
Haupt, ich freue mich, daß auch Sie diesen Kurs unterstützen. Ich frage mich nur, warum Sie dann nicht auch
unseren Entschließungsantrag unterstützen.
({9})
- Darauf komme ich gleich noch.
Besonders geht es uns um die Rechte und Bedürfnisse
von Kindern als Asylsuchende. Das Kindeswohl gilt
auch hier vorrangig, besonders in bezug auf Familienzusammenführung, Ausweisung von Kindern in sichere
Drittstaaten oder bei der sogenannten Flughafenregelung. Alle Kinder, egal ob sie Flüchtlinge sind oder
nicht, egal wo auf dieser Welt sie leben, haben überall
die gleichen Rechte.
({10})
Deshalb folgen die Koalitionsfraktionen in ihrem
Entschließungsantrag der Forderung des Zehnten Kinder- und Jugendberichts, die Vorbehalte der früheren
Bundesregierung gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurückzunehmen. Ich gehe davon aus, daß die
neue Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende tut,
um das auch umzusetzen.
({11})
Ich komme zum Schluß. Nehmen wir den Zehnten
Kinder- und Jugendbericht zum Anlaß, um deutlich
Partei für Kinder und Jugendliche zu ergreifen! Belassen
wir es nicht bei einer Debatte im Deutschen Bundestag,
sondern machen wir uns im nationalen, europäischen
und internationalen Rahmen an die Arbeit, um die
Rechte und Chancen von Kindern und Jugendlichen zu
stärken!
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort
zu einer Kurzintervention der Kollegin Hannelore
Rönsch, CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nachdem es mir bei drei Vertretern der Regierungsfraktionen
nicht gelungen ist, eine Antwort zu bekommen, habe ich
mich für den Weg der Kurzintervention entschlossen.
({0})
- Nein, ich mache jetzt eine Intervention und will Sie
darauf hinweisen, daß Sie noch im vergangenen Jahr die
Wahlkampfkeule „Kinderarmut in Deutschland“ geschwungen haben. Sie haben jetzt einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem das eigentlich gar nicht mehr
vorkommt. Sie haben das Wort Armut auch heute immer
wieder im Munde geführt, aber Sie haben es nicht richtig definiert.
Wenn Sie Armut mit Sozialhilfebezug gleichsetzen,
dann schauen Sie sich bitte bei den europäischen Nachbarn um. Eine Familie mit zwei Kindern in den alten
Bundesländern erhält 2 900 DM Sozialhilfe. Ich hätte
Ihnen gerne die Frage gestellt, ob Sie diesen Betrag
kennen und ob Sie das mit Armut gleichsetzen. Wir von
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion tun dies nicht.
Ein Weiteres. Wenn Sie immer wieder Zahlen dafür
anführen, daß die Zahl der Kinder, die Sozialhilfe beziehen, ansteigt, so verschweigen Sie aber wohlweislich,
wo die Ursache liegt. Die Bundesrepublik Deutschland
ist das Land, das mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und aus dem Kosovo aufgenommen hat als alle anderen europäischen Länder zusammen und das mehr
Asylsuchende aufgenommen hat als andere europäische
Länder. Wenn dadurch die Sozialhilfe für Kinder insgesamt steigt, dann denke ich, ist das ein Zeichen dafür,
daß unser Land Familien in Not aufnimmt. Sie können
dies aber nicht mit einer zunehmenden Armut bei den
Kindern in Deutschland gleichsetzen.
({1})
Kollege Simmert,
wollen Sie erwidern? - Bitte.
({0})
Frau Rönsch, ich mache es kurz. Niemand hat hier Zahlen gegengerechnet. Das haben Sie gerade gemacht.
Ich habe vorhin darauf hingewiesen
({0})
- hören Sie doch einmal zu! -, daß es eine Initiative von
Ärzten gibt - auch hier in Berlin zum Beispiel in Wedding -, die sich sehr engagiert dafür einsetzen, deutlich
zu machen, daß die Folgen von Kinderarmut in der
Bundesrepublik auch gesundheitlicher Natur sind. Das
müssen wir zur Kenntnis nehmen, und darüber müssen
wir diskutieren.
({1})
Das ist eine gesellschaftliche Realität, der wir uns
stellen müssen. Ich glaube aber, bei dieser Diskussion
werden wir nie auf einen Nenner kommen. Ehrlich gesagt möchte ich da mit Ihnen auch nicht auf einen Nenner kommen, weil ich dazu eine völlig andere politische
Position habe als Sie.
({2})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Unterschiedliche Anträge liegen auf dem
Tisch. Im CDU/CSU-Antrag heißt es, der Zehnte Kinder- und Jugendbericht ist gut und wichtig und zeigt:
Wir waren als Regierungsparteien auf dem besten Wege,
die aufgezeigten Probleme zu lösen. Einfach peinlich,
Frau Eichhorn, Frau Rönsch und Herr Dehnel. Ich sage
Ihnen: Es nützt überhaupt keinem Bericht, gut und
wichtig zu sein, wenn er nicht zugleich ernst genommen
wird. Auch deshalb haben wir auf eine allgemeine Laudatio verzichtet und statt dessen einen konkreten Antrag
zugunsten von Kindern und Jugendlichen gestellt. Das
Konkrete sind in diesem Fall die Rechte und Chancen
von Kindern und Jugendlichen sowie Ungerechtigkeiten
gegenüber Sozialhilfeempfängern.
Ich erinnere daran, wir diskutieren über diesen Bericht zur Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen
nicht im luftleeren Raum, sondern in Berlin. Wer von
Ihnen schon über die Straße „Unter den Linden“ bzw.
über den Reichstag hinausgekommen ist, kann erleben,
was mit schönen Bildern eben nicht erfaßt wird. Weit
über eine viertel Million Menschen leben in dieser Stadt
von Sozialhilfe - Tendenz steigend, vor allem bei Alleinerziehenden. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen bedeutet dies Armut und Rückstufung von
klein auf, zumeist mit lebenslangen Folgen.
Weil das reale Leben häufig anders ist als das beantragte, kann ich Ihnen von der CDU/CSU nur empfehlen, folgenden Satz aus Ihrem Antrag einmal im Berliner
Wedding oder auch in Friedrichshain zu plakatieren. Ich
darf zitieren:
Die ansteigende Zahl der Sozialhilfeempfänger ist
kein Hinweis auf wachsende Armut in unserer Gesellschaft. Sozialleistungen verhindern existenzbedrohende Armut und schaffen sie nicht.
Das klingt, als würde ich mich ins Gewitter stellen und
sagen, die vielen aufgespannten Regenschirme lassen
nicht auf Regen schließen, denn Schirme regnen ja
schließlich nicht.
({0})
Wirklich, ein bemerkenswerter Beitrag der CDU/CSU
zum Thema soziale Gerechtigkeit, zumal - um im Bild
zu bleiben - dies weder etwas am Gewitter ändert noch
an der Tatsache, daß der Regenschirm nicht wasserdicht,
sprich: daß Sozialhilfe eben nicht armutsfest ist.
Wir fordern die Bundesregierung mit unserem Antrag
auf, eine offensichtliche Ungerechtigkeit zu korrigieren.
Es war richtig, das Kindergeld anzuheben, aber es
bleibt ungerecht, das kleine Mehr ausgerechnet bei jenen
abzuziehen, die es am nötigsten brauchen, den Sozialhilfeempfängern,
({1})
was übrigens erneut belegt: Kinder werden eben nicht
als Kinder definiert, sondern nach wie vor rechtlich und
finanziell als Anhängsel ihrer Eltern. Geht es den Eltern
schlecht, haben die Kinder Pech gehabt, geht es den Eltern gut, sind uns auch die Kinder lieb und teuer.
Aufgrund der Redezeit kann ich leider hier und jetzt
nicht auf Ihre natürlich bedenkenswerten Argumente
gegen die rechtliche Lösung eingehen. Ich sage Ihnen
aber: Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet, und ich
freue mich auf die Debatte dazu in den Ausschüssen.
Lassen Sie uns im Interesse der Kinder hier eine Regelung finden, und lassen Sie uns darüber hinaus, wenn die
Debatte konkret wird, dafür sorgen, daß alle Kinder mit deutschem Paß und ohne deutschen Paß - an dieser
Stelle nicht mehr in die Situation kommen, daß sie als
zweit- oder drittklassig angesehen werden.
Danke schön.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans Peter Bartels, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich will hier zu einem Thema sprechen, das zwischen den Fraktionen des Bundestages nicht strittig und dennoch nicht völlig unbeachtlich
ist. Es geht um das Europäische Aktionsprogramm „Jugend“. Wie wichtig dieses Thema den Regierungsfraktionen ist, mögen Sie schon daran sehen, daß in der Koalitionsvereinbarung nicht ein-, sondern zweimal ausdrücklich der Ausbau des europäischen Jugendaustauschs gefordert wird. Dies findet nun mit der Einführung des gemeinschaftlichen Aktionsprogramms „Jugend“ statt. Wir begrüßen das ausdrücklich.
Die bereits laufenden Programme „Jugend für Europa“ und „Europäischer Freiwilligendienst“ werden gebündelt und um weitere Aktionen angereichert. Davon
erhoffen wir uns noch mehr Breitenwirkung.
Unsere Zielgruppe ist riesengroß. 54 Millionen Jugendliche in der EU sind derzeit im austauschfähigen
Alter, also zwischen 15 und 25 Jahren. 80 000 haben im
vergangenen Jahr am Austausch teilgenommen. Das ist
eine große Zahl, aber es sollen noch mehr werden. Deshalb sind die Mittel für die nächsten fünf Jahre auf 350
Millionen Euro erhöht worden, also etwas weniger als
700 Millionen DM.
Mit der vorliegenden Beschlußempfehlung des Jugendausschusses fordern wir die Bundesregierung, die ja
willig ist, auf, die Bedingungen für das Wirksamwerden
des europäischen Jugendprogrammes weiter zu verbessern. So soll sie in der EU darauf hinwirken, daß die
Teilnehmer am Freiwilligendienst, die also sechs bis 12
Monate im Ausland arbeiten, einen eigenen aufenthaltsund sozialversicherungsrechtlichen Status bekommen.
Der Freiwilligendienst ist ja im Gegensatz zum Austauschprogramm „Jugend für Europa“ noch neu. Bisher
haben erst 6 000 Jugendliche daran teilgenommen. Aber
spätestens durch das neue Fünfjahresprogramm wird er
zu einer Institution. Deshalb brauchen wir die Herstellung von Rechtssicherheit für die Jugendlichen.
({0})
Auch der Anspruch auf Kindergeld soll beim Freiwilligendienst im Ausland fortbestehen. Daran wird im
Finanzministerium - quasi im Vorgriff auf unseren Beschluß heute - bereits gearbeitet.
Wir fordern darüber hinaus zur rechtlichen Sicherheit
von grenzüberschreitenden Diensten deutscher Freiwilliger generell ein nationales Freiwilligengesetz. Die
vergangene Bundesregierung hatte sich auf diesem Gebiet für Abwarten entschieden nach dem Motto: Erst
einmal sehen, ob die europäischen Freiwilligendienste
von Dauer sind. Sie sind von Dauer. Deshalb fordern wir
jetzt klare Regelungen. Denn die Jugendlichen sollen
genau wissen, worauf sie sich einlassen.
({1})
Wir treten in der Beschlußempfehlung des Ausschusses außerdem ein für eine zügige Umsetzung des Programms, für gezielte Öffentlichkeitsarbeit, für eine bessere Vorbereitung und Begleitung der Freiwilligen, für
die Einbeziehung aller Lebensbereiche junger Menschen
- dies betrifft Bildung, Sport, Kultur und Freizeitaktivitäten - in die kurzzeitigen Austauschprogramme, für die
Öffnung des Programms für Jugendliche, die bisher benachteiligt waren, für Geschlechtergerechtigkeit - das
sollte klar sein -, für einen höheren Anteil von Freiwilligendienstlern aus und in Nicht-EU-Staaten und
schließlich natürlich für mehr Geld. Denn wir sollten
uns nichts vormachen: Die Erhöhung des Etats für die
nächsten fünf Jahre kann durch die EU-Osterweiterung,
die wir ja wollen und die wir beschleunigen wollen,
schnell aufgezehrt werden.
Deshalb: Freuen wir uns über das Interesse, das Engagement und die Begeisterung vieler junger Menschen
für Europa! Seien wir froh, daß wir in den nächsten Jahren ein gutes europäisches Jugendprogramm haben werden. Aber lassen Sie uns uns schon jetzt dafür einsetzen,
die Bedingungen des Austauschs in der Zukunft noch zu
verbessern.
Vielen Dank.
({2})
Dies war die erste
Rede des Kollegen Hans Peter Bartels. Unsere herzliche
Gratulation!
({0})
Nun erteile ich das Wort Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute die Vorlage der EU-Kommission für das gemeinschaftliche Aktionsprogramm „Jugend“. Das Programm soll in den Jahren 2000 bis 2004 an die Stelle der
bisherigen Programme „Europäischer Freiwilligendienst“ und „Jugend für Europa“ treten. Das Programm
verfolgt drei sehr wichtige Ziele: den Ausbau des europäischen Bildungsraumes, die Förderung der Beschäftigungschancen für europäische Jugendliche und nicht
zuletzt die Förderung persönlicher und sozialer Kompetenzen im Hinblick auf Toleranz und mitmenschliche
Solidarität. Selbstverständlich finden diese Ziele die
volle Unterstützung meiner Fraktion und - da bin ich sicher - die des ganzen Hauses.
Die Neuerung, die bisherigen gemeinschaftlichen
Aktivitäten in bezug auf die Jugendbildung außerhalb
der Schule und die Jugendförderung in einem eigenständigen Programm zusammenzufassen, wird ebenso begrüßt wie die bessere Verzahnung mit den bereits bestehenden, überaus erfolgreichen Programmen SOKRATES und LEONARDO. Die Neuerungen dienen der Effizienz und - das ist im europäischen Rahmen besonders
wichtig - der Transparenz. So weit, so gut.
Über die Ziele des Programms und die organisatorischen Veränderungen gab es in den Ausschußberatungen keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten.
Ich will aber an dieser Stelle deutlich auf einige Kritikpunkte der CDU/CSU hinweisen. Diese beziehen sich
sowohl auf die Ausgestaltung des Programms selbst als
auch auf die Beschlußempfehlung des federführenden
Ausschusses.
Einer der Kritikpunkte betrifft die finanzielle Ausgestaltung des Programmes. Das vergangene Europäische
Parlament hatte 800 Millionen Euro für die nächsten
fünf Jahre veranschlagt. Die Kommission hat diesen
Vorschlag auf 600 Millionen Euro reduziert. Der Rat hat
dieses Jahr schließlich beschlossen, lediglich 350 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Sparen ist in Zeiten knapper Kassen sicherlich eine sehr löbliche Absicht. Beim Aktionsprogramm „Jugend“ müssen wir uns
aber die Frage stellen, ob mit dieser Summe das Ziel des
Programmes überhaupt noch verwirklicht werden kann.
Es ist völlig klar, daß selbst der von der Kommission
vorgeschlagene Betrag von 600 Millionen Euro nur ein
Tropfen auf den heißen Stein europäischer Jugendarbeit
ist.
({0})
Der gesamte Ansatz liegt damit niedriger als beispielsweise der Jahresetat des Deutsch-Französischen
Jugendwerkes. Ich erwähne dies nur, um Ihnen die
Dimensionen und die Relationen dieses Programms
deutlich zu machen. Wenn die für dieses Programm vorgesehenen Mittel unter der Empfehlung der Kommission
bleiben, laufen wir Gefahr, daß das Programm zur reinen Symbolik wird. Das wäre nicht im Interesse des
europäischen Gedankens.
({1})
Es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob der EU der
europäische Jugendliche weniger wert ist als die europäische Kuh. Wir fordern deshalb die Bundesregierung
auf, darauf hinzuwirken, dem Programm einen angemessenen Finanzrahmen zur Verfügung zu stellen.
Die nächsten beiden Kritikpunkte richten sich auf die
Verteilung der ohnehin schon knappen Mittel innerhalb
des Programms. Wir sind der Meinung, daß innerhalb
des Programms ein Mißverhältnis zwischen dem Europäischen Freiwilligendienst und dem Jugendaustausch
besteht. Insgesamt wird der Jugendaustausch nur knapp
ein Drittel der finanziellen Mittel bekommen. Dies kann
trotz der Bedeutung des Freiwilligendienstes nicht richtig sein, da der Jugendaustausch eine ungleich höhere
Breitenwirkung erzielt. Die neue Kommission hat in
dieser Frage bereits Zustimmung signalisiert; unsere
Forderung wird also von dieser Seite unterstützt.
Der Kritikpunkt richtet sich auf einen Aspekt, der mir
als Abgeordnete aus Brandenburg ganz besonders am
Herzen liegt, nämlich die Einbeziehung der mittel- und
osteuropäischen Nachbarn. Die Osterweiterung der
Europäischen Union ist eine der größten Aufgaben der
nächsten Jahre. Sie dient der wirtschaftlichen und politischen Stabilität unserer Nachbarn im Osten; nur so kann
langfristig der Frieden in Europa gesichert werden.
({2})
Sie liegt deshalb auch im besonderen Interesse und in
der Verantwortung der ostdeutschen Länder.
Ein wichtiger Eckpunkt dieses Prozesses muß die
europäische Jugendarbeit sein. Die Generation der jetzt
15- bis 25jährigen in West- und Osteuropa wird die EU
maßgeblich prägen. Diese Generation muß Gelegenheit
haben, sich in Gruppen zu begegnen, um individuelle
Erfahrungen vom jeweils anderen Teil zu sammeln, um
Erfahrungen auszutauschen.
Deshalb ist es begrüßenswert, daß das gemeinschaftliche Aktionsprogramm in den letzten Jahren mehr und
mehr für die Staaten Mittel- und Osteuropas geöffnet
wurde. Auch die vorliegende Beschlußempfehlung für
das Programm für die Jahre 2000 bis 2004 sieht eine
Teilnahme dieser Staaten ausdrücklich vor. Die Beteiligung ist aber, gemessen an der Bedeutung der bevorstehenden Osterweiterung, äußerst gering.
Für die Jugendlichen aus den Mitgliedsländern, die
einen Freiwilligendienst in einem Drittland leisten wollen, stehen in dem Programm 6 Prozent des gesamten
EFD-Titels zur Verfügung. Bisher entfiel dabei zirka die
Hälfte, also 3 Prozent der Mittel auf die Länder Mittelund Osteuropas. 3 Prozent dieses Etats für den Aufbau
von Freiwilligenstrukturen in den beitrittswilligen Ländern - das ist einfach zuwenig. Es erscheint mir im Hinblick auf diese Aufgabe nicht angemessen.
({3})
Das Jugendaustauschprogramm ist besonders geeignet, Toleranz zu fördern und Fremdenfeindlichkeit zu
begegnen. Besonders in den neuen Ländern richtet sich
Fremdenfeindlichkeit häufig gegen Bürger aus Mittelund Osteuropa. 20 Prozent der Mittel sollen zwischen
2000 und 2004 in den Austausch mit Drittländern gehen;
davon entfällt nach bisherigen Erfahrungen die Hälfte
auf Projekte in den östlichen beitrittswilligen Ländern.
Wie beim EFD erscheinen die vorgesehenen Mittel, zirka 10 Prozent des Aktionsbudgets, im Hinblick auf die
Aufgabe der vorbereitenden Integration der mittel- und
osteuropäischen Staaten als unzureichend.
Hinzu kommt, daß die Länder Mittel- und Osteuropas
ihre Teilnahme am Aktionsprogramm mit Devisen erkaufen müssen. Dafür nehmen sie erhebliche Einschnitte
bei ihrer nationalen Jugendarbeit in Kauf. Dies fördert
bei den betroffenen Jugendlichen nur wenig die Aufgeschlossenheit gegenüber einem geeinten Europa und der
europäischen Idee. Die bisherige Form der finanziellen
Beteiligung dieser Länder an dem Aktionsprogramm
sollte deshalb überdacht werden, zumal mögliche wirtschaftliche Krisen eine Teilnahme dieser Länder am
Aktionsprogramm bis zu ihrem EU-Beitritt gefährden
könnten.
Unsere Vorschläge für eine verstärkte Einbeziehung
der mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten fanden im Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
eine breite Zustimmung. Dennoch wurde der Verbesserungsvorschlag von der SPD abgelehnt.
({4})
Als Begründung für diese Ablehnung wurde angegeben,
daß der europäische Entscheidungsprozeß in dieser Angelegenheit bereits abgeschlossen sei und man deshalb
keine Verbesserungsvorschläge mehr zu machen brauche.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich finde es
schade, daß Sie unsere Vorschläge entgegen Ihrer Überzeugung mit formalen und unrichtigen Argumenten abgelehnt haben, nur um einem Antrag der Opposition
nicht zustimmen zu müssen.
({5})
Das ist dem Thema, mit dem wir uns hier beschäftigen,
unangemessen.
({6})
Ich erneuere deshalb meine Forderung an die Bundesregierung, beim Aktionsprogramm „Jugend“ die zukünftigen Beitrittsstaaten in Mittel- und Osteuropa stärker zu
berücksichtigen.
Schließlich möchte ich noch anmerken, daß die Leitlinie des Programms, nämlich die Schaffung eines europäischen Bildungsraumes im Rahmen einer Politik der
Wissensförderung, ein wichtiges Ziel verfolgt, das jedoch - und das ist problematisch - über die in Art. 126
der EG-Verordnung geregelten Befugnisse der EU
hinausgeht. Das europäische Verständnis der Bürger
beinhaltet, daß sich Europa nur dort engagiert, wo es das
Gesetz vorsieht.
Ein weiterer Grund, warum wir der Beschlußempfehlung nicht zustimmen werden, ist die rotgrüne Forderung nach einem nationalen Freiwilligengesetz, das die
deutschen Teilnehmer im Ausland rechtlich absichern
soll. Diese Forderung ist sicherlich gut gemeint. Wir
sind aber davon überzeugt, daß es eines solchen Gesetzes nicht bedarf und lediglich die derzeitigen Regelungen zu ergänzen sind. Die Einheitlichkeit des Programms verlangt, wenn überhaupt, eine europäische Regelung, die national umgesetzt werden muß.
Schließlich möchte ich noch ein Wort zu den im
Kommissionsvorschlag vorgesehenen „Europäischen
Wissenszentren“ auf lokaler und regionaler Ebene verlieren. Diese halte ich für überflüssig, zumal die Gefahr
besteht, daß sie bestehenden Programmen Konkurrenz
machen. Dies wäre nicht im Sinne des Erfinders und widerspräche dem eigentlichen Sinn des Aktionsprogramms „Jugend“, dem wir uns alle - das betone ich
zum Abschluß - verpflichtet fühlen.
Vielen Dank.
({7})
Auch dies war eine
erste Rede, und zwar die der Kollegin Reiche. Unsere
herzliche Gratulation!
({0})
Nun erteile ich der Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin sehr
froh darüber, daß wir heute noch einmal Gelegenheit
haben, über diesen Zehnten Kinder- und Jugendbericht
zu diskutieren. Die Debatte im vergangenen Jahr litt ja
etwas unter Schlagseite. Wir haben sehr viele Aspekte
dieses umfangreichen und wichtigen Berichtes überhaupt noch nicht - jedenfalls nicht im Plenum - diskutiert.
Die Debatte wird, wie ich glaube, auch über diesen
Tag hinaus weitergehen; denn dieser Bericht bietet eine
wichtige Analyse der Lebenssituation von Kindern in
unserem Land. Er gibt auch wichtige Empfehlungen dafür, wie man die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen vorantreiben kann. Nun muß einem ja nicht alles
gefallen, was in dem Bericht steht, und man muß auch
nicht jeden Punkt aufgreifen. Aber wenn man solche Berichte in Auftrag gibt, dann sollte man sich nach meiner
Meinung mit ihnen wenigstens ernsthaft auseinandersetzen
({0})
und sehen, was man aus ihnen für die eigene Kinderund Jugendpolitik schöpfen kann.
Da sind wir auf einem guten Wege. Ich werde Ihnen
gleich darstellen, was wir alles schon getan haben. Aber
wir haben hier auch noch eine ganze Menge gemeinsam
zu tun. Wenn ich „wir“ sage, meine ich damit nicht nur
die Bundesregierung, sondern genausogut die Länder
und Kommunen, die Verbände sowie viele Gruppen in
der Gesellschaft. Schließlich müßte eine „Kultur des
Aufwachsens“ von Kindern in unserer Gesellschaft, wie
es in dem Bericht formuliert wird, uns allen gemeinsam
sehr am Herzen liegen.
({1})
Es geht darum, die Integration junger Menschen in
Staat und Gesellschaft zu fördern. Integration bedeutet
auch, Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichen
Gründen benachteiligt sind und am Rande der Gesellschaft stehen, zu unterstützen, ihre Benachteiligung auszugleichen und ihnen auf diesem Wege gleiche Chancen
zu geben. Ein zentraler Punkt unserer Politik ist daher
die Chancengerechtigkeit.
({2})
Dabei denke ich zuallererst an Kinder in Familien, die
von Sozialhilfe leben, an Kinder, deren Eltern arbeitslos
sind, und an Kinder und Jugendliche, die mit ihren Eltern in sozialen Brennpunkten leben.
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht hat uns sehr
deutlich vor Augen geführt, welche Dimension die Armut von Familien in Deutschland inzwischen angenommen hat. Nun will ich hier die Armutsdebatte nicht
erneut führen; das haben wir im vergangenen Jahr ausgiebig getan. Es geht auch gar nicht darum, wie man die
Armutsgrenze definiert. Vielmehr geht es um Chancengerechtigkeit.
({3})
Alle Kinder müssen wirklich gleiche Chancen in dieser
Gesellschaft haben. Als ich 1945 in die Schule gekommen bin, bin ich natürlich barfuß gegangen, aber alle
anderen in der Klasse auch. Das ist der Unterschied zu
der Situation, die wir heute vorfinden.
({4})
Sie wehren sich deshalb so dagegen, weil Sie wissen,
daß Sie das selbst zu verantworten haben. Sie haben
schließlich in den letzten Jahren regiert. Guckt man sich
einmal die letzten Bundesverfassungsgerichtsbeschlüsse
an - auch Sie sollten sie einmal sehr gründlich lesen -,
dann stellt man an einer Reihe von Punkten fest, was in
den letzten Jahren alles nicht umgesetzt wurde.
({5})
Es muß jetzt wirklich darum gehen, wie wir schrittweise
die Lücken schließen und Familien deutlich entlasten.
Dazu muß ich noch ein weiteres Wort sagen: Es war
ja geradezu abenteuerlich, Frau Eichhorn, daß Sie erklärt
haben, wir hätten hier nur Versprechungen abgegeben,
sie aber nicht gehalten.
({6})
Das jetzt vorgelegte Paket zur Familienentlastung zeigt,
daß wir unsere Versprechungen halten. Mehr noch: Wir
haben 30 DM mehr Kindergeld versprochen und sind
jetzt bei 50 DM.
({7})
Wir haben eine steuerliche Entlastung durch Senkung
des Eingangsteuersatzes vorgenommen.
Das ist vor allen Dingen für junge Familien mit Kindern wichtig.
({8})
Wir haben den Grundfreibetrag erhöht. Das wissen Sie
alles. Es könnte alles mehr sein; da gebe ich Ihnen recht.
Wir alle würden ja gern mehr verteilen,
({9})
weil wir wissen: Es gibt immer noch eine Schere zwischen denen, die Kinder erziehen, und denen, die keine
Kinder erziehen. Wir werden dranbleiben; das sage ich
Ihnen in allem Ernst.
({10})
Aber klar ist auch, daß wir damit aufhören müssen, neue
Schulden aufzuhäufen. Denn das zu tun ist auch keine
gute Kinder- und Jugendpolitik.
({11})
Das ist ja einer der Hauptgründe, warum wir das
„Zukunftsprogramm 2000“ vorgelegt haben und sagen:
Wir müssen an dieses Thema rangehen; wir müssen den
Haushalt konsolidieren. Denn ich denke, ein solcher
Haushalt, wie wir ihn vorgelegt haben, ist auch ein
Stück nachhaltiger Kinder- und Jugendpolitik.
({12})
Wir verlagern die Schulden nicht auf die nächsten Generationen.
Wie ernst wir die Kinder- und Familienpolitik nehmen, zeigt sich daran, daß wir in diesen Bereichen keine
Einsparungen vornehmen. Das hat Herr Stöckel schon
gesagt. Im Bereich des Kinder- und Jugendplanes wird
im nächsten Jahr die gleiche Summe zur Verfügung stehen; dasselbe gilt für den Bereich der Familienleistungen, und das, obwohl ich, wie Sie alle wissen, 880 Millionen DM einsparen muß. Die Prügel werde ich dann
an anderer Stelle bekommen. Ich kann mit dieser Prioritätensetzung sehr gut leben.
({13})
Kinder sind traditionell die schwächsten Glieder in
einer Gesellschaft. Wer sie in unsere Gesellschaft integrieren will, muß ihnen auch besonderen Schutz zukommen lassen, muß Kinderrechte stärken, und zwar
alle und ohne Vorbehalt.
({14})
- Könnten Sie ruhig zuhören, auch Sie, Frau Rönsch?
Das hilft ja manchmal.
({15})
Ich will auf zwei Punkte eingehen. Der eine betrifft
das Recht auf gewaltfreie Erziehung und der andere das
Recht auf Partizipation in unserer Gesellschaft.
Mit dem Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung, für das ein Gesetzentwurf vorliegt, wollen wir
auch eine Bewußtseinsänderung bei Eltern erreichen;
wir wollen keinesfalls die Familie kriminalisieren. Das
haben wir nun schon hundertmal gesagt. Ich verstehe eigentlich gar nicht, warum Sie sich so dagegen wehren.
Wenn man - wie Sie das ja auch tun - beklagt, daß die
Gewalt in der Gesellschaft zunimmt, dann muß man
doch, wenn man etwas dagegen tun will, ganz unten, bei
den schwächsten Gliedern, anfangen,
({16})
dann muß man Familien, auch wenn es dort manchmal
nicht ganz konfliktfrei zugeht, dazu bringen zu sagen:
Wir wenden keine Gewalt an; Gewalt ist immer ein
schlechtes Beispiel. Gewalt setzt eine Spirale der Gewalt
in Gang. Wenn wir das nicht nur rechtlich verankern
und das betreffende Gesetz ändern, sondern auch mit einem Aktionsprogramm, mit Hilfen für Eltern, mit Information, mit Aufklärung, mit Erziehungshilfen verbinden, dann ist das eine sehr vernünftige Sache. Wir
wissen natürlich, daß wir nicht innerhalb von 14 Tagen
in dieser Beziehung die Welt verändern können. Auch
andere Länder haben dazu ein paar Jahre gebraucht.
Lassen Sie uns aber doch erst einmal gemeinsam den
Weg beschreiten, der dazu führt, daß es weniger Gewalt
in der Gesellschaft gibt.
({17})
Frau Eichhorn, wenn Ihnen das so viele Probleme
macht, gebe ich Ihnen jetzt in allem Ernst, ohne Häme,
einen guten Rat - es gab jetzt viele Kinderversammlungen, auch im Vorfeld des Weltkindertags -: Setzen Sie
sich einmal mit Kindern zusammen, legen Sie ihnen die
Kinderrechte vor, und fragen Sie die Kinder, was für sie
Priorität hat. Erstaunlicherweise wird dann überall das
Recht auf gewaltfreie Erziehung genannt. Kinder fühlen
sich in ihrer Würde verletzt, wenn dieses Recht nicht
gewährleistet wird. Da können wir doch alle etwas tun.
({18})
Wir wollen im Rahmen eines begleitenden Aktionsprogramms die Erziehungskompetenz der Eltern stärken;
wir wollen die Zusammenarbeit mit den Familienberatungsstellen und mit den Familienverbänden vor Ort dabei können Sie alle mithelfen - verbessern, damit
Eltern eben mehr Hilfe und Unterstützung bekommen.
Dieses Aktionsprogramm und diese Änderung des Gesetzes sollen deutlich machen, daß gewaltfreie Erziehung ein gesellschaftliches Anliegen ist, für dessen
Realisierung alle in der Gesellschaft Verantwortung tragen.
({19})
Um einen verantwortlichen Umgang der Gesellschaft
mit Kindern und Jugendlichen geht es auch im Hinblick
auf diejenigen, die straffällig werden. Dazu ist in den
Anträgen ja das eine oder andere zur Sprache gekommen. Ich glaube, daß hier vor allen Dingen eine nüchterne Betrachtung notwendig ist. Nur ein ganz verschwindend geringer Teil der Kinder- und Jugendkriminalität ist gravierender Natur. Kinder kommen nicht als
Kriminelle auf die Welt; sie werden zu Kriminellen auf
Grund schlechter Vorbilder, negativer Erfahrungen oder
belastender Umstände. Wir müssen also immer deutlich
machen: Die meisten Kinder sind eben nicht kriminell,
und gravierende Fälle gibt es ganz wenige.
({20})
Das, was wir in erster Linie tun können und müssen,
ist die Gewaltprävention zu stärken, um den jungen
Menschen mit Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe
den Weg zurück in die Gesellschaft zu weisen. Härtere
Strafen sind eben kein geeignetes Mittel, um junge Menschen von Straftaten abzuhalten. Es geht um Prävention
und intensive Betreuung. Dabei will ich gar nicht alles
aufzählen, was es an Projekten gibt. Gerade haben wir
ein neues auf den Weg gebracht: In mehreren Städten
werden die schwierigen Kinder in einer ganz intensiven
ambulanten Betreuung gemeinsam mit den Eltern über
eine gewisse Zeit begleitet. Die Erfahrungen damit aus
anderen Ländern, insbesondere aus den Niederlanden,
sind sehr positiv. Auch ich verspreche mir davon etwas.
Vielleicht kommen wir so in der Debatte ein Stück weiter.
Chancengerechtigkeit in der Kinder- und Jugendpolitik herstellen zu wollen bedeutet auch, den Eltern - hier
meine ich Mütter und Väter - die Chance zu geben, Beruf und Familie zu vereinbaren, um den Lebensunterhalt
für sich und ihre Kinder zu verdienen. Dafür brauchen
die Familien - dies ist ein ganz schwieriger Punkt - eine
ordentliche Infrastruktur, brauchen sie Kinderbetreuungseinrichtungen.
({21})
Wir wissen, daß es noch ganz erhebliche Lücken gibt.
Natürlich liegt die Zuständigkeit zunächst einmal bei
den Kommunen und den Ländern. Aber wir sind bereit,
bei der Förderung auch unkonventionelle Wege zu gehen, um zum Beispiel beim Thema Ganztagsschulen
weiterzukommen.
({22})
Schule und Jugendarbeit müssen besser miteinander
verzahnt werden. Es darf nicht sein, daß auf der einen
Seite die Schulen nachmittags leer stehen und auf der
anderen Seite Eltern dadurch, daß sie berufstätig sind,
ein Problem haben, weil sie nicht wissen, was ihre Kinder inzwischen tun. Also: Lassen Sie uns versuchen, zusammen mit Ländern und Kommunen das Problem zu
lösen! Dabei ist es - das sage ich an die PDS - nicht einfach mit einem Gesetz getan. Wir brauchen dafür wirklich Unterstützung von allen Seiten. Das fängt in den
Köpfen an. Das fängt damit an, ob man akzeptiert, daß
Mütter in gleicher Weise wie Väter erwerbstätig sind,
und entsprechende Voraussetzungen dafür schafft.
({23})
Ich will auf einen Punkt von den Anregungen und
Empfehlungen des Zehnten Kinder- und Jugendberichtes
zu sprechen kommen, den wir schon umgesetzt haben:
Mir geht es um die Integration der Kinder von Zuwanderern.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Bitte schön.
Bundesministerium Dr. Christine Bergmann
Frau Ministerin, Sie haben gerade den Wunsch der Bundesregierung angesprochen,
Kinderbetreuungsmöglichkeiten mehr zu fördern. Im
SPD-Bundestagswahlprogramm steht, daß Sie den
Kommunen dafür mehr Geld geben. Im Aktionsprogramm Frau und Beruf steht davon nichts mehr. Da steht
lediglich, daß Sie sich mit den Ländern und Kommunen
darüber unterhalten. Ich möchte hier von Ihnen wissen,
was Sie dazu heute sagen. Inwiefern wollen Sie die
Kommunen bei Halbtagsgrundschulen, bei Ganztagsschulen und im Hinblick auf die Erweiterung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene
unterstützen?
Frau Lenke, wir
sind derzeit mit den Ländern im Gespräch, um herauszufinden, welche Modelle sich bewährt haben. Die Länder
sind ja diesbezüglich sehr unterschiedlich weit fortgeschritten. In einigen Ländern gibt es eine bedarfsgerechte Versorgung, und einige Länder - ich denke an
Brandenburg und Sachsen-Anhalt - haben sogar einen
Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Wir wollen unterstützend tätig sein, können aber natürlich nicht jede Kita
in diesem Land finanzieren. Deshalb sage ich: Diese
Forderungen richten sich nicht nur an die Bundesregierung. Hier geht es darum, daß Kommunen, Länder und
die Bundesregierung zusammenarbeiten. Ich kenne
nämlich durchaus reiche Kommunen, die alles mögliche
machen - nur keine Kita bauen. Vor allem um Betreuungsmöglichkeiten für die unter Dreijährigen und um
die Horterziehung kümmert man sich zu wenig. Das ist
meine Antwort auf Ihre Frage. Sie können mich alle
gerne unterstützen. Das wäre doch eine gute Sache; machen wir es doch gemeinsam.
({0})
Aber es ist klar, daß wir auf vielen verschiedenen Ebenen handeln müssen.
Ich war bei der Frage der Integration von Kindern
von Zuwanderern. Mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes haben wir einen ersten Schritt im
Rahmen einer umfassenden Migrationspolitik vollzogen.
Auch das haben die Sachverständigen, die an der Erstellung des Zehnten Kinder- und Jugendberichtes beteiligt waren, gefordert: bessere rechtliche Voraussetzungen für die Integration dieser Kinder. Aber auch die
sozialen Rahmenbedingungen müssen natürlich verbessert werden.
Ich komme noch einmal auf das Programm zur
Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu sprechen.
In diesem Programm haben ausländische Kinder einen
sehr großen Anteil. Das ist bewußt eine Zielgruppe gewesen, weil wir wissen, daß sie auf dem Arbeitsmarkt
benachteiligt werden. Das hat zum Teil etwas mit den
Schulabschlüssen zu tun. Mit diesem Programm wird
eine Integrationsleistung vollzogen. Daß Sie so permanent gegen dieses Programm giften, bestärkt mich immer wieder in der Überzeugung, daß es offensichtlich
sehr erfolgreich ist. Das vertragen Sie nämlich nicht so
gut.
({1})
Wir werden dieses Programm noch mit weiteren Mitteln
unseres Haushalts verstärken. Es geht uns gerade um Jugendliche in sozialen Brennpunkten. Wir wissen, dort
leben sehr viele Zuwandererfamilien. Ihnen wird das
Programm zugute kommen.
Meine Damen und Herren, ich habe bereits die Kultur
des Aufwachsens, die die Jugendberichtskommission
einfordert, angesprochen. Ich denke, wir brauchen einen
kulturellen Wandel auch bei der Partizipation von Kindern und Jugendlichen, die für die Zukunft unserer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Es kommt
darauf an, junge Menschen frühzeitig in demokratische
Entscheidungsprozesse vor Ort einzubinden. Ihnen muß
klargemacht werden, daß die Demokratie davon lebt,
daß sich an ihr viele beteiligen. Sie müssen auch ermutigt werden, mitzumachen.
Dazu gibt es unterschiedliche Modelle, die wir zur
Zeit evaluieren. Ich denke zum Beispiel daran, daß wir
bei den Kinderversammlungen sehr viele Forderungen
von Kindern an Politiker aufgenommen haben. Die Politiker müssen nach einer bestimmten Zeit Rechenschaft
ablegen, was davon umgesetzt wurde. Es gibt Kinderparlamente und Kinderbeiräte in den Städten. Es wird in
der nächsten Zeit darauf ankommen, die besten Modelle
auch in der Fläche stärker auszuweiten, damit Kinder
das erleben können, was die Sachverständigen aus meiner Sicht sehr treffend gesagt haben, daß nämlich die
Gesellschaft auf sie und ihre Beteiligung wartet.
({2})
Ich will ganz kurz auf ein paar Fragen eingehen, die
angesprochen wurden. Dazu gehört der Schutz der
Kinder vor sexuellem Mißbrauch und Pornographie.
Sie wissen, diese Fragen sind uns sehr ernst. In der vergangenen Legislaturperiode ist rechtlich eine ganze
Menge getan worden. Ich will dazu aber auch sagen, daß
sich das manchmal in der Erinnerung ein wenig verklärt.
Wenn ich zum Beispiel an den Schutz kindlicher Zeugen
denke, so habe ich in Erinnerung, daß die Anregung dazu aus der damaligen SPD-Opposition gekommen ist.
Sie ist vom Bundesrat aufgegriffen worden.
({3})
Nicht alles, was wir jetzt haben, können Sie sich auf
Ihre Fahnen schreiben. Wir sollten auch ein wenig fairer
miteinander umgehen. Sie, Frau Eichhorn, wissen auch,
daß es Ende Oktober eine große Anhörung zum Thema
Sexualstrafrecht gibt. Wir haben dazu gesagt, daß wir
nicht jeden Punkt einzeln aufgreifen wollen. Wir wollen
statt dessen sehen, wie die Umsetzung aller Rechtsänderungen, die in den vergangenen Jahren vorgenommen
wurden, in der Praxis verlaufen ist und welche Aspekte
noch aufgegriffen werden müssen. Wir müssen fragen,
was die Länder machen und wie wir miteinander klarkommen, damit alles zusammen vernünftig laufen kann.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es bleibt die
permanente Aufgabe, die Voraussetzungen und Bedingungen des Aufwachsens unserer Kinder besser zu gestalten. Ich habe mich gefreut, daß auch das Europäische Jugendprogramm ausführlich angesprochen wurde. Ich möchte noch einmal sagen: Es war ein harter
Kampf. Wir haben die Mittel für die nächste Periode um
fast 100 Millionen DM erhöht.
({4})
Nun kann man sagen, das ist zu wenig. Aber wir müssen
alle Länder und die Kommission in ein Boot bekommen.
Das war ein harter Kampf. Mein Vorgänger aus Öster-
reich ist daran gescheitert. Bei uns waren die Bedingun-
gen etwas besser. Wir haben alle „eingesammelt“, und
ich denke, das ist ein wichtiges Programm. Wir werden
natürlich mit der neuen Kommissarin schnell Kontakt
aufnehmen, um zu klären, wo noch Gestaltungsspiel-
räume vorhanden sind. Wir werden auch unsere Wün-
sche äußern. Trotzdem gilt: Wir müssen die Rechtsstel-
lung der Jugendlichen in den freiwilligen Diensten klar
definieren. Zur sozialen Absicherung wird es in der
nächsten Zeit ein Gesetz geben.
Es bleibt dabei: Wir müssen die Voraussetzungen und
Bedingungen des Aufwachsens unserer Kinder besser
gestalten. Streit hilft dabei nicht viel. Wir sollten versu-
chen, viel gemeinsam zu tun. Der Zehnte Kinder- und
Jugendbericht liefert hierzu viele Anregungen, die wir
bereits aufgegriffen haben bzw. noch aufgreifen werden.
Kinder müssen das Signal - ich sage es noch einmal -
von der Gesellschaft bekommen, daß sie willkommen
sind und ihr Engagement für die Zukunftsgestaltung ge-
fordert ist.
[Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich hatte mir gewünscht, daß dies das Signal ist, das
heute von dieser Debatte ausgeht.
Danke.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Thomas Strobl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Für CDU und CSU
stehen Kinder und Familien im Mittelpunkt ihrer Politik.
Am Ende der heutigen Debatte über den Zehnten Kinder- und Jugendbericht ergeben sich für uns folgende
Schlußfolgerungen:
Erstens. Kindern und Jugendlichen in Deutschland
geht es überwiegend und verhältnismäßig gut, insbesondere was die materielle Ausstattung und die soziale
Lage anbetrifft. Was Einrichtungen zur Kinderbetreuung oder zur Beratung angeht, befinden wir uns in
Deutschland auf einem Niveau, das in der Welt von nur
ganz wenigen Ländern erreicht wird.
({0})
Wir dürfen also bei allem Problembewußtsein nicht
vergessen, daß wir soziale Probleme auf einem Wohlstandsniveau diskutieren, das die meisten Kinder auf
dieser Erde nicht kennen. Das ist gut so, und das soll
auch in Zukunft so bleiben.
({1})
Zweitens. Kinder sind keine Ware, die im Warenkorb
des Statistischen Bundesamtes neben Lebensmitteln,
Kleidung und dem Fernseher liegen. Deshalb wäre es
grundfalsch, Kinder immer nur unter dem Aspekt der
Kosten, die sie verursachen, zu sehen. Natürlich kostet
der Unterhalt von Kindern Geld, wie der Unterhalt von
Erwachsenen im übrigen auch; Geld, das von den meisten Familien in diesem Land durch viel Arbeit erwirtschaftet wird.
Nicht zuletzt dank der erfolgreichen Familienpolitik
von CDU und CSU in den vergangenen 16 Jahren gibt
der Staat heute mehr denn je aus, um Familien und Alleinerziehende materiell zu unterstützen.
({2})
So ist der Etat für familienpolitische Maßnahmen von
27,6 Milliarden DM im Jahre 1982 auf 40,5 Milliarden
DM im Jahre 1990 und auf 76,6 Milliarden DM im Jahre
1997 erhöht worden. Dies beinhaltet sowohl die Verbesserung der bestehenden Maßnahmen wie die Weiterentwicklung des Familienlasten- zu einem Familienleistungsausgleich oder den Ausbau der die Familien betreffenden Komponenten in der Wohngeldförderung.
Dazu gehört auch die Einführung neuer Regelungen
wie zum Beispiel das Erziehungsgeld, die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung mit einem Volumen von 7,5 Milliarden DM, gedeckt durch den Bundeszuschuß in die Rentenversicherung, also steuer- und nicht beitragsfinanziert. Darüber
hinaus haben steuerliche Entlastungen insbesondere
der Familien mit kleinen und mittleren Einkommen, beispielsweise im Jahre 1996 in Höhe von 19 Milliarden
DM, gezeigt, daß die Politik von CDU und CSU immer
darauf ausgerichtet war und ist, Kinder und Familien
dort, wo es notwendig ist, zu unterstützen, und zwar
auch materiell.
({3})
Das, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und von den Koalitionsfraktionen, müssen Sie erst
noch leisten. Sie dürfen nicht nur davon reden und nur wie es die Eichelsche Verschiebepolitik ist - die Verantwortung für die Familienlasten vom Bund auf die
Kommunen und die Länder verlagern. Das ist - wie es
der Oberbürgermeister von Saarbrücken, Hajo HoffBundesministerium Dr. Christine Bergmann
mann, SPD, sagt - eine familienpolitische Bankrotterklärung.
({4})
Wenn heute eine alleinerziehende Mutter, die bedauerlicherweise auf Sozialhilfe angewiesen ist, mit zwei
Kindern von zum Beispiel 7 und 13 Jahren auf durchschnittlich 2500 DM Sozialhilfe kommt, kann hier nicht
von Armut gesprochen werden.
({5})
Es gibt eine ganze Menge arbeitender Familienväter und
-mütter auf der Welt und bei uns, die froh wären, nach
einem Monat harter Arbeit netto einen Betrag in dieser
Höhe auf ihrem Konto verbuchen zu können.
({6})
Dank der Steuerpolitik dieser Bundesregierung werden
sie wohl auch noch weitere drei Jahre bis nach einem
Regierungswechsel im Jahre 2002 warten müssen, um
endlich die Chance zu bekommen, diesen Betrag tatsächlich netto zu erhalten.
({7})
Sozialhilfe bedeutet nicht Armut, sondern gerade die
Bekämpfung der Armut.
({8})
Sie leistet einen entscheidenden Beitrag dafür, daß heute
niemand in Deutschland in existentieller materieller Not
leben muß. Es ist eine falsche Behauptung - dies kommt
auch im Antrag der PDS zum Ausdruck -, daß der Bezieher von Sozialhilfe per Definition deshalb arm sei,
weil er Sozialhilfe bezieht. Das Gegenteil trifft zu: Mit
Sozialhilfe wird Armut erfolgreich bekämpft.
({9})
Wenn der Bezug von Sozialhilfe tatsächlich mit Armut
gleichzusetzen wäre, dann wäre das von unserem jetzigen Bundeskanzler Schröder seinerzeit als Ministerpräsident regierte Land Niedersachsen eines der Armenhäuser Deutschlands; denn allein in Niedersachsen gibt es
mehr Sozialhilfeempfänger als in den fünf neuen Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen zusammen.
({10})
Vergleiche mit Baden-Württemberg und Bayern möchte
ich Ihnen und der Bundesregierung freundlicherweise
ersparen.
({11})
Auch die gestiegene Zahl der Jugendlichen, die Sozialhilfe empfangen, ist kein Indikator für gewachsene
Armut unter Jugendlichen in Deutschland.
({12})
Um ein exaktes Bild - hören Sie zu! - der Situation von
Kindern und Jugendlichen in der Sozialhilfe gewinnen
zu können, ist eine Differenzierung nach Ursachen und
auch nach Herkunftsländern hilfreich. Auf Grund der
gestiegenen Zuwanderungszahlen in den letzten zehn
Jahren muß davon ausgegangen werden, daß die gestiegene Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Sozialhilfebezug zum großen Teil auf diese Entwicklung zurückzuführen ist. Zwischen 1985 und 1996 nahm die Zahl
der Kinder und Jugendlichen mit Bezug von Hilfe zum
Lebensunterhalt im früheren Bundesgebiet um knapp
417 200 Personen zu. Diese Entwicklung ist insbesondere auf die gestiegene Zahl junger ausländischer Sozialhilfeempfänger um 180 000 Personen zurückzuführen.
Der weitaus größte Teil des Anstiegs der Zahl der Kinder und Jugendlichen in der Sozialhilfe in den alten
Ländern belegt also keinesfalls eine wachsende Verarmung, sondern die große Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, zugewanderten Menschen mit ihren Kindern
in ihrer Not zu helfen und Alleinerziehende mit ihren
Kindern in besonderer Weise zu unterstützen.
({13})
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
den Grünen und der PDS sollten diese Bereitschaft in
unserer Bevölkerung - ich komme auf das zurück, was
der Kollege Stöckel und die Kollegin Pau zum Thema
„Asylrecht und Zuwanderung“ gesagt haben - nicht
überstrapazieren.
Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Deligöz?
Herr Präsident, nachdem die Redner der Regierungsfraktionen in der ihnen
eigenen Arroganz
({0})
den ganzen Vormittag über die Zwischenfragen der
Kollegin Rönsch nicht zugelassen haben, möchte ich
dies jetzt auch nicht tun.
Kollege Strobl, ich
möchte Sie darauf hinweisen, daß sich unter den Rednern der Regierungsfraktionen heute morgen mehrere
Erstredner befanden. Deshalb hatte ich vorhin schon um
ein sanfteres Urteil gebeten.
Herr Präsident, es ist
richtig, daß es sich um mehrere Erstredner gehandelt
hat. Aber es waren nicht ausschließlich Erstredner, die
keine Zwischenfragen zugelassen haben.
Letztlich gilt auch hier, was immer gilt: Grundvoraussetzung einer guten Sozialpolitik auch und gerade für
Familien mit Kindern ist die Schaffung von Arbeitsplätzen. Hier hat die Bundesregierung nach einem Jahr
Regierungszeit nichts vorzuweisen, wie die Zahlen der
Bundesanstalt für Arbeit belegen. Im Gegenteil: Durch
immer neue Steuern und Steuererhöhungen, durch immer höhere Belastungen von Unternehmen und Familien
und durch die „großartigen“ Gesetze gegen 630-MarkJobs und gegen die sogenannte Scheinselbständigkeit ist
die neue Regierung zu einem wahren Arbeitsplatzvernichter in diesem Land geworden.
({0})
Die Schröder-Uhr der „Wirtschaftswoche“ zeigt
58 350 Arbeitslose mehr und 367 000 Erwerbstätige
weniger seit dessen Regierungsantritt an. Dies kann
nicht im Sinne der Familien und der Jugendlichen sein,
übrigens schon gar nicht im Sinne von Alleinerziehenden. Fragen Sie doch einmal Alleinerziehende, wie viele
von ihnen 630-Mark-Jobs aufgeben mußten, weil ihnen
die Regierung Abgaben aufzwingt, die sie unmöglich
bezahlen können.
({1})
Die Familien sind Dreh- und Angelpunkt für eine
gute Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Man
kann darin fast eine Gesetzmäßigkeit sehen: Wenn es in
der Familie stimmt, dann sind meist auch die Kinder in
Ordnung, und zwar unabhängig davon, ob die Familie in
großem Wohlstand lebt oder nicht. Bestehen jedoch
Probleme in der Familie - ich spreche jetzt nicht von
materiellen Problemen, sondern von Scheidungsfolgen,
von Drogenbiographien und anderem -, dann müssen
wir oft problematische Kinder konstatieren, mit denen
sich die staatlichen Institutionen genauso wie die Eltern
schwertun.
Es ist festzustellen: Wenn wir die Karrieren von kriminellen Kindern und Jugendlichen ansehen, dann erkennen wir, daß Kriminalität sehr oft etwas mit den
Verhältnissen - weniger mit den materiellen - in einer
Familie zu tun hat. Kinder brauchen die Nestwärme und
Behütetheit einer intakten Familie, genauso wie sie Eltern brauchen, die ihnen Vorbild sind und von deren
Autorität sie sich leiten lassen können.
({2})
Eine Mehrzahl der qualifizierten Studien zur Analyse
der Jugendkriminalität bestätigt uns, daß es keinen
zwingenden Zusammenhang zwischen sozialen Umständen und Kriminalität gibt. Vielmehr zeigt gerade die
Entwicklung in den 70er Jahren, daß eine Zunahme des
Wohlstandes eine Zunahme von Kriminalität insbesondere bei Jugendlichen nicht verhindert hat.
Herr Kollege Strobl,
ich muß Sie darauf hinweisen, daß Ihre Redezeit schon
deutlich überschritten ist.
Herr Präsident, ich
komme zum Schluß. - Abschließend bleibt festzuhalten:
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht enthält viele interessante Basisinformationen und aus unserer Sicht
auch zahlreiche richtige Bewertungen der Situation der
Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Von daher ist
er von grundsätzlicher Bedeutung. Eines ist jedoch klar:
Nicht abgehobene staatliche Programme können die Situation von Jugendlichen entscheidend verbessern;
vielmehr muß die Priorität der Politik auch in Zukunft
auf der Stärkung der Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft liegen. Hierzu gibt es ein klares Bekenntnis
von CDU und von CSU. In diesem Sinne werden wir
weiterarbeiten.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile zu einer
Kurzintervention der Kollegin Deligöz, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Herr
Kollege Strobl, ich finde es sehr bedauerlich, daß Ihre
Fraktion inzwischen so tief gesunken ist, daß Sie Ihre
Politik auf dem Rücken der Schwächsten dieser Gesellschaft austragen.
({0})
Erklären Sie mir einmal, wie viele Familien mit Kindern tatsächlich den von Ihnen genannten Betrag von
2 500 DM bekommen! Werfen Sie einmal einen Blick
auf die Statistiken, um zu schauen, wie viele Familien
mit Kindern diesen nur theoretisch hohen Geldbetrag erhalten!
({1})
- Auch ich habe Sie vorhin ausreden lassen, Frau
Rönsch. Lassen Sie mich einmal reden!
Wenn Sie schon über die Ausländer in der Sozialhilfestatistik reden: Es sind genau 22 Prozent. Es sollte Ihnen bekannt sein, daß diejenigen Ausländer, die in der
Sozialhilfestatistik auftauchen, eine Berechtigung zum
Bezug von Sozialhilfe haben.
({2})
Nicht jeder, der hier einmal kurz vorbeischneit, bekommt Geld vom Sozialamt. Die meisten Ausländer, die
dazu berechtigt wären, nehmen diesen Betrag erst gar
nicht in Anspruch, weil sie viel zuviel Angst davor haben, aus Deutschland ausgewiesen zu werden.
({3})
Heute morgen wurde bereits über die 630-Mark-Jobs
gesprochen. Unser Gesetz dazu hat uns inzwischen
schon 160 000 sozialversicherte Stellen beschert. Ich
möchte einmal wissen, wie viele Stellen Ihre Regierung
geschaffen hat.
({4})
Herr Kollege Strobl,
wollen Sie erwidern? - Bitte.
Frau Kollegin, zunächst möchte ich etwas zur Zuwanderung und ihren
Auswirkungen auf die Sozialhilfe sagen. Sie sprechen
davon, die Armut in Deutschland habe in den letzten
Jahren zugenommen. Wir sollten einmal darauf schauen,
wie diese Armut zustande gekommen ist. Es ist unbestreitbar, daß die Zunahme der Zahl von Sozialhilfeempfängern, insbesondere von jugendlichen Sozialhilfeempfängern, in einem ganz unmittelbaren Zusammenhang
mit der Zuwanderung steht.
({0})
Unverständlich ist mir, wie Sie Zahlen, die eindeutig
feststehen, bestreiten können. Kollegin Rönsch hat heute
in der Debatte bereits darauf hingewiesen, daß bei uns
eine Familie - Eltern und zwei Kinder - im Durchschnitt
2 900 DM Sozialhilfe erhält.
({1})
Diese Durchschnittszahl kann nicht bestritten werden.
Ebenso ist es wahr, daß eine Alleinerziehende mit zwei
Kindern im Alter von 13 und 17 Jahren Sozialhilfe in
Höhe von 2 500 DM erhält.
({2})
Dies müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Es ist
nämlich ein statistischer Wert.
Sie können gegen alles und gegen jeden Ihre rotgrüne
Politik machen; sie gegen Adam Riese machen zu wollen ist arg schwierig.
({3})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung: Beschlußempfehlung
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Zehnten Kinder- und Jugendbericht, Drucksachen 13/11368 und 14/1681. Der Ausschuß empfiehlt in
Kenntnis der Unterrichtung der Bundesregierung, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/1683. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist
dieser Entschließungsantrag bei Zustimmung der
CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung der
F.D.P.-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache
14/1682. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der F.D.P.Fraktion gegen Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, PDS und einem Teil der CDU/CSU-Fraktion
und Enthaltungen von einem anderen Teil der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung des Gemeinschaftlichen Aktionsprogramms „Jugend“, Drucksache
14/1065. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Beschlußempfehlung ist bei Zustimmung der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion
und bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen
worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1308 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Verbesserung der Nachhaltigkeit in der Alterssicherung durch eine gerechte und sozialverträgliche Rentenpolitik
- Drucksache 14/1310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Birgit Schnieber-Jastram von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier manche
heftige Diskussion zur Rentenversicherung gehabt. Wir
haben heute diesen Antrag eingebracht, weil wir den
Versuch machen wollen, den Dialog in dieser Frage
noch einmal zu beleben. Wir denken, daß diese Frage so
wichtig ist, daß wir darüber miteinander reden sollten.
Ich will gerne noch einmal unsere Bedingungen einbringen: Wir brauchen endlich eine Politik der Nachhaltigkeit und eine Politik der Generationengerechtigkeit.
({0})
Zur Nachhaltigkeit in der Sozialpolitik gehört, daß wir
die finanziellen Lasten nicht auf unsere Kinder abschieben. Nur so ist Gerechtigkeit zwischen den Generationen herzustellen
({1})
- ich freue mich über die Zustimmung -, nur so ist Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung durch die
jüngere Generation zu erreichen.
Wir haben in unserer Regierungszeit versucht, eine
solche Politik der Nachhaltigkeit einzuleiten und zu
betreiben. Wir haben den nachfolgenden Generationen
durch unsere Politik eine Perspektive im Hinblick auf
ihre Alterssicherung gegeben.
({2})
Wir haben eine Politik betrieben, die zu mehr Generationengerechtigkeit führt
({3})
und die Lasten gerecht auf Jung und Alt verteilt.
Ziel unserer Politik war es, daß der Sozialstaat auch
für unsere Kinder bezahlbar bleibt. Wir haben die Altersgrenzen in der Rentenversicherung stufenweise heraufgesetzt, um die Frühverrentung zu bekämpfen und
dadurch den Beitragssatz in Grenzen zu halten. Wir haben die dringend notwendigen Reformen der Berufsund Erwerbsunfähigkeitsrente beschlossen, um die
Rentenversicherung von systemfremden, arbeitsmarktbedingten Renten zu entlasten und damit die Belastung
der Beitragszahler abzusenken. Wir haben den demographischen Faktor in die Rentenformel eingeführt. Mit
dem Rentenreformgesetz 1999 haben wir ein zukunftsgerichtetes Reformpaket vorgelegt, das einen fairen
Ausgleich zwischen Jung und Alt vorsieht.
({4})
Wir wollten mit dem demographischen Faktor deswegen noch einmal dieser Antrag - erreichen, daß
sich die Rentner an der höheren Lebenserwartung und
damit auch an den längeren Rentenlaufzeiten beteiligen.
Die Renten wären deshalb nicht gesunken, wie Sie immer behauptet haben. Sie wären nur langsamer gestiegen. Langsamer steigen müssen sie; sonst wird gerade
die jüngere Generation mit zu hohen Beiträgen belastet.
({5})
Mit unserem langfristigen Konzept wäre es gelungen,
den Beitragssatz bis zum Jahre 2015 unter 20 Prozent zu
halten. Sie werden mit Beitragssätzen auch noch Ihre
Überraschungen erleben. Das, was Sie einkalkuliert haben, Frau Schmidt, stimmt so nicht. Alle Experten sagen: Bei 19,1 Prozent werden Sie nicht bleiben. Vielmehr werden Sie zwischen 19,3 und 19,4 Prozent landen.
({6})
Wie sieht Ihre Politik aus? Sie haben unsere Reform
der sozialen Alterssicherung als sozialen Kahlschlag beschimpft. Mit einer überheblichen Geste - ich denke, Sie
bereuen das heute schon - haben Sie die Rentenreform
1999 zurückgenommen. Dabei haben wir mit dieser Reform gerade die Schritte eingeleitet, die zu mehr Generationengerechtigkeit geführt hätten. Ich muß Ihnen leider sagen: Sie betreiben bisher keine Politik der Nachhaltigkeit und der Generationengerechtigkeit. Ich will
Ihnen das gerne an Hand von einigen Beispielen darlegen.
Mit der von Ihnen beschlossenen „Rente nach Kassenlage“ vermengen Sie das Grundproblem der Rentenversicherung mit der aktuellen Haushaltslage.
({7})
Die von Ihnen in der Rentenversicherung vorgenommenen Einsparungen dienen dazu, selbstgerissene Löcher
im Bundeshaushalt zu stopfen. Es wird gespart, ohne
eine echte Strukturreform in der Rentenversicherung anzugehen. Das ist keine Politik der Nachhaltigkeit.
({8})
Ein weiteres Beispiel. Sie rühmen sich immer damit,
daß Sie den Beitragssatz in der Rentenversicherung gesenkt haben. Die Senkung des Beitragssatzes aber war
nicht deshalb möglich, weil Sie etwa eine grundlegende
Strukturreform in der Rentenversicherung durchgeführt
hätten. Sie war nur möglich, weil Sie Einnahmen aus der
Ökosteuer in die Rentenversicherung gepumpt haben.
Dabei übersteigt der Bundeszuschuß schon jetzt in erheblichem Umfang die versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung. Ihr Beitragsszenario
wird - ich habe es eben schon gesagt - nicht aufgehen.
Was Sie hier präsentieren, ist eine Mogelpackung, ein
Verschiebebahnhof. Sie verschieben die Belastungen der
jüngeren Generation von einem öffentlichen Haushalt in
den anderen. Das ist keine nachhaltige Politik!
({9})
Damit nicht genug: Auch die jüngst im „Bündnis für
Arbeit“ wiederbelebte „Rente mit 60“ ist ein Anschlag
auf die Generationengerechtigkeit. Junge Arbeitnehmer
müssen in einen Fonds einzahlen, obwohl sie selber nie
davon profitieren können. Das Geld wird für zweifelhafte Frühverrentungsprogramme genutzt anstatt zur
langfristigen Sicherung von Altersansprüchen der jüngeren Generation. Die Generation der über 60jährigen profitiert dagegen doppelt: Die Senioren können sich deutBirgit Schnieber-Jastram
lich früher als bisher geplant zur Ruhe setzen - und das
mit einem Rentenniveau, von dem die heute 30jährigen
nicht einmal träumen können.
Deswegen fordern wir Sie auf: Betreiben Sie endlich
eine Politik der Nachhaltigkeit und der Generationengerechtigkeit! Nehmen Sie die Tariffonds und die „Rente
nach Kassenlage“ zurück! Führen Sie den demographischen Faktor wieder ein! Legen Sie im Interesse der
nachfolgenden Generation endlich eine grundlegende
Strukturreform in der Rentenversicherung vor!
({10})
Damit Sie künftig selber überprüfen können, ob Sie
auch die Interessen der nachfolgenden Generationen
ausreichend berücksichtigen, fordern wir Sie auf: Legen
Sie diesem Hause regelmäßig eine Generationenbilanz
vor!
({11})
Mit Hilfe dieser Generationenbilanz können Sie die Belastung der heutigen Generation und der nachfolgenden
Generationen miteinander vergleichen. An dem Ergebnis der Generationenbilanz müssen Sie sich messen lassen. Daran wird erkennbar, ob Sie einen Kurs steuern,
der zu mehr Gerechtigkeit zwischen den Generationen
führt. Auch wir, Herr Gilges, werden unsere Politik daran messen.
Ein zukunftsfähiges Rentenreformkonzept muß auch
die veränderte gesellschaftliche Rolle von Frauen berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sind vor allen
Dingen Lösungen gefragt, die die Erwerbsbeteiligung
von Frauen verbessern und die unsteten Erwerbsverläufe, wie sie bei Frauen immer wieder zu finden sind, besser absichern.
Das von Ihnen, Herr Bundesminister, vorgelegte Modell für eine Reform der Alterssicherung der Frau kann
diesen Anforderungen allerdings nicht gerecht werden.
Es enthält lediglich einen undurchschaubaren Katalog
von Optionen für die Hinterbliebenensicherung. Dadurch wird das Rentenrecht erheblich verkompliziert. Es
entsteht ein ungeheurer Beratungsbedarf bei den Versicherten. Keiner blickt mehr durch, welches der vorgeschlagenen Modelle für ihn am sinnvollsten ist. Das von
Ihnen vorgelegte Konzept hinsichtlich der Hinterbliebenenrente führt in der Regel zu einer Senkung des Rentenniveaus gegenüber dem Niveau nach geltendem
Recht - gerade auch bei kinderreichen Familien.
Eine stärkere Anerkennung von Familienarbeit, die
doch einhellig von allen politischen Parteien und vom
Bundesverfassungsgericht eingefordert wurde, findet bei
Ihnen leider nicht statt. Deswegen fordern wir Sie auch
hier auf: Legen Sie endlich ein tragfähiges und ausgewogenes Konzept für eine Reform der Hinterbliebenensicherung und eine verbesserte Berücksichtigung von
Kindererziehungszeiten vor!
({12})
Sie haben bisher auch kein vernünftiges Konzept zum
Ausbau der kapitalgedeckten Altersvorsorge vorgelegt. Sie haben in diesem Bereich zwar eine ganze Reihe
von Vorschlägen gemacht. Aber lediglich der jüngste
Vorschlag, eine Sparzulage zur privaten Altersvorsorge
einzuführen, hat die Chance, nicht gleich wieder im Papierkorb zu landen. Nur müssen Sie sich angesichts dieses
Vorschlags fragen lassen, warum Sie gleichzeitig den
Sparerfreibetrag um die Hälfte kürzen und Lebensversicherungen zukünftig stärker besteuern. Das paßt nicht zusammen. Dieser Politik fehlt eine klare Richtung.
({13})
Wir fordern Sie auf: Legen Sie endlich ein tragfähiges und stimmiges Konzept zum Ausbau der kapitalgedeckten Alterssicherung vor! Ihre bisherigen Rentenpläne, Herr Minister, sind nicht geeignet, die Nachhaltigkeit in der Altersvorsorge zu sichern. Das System der
Rentenversicherung setzt auf Stetigkeit, Berechenbarkeit
und Planungssicherheit. Die beschlossene Rentenanpassung nach der Inflationsrate verunsichert dagegen gleichermaßen Rentner und Beitragszahler, weil eine Steigerung der Renten zukünftig nicht mehr berechenbar ist.
Die Rentensteigerungen werden sich zukünftig nach der
aktuellen Haushaltslage entwickeln, und damit wird das
Vertrauen in das System der gesetzlichen Rentenversicherung stark beschädigt.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf: Nehmen
Sie Ihre unsozialen Rentenpläne sofort zurück, beginnen
Sie endlich mit der grundlegenden Strukturreform in der
Rentenversicherung! Lassen Sie ab vom Einstieg in den
Ausstieg aus der lohnbezogenen Rente! Das ist das Ende
des Systems.
({14})
Beginnen Sie mit uns - nicht in polemischer, sondern in
konstruktiver Weise - einen ehrlichen Dialog zur Lösung dieser Probleme.
Herzlichen Dank.
({15})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Kurt Bodewig
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen! Die Einführung zu diesem
Antrag war das Gegenteil eines Dialogs: Es war ein Monolog, der vom Konsens wegführt, statt daß er ihn herstellt,
({0})
und das, obwohl sich in dem Antrag der Union - mit
dem bemerkenswerten Titel „Verbesserung der Nachhaltigkeit in der Alterssicherung durch eine gerechte und
sozialverträgliche Rentenpolitik“ - auch recht moderate
Töne finden; ein Hauch von Verantwortung schimmert
da bei Ihnen durch.
({1})
Ich finde das gar nicht schlecht. Aber leider ist im Forderungsteil genau das Gegenteil der Fall. Er ist ein
Rückfall in Ihre alte Politik aus Verunsicherung und
Demagogie.
({2})
Was hinzukommt: Sie arbeiten wissentlich mit falschen Zahlen. Ich finde das erstaunlich. Haben Sie denn
aus den Erfahrungen im Juni nichts gelernt, als Sie immer mit Ihren Zahlen kamen und der VDR Sie regelmäßig korrigiert hat?
({3})
Das müßte doch ein Erlebnis gewesen sein, das Sie dazu
bringt, zu sagen: Das mache ich in Zukunft nicht mehr.
Aber darauf verzichten Sie lieber.
Ich möchte Sie trotzdem an Ihrem eigenen Anspruch
messen, einen Dialog über die Zukunft unserer Rentenversicherung zu führen, über ein Thema, das nach meiner Einschätzung eines der wichtigsten dieser Gesellschaft ist. Ihre Verunsicherungspolitik hat dazu geführt,
({4})
daß Menschen in ihrer Zukunftserwartung eingeschränkt
sind, weil Sie ein wirklich hochsensibles System gefährden.
({5})
Aber ich möchte auch etwas Positives sagen: Es gibt
in Ihrem Antrag ein paar lichte Momente, zum Beispiel
dort, wo Sie Vorschläge des Bundesministers für Arbeit
aufgreifen. Das ist doch schon etwas. Damit kommen
Sie einen Schritt voran. Solche Ansätze der Verständigung halte ich für einen wichtigen Schritt.
Ich würde gerne einen Schlüsselsatz aus Ihrem Antrag zitieren - den ich übrigens ausdrücklich teile. Die
Frage ist: Entspricht Ihr Antrag diesem Schlüsselsatz? Sie sagen dort:
Sozial gerecht ist nur das, was auch zwischen den
Generationen gerecht ist.
({6})
Das ist richtig. Nur: Was machen Sie daraus? Sie schlagen erneut den demographischen Faktor vor.
({7})
Die Forderung nach der Wiedereinführung des demographischen Faktors ist aber ein Rückschritt. Sie bedeutet, daß Sie eine dauerhafte Abkoppelung der Rentenanpassung von der Lohnentwicklung wollen. Das ist keine
Präzisierung, sondern das ist ein systematisch angelegter
Systembruch, den Sie betreiben.
({8})
Darüber sollten Sie nachdenken. Wenn Sie dauerhaft
abkoppeln, machen Sie das genaue Gegenteil von dem,
was Sie immer in Ihren Sonntagsreden proklamieren.
({9})
Es sollte Ihnen auch klar sein, daß mit dem demographischen Faktor das Ziel von 1992 - übrigens ein großes
Ziel -, nämlich die Umstellung auf die Nettoanpassung,
um die Stabilisierung des Nettorentenniveaus herzustellen, aufgegeben wird. Der demographische Faktor ist auf
der Grundlage von Willkür konzipiert, und er birgt die
Gefahr weiterer willkürlicher Veränderungen. In der
Form, in der er von Ihnen damals verabschiedet worden
ist - nicht nur von Ihnen, sondern auch von der F.D.P.
({10})
- das ist auch richtig, dafür wollen wir Sie nämlich mit
verantwortlich machen -, haben Sie die zunehmende
Lebenserwartung nur zur Hälfte berücksichtigt. Es stellt
sich die Frage: Was wird Sie irgendwann dazu zwingen,
sie in Gänze einzubeziehen? Wenn Sie sie in Gänze einbeziehen, wird das Absinken des Nettorentenniveaus auf
64 Prozent schon im Jahre 2013 erreicht.
({11})
Gleichzeitig haben Sie mit der Minderung der verfügbaren Entgelte bei den Anpassungssätzen das Nettorentenniveau auf 64 Prozent konzipiert und dort willkürlich
unterbrochen.
({12})
Wer sagt Ihnen denn, daß es bei den 64 Prozent bleibt?
Nach Ihrer eigenen Logik muß es immer weiter runtergehen. So erreichen Sie schließlich das Sozialhilfeniveau.
({13})
- Dazu komme ich noch, keine Angst. Wir haben ein
bißchen Zeit, und Sie können mir gerne zuhören.
Für mich ist die Frage, ob bei der Berechnung des
demographischen Faktors der willkürliche Rückgriff auf
die Jahre 1990/1991 nicht das Ziel hatte, die größtmögliche Einsparung zu erzielen. Sie hätten ja die damals
schon vorliegenden Daten aus 1995/96 als Vergleichsgröße heranziehen können. Das haben Sie nicht gemacht. Das war also für Sie ein Instrument zum Absenken des Nettorentenniveaus.
Tatsache ist des weiteren, daß wir es nicht nur mit
dem Problem einer stärker alternden Gesellschaft zu tun
haben, sondern daß wir zukünftig gleichzeitig unstete
Erwerbsbiographien und sinkende Beschäftigungsvolumina berücksichtigen müssen. Da hilft Ihr demographischer Faktor in keinem Fall. Er würde dies sogar noch
weiter verschärfen.
Blüm meinte, daß die Einführung einer von uns vorgeschlagenen bedarfsorientierten Mindestsicherung, die
nämlich die von Ihnen bewirkte Abwärtsentwicklung
kompensieren soll, zur Folge hätte, daß die leistungsbezogene Rente zerstört würde. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Mit Ihrem demographischen Faktor
legen Sie die Axt an die Wurzel der Zukunftsfähigkeit
der Rentenversicherung, denn er signalisiert nur eines:
Jahr für Jahr wird das Nettorentenniveau weiter absinken.
Wir versuchen, mit unserem Konzept etwas völlig
anderes zu erreichen.
({14})
Mit dem Konzept, das Sie kennen - die Eckpunkte sind
Ihnen bekannt; wir haben hier viele Aktuelle Stunden zu
dem Thema gehabt -,
({15})
versuchen wir, der demographischen Entwicklung zu
entsprechen.
({16})
Mit einem Inflationsausgleich für zwei Jahre schaffen
wir den Sockel, um im kommenden Jahr die Rentenstrukturreform mit einer dauerhaften Sicherung des
Nettorentenniveaus von 67 Prozent zu verbinden. Das ist
das Gegenteil von dem, was Sie vorhatten.
({17})
Die Rentenerhöhung gemäß Rentenanpassung bedeutet aber gleichzeitig auch einen Beitrag der Rentnergeneration zur Stabilisierung sowohl der gesetzlichen
Rentenversicherung als auch der Lohnnebenkosten.
({18})
Das ist nicht nur notwendig, sondern auch vertretbar.
({19})
Verglichen mit den vergangenen Jahren stehen sich die
Rentner dadurch noch nicht einmal schlechter; denn seit
1990 lag die Rentenanpassung fast regelmäßig unter der
Inflationsentwicklung. Dies war in Westdeutschland in
den letzten zehn Jahren achtmal der Fall. Sie müssen
doch irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen, was Sie
hier mit dem Rentenniveau angerichtet haben. Eines ist
sicher: Beim demographischen Faktor, Ihrem Allheilmittel, gibt es keine Kaufkraftklausel. Auch das haben
wir erfahren.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, interessant
ist der neue gesellschaftliche Konsens von VdK und
DGB - er soll bis in die Union hineinreichen -, der
darin besteht, daß die gezielte Entlastung der Familien
nicht an die Rentner weitergeleitet werden soll. Das ist
etwas Neues.
({20})
Herr
Kollege Bodewig, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Storm?
Gern.
Herr Kollege Bodewig, da Sie den Inflationsausgleich in den vergangenen
Jahren angesprochen haben, frage ich Sie: Stimmen Sie
mir zu, daß die Rentner, wenn sie im nächsten Jahr eine
Rentenanpassung von 0,7 Prozent bekommen und die
Inflationsrate nach Angaben der Bundesregierung im
nächsten Jahr 1,6 Prozent betragen soll, einen realen
Kaufkraftverlust von annähernd 1 Prozent - 0,9 Prozent
genau - zu verkraften haben?
Herr Kollege Storm, Sie wissen selbst, daß in jedem Jahr auf die Inflationsrate des
vorangegangenen Jahres Bezug genommen worden ist.
Das heißt, wir bewegen uns in dem bisher üblichen Verfahren. Daß Sie dies nun auf einmal so herausstellen,
wundert mich. Aber ich hätte die Bitte, weil ich gerne
mit meinem Konzept fortfahren würde, daß Sie mich
weiter vortragen lassen.
({0})
Ich fand es interessant, daß sich hier ein neuer Konsens abzeichnet. Das finde ich auch richtig. Wir werden
alle Vorschläge von VdK und DGB im Gesetzgebungsverfahren des nächsten Jahres ernsthaft prüfen, obwohl
sich schon jetzt abzeichnet, daß einiges unsystematisch
ist. Ein Schwachpunkt etwa ist die Herausrechnung zurückliegender Entlastungskomponenten für Familien mit
Kindern. Solche Schwachpunkte muß man prüfen und
diskutieren. Aber daß sich Union und F.D.P. auf einmal
auf den DGB beziehen, ist meiner Ansicht nach etwas
Gutes - ich habe Frau Schwaetzer vorletzte Woche bei
der Haushaltsdebatte zugehört -, ist ein gutes Zeichen
dafür, daß sie Ihre Gewerkschaftsphobie überwunden
haben. Herzlichen Glückwunsch und gute Besserung!
Ich hoffe, es klappt auch dauerhaft.
({1})
Meine Damen und Herren, ein anderer Konsens, der
wichtig ist, ist der Konsens in dieser Gesellschaft darüber, daß das Funktionieren von Rentenversicherungssystemen stabiler Beitragssätze bedarf. In der Vergangenheit war das ein permanentes Auf und Ab. Es gab
einen Verschiebebahnhof zwischen Rentenversicherung
und Arbeitslosenversicherung. Wir brauchen aber dauerhaft kalkulierbare Beitragssätze. Das ist wichtig für
die Ökonomie, aber es ist auch wichtig für die sozialen
Sicherungssysteme.
({2})
Deswegen sage ich: Ohne die Übergangsregelungen für
die Jahre 2000 und 2001 käme es in den nächsten Jahren
zu einem unvertretbaren Anstieg der RentenversicheKurt Bodewig
rungsbeiträge und damit auch zu einer übermäßigen
Belastung der nachfolgenden Generation. Auch das
sollte uns klar sein.
Im übrigen sind es nicht die Rentner allein, die einen
Beitrag leisten. Das gilt genauso für die Steuerzahler Stichwort: Ökosteuer - und für die junge Generation, die
eine zusätzliche private Vorsorge betreiben muß. Ich
denke, das macht deutlich, daß wir ein solidarisches
Konzept wollen, in dem die unterschiedlichen Träger
ihren Beitrag leisten. Wenn ich das mit Ihrem Konzept
vergleiche, kann ich nur den Finanzwissenschaftler und
Rentenexperten Professor Rürup zitieren.
({3})
Er hat es einmal zutreffend so ausgedrückt:
Blüm war besser für die heutigen Rentner. Riester
ist besser für die zukünftigen Rentner.
({4})
Das hat den Hintergrund, daß Sie in den vergangenen
Jahren die zukünftige Rentnergeneration zu Opfern Ihrer
Entscheidungen gemacht haben. Mit dem WFG 1996
haben Sie die anzurechnenden Zeiten der schulischen
Ausbildung auf zukünftig nur noch drei Jahre mit höch-
stens 75 Prozent des Durchschnittsentgelts reduziert.
Das macht maximal 108 DM; das ist eine ganz ein-
schneidende Kürzung. Bei den Zeiten der schulischen
Ausbildung haben Sie ganz einfach das Jahr zwischen
dem 16. und 17. Lebensjahr weggenommen - eine ganz
massive Kürzung.
[Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Sie hätten es
doch rückgängig machen können! - Dirk Nie-
bel [F.D.P.]: Warum haben Sie es nicht hin-
eingenommen?)
Sie haben die Zeiten der Arbeitslosigkeit und Krankheit,
in denen Leistungen nicht bezogen worden sind, für die
Beiträge nicht gezahlt worden sind, nicht mehr rentensteigernd angerechnet. Alles das waren direkte Eingriffe.
({5})
Die Diskussion um das Nettorentenniveau ist das
eine, Ihr Griff in die Tasche der Arbeitnehmer und der
Rentner das andere. Sie haben direkt zugegriffen. Das ist
der qualitative Unterschied.
({6})
Ich zitiere erneut aus Ihrem Antrag:
Sozial gerecht ist nur das, was auch zwischen den
Generationen gerecht ist.
Ist das gerecht, was Sie hier 16 Jahre praktiziert haben?
- Das ist zutiefst ungerecht, was Sie gemacht haben.
Damit komme ich zu Ihrem Umgang mit Sprache. Ich
las von Frau Schnieber-Jastram eine Pressemitteilung:
„Riester fummelt wieder an der Rente rum“. Was ist das
für eine Begrifflichkeit? Das macht Sie nicht gerade ministrabel, Frau Schnieber-Jastram. Ich sage Ihnen: Kehren Sie zu einer seriösen Sprache zurück; dann werden
Sie auch eine seriöse Politik betreiben können, sonst
nicht.
({7})
Herr
Kollege Bodewig, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, zunächst einmal eine der Kollegin Lenke?
Ja, bitte.
Herr Kollege Bodewig, Sie kritisieren gerade, was die alte Regierung in der Rentenversicherung alles falsch gemacht hat. Ich frage Sie, ob Sie
informiert sind, daß die neue Bundesregierung vorhat,
bei den Zivildienstleistenden die Rentenansprüche zu
kürzen, und daß sie auch bei den Zahlungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Zivildienstleistenden an die Rentenkasse
sparen will. Ist Ihnen das bekannt, wollen Sie das jetzt
auch kritisieren?
Ich will das nicht kritisieren.
Ich will Ihnen sagen, daß wir den jungen Menschen mit
dem Zivildienst Perspektiven geboten
({0})
und gleichzeitig über die Dauer des Zivildienstes gesprochen haben. Erinnern Sie sich? Können Sie sich
noch an die Debatten von 1976 erinnern, als es um die
Einführung des Zivildienstes und die Abschaffung der
Gewissensprüfung ging? Da waren wir der F.D.P. näher
als Ihnen von der Union. Daran müssen Sie sich doch
erinnern.
({1})
So ein bißchen Gedächtnis tut Ihnen ganz gut. Sie sollten das nicht ganz beiseite schieben.
({2})
Ich sage Ihnen gleichzeitig: Wir bewegen uns mit diesen
Maßnahmen in einer Systematik, die ich für richtig halte.
Herr
Bodewig, erlauben Sie eine Zusatzfrage der Kollegin
Lenke?
Aber das wäre dann die letzte
Zusatzfrage, die Frage von Herrn Meckelburg spare ich
mir dann.
Wenn ich Sie schon frage, dann
sollten Sie meine Frage auch ernsthaft beantworten.
({0})
Hier liegt eine Kürzung der Zahlungen für die Zivildienstleistenden an die Rentenversicherung vor, und ich
frage Sie, ob Sie das auch kritisieren wollen.
Dann sage ich Ihnen: Hier
geht es nur um eine Reihe von Monaten. Sie dagegen
haben die anzurechnende Zeit der Ausbildung von ursprünglich 13 auf 7 und dann auf 3 Jahre gekürzt. Setzen
Sie das einmal in Relation zueinander. Dann können Sie
sich diese Fragen sparen.
({0})
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Nein, jetzt spare ich mir das.
({0})
Wir führen ja in den Ausschüssen häufiger unsere Debatten. Ich denke, ich habe genug Fragen beantwortet.
Meine Dialogbereitschaft ist also vorhanden.
Ich komme zum Thema Diskussionskultur zurück. Ihr
Fraktionsvorsitzender, Herr Schäuble - übrigens derselbe, der mit wahrheitswidrigen Behauptungen in bezug
auf Rentenkürzungen Wahlen gewinnt; es ist schon erstaunlich, daß Wahlergebnisse auf Unwahrheiten beruhen -, stellt jetzt auf einmal, wie ich gelesen habe, fest:
Wir müssen den Menschen sagen, daß sie zukünftig weniger Rente erhalten.
({1})
Wo bleibt denn da die Glaubwürdigkeit? Debatten so zu
instrumentalisieren halte ich für gefährlich. Denn das
Problem der Rentenversicherung bietet sich hierfür in
keiner Weise an. Wir alle hier im Hause müßten ein Interesse daran haben, daß das Vertrauen in die Rentenversicherung groß ist.
Ich komme nun auf die fünfte Forderung in Ihrem
Antrag zu sprechen. Sie schlagen dort die jährliche
Vorlage einer Generationenbilanz bzw. die Einführung
einer Generationenklausel vor. Das ist kein neuer Ansatz. Er ist uns aus den USA bekannt. Über die Methode
des „Generational accounting“ wird dort diskutiert. Sie
ist aber, wie Ihnen sicherlich bekannt ist, zutiefst umstritten.
Sie von der CDU/CSU haben diese in den USA geführte Debatte aufgegriffen, aber nicht die vielfältige
Kritik an diesem neuen Ansatz. Ich empfehle Ihnen, den
entsprechenden Bericht der Deutschen Bundesbank, die
uns nicht so nahesteht, daß wir sagen können, daß sie
unser permanenter Kronzeuge ist, nachzulesen. Dort
wird dargestellt, daß es sich bei diesem „Generational
accounting“ erstens um ein äußerst unsicheres Prognoseinstrument handelt, daß zweitens die gesamtwirtschaftliche Rückwirkung nicht einbezogen wird und daß
drittens Manipulationen, etwa durch die Wahl des Basisjahres oder anderer Stellschrauben, fast logisch sind.
Selbst Professor Raffelhüschen, der ja wie Sie von der
Union die jährliche Vorlage einer Generationenbilanz
fordert, muß nun eingestehen, daß das „Generational accounting“ vor allem über seine Annahmen im Rahmen
der Berechnung manipulierbar ist. Selbst Laurence Kotlikoff - das war ja einer der Väter dieser Methode - hat
in der Auseinandersetzung über das Budget des Präsidenten der USA genau dies zugegeben und hat sich Manipulationsmöglichkeiten entgegengestellt. Über diese
Kritik sollten Sie sehr genau nachdenken.
Dieses „Generational accounting“ ist daher ungeeignet. Es ist der Gefahr von Schönfärberei ausgesetzt und
könnte mißbraucht werden. Das wollen wir nicht. Deswegen halten wir diese Methode für falsch, obwohl es
auch unser Ziel ist - wir setzen das mit einem dauerhaften Rentenniveau von 67 Prozent um -, die Nachhaltigkeit des Rentensystems in die Zukunft zu verlängern.
Ich stelle daher fest: Ihr Satz „Sozial gerecht ist nur
das, was auch zwischen den Generationen gerecht ist“
ist richtig. Die Schlußfolgerungen Ihres Antrages sind
leider falsch. Ich würde mich freuen, Frau SchnieberJastram, wenn wir vom Monolog zum Dialog übergehen
könnten und wenn wir gemeinsam über die Sicherheit
des Rentensystems sprechen würden, und zwar ohne
Vorbedingungen und ohne irgendwelche pauschalen
Anwürfe. Dies ist also eine Einladung zur Herausbildung von Gemeinsamkeiten. Ich denke, sowohl die wissenschaftliche als auch die gesellschaftliche Diskussion
ist wesentlich positiver als das, was sich in diesem Hohen Hause gelegentlich abspielt.
Vielen Dank.
({2})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Guido
Westerwelle.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen
und Kollegen! Aus unserer Sicht muß eine Rentenstrukturreform drei Kriterien entsprechen: erstens Rentensicherheit für diejenigen, die heute in Rente sind,
zweitens Beitragsstabilität für diejenigen, die heute arbeiten, und drittens Generationengerechtigkeit für diejenigen, die nach uns kommen, also für diejenigen, die
heute jung sind. Keines dieser drei Kriterien wird in
dem, was die Bundesregierung vorlegt, erfüllt.
({0})
Noch vor einem Jahr konnten Sie, SPD und Grüne,
als wahlkämpfende Parteien der Versuchung nicht widerstehen, gegen die Anpassung der Rente an die veränderte Lebenserwartung zu polemisieren. Viel zu verlockend erschien Ihnen die Aussicht auf verbesserte
Wahlchancen bei den verunsicherten Senioren. Unmittelbar nach der letzten Bundestagswahl wurde die Rentenreform, die von der alten Koalition strategisch klug
beschlossen wurde, durch die neue rotgrüne Mehrheit im
Deutschen Bundestag wieder aufgehoben.
({1})
Jetzt, schon ein halbes Jahr später, sieht sich die neue
Bundesregierung selber vor einer riesigen Reformnotwendigkeit. Bevor ich mich zu dem aus den Reihen der
CDU/CSU-Fraktion vorgelegten Antrag äußere, möchte
ich klarstellen, was Ihre Rentenpläne, Herr Riester, was
die Rentenpläne der Bundesregierung bedeuten: Ihren
Weg, die Rentenhöhe künftig von der Lohnentwicklung
abzukoppeln,
({2})
werden wir als liberale Opposition keinesfalls mitgehen.
({3})
Für uns ist Rente nämlich kein Almosen, für uns ist
Rente kein Gnadenbrot. Rente ist die Gegenleistung für
lebenslanges Arbeiten und das Einzahlen von Beiträgen.
({4})
Wer die Rentenentwicklung von der Wirtschaftssteigerung abkoppelt, wer die Rente zu einem Willkürakt der
deutschen Politik macht, der betreibt die Südamerikanisierung der Rente. Das ist es, was Sie in diesem Fall tun,
Herr Riester.
({5})
Die Renten sind auch früher schon stärker und weniger stark gestiegen;
({6})
das war auch vollkommen richtig so. Wenn früher die
Löhne stark stiegen, dann stieg auch die Rente stark.
({7})
Wenn früher die Löhne weniger stark stiegen, dann stieg
auch die Rente weniger stark. Wenn früher die Renten
nicht gestiegen sind, weil die Löhne nicht gestiegen
sind, hat man jedem Senior, jeder Seniorin sagen können: Es tut uns leid, aber wenn die Löhne nicht steigen,
können die Renten nicht steigen. Sie aber machen nichts
anderes, als die Rentenkasse zu Ihrer Wahlkampfkasse
zu machen. Nach den Wahlen wird gekürzt, vor den
Wahlen wird erhöht - das ist durchsichtig und unfair gegenüber allen in diesem Lande.
({8})
Wie soll man jungen Menschen eigentlich noch erklären, daß der Generationenvertrag auf Dauer Bestand haben wird und daß die Rentenbeiträge in Form einer
Rente jemals wieder an sie zurückgezahlt werden? Hier
wird der Eindruck erweckt, eine Rentenerhöhung um
den Inflationsausgleich schade zwar den Älteren, helfe
aber den Jüngeren. Das ist grober Unfug. Wenn heute
jeder weiß, daß er, ganz egal, wieviel er arbeitet und
wieviel er an Beiträgen an die Rentenkasse zahlt, niemals eine vernünftige Rente beziehen wird, dann verstärken Sie die Entwicklung, die wir in Deutschland bekämpfen müssen, nämlich die Tendenz zur Schwarzarbeit, zur Förderung der grauen und schwarzen Bereiche
unserer Wirtschaft. Sie befinden sich hier auf einem Irrweg.
({9})
Deswegen sagen wir: Rentenpolitik ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Genauso wie der Generationenvertrag eine Aufgabe quer durch alle Altersgruppen
ist, ist es jetzt eine Aufgabe quer durch alle Parteien,
eine Rentenstrukturreform auf den Weg zu bringen.
Der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung liegt heute doch nur deshalb unter 20 Prozent, weil
zur Stützung des Systems massiv Steuermittel eingesetzt worden sind. Der Beitrag des Bundeshaushaltes zur
Alterssicherung wird im nächsten Jahr insgesamt rund
125 Milliarden DM betragen. Wenn nicht bereits eine
große Koalition im Vermittlungsausschuß zur Rentenreform 1999 den Ertrag aus der Anhebung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt in das Rentensystem
geleitet hätte und wenn nicht Rotgrün die Erträge aus
der sogenannten Ökosteuer ebenfalls dafür bereitgestellt
hätte, dann läge der Beitragssatz heute um mindestens 2
Prozentpunkte höher. Das sind aber nur scheinbare Siege im Kampf um einen niedrigen Beitragssatz. Es sind
Potemkinsche Dörfer, deren Errichtung den Steuerzahler
teuer zu stehen kommt, von der künftigen Belastung der
nächsten Generation ganz zu schweigen.
({10})
Herr
Kollege Westerwelle, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dreßen?
Gern. Bitte.
Herr
Dreßen, bitte schön.
Herr Kollege Westerwelle, Sie
haben gerade moniert, daß der Staat Steuermittel in das
Rentensystem gepumpt hat. Würden Sie mir zugestehen,
daß der Staat früher die Rentenversicherung mit Dingen
belastet hat, mit denen sie überhaupt nichts zu tun gehabt hat, nämlich mit den sogenannten versicherungsfremden Leistungen, und sind Sie nicht der Meinung,
daß es sogar eine gute Tat dieser Regierung war, die
versicherungsfremden Leistungen - die sind ja in Ordnung - endlich durch Steuermittel zu finanzieren, da sie
die gesamte Gesellschaft angehen? Warum sollen denn
nur Angestellte und Arbeiter für die permanenten Steigerungen dieser Leistungen aufkommen, die Sie in
16 Jahren beschlossen haben? Und warum hacken Sie
heute darauf herum? Mich würde interessieren, ob Sie
noch eins und eins zusammenzählen können.
({0})
Von dem letzteren
können Sie ausgehen. Ansonsten stimme ich dem ersten
Teil Ihrer Einschätzung zu. Ich glaube, es ist eine Aufgabe dieses Hauses insgesamt, die sogenannten versicherungsfremden Leistungen neu zu organisieren.
Im zweiten Teil Ihrer Aussage betrachteten Sie den
Weg über die Ökosteuer als richtig. Hier stimme ich
Ihnen nicht zu. Ich halte es für groben Unfug, das, was
man aus einer höheren Besteuerung des Energieverbrauches einnimmt, in die Rentenkasse hineinzupumpen.
Würde nämlich das Ziel der Ökosteuer erreicht und der
Energieverbrauch zurückgehen, würden automatisch die
Finanzquellen der Rentenversicherung wieder kleiner
werden. Die Folge wäre eine nächste Steuererhöhung.
Es ist ein Unsinn, zu glauben, wir bekämen Arbeitsplätze nach Deutschland, indem wir nichts anderes tun, als
die Lasten in der Volkswirtschaft von einer Schulter auf
die andere umzuverteilen. Das ist das Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“. Insgesamt müssen Steuern und
Abgaben in Deutschland reduziert werden; diesen Weg
schlagen wir Ihnen vor.
({0})
Die Schwierigkeiten, vor denen die Rentenversicherung heute steht, sind geradezu Kleinkram im Vergleich
mit den Problemen, in die die Rentenkasse in den nächsten 30 Jahren hineinläuft. Deswegen ist der Hinweis,
die demographische Formel, die von uns in der alten
Koalition beschlossen worden war, sei notwendig gewesen, aus unserer Sicht völlig berechtigt;
({1})
denn die veränderte Altersstruktur in unserer Gesellschaft ist offensichtlich geworden. Heute kommt auf
etwa zwei Arbeitnehmer ein Rentner. Im Jahre 2030
wird dieses Verhältnis 1 : 1 sein. Glücklicherweise werden in unserer Gesellschaft die Menschen immer älter.
Das wollen wir doch alle. Aber dann kann die Antwort
nicht sein, immer früher in Rente zu gehen.
Die Frühverrentung hat jungen Menschen in Wahrheit nicht Arbeit gebracht, sondern lediglich dazu geführt,
daß die Großindustrie auf Kosten der Beitragszahler ihre
Personalprobleme gelöst und Arbeitsplätze wegrationalisiert hat. Dies ging zu Lasten des Mittelstandes und der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({2})
Wir kennen ja die irrsinnige Entwicklung aus den 90er
Jahren. In dieser Frage müssen wir uns alle an die eigene
Nase fassen; dies will ich nicht bei nur einer Partei abladen. Aber das Programm der Frühverrentung war eine
Fehlentwicklung:
({3})
300 000 Arbeitnehmer wurden mit 60 ohne Abschlag in
die Rente gebracht. An den Folgen dieser seinerzeit
durch überparteilichen Konsens herbeigeführten Entwicklung krankt die Rentenkasse heute noch.
Wenn man weiß, daß damals mit der Frühverrentung
ein Fehler gemacht wurde, dann sollte man heute die
Kraft haben - wir haben sie gehabt -, diesen Fehler zu
korrigieren, darf aber nicht wie Sie dem Irrsinn der Gewerkschaften hinterherlaufen und das Renteneintrittsalter in Deutschland senken. In ganz Europa gibt es eine
gegenläufige Entwicklung; nur in Deutschland läuft es
so. Das ist absurd, meine Damen und Herren.
({4})
In Deutschland liegt das durchschnittliche Renteneintrittsalter - es geht ja weniger um das gesetzliche,
sondern um die Auswirkungen des gesetzlichen auf das
durchschnittliche Renteneintrittsalter - derzeit bei
59 Jahren. Zugleich liegt das Berufseintrittsalter bei
Studenten bei 28,5 Jahren. Wir haben in Deutschland die
jüngsten Rentner und die ältesten Studenten, wobei beide Gruppen noch nicht deckungsgleich sind. Das geht so
nicht weiter: Wir dürfen nicht glauben, die Menschen,
die immer älter werden, könnten immer früher in Rente
gehen. So etwas den Seniorinnen und Senioren vorzumachen ist erstens diesen Menschen gegenüber unverantwortlich und zweitens unfair gegenüber den Kindern
und Enkelkindern dieser Seniorinnen und Senioren.
({5})
Wir haben aus unserer Sicht eine Vielzahl von Wegen
aufgezeigt. Sie sagen immer, daß die Opposition keine
Alternativen vorlege. Das ist ein Treppenwitz. Die
Mehrheit von CDU/CSU und F.D.P. im letzten Deutschen Bundestag - ich habe in dieser Frage vier Jahre
lang in der Koalitionsrunde hart mit verhandeln dürfen hatte sich auf eine Rentenstrukturreform verständigt,
die diesen Namen auch verdient.
({6})
Wir haben mit unserer Mehrheit im Deutschen Bundestag eine wirklich solide Rentenstrukturreform durchgekämpft. Sie haben sie aufgehoben.
({7})
Also können Sie nicht sagen, die Opposition sei ohne
Alternative.
({8})
Der Weg, den Sie vorschlagen, ist ein wirklicher Irrweg. Herr Riester, wir hoffen, daß Sie Ihre gewerkschaftliche Autorität, die Sie als früherer Gewerkschaftsfunktionär haben, nutzen werden, um die Gewerkschaften auf den rechten Weg zurückzubringen. Es ist absoluter Unsinn, zu glauben, wir könnten in Deutschland
die Frühverrentung weiter befördern. Das hat schon früher zu falschen Ergebnissen geführt, und es wird auch
jetzt zu katastrophalen Ergebnissen führen: Die Jungen
kommen nicht in Arbeit; die großen Industrien rationalisieren kurz und klein. Das ist nicht der Weg, den wir
Freie Demokraten mitgehen wollen, und ich hoffe, daß
auch eine Mehrheit in diesem Hause diesen Weg nicht
mitgehen will.
({9})
Wir wollen Beitragsstabilität. Wenn ein Handwerker
selber vier Stunden arbeiten muß, um sich eine Stunde
eines anderen Handwerkers leisten zu können, dann ist
das Problem der Lohnzusatzkosten, so meinen wir, ausreichend beschrieben.
({10})
Wir haben in Deutschland keinen Mangel an Arbeit; wir
haben einen Mangel an bezahlbarer Arbeit.
Weil von Ihnen der Zwischenruf nach unserer Verantwortung kam - ich habe ihn wohl gehört -, möchte
ich Ihnen nur eines dazu sagen: Ich habe mich gerade in
diesen letzten Wochen fest dazu entschlossen, dieser
Propaganda, die Sie angefangen haben, nicht weiter widerspruchslos zuzusehen.
({11})
Sie sagen: In den 16 Jahren ist alles schlecht gewesen.
Wir hatten die Sonderaufgabe der deutschen Einheit,
und wir sind stolz darauf, daß wir diese Probleme lösen
konnten.
({12})
Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten wir diese
Probleme gar nicht lösen können, die im Rahmen der
deutschen Einheit entstanden sind.
({13})
Ich erinnere mich noch an die Reden von Lafontaine und
Fischer von der Zwei-Staaten-Theorie und vieles mehr.
Halten Sie uns die Fehler nicht vor, die es gegeben haben mag! Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten
diese Fehler überhaupt nicht gemacht werden können,
weil es zur deutschen Einheit nicht gekommen wäre.
({14})
Ein letztes Wort will ich mir nicht verkneifen. Das
werden die Jüngeren in der Union gern hören; die Älteren etwas weniger gern. Auch im liberalen Himmel gibt
es über nichts und niemanden so viel Freude wie über
ein bekehrtes schwarzes Schaf.
({15})
- Ja, das geht gerade an Sie.
Wir haben uns sehr darüber gefreut, daß wir unsere
liberale Idee der Generationenbilanz jetzt in Ihrem
Antrag wiederfinden. Ich selber habe in der Koalitionsrunde der alten Regierung mehrfach versucht, die Idee
einer jährlichen Generationenbilanz durchzusetzen. Sie
von der Union haben das immer abgelehnt. Deswegen
erlauben Sie uns die Genugtuung, die wir darüber empfinden, daß jetzt auch die größte Oppositionsfraktion
sich dem Weg der vorübergehend kleineren Oppositionsfraktion angeschlossen hat.
({16})
Herr
Kollege Westerwelle, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum
Schluß und möchte Ihnen sagen: Wir sollten unser Rentensystem auf drei Säulen stellen - das ist der Weg, den
wir Ihnen vorschlagen -: Erhalt der beitragsfinanzierten
Rente, weil sie Lebensleistung fördert, mehr betriebliche
Altersvorsorge - dazu zählt übrigens auch eine gescheite
Steuerreform - und vor allen Dingen auch mehr private
Eigenvorsorge. Aber wer von den Jungen heute verlangt,
daß sie mehr Eigenvorsorge für das Alter betreiben sollen, der muß dann durch eine Steuer- und Abgabensenkungspolitik dafür sorgen, daß die Jungen überhaupt den
Spielraum haben, mehr Eigenvorsorge betreiben zu können.
({0})
All das tut Ihre Regierung nicht. Sie waren bislang nicht
in der Lage, überzeugende Konzepte für eine Rentenstrukturreform vorzulegen.
({1})
Herr Riester ist der Totalausfall dieser Regierung.
({2})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Katrin Göring-Eckardt von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Schnieber-Jastram, als ich Ihren Antrag gelesen habe,
habe ich gedacht, daß Sie jetzt so einfach nicht mehr saDr. Guido Westerwelle
gen würden, die Rente sei sicher. Das hat ja auch Herr
Westerwelle jetzt noch einmal festgestellt. Als ich in
diesen Tagen die Zeitungsmeldungen, die auf Herrn
Storm zurückgingen, gelesen habe, habe ich gedacht:
Offensichtlich ist auch Ihnen klar geworden, daß den
Herausforderungen, die an das Rentensystem gestellt
werden, nicht mehr ausgewichen werden kann. Vielleicht hat das ja auch mit einem Generationenwechsel zu
tun, der irgendwann auch bei Ihnen Einzug hält.
({0})
Ja, es ist nämlich die demographische Entwicklung,
gekoppelt mit hoher Arbeitslosigkeit, die uns vor neue
Aufgaben stellt. Auch das muß noch einmal gesagt werden: Dadurch, daß Sie jahrelang den Handlungsbedarf
ignoriert haben, haben Sie diesem Land und den Bürgerinnen und Bürgern etwas vorgemacht. Immerhin: Würden wir keine Reform machen, sondern einfach den
Blümschen Demographiefaktor wieder einführen, dann
würde das der Größenordnung einer Erhöhung um sechs
Mehrwertsteuerpunkte entsprechen.
({1})
Das wollen wir nicht.
({2})
Ihr Demographiefaktor - das wissen Sie - funktioniert
eben nicht. Er würde nicht dazu führen, daß die Kaufkraft der Rentnerinnen und Rentner erhalten bleibt, obwohl er definitiv dazu gedacht war. Er sollte ja nicht um
weitere Komponenten, beispielsweise eine private und
betriebliche Vorsorge, ergänzt werden. Sie wollten damit eine Rentenniveauabsenkung auf 64 Prozent. Das
bedeutet für Erwerbstätige mit geringem Einkommen
eine Rente auf Sozialhilfeniveau. Auch das haben Sie
hier heute noch nicht gesagt.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Niebel?
Nein, danke. - Wenn das nach den Verunsicherungskampagnen der letzten Wochen Ihr Antrag ist,
dann sage ich nur: Nein, danke. Fangen Sie doch nicht
schon wieder an, so zu tun, als sei alles ganz einfach.
Niemand glaubt Ihnen das heute mehr: die Jungen nicht
und die Alten auch nicht.
({0})
Versprechen Sie jetzt nicht wieder kurzfristig etwas, von
dem Sie wissen, daß es langfristig nicht tragfähig ist.
({1})
Es kann niemandem egal sein, ob die heute Jungen
überhaupt noch eine Chance auf angemessene Sicherung
im Alter haben.
({2})
Uns ist es nicht egal. Das gehört nun tatsächlich zu den
Essentials unserer Politik.
({3})
Was ich sinnvoll finde, ist, zu beantworten, wie sich
die Altersentwicklung der Gesellschaft in der Rentenformel abbilden läßt. Der Bundesarbeitsminister hat mit
der obligatorischen Zusatzvorsorge im Sinne einer
Eigenrente dazu einen - nicht mehrheitsfähigen - Vorschlag gemacht. Der DGB schlägt einen Familienfaktor
vor. Ich finde, wir brauchen einen Generationenfaktor,
der die Altersentwicklung langfristig, also mindestens
bis zum Jahr 2030, abbildet.
({4})
Wir wollen bei einer leistungsbezogenen Rente auch für
die unteren Einkommensgruppen bleiben. Deswegen:
Einfache Rückkehr zum Blüm-Faktor - nein. Eine neue
Rentenformel mit Generationenfaktor - ja. Das diskutieren wir gerne, ich hoffe übrigens, gemeinsam, konstruktiv, mit Phantasie und auf einem Niveau, das nicht dem
der letzten Wochen und teilweise der heutigen Debatte
entspricht. Aber die Wahlkämpfe sind ja demnächst
vorbei.
Nun entnehme ich den Aussagen Ihres Kollegen
Storm, daß er durchaus bereit ist, die Frage der Nettolohnanpassung von der Frage eines langfristigen Rentenkonzeptes zu trennen. Da dachte ich für mich: endlich! Schließlich bieten Sie ja bisher keine Alternative,
die ähnlich wirksam im doppelten Sinne ist. Die Rentnerinnen und Rentner erhalten zum erstenmal die Garantie,
daß ihre Kaufkraft erhalten bleibt.
({5})
Das hätten Sie erst einmal vormachen sollen.
({6})
Schritt halten mit der Preisentwicklung - das ist es, was
wir anzubieten haben. Sie wissen genau, daß das nach
dem Hin und Her der letzten Jahre ein wirklich gutes
Angebot ist. Die angeregte Trennung ist deshalb das erste Gesprächsangebot ohne Vorbedingungen. Ich hoffe,
daß Sie dies ernst meinen.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Storm?
Bitte schön.
({0})
- Herr Storm ist angesprochen worden.
Frau Kollegin, haben
Sie nicht zur Kenntnis genommen, daß sämtliche von
mir gemachten Vorschläge eines gemeinsam haben,
nämlich die grundlegende Nettolohnorientierung - erstens das Abgehen von der Inflationsratenanpassung für
die nächsten beiden Jahre und die Rückkehr zur Nettolohnorientierung und zweitens die Nettolohnorientierung
in Verbindung mit einem demographischen Faktor in
den Folgejahren -, und somit Ihre Behauptung, das sei
ein Vorschlag des Abgehens von der Nettolohnorientierung, offenbar jeder Grundlage entbehrt?
({0})
Herr Kollege Storm, ich habe den Meldungen
entnommen, daß Sie gesagt haben: Man muß ein langfristiges Konzept diskutieren, unabhängig von dem, was
die Regierung jetzt kurzfristig vorschlägt. Das habe ich
sehr begrüßt.
Im übrigen kann ich Ihnen vielleicht eine kleine Erinnerungshilfe geben: Die alte Koalition, der auch Sie angehört haben, hat erst 1992 die Nettolohnbezogenheit
eingeführt. Ich hoffe, Sie wissen auch noch, warum,
nämlich weil damals die Bruttolöhne gestiegen, die
Nettolöhne aber wegen Ihrer Politik der steigenden
Lohnnebenkosten immer weiter gesunken sind.
Jetzt möchte ich gerne fortfahren. Ich glaube, daß es
in der Rentenfrage in der Tat zwingend ist, zu einem
Konsens der Parteien und übrigens auch der gesellschaftlichen Kräfte zu kommen. Jede Generation, die
junge wie die alte, hat ein Recht auf klare Perspektiven.
Ich hoffe, daß die Gewerkschaften den von ihnen eingeschlagenen Weg der konstruktiven Diskussion fortsetzen
und nicht durch einen unseligen Konfrontationskurs ablösen werden.
({0})
Lassen Sie mich deswegen an dieser Stelle noch ein
paar Worte zu der Forderung nach einer Rente ab 60
sagen. Eine Erhöhung der Beitragssätze, die diese zur
Folge hätte, ist für uns nicht hinnehmbar. Was die Belastungen der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer angeht, sind wir längst an einer Schallmauer angelangt.
Die arbeitsmarktpolitischen Effekte - darauf ist heute
schon hingewiesen worden - einer Rente ab 60 sind zu
bezweifeln. Arbeitsplätze, die in der Vergangenheit
durch Vorruhestandsregelungen freigemacht wurden,
sind zum großen Teil nicht wieder besetzt worden. Von
sieben freigewordenen Arbeitsplätzen ist nur einer wieder besetzt worden.
Ich finde, daß Strukturmaßnahmen zugunsten von
Unternehmen nicht zu Lasten der Rentenkasse finanziert
werden dürfen. Was wir brauchen, ist ein lebensphasenübergreifendes Gesamtkonzept der Arbeitszeitgestaltung. So sind beispielsweise Jobrotationsmodelle ein
geeigneter Ansatz, um tatsächlich Effekte auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen. Dazu gehören auch lebenslanges
Lernen, Sabbatjahre und ernsthafte Senior-JuniorModelle auch im öffentlichen Dienst. Das sind alles
Vorschläge, die aus der laufenden Diskussion hervorgegangen sind und die man nicht so reduzieren darf, wie
das in den letzten Tagen geschehen ist.
Zurück zu Ihrem Antrag: Mir sind einige Aspekte
aufgefallen - auch das ist schon gesagt worden -, die ich
für eine Partei, die erst ein gutes Jahr in der Opposition
sitzt, außerordentlich bemerkenswert finde. Bei Ihnen
hat offenbar in diesem Jahr ein echter Wandel stattgefunden. Das findet insbesondere in Ihrer Anerkenntnis
der Lebensrealität, wie sie sich heute darstellt, ihren
Niederschlag. Sie sprechen von zunehmender Frauenerwerbstätigkeit, von diskontinuierlichen Erwerbsbiographien, von der besseren Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten oder einer angemessenen Reform der
Hinterbliebenenrente. Fast möchte man es Ihnen ersparen, darauf zu verweisen, daß Sie all das in der Tat noch
vor gut einem Jahr hätten haben können und dafür auch
breite Unterstützung in diesem Haus gefunden hätten.
Was ist aber die wesentliche Herausforderung an das
System selbst? Es geht um eine doppelte Gerechtigkeitsfrage. Wir brauchen die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und innerhalb der jeweiligen Rentnergeneration.
({1})
Es kann nicht um eine einfache Rückkehr zur lohnbezogenen Rente gehen, sondern wir brauchen ein Konzept,
das die Herausforderung annimmt, sich nicht nur bis zur
nächsten Wahl herüberzuretten.
Zu Recht mahnen gerade die heute Jungen diese Perspektiven an. Es ist heute eben nicht mehr abwegig,
schon im Alter von 17 Jahren an die Rente zu denken.
Daß wir heute in der Situation sind, in der die 17- wie
die 40jährigen davon ausgehen, daß ihre Rente nicht sicher ist, daß sie im Vergleich zu den hohen Belastungen
von heute keine adäquaten Leistungen morgen erwarten
können, ist ein ernsthaftes Zeichen. Wer irgendwie
kann, bringt längst sein Scherflein ins trockne. Pech allein hat, wer nichts besitzt.
Auch das ist ein zentraler Ansatzpunkt für die rotgrüne Regierung. Es muß Schluß sein mit dem Prinzip „wer
hat, der hat“ oder „wer mehr hat, dem wird noch mehr
gegeben“.
({2})
Genau deswegen ist die eingeschlagene Richtung, private und betriebliche Vorsorge auch für diejenigen lukrativ zu gestalten, die kleine Einkommen beziehen,
sinnvoll.
({3})
Richtig ist auch, in aller Ehrlichkeit zu sagen: Allein
die umlagefinanzierte Altersvorsorge wird auf lange
Dauer keine Lebensstandardsicherung gewährleisten.
Mit einem Freibetrag für private Vorsorgemaßnahmen,
wie wir Grüne ihn präferieren, gäbe es endlich Transparenz im System. Es kommt darauf an, die Beiträge zur
gesetzlichen Rentenversicherung so zu gestalten, daß
sich auch diejenigen mit geringen Einkünften Vorsorge
leisten können, ohne am täglichen Bedarf - das betrifft
gerade die Familien - zu sparen. Denn daß es diejenigen, die heute für Kinder aufkommen, am wenigsten
sind, die an Altersvorsorge denken können, und zwar
aus finanziellen Gründen, ist ein unhaltbarer Zustand.
Sicher muß man nicht, wie es der katholische Familienbund formuliert, fordern, daß Kinderlose höhere
Rentenbeiträge bezahlen. Daß wir aber im Gegenzug ein
System haben, in dem sich Doppelverdiener ohne Kinder das volle Programm vom mehrwöchigen Urlaub an
der Westküste über das Zweitauto fürs Wochenende bis
zu einer lukrativen Altersvorsorge alles leisten können,
während auf der anderen Seite Eltern mit dem Zelt losziehen und letztlich hoffen, daß es im Alter irgendwie
klappt, kann auch nicht sein. Es geht nicht darum, den
einen gegen den anderen auszuspielen. Wir haben heute
morgen hier über ein kinderfreundliches Deutschland
debattiert. Dazu gehört auch ein umfassender Ausgleich
für die Familien. Die rotgrüne Regierung macht endlich
ernst damit. Wir werben auch um Ihre Unterstützung dafür.
({4})
Viel gewonnen ist freilich, wenn Sie heute sagen: Ja,
es muß eine eigenständige Alterssicherung für Frauen
geben. Sie wissen, daß diese Koalition an diesem Punkt
besonders intensiv arbeitet. Die unsteten Erwerbsbiographien, die Möglichkeiten, in Teilzeitarbeitsverhältnisse zu gehen, auch ohne immense Einschnitte bei der
Rente hinnehmen zu müssen, sind Beispiele dafür.
Bei der Problemlösung wird es aber auch darauf ankommen, Vielfältigkeit abzubilden. Es gibt sie eben
nicht mehr, die klassische Erwerbsbiographie oder die
klassische Familienbiographie. Deswegen halte ich die
vorgesehene Optionslösung für einen guten Ansatz.
Auch das ist ein echtes Angebot an die Jungen, weil es
heißt, Lebensplanung ernst zu nehmen.
Noch einmal: Worum geht es? Es geht erstens um
Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Das heißt,
erträgliche Beiträge, eine langfristige Option der Altersvorsorge und eine Vielfalt von Möglichkeiten der privaten und betrieblichen Vorsorge. Es geht zweitens um
Gerechtigkeit in der jeweiligen Rentnergeneration. Dazu
gehört die Anerkenntnis unterschiedlicher Lebensentwürfe ebenso wie die Chance auch für Geringverdiener,
nicht allein auf die gesetzliche Altersvorsorge angewiesen zu bleiben. Dazu gehört auch, das System armutsfest
zu machen.
Da wundere ich mich schon: Kein Wort in Ihrem
Antrag zu der Frage, wie Altersarmut, insbesondere verschämte Altersarmut bekämpft werden kann. Gibt es
denn nach Ihrer Ansicht eine angemessene Absicherung
im Alter nur für diejenigen, denen es auch im Erwerbsleben schon gut ging? Sie wissen genau: Es geht nicht
darum, denjenigen zu subventionieren, der sagt: Irgendwie wird sich der Staat am Ende schon um mich kümmern. Es geht mir - das ist der Kern sozialer Politik um diejenigen, die im Alter ohne eigenes Verschulden
arm sind, die ihr Armsein ohne Murren im stillen Kämmerchen, oft mit Verzweiflung, hinnehmen. Daß sie
nicht dazugehören sollen und gerade so das Überleben
schaffen, ist nicht akzeptabel. Dies sind Menschen, die
sich nicht zum Sozialamt trauen, weil sie Angst haben,
daß ihre Kinder für ihren Unterhalt aufkommen müssen,
Menschen, die sich einfach schämen.
Zum erstenmal soll es gelingen, hier zu sagen: Ja,
diese Gesellschaft weiß um diese Menschen, und sie gibt
ihnen die Möglichkeit, in Würde zu leben. Dazu gehört,
daß die alten Unterhaltsregelungen ersetzt werden. Dazu
gehört auch, daß wir Alte eben nicht zum Sozialamt
schicken, wie Sie das jahrelang getan haben.
({5})
Ich halte das für einen Schritt, der dieser Gesellschaft
ein Stück Menschlichkeit zurückgibt. Sie wissen, daß
wir Grünen solche Schritte viel umfassender wünschen.
Hier soll ein solcher Weg, ein Weg zu mehr Menschlichkeit und Würde, gegangen werden. An dem gibt es
für uns nichts zu deuteln, gar nichts.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Balt von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das Bonbon zum Jahr des Miteinanders der
Generationen scheint die Debatte über die Zukunft der
Alterssicherungssysteme zu sein. Mit Eifer wird versucht, den Eindruck zu erwecken, man könne durch bloßes Umschichten von Geldern die Alterssicherung billiger machen, ohne die Leistungen für den einzelnen
schmerzhaft zu senken.
Die Kontroversen zeigen die Kompliziertheit des
Problems. Das Hin und Her verunsichert alle, Alte und
Junge. Aber kaum jemand spricht noch über die Ursachen des Problems. Die Rentenversicherungen haben
nämlich Einnahmen- und Ausgabenprobleme.
Die von Arbeitsminister Riester gemachten Vorschläge lassen selbst bei gutem Willen nicht die Ansatzpunkte einer großen Rentenstrukturreform der Koalition
erkennen. Haben wir noch die Aussetzung des willkürlichen „demographischen Faktors“ in der Rentenformel
sowie das Rentenreformgesetz 1999 bezogen auf die
Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten als damals
erste Schritte in die richtige Richtung unterstützt, so lehnen wir die Aussetzung der nettolohnbezogenen Dynamisierung in den Jahren 2000 und 2001 ab,
({0})
da sie nur zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes zu
Lasten der Rentnerinnen und Rentner und der Arbeitslosen beiträgt.
In Zahlen: Bekannt ist, daß im Rahmen des Sparprogramms von 30 Milliarden DM allein durch das AussetKatrin Göring-Eckardt
zen der Rentenanpassung in den Jahren 2000 und 2001
von den Rentnern 8 Milliarden DM aufgebracht werden
sollen. Aus der Drucksache 14/1401, Seite 18, geht hervor, daß auch die Anpassung der Arbeitslosenhilfe in
den Jahren 2000 und 2001 auf die Höhe der Preissteigerung begrenzt und die Bemessungsgrundlage für die
Renten- und Pflegeversicherungsbeiträge nur noch die
Höhe der Arbeitslosenhilfe sein soll. Allein die letzte
Maßnahme führt zu einer Einsparung im Bundeshaushalt des Jahres 2000 in Höhe von 4,5 Milliarden DM.
Diese 4,5 Milliarden DM werden letztlich der Rentenund Pflegeversicherung entzogen. Es wird schon heute
die Grundlage dafür gelegt, daß die Arbeitslosen in 30
oder 40 Jahren eine deutlich geringere Rente erhalten
werden. Mit einer solchen unsozialen Politik kann sich
die PDS nicht einverstanden erklären.
({1})
Ebenso wehren wir uns dagegen, daß durch das Inkrafttreten einer weiteren Stufe der Ökosteuerreform
im nächsten Jahr der Beitragssatz zur Rentenversicherung erneut gesenkt werden soll. Auch diese Maßnahme
dient nicht der Rentenversicherung; vielmehr werden
durch sie weitere 800 Millionen DM beim Bundeszuschuß an die Rentenversicherung eingespart.
Wir sagen ja zur Reform, aber nein zu solchen Maßnahmen, die allein die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung betreffen und Einsparungen zu Lasten
der Rentnerinnen und Rentner bedeuten. Wir wollen
grundsätzlich am leistungs- und beitragsbezogenen gesetzlichen Rentenversicherungssystem festhalten, um
eigenständige Existenzsicherung, Anerkennung von Lebensleistungen im Alter und sozial gerechte Lastenverteilung als soziale Maßstäbe zu erhalten.
({2})
Die Privatisierung sozialer Risiken lehnen wir strikt ab.
Wir lassen auch nicht zu, daß die gesetzliche Rentenversicherung totgeredet wird. Die größte Bedrohung für
den Bestand der gesetzlichen Rentenversicherung ist
heute nicht die demographische Entwicklung, sondern
die hohe Massenarbeitslosigkeit und die Unzahl versicherungsfreier Minijobs sowie Scheinselbständigkeit
und illegale Beschäftigung.
({3})
Deshalb müssen vor allem neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Erwerbsarbeit soll generell sozialversicherungspflichtig sein. Aber künftig sollten auch Selbständige, Beamte, Freiberufler sowie wir Abgeordnete, Minister und andere einen Beitrag zur Finanzierung der solidarischen Rentenversicherung leisten.
({4})
Die PDS fordert eine eigenständige Alterssicherung
für Frauen, in der die gesamte Lebensleistung angemessen berücksichtigt wird. Hierzu zählt unter anderem
eine längere und großzügigere Anrechnung von Kindererziehungszeiten, die Gleichstellung von Erwerbs- und
Pflegetätigkeit sowie eine höhere Bewertung von Teilzeitbeschäftigung und geringfügiger Beschäftigung.
({5})
Um die gesetzliche Rentenversicherung stabil, zukunftssicher und armutsfest zu machen, schlagen wir die
Einführung einer steuerfinanzierten Grundsicherung vor.
Sie soll die beitragsfinanzierten Leistungen auf einem
existenzsichernden Niveau gewährleisten und all jene,
die aus eigener Kraft kein Einkommen in Höhe der
Grundsicherung erzielen können, vor Armut schützen.
Dies gilt natürlich nicht nur für Rentnerinnen und Rentner, sondern gleichermaßen auch für Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen und andere Gruppen, die heute
noch immer oder schon wieder sozial benachteiligt sind.
Durch zunehmend unstete Erwerbsbiographien ist es
in Zukunft immer weniger möglich, 45 Arbeitsjahre mit
einem Durchschnittseinkommen zu erreichen. Deshalb
ist die gesetzliche Rentenversicherung so zu reformieren, daß für die Mehrheit der Versicherten eine Rente
von 70 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens auch unter den veränderten Bedingungen realisiert
werden kann. Wir wollen an der solidarischen Finanzierung der Rentenversicherung durch Arbeitgeberbeiträge
und Beiträge der abhängig Beschäftigten festhalten. Allerdings ist die Erhebung der Arbeitgeberbeiträge auf
Grund der Bruttolohnsumme nicht mehr zeitgemäß, da
finanzkräftige Unternehmen mit wenig Personal kaum
belastet werden. Hier bietet sich eine Wertschöpfungsabgabe als Alternative an.
({6})
Hierbei würde die tatsächliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen zugrunde gelegt. Arbeitsintensive Betriebe würden entlastet. Kapitalintensive Betriebe mit wenig Personal müßten dann entsprechend höher belastet werden.
Um Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in das notwendige Gleichgewicht zu
bringen, ist auch der steuerfinanzierte Bundeszuschuß
zur Rentenversicherung angemessen zu erhöhen. Dafür
ist aber ein Bruch mit der gegenwärtigen neoliberalen
Steuerlogik unbedingt erforderlich. Hohe Einkommen
und Vermögen sind höher zu besteuern. Die Umverteilung von unten nach oben muß umgekehrt werden.
Danke.
({7})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Erika Lotz von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Westerwelle, das, was Sie hier
geboten haben,
({0})
war Wahlkampf pur. Ihre Formulierung, wir machten
die Rentenkasse zur Wahlkampfkasse, ist eine unverantwortliche Entgleisung. Ich fordere Sie auf, dies zurückzunehmen.
({1})
Auch Ihre Behauptung, die Koalition und die Regierung koppelten die Rentenerhöhungen von den zukünftigen Lohnsteigerungen ab, stimmt ganz einfach nicht.
Sie wissen genau, welche Hinterlassenschaft an Schulden Sie uns übergeben haben und weshalb wir in dieser
Situation sind.
({2})
Allzugerne wird vergessen, welche Kürzungen von
Ihnen in der Vergangenheit durchgesetzt worden sind.
({3})
- Herr Westerwelle, eines will ich sagen: Ich bin dafür
dankbar, daß Sie mit dem Märchen aufgeräumt haben,
die alte Koalition habe immer das Angebot gemacht,
Rentenkürzungen im Konsens mit uns durchzusetzen.
Es wurde immer behauptet, der Rentenkonsens sei von
unserer Seite gebrochen worden. Sie haben heute ganz
klar gesagt, daß Sie Rentenkürzungen alleine durchgesetzt haben.
({4})
Hierfür sage ich danke schön.
({5})
Über Ihre Behauptung, wir machten die Rentenkasse zur
Wahlkampfkasse, bitte ich Sie, Herr Westerwelle, noch
einmal nachzudenken. Können Sie das in diesem Hause
so stehenlassen?
({6})
Frau Schnieber-Jastram, wir reden heute nicht über
einen Antrag der F.D.P., sondern der CDU/CSU. Sie haben Dialogbereitschaft angekündigt. Das ist zu begrüßen. Wenn Sie aber gleichzeitig Bedingungen stellen
und Statistiken zur Rentenberechnung anführen, mit denen Sie alles auf den Kopf stellen, dann muß ich sagen,
daß es mit Ihrer Dialogbereitschaft offensichtlich nicht
so weit her ist. Gegenwärtig erfahren wir über die Zeitungen von den Vorschlägen des anderen; aber vielleicht
kommen wir da noch einmal ein Stück weiter.
Die Bundesregierung hat ein klar durchdachtes Rentenkonzept.
({7})
Es orientiert sich an der Tatsache, daß auf der einen
Seite die Menschen älter werden - das begrüßt jeder,
auch wenn es den Zeitraum des Bezugs von Rente verlängert - und daß auf der anderen Seite die Zahl der Erwerbstätigen, die dieses System bezahlen, im Verhältnis
immer kleiner wird. Wir berücksichtigen in unserem
Konzept beide: Rentner und Beitragszahler. Das ist
mehr, als Sie in den letzten 16 Jahren zustande gebracht
haben.
({8})
Ich will auf einige Punkte Ihres Antrags eingehen.
Die Schwierigkeiten der gesetzlichen Rentenversicherung haben Sie erkannt. Aber es drängt sich schon die
Frage auf, warum Sie die 16 Jahre Ihrer Regierungszeit
nicht genutzt haben, um die Alterssicherung strukturell
anzugehen.
({9})
Genau das tun wir jetzt. Anstatt darüber froh zu sein,
fordern Sie uns auf, so weiterzumachen wie Sie: an allen
Ecken Leistungen zu kürzen, das Rentenniveau auf
Dauer zu senken und trotzdem die Beiträge gleichzeitig
steigen zu lassen. Kollege Bodewig hat darauf hingewiesen. Ich sage Ihnen: Diese Politik werden wir sicherlich nicht fortsetzen,
({10})
auch nicht die Politik eines Verschiebebahnhofes zwischen Renten- und Arbeitslosenversicherung, die die
Beiträge einmal hier und einmal dort herunterfährt.
({11})
Ihr Antrag zeigt aber auch, daß wir uns in einigen
Punkten offensichtlich einig sind. Daß man miteinander
spricht oder daß Sie mit uns darüber sprechen wollen,
das ist ja etwas, worüber man sich eigentlich freuen
kann. Ihr Antrag enthält allerdings viele Forderungen,
die wir mit unserem Rentenkonzept schon erfüllen. Als
Beispiel nenne ich, eine zweite und dritte Säule für die
Alterssicherung auszubauen. Dieses konnten Sie ja den
Berichten über das letzte Treffen der entsprechenden
Arbeitsgruppe des Bündnisses für Arbeit am 21. September entnehmen. Wir konzentrieren uns dabei - das
wollen ja auch Sie - auf Personen mit unterdurchschnittlichen Einkommen. Deshalb werden wir das Sparen zur Alterssicherung in Zukunft mit einer Prämie für
die unteren und mittleren Einkommen belohnen. Wir
führen diese Prämie ein, weil wir wissen, daß man gerade auch in Zeiten leerer Kassen in die Zukunft investieren, das heißt: Vorsorge treffen muß. Uns geht es darum,
die private Vorsorge derjenigen zu fördern, die nicht so
viel verdienen, als daß sie dieses ohne Hilfe des Staates
tun könnten.
Daß es in Zukunft Familien gibt, die keine Steuern
zahlen, aber trotzdem noch etwas zur Seite legen können, ist ein echter Fortschritt, den diese Bundesregierung
erreicht hat. Daß ab dem nächsten Jahr Durchschnittsfamilien mit zwei Kindern und mit einem Jahreseinkommen von bis zu 50 000 DM keine Steuern mehr
zahlen, haben sie der Politik der rotgrünen Bundesregierung zu verdanken. Es ist nämlich eine Folge des Steuerentlastungsgesetzes. Von einem steuerfreien EinkomErika Lotz
men von bis zu 50 000 DM konnten die Familien bis
zum letzten Herbst nur träumen.
({12})
Mit dem Angebot an die Tarifvertragsparteien, einen
Tariffonds aufzubauen, damit die Abschläge bei denjenigen, die früher in Rente gehen, gemildert werden
können, beschreiten wir den richtigen Weg. Weil wir
wissen, daß die Situation in den Branchen ganz unterschiedlich ist und sich auch die Maßnahmen für die
Alterssicherung danach richten müssen, überlassen wir
die Ausgestaltung der Vereinbarung den Tarifpartnern.
Auch in einem anderen Punkt sind wir uns offenbar
einig. Sie fordern von uns ein Konzept zur Verbesserung
der eigenständigen sozialen Sicherung von Frauen.
Die SPD hat dafür schon seit Jahren ein Konzept; ein
Vorschlag der CDU/CSU dazu fehlt bis heute. Dabei
wäre es Ihre Aufgabe gewesen, die Alterssicherung von
Frauen zu verbessern, denn schon 1991 hat der Bundestag in einer Entschließung gefordert, dazu bis 1997 ein
Konzept vorzulegen. Das haben Sie nicht fertiggebracht.
Unsere Überlegungen dazu kennen Sie. Wir wollen, daß
die Rentenanwartschaften, die in einer Ehe erworben
werden, partnerschaftlich geteilt werden, weil die Zahl
der Familien, in der ein Ehepartner die Familienarbeit
leistet und der andere ihn versorgt, immer geringer wird.
Wir werden uns dabei an dem Versorgungsausgleich bei
Scheidungen orientieren, weil uns dies am gerechtesten
erscheint.
Wir haben aber auch noch anderes getan, was Sie in
Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnen: Wir haben die
Änderungen, die Sie bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten
vorgenommen haben, wieder zurückgenommen. Das
war auch notwendig. Es wäre schon schön gewesen,
Frau Schnieber-Jastram, wenn Sie auch dazu etwas gesagt oder im Antrag niedergeschrieben hätten.
({13})
Statt dessen sagen Sie nach wie vor, Ihre sogenannte
Rentenreform sei richtig gewesen. Ich halte sie vielmehr
für unsozial. Wir werden mit unserer Strukturreform an
dieser Stelle für mehr Gerechtigkeit sorgen. Dies ist
ganz einfach notwendig. Wir behalten deshalb die arbeitsmarktbedingten Erwerbsunfähigkeitsrenten bei. Das
bedeutet, für uns spielt es auch eine Rolle, ob jemand
überhaupt noch eine Arbeit finden kann, und nicht nur,
ob er theoretisch noch für ein paar Stunden am Tag arbeiten könnte.
({14})
Ich hoffe, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen auch von
der Opposition, daß nach den Wahlen in Berlin - Herr
Westerwelle, ich verstehe, daß man, wenn die Aussichten unter 5 Prozent liegen, auch den Deutschen Bundestag für Wahlkampfzwecke zu nutzen versucht;
({15})
aber Sie sollten den Bundestag nicht dazu benutzen,
Rentner und Rentnerinnen zu verunsichern - ganz einfach wieder Ruhe einkehrt und wir in Ruhe miteinander
beraten können. Unser Strukturkonzept liegt auf dem
Tisch. Es ist vernünftig. Ich hoffe, wir werden uns noch
weiter annähern; ich hoffe, Sie werden dann unseren
Begründungen folgen und unserem Konzept zustimmen.
Danke schön.
({16})
Als
nächster Redner hat der Kollege Johannes Singhammer
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das
Vertrauen von 18 Millionen Rentnerinnen und Rentnern
in die Zukunft der Rentenversicherung ist erschüttert.
({0})
Weitere zehn Millionen Arbeitnehmer, die voraussichtlich in den nächsten zehn Jahren in Rente gehen werden,
machen sich Sorgen.
({1})
Der Grund ist, daß sie sich von dieser rotgrünen Bundesregierung getäuscht fühlen. Warum fühlen sie sich getäuscht?
({2})
Die frühere Bundesregierung hatte ein Rentenkonzept in
Gesetzesform gegossen. Es hat Härten enthalten. Wir
haben den Rentnern einiges abverlangt. Sie haben im
Bundestagswahlkampf mit der Botschaft argumentiert
und auch gewonnen, es bedürfe keiner Einschränkungen, keiner Umstellungen im Rentensystem; es bedürfe
keiner unangenehmen Entscheidungen; es könne so
weitergehen wie bisher - obwohl jedem Experten, auch
bei Ihnen, schon damals, im Jahre 1998, klar war, daß
viel zu wenig Kinder geboren werden und damit eine
große Lücke an künftigen Beitragszahlern droht,
({3})
obwohl bekannt war, daß die Erwerbsbiographien der
Arbeitnehmer im Durchschnitt immer kürzer werden
und obwohl eine ständig steigende Lebenserwartung zu
verzeichnen ist. Beispielsweise stieg die durchschnittliche Rentenbezugsdauer von Frauen von 1960 bis 1996
von 10,6 Jahren auf 18,5 Jahre. Das alles war bekannt.
({4})
Als diese Bundesregierung schon sechs Monate im
Amt war - das kann ich Ihnen nicht ersparen -, beging
dieser Bundeskanzler den größten Wortbruch, den je ein
Bundeskanzler seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland begangen hat.
({5})
Er sagte am 17. Februar:
Ich stehe dafür, daß die Renten in Zukunft so steigen wie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer.
Hundert Tage später mußte er in einem Interview einräumen:
Wir haben die Nettolohnformel für die nächsten
zwei Jahre nur ausgesetzt.
Das ist der Grund für die Verunsicherung, und das
haben Sie zu verantworten.
({6})
Die rotgrüne Bundesregierung hat die Rentenreform
der früheren Regierung außer Kraft gesetzt, die Rentensteigerungen vom Nettolohn abgekoppelt und entgegen
allen ihren Ankündigungen nicht einmal Ansätze eines
neuen, geschlossenen Rentenkonzepts vorgelegt.
({7})
Wir, die Union, haben nicht nur ein Konzept; wir haben
ein Gesetz. Wir brauchen daher keinerlei Vorwürfe von
Ihnen entgegenzunehmen.
({8})
Trotz dieser Vorgeschichte sind wir, die Union, zu
ernsthaften Gesprächen mit der rotgrünen Bundesregierung über die Zukunft der Renten bereit. Denn ein
„Weiter so“-Gewurstel dieser rotgrünen Bundesregierung ist zwar gut für die Wahlergebnisse von CDU und
CSU in den Bundesländern, aber schlecht für die Menschen in Deutschland.
({9})
Für uns sind folgende Eckpunkte von entscheidender
Bedeutung:
Erstens. Das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung muß wiederhergestellt werden. Eine Rente
nach Kassenlage kommt für uns nicht in Frage. Willkür
darf nicht Berechenbarkeit ersetzen. Als Mittäter für
einen Rentenschwindel stehen wir nicht zur Verfügung.
({10})
Zweitens. Wir wollen keine Grundrente, sondern die
Beibehaltung und Fortentwicklung der leistungs-, beitrags- und umlagefinanzierten Rente. Eine Grundrente
als Grundversorgung benachteiligt diejenigen Beitragszahler, die überdurchschnittlich eingezahlt haben. Dazu
gehört vor allem auch der Facharbeiter.
({11})
- Schreien Sie nicht so laut, sondern hören Sie zu, Herr
Bodewig! - Eine Grundrente
({12})
lähmt jeglichen Leistungsgedanken und widerspricht
dem Prinzip, das lautet: Wer mehr und länger einzahlt,
soll später auch mehr Rente bekommen. Dazu stehen
wir.
({13})
- Dann hören Sie zu!
Drittens. Die Generationengerechtigkeit muß gewährleistet sein.
({14})
Weil immer mehr Menschen älter werden, müssen die
wachsenden Belastungen zwischen den Beitragszahlern
und den Rentenbeziehern ausgewogen und gerecht verteilt werden. Der Demographiefaktor der früheren Regierung war die konsequente Umsetzung des Solidaritätsprinzips zwischen den Generationen.
({15})
Zur Generationengerechtigkeit zählt auch, daß die
verringerten gesamtgesellschaftlichen Kosten durch den
dramatischen Geburtenrückgang berücksichtigt werden. Immer weniger Kinder bedeuten natürlich auch:
Weniger Kindergartenplätze und weniger Schulplätze
werden benötigt. Später kommt es aber zu einer Verringerung der Zahl der Beitragszahler.
({16})
- Hören Sie doch einmal zu, damit Sie noch etwas lernen! Sie sprechen immer von Dialog und können nicht
einmal zwei Sätzen folgen, ohne dazwischenzuschreien.
Das hat folgende Konsequenzen: Wer Kinder erzieht
und damit eine herausragende gesellschaftliche Aufgabe
wahrnimmt, soll künftig besser und gerechter behandelt
werden, vor allem während der Familienphase, die erfahrungsgemäß besondere finanzielle Belastungen mit
sich bringt.
({17})
Es ist naheliegend, daß eine Vorsorgerücklage gebildet
wird, wobei ein kompletter Wechsel von der UmlageJohannes Singhammer
finanzierung zu einer Kapitaldeckung - das wissen alle
hier - weder realistisch noch sinnvoll ist.
Die Ergänzung heißt Stärkung der betrieblichen und
privaten Altersvorsorge. Die wachsende Belastung der
künftigen Beitragszahler soll durch den Aufbau einer
privaten Altersabsicherung ausgeglichen werden. Auf
freiwilliger Basis - das ist wichtig - sind private Anlageformen durch steuerliche Maßnahmen so zu fördern,
daß sie eine hohe Attraktivität gewinnen. Ein staatliches
Zwangssparen ist mit uns nicht zu machen.
({18})
Viertens. Keine Absenkung des Renteneintrittsalters. Herr Riester, bleiben Sie hart! Wer angesichts der
immer weniger Jüngeren und immer mehr Älteren in unserer Gesellschaft jetzt eine massenhafte Frühverrentung
auf den Weg bringen will, geht in die falsche Richtung.
Die Einnahmenlücken der Rentenversicherung werden
steigen, oder die Renten werden geringer ausfallen.
Denn irgend jemand muß den früheren Rentenbeginn
letztendlich bezahlen. Was in diesem Bereich zum Teil
an Konzeptionen gehandelt wird, ist ein Vertrag zu Lasten Dritter, nämlich zu Lasten derjenigen Beitragszahler, die voraussichtlich nie in den Genuß einer früheren
Rente kommen werden.
Wir lehnen solche Pläne auch deshalb ab, weil zum
Beispiel ein 60jähriger nicht von vornherein zum alten
Eisen gehört. Seine Erfahrung und sein Können sind
wichtige Grundlagen für den Erfolg unserer Volkswirtschaft und ein Wissensschatz, den man nicht ohne weiteres beiseite legt. Allerdings gilt auch: Wer 45 Jahre lang
hart gearbeitet und Beiträge in die Rentenversicherung
gezahlt hat, der muß die Sicherheit haben, eine volle
Rente zu erhalten.
({19})
Sie sehen, welche Eckpunkte für uns eine Rolle spielen. Wir sind zu einem ernsthaften Gespräch bereit, allerdings nicht, Frau Kollegin Lotz, in gebückter Haltung
und schon gar nicht dahin gehend, daß wir Ihre Bedingungen vorher akzeptieren. Wir haben unsere Eckpunkte. Sie sind gerecht und zukunftssicher.
Ich rate Ihnen - das darf ich Ihnen zum Schluß noch
sagen -: Setzen Sie statt des demographischen Faktors
lieber den demagogischen Faktor aus. Das tut dem gemeinsamen Bemühen um eine Rentenversicherung, die
Sicherheit und Zukunft bietet, gut.
({20})
Als
nächster Redner hat das Wort der Bundesminister Walter Riester.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion wurde
von der Abgeordneten Schnieber-Jastram mit dem Hinweis eingebracht, er stelle den Versuch dar, einen Dialog zur Rentenfrage zu beginnen. Nun wissen Sie, daß
ich als Minister erst relativ kurze Zeit die Eigenarten
parlamentarischer Debatten miterlebt habe. Ich will jedoch die letzten 90 Minuten einmal vergessen und an
dem Punkt anknüpfen, an dem ein Dialog beginnen
könnte.
Zuerst möchte ich Ihnen sagen, daß ich der Teilanalyse zum Rentenversicherungssystem in Ihrem Antrag
über weite Strecken zustimme.
({0})
Ich hätte mich gefreut - das sage ich als jemand, der
schon frühzeitig, auch damals im gewerkschaftlichen
Lager, auf die Problemstellung in der Rentenversicherung hingewiesen hat; natürlich nicht immer zur Freude
der Sozialpolitiker -, wenn die kritische Elle sehr früh
angelegt worden wäre.
Ich möchte zu Ihren Forderungen kommen. Zunächst
komme ich zu der in der Debatte relativ neuen Forderung - gerade höre ich von Herrn Westerwelle, die Liberalen hätten sie schon einmal eingebracht -, eine Generationenbilanz vorzulegen. Diese Grundlinie halte ich
für spannend und wichtig. Allerdings - der Abgeordnete
Bodewig hat darauf hingewiesen - zeigt sich in dem
Land, in dem eine solche Bilanz seit 1990 entwickelt
worden ist, gleichzeitig, wie schwierig das ist. Der Ansatz, der dort gewählt worden ist, führt bisher nach dem
Ergebnis aller Untersuchungen in die Irre. Gleichwohl
will ich diese Überlegung aufnehmen. Ich wäre sehr
daran interessiert, wenn wir an dieser Frage einer Generationenbilanz arbeiten könnten.
Ich habe Ihnen schon sehr früh gesagt: Die Bundesregierung wird im Jahr 1999 die Rentenstrukturreform
entwickeln und sie im nächsten Jahr in eine parlamentarische Debatte einbringen. Nun haben Sie einige Forderungen gestellt. Lassen Sie mich zunächst auf die Forderung eingehen, ein Konzept zur Verbesserung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau vorzulegen. Sie
dürfen davon ausgehen: Das werden wir vorlegen. Ich
frage allerdings: Warum hat das die Vorgängerregierung
nicht getan? Wir werden das vorlegen; das sage ich
Ihnen zu. Es wird Bestandteil der Rentenreform sein.
Zweiter Punkt. Sie wollen ein Konzept zum Ausbau
der betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Sie wissen: Exakt an dem Punkt arbeiten wir. Das ist Bestandteil der Rentenreform. Sie werden es im nächsten Jahr in
der parlamentarischen Debatte vorfinden. Sie können
sich dann trefflich mit uns darüber streiten oder uns zustimmen, je nachdem. Mir wäre es lieber gewesen, im
Vorfeld einer parteiübergreifenden Diskussion manche
Dinge gemeinsam zu entwickeln. Aber das war offensichtlich nicht möglich.
({1})
Nächster Punkt. Sie sagen, Sie möchten den im Rentenreformgesetz 1999 enthaltenen demographischen
Faktor bis spätestens 1. Januar 2000 wieder in Kraft
setzen. Ich kann Ihnen schon heute sagen: Das werden
wir nicht machen. Ich kann Ihnen auch sagen, warum.
Ich habe in diesem Hause schon mehrmals gesagt: Ich
sehe das demographische Problem der Rentenversicherung als eines der Kernprobleme. Ich halte den von der
alten Regierung gewählten Weg, dem zu begegnen, für
unzureichend, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens. Das Gesetz sieht beim Nettorentenniveau
eine unterste Auffanglinie von 64 Prozent vor. Bis zu
diesem Punkt, sagen Sie, wird die Nettoanhebung der
Renten ausgesetzt und jedes Jahr mit einem demographischen Abschlag versehen.
Bis zum Jahre 2012/2013 etwa - die Leute, die das
entwickelt haben, sind meine Mitarbeiter im Ministerium - wären wir bei einem Satz von rund 65 Prozent gewesen. Das große demographische Problem, das auftritt
und worauf keine Antwort gegeben wird, nämlich das
Verhältnis von Rentneranteil zu Beschäftigtenanteil, beginnt dort erst richtig.
Ungeachtet dessen, welche Regierung vor der Problemstellung steht, sie wird nur vier Lösungsmöglichkeiten haben: erstens, das Gesetz zu öffnen und das
Rentenniveau noch weiter abzusenken - eine, hoffe ich,
von niemandem gewünschte Lösung -; zweitens, die
Beiträge hochzuziehen - in Ihrem Antrag steht, Sie
wollen eine Stabilisierung der Beiträge; also auch das ist
nicht gewünscht -; drittens, in Milliardenhöhe zusätzliche Steuermittel - Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß der Steueranteil immer höher wird; also auch
das ist nicht gewünscht -; viertens - das ist die einzig
denkbare Lösung -, den Rentenzugang nicht bei 65,
sondern bei 67 oder 68 zu wählen. Das müssen wir aber
sehr früh machen, damit es überhaupt wirkt. Damit
wollte ich Ihnen zeigen, warum die Berücksichtigung
des demographischen Faktors die Problemstellung nicht
löst.
Ich will Ihnen zweitens aber auch sehr offen sagen dies draußen anzusprechen, ist nicht bequem -: Die jetzige Rentnergeneration, der ich das sehr gönne und
wünsche, hat das beste Rentenniveau in bezug auf die
eingezahlten Beiträge; das wissen wir alle.
Ich bin sehr dafür, daß diejenigen, die hohe Beiträge
zahlen, auch relativ hohe Renten bekommen. Ich akzeptiere auch, daß diejenigen, die niedrige Beiträge zahlen,
auch niedrige Renten bekommen.
Aber mit mir wird es keinen Weg geben, daß die
50jährigen und Jüngeren, daß ganze Generationen ständig steigende Beiträge zahlen - wir waren bei 20,3 Prozent; wenn wir nicht korrigiert hätten, wären wir im Jahre 2001 bei 21 Prozent und im Jahre 2002 bei 21,5 Prozent gewesen -, aber anschließend ein Rentenniveau von
64 Prozent oder möglicherweise noch weniger haben.
Da mache ich nicht mit.
({2})
Deswegen und nicht, weil ich die demographische
Problemstellung leugnen will - das wäre ja naiv -, sage
ich: Der Ansatz war, vorsichtig ausgedrückt, unterentwickelt.
({3})
Nächster Punkt. Sie fordern, den vom Bundeskabinett
gefaßten Beschluß, die Rentenanpassung für das Jahr
2000 und 2001 lediglich in Höhe der Inflationsrate vorzunehmen, nicht umzusetzen. Ich hatte gestern eine interessante Diskussion in der ASMK, in der alle Minister
der Länder versammelt waren. Es war eine für mich
ausgesprochen offene und hochinteressante Diskussion,
die mir folgendes gezeigt hat: Hinsichtlich der Notwendigkeit einer Rentenreform waren wir uns in allen Zielen
einig. Es gab einige Punkte, wo wir unterschiedliche
Wege gewählt haben.
Ich gehe jetzt auf einen Punkt ein, der völlig zu Unrecht als der Hauptteil der Rentenreform - es ist der
Beitrag, den die Rentner zu leisten haben - bezeichnet
worden ist. Ich habe die Länderminister gefragt, ob irgend jemand von ihnen der Meinung ist, daß wir im
nächsten und im darauffolgenden Jahr die Beiträge anheben sollten. Das haben sie weit von sich gewiesen. Sie
haben gesagt: Um Gottes willen, nein!
Ich habe ihnen dann die Berechnungen aller bisherigen Überlegungen dargestellt, die vom Deutschen Gewerkschaftsbund, die Einführung des Demographiefaktors und die etwa von Herrn Schmähl eingebrachte
Rückkehr zur Bruttolohnbezogenheit. Alle führen dazu,
daß die Beiträge wieder steigen.
Ich aber sage: Wir haben es hinbekommen, daß die
versicherungsfremden Leistungen - das ist nicht der
richtige Begriff; aber die Öffentlichkeit weiß, was damit gemeint ist - aus der Rentenversicherung herausgenommen worden sind, unter Einspeisung zusätzlicher Steuermittel. Der Unterschied zwischen der in
der Vergangenheit vorgenommenen Erhöhung der
Mineralölsteuer und der Entscheidung, die wir jetzt
umsetzen, besteht in der Höhe. Die Mineralölsteuer ist
von 1989 bis 1994 um 55 Pfennig für verbleites Benzin angehoben worden. Damit sind Haushaltslöcher gestopft worden. Ich will das nicht kritisieren. Wir heben die Mineralölsteuer in fünf Jahren um 30 Pfennig
an und geben jede Mark in die Beitragsentwicklung. Damit haben wir die versicherungsfremden Leistungen jetzt steuerfinanziert und den Beitragssatz abgesenkt.
({4})
Sie werden doch nicht annehmen, daß wir nach dieser
notwendigen Operation für die Rentenversicherung, mit
der wir sie entlasten, dem Steuerzahler jetzt sagen, daß
wir den Beitrag nun wieder erhöhen, weil die Opposition
auf einmal erkennt, sie möchte einen höheren Rentenversicherungsbeitrag. Das können und werden wir nicht
machen.
({5})
Da bin ich dann für eine offene, ehrliche Darstellung
draußen im Lande.
({6})
- Das ist ja das Schlimme, Herr Singhammer, daß Sie es
nicht sagen. In der Wirkung Ihrer Forderung kommt
nichts anderes als die Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrages heraus.
({7})
Jetzt lassen Sie mich das auch einmal etwas emotional sagen: Ich habe mir die forsche Rede eines Liberalen
vor 30, 40 Minuten hier angehört. Er hat hier erklärt, er
hätte gern einen Zusammenhang zwischen den Löhnen
und den Renten. Er wurde nicht müde, zehn Jahre lang
zu sagen, daß die Löhne zu hoch sind, und er nimmt
nicht zur Kenntnis, daß die Rentenentwicklung im Westen in sechs Jahren viermal unter der Preissteigerungsrate lag.
({8})
Ich hätte mir gewünscht, daß dieser Liberale sich
selbst einmal an die Brust geklopft hätte wegen einer
Politik, die er mit vertreten hat: daß in fünf Jahren die
Beiträge von 17,5 auf 20,3 Prozent gestiegen sind und
auf 21,3 Prozent gestiegen wären, wenn die Opposition
nicht unterstützt hätte, daß die Mehrwertsteuer das abfängt. Das sind 41 Milliarden DM Belastung für die
Beitragszahler. Er hat mitgetragen, daß der Bundeszuschuß um 40 Milliarden DM angehoben worden ist. Sagen Sie einmal Ihren Leuten, daß das fünf Prozentpunkte
Mehrwertsteuer sind.
Damit sind wir bei der Ehrlichkeit; an die bitte ich
immer zu denken; denn jede Politik hat ihre Wirkungen.
Ich zeige sie auf - das ist nicht ganz bequem -, Sie verschweigen sie.
({9})
Herr
Bundesminister, wären Sie bereit, eine Zwischenfrage
des Kollegen Louven zuzulassen?
Ja.
Herr
Louven, bitte schön.
Herr Bundesminister,
jetzt sind Sie bei der Ehrlichkeit, wie Sie sagen. Zur
Ehrlichkeit gehört auch, hier darauf hinzuweisen, daß
der Kollege Dreßler, den man ja interessanterweise bei
Rentendebatten hier nicht mehr sieht, drei Wochen vor
der Bundestagswahl öffentlich erklärt hat, die SPD habe
ein Rentenkonzept, welches von der BfA gerechnet sei,
wonach weder eine Erhöhung des Beitrags noch eine
Kürzung der Rente notwendig sei. Ich habe damals
nachweisen können, daß die BfA nie ein Modell der
SPD gerechnet hat. Nun frage ich Sie, ob es zur Ehrlichkeit gehört, daß sich die SPD im Wahlkampf so verhält
und Sie heute so tun, als gäbe es dies überhaupt nicht.
Ich sage Ihnen ganz klar: Ein Konzept, das
weder Beitragserhöhungen noch Leistungsabsenkungen
vorsieht, kann ich Ihnen nicht bieten.
({0})
Ich sage Ihnen offen, was möglich ist, und ich sage
auch, welche Lösungen wir dafür haben. Dazu stehe ich.
Diese Frage müssen Sie nicht an mich stellen. Ich vertrete diese Position, die ich früher vertreten habe, offen.
Ich vertrete sie auf jeder Versammlung. Ich habe letzte
Woche vor 1 200 Rentnern gesprochen. Ich stelle mich
der Diskussion und habe sehr viel Zustimmung dafür
bekommen, daß man endlich offen und ehrlich sagt, was
gemacht werden muß und was nicht gemacht werden
kann.
({1})
Meine Damen und Herren, abschließend: Ich habe
gern die Einleitung von Frau Schnieber-Jastram zur
Kenntnis genommen, daß das der Beginn eines Dialogs
sei. Ich möchte ihn aufnehmen. Ich sage Ihnen aber
auch: Streckenweise hätte ich die 12 Parlamentarier, die
Interesse an diesem Dialog hatten, auch in die Schenke
einladen können. Ich möchte ihn wirklich führen, ich
möchte ihn ernst führen,
({2})
und ich sage Ihnen zu, daß die Punkte, die ich aufgeführt
habe, von uns als Vorlage in das Parlament eingebracht
werden.
Gestern habe ich die Länderregierungen gebeten, an
dem Konzept mitzuarbeiten. Ich war sehr froh, daß ein
Minister eines CDU-geführten Bundeslandes, der seine
Wahl hinter sich hat, offen erklärt hat: Warten wir ab,
bis die Wahl in Berlin vorbei ist. Dann würden wir gerne
mitarbeiten. Es gehört zur Ehrlichkeit, aufzuzeigen, daß
Wahlkampfstimmung mit Sachfragen vermischt wird.
({3})
Der betreffende Minister ist leider - das möchte ich
Ihnen sagen - von der sogenannten Südschiene der OpBundesminister Walter Riester
position brutal abgestraft worden. Es wird wohl keinen
Dialog mehr geben. Soweit ist es in dieser Frage leider
gekommen.
Ich werde nicht müde, dafür zu kämpfen, daß wir die
Rentenreform gemeinsam hinbekommen.
({4})
Ich werde aber dagegen vorgehen,
({5})
daß Menschen auf eine unverhältnismäßige Weise verunsichert werden und daß eine Hetzkampagne betrieben
wird.
({6})
Diese wird auf Sie zurückschlagen.
({7})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Guido Westerwelle das Wort.
Herr Minister, Sie
haben mich ja persönlich angesprochen.
({0})
- Doch, in den letzten 40 Minuten hat hier nur ein Liberaler gesprochen. Sie haben nur meinen Namen nicht
genannt.
({1})
- Ja, glauben Sie es mir. - Darum möchte ich auf das,
was Sie gesagt haben, antworten.
Was die Beitragserhöhung angeht, erwecken Sie den
Eindruck, daß das Konzept der Opposition zwangsläufig
zu Beitragserhöhungen führen würde.
({2})
Dies ist ausdrücklich nicht richtig. Wir haben nämlich in
der letzten Legislaturperiode eine Rentenstrukturreform
vorgelegt, die erstens dem Ziel der Beitragsstabilität,
zweitens dem Ziel der Rentensicherheit und drittens dem
Ziel der Generationengerechtigkeit gerecht geworden ist.
({3})
Angesichts der Tatsache, daß die alte Regierung ein
Konzept vorgelegt hat, können Sie nicht sagen, dessen
Umsetzung sei nicht möglich. Es ist vom Gesetzgeber,
dem Deutschen Bundestag, mit Mehrheit verabschiedet
worden.
({4})
Etwas anderes ist der Fall gewesen. Ihr früherer Parteivorsitzender Oskar Lafontaine hat in Sachen Steuern
und Rente aus kleinkariertem parteipolitischem Manöver
eine Blockade- und Obstruktionspolitik betrieben.
({5})
Das wollen Sie heute nicht mehr wissen. Aber Sie werden von uns immer wieder daran erinnert werden.
({6})
Schließlich sagten Sie, es gehe um Preissteigerungen.
Sie haben bestimmte Preissteigerungsraten angeführt.
({7})
Zwischen unseren Auffassungen besteht ein wesentlicher Unterschied. Ich habe Ihnen, als ich hier gesprochen habe, ausdrücklich gesagt: Es hat in der Vergangenheit mehrfach Situationen gegeben, in denen die
Renten stark gestiegen sind, weil die Löhne stark gestiegen sind. Es hat auch Situationen gegeben, in denen die
Renten minimal gestiegen sind, weil auch die Löhne minimal gestiegen sind. Jetzt aber angesichts der Tatsache,
daß die Löhne steigen, die Renten zu kürzen, ist ein
Verbrechen in bezug auf den Generationenvertrag. Das
ist nicht fair. Das hat es in der Nachkriegsgeschichte von
Deutschland noch nicht gegeben.
({8})
Ich will im übrigen auf folgendes aufmerksam machen: Sie, Herr Riester, sind lediglich der Arbeitsminister. Sie haben die Beiträge, die fleißige Menschen
eingezahlt haben, treuhänderisch zu verwalten. Sie sind
nicht der Eigentümer dieser Steuern und Beitragsgelder.
Sie sollten sich entsprechend verhalten. Wenn Menschen
gearbeitet und Beiträge eingezahlt haben, dann haben sie
ein Recht darauf, eine höhere Rente zurückzubekommen, wenn die Löhne steigen.
({9})
Schließlich ist es erforderlich, noch etwas zu Ihren
Krokodilstränen darüber, daß es hier nicht zu einer Einigung kommt, festzustellen: Sie sagten, eine Reform
würde der jungen Generation nutzen. Das, was Sie jetzt
tun, nutzt der jungen Generation nichts.
Herr
Westerwelle, kommen Sie bitte zum Schluß.
Sofort, ich bin bei
meinem letzten Gedanken. - Denn daraus würde folgen:
Wenn meine, die junge und die jüngere Generation festBundesminister Walter Riester
stellt, daß sie einzahlen kann, soviel sie will, und daß sie
nichts dafür bekommt,
({0})
dann werden wir erleben, daß ein Abwandern in andere
Systeme erfolgt. Damit legen Sie die Axt an die Wurzel
des beitragsfinanzierten Rentensystems. Das ist ein Irrweg, den wir nicht mitgehen können.
({1})
Herr
Bundesminister, Sie haben die Gelegenheit zu antworten.
Ich mache es ganz kurz. Ich messe Sie nicht
an dem, was Sie tun wollten, sondern an dem, was Sie
getan haben.
({0})
Sie haben zugelassen, daß die Beiträge in fünf Jahren
um 41 Milliarden DM und der Bundeszuschuß um
45 Milliarden DM gestiegen sind,
({1})
stellen sich aber heute hier hin und tun so, als seien Sie
nicht dabeigewesen.
({2})
Ich messe Sie nicht an dem, was Sie tun wollten, sondern an dem, was Sie getan haben. Und das werfe ich
Ihnen vor.
({3})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Maria Böhmer
das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als erstes, Herr Minister Riester: Da Sie gesagt haben, wir seien an dem zu
messen, was getan worden ist, muß auch einmal danach
gefragt werden, was diese Regierungskoalition getan
hat. Sie hatten nach der Wahl, da Sie sich selbst in diese
Zwangslage gebracht haben, nichts Eiligeres zu tun, als
den demographischen Faktor zurückzunehmen.
({0})
Damit haben Sie die Tür für die Steigerung der Rentenbeiträge geöffnet. Und da Sie dies nicht auffangen
konnten, greifen Sie jetzt zu dieser Hilfskonstruktion.
({1})
Sie wollen nicht eingestehen, daß der demographische
Faktor die Lasten in der Rentenversicherung, die durch
weniger Geburten und die Tatsache entstehen, daß die
Menschen immer älter werden, daß also immer mehr
Menschen länger Rente beziehen können, auf die Jungen
und die Alten gerecht verteilen würde. Das war unser
Ansatz, unsere Philosophie des demographischen Faktors. Dies hätte zu einem gedämpften Anstieg der Rente
geführt
({2})
und dazu, daß die Beitragssätze hätten im Zaum gehalten werden können.
({3})
Sie aber haben dies am Ansatz vernichtet.
Danach haben Sie viele Vorschläge ausgebreitet wie auf einem Markt der Möglichkeiten -, die in Ihren
eigenen Reihen keine Zustimmung fanden. Ich darf zum
Beispiel einmal an die Zwangszusatzversicherung erinnern. Sie haben vorgegaukelt, Sie würden die Rentenbeiträge senken. Auf der anderen Seite aber wollten Sie
der jungen Generation 2,5 Prozent mehr aufbürden zwar außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung,
aber in der Summe kommt es doch auf das gleiche hinaus. Ich frage Sie: Was wollten Sie damit letztendlich
erreichen?
({4})
Dieser Vorschlag ist aber schnell wieder in der Schublade verschwunden.
Wir hören auch immer wieder von Ihren Tariffonds.
Was hat denn das für eine Bedeutung, wenn Sie schließlich zu Vereinbarungen kommen, die eine ganz andere
Grundlage für die Entwicklung der Rentenerhöhung darstellen?
Ich frage Sie hier: Ist es systemgetreu, wenn die
Rente für zwei Jahre von der Nettolohnentwicklung abgekoppelt und nur in Höhe der Inflationsrate angepaßt
wird? Mitnichten; denn Sie kehren von dem Prinzip der
lohnbezogenen Rente ab. Am 15. September haben Sie
hier gesagt, daß die Nettolohnorientierung in zwei Jahren wieder eingeführt wird. Hören Sie einmal, was die
Bevölkerung davon hält. Sie sagt: Die Botschaft höre ich
wohl, aber der Glaube an diese Worte fehlt mir.
({5})
Das Schlimmste an dieser Entwicklung, Herr Minister, aber ist: Durch diese Zickzack-Rentenpolitik haDr. Guido Westerwelle
ben Sie das Vertrauen in die Rentenversicherung wirklich erschüttert.
({6})
Sollen denn ältere Menschen, sollen Witwen und Waisen jedes Jahr am 1. Juli zittern, wie die Rentenanpassung ausfällt? Was bedeutet es für die jungen Menschen,
wenn sie sich auf kein gesichertes Konzept einstellen
können? Und ein gesichertes Konzept von Ihnen liegt
bis heute nicht vor.
({7})
- Es liegt nicht vor, Sie haben es bisher nur angekündigt.
Vor einem Jahr haben Sie gesagt, Sie wollten eine
Strukturreform der Rentenversicherung.
({8})
Das ist eine wichtige Ankündigung. Aber was ist bisher
herausgekommen? Das sind ja nicht einmal Einzelelemente einer Strukturreform.
({9})
Ich möchte noch einen anderen Punkt in den Blick
nehmen, weil er in der Debatte ebenfalls eine Rolle gespielt hat: die bedürftigkeitsorientierte Grundsicherung. Hier wurde - fast mit Tränen in den Augen - vorgetragen, daß sie vielen älteren Menschen helfen würde,
die sich in der schwierigen Situation der verschämten
Altersarmut befinden.
({10})
Wir alle wissen, daß nur noch 2 Prozent der Senioren in
Westdeutschland und 1 Prozent der Senioren in Ostdeutschland eine so niedrige Rente bekommen, daß sie
zusätzlich Sozialhilfe beziehen müssen. Es ist also ein
kleiner Prozentsatz.
({11})
Die bedürftigkeitsorientierte Grundsicherung, die Sie
fordern, bedeutet, daß mehr als 10 Millionen Rentner
durch die Mangel der Prüfung gezogen werden.
({12})
Sie bedeutet ferner eine zusätzliche Belastung für alle,
weil sie ihr Vermögen offenlegen müssen.
({13})
Außerdem werden diejenigen, die sich Tag für Tag
krummgelegt haben, um Vorsorge für ihr Alter zu treffen, im Vergleich zu denen schlechter behandelt, die ihr
Geld ausgegeben haben.
({14})
Das kann nicht Sinn der Sache sein.
({15})
Frau
Kollegin Böhmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gilges?
Da ich mit Herrn
Gilges oft und gerne debattiere und die Qualität seiner
Fragen kenne, sage ich ihm: Herr Gilges, heute diskutieren wir einmal ohne Ihre Zwischenfragen.
({0})
Den Gang zum Sozialamt wollen Sie diesen älteren
Menschen ersparen. Dafür habe ich durchaus Verständnis, weil auch ich weiß, wie schwierig die Situation für
diese Menschen - es sind überwiegend Frauen - ist.
Aber wie wollen Sie es dann rechtfertigen, daß die alleinerziehende Mutter nach wie vor zum Sozialamt gehen muß? Bei den einen ist der Gang zum Sozialamt ein
unzumutbarer Punkt, bei den anderen nicht. Ein solcher
Ansatz trägt nicht, muß ich Ihnen sagen. An der Stelle
sollten wir gemeinsam nach anderen Lösungen suchen.
Herr Minister, ich habe mit großer Spannung gehört,
daß Sie uns signalisierten, Sie seien zu Gesprächen und
zum Dialog bereit. Einer der drei Punkte, die Sie in diesem Zusammenhang genannt haben, war die eigenständige soziale Sicherung der Frau. Nach all den Ankündigungen, die wir im Wahlkampf und schon vorher gehört
hatten - immer wieder ist von der SPD die eigenständige
soziale Sicherung der Frau gefordert worden -, warte ich
bis heute darauf, daß Sie ein Konzept vorlegen. Alles,
was Sie bisher angekündigt haben, läuft auf das Gegenteil hinaus und bedeutet neues Unheil am Horizont.
Am 9. Mai wurde in der „Bild“-Zeitung gesagt: „Die
Bonner Horrorliste: Witwenrente wird gekürzt“. Daraufhin habe ich die Bundesregierung gefragt, ob sie plane, die Hinterbliebenenrente zu kürzen, und ob es zutreffe, daß die Anrechnung der eigenen Rente des Witwers bzw. der Witwe bei der Hinterbliebenenversorgung
verschärft werden solle. Am 11. Juni erhielt ich von der
Parlamentarischen Staatssekretärin Mascher eine knappe, aber eindeutige Antwort. Sie lautete: - Nein! Ich
dachte, diesmal halte die Bundesregierung immerhin
Wort und ich sei einer Ente in der „Bild“-Zeitung aufgesessen. Doch schon am 19. Juni, gerade einmal acht Tage später, meldete die „FAZ“, daß der Arbeitsminister
sich zur Reform der Hinterbliebenenversorgung geäußert und ein Optionenmodell vorgelegt habe. Ich habe
das mit großer Spannung gelesen, allerdings auch den
letzten Satz, der folgendermaßen lautet:
Auf die Hinterbliebenenrente soll Einkommen über
630 DM voll angerechnet werden.
Herr Minister, das bedeutet bei dieser einen Option eine
doppelte Kürzung. Das bedeutet auch, daß Sie den FreiDr. Maria Böhmer
betrag von derzeit annähernd 1 300 DM im Westen auf
die Hälfte, nämlich auf 630 DM, reduzieren. Dazu
kommt, daß Sie künftig darüber hinausliegendes Einkommen nicht mehr nur prozentual anrechnen; nein, Sie
wollen es voll anrechnen. Ich habe mir einmal erlaubt,
das für einen typischen Fall durchzurechnen. Mein Ergebnis ist, daß dieser Ansatz von Ihnen bedeutet, daß
zukünftige Witwen bei ihrem Alterseinkommen mit
Einbußen rechnen müssen, die in der Größenordnung
von 1 000 DM im Monat liegen.
({1})
Ein solches Minus ist ein Skandal!
({2})
Sie sollten einmal rechnen.
({3})
Rechnen Sie einmal diese Beträge durch!
({4})
Es zeigt sich ja, daß viele Vorschläge aus dem Ministerium offensichtlich nicht durchgerechnet sind. So kann
man keine verantwortliche Politik im Bereich der Renten machen. Das ist ein Schlag ins Gesicht aller, die auf
die Rente angewiesen sind.
({5})
Zum Abschluß möchte ich Ihnen noch sagen:
({6})
Wir werden Sie in der Frage der Verbesserung der
eigenständigen Sicherung der Frau und der Reform der
Hinterbliebenenversicherung an Prüfsteinen messen. Der
erste Prüfstein wird sein: Wie wird die eigenständige soziale Sicherung der Frau ausgebaut? Da Frau Schmidt
nickt - wir haben oft darum gerungen -, muß ich sagen:
({7})
Im Splitting liegt keine eigenständige soziale Sicherung
der Frau.
({8})
Denn jede Alleinerziehende, jede nicht verheiratete Frau
ist davon ausgenommen, weil sie nicht auf eine abgeleitete Sicherung - vom Ehemann - rechnen kann. Also
Fehlanzeige.
({9})
Zweiter Punkt. Sie haben bisher keine Vorschläge zu
einem Ausgleich für erziehungsbedingte Nachteile bzw.
für die Familienarbeit vorgelegt.
({10})
Ich sehe nicht, daß es bei Ihnen eine Weiterentwicklung
gibt. Wir haben die Erziehungszeiten eingeführt; wir haben in der vergangenen Legislaturperiode die Gleichwertigkeit zwischen Erwerbsarbeit und Familienarbeit
hergestellt. Weitere Schritte sind notwendig, da wir wissen, wie sich die Alterseinkünfte bei Frauen entwickeln.
Aber auch hier Fehlanzeige.
Frau
Kollegin Böhmer, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme jetzt
zum Schluß.
Es ergibt sich drittens auch keine Verbesserung für
die Problemgruppen der Alleinerziehenden oder Geschiedenen.
({0})
Sie geben viertens keine Antwort - wie wir das in unserem Antrag gefordert haben - auf die veränderten Lebens- und Erwerbsverläufe angesichts der Flexibilisierungen in der Arbeitswelt.
({1})
Wir werden sehr gespannt auf das Konzept sein, das Sie
immer wieder ankündigen, und wir werden mit Ihnen
darüber diskutieren, ob es tatsächlich Verbesserungen
für Rentner und für Rentnerinnen bringt. Ich muß Ihnen
sagen: Nach Ihren heutigen Ausführungen habe ich
mehr Zweifel als je zuvor, was Ihr Rentenkonzept anbelangt.
({2})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Ulrike
Mascher.
Frau Dr. Böhmer, erstens
möchte ich Ihnen raten, unser Konzept für eine Grundsicherung sorgfältig zu prüfen und hier keine Unwahrheiten zu behaupten.
({0})
Nur bei denjenigen, die eine geringe Rente beziehen, die
die Grundsicherung in Anspruch nehmen wollen und die
einen Antrag stellen, wird das zusätzliche Alterseinkommen geprüft. Es wird nicht die Vermögenssituation
aller Rentnerinnen und Rentner überprüft. Nur das Einkommen der Rentner, die eine kleine Rente beziehen
und deswegen diese Grundsicherung in Anspruch nehmen, wird überprüft.
({1})
Zweitens. Wir wollen für diejenigen Väter und Mütter, die wegen Kindererziehung nur teilzeiterwerbstätig
sein können, eine Aufwertung ihrer Rentenansprüche
auf mindestens 75 Prozent erreichen - nach den Regeln
der Rente nach Mindesteinkommen bis zum 10. Lebensjahr des Kindes. Ich denke, das ist eine ganz wichtige Verbesserung der Situation von erwerbstätigen Müttern und Vätern, etwas, was Sie leider nicht vorangebracht haben.
({2})
Drittens. Mit der eigenständigen Alterssicherung der
Frau wollen wir eine Gleichstellung zwischen den geschiedenen und den verwitweten Frauen erreichen. Denn
eine verwitwete Frau, die wieder heiratet, verliert ihren
Witwenrentenanspruch, während die geschiedene Frau
ihren Anspruch aus dem Versorgungsausgleich mitnehmen kann. Ich denke, diese Gleichstellung ist längst
überfällig.
({3})
Darüber hinaus möchte ich ganz klar sagen - damit es
auch der Öffentlichkeit klar ist -: Die heutigen Witwen
und Witwer - insbesondere die Witwen - brauchen
überhaupt keine Sorge zu haben, daß ihre Rente gekürzt
wird.
({4})
Das habe ich in der Fragestunde ganz deutlich zum
Ausdruck gebracht.
Wir wollen allerdings für die Zukunft eine Reform
der Hinterbliebenenversorgung, weil wir der Entwicklung, daß die Frauen durch Erwerbstätigkeit zunehmend
eigene Ansprüche erwerben, Rechnung tragen wollen.
Frau Dr. Böhmer, wenn Sie ehrlich sind, dann geben Sie
zu, daß man über diese Frage auch vor dem Regierungswechsel im Arbeitsministerium nachgedacht hat.
Danke.
({5})
Zur Erwiderung die Kollegin Maria Böhmer.
Frau Mascher, angesichts dessen, was derzeit auf dem Tisch liegt - ich
denke, es liegt noch auf dem Tisch; denn Minister Riester hat seine Äußerungen aus der Sommerzeit ja nicht
zurückgenommen -, deutet alles darauf hin, daß wir uns
mit dem Optionenmodell auseinandersetzen müssen.
Das Optionenmodell enthält zwei Splittingvarianten,
und das damit verbundene Unterhaltsersatzmodell führt,
wie ich beschrieben habe, zu dieser massiven Kürzung
im Bereich der Hinterbliebenenversorgung. Davor können Sie nicht die Augen verschließen: daß das zukünftig
zu erheblichen Einbußen für Frauen führen wird.
({0})
Ich bitte Sie wirklich, eingehend zu prüfen, ob Sie bei
dem Optionenmodell bleiben wollen. Die Eheleute müssen sich zu Beginn ihrer Ehe - so haben Sie es angekündigt - für eine der drei Varianten entscheiden, und das
birgt Unwägbarkeiten.
({1})
- Sie können ja nicht alle acht Tage eine Revision dieser
Entscheidung vorsehen. - Das bedeutet aber, daß derjenige, der sich falsch entscheidet, der Dumme ist. Das
dürfen nicht wieder die Frauen sein.
({2})
Dieser Ansatz geht auch völlig an all denjenigen vorbei, die nicht verheiratet sind. Was ist das für ein Konzept, das zeitgemäß sein will, aber zum Beispiel die Alleinerziehenden nicht berücksichtigt?
({3})
Deren finanzielle Situation ist, gerade im Alter, oft besonders schwierig. Da tut Hilfe not. Bisher haben Sie
dazu nichts vorgelegt.
({4})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1310 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14, 17a bis 17f und
18b - Überweisungen im vereinfachten Verfahren auf:
14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Jella
Teuchner, Dr. Margrit Wetzel, Hans-Werner
Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Winfried Hermann, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Verbot quecksilberhaltiger Fieberthermometer
- Drucksache 14/1352 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({0})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
17. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 19. Juni 1997 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Tschechi-
schen Republik über den Eisenbahnverkehr
über die gemeinsame Staatsgrenze und über
den erleichterten Eisenbahndurchgangsver-
kehr
- Drucksache 14/1413 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 97/74/EG des Rates vom
15. Dezember 1997 zur Ausdehnung der
Richtlinie 94/45/EG über die Einsetzung eines
Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung
eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftweit
operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen auf das Vereinigte Königreich
({1})
- Drucksache 14/1429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der ökologischen Steuerreform
- Drucksache 14/1668 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({3})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft
- Drucksache 14/1669 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Familienförderung
- Drucksache 14/1670 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({5})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuergesetzes
- Drucksache 14/1520 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({6})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
18. b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre
Bemühungen zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Europäischen Parlaments 1998
- Drucksache 14/439 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
({7})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18a sowie 18c bis
18g - Abschließende Beratungen ohne Aussprache -
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksache 14/864 ({8})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 14/1651 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Detlev von Larcher
Heinz Seiffert
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelbericht 74 zu Petitionen
- Drucksache 14/1596 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 75 zu Petitionen
- Drucksache 14/1597 -
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 76 zu Petitionen
- Drucksache 14/1598 -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto-Solms
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 77 zu Petitionen
- Drucksache 14/1599 -
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 78 zu Petitionen
- Drucksache 14/1600 Es handelt sich hierbei um die Beschlußfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 18a: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes, Drucksachen 14/864 und 14/1651. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS-Fraktion ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion und Zustimmung
aller anderen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 18c bis 18g.
Wir kommen zu den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses.
Abstimmung über Sammelübersicht 74 auf Drucksache 14/1596: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig
angenommen.
Abstimmung über Sammelübersicht 75 auf Drucksache 14/1597: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 75 ist
bei Enthaltungen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Abstimmung über Sammelübersicht 76 auf Drucksache 14/1598: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 76 ist bei
Ablehnung der PDS-Fraktion mit Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen.
Abstimmung über Sammelübersicht 77 auf Drucksache 14/1599: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist bei
Ablehnung der F.D.P.-Fraktion mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Abstimmung über Sammelübersicht 78 auf Drucksache 14/1600: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist mit Zustimmung aller Fraktionen angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur Sicherung
des Fortbestandes von Stadtwerken und KraftWärme-Kopplungs-Anlagen im liberalisierten
Strommarkt
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Rolf Kutzmutz von der PDS, die Antragsteller war.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn 30 000 Beschäftigte von
Stadtwerken auf die Straße gehen, weil viele Arbeitsplätze und eine wirklich zukunftsfähige Technologie, die
Kraft-Wärme-Kopplung, in Gefahr sind, dann erscheint
es hoffentlich nicht nur der PDS mehr als angebracht,
dieses Problem im Plenum zu behandeln. Tatenlos zuschauen darf die Politik nicht. Sie darf es schon deshalb
nicht, weil die jetzt regierende Koalition bereits bei der
Verabschiedung des Energiewirtschaftsgesetzes im November 1997 haargenau auf die nun tatsächlich eingetretenen Probleme der Gesetzeslage hingewiesen hat.
Ich erinnere mich noch gut, wie Kollege Jung im
Wirtschaftsausschuß auf den Todesstoß für die KraftWärme-Kopplung und regenerative Energien wegen
sinkender Erlöse bei gleichbleibenden Kosten hinwies.
Er sprach über die Mühlsteine, zwischen die ostdeutsche
Stadtwerke wegen der von ihm tatsächlich so genannten
Lex VEAG gerieten, wenn das Gesetz in der dann beschlossenen Form in Kraft treten würde.
Ich denke auch an Kollegin Hustedt, die mit viel
Herzblut die Änderungsanträge ihrer Fraktion verteidigte, zum Beispiel jenen zur Verpflichtung der Netzbetreiber zur vorrangigen und kostendeckenden Abnahme von Strom aus erneuerbaren Energieträgern und
Kraft-Wärme-Kopplung.
Was erleben wir jetzt zwei Jahre nach den scharfsinnigen Argumentationen der damaligen Oppositionellen,
die seit mittlerweile einem Jahr die Regierungsverantwortung tragen und damit Gestaltungsmöglichkeit haben? Wir erleben einen aufgeregten Hühnerhaufen, über
den scheinbar urplötzlich der böse Wolf des gnadenlosen, umwelt- und regionalpolitische Ziele überrollenden
Verdrängungskampfes kam.
Da wird erst über allgemeine Wechselgebühren einerseits oder einzelne Finanzspritzen an ein paar RuhrpottStadtwerke andererseits, dann über Grüner-StromBörsen fabuliert, um zum Schluß bei der Bildung eines
Arbeitskreises zu laden. Dabei hatte doch die SPD vor
zwei Jahren einen eigenen diskussionswürdigen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht. Vielleicht erinnert
sich noch der eine oder andere sozialdemokratische
Energieexperte daran, daß es dazu von der PDS nur zwei
Änderungswünsche gab. Vielleicht war es aber gerade
das, was Sie verwirrt hat.
Noch gespannter bin ich auf die Reaktion von Kollegin Hustedt. Sie singt jetzt das Hohelied des WettbeVizepräsident Dr. Hermann Otto-Solms
werbs und der Börsen, während der deutsche Markt
demnächst nicht mehr von drei, sondern nur noch von
zwei Monopolisten dominiert wird, zu denen sich höchstens noch ein doch wohl auch aus grüner Sicht berüchtigter Atomstromer, die französische EdF, gesellen
könnte. Ich zumindest werde sie demnächst mit Vergnügen daran erinnern, daß sie einst verlangte, drei Jahre
nach Inkrafttreten des Energiewirtschaftsgesetzes die
vertikale und horizontale eigentumsrechtliche Entflechtung der Energieversorgungsunternehmen zu prüfen und
gegebenenfalls zu vollziehen. Denn bisher sind der Entwurf der neuen Verbändevereinbarung wie auch die sonstigen Ankündigungen zur Sicherung von Kraft-WärmeKopplung und damit dezentral erzeugenden Stadtwerken
sowie von regenerativen Energien unverbindliche Absichtserklärungen; von den einen unterzeichnet mit Vorbehalten, und von den anderen wurde schon bei der Unterzeichnung angekündigt, daß Nachbesserungsbedarf
bestehe.
Nur vier Beispiele: Absolut unklar ist bisher beispielsweise der Preis der Eintrittskarte für Erzeuger ins
Hoch- und Höchstspannungsnetz. Wenn dieser Basispreis hoch ist - daran werden die großen Netzbetreiber
interessiert sein -, dann bleiben kleine dezentrale
Stromanbieter trotz Bonus außen vor. Wenn die Einspeisevergütungen für regenerative Energien zwar vom
Marktpreis abgekoppelt werden, sich aber trotzdem
nicht an den Erzeugungskosten orientieren, schrumpft
deren Anteil trotzdem.
Wenn die Mehrkosten für regenerative Energien oder
ostdeutschen Braunkohlestrom nicht bundesweit umgelegt werden, dann stecken deren Vermarkter weiter in
einer betriebswirtschaftlich tödlichen Falle. Wenn der
Wirtschaftsminister nur einzelne bestehende KraftWärme-Kopplungs-Anlagen subventionieren will, so
würde diese effiziente Erzeugungsart quasi zu einem
Betriebsunfall der Energiegeschichte deklariert, eine Erzeugungsart, die nun abgefedert auslaufen soll.
Kurzum: Wir hörten wohl die Worte der letzten beiden Tage. Allein zählen werden aber die Taten der nächsten beiden Monate. Sonst sind die Stadtwerke und andere Kleinerzeuger nächstes Jahr so tot, wie es die Demonstranten am Montag befürchtet haben.
({0})
Erste Nagelprobe auf Ihre Handlungsfähigkeit, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, werden Ihr
Umgang mit der Berliner Bundesratsinitiative zur Mindestquote für Kraft-Wärme-Kopplung sowie Ihre Aktivitäten zu einer Abkopplung der Einspeisevergütung regenerativer Energien vom allgemeinen Strompreisniveau sein. Aber selbst wenn Sie auf diesen Teilfeldern
schnell handeln, so werden Sie nicht umhinkommen, das
zentrale Problem jeder Vergütung oder Quote anzupakken, nämlich den Zugriff auf das Verteilungsnetz. Denn
das Netz, liebe Wettbewerbfans auf allen Seiten des
Hauses, ist und bleibt ein natürliches Monopol auf dem
Strommarkt. Über das wird früher oder später der kommunale Duisburger Heizkraftwerkbetreiber ebenso wie
der Uckermärker Windmüller stolpern, solange es in der
Hand von Großerzeugern bleibt. Die EU-konformen Lösungsmöglichkeiten wurden schon vor zwei Jahren ausdiskutiert. Jetzt ist es an der Zeit, sie endlich umzusetzen.
({1})
Als
nächster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär
Siegmar Mosdorf das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung unterschätzt nicht, daß mit dem Übergang zu
wettbewerblichen Strukturen eine Reihe von kommunalen Unternehmen vor Probleme gestellt werden. Deshalb
wird derzeit gemeinsam mit den kommunalen Unternehmen und ihren Verbänden nach Wegen gesucht, die
Wettbewerbsfähigkeit der Stadtwerke zu stärken und
noch vorhandene Handicaps und Defizite, die es objektiv gibt, auszuräumen, um eine Chancengleichheit der
Marktteilnehmer zu haben.
Zur Beseitigung von noch bestehenden Hindernissen
etwa im Gemeindewirtschaftsrecht - das liegt in der Zuständigkeit der Bundesländer; Nordrhein-Westfalen hat
hier schon eine ganze Reihe von Schritten unternommen - oder im Kartellrecht ist das Bundesministerium
für Wirtschaft und Technologie mit der Länderwirtschaftsministerkonferenz und dem Bundeskartellamt im
Gespräch.
Außerdem ist durch die Novellierung der Konzessionsabgabenverordnung auch dafür gesorgt worden, daß
Wettbewerbsungleichheiten, die in der Regel zu Lasten
der kommunalen Unternehmen und des Finanzaufkommens der Kommunen gingen, beseitigt wurden.
Energiepolitisch halte ich eine leistungsstarke Versorgungsstufe gerade in einem Wettbewerbsmarkt für
unverzichtbar, wo es um die gesicherte Energieversorgung geht, um auch zukünftig Leistungswettbewerb im
Strommarkt zu sichern. Es kann dabei aber nicht um
Strukturkonservierung oder um Existenzgarantien für
einzelne Stadtwerke gehen. Herr Kutzmutz, das ist der
Unterschied zu Ihnen. Wir leben in einer Zeit der fundamentalen Veränderungen, und Sie versuchen zu konservieren, wir versuchen zu modernisieren. Dies ist der
Unterschied zwischen unseren Positionen.
({0})
Wenn Sie konservieren, dann kommen wir nicht voran.
Wir müssen modernisieren. Davon sind wir überzeugt.
Wenn wir nicht modernisieren, werden wir irgendwann
erwachen und feststellen, daß es nur noch alte Strukturen gibt, mit denen wir uns im Wettbewerb nicht mehr
behaupten können.
({1})
- Nein, Herr Kutzmutz! Sie haben vorhin abschätzig von
„Wettbewerbfans“ geredet. Wissen Sie: Wettbewerb ist
das Element der Demokratie und des Marktes. Wer
Wettbewerb abschätzig beiseite schiebt, der hat von beidem, von Demokratie und Marktwirtschaft, nichts verstanden.
({2})
Im übrigen halte ich auch die bisweilen geäußerte
Einschätzung für falsch, daß Stadtwerke im liberalisierten Energiemarkt generell bedroht seien, weil sie mit
den Stromerzeugungskosten der großen Stromunternehmen nicht mithalten könnten. Auch dies halte ich
nicht für richtig. Ich bitte zu berücksichtigen: Der weit
überwiegende Teil der Stadtwerke, rund 90 Prozent, sind
reine Verteilerunternehmen, wenn man von der Nutzung
kleiner Blockheizkraftwerke absieht. Die Verteilerunternehmen profitieren von den sinkenden Strompreisen,
weil ihre Beschaffungskosten entsprechend fallen.
Wenn Sie sich eine Reihe von Städten anschauen,
dann werden Sie feststellen, daß die kommunalen
Stadtwerke darüber hinaus über einen einzigartigen
Vorteil verfügen, den auch schon viele nutzen, nämlich
über das, was in der Telekommunikation die letzte Meile
genannt wird. Die Kundennähe ist ein unglaublicher
Vorteil, den moderne Stadtwerke nutzen können, um
sich am Markt zu behaupten. Diesen Marktvorteil hat
inzwischen auch der Verband kommunaler Unternehmen glasklar erkannt. Dieser Verband ergreift im Moment die entsprechenden Initiativen, damit dieser
Marktvorteil genutzt werden kann. Viele Stadtwerke gehen inzwischen erfolgreich diesen Weg; denn wesentlich
für die dauerhafte Absicherung der Stadtwerke am
Markt wird auch deren eigenes Engagement sein, Kundennähe mit wettbewerbsfähigen Preisen und mit einem
Qualitätswettbewerb im Dienstleistungsbereich zu verknüpfen.
Der Service wird in diesem Wettbewerb an Bedeutung zunehmen. Dies darf man in dem großen Wettbewerb, vor dem wir nun stehen, nicht unterschätzen. Hier
gibt es mittlerweile eine Reihe vorbildlicher Ansätze der
Stadtwerke. Eine solche offensive Modernisierungsstrategie der kommunalen Unternehmen unterstützen wir
uneingeschränkt. Die Stadtwerke müssen ihre spezifische Stärke im Wettbewerb und ihre besonderen Marktvorteile betonen. Besonders gut müssen sie ihre Kunden
kennen und ihre Servicestrukturen auf sie ausrichten.
Viele kommunale Unternehmen haben sich in diesem
Sinne bereits auf die neuen Wettbewerbsbedingungen
eingestellt und nutzen die Chancen.
In diesem Zusammenhang wird das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie eine Initiative für
eine Expertenkonferenz starten, auf der die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft der kommunalen
Unternehmen dokumentiert und auch „best practice“Beispiele herausgestellt werden sollen. Wir glauben, daß
eine solche Konferenz auch den Stadtwerken, die noch
nicht den Weg der Kundenorientierung eingeschlagen
haben, helfen kann. Ich halte es für notwendig, daß die
Beschäftigten der Versorgungsunternehmen und die für
die Versorgungsunternehmen zuständigen Gewerkschaftsvertreter an dem Dialog beteiligt werden, auch
indem sie an einer solchen Konferenz teilnehmen.
Wir diskutieren derzeit intensiv darüber, wie man die
ökologisch wertvolle Kraft-Wärme-Kopplung-Technik
im Markt halten und weiter ausbauen kann. Hier gibt es
keinen Dissens über das Ziel, sondern über das beste Instrument. Es gibt die Sorge, daß die Kraft-WärmeKopplung-Technik in einem liberalisierten Energiemarkt
bedroht würde und von diesem verschwinden könnte.
Deswegen sei ein besonderer Schutz in Form einer
Quotenregelung erforderlich. Als Beleg für diese Behauptung wird aufgeführt, daß kommunale KWKAnlagen beim Preiswettbewerb auf dem Strommarkt
nicht mithalten könnten. Aber nach den Daten, die dem
Bundeswirtschaftsministerium zur Verfügung stehen, ist
es unzutreffend, daß KWK-Anlagen unter Marktbedingungen generell bedroht sind. Richtig ist vielmehr, daß
eine überschaubare Zahl von KWK-Anlagen, die auf
Steinkohlebasis betrieben werden, in wirtschaftliche
Schwierigkeiten geraten können, wenn die Strompreise
sinken. Das Wirtschaftsministerium ist bereit, für diese
Problemfälle zielgenaue Lösungen zu erarbeiten. Aber
hierfür müssen uns zunächst die erforderlichen betriebswirtschaftlichen Daten vorliegen. Um diese Daten
zu erhalten, haben wir bei der Arbeitsgemeinschaft
Fernwärme ein Gutachten in Auftrag gegeben. Wir
wollen auf Grund dieses Gutachtens Lösungswege aufzeigen und in speziellen Fällen auch helfen. Wir haben
die Absicht, dieses Gutachten noch im Dezember dieses
Jahres vorzulegen. Es wird also sehr schnell realisiert
werden.
Demgegenüber haben wir erhebliche Zweifel, ob eine
Zwangsvermarktung von KWK-Strom in Form von
Quotenregelungen automatisch zum Schutz solcher
Stadtwerke führt, die vermutlich auch künftig keine
wettbewerbsfähige Erzeugerbasis haben. Nur um diese
Stadtwerke geht es. Es geht nicht um die Stadtwerke, die
eine moderne Erzeugerbasis besitzen. Hier sehen wir
keine Probleme. Auch eine quotierte Menge KWKStrom wird zunächst von der wirtschaftlichen KWKErzeugung ausgeschöpft werden. Hier müssen die kommunalen Anlagen mit den großen industriellen KWKAnlagen konkurrieren, deren Wärmeabsatz im Rahmen
von Prozeßwärme gesichert ist. Konkurrenten wären
auch die Großkraftwerke mit Wärmeauskopplung und
vor allem mit Importstrom auf KWK-Basis. Aus den
Niederlanden und aus Dänemark gibt es schon entsprechende Beispiele.
Verläßlich könnte den kommunalen Problemfällen
über eine Quote nur dann der Stromabsatz gesichert
werden, wenn man diese so hoch ansetzt, daß keine
Auslese nach Wirtschaftlichkeit im geschützten Quotenmarkt stattfindet. Eine Quote würde dann als reiner
Kostenverteilmechanismus ohne Anreizwirkung zur
möglichst wirtschaftlichen Zielerreichung mißbraucht.
Dies geschähe mit der Folge, daß sich die Preise auf
dem gesamten Quotenmarkt in Richtung auf die Kosten
bestimmter unwirtschaftlicher Anlagen hinbewegen
würden. Das ist aber nicht in unserem Sinne und auch
nicht in unserem Interesse.
Für die vielen anderen Anlagen würden sich entsprechende Mitnahmeeffekte ergeben. So wäre beispielsweise zu erwarten, daß die Industrie den vergleichsweise
preiswerten Strom aus KWK-Anlagen dann nicht mehr
zur Werksversorgung nutzt, sondern ihn über Zwangsvermarktung teuer verkauft. Das wäre eine denkbare
Konsequenz, die man bei den Überlegungen jedenfalls
berücksichtigen muß. KWK-Strom trägt in Deutschland
insgesamt mit 70 TWh zur Stromversorgung bei; davon
entfallen auf kommunale KWK nur 18 TWh.
Ebenso sollte man die weiteren Risiken und Probleme
bei einer Zwangsvermarktung nicht unterschätzen. Für
die Installierung und Umsetzung eines solchen Systems
würde eine komplexe Regulierung erforderlich sein.
Hinzu kommen erhebliche Unsicherheitsfaktoren, weil
zum Beispiel die Wärmenachfrage stark witterungsabhängig ist. Ebenso ist unsicher, ob es gelingen kann, den
Import von KWK-Strom wirksam zu begrenzen oder gar
zu vermeiden.
Im Ergebnis spricht viel dafür, Stadtwerken mit bedrohten KWK-Anlagen über zielgenaue Lösungen sehr
direkt zu helfen. Die Bundesregierung steht zu ihrer Zusage, sich der Probleme dieser Stadtwerke anzunehmen.
Unstreitig ist, daß hier dringender Handlungsbedarf besteht. Deshalb ist das Bundesministerium für Wirtschaft
und Technologie beauftragt, zu prüfen, mit welchen Instrumenten die Hilfe im Ergebnis am wirkungsvollsten
erreicht werden kann. Es geht um moderne Anlagen,
Wettbewerbsfähigkeit und die Sicherung von dauerhaften Arbeitsplätzen.
Unser Ziel ist es, noch in diesem Herbst ein entsprechendes Konzept vorzulegen, um so eine moderne,
wettbewerbsfähige und nachhaltige Energieversorgung
zu sichern. Dem dient unsere Arbeit und dem dienen
auch die Gespräche, die dazu geführt haben, daß wir bei
der Verbändevereinbarung, die jetzt unter Dach und
Fach gebracht worden ist, Tempo gemacht haben. Wir
glauben, daß die Verbändevereinbarung eine wichtige
Voraussetzung für den Erfolg auf diesem Sektor ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als
nächste Rednerin gebe ich der Kollegin Dagmar Wöhrl
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir freuen uns, daß die Liberalisierung der Strommärkte früher als von uns allen erwartet
auch den privaten Haushalten Preisnachlässe bis zu
30 Prozent bringt. Mittlerweile stellen nicht nur neue Direktanbieter, sondern auch manche Ex-Monopolisten
verschiedene Tarife mit günstigen Preisen zur Auswahl.
So erfahren vor allem Familien mit Kindern, die sehr
viel Strom verbrauchen, eine spürbare Entlastung.
({0})
Wettbewerb heißt aber auch, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Dies gilt nicht nur für die Verbundunternehmen, sondern auch für die Stadtwerke. Strom
wird heute nicht mehr, wie früher, nur verteilt, sondern
verkauft. Das heißt, es kommt darauf an, Kunden nicht
nur durch günstige Preise, sondern auch durch Leistung
und Service zu gewinnen. Das wird in der Zukunft immer wichtiger werden.
Da die meisten Stadtwerke meist nur handeln und
Strom selbst einkaufen, profitieren auch sie vom Wettbewerb, da sie billiger einkaufen können. Es würde uns
sehr freuen, wenn zukünftig alle Stadtwerke diese Vorteile an ihre Kleinkunden weitergeben würden. Es gibt
immer noch Stadtwerke, die dies nicht tun.
Hier drohende Arbeitsplatzverluste gegen den Wettbewerb ins Feld zu führen ist sehr kurzsichtig.
Wir wissen alle, daß Wettbewerb neben Preissenkungen auch Rationalisierungsmaßnahmen mit sich bringt.
Er bringt aber auch neue Aufgabenfelder und damit auch
neue Arbeitsplätze im Bereich des Marketings, des Vertriebs und des Kundenservices mit sich. Mittlerweile
gibt es eine regelrechte Existenzgründungswelle bei
Stromhändlern.
({1})
Sinkende Strompreise verbessern die Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Industrie im internationalen
Vergleich, was auch längst überfällig gewesen ist. Vor
allem sichern wir dadurch langfristig den Energiestandort Deutschland. Noch etwas anderes kommt dazu - das
ist einer der wichtigsten Punkte, den wir ja auch immer
angestrebt haben -: Wir stärken die Kaufkraft unserer
Bürger. Die Effizienzgewinne, die im Energiesektor erwirtschaftet werden, kommen also unserer Volkswirtschaft zugute.
Wettbewerbsbeschränkungen, wie sie teilweise auch
von Ihnen zugunsten von Stadtwerken mit KWKAnlagen gefordert werden, halten wir nicht für richtig.
Damit wir uns richtig verstehen, möchte ich festhalten,
daß auch wir KWK für eine rationelle und damit ressourcenschonende Art der Energieerzeugung halten,
wenn sie sinnvoll eingesetzt wird. Ich erinnere Sie daran: Gerade die CSU hat sich damals bei den Beratungen
zum Energiewirtschaftsgesetz vehement dafür eingesetzt, daß der Betreiber einer KWK-Anlage die Durchleitung von fremdem Strom verweigern kann, wenn seine Investitionen dadurch gefährdet werden. Außerdem
haben wir das Alleinabnehmersystem bis zum Jahre
2005 ermöglicht.
In diesem Zusammenhang muß aber auch erwähnt
werden, daß die meisten KWK-Anlagen sehr wirtschaftlich arbeiten. Von über 500 Stadtwerken arbeiten zirka
50 mit solchen Anlagen; nur eine Handvoll davon hat
echte Probleme mit unwirtschaftlichen Anlagen auf
Steinkohlebasis. Deshalb ist eine Quote, die alle Anlagen, also auch die rentablen und wirtschaftlichen begünstigen würde, vollkommener Unsinn. Unabhängig davon
ist auch die Frage der Zulässigkeit nach EU-Recht überhaupt noch nicht geklärt.
In Zukunft werden aber auch an die Stadtwerke selbst
Anforderungen gestellt. Sie müssen sich wie jeder andere dem Wettbewerb stellen. Das betrifft viele Dinge wie
zum Beispiel die Quersubventionierung, um sie kurz zu
erwähnen. Warum haben Sie nicht schon längst von den
SPD-regierten Ländern gefordert, ihre Gemeindeordnungen zu ändern, so daß die Stadtwerke auch über die
Gemeindegrenzen hinaus Strom verkaufen können? Dadurch ergäbe sich auch wieder eine neue Einnahmequelle.
({2})
- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, ich an Ihrer Stelle würde sehr ruhig
sein, denn Ihre Aussagen, mit denen Sie in den letzten
Wochen Ihre wirtschaftliche Kompetenz zum Thema
Stromwettbewerb zeigen wollten, haben wirklich zu
wünschen übriggelassen. Ich erinnere nur daran, daß Sie
daran dachten, von jedem Bürger eine Wechselgebühr
von 150 DM zu verlangen, wenn er seinen Stromlieferanten wechseln will. Das war nicht so toll; das haben
Sie ja auch an der Reaktion von vielen gemerkt.
({3})
Frau
Kollegin Wöhrl, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja.
Dabei hätten Sie es doch so leicht. Ernten Sie die
Früchte, die wir gesät haben! Hören Sie endlich auf, den
Wettbewerb wieder einzuschränken, den Verbraucher zu
bevormunden und ihm wieder seine günstigen Strompreise zu nehmen! Geben Sie den Menschen die Möglichkeit, sich auch beim Stromkauf als König Kunde zu
fühlen!
Vielen Dank.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS ist
die einzige Partei im Bundestag, die nach wie vor den
Wettbewerb im Strombereich ablehnt.
({0})
Sie hätten ja aus den Erfahrungen während der DDRZeit lernen können. Die dortige Monopolwirtschaft war
nicht sehr effizient und erst recht nicht umweltverträglich. Im Westen war es nicht ganz so schlimm, aber wir
sollten unsere Energieversorgung nicht mehr auf Basis
einer Monopolwirtschaft organisieren. Das haben alle
Parteien, auch die ÖTV und die Stadtwerke verstanden,
nur die PDS anscheinend nicht.
({1})
Jetzt demonstrieren Sie Ihr Mißbehagen über die ganze
Linie in diesem Bereich, indem Sie die Rolle der Stadtwerke funktionalisieren. In dieser Frage sind alle anderen Parteien ein wesentliches Stück weiter als Sie.
({2})
Es wurde schon gesagt, daß die Stadtwerke zu 90
Prozent gar keinen Strom produzieren; sie sind vielmehr
Stromhändler. Wenn sie sich zu modernen Stromhändlern wandeln, indem sie ein großes Angebot von grünem
bis braunem Strom anbieten, Gas, Wasser und Abfall im
Paket verkaufen und zum Beispiel dem Kunden, der bei
den Stadtwerken bleibt, billigere Karten für Freibäder
oder für den ÖPNV bieten, dann können die Stadtwerke
als Stromhändler auf dem neuen Markt auch durchaus
bestehen.
Deswegen finde ich es auch falsch, wenn man die
Probleme der Stadtwerke überhöht. Es gibt zwar Probleme bei der Kraft-Wärme-Kopplung - dazu sage ich
gleich etwas -, aber im Grunde bietet das Stadtwerk in
Zukunft dem Kunden auf dem Energiemarkt ein sehr
gutes Angebot. Es wird sich auf dem Markt behaupten.
Wenn wir die Probleme nach dem Motto „Alle Stadtwerke gehen den Bach herunter“ zu sehr übertreiben,
dann wecken wir das Mißtrauen der Bürger zu den
Stadtwerken. Damit würden wir den Stadtwerken einen
Bärendienst erweisen. Deswegen möchte ich hier auch
im Sinne der Stadtwerke um Sachlichkeit bitten.
({3})
Das Problem liegt in der Tat bei der Kraft-WärmeKopplung - das wurde schon angesprochen -, und nicht
nur bei der Fernwärme, Herr Mosdorf. Die Fernwärme
hat ein Problem mit der Kohleverstromung. Ich glaube
aber, daß auch die modernen dezentralen Blockheizkraftwerke ein Problem bekommen, wenn eventuell
auch nur in einer Übergangszeit. Das aus folgendem
Grund: Wir haben auf dem Markt sehr große Überkapazitäten. Die Stromkonzerne werden jetzt im Kampf um
die strategische „pole position“ teilweise mit Dumpingpreisen, also mit Preisen unter den Erzeugungskosten,
auf den Markt gehen. Das können Kommunen natürlich
nicht aushalten, weil ihre Gewinne aus der Monopolwirtschaft nicht zum Aufbau dicker Finanzpolster verwendet wurden, sondern in sinnvolle Dinge wie in den
ÖPNV, in Theater und dergleichen mehr geflossen sind.
Deswegen glaube ich, daß auch eine Gefahr für die dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung besteht und nicht nur
für die Fernwärme.
Ob die industrielle Kraft-Wärme-Kopplung auf dem
Markt ein Problem bekommen wird, muß noch recherchiert werden. Es könnte sein, daß sie - außer dem, was
wir im Rahmen der Ökosteuer gemacht haben - keine
Hilfestellung braucht. Man muß aber belegen, ob es, wie
Sie glauben, nur bei der Fernwärme Probleme geben
wird.
Wir hatten Dienstag mit Vertretern der SPD-Fraktion,
des Bundeskanzleramts, des Bundeswirtschaftsministeriums und der Gewerkschaften ÖTV und IG BCE zu
dieser Frage ein, wie ich fand, sachlich sehr gutes Gespräch. Wir sind in diesem Punkt weit gekommen. Einig
ist man sich in der Frage, daß etwas getan werden muß,
daß man nicht so wie die CDU/CSU sagen kann:
Marktwirtschaft, der Rest ist uns egal. Man muß diese
Probleme vielmehr in Angriff nehmen.
Ich finde gut, daß in der Verbändevereinbarung das
enthalten ist, was wir immer gefordert haben, daß nämlich die dezentralen Stromerzeuger geringere Gebühren
zahlen bzw. eine Gutschrift von den Netzbetreibern bekommen, weil sie die Hochspannungsnetze im Gegensatz zu den Großkraftwerken nicht benötigen. Das
könnte für die dezentrale Stromerzeugung noch einmal
zwei Pfennig bringen, wenn das Ganze richtig ausgestaltet wird. Ich persönlich glaube - da bin ich mir mit
den Kollegen der SPD einig -, daß dies für die KraftWärme-Kopplung nicht ausreichen wird.
Wir diskutieren jetzt über verschiedene Modelle: ob
Modernisierungshilfen notwendig sind, ob es eine Bonusregelung geben soll oder eine Quote. Das alles muß
man mit Pro und Kontra abwägen. Ich glaube, daß
wir innerhalb kürzester Zeit - wir haben die nächsten
vier Wochen ins Auge gefaßt - eine Lösung auf den
Tisch legen werden, die uns helfen wird, die KraftWärme-Kopplung auf dem Markt zu retten, so daß wir
Umweltverträglichkeit und Wettbewerb verbinden können.
Was die regenerativen Energien betrifft, sind wir viel
weiter, als Sie ahnen, Herr Kutzmutz. Wir haben beschlossen, daß wir das Stromeinspeisungsgesetz novellieren; wir wollen die Preise stabilisieren, damit die
Einspeisevergütung nicht zu stark sinkt; wir wollen
das Stromeinspeisungsgesetz wettbewerbsfähig machen;
wir wollen Geothermie mit aufnehmen; wir wollen bei
Biomasse die Einspeisevergütung erhöhen. Ich denke,
zu diesen Punkten müssen Sie uns überhaupt nichts
erzählen. Bevor Sie aufwachen, haben wir schon gehandelt.
({4})
Es ist jetzt wichtig, den Mittelweg zu finden. Man
darf nicht einfach, wie Herr Rexrodt es gemacht hat, sagen: Marktwirtschaft, der Rest ist mir egal. Vielmehr
brauchen wir sowohl eine gute Regelung für den Netzzugang - da sind wir auf einem guten Weg - als auch
marktkonforme Instrumente, um die Kraft-WärmeKopplung und die regenerativen Energien zu stützen.
Damit helfen wir auch den Stadtwerken, die in diesem
Bereich produzieren. Damit hätten wir eine moderne
Energieversorgung, die nicht auf einem Auge blind ist,
sondern die beides miteinander verbindet.
Vielen Dank.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Günter Rexrodt von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es hat 35 Jahre gedauert, bis wir
eine Liberalisierung des Strommarktes herbeiführen
konnten.
({0})
- Herr Schwanhold, die größten Widerstände kamen von
den Traditionalisten der SPD.
({1})
Es ist auch noch keine zwei Jahre her, daß Frau Hustedt
anders als heute geredet hat.
Wir haben die Liberalisierung durchgesetzt. Was passiert nun? Das Gesetz greift; es greift sogar schneller, als
ich erwartet habe. Die Preise purzeln; Nachlässe von 20
bis 30 Prozent und sogar bis 50 Prozent sind möglich.
All das, wovor die Traditionalisten gewarnt haben, ist
nicht eingetreten. Sie haben nämlich verkündet, es würden nur die Großverbraucher, also die Industrie und allenfalls die großen mittelständischen Betriebe, profitieren; für die Verbraucher werde aber nichts herausspringen, im Gegenteil - das haben Sie gesagt, Herr Jung -,
die Verbraucher, besonders die in der Fläche, würden
die Zeche dafür bezahlen, daß die Großen profitieren.
Nichts dergleichen ist eingetreten. Der Wettbewerb findet statt; alle können davon profitieren: die großen und
mittleren Betriebe, die Gewerbetreibenden und die Verbraucher.
Um dies sicherzustellen, ist auf eine Verbändevereinbarung gesetzt worden. Herr Mosdorf hat sich heute dazu geäußert. Ich sage ausdrücklich: Herr Mosdorf, Sie
und Ihr Ministerium haben hinsichtlich der Verbändevereinbarung richtig gehandelt. Es sind ein paar Punkte
enthalten - zum Beispiel die Regelung mit der
Nord/Süd-Grenze -, die mir nicht gefallen. Aber damit
kann man leben. Es ist keine Regulierungsbehörde entstanden, die die Grünen und die Traditionalisten der
SPD eingeladen hätte, zu träumen. Dieser Traum ist
ausgeträumt.
Es ist ferner gesagt worden, es werde eine Katastrophe bei den Stadtwerken zum Beispiel hinsichtlich des
öffentlichen Personennahverkehrs stattfinden, weil die
Quersubventionierung wegfalle. Der öffentliche Personennahverkehr kann genauso wie bisher subventioniert
werden - mit einem Unterschied: Er kann nur aus versteuerten Gewinnen der Stromerzeuger subventioniert
werden. Das ist allemal rechtens; denn auf dieses Geld
hat der Staat und damit der Fiskus ein Anrecht.
Ich habe nie verstanden - darauf haben Sie sich immer bezogen -, warum ein hart arbeitender Handwerker
die Fahrpreise für die Straßenbahn und ein kleiner Einzelhändler die Eintrittspreise der städtischen Schwimmbäder subventionieren soll. Das ist nämlich die Konsequenz der Quersubventionierung. Diese Praxis - das ist
gar keine Frage; das haben wir immer gewollt - muß
und wird abgeschafft werden.
Nun bringen Herr Kutzmutz und Teile der SPDFraktion das Argument mit den Stadtwerken in die Diskussion. Ich will dieses Argument nicht wiederholen. Es
gibt rund 800 Stadtwerke. Vielleicht kommen zehn von
ihnen, weil sie Strom aus Steinkohle erzeugen, in
Schwierigkeiten. Dann haben wir eben ein paar Stadtwerke weniger, die Strom erzeugen.
({2})
Ich kann mir aber gut vorstellen, daß diese Stadtwerke
Dienstleister werden und dem Kunden moderne Beratungsleistungen anbieten können. Für diese sind dann
keine Subventionen mehr notwendig.
({3})
Herr Kutzmutz, es haben keine 30 000 Beschäftigte
der Stadtwerke demonstriert. Die Zahl lag höchstens bei
5 000. Viele wurden von weither gekarrt. Ich kenne die
größten Stadtwerke sehr gut. Deren Mitarbeiter sind
über alle Maßen tüchtig; sie haben die Herausforderung
angenommen und wollen sich dem Wettbewerb stellen.
Aber Sie, die Traditionalisten und die PDS, machen sich
zum Sprecher einiger weniger, die nicht verstanden haben, was Wettbewerb überhaupt ist.
({4})
Der Wettbewerb wird so oder so stattfinden.
Lassen Sie mich mit Blick auf meine begrenzte Redezeit nur noch folgendes bemerken. Man kann in diesen
Tagen oft auf Plakaten lesen: Warum ist der Strom gelb?
Ich kann Ihnen die Antwort darauf geben:
({5})
Der Strom ist deshalb gelb, weil es sich um Strom auf
einem liberalisierten Markt handelt, weil es in diesem
Bereich einen Wettbewerb gibt und weil sich die F.D.P.
für die Interessen der Verbraucher eingesetzt hat.
({6})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker Jung.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In die Diskussion über den
Schutz der Kraft-Wärme-Kopplung und die Sicherung
der Arbeitsplätze - das ist unser Thema - ist Bewegung
gekommen. Ich habe den Eindruck, daß wir seit dem
letzten Gespräch bei Kanzleramtschef Steinmeier ein
Stück weiter sind, als dies der Parlamentarische Staatssekretär im Wirtschaftsministerium dargestellt hat.
({0})
Ich denke, das war auch höchste Zeit; denn der Wettbewerb auf dem Strommarkt, der bislang auf die Industriekunden beschränkt war und schon zu gewaltigen
Strukturveränderungen geführt hat, erfaßt jetzt auch die
Haushaltskunden. Während der Wettbewerb um die Industriekunden zu einer drastischen Senkung der Strompreise geführt hat, wird der Wettbewerb um die Haushaltskunden jetzt mit Preisangeboten geführt, die in der
Nähe der Grenzkosten, wenn nicht sogar darunter liegen.
Mit anderen Worten: Hier findet ein Verdrängungswettbewerb mit Dumpingpreisen statt. Das ist die reelle Situation.
({1})
Alles, wie wir es vorausgesagt haben. Darum haben
wir schon frühzeitig konkrete Vorschläge zur Änderung
des Energierechts in die Diskussion gebracht, um die
Fehlentwicklungen, die sich jetzt abzeichnen und die die
alte Bundesregierung zu verantworten hat - vor allem
Sie, Herr Rexrodt -, in den Griff zu bekommen und zu
korrigieren.
Im Kern geht es um die Frage, bei welchen Stromerzeugern die Überkapazitäten abgebaut werden, die im
geschützten Strommarkt entstanden sind, und ob die
Stromerzeuger, anders als in unseren europäischen
Nachbarländern, ohne Übergangsfrist von einem Tag auf
den anderen in den absoluten Wettbewerb entlassen
werden sollten. Weitgehend abgeschriebene Kernkraftwerke werden es nicht sein, wenn ihnen lange Restlaufzeiten zugestanden werden. Kurzfristig werden es vor
allem Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung mit angeschlossener Fernwärmeversorgung sein, die sehr umweltfreundlich, aber eben auch sehr kapitalintensiv sind
und somit bei den derzeitigen Preisen tendenziell unrentabel werden. Das ist die Lage.
Die Kraft-Wärme-Kopplung ist das Rückgrat der
kommunalen Unternehmen, die Stromeigenerzeugung
betreiben. Das ist nicht nur, wie immer wieder suggeriert wird, ein geringer Prozentsatz. Vielmehr würde eine Stillegung gerade die größten Stadtwerke treffen und
viele Arbeitsplätze kosten - ohne Chance, die Anlagen
in kurzer Zeit umzurüsten. Diese Entwicklung würde,
wenn das Preisniveau weiter sinkt, nicht nur die kohlebefeuerten, sondern darüber hinaus auch die gasbefeuerten Anlagen und kleine Blockheizkraftwerke betreffen.
Es wäre aus ökonomischen wie ökologischen Gründen völlig unsinnig, diese Anlagen, deren Ausbau politisch gewollt war, die mit dreistelligen Millionenbeträgen staatlich gefördert worden und zum Teil noch gar
nicht abgeschrieben sind, kurzfristig vom Netz zu nehmen.
({2})
Ich bin daher froh, daß wir uns in der Regierungskoalition jetzt einig geworden sind, neben den erneuerbaren
Energiequellen auch die Kraft-Wärme-Kopplung als
Stützpfeiler einer dezentralen Energieversorgung zu
schützen und uns damit die Chance zu erhalten, sie in
der Zukunft ausbauen zu können.
({3})
Erneuerbare Energiequellen und Kraft-WärmeKopplung sind zur Ressourcenschonung und zum Umwelt- und Klimaschutz unentbehrlich und müssen nach
unserer Auffassung einen wachsenden Anteil an unserer
Energieversorgung erhalten.
Der Bundeswirtschaftsminister hat zugesagt - Frau
Hustedt hat das schon erwähnt -, verschiedene Modelle
zu prüfen und durchzurechnen - darunter auch eine
Quotenregelung mit Zertifikathandel, die wir vorgeschlagen haben -, damit wir in einem Zeitraum von vier
Wochen darüber eine endgültige Entscheidung treffen
können.
Wir haben auch besprochen, den Strommarkt in den
neuen Ländern zu öffnen, um eine Angleichung des
Strompreisniveaus als wichtigen Standortfaktor zu ermöglichen und gleichzeitig die Verstromung der ostdeutschen Braunkohle zu schützen.
({4})
Es geht um eine marktkonforme Übergangsregelung;
denn in einigen Jahren, wenn der hohe Abschreibungsberg aus den milliardenschweren Sanierungsinvestitionen abgetragen sein wird, wird die ostdeutsche Braunkohleverstromung zweifellos wettbewerbsfähig sein.
Auch dazu gibt es mehrere Denkansätze. Einer davon ist
die von uns vorgeschlagene - wohlgemerkt: zeitlich befristete - Quotenregelung.
Meine Damen und Herren, nicht zufällig sind gleichzeitig die Eckpunkte einer neuen Verbändevereinbarung
paraphiert worden, die nicht nur eine Vereinfachung der
Durchleitungsbedingungen bringt, sondern auch die dezentrale Energieversorgung begünstigt. Das ist zu begrüßen.
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wenn es nun noch
gelingt, eine Einigung über die standardisierten Abrechnungsverfahren, über die sogenannten Lastprofile zu erzielen, die den Einbau von prohibitiv wirkenden Zählern
bei den Wechselkunden überflüssig machen, dann stünde dem Wettbewerb auch im Haushaltskundenbereich
nichts mehr entgegen.
Das sind wichtige Fortschritte, die in diesen Gesprächen erzielt worden sind. Ich denke, sie müssen weiter
konkretisiert werden. Dann wird das eine runde Sache.
Schönen Dank.
({0})
Jetzt hat
das Wort der Kollege Dr. Peter Paziorek, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Ausführungen meines Vorredners ist deutlich geworden, daß innerhalb des Regierungslagers tiefgreifende Gegensätze
zu dieser Frage existieren.
({0})
Wenn man die Ausführungen von Frau Hustedt und
Herrn Jung vergleicht, dann kann man nur sagen: Wir
haben in dieser Frage nicht nur Gegensätze innerhalb
der SPD-Fraktion, sondern auch innerhalb der Regierungskoalition ist man zerstritten. Es ist gut, daß das
heute deutlich geworden ist.
({1})
Dadurch setzt sich eigentlich nur das Spielchen fort,
das Sie in den letzten Tagen und Wochen in dieser Frage
betrieben haben. Sie haben im Wahlkampf Zusagen gemacht, die Sie jetzt nicht mehr einhalten können. Sie haben angekündigt, Gesetze zu ändern. Bis jetzt liegt von
Ihnen noch keine Gesetzesinitiative im Bereich Energiewirtschaftsrecht vor. Sie haben im Wahlkampf erklärt,
({2})
Sie wollten gegen die Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz weiter klagen. Jetzt sind Sie ganz still geworden,
weil Sie genau wissen, daß sich die Prozeßsituation gewaltig verändert hat.
Dann sind Sie in den letzten Tagen auf die glorreiche
Idee gekommen, all die Stromkunden, die wechseln
wollen, mit einer Wechselstrafgebühr zu belasten. Das
war das Ergebnis der gesamten Überlegungen. Daran
sieht man: Sie sind Gefangene Ihrer eigenen Worte.
({3})
Damit wird deutlich: Sie treiben ein Spielchen mit den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die betroffen
sind. Ich glaube, wir sollten uns sachlich mit dem befassen, was jetzt zu lösen ist.
({4})
Durch die Liberalisierung der Strommärkte ist bewirkt worden, daß Industrie, Gewerbe und Verbraucher
wirtschaftlich und finanziell entlastet worden sind. Das
bedeutet auch eine Absicherung von Arbeitsplätzen. Es
ist somit eindeutig ein positives Ergebnis des neuen
Energiewirtschaftsgesetzes festzustellen.
Volker Jung ({5})
Es gibt aber zwei Problembereiche, die wir im Detail
betrachten müssen. Einmal geht es um die Umstellungsprobleme. Ich muß zugeben, daß viele Kommunalpolitiker aus der Union darum gebeten haben, diese Umstellungsprobleme zu berücksichtigen und klare Übergangsregelungen zu schaffen.
({6})
Ich sage aber auch ganz deutlich: Es hat - bei allem
Verständnis für die Kommunalpolitik - überhaupt keinen Zweck, die Entwicklungen zurückzunehmen. Es hat
auch keinen Zweck, neue Schutzräume und Schutzzäune
aufzubauen. Vielmehr wird es darauf ankommen zu
überlegen, wie sich die Stadtwerke zusammenschließen
können, um ihre Stärken zu bündeln und somit aus dem
neuen Energiewirtschaftsrecht positive Effekte für sich
zu erzielen. Das ist das erste.
({7})
Zweitens. Im Bereich der umweltfreundlichen Versorgung gibt es ein Problem - das ist hier schon mehrfach angesprochen worden -: Das ist der Einsatz von
Kraft-Wärme-Kopplung. Probleme gibt es insbesondere
im kommunalen Bereich bei der Fernwärmeversorgung.
In der Tat sind Versorgungsunternehmen mit Strom- und
Wärmeproduktion bei der Kraft-Wärme-Kopplung in erster Linie die kommunalen Versorgungsunternehmen,
die verbrauchernah Strom und Wärme produzieren. Es
liegt auf der Hand, daß die Stromproduktion in mehreren
kleineren Einheiten teurer ist als eine gleich hohe in nur
einer Anlage unter Nutzung aller Einsparungsmöglichkeiten.
Deshalb kann ich sagen, daß wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion uns eindeutig dafür aussprechen, daß
die umweltschonende Technologie der Kraft-WärmeKopplung auch erhalten bleibt, weil sie von großer umweltpolitischer Bedeutung ist.
({8})
- Nein, es ist völlig richtig von meinen Kolleginnen und
Kollegen darauf hingewiesen worden, daß die KraftWärme-Kopplung kein generelles Problem hat. Sie hat
zum Beispiel generell im Bereich der industriellen Versorgung kein Problem. Die Kraft-Wärme-Kopplung hat
kein Problem zum Beispiel bei großen öffentlichen Einrichtungen. Immer da, wo wir das ganze Jahr über einen
kontinuierlichen Wärmebedarf haben, wird sich KraftWärme-Kopplung auch weiter rechnen.
Ein großes Problem besteht bei der Kraft-WärmeKopplung da, wo diese Wärmemenge nicht über das
ganze Jahr kontinuierlich abgerufen wird. Das betrifft
zum Beispiel die Wärme im Gebäudebereich. Dort gibt
es die Probleme bei den Stadtwerken. Die Argumente,
die manchmal gebracht werden - das seien vor allem
Probleme bei den Anlagen, bei denen Steinkohle eingesetzt werde -, sind erst einmal zweitrangig.
Problematisch sind die Anlagen, die im Bereich der
Nah- und Mittelversorgung für die Fernwärme eingesetzt werden. Da gibt es, wie auch zu Recht gesagt worden ist, einige Stadtwerke, die sich in den letzten Jahren
besonders auf diese Maßnahmen konzentriert haben.
Denen müssen wir durch gezielte Ausgleichsmodelle
helfen, aber nicht durch pauschale Quoten,
({9})
denn pauschale Quoten bedeuten ja, daß auch diejenigen
Wettbewerbsvorteile haben, die zum Beispiel gar nicht
in einer schlechten Wettbewerbsposition sind. Es gibt ja
einige Unternehmen, die gar keine nachteiligen Auswirkungen infolge des Energiewirtschaftsgesetzes zu befürchten haben.
Wir müssen also überlegen: Was können wir im Detail, im Einzelfall erreichen, um den Stadtwerken zu helfen, die in dieser Frage Probleme haben?
({10})
- Sie als Regierung sind erst einmal dran, die Vorschläge auf den Tisch zu legen.
({11})
Wir haben Ihnen die Eckposten genannt. Es ist doch
klar, daß Sie im Augenblick Schwierigkeiten haben, einen Vorschlag zu entwickeln, weil zwischen dem von
Herrn Mosdorf und Herrn Müller einerseits und Herrn
Jung und Frau Hustedt andererseits Vorgetragenen große Unterschiede deutlich geworden sind. Deshalb brauchen Sie doch die Untersuchung bis Ende Oktober, um
genau für diese Einzelfälle jetzt Vorschläge zu machen
und um von Ihren großen Zusagen herunterzukommen,
die Sie noch vor kurzem in einigen Veranstaltungen gemacht haben.
({12})
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Da saß ich bei
Podiumsgesprächen neben SPD-Kollegen, die groß versprochen haben: Wir werden das in eurem Sinne regeln.
Ich bin gespannt, wie das in diesem Sinne geregelt wird.
Wir sind aus umweltpolitischen Gründen offen für
eine Unterstützung von KWK-Anlagen, aber im Detail
muß das sinnvoll sein, und es darf keine Quote sein, die
den Wettbewerbsvorteil wieder aufhebt. - Vielen Dank.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eichstädt-Bohlig vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Rexrodt, ich hatte vorhin schon
den Eindruck, daß Sie doch ganz gerne von der Politik
zum Stromhandel überwechseln wollen. Wir wünschen
Ihnen viel Erfolg.
({0})
Herr Paziorek, ich finde, Sie sollten in Aktuellen
Stunden auch ein bißchen aktuell zuhören. Dann würden
Sie bestimmte Entwicklungen auch besser mitbekommen und nicht von gestern reden, wenn wir beim Heute
sind.
({1})
Ich möchte eines konkret sagen. Wir alle wissen, daß
die Stadtwerke und auch die Kraft-Wärme-Kopplung
enorm unter Anpassungsdruck gerät. Darüber sind sich,
glaube ich, hier alle einig. Aber man muß schon sagen,
Herr Rexrodt: Es ist das Problem Ihrer Energiewirtschaftnovelle damals gewesen, daß Sie dieses Thema
nicht ernst genommen haben. Es wäre damals sehr wohl
wichtig gewesen, bestimmte Übergangsabfederungen
vorzusehen. Darum sollten Sie jetzt nicht herumreden.
({2})
- Nein, da ist nicht zu viel gemacht worden, sondern das
wäre sehr wohl wichtig und gut gewesen. Man muß
nicht immer gleich das Kind mit dem Bade ausschütten.
({3})
Insofern müssen wir uns jetzt um die Lösung der Probleme kümmern, die Sie uns eingebrockt haben.
Ich denke, die PDS hat ihre Aktuelle Stunde auch im
Hinblick auf die ostdeutsche Situation beantragt. Wir
haben uns als Grüne - auch die SPD hat das getan - sehr
stark für den Aufbau von Stadtwerken im Osten, in den
neuen Bundesländern eingesetzt. Aber Sie haben mit der
Lex VEAG diesen Aufbau damals erheblich erschwert.
Sie haben praktisch eine Monopolprivilegierung und eine Marktabschottung zugunsten der VEAG organisiert,
an der Ostdeutschland heute noch ganz massiv leidet.
({4})
Ich weiß gar nicht, was daran liberale Politik ist, wenn
Sie einseitige Konzernpolitik machen.
Für uns ist das Problem gerade in Ostdeutschland
deshalb aktuell, weil westdeutsche Wettbewerber schon
jetzt Verträge mit Sondervertragskunden für den Fall abschließen, daß die Durchleitung geklärt ist, so daß zu befürchten ist, daß tatsächlich die ostdeutschen Versorger
2003 oder beim Ablauf der Lex VEAG dann schlagartig
ihre Großkunden verlieren. Darum sollte man nicht herumreden. Die Strategie der VEAG verschärft diese Lage. Auf Stromdurchleitungsbegehren der Stadtwerke
reagiert sie gar nicht oder zeitlich sehr spät mit häufig
nicht sachgerechten und nicht relevanten Rückfragen.
Insofern versucht sie, die Durchleitung faktisch zu verhindern.
Wir - das haben sowohl die Vorredner der SPD als
auch die von uns Grünen deutlich gesagt - sind überzeugt, daß es Instrumente gibt, die auf der einen Seite
den Strommarkt nicht behindern - das unterscheidet unsere Position von jener der PDS -, mit deren Hilfe aber
auf der anderen Seite sehr sorgfältig darauf geachtet
wird - das unterscheidet uns von der liberalkonservativen Opposition -, daß der Aktionsraum der Stadtwerke,
der KWK-Anlagen und der Anlagen, die regenerative
Energien verwenden, nicht eingeschränkt, sondern gesichert und gestärkt wird. Auf der Grundlage Ihrer Vorarbeit liegt das heute in unserer Verantwortung. Diese
nehmen wir gemeinsam sehr ernst. Da können Sie uns
nicht auseinanderdividieren.
({5})
Meine Vorredner haben es schon gesagt: Bei der
Konzessionsabgabenverordnung und den Netzzugangsregelungen sind wir ein Stück weitergekommen. Wenn
es wirklich gelingt, zu erreichen, daß die dezentralen
Energieerzeuger einen um 2 Pfennig preiswerteren
Netzzugang erhalten, dann verfügen wir über ein ganz
wesentliches Instrument zur Stärkung dezentraler Einrichtungen, der Stadtwerke und KWK-Anlagen. Das
reicht nicht aus; auch darauf ist schon hingewiesen worden. Aber das ist ein ganz zentraler Baustein.
Wir arbeiten an weiteren Bausteinen; auch das ist
schon festgestellt worden. Wir wollen, daß die KraftWärme-Kopplung auf dem liberalisierten Strommarkt
einen gesicherten Anteil bekommt. Ob das über das
Stromeinspeisungsgesetz, über eine Quote oder über andere Instrumente organisiert wird,
({6})
darüber werden wir noch diskutieren und diese Frage
sehr bald einer Entscheidung zuführen. Auf jeden Fall
wird es so geregelt, daß eine solide Mischung des
Stromangebots zwischen zentralen und dezentralen Anbietern und ein Strommix in bezug auf effiziente Stromund Wärmeanbieter sowie Verwender regenerativer
Energien gesichert werden. Dabei wird wahrscheinlich
die Novellierung des Stromeinspeisungsgesetzes eine
zentrale Rolle spielen.
({7})
Mit all diesen Bedingungen werden die Stadtwerke
auf der einen Seite der Marktkonkurrenz ausgesetzt, auf
der anderen Seite aber werden sie bessere Marktzugangsbedingungen bekommen. Richtig ist: Die Gemeindeordnungen dürfen die Stadtwerke nicht länger festnageln. Es geht nicht, daß die Privaten wie Rosinenpicker
die Energieversorgung in den Städten übernehmen dies geschieht schon jetzt - und daß auf der anderen
Seite die Stadtwerke in ihrem wirtschaftlichen Handeln
festgenagelt werden. Sie müssen sich, beispielsweise
durch die Bildung von Einkaufsgemeinschaften, marktfit
machen. Ich denke, daß das schrittweise erfolgen wird.
Lassen Sie mich noch ein Letztes - meine Uhr läuft
ab ({8})
zum Thema Quersubventionierung sagen, das Sie ja
schon angesprochen hatten. Es bestehen zwei Verantwortlichkeiten: Die eine ist die energiewirtschaftliche;
über die haben wir alle hier gesprochen. Die andere ist,
daß wir hier in diesem Hause - auf der einen Seite die
Regierung bzw. die Koalition, auf der anderen Seite aber
auch die Opposition - die Städte und Regionen bei der
Klärung des Themas der Absicherung des öffentlichen
Nahverkehrs unterstützen müssen. Wir können dieses
Problem nicht einfach den Kommunen und den Ländern
überlassen. Hier sind wir alle in der Pflicht.
Danke schön.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Niemand hat bisher gesagt,
daß bei den Energiegiganten derzeit ein wahres Fusionsfieber grassiert. Ich wundere mich darüber, daß dies
noch nicht ausgesprochen worden ist. Jüngst wurde zwischen VEBA und VIAG die größte Industriefusion in
Deutschland vollzogen. Zeitgleich führen die Energiekonzerne mit einem Wahnsinnsaufwand eine bundesweite Werbeaktion für Billigstrom durch. Am aggressivsten tut dies die Yello Strom GmbH.
Warum diese Dumpingangebote? Der Strommarkt ist
bekanntlich kein Wachstumsmarkt, wie wir ihn etwa im
Bereich der Handys kennen. Das bedeutet: Neue Marktanteile können hier nur auf Kosten anderer Unternehmen
errungen werden. Das geschieht vor allem durch die
gnadenlose Verdrängung der örtlichen Energieversorger,
also in der Regel der 570 stromversorgenden Stadtwerke
mit ihrem Marktanteil von 36 Prozent an der Stromversorgung.
Ich sage ganz deutlich: Kollege Rexrodt, wir sind für
Wettbewerb, wir sind jedoch gegen unfairen, unlauteren
Wettbewerb.
({0})
Ein Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten, der
soziale und ökologische Momente ausschließt, ist kein
Ding der PDS.
({1})
Die Wettbewerbssituation für die Stadtwerke ist
durch viele negative Rahmenbedingungen charakterisiert. So sind sie rechtlich, mit Ausnahme von Bayern
und Nordrhein-Westfalen, an die Versorgung ihres jeweiligen Stadtgebietes geknebelt. Für die Energiekonzerne gibt es diese Einschränkung aber nicht. Die Stadtwerke sind darüber hinaus benachteiligt, wenn sie selber
Strom in Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen erzeugen.
Diese aber sind - das wurde gesagt - ökologisch vernünftig und wirtschaftlich vorteilhaft. Die Kraft-WärmeKopplungs-Anlagen wurden durch großzügige Investitionen gefördert, nicht zuletzt auf Betreiben der Bundespolitik. Bleiben aber die Stadtwerke auf der Strecke,
werden diese umfänglichen Investitionen in den Sand
und - das ist besonders schlimm - Zehntausende Beschäftigte auf die Straße gesetzt. Das ist für die PDS
wahrhaft nicht hinnehmbar.
({2})
Ohne die Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen
für die kommunalen Energieversorger droht der Verlust
von bis zu 40 000 Arbeitsplätzen. Das könnte auch das
Aus für die 920 Beschäftigten der kommunalen Energieversorgung in der Großstadt Halle/Saale sein. Wir
treten daher für die Sicherung dieser Arbeitsplätze ein.
Die Strukturmaßnahmen, die notwendig sind, müssen
dies mit ins Kalkül ziehen.
Dumpingstrompreise können sich die meisten Städte
auch wegen ihres Beitrages zur Finanzierung des ohnehin defizitären öffentlichen Personennahverkehrs nicht
leisten. Ich schätze den Vorteil des Querverbundes sehr,
Herr Rexrodt. Wenn durch die Gewinne aus dem Betriebszweig Energie dazu beigetragen wird, daß der öffentliche Personennahverkehr floriert, und zwar zu bezahlbaren Bedingungen, dann ist das ein unschätzbarer
Wert, an dem festgehalten werden sollte.
({3})
Ich glaube, das hat wenig mit Konservativismus zu tun.
Die Bundesregierung muß schnell die Notbremse ziehen, sollen sich die Wettbewerbsbedingungen für die
Stadtwerke nicht noch zusehends verschlechtern.
Die Stadtwerke haben mit ihren Strompreisen im
Rahmen des Energiewirtschaftsgesetzes, das sehr stark
Ihren Namen trägt, Kollege Rexrodt, wohl kaum eine
Chance gegen die Angebote der Energiekonzerne. Es ist
damit zu rechnen, daß nach der Fusion von VIAG und
VEBA auch noch RWE beitritt und dadurch ein Multi
entsteht.
({4})
Wir wollen keine Monopole. Das hat mit Wettbewerb
nichts mehr zu tun.
In drei Wochen, so hört man aus dem Kanzleramt,
soll eine Grundsatzentscheidung für eine dezentrale,
umweltschonende und kostengünstige Energieversorgung fallen. Dabei sollte die Bundesregierung, vorliegende Argumente beachtend, sicherstellen, daß die
Städte tatsächlich in die Lage versetzt werden, die dezentrale Energieversorgung auch durch eigene Unternehmen abzusichern.
Für die PDS stehen vor allem folgende Fragen im
Mittelpunkt:
({5})
Erstens. Notwendig ist, Herr Staatssekretär Mosdorf,
eine quotierte Abnahmegarantie für Strom aus KraftWärme-Kopplung, damit es in den nächsten acht Jahren
zumindest zu einer Verdoppelung der Quote von Strom
dieser energiegünstigen Art kommt.
Zweitens. Im Grundsatz soll eine kostendeckende
Vergütung für regenerative Energien und für Biomasse
im Rahmen der Novellierung des Stromeinspeisegesetzes sichergestellt werden.
Drittens. Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung und aus
regenerativen Energien ist durch eine Befreiung von der
Ökosteuer besonders zu begünstigen.
Viertens. Die Mehrkosten der Braunkohleverstromung in Ostdeutschland sind bundesweit auf alle Versorger umzulegen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun
der Kollege Harald Friese, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen inzwischen, daß Strom gelb sein kann. Vom Kollegen Rexrodt haben wir gehört, daß Strom auch von der F.D.P.
sein kann.
({0})
Ich habe allerdings ein paar Probleme mit der Frage, ob
die F.D.P. angesichts ihrer Größe die Versorgungssicherheit garantieren kann. Aber das ist ein Thema für
sich.
({1})
Wir haben auch gelernt, daß Strom blau und daß
Strom billiger sein kann, und von der Kollegin Wöhrl
haben wir sogar gelernt, daß man Strom nicht nur verteilen, sondern sogar verkaufen kann. Diese Erkenntnis
hat mich verblüfft. Stadtwerke haben eigentlich nie etwas anderes gemacht. Sie haben den Strom erzeugt und
verteilt, aber immer auch verkauft.
({2})
- Verkauft haben sie ihn auch. - Auch haben wir gelernt, daß Strom billiger sein kann, alles richtig.
Meine Damen und Herren, so einfach können wir uns
die Diskussion aber leider nicht machen, weil wir die
Frage nicht ausblenden können, wie Strom erzeugt wird
und wer ihn erzeugt.
({3})
- Nein, ich war kein Stadtwerker. Es wird Sie enttäuschen und paßt vielleicht nicht in Ihr Weltbild, Herr
Schauerte, aber ich war kein Stadtwerker.
({4})
Meine Damen und Herren, die Stromwirtschaft wird
nur auf den ersten Blick von den großen Energieversorgungsunternehmen geprägt. In der Diskussion wird immer sehr leicht übersehen, welche wichtige Rolle Städte
und Gemeinden sowie die kommunalen Stadtwerke in
der Stromlandschaft spielen. Es geht dabei auch um die
Versorgungssicherheit, um den Einsatz regenerativer
Energien und um ökologische Methoden der Stromerzeugung und Wärmelieferung. All dies leisten die kommunalen Stromversorger. Deshalb bedauere ich eigentlich, daß die Diskussion um die Stadtwerke immer auf
die Frage nach der Kraft-Wärme-Kopplung verkürzt
wird.
In der Vergangenheit waren Städte, Gemeinden und
kommunale Stadtwerke die Vorreiter einer modernen
und ökologisch orientierten Stromerzeugung und Energiewirtschaft. Hier ging und geht es nicht nur um KraftWärme-Kopplung, sondern auch um Energieberatung
und Energieeinsparung - vielleicht haben Sie schon
einmal etwas von kommunalen Energieeinsparungsmodellen gelesen -, um Effizienzsteigerungsprogramme
und Contracting-Programme, um den Einsatz von
Blockheizkraftwerken mit KWK und von regenerativen
Energien sowie um Programme zur Emissionsminderung, zur CO2-Reduzierung und zum Klimaschutz. Damit sind wir mitten in einem zentralen kommunalen
Thema, nämlich der Agenda 21. Das alles wird im Augenblick aus der Diskussion ausgeblendet.
Ich möchte den großen Energieversorgungsunternehmen wirklich nicht zu nahe treten. Aber ich glaube,
daß man mit Recht sagen kann, daß Städte, Gemeinden
und kommunale Stadtwerke die Wegbereiter einer modernen Energiepolitik sind. Deswegen brauchen wir
Städte, Gemeinden und kommunale Stadtwerke in Zukunft auf dem Energiemarkt.
({5})
Meine Damen und Herren, vor welchen Problemen
die kommunale Seite steht, ist bekannt. Sie steht im
Preiswettbewerb. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich,
daß im vorliegenden Entwurf der Verbändevereinbarung
die Stromerzeugung auf der Basis der Kraft-WärmeKopplung besonders berücksichtigt wird. Wir begrüßen
es ferner, daß der Bundeswirtschaftsminister Vorschläge
unterbreiten will, um zu verhindern, daß Preisdumping
und reiner Preiswettbewerb in Zukunft die energiepolitisch richtigen ökologischen Strukturen auf der kommunalen Ebene zerschlagen. Dabei geht es der SPDFraktion nicht darum - ich sage das, damit hier kein
Mißverständnis entsteht -, kommenden Wettbewerb zu
verhindern, um die Stadtwerke einen Zaun zu errichten
und Reservate für die Stadtwerke zu schaffen. Vielmehr
geht es uns darum, einer ökologischen und modernen
Energiepolitik eine Chance zu geben, im Wettbewerb zu
bestehen. Diese Chance werden die Stadtwerke nutzen,
und sie werden den Wettbewerb auch bestehen, weil sie
nämlich näher am Kunden sind. Aber wir müssen ihnen
auch in Form von fairen Wettbewerbsbedingungen die
Voraussetzungen dafür schaffen, den Wettbewerb bestehen zu können.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen
zweiten Aspekt hinzufügen. Wir werden alle Vorschläge
daraufhin überprüfen, ob sie mit der Selbstverwaltungsgarantie des Grundgesetzes in Artikel 28, Abs. 2 vereinbar sind, wonach den Gemeinden - Herr Rexrodt, Ihnen
gegenüber muß ich das offensichtlich zitieren - das
Recht zusteht, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft … in eigener Verantwortung zu regeln“.
Dieser Verfassungsgrundsatz ist für uns wichtig. Dazu
gehört als oberste und wichtigste Aufgabe der Gemeinden,
({7})
die Daseinsvorsorge für ihre Bürger sicherzustellen.
({8})
- Herr Kollege Rexrodt, Ihnen scheint entgangen zu
sein, daß es im Moment nicht um Molkereien, sondern um die Stromwirtschaft geht. Die Stromwirtschaft
ist ein Teil der kommunalen Daseinsvorsorge, zu der
auch die Komplexe Abwasser, Wasser, Abfall, ÖPNV
sowie die gesamten sozialen und kulturellen Aufgaben
gehören.
({9})
Das alles sind Einrichtungen, die für die Lebensqualität
der Bürger in einer Gemeinde von entscheidender Bedeutung sind. Dies wollen wir nicht gefährden und aufs
Spiel setzen.
Ich sage Ihnen eines: Die SPD-Fraktion hat sich immer als Hüterin der kommunalen Interessen verstanden. Dazu gehört, daß die Aufgabe der Daseinsvorsorge als ganzheitliche Aufgabe gesehen wird. Ich will
jetzt einmal in Ihrer Terminologie bleiben. Sie können
sich das dann ganz einfach vorstellen. Es gibt ja den
Begriff der Daseinsvorsorge. Jetzt setze ich dafür den
Begriff „Holding“, damit ich Ihre Terminologie verwende, so daß Sie es leichter verstehen. Diese Holding
wird nun von verschiedenen kommunalen Aufgaben gespeist.
({10})
Es gibt Aufgaben, bei deren Wahrnehmung Gewinne
gemacht werden, und es gibt Aufgaben, bei deren
Wahrnehmung Verluste gemacht werden. Das wird in
der „Holding“ der kommunalen Daseinsvorsorge ausgeglichen.
({11})
Hier geht es nicht um eine steuerliche Subventionierung
- das ist nämlich das große Mißverständnis -; hier geht
es darum, daß diese Aufgabe der Daseinsvorsorge durch
einen steuerlichen Querverbund als einheitliche Aufgabe
gesehen und wahrgenommen wird.
({12})
Kollege Friese, Ihre
Redezeit ist schon deutlich überschritten. Ich bitte Sie,
zum letzten Satz zu kommen.
Ja. - Es kann nicht angehen,
daß Unternehmen in den Kommunen Rosinen picken.
Wenn das der Fall ist, dann müssen wir den Kommunen
und auch den kommunalen Stromversorgern die Möglichkeit eröffnen, auch außerhalb ihres Versorgungsgebietes tätig zu werden.
Ich füge als letzten Satz hinzu:
({0})
Wenn es uns nicht gelingt, die kommunale Selbstverwaltung mit Inhalten und Aufgaben zu füllen, dann
brauchen wir sie nicht mehr, weil sie keine Funktion
mehr hat. Diesen Weg werden wir nicht gehen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun
der Kollege Ulrich Klinkert, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Am Montag dieser
Woche demonstrierte die Gewerkschaft ÖTV mit einigen tausend Teilnehmern gegen die angebliche Gefahr
des Verlustes von 40 000 Arbeitsplätzen in den Stadtwerken. Ich kann jeden Arbeitnehmer verstehen, der für
seinen Arbeitsplatz und für den Arbeitsplatz seines
Kollegen auf die Straße geht. Aber diejenigen Menschen, die am Montag von der ÖTV mobilisiert wurden,
waren von den Gewerkschaftsbossen - ich behaupte:
bewußt - grundlos in Panik versetzt worden.
({0})
Daß auf diese Panik die PDS dann noch eins draufsetzt,
das ist sicherlich kein Zufall.
Worum geht es? Lassen Sie mich das bitte an einigen
Zahlen, die aus dem Bundeswirtschaftsministerium
stammen, erklären. Von den mehr als 10 000 Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland betreiben rund
550 Stadtwerke; von denen wiederum erzeugen nur 50
selbst Strom und ganze 15 in einer Größenordnung von
mehr als 50 Prozent des Eigenbedarfs. Dabei betreiben
sieben von ihnen neue, moderne Kraftwerke in den neuen Bundesländern. Acht Stadtwerke entfallen auf die
alten Bundesländer. Diese acht wären einem Konkurrenzdruck eventuell nicht gewachsen.
({1})
Wenn die ÖTV dann suggeriert, daß an vielleicht acht
Stadtwerken 40 000 Arbeitsplätze hängen, dann betreibt
sie hier ein falsches Spiel mit den Sorgen der Arbeitnehmer.
({2})
Ich glaube, das ÖTV-Problem sind nicht unbedingt
die 40 000 Arbeitnehmer in den Stadtwerken, sondern es
sind die 580 000 Arbeitnehmer, die der ÖTV in den
letzten sieben Jahren den Rücken gekehrt haben. Nun
meint die ÖTV, endlich einmal einen Anlaß gefunden zu
haben, um Kraft, Stärke und Entschlossenheit demonstrieren zu können, ohne darauf zu achten, daß ihre verunsichernden Behauptungen einen seriösen Hintergrund
haben.
({3})
Die Verbändevereinbarung hat für die Stadtwerke,
die ich eben erwähnt habe, eine Lösung gefunden. Aber
der Kraft-Wärme-Kopplung, die im übrigen ja nicht nur
von den Stadtwerken betrieben wird, oder auch der ostdeutschen wie der westdeutschen Braunkohle droht eine
viel ernstere Gefahr. Die Bundesregierung plant nämlich
eine Steuerbefreiung für Öl und Gas in Kondensationskraftwerken, die einen Wirkungsgrad von mehr als 55
Prozent haben - mit dem zu erwartenden Ergebnis, daß
insbesondere Gas zu Lasten einheimischer Energieträger, zu Lasten vorhandener Anlagen und zu Lasten geplanter Investitionen auf den Energiemarkt Deutschland
vordringen wird.
Ich halte dies für strategisch falsch, weil dadurch eine
zunehmende Abhängigkeit von Rohstoffimporten erzeugt wird.
({4}): Nur die Gleichbehandlung am
Markt, mehr nicht!)
Nicht nur am Rande sei vermerkt, daß sich der Preis
für Erdöl in den letzten Monaten mehr als verdoppelt
hat. Wir wissen, daß der Preis für Erdgas dem immer auf
dem Fuße folgt. Das heißt, langfristige Preisstabilität ist
damit alles andere als gewährleistet.
Ich halte dies auch im Blick auf Arbeitsplätze für
falsch. Denn die Wertschöpfung bei der Energieerzeugung aus Gas erfolgt zu 75 Prozent im Ausland.
Zwangsläufig sind dadurch Tausende von Arbeitsplätzen, eben auch Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern, in Gefahr.
({5})
Frau Eichstädt-Bohlig, Ihr Hinweis auf die Lex VEAG zeigt die ganze Widersprüchlichkeit der Politik Ihrer
Koalition. Ich erinnere mich an die Debatte, die wir zu
diesem Gesetz vor zwei Jahren im Bundestag geführt
haben. Vielen Ihrer Kollegen - Sie waren damals in der
Opposition - ging der Schutz der ostdeutschen Braunkohle nicht weit genug.
({6})
Heute diffamieren Sie dieses Gesetz als Lex VEAG. Dazu sage ich: Mir sind Tausende von Arbeitsplätzen in
der Lausitz lieber als das Lob aus dem Munde der Grünen.
({7})
Meine Damen und Herren, wir sind in Deutschland
dabei, auf der Basis des Energiewirtschaftsgesetzes
wettbewerbsfähige Energiestrukturen aufzubauen. Wir
bekommen günstigere Strompreise für alle Verbraucher.
Es sind die acht Stadtwerke gerettet, aber noch lange
nicht der Energiestandort Deutschland insgesamt.
Danke schön.
({8})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Ernst Schwanhold, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich fange mit Herrn
Rexrodt und seinem Zwischenruf von der Badehose an.
Ich will ihn mal nicht ernst nehmen, aber das ist schon
ein signifikantes Beispiel dafür, wie Sie mit dem Problem umgehen, die Stadtwerke zu sichern und ihnen die
Chance zu geben, eine Brücke in den Wettbewerb zu
finden.
Ich beziehe mich auf Ihre Aussagen, die Sie bei der
Diskussion um die Novelle zur Liberalisierung des
Energiemarktes gemacht haben. Sie haben den Wettbewerb vorangetrieben, okay. Aber eines haben Sie nicht
geschafft - und das verschweigen Sie -: daß sich Ihre
europäischen Partner Brücken bauen, die bis ins Jahr
2006 reichen, und daß zum Beispiel die Franzosen den
Markt überhaupt nicht freigeben. Dieser Wettbewerb,
wo Kernkraft durch den französischen Staat subventioniert wird, führt zu einer Verdrängung der Energieproduktion in der Bundesrepublik Deutschland. Das war
das Ergebnis Ihrer Politik und ist nun Ursache für die
Vernichtung von Arbeitsplätzen.
({0})
Da hätten Sie etwas tun sollen. Diese Bundesregierung
bemüht sich nun, nachzuarbeiten, was Sie versäumt haben. Deswegen wäre ich an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger.
Herr Rexrodt, es geht um die dreigeteilte Aufgabe,
die wir zu bewältigen haben: erstens Wettbewerb im
Strommarkt zu ermöglichen, zweitens den Energieproduktionsstandort Bundesrepublik Deutschland zu sichern und drittens ökologische Aspekte in die Produktion und die Verteilung der Energie einzubeziehen. Die
Triade Wettbewerb, Produktionsstandort - einschließlich Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze - und
Ökologie gilt es zu lösen. Da sind die einfachen Antworten nicht jene, die wirklich zum Ziele führen. Es sind
schon kompliziertere Antworten nötig als die, die Sie
uns hier geben.
Warum sonst haben Sie denn bei der Liberalisierung
der Telekommunikation die Firmen zur Universaldienstleistung verpflichtet, obwohl das Angebot auch
völlig ungebunden, frei von jeglicher Leitung, hätte organisiert werden können? Es gibt also doch ein paar
Rahmen, sozusagen Leitplanken, die man benötigt, damit diejenigen, die auf bestehender Gesetzesgrundlage
investiert haben - übrigens, hier gemeinsam beschlosUlrich Klinkert
sen, mit Hilfe öffentlicher Förderung -, eine Brücke in
die Zukunft bauen können. Dies muß den Stadtwerken
Duisburg genauso wie anderen Stadtwerken in Ostdeutschland ermöglicht werden. Und auch die ostdeutsche Braunkohle muß dies schaffen können.
Herr Klinkert, insofern muß Ihre verlogene, bigotte
Argumentation - zu sagen, hier brauchen wir es nicht,
aber für die ostdeutsche Braunkohle brauchen wir das aufgedeckt werden.
({1})
Ich bin für die ostdeutsche Braunkohle und für eine
Brücke in die Zukunft. Sie können aber nicht so tun, als
wären Ihnen alle anderen egal, und sagen: Die sieben
Kraftwerke in Ostdeutschland sind bald wettbewerbsfähig. Natürlich sind es Ihre Politik und Ihre Mitnahmeeffekte bei der Finanzierung gewesen, die die exorbitanten
Gewinnrealisierungen in kurzer Zeit möglich gemacht
haben, die heute dafür sorgen, daß die Kraftwerke nicht
wettbewerbsfähig sind. Erst wenn diese Schuld, für die
Sie die Verantwortung tragen, abgetragen ist, schaffen
Sie die Brücke in den Markt.
({2})
Sie treten als Oberlobbyist einer Region auf und führen eine zweite verlogene Diskussion. Ich will Ihnen
ausdrücklich sagen: Machen Sie das nicht auf dem Rükken anderer Menschen! Ich finde es völlig in Ordnung,
daß wir uns darum kümmern, aber machen Sie das nicht
auf dem Rücken anderer Menschen.
({3})
Der letzte Punkt: Die Brücke in die Zukunft einer dezentralen Energieversorgung der Verbraucherinnen und
Verbraucher und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wird durch jene Vereinbarung geschaffen, die
zwischen der Regierung, den Grünen und der SPD noch
nicht ausformuliert, aber in den Eckpunkten völlig klar
erkennbar ist. Es wird keine Schutzzäune, sondern Hilfen, um im Wettbewerb bestehen zu können, geben.
Dies gilt für alle KWK-Anlagen, die derzeit in Betrieb
sind, auch für die besonders schwierige Situation in
Duisburg, um die wir uns auch zu kümmern haben.
Wer das nicht realisieren will, der muß erklären, warum an der einen Stelle etwas geschieht und an anderer
Stelle nichts geschehen muß und darf. Die Erklärung
würde ich mir gern von jenen anhören, die sagen, der
Markt wird es schon richten. Der Markt wird vieles
richten, aber das wird er zu Lasten einiger Menschen
richten, die Sie, Herr Rexrodt, offensichtlich aus den
Augen verloren haben. Genau dafür haben die Kolleginnen und Kollegen demonstriert. Sie haben nicht gegen
uns, sondern gegen die Folgen Ihrer Gesetzgebungsverfahren demonstriert.
({4})
Das Wort hat nun
Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Zunächst einmal ist diese
Aktuelle Stunde Anlaß, von einer wirklichen Erfolgsgeschichte zu erzählen.
({0})
In der letzten Legislaturperiode hat es zwei ganz erfolgreiche Veränderungen gegeben, die aus dem Blickwinkel geraten sind, aber dennoch unglaublich gut für
Deutschland waren. Das war die Abschaffung des Kohlepfennigs, der uns mit über 7 Milliarden DM belastet
hat, und die Energieliberalisierung mit einer Verbesserung der Standortqualität durch eine Entlastung von 20
bis 25 Milliarden DM.
({1})
Dadurch ist mehr Positives für Deutschland und die Arbeitsplätze passiert als mit allen Diskussionen und Blokkaden in der Steuerpolitik und in sonstigen Bereichen.
Hier ist wirklich etwas bewegt worden.
({2})
Das sollten wir ganz deutlich herausstellen.
({3})
Das hat Ihnen natürlich nicht richtig gepaßt; denn
dieses Thema bringt Sie in ein ganz großes Dilemma. In
diesem Dilemma befinden sich auch die Grünen, obwohl
sie lernfähig sind
({4})
und an dieser Stelle durch die Regierungsübernahme
deutlich weiter als die Sozialdemokraten gekommen
sind. Sie haben nämlich ein grundsätzliches theoretisches Problem: Sie sollen sich heute mit uns über eine
Kostensenkung in der Energiewirtschaft freuen, obwohl
Sie alle sagen, eigentlich müßte die Energie verteuert
werden, damit weniger verbraucht wird. Das ist das
Grunddilemma, in dem Sie sich befinden. Deswegen
können Sie nicht einfach sagen: Gut, hier ist ein gewaltiger Schritt nach vorn getan worden. Die meisten Ihrer
damaligen Befürchtungen sind nicht wahr geworden. Sie
haben dieses Gesetz grundsätzlich abgelehnt. Ich könnte
die Zitate von Ihnen, Herr Jung, darüber, welchen Unsinn wir angeblich auflegen, anführen. Sie strengen sogar mit einigen Ländern die Verfassungsklage an, weil
Sie das Gesetz weiterhin bekämpfen wollen. Es ist das
wirkungsvollste Standortverbesserungsgesetz der letzten
vier, fünf Jahre!
({5})
Wir haben einige wenige Probleme, über die man reden kann.
({6})
- Ja, natürlich sind es, gemessen am Volumen dessen,
was verbessert worden ist, einige wenige. Begreifen Sie
doch einmal die Größenordnungen: Es gibt einerseits
acht Stadtwerke mit einem Problem, das man lösen
kann, andererseits aber eine Standortverbesserung mit
Entlastungen in Höhe von 20 bis 25 Milliarden DM
pro Jahr. Das sind schon verdammt große Unterschiede in der Wichtigkeit zugunsten von Arbeit in
Deutschland.
({7})
Ich komme nun zu der Rolle der Kommunen. 36 Prozent des Stroms werden - mit unterschiedlichen Ansätzen - öffentlich-rechtlich erzeugt und verteilt. Hier darf
man die Frage nachdenklich stellen: Ist es eigentlich gut,
daß 36 Prozent eines wichtigen Wirtschaftsguts öffentlich-rechtlich begleitet und verwaltet werden?
({8})
- Das ist nicht nur gut, das muß hinterfragt werden können. Denn wir wissen doch, daß öffentlich-rechtliche
Strukturen im Prinzip im Durchschnitt weniger leistungsfähig sind.
({9})
- Das ist doch so. Zu dem Ergebnis kommen wir doch.
Wenn es heute keine städtischen Stromerzeugungs- und
Stromverteilunternehmen in Deutschland gäbe - stellen
wir uns das einmal einen Moment vor -, käme niemand
auf die Idee, sie jetzt sofort zu „erfinden“. Dieses Problem würde ordnungspolitisch anders gelöst werden.
Das ist die Erkenntnis, die wir miteinander gewonnen
haben. Sie wollen natürlich daran festhalten. Das ist
auch in Ordnung. Auch wir wollen schützen und Brüche
vermeiden, aber wir wollen auch eine Veränderung.
Strom ist seiner Natur nach keine Sache, die öffentlichrechtlich gestaltet und verwaltet werden muß.
({10})
- Nein, das fällt nicht unter Daseinsvorsorge. Wenn das
so ist, dann holen Sie doch die Molkereien wieder in die
Zuständigkeit der Städte. Milch ist manchmal genauso
wichtig wie Strom. Das kann es doch wohl nicht sein.
Das haben wir doch hinter uns gelassen.
({11})
Wir sind auf dem Weg zu einer größeren Entstaatlichung, sagen aber, daß die Kommunen ihre Kernkompetenzen schützen sollen. Lassen Sie uns den Weg intelligent, moderat und vernünftig in die richtige Richtung
gehen, aber rudern wir bitte nicht zurück!
Ich möchte ein anderes Beispiel nennen: Wir diskutieren über diese Fragen auch mit Blick auf die Sparkassen und Banken. Ich nenne dieses Beispiel nur, um das
Problem besser vor Augen zu führen. Die Sparkassen
haben - so wird es immer wieder behauptet, und so steht
es in den Gesetzen - einen öffentlichen Auftrag, den
Genossenschaftsbanken und Privatbanken eingeschränkt
oder so ähnlich auch haben. Aber die Sparkassen haben
hier einen besonderen Schwerpunktauftrag. So wird es
behauptet. Wenn nun die Sparkassen wegen Globalisierungsentwicklungen, die wir nicht wirklich steuern können, in Gefahr gerieten, käme dann einer von uns auf die
Idee - damit sind wir dann bei Ihren Lösungsansätzen zu sagen: Wir müssen in Deutschland den Zins um einen
halben Punkt erhöhen, damit das finanziert werden kann,
was die Sparkassen betreiben sollen?
({12})
- Das ist Daseinsvorsorge: Die Kreditversorgung für die
Bevölkerung vor Ort ist ein so wichtiges Gut wie Strom.
({13})
Aber ohne eine vernünftige Finanzwirtschaft kann auch
das nicht funktionieren. Ich nehme dieses Beispiel, um
zu zeigen, daß wir in diesen Bereichen noch häufig genug falsch denken. Ich darf Sie einfach ermuntern, den
richtigen Denkansatz etwas ernster zu nehmen.
Meine nächste Bemerkung bezieht sich auf Europa:
Die Reziprozität haben wir gewollt. Aber wenn wir sie
in der gegenwärtigen Situation bekommen würden, hätten wir den Wettbewerb, der im Ausland stattfindet und
zu verbilligtem Strom führt, jetzt hier. Im Moment findet er nur auf Plakaten statt, sonst ist gar nichts passiert.
Deswegen kann ich diese Regierung nur ermuntern
- dies ist ihre Aufgabe -, die Franzosen dazu zu bringen
- Joschka Fischer und Gerhard Schröder sollen sich dieses Themas einmal annehmen, obwohl ich ihnen nicht
empfehlen würde, es zur Chefsache zu machen; das hat
in der Vergangenheit bekanntermaßen immer schlechte
Ergebnisse gebracht ({14})
Herr Kollege Schauerte, Sie müssen Schluß machen. Sie haben Ihre Redezeit schon überzogen.
- sich mit diesem
Thema zu befassen, endlich eine Vergleichbarkeit in Europa zu erreichen und die Reziprozität durchzusetzen,
wie wir es im Gesetzgebungsverfahren gewollt haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Als letzter Redner in
der Aktuellen Stunde spricht Michael Müller.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Um es auch von unserer
Seite klar zu sagen: Wir wollen natürlich auch, daß der
Verbraucher endlich faire und günstige Preise zahlt.
Darüber gibt es überhaupt keine Debatte.
({0})
Aber, Herr Schauerte, um dies aufzugreifen: Wenn derartige Preissenkungen möglich sind, kann man die Frage
stellen: Wer hat denn in den letzten Jahren all die ExtraHartmut Schauerte
profite zugelassen, die die großen Energiekonzerne gemacht haben?
({1})
Wer stellte denn in den letzten Jahren die Regierung und
hat ein Energiegesetz gemacht, das diese milliardenschweren Extraprofite zur Füllung der Kriegskassen der
Großunternehmen ermöglichte? Das ist doch die Frage,
die sich hier stellt.
({2})
In besonderer Weise muß man das natürlich Herrn Rexrodt fragen, der, wie die F.D.P. insgesamt, bei der Energiepolitik immer vorne dabei war, wenn es darum ging,
die Großen zu sichern, die Kleinen aber nicht zu schützen.
({3})
Leider sind die Extraprofite nur ein Teil der Wahrheit.
Ein anderer Teil der Wahrheit ist, daß wir uns in einem
tiefgreifenden Umbruchprozeß des Energiesektors befinden, in dem es gleichzeitig eine gewaltige Entkommunalisierungs- und Konzentrationsbewegung gibt, und
zwar zum Teil hervorgerufen durch Kampf- und Dumpingpreise. Auch das gehört zur Wahrheit.
({4})
Im Vergleich zu den früheren Stromgestehungskosten,
die Sie in der Öffentlichkeit verkündet haben, liegen die
Preisangebote, die heute gemacht werden, weit unter
diesen Gestehungskosten. Dies hat nichts mit normalen
Marktbedingungen, sondern nur etwas mit dem strategischen Ziel zu tun, die Neuordnung des Energiesektors
jetzt in einer Weise zu betreiben, die dazu führt, daß wir
die dicke Rechnung erst in ein paar Jahren bekommen
werden. Das wollen wir nicht.
({5})
Wir sind sehr für preis- und kostengünstige Angebote
an den Verbraucher, an den Nachfrager. Aber wir stellen
noch einen weiteren Aspekt in der Energiepolitik in den
Vordergrund. Er betrifft die Frage nach der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs. Zum Wettbewerb gehören Sie sollten dies bei Ludwig Erhard nachlesen; leider
muß ich Ihnen dies sagen, obwohl ich gar nicht dessen
ökonomische Richtung vertrete - auch gewisse Grundbedingungen, nämlich beispielsweise ein Gleichgewicht
zwischen den Angeboten und auch eine Pluralität der
Marktmöglichkeiten.
({6})
Sie reduzieren die Entwicklung auf dem Strommarkt lediglich auf die Preisfrage.
({7})
- Entschuldigung, in der Europäischen Union gibt es
kein schlechteres Energiegesetz als das deutsche. Dies
ist leider eine Tatsache.
({8})
- Ja, natürlich, das werden wir auch ändern. Keine
Sorge!
Es geht im wesentlichen aber auch um zwei weitere
Punkte. Einer davon betrifft die Umweltverträglichkeit.
Es war schon interessant, daß keiner der Vertreter von
der Opposition über den Aspekt der Umweltverträglichkeit geredet hat. Auch die Umweltverträglichkeit ist hier
von entscheidender Bedeutung.
({9})
- Herr Schauerte, ich höre Ihnen schon zu. Keine Sorge!
Es ist zwar schwierig, Ihnen zuzuhören, weil Sie so laut
sind. Aber wir hören Ihnen trotzdem zu. Sie haben nicht
über Umweltverträglichkeit gesprochen.
Der zweite wichtige Punkt betrifft die Überlegung, ob
es nur um die Energieerzeugung oder auch um Energieeinsparung und Energiedienstleistung geht. Läßt der
Wettbewerb überhaupt noch die Chance, Energieeinsparung zu erzielen, wenn die Preise zu diesem Zweck angehoben werden müssen? Dies ist eine relevante Frage.
Volkswirtschaftlich ist Energieeinsparung oft sehr viel
sinnvoller als der Zubau von Kapazitäten.
({10})
- Nein, Sie haben es nicht verstanden. Darum geht ja
unser alter Streit. Wir sollten ihn hier nicht fortführen,
weil mir jetzt nur wenig Redezeit zur Verfügung steht.
Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, was ich Ihnen sage.
Ein weiterer relevanter Punkt, der auch angesprochen
werden muß, betrifft die Frage, ob in der Bundesrepublik die Erzeugung von Strom überhaupt aufrechterhalten werden kann. Die Entwicklung, daß beispielsweise
osteuropäische Länder auf Grund der Devisenschwankungen sehr günstige, unter den Stromgestehungskosten
liegende Angebote machen können, ist sehr ernst zu
nehmen. Aber es gibt auch Kampfgebote aus anderen
Ländern, beispielsweise aus Frankreich, weil es dort
Überkapazitäten an Strom gibt. Dies ist ja bekannt. Unter diesen Gesichtspunkten muß man die Frage stellen:
Wird die Entwicklung nicht darauf hinauslaufen, daß die
Bundesrepublik nur noch ein Stromhandelsland sein
wird? Dies wäre keine sinnvolle und akzeptable Entwicklung. Es ist interessant, zu beobachten, daß gerade
die kommunalen Stadtwerke in Schwierigkeiten geraten
sind, die selber Strom erzeugen. Dies kommt doch nicht
von ungefähr.
Wir haben jetzt einen Vorschlag unterbreitet. Diesen
werden wir in den nächsten Wochen durchrechnen. Wir
glauben, daß folgende Frage exemplarisch ist: Ist es
möglich, Standortsicherheit, Kostengünstigkeit, Umweltverträglichkeit und einen funktionierenden WettbeMichael Müller ({11})
werb miteinander in Einklang zu bringen? Dieser Aufgabe wollen wir uns stellen. Wir sollten hier bitte keine
Showdebatte veranstalten. Wir wissen letztlich, daß wir
die Folgen einer verfehlten Energiepolitik zu tragen haben, die die Vorgängerregierung zu verantworten hat.
({12})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
möchte ich Ihnen eine erfreuliche Mitteilung weitergeben. Es ist gerade gemeldet worden, daß Günter Grass
den diesjährigen Nobelpreis für Literatur bekommen
hat.
({0})
Ich denke, ich spreche im Namen des ganzen Hauses,
wenn ich Günter Grass zu dieser außerordentlichen Auszeichnung ganz herzlich gratuliere.
({1})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer
Menschenrechtsschutz
- Drucksache 14/1568 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({2})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Wolfgang Behrendt, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! In diesem Jahr feiert der Europarat, wie
der Präsident schon erwähnt hat, seinen 50. Geburtstag.
Vor einem halben Jahrhundert, am 5. Mai 1949, haben
die Regierungen von zehn europäischen Staaten ein
Statut unterzeichnet, dessen erster Artikel lautet:
Das Ziel des Europarates ist es, einen stärkeren Zusammenschluß zwischen den Mitgliedsländern herbeizuführen sowie die Ideale und Grundsätze, die
ihr gemeinsames Erbe darstellen, zu schützen und
zu fördern, aber auch ihre wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte zu begünstigen.
Inzwischen sind 31 weitere Staaten Mitglied geworden.
Die Bundesrepublik gehört dem Europarat seit dem Jahre 1951 als Vollmitglied an.
({0})
Ich freue mich, daß wir heute anläßlich dieses Jubiläums Gelegenheit haben, diese Debatte zu führen. Ich
freue mich besonders, daß zwei hohe deutsche Repräsentanten aus Straßburg diese Diskussion auf der Tribüne verfolgen. Es handelt sich um den stellvertretenden
Generalsekretär des Europarates, Dr. Christian Krüger,
und um den deutschen Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Professor Georg Ress.
({1})
Vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen
des zweiten Weltkrieges war der Beitritt Deutschlands
Anfang der 50er Jahre nicht selbstverständlich. Um so
mehr muß man die Bedeutung dieser Entscheidung als
Wiederaufnahme unseres Landes in die internationale
Völkergemeinschaft würdigen.
Und noch etwas erscheint mir angesichts einer gewissen Europamüdigkeit, die wir heute allenthalben zu spüren glauben, bemerkenswert: Viele Jugendverbände der
Europa-Union und auch sonstige politisch interessierte
Gruppen aus Deutschland und anderen Ländern hatten
sich 1949 auf den Weg gemacht, um begeisterte Zeugen
eines, wie sie meinten, großen Augenblicks der Weltgeschichte zu werden. Mit einer spektakulären Aktion
wollten sie für Europa demonstrieren: Junge Deutsche,
Franzosen, Niederländer, Belgier und Luxemburger rissen an der deutsch-französischen Grenze die Schlagbäume nieder und verbrannten sie; weder Polizei noch
Gendarmerie, noch Zöllner hinderten sie daran. Ihre Vision war die Einigung Europas. Ihr Ziel war ein Europa
ohne Grenzbarrieren, ein Europa des friedlichen Zusammenlebens.
Der Londoner Vertrag zur Gründung des Europarates
ist in der Tat etwas Besonderes; denn es ging den Unterzeichnern nicht um einen beliebigen Freundschaftsvertrag, auch nicht um gemeinsame wirtschaftliche Interessen. Es ging ihnen um die Gründung einer europäischen
Wertegemeinschaft. Sie wollten diejenigen Güter
schützen, die, wie die jüngste Geschichte gelehrt hatte,
doch zerbrechlicher waren, als man gedacht hatte. Die
Achtung der Menschenrechte, die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, der Schutz der pluralistischen parlamentarischen Demokratie - dies waren die Ziele, denen sich
die zehn Gründerstaaten des Europarates verpflichtet
fühlten.
Einen Meilenstein in der Geschichte der internationalen Zusammenarbeit stellt dabei unbestreitbar die Europäische Menschenrechtskonvention als erstes internationales Rechtsinstrument zum Schutz der Menschenrechte dar. Nach Auffassung des Europarates ist aber
auch die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung untrennbar mit der Achtung der Menschenrechte
und der Menschenwürde verbunden. Vor diesem Hintergrund wurde bereits im Oktober 1961 als weiteres euroMichael Müller ({2})
päisches Grundsatzdokument die Europäische Sozialcharta verabschiedet. Den sich wandelnden sozialen
und wirtschaftlichen Bedingungen wurde im Jahre 1996
durch die Revidierte Sozialcharta Rechnung getragen.
Bedauerlicherweise hat die Bundesrepublik Deutschland
dieses wichtige überarbeitete Dokument noch nicht unterzeichnet.
({3})
Ich hoffe, die neue Regierungskoalition wird das nachholen. Ich bedanke mich bei der Kollegin Roth für den
Beifall.
Lassen Sie mich die Wirkung der Sozialcharta kurz
an einem Beispiel demonstrieren: Irland und Frankreich
änderten auf Grund ihres Beitritts zur Europäischen Sozialcharta nationale Gesetze, die eine Einschränkung des
Wahlrechts derjenigen Bürger vorsahen, die staatliche
Unterstützung bezogen. Auch das deutsche Jugendarbeitsschutzgesetz aus dem Jahre 1976 trägt eindeutig
den Stempel der Europäischen Sozialcharta.
Wir haben - ich glaube, das kann man mit Recht behaupten - im Europarat und insbesondere in der Parlamentarischen Versammlung vor allem in den letzten
10 Jahren gezeigt, daß wir nicht an verkrusteten Strukturen festhalten. Wir haben mit beispielhafter Flexibilität
auf die enormen politischen Veränderungen reagiert, die
sich auf der Landkarte Europas vollzogen haben. Die historische Rede Michail Gorbatschows vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 6. Juli
1989 machte deutlich, welch tiefgreifender Wandel in
Europa stattfand. Gorbatschow erklärte damals, daß jedes Volk sein eigenes politisches System wählen kann.
Wörtlich sagte er, daß „eine beliebige Einmischung in
die inneren Angelegenheiten, beliebige Versuche, die
Souveränität der Staaten - sowohl befreundeter und verbündeter als auch irgendwelcher anderen - zu begrenzen, unzulässig sind“. Damit öffnete Gorbatschow den
mittel- und osteuropäischen Staaten die Tür in das „gemeinsame europäische Haus“, wie er seine Vision damals selber bezeichnete.
({4})
Diese beachtliche Vision muß man heute besonders hervorheben.
Die Völker Europas kamen: Zwischen 1989 und 1999
wuchs der Europarat von 23 auf 41 Mitgliedstaaten an,
die alle die Europäische Menschenrechtskonvention ratifizierten. Als bislang letzter Staat trat die kaukasische
Republik Georgien im April dieses Jahres dem Europarat bei. Die Freude Georgiens nach dem Beitritt zum Europarat - vom georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse mit den Worten „Ich bin ein Europäer“ zum
Ausdruck gebracht - sowie die Bemühungen weiterer
Kaukasus-Länder und auch Bosnien-Herzegowinas um
eine Mitgliedschaft unterstreichen die besondere politische, aber auch wirtschaftliche und soziale Bedeutung
des Europarates für diese Länder.
Zugegebenermaßen verfügen viele der neuen Mitglieder nicht über eine demokratische Tradition und
zeichnen sich nicht durch eine besonders aktive Menschenrechtspolitik aus. Es waren schwierige Grundsatzdebatten, die die Parlamentarische Versammlung führte,
bevor sie zu dem Entschluß gelangte, sich für den Dialog und gegen die Ausgrenzung zu entscheiden. Wir haben aber gleichzeitig betont, daß wir von unseren Werten und Maßstäben nicht abrücken werden, sondern mit
der Mitgliedschaft den rechtsstaatlichen und demokratischen Entwicklungsprozeß in diesen Ländern aktiv fördern wollen.
Im Rahmen des Europarates betreiben wir vor allem
Konflikt- und Friedensprävention, denn wir haben ein
bemerkenswert sensibles Frühwarnsystem, wenn Menschen- und Minderheitsrechte verletzt werden. 312 Millionen DM - das ist der bescheidene Umfang des Europarats-Haushalts - kostet diese präventive und friedenstabilisierende Politik des Europarates die Mitgliedstaaten. Mit diesem 312-Millionen-DM-Budget beansprucht
der Europarat - das muß man sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen - 1 Prozent der Kosten des KosovoKonflikts.
Gerade das Kosovo hat gezeigt, wie wichtig Konfliktund Krisenprävention sind. Die Lehre aus dem KosovoKonflikt sollte sein, daß die Völkergemeinschaft - und
hier insbesondere der Europarat - vor dem Ausbruch eines Konfliktes jede Möglichkeit nutzt, vermittelnd tätig
zu werden.
({5})
In Bosnien-Herzegowina und im Kosovo ist das nicht
gelungen. Hoffen wir, daß wir mit dem Stabilitätspakt
für Südosteuropa die Voraussetzungen dafür schaffen,
daß eine endgültige Befriedung dieser Region eintritt.
Jeder weiß, wie wichtig es ist, die demokratische
und rechtsstaatliche Entwicklung in Europa zu fördern. Diese Politik aber ist nicht zum Nulltarif zu haben.
Ich möchte deshalb die Bundesregierung auffordern,
nicht die Augen vor den wachsenden Aufgaben des Europarates zu verschließen. Wir haben uns in der Koalitionsvereinbarung verpflichtet, die deutsche Außenpolitik
werde sich
mit aller Kraft um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten
der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregelung … bemühen.
Genau dafür ist der Europarat prädestiniert. Weiter haben wir gesagt, daß wir uns
dabei von der Verrechtlichung der internationalen
Beziehungen leiten lassen wollen.
Dieses charakterisiert exakt die Arbeit des Europarates,
der mit seinen inzwischen 170 Konventionen etwa
100 000 bilaterale Verträge ersetzt.
Meine Damen und Herren, so sehr auch Anlässe wie
der heutige dazu angetan sind, die Erfolge der Vergangenheit zu beschwören, will ich nicht nur zurückblicken.
Wenn wir wollen, daß man uns in 50 Jahren so rühmt,
wie wir es heute mit den Gründungsvätern und -müttern
des Europarates tun, müssen wir nach vorn schauen
und - um es einmal salopp zu sagen - die Ärmel aufkrempeln und zupacken.
Gerade in der klassischen Domäne des Europarates,
beim Menschenrechtsschutz, stellen sich neue Herausforderungen. Die Diskussion um die Bioethik-Konvention hat deutlich gemacht, wie stark der Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde durch die modernen Entwicklungen der Medizin und der Biotechnologie
berührt wird. Gerade die atemberaubende Entwicklung
der Biotechnologie stellt eine einzigartige Herausforderung für den Europarat dar.
({6})
Hier sind wir gefordert; hier müssen wir alle gemeinsam
- ich hoffe, mit Unterstützung des Bundestages - Mindeststandards setzen, um Gefährdungen zu vermeiden.
Auch im Bereich der Informationstechnologie werden
wir neue Standards für den Schutz der Menschenwürde
und der Individualfreiheiten setzen müssen.
Auch in anderen Bereichen hat der Europarat mit
Unterstützung des Bundesrates und der Kollegen aus
dem Bundestag eine Vorreiterrolle übernommen. Im
Jahre 1997 hatten 29 Staaten das Übereinkommen zur
Bekämpfung des Terrorismus ratifiziert. Hand in Hand
geht dieses Instrument mit dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen. Am 1. April 1999 trat auch die
von Deutschland ratifizierte Geldwäschekonvention in
Kraft. Last not least hat auch Deutschland die Europaratskonvention zum Schutz der Umwelt durch das Strafrecht und die Konvention über die strafrechtliche Verfolgung von Korruption unterzeichnet.
1949 haben Jugendliche aus vielen Ländern enthusiastisch für Europa demonstriert. Heute, da wir immer
wieder lesen und erleben müssen, daß sich junge Menschen von demokratischen Werten ab- und extremistischen Ideologien zuwenden, sind nicht nur die Einzelstaaten, sondern auch die europäischen Gremien gefordert. Der Europarat hat reagiert, indem er im April diesen Jahres den „Europarat der Jugendlichen“ veranstaltet hat. Aus allen Ländern Europas kamen Jugendliche nach Straßburg, in eine Stadt, die ein besonderes
Symbol der Aussöhnung zwischen ehemals verfeindeten
Völkern ist. Dabei zeigte sich sehr deutlich: Demokratie
und Toleranz lernt man nicht aus Büchern, man muß sie
erleben. Die jungen Menschen haben in Straßburg diese
Chance intensiv genutzt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend feststellen: Der Europarat hat in den letzten 50 Jahren Bedeutsames geleistet. Davon hat auch Deutschland
profitiert. Nicht zuletzt ist ein großer Teil des Vertrauens, das der Bundesrepublik und dem deutschen Volk in
den vergangenen Jahrzehnten zugewachsen ist, im Palais
de l’Europe in Straßburg gesät und geerntet worden.
Genießen wir die Ernte, führen wir uns aber auch immer
wieder vor Augen, in welcher Sicherheit wir leben, und
tun wir auch in Zukunft alles in unserer Macht Stehende,
um allen Völkern in Europa die gleiche Chance zu geben, in Frieden und in sozialer Sicherheit zu leben.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Bühler, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Idee, die
dem Europarat zugrunde liegt, ist nicht nur grenzüberschreitend, sondern auch parteiüberschreitend. Damit ist
- ich kann hier nahtlos dort fortfahren, wo der Kollege
Behrendt eben geendet hat - auch schon ein Wert des
Europarates an sich zum Ausdruck gebracht worden, in
dem man sich gemeinsam für den Schutz, für den Erhalt
und für die Sicherung der Menschenrechte einsetzt.
Damals, vor 50 Jahren, war für die Gründung des Europarats ausschlaggebend: Man wollte eine europäische
Institution ins Leben rufen, in deren Mitgliedsländern
die Grundrechte, die Menschenrechte eine Selbstverständlichkeit für die Bürger sind. Man war davon überzeugt, daß auf Grund dieser Tatsache von den Ländern,
die dem Europarat beitreten, niemals wieder Kriege ausgehen würden. Es gehört zur großen Erfolgsgeschichte
des Europarats, daß wir heute, im Jahre 1999, bilanzieren können, daß wir in West- und Mitteleuropa, also
auch in Deutschland, die längste Friedenszeit erleben
durften und dürfen, die die Völker dieses Teils des Kontinents je erlebt haben - auch das ein Wert an sich.
({0})
Es war der Europarat, diese älteste und größte politische Institution, der die Grundlagen gelegt hat, auf denen dann andere europäische Institutionen weitergearbeitet haben. Dieser Europarat ist aber nicht nur die älteste und die größte Organisation, er ist leider auch die am
wenigsten bekannte. Wenn ich recht informiert bin, wird
zum ersten Mal in der Geschichte des Deutschen Bundestages eine Debatte über den Europarat geführt. Wir
als deutsche Delegation sagen: Es ist höchste Zeit, daß
das geschieht. Wir bedanken uns dafür und hoffen, daß
das keine Eintagsfliege bleibt. Auch das möchte ich
heute zum Ausdruck bringen.
({1})
Die Gesetzgebungsbefugnis beim Europarat ist besonders gelagert: Er hat schlicht und einfach keine Gesetzgebungsbefugnis. Der Kollege Behrendt hat darauf
hingewiesen, daß 170 Konventionen des Europarats, die
in den Einzelstaaten ratifiziert worden sind, etwa
100 000 bilaterale Verträge ersetzen und damit eine gemeinsame europäische Rechtsprechung in vielen vielen
Bereichen ermöglicht haben - auch das eine Erfolgsgeschichte.
Der Beitritt der Bundesrepublik war seinerzeit nicht
ganz unumstritten. Er hat aber dazu beigetragen, daß die
junge deutsche Demokratie - 1950 wurde der Antrag
gestellt, 1951 kam die Mitgliedschaft - politikfähiger
wurde, als sie vorher war, denn er bedeutete die Aufnahme in die Familie der freien Völker Europas. Damals
- das ist nicht weit hergeholt - war es eine der Visionen
derjenigen, die diesen Beitritt Deutschlands unterstützt
haben, daß es vielleicht der erste Schritt zu einer WieWolfgang Behrendt
dervereinigung ist; denn der Europarat hat auch in der
Zeit des kalten Krieges immer wieder darauf hingewiesen, daß das geteilte Europa eines Tages wieder
geeint werden solle. Dieser Beitritt Deutschlands und
die Mitarbeit im Europarat waren eine der Voraussetzungen für die erfolgreich durchgeführte Wiedervereinigung.
Während des kalten Krieges war der Europarat lange
Zeit Feindbild Nummer eins. Deswegen war es eine
große Überraschung - es wurde bereits darauf hingewiesen -, als Gorbatschow 1989 ankündigte, er wolle als
sowjetischer Staatschef in Straßburg sprechen. Alle haben damals geglaubt, er wolle das Europäische Parlament besuchen. Er wollte aber zum Europarat sprechen
und hat dort folgendes Wort geprägt, das heute schon in
den Schulbüchern enthalten ist: Auch die Sowjetunion
will ihren Platz im europäischen Haus einnehmen. Dies war eine gewisse Initialzündung für die Reform in
den ehemaligen Staaten des Ostblocks.
Es gibt zwei Epochen des Europarates: Die erste
Epoche erstreckte sich über den Zeitraum von 1949 bis
1989. Die zweite Epoche begann mit dem Jahr 1989.
Die Aufgabe in dieser neuen Epoche lautet: Wie halten
wir es mit den neuen Mitgliedstaaten, also mit den jungen bzw. werdenden Demokratien Mittel- und Osteuropas? Wir haben damals eine harte Kontroverse über den
Beitritt Rußlands geführt. Die Mehrheit war der Meinung: Rußland ist zwar keine funktionierende Demokratie - historisch gesehen konnte Rußland es damals
auch gar nicht sein -, aber trotzdem wollen wir Rußland
auf dem Weg zur Demokratie helfend begleiten. Viele
Staaten aus dem ehemaligen Ostblock haben mit unserer
Unterstützung ihren Weg gefunden. Für manche - ich
nenne in diesem Zusammenhang Ungarn und Polen war der Weg der Demokratisierung relativ einfach. Für
andere Staaten wurde es schwieriger. Noch heute helfen
wir ihnen auf ihrem Weg zur Demokratie.
Ich will noch einen weiteren Aspekt nennen, den die
Bundesregierung mehr beachten sollte. Der Europarat ist
die einzige parlamentarische europäische Institution, in
der es einen ständigen parlamentarischen Dialog mit
russischen, rumänischen und tschechischen Abgeordneten gibt. Ich kenne keine andere Institution, in der ein
solcher Dialog in dieser Form möglich ist. Faszinierend
ist auch - wir haben es zum Teil bereits erlebt und werden es zum Teil noch erleben -, das Zusammenwachsen
des jahrzehntelang getrennten Europas zu beobachten.
Dieses Zusammenwachsen spielt sich in der Tat im Europarat ab und nicht - mit Verlaub gesagt - im Europäischen Parlament, in dem nur 15 Mitgliedstaaten aus
West- oder Mitteleuropa vertreten sind.
Nachdem der Europarat die Zahl seiner Mitglieder
wesentlich vergrößert hat, haben wir uns eine neue Aufgabe gesetzt, nämlich die Überprüfung der einzelnen
Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Verpflichtungen im
Bereich der Menschen- und Grundrechte. Es ist immer wieder interessant zu beobachten, daß schon der
moralisch-politische Druck des Europarates - er hat ja
keine Exekutive und kann keine Zwangsmaßnahmen
vollstrecken - manchmal ausreicht, um bei Ländern, die
sich nicht an die Normen gehalten haben, einen Sinneswandel herbeizuführen. Das betrifft nicht nur die neuen
Mitgliedstaaten. Wir haben auch Monitoring-Verfahren
gegen ältere Mitgliedstaaten eingeleitet. Ich möchte in
diesem Zusammenhang nur die Türkei erwähnen.
Der Europarat hat noch einen weiteren Wert. Die
Beitrittsverhandlungen mit den neuen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union wie Slowenien und Estland und
mit den neuen Mitgliedstaaten der NATO wie Polen,
Tschechien und Ungarn basieren bzw. basierten auf den
Erfahrungen des Europarates, die er bei seinen Aufnahmeverhandlungen mit diesen Ländern gemacht hat.
Es muß noch ein weiterer Wert des Europarates genannt werden: In diesem Gremium der Parlamentarier
aus 41 Staaten haben wir im Augenblick in Gesamteuropa die einzige Möglichkeit, daß sich Politiker als Mitglieder ihrer Parlamente bei der Wiederfindung einer
gemeinsamen europäischen Identität einbringen können.
Ich glaube, dieser Wert wird viel zuwenig beachtet.
Auch wenn sich die Arbeit des Europarates im Stillen
abspielt, ist sie doch eine Arbeit, die die europäische
Integration wesentlich vorantreibt.
Ich möchte der Bundesregierung sagen: Man sollte
den Europarat mehr als politisches Instrument nutzen.
({2})
Wer dem Europarat lange angehört hat, der hat erleben können, daß viele ehemalige Abgeordnete inzwischen Premierminister oder auch Außenminister in ihren
Heimatländern geworden sind. Man hat hier Querverbindungen politischer und auch menschlicher Art schaffen können, die, wenn sie richtig genutzt würden, für
eine weitere europäische Integrationspolitik von unschätzbarer Bedeutung wären. Auch daran muß erinnert
werden.
Ich möchte einige wenige Forderungen an den Schluß
meiner Ausführungen stellen. Wir, die wir hier als deutsche Delegation tätig sind, müssen, zusammen mit den
Kolleginnen und Kollegen aus den anderen 40 Mitgliedsländern, weiter am Bau des Hauses Europa arbeiten. Diese Arbeit hat bisher weitgehend im Stillen
und unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden.
Aber vielleicht ist die heutige Debatte gerade in der
Bundesrepublik Deutschland ein gewisser Durchbruch,
daß wir es zum Regelfall machen, einmal im Jahr in diesem Hause eine Debatte über Fragen des Europarates
durchzuführen.
Jenes Wort von Konrad Adenauer, das er vor 50 Jahren über den Europarat geprägt hat - „Der Europarat ist
das demokratische Gewissen und die politische Plattform der Begegnung“ -, ist heute meines Erachtens genauso aktuell wie damals. Wir sollten es in unsere politischen Überlegungen und Arbeiten einbeziehen.
({3})
Die Forderungen an die Bundesregierung, die ich angekündigt habe, sind relativ kurz. Helfen Sie dem Europarat, in der Öffentlichkeit den Stellenwert zu erhalten,
der ihm zusteht. Ich weiß, das ist ein sehr schwieriges
Unterfangen. Aber es wäre äußerst hilfreich, wenn sich
Klaus Bühler ({4})
die Bundesregierung mehr mit der Materie Europarat befassen und sich mehr dazu bekennen würde.
({5})
Zweitens. Man sollte - ich habe es gesagt - den Europarat viel mehr als politisches Instrumentarium nutzen. Andere Länder tun das in einer ungleich stärkeren
Art und Weise, als es die deutsche Seite tut. Ich mache
da gar keinen Unterschied zwischen den Regierungen
verschiedener politischer Couleur, sondern hier ist ein
grundsätzlicher Nachholbedarf vorhanden. Deswegen
diese zweite Bitte und Anregung.
Drittens. Die Bundesregierung sollte uns auch dahin
gehend unterstützen, daß es zu einer stärkeren Kompetenzabgrenzung zwischen den einzelnen europäischen
Organisationen kommt: zwischen dem Europarat, dem
Europäischen Parlament, der OSZE und anderen. Denn
wenn wir eine bessere Kompetenzabgrenzung erreichen
würden, wäre auch eine bessere Zusammenarbeit dieser
Organisationen gegeben. Das ist meines Erachtens dringend notwendig, um Überlappungen und Überkreuzungen zu vermeiden.
Viertens. Der Europarat benötigt auch eine Strukturreform. Als ich damals Mitglied der Versammlung geworden bin, waren es 23 Staaten, heute sind es 41. Ich
zähle manchmal, wenn ich nach Straßburg komme, die
Fahnen, um zu sehen, wie die augenblickliche Situation
ist. Da die Entwicklung so schnell vorangeschritten ist,
brauchen wir Strukturreformen, um auch die Finanzkraft
des Europarates zu stärken. Der Kollege hat vorhin darauf hingewiesen, wie umfangreich die Mittel sind. Von
daher, glaube ich, ist das eine Bitte, die durchaus als bescheiden bezeichnet werden kann.
Letzte Bitte und Anregung. Ich bitte die Bundesregierung und fordere sie auf, darauf hinzuwirken, daß die
Europäische Union der Europäischen Menschenrechtskonvention beitritt, statt im Alleingang das gleiche zu
tun, denn wir haben das im Europarat in hervorragender
Weise geregelt. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist das Kernstück des Europarates. Wir laden die
EU zur Mitgliedschaft ein.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Ludger Volmer. Bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in diesem Jahr schon viele Jubiläen gefeiert. Dennoch ist es wichtig, sich immer wieder vor
Augen zu halten, was sich in diesem halben Jahrhundert
geändert hat.
1949, als nicht nur das Haus, in dem wir jetzt tagen,
sondern auch der halbe Kontinent noch die frischen Spuren der Verwüstung durch den Krieg aufwies, wurde der
Europarat gegründet. Nach der Erfahrung von Diktatur
und Totalitarismus sowie der Katastrophe des zweiten
Weltkriegs war dies der erste Schritt zu etwas, was uns
heute in Europa als völlig selbstverständlich erscheint:
Multilateralismus. Von daher sind 50 Jahre Europarat
etwas ganz Besonderes.
Der Europarat stellte bewußt das gemeinsame Interesse der Staaten in den Vordergrund. Dabei gehört er zu
den ersten internationalen Organisationen, die dem
Schutz des einzelnen Menschen und seiner Rechte einen
verläßlichen Rahmen geboten haben. 50 Jahre Europarat
heißt eben auch: 50 Jahre europäischer Menschenrechtsschutz.
Dazu gehört als wichtiger Punkt der Beitrag des
Europarates bei der Abschaffung der Todesstrafe, um
nur ein Beispiel zu nennen. Darüber hinaus hat er bei der
Verrechtlichung der internationalen Beziehungen Pionierarbeit geleistet.
Nächstes Jahr werden wir den 50. Jahrestag der
Europäischen Menschenrechtskonvention feierlich begehen können. Daß der Europäische Menschenrechtsgerichtshof seit November letzten Jahres mit hauptamtlichen Richtern besetzt ist und ständig tagt, ist ebenfalls
ein wichtiger Schritt, um der steigenden Inanspruchnahme des Gerichtshofs gerecht zu werden, der inzwischen 800 Millionen Menschen als letzte Instanz zur
Durchsetzung ihrer Rechte offensteht.
({0})
Der Weg zu einer Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Staaten Westeuropas war alles andere als einfach. Aber mit dem Europarat hatten wir in der
Zeit des Umbruchs in Europa nach 1990 eine gesamteuropäische Organisation, in der sich alte und neue Demokratien auf der Grundlage gemeinsamer Werte von
Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
verbunden fühlten. In zwei Gipfeltreffen - 1993 in Wien
und 1997 in Straßburg - hat der Europarat auf die Ereignisse von 1989/90 reagiert und im Aktionsplan von
1997 seine Prioritäten neu definiert. Die Bundesregierung hat die Öffnung des Europarates für neue Mitglieder von Anfang an ebenso unterstützt wie den Ausbau
seiner Beratungsfunktion für die neuen Demokratien.
Momentan gehören der Wiederaufbau im Kosovo
und die Förderung der Stabilität in Südosteuropa zu
den wichtigsten aktuellen Aufgabenfeldern, die eine
Mitwirkung des Europarates erfordern. Im Kosovo trägt
der Europarat gemeinsam mit der OSZE zum Aufbau
von Verwaltung und Justiz bei.
Ebenso bedeutsam ist der Beitrag des Europarates
zum Stabilitätspakt für Südosteuropa. Am 7. Mai 1999
verabschiedete das Ministerkomitee des Europarates ein
Stabilitätsprogramm für die Region, das eine Vielzahl
von Aktionslinien zur Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen, zum Aufbau demokratischer und
rechtsstaatlicher Strukturen auf allen Ebenen sowie in
den Bereichen Kultur und Erziehung enthält.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich muß sich
auch der Europarat in seiner Funktionsweise an die geänderten Bedingungen anpassen. Aus den 23 MitglieKlaus Bühler ({1})
dern Ende der achtziger Jahre sind inzwischen 41 geworden. Dementsprechend bedarf die Arbeitsweise des
Sekretariats einer Reform.
Der im Vorjahr erarbeitete Bericht der Weisen ist
hierfür eine geeignete Grundlage. Begrenzte finanzielle
Mittel machen bei der Vielzahl der Aufgabenbereiche
eine Prioritätensetzung notwendig. Wir sollten realistischerweise nicht davon ausgehen, daß das Budget des
Europarates in nächster Zeit deutlich angehoben wird.
Den neuen Generalsekretär Walter Schwimmer ermutigen wir, die ins Auge gefaßte Verschlankung und Neuorganisation des Sekretariats zügig durchzuführen.
Dabei möchte ich den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen
des Sekretariats hinsichtlich Einsatz, Kenntnis und Initiative den gebührenden Respekt zollen.
({2})
Auch die Umstellungsprobleme des Europäischen
Menschenrechtsgerichtshofes und die Forderung nach
mehr finanziellen Mitteln und Personal für ihn sind uns
bekannt. Die Bundesregierung wird sich berechtigten
Mehranforderungen nicht versagen, sich zugleich aber
auch für die Verbesserung der Arbeitsweise und für
notwendige Strukturreformen einsetzen.
Neben den Strukturen des Europarates selbst sollte
auch die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen verbessert werden. Die Erfahrungen mit Bosnien
und dem Kosovo haben uns gezeigt, daß internationale
Krisen nur in enger Zusammenarbeit internationaler Organisationen beigelegt werden können.
({3})
Eine Intensivierung der Kooperation zwischen dem
Europarat und der Europäischen Union und der OSZE
wird daher in dem vorliegenden Antrag völlig zu Recht
gefordert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 50 Jahre Europarat
- wie geht es weiter? Natürlich steht der Europarat als
gesamteuropäische Organisation allen Staaten Europas
offen. Diese Öffnung kann allerdings kein Selbstzweck
sein. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind das Fundament für ein friedliches Zusammenleben. Allen Staaten Europas, ob Beitritts- oder Mitgliedstaaten, muß klar sein, daß diese von ihnen eingegangenen Verpflichtungen auch eingehalten werden
müssen. Insofern ist das Monitoring, das vom Ministerkomitee, von der Parlamentarischen Versammlung und
dem Kongreß der Gemeinden und Regionen Europas
durchgeführt wird, hilfreich und nützlich.
Mit dem Amt des Menschenrechtskommissars wurde zudem ein neues Instrument geschaffen, die Umsetzung der Verpflichtungen in diesem Bereich zu verfolgen. Wir werden aufmerksam beobachten, inwieweit die
Beitrittskandidaten auf die von Ministerkomitee und
Parlamentarischer Versammlung vorgelegten Vorgaben
eingehen.
Der Europarat hat auch im 21. Jahrhundert eine klare
Perspektive: Zum einen nimmt die Durchsetzung und
Überwachung der insgesamt 173 Konventionen bei steigender Mitgliederzahl zunehmend Kräfte der Organisation in Anspruch. Das sollte ihn aber nicht davon abhalten, sich neuer Bereiche wie der Biogenetik und der
neuen Informationstechnologien anzunehmen. Gerade
dort ist es nötig, auf europäischer Ebene zu einer Normensetzung und einem klaren Rechtsrahmen zu kommen.
({4})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, seine Grundaufgaben sind nach wie vor auch heute aktuell: Der
Schutz der Menschenrechte, die Konsolidierung und
Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die
Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,
der Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption, die Pflege der europäischen Kultur als Teil unserer
Identität und die Erziehung zum verantwortlichen Bürger - in all dem sind wir zwar weit vorangekommen,
dürfen aber nicht stehenbleiben.
Für diese Aufgabe wünsche ich dem Europarat auch
für die nächsten 50 Jahre viel Erfolg. Die Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, die Rolle des Europarates zu stärken.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am
Anfang eine kritische Bemerkung machen. Ich halte die
Art, wie wir hier das Jubiläum 50 Jahre Europarat begehen, nicht für ganz angemessen.
({0})
Es hätte andere Möglichkeiten gegeben.
Ich begrüße es sehr, daß hochrangige Vertreter aus
Straßburg hier bei uns auf der Tribüne sitzen. Es wäre
aber möglich gewesen, daß der Präsident der Parlamentarischen Versammlung Lord Russell Johnston heute
nach Berlin gekommen wäre und hier zu uns gesprochen
hätte. Das hätte nur einer Änderung bedurft, daß wir
eine Feierstunde von 30 Minuten Dauer eingerichtet
hätten. Dann hätte unser Präsident sprechen können,
Lord Russell hätte sprechen können, und wir hätten dieser Gedenkstunde ein internationales und europäisches
Flair geben können. Das war aus einer gewissen Beamten- oder Geschäftsordnungsmentalität hier leider nicht
durchzusetzen.
({1})
Ebenso will ich bei dieser Gelegenheit erneut monieren, daß bei Durchsicht des Kalenders für das Jahr 2000
wiederum auffällt, daß der Deutsche Bundestag seine
Plenarsitzungen just so gelegt hat, daß jedesmal Überschneidungen mit den Plenarsitzungen der Parlamentarischen Versammlung in Straßburg bestehen. Das bedeutet, daß unsere Delegation, die von Ihnen allen hier
nach Straßburg geschickt worden ist, ihre Arbeit dort
nur unzulänglich erledigen kann, weil wir ja hier in Berlin während der Plenarwochen auch Aufgaben und Verpflichtungen haben, wie jeder weiß.
Ich habe den Eindruck, daß diese Terminierung bewußt so gehandhabt worden ist. Ich sage das hier, weil
das ein Monitum ist. Wir beanstanden das seit vielen
Jahren, und es hat nie etwas genützt.
({2})
Nach diesen bösen Bemerkungen will ich das auch
noch unterfüttern. Es besteht nämlich die Gefahr, meine
lieben Kollegen, daß die Kollegen aus den anderen Ländern langsam so ein wenig den Eindruck entwickeln, die
Deutschen haben ihr Schäfchen ins trockene gebracht,
sie haben ihre deutsche Einheit, und jetzt können sie
sich abwenden, jetzt sind sie gar nicht mehr so gefordert,
jetzt brauchen sie den internationalen Dingen nicht mehr
die gleiche Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Meine Damen und Herren, diese Gefahr ist gegeben.
({3})
Die Kollegen, die mit mir im Europarat sind, werden
das bestätigen. Wir sitzen jetzt hier in einem großartigen
hauptstädtischen Ambiente, aber wir laufen Gefahr, daß
wir inhaltlich zur Dackelprovinz verkommen, wie das
mein Freund Rainer Stinner zu nennen pflegt.
Meine Damen und Herren, passen wir auf: Wir müssen der internationalen Verantwortung, in der wir stehen, gerecht werden. Die Kollegen Berendt und Bühler,
die hier gesprochen haben, haben vollkommen recht. Sie
haben alles richtig gesagt; ich kann das nur unterstreichen. Deshalb will ich jetzt nur noch einen zusätzlichen
Aspekt hinzufügen. Der Europarat ist, wenn Sie so wollen, ein Zwischenhafen für all die Länder, die sich heute
für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union - da
wollen sie alle hin - noch nicht qualifizieren. Insofern
ist der Europarat von eminenter Bedeutung für das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Menschen wollen
nicht nur wegen der wirtschaftlichen Vorteile in die
Europäische Union. Es gibt ja auch wirtschaftliche
Schwierigkeiten. Vielmehr wollen sie hauptsächlich in
die Europäische Union bzw. nach Europa, weil sie nach
50 Jahren brutaler gewaltsamer Trennung wieder das
Gefühl haben wollen: Wir gehören dazu, wir sind ein
Teil dieses Europas.
({4})
Wir, die wir das Glück hatten, auf der „richtigen“
Seite, auf der Sonnenseite des Kontinents unsere eigene
politische Sozialisation zu erleben, haben die Aufgabe,
den anderen dabei zu helfen. Dabei sollten wir nie vergessen: Wir reden viel über Sicherheitspolitik, über
Verteidigung - über Wirtschaftspolitik sowieso. Aber
Europa besteht nicht nur aus Divisionen und Dividenden, sondern der Begriff Europa reicht weit über das
hinaus.
({5})
Das ist es, was ich als die kulturelle Identität bezeichnen möchte, die wir erst langsam wiedergewinnen müssen.
Was war Europa denn früher, im Mittelalter oder im
19. Jahrhundert? Es gab keine Grenzen. Man hat sich
gegenseitig befruchtet. Man hat die Ideen, die in anderen
Ländern und Facetten der europäischen Kultur entwikkelt wurden, aufgenommen und weiterverarbeitet. Man
hatte vor anderen keine Angst. Man hatte keine Angst
vor Überfremdung.
Ich habe heute übrigens Angst vor Überfremdung
durch künstlich herbeigeführte, in der Werbung propagierte Anglizismen. Dem Verein zur Wahrung der deutschen Sprache in Dortmund zolle ich Respekt. Er leistet
Großartiges. Ich finde es gut, daß man für den Mißbrauch der deutschen Sprache eine „Zitrone“ verleiht.
Abgesehen davon habe ich keine Angst vor Überfremdung. Ich bin froh, wenn ich im Europarat mit den
Kollegen zusammentreffe, die einen anderen gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund haben und von
denen ich etwas lernen kann.
Das klassische Beispiel für das, was einmal war, was
von den Nazis brutal zerstört wurde und was wir eigentlich wieder aufbauen sollten, war die Stadt Prag - ich
nenne sie hier nur symbolisch - mit ihren drei Kulturen,
nämlich der tschechischen, der deutschen und der jüdischen Kultur. Dies haben die Nazis brutal zerschlagen.
Das alte geistige Prag, das zum Beispiel Schriftsteller
wie Kafka und Musiker wie Dvorak und Smetana - ich
möchte nur einige Namen nennen - hervorgebracht hat,
das ein Zentrum der deutschen, der tschechischen und
der jüdischen Kultur gewesen ist und das eine Einheit
bildete, innerhalb derer man sich gegenseitig befruchtet
hat, ist für mich nach wie vor das Sinnbild dessen, was
ich mir unter dem neuen Europa vorstelle.
({6})
Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade der
Europarat ist das Gremium, in dem wir für die Verwirklichung dieser Ziele arbeiten können. Es geht um sehr
handfeste Fragen und große Probleme. Es geht zum Beispiel darum, daß manche der neu hinzugenommenen
Mitgliedstaaten die Verpflichtungen, die sie übernommen haben, nicht sorgfältig genug erfüllen. Dafür haben
wir ein Überwachungsverfahren eingeführt, dessen
Durchführung wir sehr ernsthaft betreiben müssen.
Aber wir treten den anderen nicht lediglich mit dem
erhobenen Zeigefinger als Lehrmeister entgegen, sondern wir erinnern ebenfalls daran: Auch wir mußten erst
lernen. Als wir nach dem zweiten Weltkrieg aus einem
verbrecherischen Staat herauskamen, haben uns die SieUlrich Irmer
ger, vor allem die Amerikaner, die Demokratie ja Gott
sei Dank aufoktroyiert. Die haben wir nicht erfunden.
Vielmehr ist sie uns sozusagen als Geschenk überreicht
worden.
In den neuen Demokratien ist all dies nicht der Fall.
Wir können uns bemühen zu helfen. Aber wir können
keinerlei Zwang ausüben. Das wollen wir auch gar
nicht. Aber wir sollten Beispiele setzen. Deshalb ist der
gesittete, stilvolle demokratische Umgang unterschiedlicher politischer Richtungen bzw. Parteien miteinander
ein ganz hohes Gut. Wir müssen vorführen, daß wir den
Pluralismus ernst nehmen und dadurch - vielleicht
durch unser Beispiel - zeigen können, was in Zukunft in
Europa werden sollte und werden kann. Ich glaube, dann
übergeben wir unseren Nachfolgern für die nächsten
50 Jahre ein Erbe, dessen Pflege sich lohnt.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nun hat der Kollege
Manfred Müller, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Europarat vor
50 Jahren ins Leben gerufen wurde, waren die Erinnerungen an den mörderischen Krieg und die Schreckensherrschaft der deutschen Besatzung noch frisch. Der
Europarat sollte nicht nur die Wunden des Krieges heilen helfen und die Annährung zwischen den europäischen Nationen fördern. Er sollte auch in den europäischen Ländern selbst die Bedingungen für ein friedliches
Miteinander auf dem alten Kontinent schaffen. Pluralismus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung
grundlegender Menschenrechte waren und sind der
Kern, aus dem sich so etwas wie eine gemeinsame europäische Identität entwickeln kann.
Es waren und sind diese Werte, von denen sich der
Europarat bei der Verabschiedung seiner mittlerweile
über 170 Konventionen leiten ließ und leiten läßt. Der
Europarat hat damit europäische Rechtsgeschichte geschrieben. Er hat aber auch grundlegende Weichenstellungen im Bereich der sozialen Menschenrechte ermöglicht.
Der Europarat war 40 Jahre lang ein Westeuroparat nicht weil er das sein wollte, sondern weil seine wesentlichen politischen Werte im Osten Europas oftmals auf
dem Index standen. Doch auch im Westen Europas gab
es bei der Umsetzung von sozialen Menschenrechten
keinen Automatismus. Soziale Gerechtigkeit und die
Gleichberechtigung der Geschlechter - um nur zwei
Beispiele zu nennen - mußten in oft harten politischen
Auseinandersetzungen erkämpft werden. Dieser Kampf
- das wissen wir - ist noch längst nicht ausgestanden.
Nach wie vor stehen soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung auch bei uns allzuoft nur auf dem Papier.
Der Europarat hingegen hat in seinen Konventionen
keinen Zweifel gelassen, daß soziale Menschenrechte
und Freiheitsrechte zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, ohne die eine menschliche Gesellschaft nicht
aufzubauen ist.
Es gehört zu den Verdiensten des Europarats, sich sofort nach der historischen Wende von 1989 nach Osten
geöffnet zu haben. Der Europarat hat damit zusammen
mit dem KSZE-Prozeß einen unschätzbaren Beitrag für
die Einheit unseres Kontinents geleistet. Diese Öffnung
nämlich war vor allem ein Signal an die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, ein Integrationssignal,
das zu einem Zeitpunkt erging, da den mittelosteuropäischen Staaten viele andere europäische Türen noch verschlossen waren.
({0})
Der Europarat hat diese Öffnung in einigen Fällen
vollzogen, obwohl die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft noch nicht gänzlich gegeben waren. So richtig das damals war, so energisch muß der Rat heute auf
die vollständige und verläßliche Anwendung der von
ihm gesetzten Prinzipien in allen seinen Mitgliedsländern drängen. Gleichzeitig muß der Europarat weitaus
intensiver als bisher mit anderen europäischen Institutionen zusammenarbeiten. Dies gilt vor allem für die
OSZE, hier insbesondere im Bereich der Krisenprävention, beim Schutz nationaler Minderheiten und beim
Aufbau demokratischer Institutionen.
Wenn heute russische Kampfflieger zivile Ziele in
Tschetschenien bombardieren, dann ist es richtig, wenn
der Europarat seine Stimme laut erhebt
({1})
und die russische Führung deutlich daran erinnert, daß
man Terror nicht mit staatlich sanktionierten Terrorangriffen auf Unschuldige beantworten kann.
Von allen Rednerinnen und Rednern ist hier schon
gesagt worden, daß die Macht des Europarats klar begrenzt ist. Er ist nicht dazu geschaffen, das Kind aus
dem Brunnen zu holen. Seine Aufgabe ist es, verhindern
zu helfen, daß es hineinfällt. Konkret heißt dies: Nur
über ein verbessertes Monitoring-Verfahren wird der
Europarat seinen Beitrag zur Krisenprävention in Europa leisten können. Nur wenn der Europarat als Frühwarnsystem in Sachen Demokratiedefizit, Rechtsbruch
und Menschenrechtsverletzung fungiert, kann er dazu
beitragen, Ursachen von Krisen zu erkennen, bevor sie
zu gewaltsamen Konflikten eskalieren.
In Jugoslawien ist das nicht geschehen - nicht etwa
weil der Europarat versagt hat, sondern weil internationales Recht gebrochen worden ist. Das gleiche gilt für
den russischen Feldzug in Tschetschenien und Dagestan,
ebenso für das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung,
({2})
von der skandalösen Behandlung politischer Gefangener
in türkischen Gefängnissen ganz zu schweigen.
So entschieden der Europarat bei Menschenrechtsverletzungen reagieren muß, so dialogbereit muß er in
jedem Stadium bleiben. Diese Balance zu halten ist im
Einzelfall oft schwierig. Doch genau darin liegt die
Stärke des Europarats. Er beharrt auf seinen Grundsätzen und sucht bei allen Unterschieden gleichzeitig das
Gemeinsame.
Leider ist mindestens eine Fraktion in diesem Bundestag von dieser politischen Kultur ziemlich weit entfernt. Sonst wäre der vorliegende Antrag zum 50. Jahrestag des Europarates ein gemeinsamer Antrag aller
Fraktionen. Ich habe bei der Abfassung dieses Antrags
an die Bundesregierung mitgewirkt; ich habe ihn unterzeichnet. Gleichwohl findet sich unsere Fraktion nicht
unter den Antragstellern. Das ist für uns aber kein
Grund, den Antrag abzulehnen. Wir unterstützen ihn und
hoffen, daß dieses kleinkarierte Miteinander-Umgehen
endlich ein Ende haben wird.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun
der Kollege Rudolf Bindig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Es ist bereits mehrmals betont worden: Im Zentrum des Europarates stehen die
Menschenrechte, genaugenommen - so heißt es im entsprechenden Text - die Achtung und der Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten. Um diese Prinzipien und Standards herum ist ein System von Konventionen und Institutionen entstanden. Bei den Konventionen sind es neben der Europäischen Menschenrechtskonvention vor allem das Europäische Übereinkommen
zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, die Europäische
Sozialcharta und die Europaratsregelungen zum Schutz
nationaler Minderheiten. Da es beim Schutz nationaler
Minderheiten über Jahre hinweg nicht gelungen war,
Prinzipien und Standards festzulegen, halte ich die Erfolge, die in den letzten Jahren auf diesem Gebiet im Europarat erzielt worden sind, für eine wichtige Errungenschaft.
({0})
Für die Implementierung der im jeweiligen Abkommen niedergelegten Rechte und Prinzipien sind eine
Reihe von Institutionen und Gremien geschaffen worden. Eigentlich gibt es für jedes dieser Abkommen ein
Vertragsgremium. Es hat unterschiedliche Rechte,
manchmal nur beratende Rechte. Manchmal ist es ein
Ausschuß, der Staatenberichte entgegenzunehmen hat.
Im Zentrum aller Institutionen jedoch stehen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sowie das
Amt des Beauftragten des Europarates für Menschenrechte, das zum 1. Januar 2000 mit der Arbeit beginnen wird.
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ist so,
wie er jetzt konzipiert worden ist, ein ganz großer Fortschritt. Mit dem 11. Zusatzprotokoll ist ein Durchbruch
im Völkerrecht erzielt worden. Die Strukturreform, von
der vorhin gesprochen worden ist, hat meiner Meinung
nach schon stattgefunden; denn jetzt gibt es einen einheitlichen Menschenrechtsgerichtshof mit hauptamtlichen Richtern. Noch nicht alle haben richtig erkannt,
welche Dimension das hat: Von Island bis nach Malta,
von Portugal - genaugenommen: von Madeira - bis
nach Wladiwostok reicht die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes. Jetzt kommt es darauf an, daß er auch genutzt wird und daß nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges Fälle dort anhängig werden.
({1})
Richtig wirken wird er erst, wenn die ersten Fälle aus
Dagestan, aus Inguschetien, aus Wladiwostok und aus
Kamtschatka vor diesem Gerichtshof verhandelt werden,
damit die vorhandenen normativen Prinzipien und Standards wirklich zum Tragen kommen. 800 Millionen
Menschen haben die Möglichkeit, sich an diesen Gerichtshof zu wenden.
Was die Durchsetzung der Rechte angeht, möchte ich
das schon mehrmals erwähnte Monitorverfahren nennen. Bei der Aufnahme der neuen Mitgliedsländer in den
Europarat hat man zunächst einmal das Rechts- und das
Regierungssystem durch herausragende Juristen sehr
sorgfältig analysiert. Man hat Defizite festgestellt und
Berichterstatter ernannt. Im Dialog mit den Ländern ist
dann ein Teil der Lücken geschlossen worden. Danach
wurden die Länder aufgenommen und haben eine Reihe
von Verpflichtungen übernommen. Die Einhaltung dieser Verpflichtungen jetzt auch wirklich zu überwachen
sind mühselige, zähe Arbeitsschritte. Aber ich muß sagen: Ich hatte die Ehre, die Aufnahme und das MonitorVerfahren für zwei Länder mit zu begleiten, für Estland
und jetzt für die Russische Föderation. Ich bin immer
wieder erstaunt und auch erfreut, wie es mit der Autorität des Europarats im Rücken gelingt, daß man
sich einzelne Gesetze vornimmt und darüber berät und
daß in Fachgesprächen versucht wird, eine Lösung zu
finden. In dieser konstruktiven Weise wird versucht, das
jeweilige Gesetz an die Prinzipien und Standards der
Demokratien anzupassen. Das ist ein sehr wichtiger
Vorgang.
({2})
Eine Frage, die oft diskutiert wird, ist: Wie steht es
um den Europarat, und wie steht es um das, was früher
die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa war und jetzt Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa genannt wird? An dem
Wechsel der Begrifflichkeit kann man ersehen, daß sich
dort bereits Organisationsstrukturen herausgebildet haben. Ich glaube, daß beide Institutionen wichtige Dokumente vorgelegt haben. Gerade die KSZE hat mit den
Kopenhagener Dokumenten wichtige Bezugspunkte gesetzt. Nur, es liegt eben ein Unterschied darin, ob man
ein Programm mit politischen Prinzipien und Vertragserwartungen formuliert oder ob es sich um Regelungen
wie die des Europarates handelt, in denen versucht wird,
die Prinzipien und Standards in justitiabler Form zu fasManfred Müller ({3})
sen und umzusetzen. Ich sehe mit Bedauern, daß dieser
Prozeß, die Prinzipien verbindlicher, rechtsförmiger und
überprüfbar zu machen, nicht überall genug geschätzt
wird. Man erkennt nicht überall, daß der Europarat hier
eine Schlüsselrolle hat und sie auch behalten muß, wenn
die Prinzipien umgesetzt werden sollen.
({4})
Ich habe einmal einen klugen Vortrag einer schweizer
Kennerin des europäischen Menschenrechtssystems gehört. Sie hat gesagt: Bei der OSZE steht die Politik letztlich über den Prinzipien, während beim Europarat die
Prinzipien über der Politik stehen, weil sich die Politik
formal an die Rechte, die in den Konventionen enthalten
sind, bindet. Das ist natürlich sehr wichtig. Denn man
will ja nicht ein Programm, sondern einen verbindlichen
Standard erreichen, an den sich die Länder zu halten haben und von dem sie nicht abweichen dürfen.
Ich will ein weiteres Problemfeld nennen, das in der
Diskussion ist. Auf der einen Seite gibt es die Europäische Menschenrechtskonvention, auf der anderen Seite
gibt es die Debatte über die Charta der Grundrechte
der Europäischen Union. Wir müssen auf jeden Fall
vermeiden, daß es hier zu einem Auseinanderdriften der
kodifizierten Menschenrechte und der Grundfreiheiten
kommt. Vielmehr muß das Ganze integriert geschehen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention ist durch
die Rechtsprechung der Konventionsorgane zu einer
gemeinsamen europäischen „bill of rights“ geworden.
Die in der MRK einschließlich ihrer Protokolle gewährleisteten Rechte sollten deshalb meiner Meinung nach
vollständig und unverändert in das Gemeinschaftsrecht
der Union übernommen werden, um dieses Auseinanderdriften zu verhindern.
({5})
Durch Beitritt der EU zur EMRK wäre das möglich. Die
Grundrechtscharta könnte die Europäische Menschenrechtskonvention durch zusätzliche Bestimmungen
vielleicht spezifizieren und ergänzen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der sozialen Grundrechte und
für die Aufnahme von Rechten, die den Umweltschutz
und die Auswirkungen der sich rapide entwickelnden
Biotechnologie auf die Integrität und Selbstbestimmung
des einzelnen betreffen. Das wäre eine Möglichkeit, das
miteinander zu verzahnen. Aber der Kern muß der hohe
Standard sein, und es darf nicht zu einer Aufweichung
kommen. Es ist ganz wichtig, den hohen Schutzstandard
zu erhalten.
({6})
Wenn wir in den verschiedenen Ländern die Gremien
des Europarates, die entstanden sind, insbesondere den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, loben
- in vielen nationalen Parlamenten wird das getan -,
dann müssen wir berücksichtigen, daß dieses System
doch mit zwei Punkten steht oder fällt. Der eine Punkt
ist, daß alle Länder die Urteile, die gefällt werden, akzeptieren und umsetzen. Das geschieht bisher, auch
wenn es bei einzelnen Ländern immer mal Probleme gegeben hat. Aber letztlich akzeptieren sie die Rechtsprechung und setzen sie um.
Der zweite Punkt ist: Wir müssen diese Gremien auch
ausreichend mit Mitteln ausstatten. Ich sage das so deutlich, auch wenn ich weiß, daß das ein Problem ist.
({7})
Es hat keinen Sinn, solch wichtige Einrichtungen zu
schaffen und sie dann an ganz kurzer finanzieller Leine
zu halten, so daß sie kaum arbeiten können. Wenn man
einmal begriffen hat, daß das auch Prävention sein kann,
und man die Ausgaben für Prävention in ein Verhältnis
zu den Ausgaben setzt, die man hat, wenn sich ein entstandener Konflikt in großem Umfange entwickelt dann sind die Kosten um eine Zehnerpotenz höher.
({8})
Dann weiß man: Wir müssen trotz aller Schwierigkeiten
über eine ausreichende Mittelausstattung nachdenken.
Das ist eine Aufgabe, die der Bundestag hat, die alle nationalen Parlamente haben, wenn sie diesen wichtigen
Mechanismus erhalten, stärken und ausbauen wollen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun
der Kollege Benno Zierer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Mai dieses Jahres
konnte der Europarat seinen 50. Geburtstag begehen. Es
war ein Jubiläum ohne Pauken, ohne Paraden - fast ein
bißchen zu still. Der Kollege Irmer hat dankenswerterweise bereits darauf hingewiesen. Wer die Leute auf der
Straße oder den einen oder anderen Politiker fragt, was
sie über den Europarat wissen, bekommt in der Regel
noch immer enttäuschende Antworten. Und so war eben
auch das Jubiläum kein Medienereignis.
Als der Europarat nach der Katastrophe des letzten
großen Krieges gegründet wurde, stand die Sehnsucht
nach Freiheit und garantierten Menschenrechten Pate.
Von daher hat sich die starke Wertebezogenheit des Europarates bis heute erhalten. Die Aufnahme einer Reihe
ehemaliger Ostblockstaaten hat dies deutlich gemacht.
Dem Europarat ist hauptsächlich daran gelegen, in diesen Ländern die Entwicklung zu stabilen rechtsstaatlichen Demokratien zu fördern.
Ein „Leuchtturm der Freiheit und der Menschenrechte“ sollte der Europarat werden, so lautete von Anfang an pathetisch die Grundintention des Zusammenschlusses der damals zehn Länder - ein gewaltiger Anspruch, wenn man bedenkt, daß sich dieses Europa zwei
Jahrtausende lang im Kampf um Kronen und Reiche, um
Grenzen und Glauben bis an den Rand der Selbstzerfleischung befehdet hatte. Die europäischen Mitgliedstaaten
erkannten damals, daß sie auf lange Sicht nur diese eine
Wahl hatten, nämlich entweder die nationalen Gegensätze zu überwinden oder im nächsten Waffengang, der
dann unausweichlich kommen würde, unterzugehen.
Und noch ein Leitbild wurde für den Europarat von
Anfang an verbindlich: Es ist die starke Einbeziehung
der Kommunen in das europäische Einigungswerk.
Damit nimmt der Rat ein Anliegen vorweg, das sich
heute, 50 Jahre später, als von zentraler Bedeutung für
den weiteren Gang der Entwicklung erweist: die Verankerung der europäischen Idee im Bewußtsein seiner
Bürgerinnen und Bürger. Denn wenn wir es nicht schaffen, eine europäische Bürgerschaft zu begründen, wird
die Einheit Europas auf Jahrzehnte hinaus Stückwerk
bleiben.
({0})
Ein zentrales Anliegen des Europarates ist es daher,
die Beteiligung der Kommunen am Prozeß des Kennenlernens und des Zusammenfindens der Menschen in Europa zu fördern. Man kann nur den akzeptieren oder gar
mögen, den man kennt. Dementsprechend müssen sich
die Menschen Europas erst einmal kennenlernen, bevor
sie sich sympathisch finden und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln können. Wo könnte das Sichgegenseitig-Kennenlernen besser stattfinden als in den
Kommunen?
So hat sich auf der Ebene der Städte, der Gemeinden
und der Landkreise im Laufe der Zeit ein reger Austausch von Besuchergruppen entwickelt. Die zahlreichen
Partnerschaften zwischen den Kommunen Europas
sind zu einem überaus aktiven und vitalen Forum der
Begegnung geworden. Es gibt kaum eine größere Stadt
in Deutschland, die nicht eine oder mehrere Partnerstädte im europäischen Ausland hat, kaum eine Gemeinde, die nicht selbst oder über den Landkreis, dem sie angehört, ihre Fühler ins Ausland ausstreckt und Kontakte
herstellt, die allmählich zu einem integralen Bestandteil
des öffentlichen Lebens werden.
Der Europarat erachtet es als eine seiner wichtigsten
Aufgaben, diesen Austausch zu fördern. Gerade für Jugendliche ist es besonders bedeutsam und fruchtbar, daß
sie, etwa im Rahmen des Schüleraustauschs oder durch
Schulfahrten, ihre europäischen Nachbarn kennenlernen.
({1})
Die Kommunen leisten bei dieser Aufgabe einen unschätzbaren und unersetzlichen Beitrag. Der Europarat
hat daher einen eigenen Ausschuß ins Leben gerufen,
der diese Aktivitäten mit der Vergabe eines Europapreises honorieren und einen Anreiz zur Fortsetzung des
Engagements bieten will. Der Ausschuß, dem ich die
Ehre habe vorzusitzen, vergibt einen Europapreis in abgestufter Form: als Ehrenplakette, als Europadiplom, als
Ehrenfahne und als eigentlich großen Europapreis, als
Prix de l'Europe. Ich muß sagen: Es ist überaus erfreulich, zu beobachten, mit welcher Begeisterung viele
Städte und Gemeinden die Kontaktpflege zu ihren Partnerstädten betreiben. Hier keimt etwas auf, was uns trotz
vieler noch bestehender Defizite hoffnungsvoll stimmen
darf. Ich bin gewiß, daß diese Kultur des Austauschs,
die auf immer mehr Schultern ruht, der Integration von
unten einen erheblichen Impuls verleiht.
Nicht ohne einen gewissen Stolz darf ich in diesem
Zusammenhang erwähnen, daß gerade mein Heimatland
Bayern mit über 700 Partnerschaften die höchste Zahl
im ganzen Bundesgebiet aufweist.
({2})
Ich sehe darin auch einen Beweis für die Aufgeschlossenheit und Weltoffenheit der Bayern,
({3})
denen gelegentlich die Stämme nördlich der Main-Linie
das Gegenteil unterstellen.
Dabei stehen Partnerschaften mit französischen
Kommunen an erster Stelle. Das ist ein schöner Beleg
dafür, daß die deutsch-französische Aussöhnung als
gelungen betrachtet werden kann und daß das französisch-deutsche Verhältnis trotz aller gelegentlichen Irritationen längst in die Dimension des Alltags hineingewachsen und damit unempfindlich gegen die jeweilige
politische Wetterlage geworden ist. Wer sich an die böse
Vokabel vom „Erbfeind“ erinnert, mag ermessen, welche historische Wegstrecke wir bei allen Enttäuschungen und Verzögerungen schon zurückgelegt haben.
({4})
Besonders erfreulich ist bei diesen Kontakten, daß sie
keineswegs nur eine Sache der Honoratioren ist, sondern
von den örtlichen Vereinen, Verbänden und Schulen mit
echter Freude mitgetragen wird. Es ist mir daher eine
angenehme Pflicht, mich von dieser Stelle aus bei allen
Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu bedanken, die sich
an diesen Begegnungen beteiligen. Ihr Anteil am großen
geschichtlichen Prozeß der europäischen Integration
kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
({5})
Denn all jene, die im Geist der Freundschaft auf ihre
Nachbarn zugehen, bauen mit am Europa von morgen,
das unseren Kindern und Kindeskindern dereinst ersparen soll, wofür unsere Vorfahren geblutet und gelitten
haben.
50 Jahre Europarat heißt auch, einen Augenblick innezuhalten und auf die bereits gegangene Wegstrecke
zurückzublicken. Vieles wurde geschaffen, vieles liegt
noch vor uns. Europa - das ist die moderne Reichsidee
entkleidet aller aggressiven, imperialistischen und ideologischen Attribute. Was seit den letzten Tagen des Imperium Romanum im europäischen Denken und Handeln immer wieder auftauchte, was die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation beseelte, war
die Sehnsucht nach einem einheitlichen Europa - mit
seiner jahrtausendealten Kultur und seinem geistigen Inhalten, aber auch mit seinen Irrungen und seinem ganzen
Schrecken.
Heute eröffnet sich uns die Chance, einen uralten
Menschheitstraum in geläuterter Form zu verwirklichen.
Dieser Traum begann erst dann konkrete Gestalt anzunehmen, als Europa bereits am Ende schien. Was an den
Schützengräben und Bombenruinen des hoffentlich
letzten großen Krieges in Europa begann, hat sich zu
einer der faszinierendsten Visionen des 20. Jahrhunderts
entwickelt. Doch wir wollen keinen neuen Leviathan
schaffen, kein zentralistisches Gebilde, das von Bürokraten regiert wird.
Wir wollen auch keinen nihilistischen, werteindifferenten politischen Großverbund, der seine Legitimation
nur aus Sachzwängen speist. Wir wollen ein buntes, wir
wollen ein mannigfaltiges Europa im Geiste des Humanismus und des Christentums, voller lebendiger Traditionen und eingedenk seiner eigenen reichen, aber auch
leidvollen Geschichte.
({6})
Wenn der Europarat ein wenig dazu beitragen konnte, so
hat er sich - in aller Bescheidenheit - vollauf bewährt.
Ich bedanke mich.
({7})
Das Wort hat nun
die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute feiern wir - wieder einmal in diesem
Jahr - einen 50. Geburtstag. Wir tun dem Geburtstagskind Europarat sicher keinen Gefallen, wenn ein solches
Feiern zu einem einmaligen diplomatischen Akt erstarrt.
Dann wäre es eher eine Art Einbalsamierungsritual. Ein
würdiges Begehen dieses Jubiläums ist die aktive und
kontinuierliche Vergegenwärtigung der Bedeutung des
Europarats für den Schutz der Menschenrechte, für den
Wert und die Achtung der Grund- und Menschenrechte
sowie für die Demokratisierung, und zwar nicht nur in
Mittel- und Osteuropa.
Vergegenwärtigung heißt aber gerade heute, nicht die
Augen, die Ohren und den Mund vor dem zu verschließen, was ebenfalls Realität ist. Realität ist, daß seit Tagen die russische Luftwaffe die tschetschenische
Hauptstadt Grosny bombardiert, Wohnviertel, Krankenhäuser und zivile Versorgungseinrichtungen zerstört.
Hunderttausende von Menschen sind auf der Flucht, leiden Kälte und Hunger an den gesperrten Grenzen zu Inguschetien und Dagestan. Nichts, aber auch gar nichts
rechtfertigt eine solche Aggression.
({0})
Sie ist eine eklatante Menschenrechtsverletzung, begangen vom Europaratsmitglied Rußland. Die Reaktionen
darauf sind merkwürdig verhalten, zu verhalten. Glaubwürdigkeit basiert darauf, Kritik zu üben, wo Kritik
notwendig ist, Druck auszuüben, wo Druck notwendig ist, Defizite einzugestehen, wo Defizite sind. Also
muß es in Zukunft vor allem darum gehen, eine sehr
viel strengere Kontrolle über die Implementierung der
Konventionen des Europarats in seinen Mitgliedsländern zu erreichen. Es muß auch darum gehen, die
Sanktionierung bei Verletzung der Grundsätze zu garantieren.
({1})
Der Europarat ist nicht 50 Jahre alt, sondern 50 Jahre
jung. Er hat also noch sehr viel vor sich. Für viele mag
er als eine Art Klassentreffen oder als ein Kaffeekränzchen der europäischen Staaten erscheinen. Der Europarat ist also eine Art Kaffee- und Kuchenritual, bei dem
sich Politiker und Politikerinnen aus den Staaten Europas treffen und betuliche Reden halten, aus denen nichts
folgt? Der Europarat wäre dann ein Gremium, das nicht
viel nutzt, aber auch nicht viel schadet. Das Gegenteil diejenigen, die hier sitzen, wissen das - ist richtig. Der
Europarat ist viel mehr. Er hat Schutzinstrumente entwickelt, allen voran die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Sozialcharta.
Der Europarat hat ein Organ, das zu den ganz wichtigen in Europa gehört, das Urteile spricht, die ganz und
gar nicht unverbindlich sind, ein Organ, das für die
rechtsstaatliche und menschenrechtliche Entwicklung in
Europa unverzichtbar ist - viele Kollegen haben es
schon angesprochen -: Es ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser Gerichtshof kann von
weit über 800 Millionen Einwohnern Europas angerufen
werden. Dieser Gerichtshof ist Anlaufstelle für die Menschen in Europa. Dieser Gerichtshof ist ein Anker für
die Hoffnungen der Europäerinnen und Europäer, und
zwar der effektivste und kräftigste, den es momentan
gibt. Dieser Gerichtshof ist ein Zufluchtsort für die
Schwachen und die Minderheiten in Europa. Es zeigt
sich, daß auch für die westeuropäischen Staaten, die sich
auf ihre hohen Standards so viel zugute halten, eine solche Supervisionsinstanz wichtig ist. Dies wird fast jede
Woche bewiesen.
Nehmen wir nur das letzte Urteil des Europäischen
Gerichtshofs, durch das Homosexuellen der Zutritt zur
britischen Armee gewährt wurde. Ein solches Urteil wider staatliche Diskriminierung hat Bedeutung weit über
Großbritannien hinaus. Es ist ein Meilenstein auf dem
Weg, Schwulen und Lesben endlich gleiche Rechte zu
garantieren. Dieses Urteil wird also auch Auswirkungen
auf die Europaratsmitglieder Türkei, Griechenland,
Portugal und Luxemburg haben, in denen HomosexuelBenno Zierer
len immer noch der Zugang zur Armee verboten ist. Ein
solches Urteil muß auch Auswirkungen auf unsere deutsche Auseinandersetzung um die Frage haben, ob die
sexuelle Identität ein Qualifikationsmerkmal für Bundeswehrangehörige sein kann. Ich meine: nein.
({2})
Der Europäische Gerichtshof hat sich mit einer Vielzahl von Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei beschäftigt und Urteile im Sinne der
Betroffenen gefällt, zuletzt am 28. September dieses
Jahres. Dies waren keine antitürkischen Urteile; vielmehr hat der Europäische Gerichtshof mit diesen Urteilen aktiv dazu beigetragen, daß Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Schutz der Menschenrechte in der
Türkei weiterentwickelt werden.
Neben dem Europäischen Gerichtshof leistet das Antifolterkomitee großartige Arbeit, weil es sensibilisiert,
weil es den Finger auf die Wunde legt und weil es
deutlich macht, daß Menschenrechtsverletzungen nicht
nur ganz weit weg, sondern auch bei uns in Deutschland passieren. Die Arbeit dieses Komitees hat dazu
beigetragen, daß sich die türkische Regierung dem
Problem der Folter in Polizeihaft stellen muß. Es hat
dazu beigetragen, daß sich auch Spanien dem Problem
der Folter an politischen Gefangenen stellen muß. Die
Kritik an diesen Verhältnissen schadet nicht und ist auch
nicht gefährlich, ganz im Gegenteil: Sie ist der erste
Schritt zur Überwindung von Menschenrechtsverletzungen.
Wenn sich das Antifolterkomitee über das Frankfurter
Flughafenverfahren oder über die Situation in den Abschiebehaftanstalten Bützow und Berlin-Grünau unterrichtet und es anschließend notwendige Kritik übt, dann
muß man feststellen, daß dies die allerbeste Unterstützung für die Demokratie in unserem Land ist.
({3})
Die Diskussion über die angesprochenen Urteile
macht übrigens deutlich, daß das Argument, es gebe
keine europäische Öffentlichkeit, nicht stimmt. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs werden in den Zeitungen ganz Europas diskutiert. Dies ist ein wunderbares
Beispiel dafür, daß europäische Öffentlichkeit funktioniert und daß ein Diskurs über Fragen des Menschenrechtsschutzes stattfindet. Dies ist bemerkenswert und
wichtig. Der Prozeß der europäischen Einigung lebt
ganz wesentlich von den Rechten, die den Menschen
gewährt werden, und nicht nur von der Wirtschaft, nicht
nur von Handel und Wandel.
Aus der verstärkten Inanspruchnahme des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist nicht nur ein
Warnsignal für den Zustand der Menschenrechte herauszulesen, ganz im Gegenteil: Diese Entwicklung
macht auch deutlich, daß ein europäisches Rechtsbewußtsein geschaffen wird, das identitätsstiftend ist. Dies
haben einige Kollegen schon angesprochen. Ein solcher
Wert ist beispielsweise die Ächtung der Todesstrafe. Ich
persönlich wurde mir über die Bedeutung dieses Wertes
klar und bewußt, als ich die Todeszellen von Arizona
besuchte.
Aufgaben gibt es mehr als genug. Wir unterstützen
aus vollem Herzen die Arbeit des neuen einheitlichen
Gerichtshofes und das Amt des Menschenrechtskommissars.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
Zum Abschluß möchte ich nur noch eine
Bitte äußern.
Auch in Zeiten des Sparens - Rudolf Bindig hat es
schon angesprochen - reicht eine ideelle Unterstützung
alleine nicht aus. Falls noch über ein geeignetes Geschenk zum 50. Geburtstag des Europarats nachgedacht
wird, sehr verehrter Herr Staatsminister, dann glaube
ich, wäre eine kräftige materielle Unterstützung sinnvoll
und das Allerbeste.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die
Aussprache zum Thema „50 Jahre Europarat: 50 Jahre
europäischer Menschenrechtsschutz“. Wir drei hier oben
sind sehr beeindruckt von der Einmütigkeit bei diesem
wichtigen Thema und dem gesamteuropäischen Engagement. Dafür möchte ich mich bei Ihnen sehr herzlich
bedanken. Ich darf auch den Kolleginnen und Kollegen,
die für uns im Europarat arbeiten, unsere herzliche Anerkennung aussprechen.
({0})
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1568 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7a bis 7c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung
- Drucksache 14/999 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Finanzausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Claudia Roth ({2})
b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Regelmäßige Vorlage eines Berichts über die
Entwicklung von Armut und Reichtum in der
Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 14/1069 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Finanzausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Wolfgang Meckelburg, HansPeter Repnik, Peter Weiß ({4}) und
der Fraktion der CDU/CSU
Bekämpfung der „verdeckten Armut“ in
Deutschland
- Drucksache 14/1213 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({5})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Konrad Gilges, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir beraten nun einen Antrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Der Kerninhalt
dieses Antrags besteht in der Forderung nach einem nationalen Armuts- und Reichtumsbericht. Ein solcher Bericht war ein Wahlversprechen und eine Forderung der
Koalitionsvereinbarung. Mit diesem Antrag erfüllen wir
diese Forderung. Wir wissen, daß das Arbeitsministerium schon dabei ist, die Voraussetzungen für einen solchen Bericht zu schaffen.
({0})
Unsere zeitliche und inhaltliche Anforderung wird in
diesem Antrag konkretisiert. Bevor ich auf Details eingehe, möchte ich kurz zurückblicken. Der Forderung
nach einem Armuts- und Reichtumsbericht geht eine
lange Debatte voraus. Ein solcher Bericht ist 16 Jahre
lang unter der Regierung Kohl verweigert worden. Dies
ist immer mit sehr fadenscheinigen Argumenten geschehen. Frau Rönsch hat stets davon gesprochen, in der
Bundesrepublik gebe es wegen des Sozialhilfegesetzes
eigentlich keine armen Leute. Ich habe das nie verstanden. Ich glaube, es ist an der Zeit für einen solchen Bericht, damit die Voraussetzung für eine aktive Politik
gegen Armut geschaffen wird.
Ich habe noch heute morgen mit großem Erstaunen
festgestellt, daß Frau Kollegin Böhmer hinsichtlich der
bedarfsorientierten Grundsicherung gesagt hat, es gebe
angeblich nur 2 Prozent ältere Menschen, die ergänzende Sozialhilfe beantragen.
({1})
- Jetzt warten Sie doch einmal! Gerade dazu will ich
ein Wort sagen. - Ich habe die Äußerung von Frau
Böhmer deswegen nicht verstanden, weil uns heute ein
Antrag Ihrer Fraktion zur Bekämpfung der verdeckten
Armut vorliegt. Der Begriff „verdeckte Armut“ beinhaltet, daß es eine Vielzahl von Rentenempfängern gibt,
die keine ergänzende Sozialhilfe beantragen. Dies zu
ermitteln, fordern Sie. Ihr Antrag macht nur Sinn, wenn
Sie das Vorhandensein von verdeckter Armut unterstellen. Das würde bedeuten, daß es weitaus mehr als 2 Prozent Rentenempfänger gibt, die ergänzende Sozialhilfe
beantragen würden, wenn sie die Schamschwelle zur
Beantragung überschreiten würden. Sie müssen sich also
erst einmal darüber klarwerden, ob es 2 Prozent oder
mehr sind.
Ich möchte noch etwas anderes zu Ihrem Antrag sagen. Sie wissen, daß das Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend - nach meinem Kenntnisstand - schon in Ihrer Regierungszeit mindestens zwei
Untersuchungen zu diesem Thema durchgeführt hat. Eine wurde Ende der 80er Jahre und eine Mitte der 90er
Jahre von einem wissenschaftlichen Institut durchgeführt. In diesen Untersuchungen wurde die Frage nach
verdeckter Armut erörtert. Nach einer dieser Studien
kämen rund 25 Prozent der über 60jährigen als Empfänger von ergänzender Sozialhilfe hinzu. Wenn all diejenigen, die einen Anspruch besitzen, ihren Anspruch
auch geltend machen würden, dann würde das für die
Gemeinden Kosten in Höhe einer Gesamtsumme von
rund 5 Milliarden DM bedeuten.
Ich will damit nur sagen, daß das Thema, das Sie in
Ihrem Antrag ansprechen, hinlänglich bekannt und ausreichend erforscht ist. Deshalb sollten Sie nicht mit einem solchen Antrag, wie Sie ihn gestellt haben, vom eigentlichen Thema ablenken. Vielmehr müssen wir uns
bemühen, uns endlich einmal Klarheit über Reichtum
und Armut in dieser Republik zu verschaffen.
({2})
Bei einem Rückblick muß auch erwähnt werden, daß
wir schon in einer Großen Anfrage, die am 28. November 1995 beantwortet wurde, die Forderung aufgestellt
hatten, einen Armutsbericht vorzulegen. Wir haben in
der vergangenen Legislaturperiode, zuletzt noch am
4. Juni 1997, den Antrag gestellt, daß die Bundesregierung einen Armutsbericht vorlegen sollte. Das wird nun,
wie schon gesagt, endlich geschehen. Ich hoffe, daß wir
spätestens im Jahre 2001 diesen Bericht im Bundestag
beraten können.
Die Forderung nach einem Reichtums- und Armutsbericht wird insbesondere von der katholischen und
evangelischen Kirche vorgetragen. In ihrem gemeinsamen Wort haben sie ausführlich dargelegt, daß es in dieser Republik endlich an der Zeit wäre, solch einen BeVizepräsidentin Anke Fuchs
richt zu erstellen. Weiterhin wird diese Forderung von
den Wohlfahrtsverbänden, von der Armutskonferenz,
von Gewerkschaften und von Ländern und Kommunen,
die ja teilweise schon solche Sozial- bzw. Armutsberichte vorgelegt haben, unterstützt.
In unserem Antrag richten wir eine wichtige Forderung an die Bundesregierung: Wir wollen eine
gleichwertige Armuts- und Reichtumsberichterstattung,
also beide sozialen Pole der Gesellschaft in einem
solchen Bericht nebeneinander erörtert und dargestellt
sehen. Wir wollen nicht nur die Armut in unserem
Land dargestellt haben, sondern auch, welch immensen
Reichtum es in der Bundesrepublik gibt. Wir wissen
ja alle, daß der Reichtum - so haben wir es auch in unserem Antrag geschrieben - ein scheues Reh bzw. Wild
ist, was selbst mit dem Fernrohr schwer zu erfassen
ist. Die Reichen sagen nämlich nie, wie groß ihr Reichtum ist.
Es gibt auch kaum Statistiken darüber. Selbst das
Statistische Bundesamt in Wiesbaden hat keine ausreichenden Daten über den Reichtum in der Republik. Wir
wissen allerdings, daß 5,1 bis 5,5 Billionen DM an
Geldkapital in der Bundesrepublik vorhanden sind, also
direkt verfügbares Geld, das entweder in Aktien oder
Spargeldern angelegt ist. Außerdem wissen wir, daß 5
Prozent der bundesrepublikanischen Bevölkerung ein
Drittel dieses Geldvermögens von 5,1 Billionen DM besitzen. Rund gerechnet sind also 2 Billionen DM in der
Hand von nur 5 Prozent der Bevölkerung. Die Pyramide
steht hier auf dem Kopf: Die breite Masse der Bevölkerung hat von diesem Reichtum ganz wenig bzw. fast
nichts, und sehr wenige verfügen über ein großes Kapitalvermögen.
Ich gebe aber zu, daß das alles nur Spekulationen
sind. Deshalb ist es an der Zeit, daß solch ein Bericht auf
solider wissenschaftlicher Grundlage erstellt wird.
Der erste Teil des Berichts umfaßt ja nur eine bloße
Darstellung der Daten. Darüber hinaus wollen wir aber
auch, daß Bewertungen vorgenommen werden. Viel
wichtiger ist dann aber, daß aus diesem Bericht Konsequenzen gezogen werden und sich die Politik daran ausrichtet, damit eine weitere Ausbreitung der Armut in der
Bundesrepublik verhindert wird.
({3})
Das wäre schon lange nötig gewesen.
({4})
- Sie können gerne mit uns streiten. Ich kenne ja Ihre
Argumentation. Sie werden wieder die alte Leier vortragen, die Sie uns seit einem Jahr, seitdem wir an der Regierung sind, vortragen. Interessanterweise reden Sie nie
davon, daß sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger in
den 16 Jahren, in denen Sie die Regierung stellten, fast
verdreifacht hat. Sie reden nie davon, daß mittlerweile
über 1 Million Kinder von Sozialhilfe leben müssen. Sie
reden nie davon, daß viele Alleinerziehende in dieser
Republik an der Grenze zur Armut leben. All das hat
Ihre Sozialpolitik verursacht.
({5})
Dieses zu korrigieren, indem wir die Zahl der Sozialhilfeempfänger reduzieren, alleinerziehenden Frauen mit
Kindern eine Chance zur emanzipierten Selbstentwicklung in dieser Gesellschaft geben usw., dazu braucht
man schon länger als nur ein Jahr Regierungszeit. Wir
können den Schutt - ich meine das soziale Elend -, den
Sie in 16 Jahren angehäuft haben, nicht in einem Jahr
wegräumen.
({6})
Politik ist wie ein Handwerk; für einen Teil jedenfalls: Kein Fliesenleger, kein Bauarbeiter kann einen
solchen Gewaltakt bewältigen. Ein Handwerker weiß,
wie schwierig es ist, etwas - zum Beispiel ein Haus wieder aufzubauen, wenn es zerstört worden ist: Man
braucht dafür viel Zeit; man muß viele Schwierigkeiten
überwinden; man muß die Finanzlage beachten, was
nach dem, was Sie uns an Schulden hinterlassen haben,
nicht so leicht ist.
Wichtig ist nun, daß man Armut verhindert. Dazu
dient zum Teil die bedarfsorientierte Grundsicherung. Ich begrüße dies außerordentlich. Es ist ein Schritt
in die richtige Richtung, es ist ein Anfang. Zu dieser
bedarfsorientierten Grundsicherung müssen aber noch
mehr Gruppen hinzukommen. Ich bin der Meinung,
daß es nicht zulässig ist, daß die Sozialhilfe, die ja als
persönliche Hilfe für den Einzelfall gedacht war, eine
Massenhilfe, zu der sie bei Ihnen verkommen ist, bleibt.
Das muß man ändern. Hier muß man neue Wege beschreiten.
Das gilt auch für die Gesundheitspolitik. Wir alle
wissen, daß für viele Menschen aus gesundheitlichen
Gründen ein Armutsrisiko besteht. Das möchte ich nur
als Stichwort nennen.
Weiterhin will ich noch die Verschuldung ansprechen, die ein großes Problem ist. Weil viele Menschen
Fehler in diesem Bereich gemacht haben und sich zu
viel Schulden zugemutet haben, stürzen sie in die Armut
oder werden in die Armut hineingedrängt.
Mein letzter Punkt. Ein solcher Bericht muß meiner
Meinung nach Konsequenzen haben. Wir werden dafür
sorgen, daß für die Förderung der Selbsthilfe, daß sich
Menschen also eigenständig aus ihrer sozialen Situation
befreien können und eine gesicherte Existenz gründen
können, gesetzgeberische Maßnahmen erfolgen. Wenn
uns das in den nächsten vier Jahren gelingt, dann haben
wir etwas zum sozialen Frieden in dieser Republik beigetragen. Sie hatten dazu 16 Jahre Zeit; diese 16 Jahre
haben Sie vergehen lassen. Wir werden versuchen, in
den vier Jahren diesen Beitrag zu leisten. Sie können uns
dann für diesen Beitrag applaudieren.
({7})
Das Wort hat nun
der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rotgrün! Nachdem Sie in der vergangenen Legislaturperiode einen Antrag gestellt haben,
einen Armuts- und Reichtumsbericht zu verfassen, ist es
sicherlich konsequent, daß Sie jetzt, wo Sie die Regierungsmehrheit haben, einen solchen Antrag einbringen.
Deswegen beglückwünsche ich Sie zunächst einmal zu
der Konsequenz Ihres Handelns in dieser Sache.
({0})
Ich frage mich allerdings, ob Sie damit besonders
glücklich werden.
Herr Gilges, Ihnen möchte ich zunächst einmal sagen:
Die Mär, die Union und die frühere Bundesregierung
habe Armut geleugnet, stimmt natürlich nicht. Ich nehme an, daß Sie sich bei Ihren großartigen Großen Anfragen zu dem Thema, die Sie formuliert haben, nicht nur
an Ihren Fragen ergötzt haben, sondern auch die Antworten der Bundesregierung gelesen haben. Ich lese
Ihnen nun die Antwort der Bundesregierung von Helmut
Kohl zu Ihrer Großen Anfrage aus der letzten Legislaturperiode vor. Dort heißt es:
Die Sozialhilfe bekämpft Armut. Sie schafft sie
nicht. Wer die ihm zustehenden Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nimmt, ist nicht mehr arm.
Das ist übrigens Auftrag des Bundessozialhilfegesetzes.
Es heißt dort:
Als arm können im Gegenteil Personen angesehen
werden, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, diesen
Anspruch aber nicht geltend machen.
Damit sind wir bei dem Thema, zu dem meine Fraktion den Antrag eingebracht hat: einen Bericht über verdeckte Armut in Deutschland vorzulegen. Heute werden bereits eine Fülle von Daten in Deutschland erhoben
und gesammelt: die Sozialhilfestatistik des Bundesamts
für Statistik; die Einkommens- und Verbrauchsstichproben; die durchaus aussagekräftigen und guten Sozialhilfedokumentationen von Landkreisen und Kommunen.
Deswegen stellt sich die Frage: Brauchen wir wirklich noch mehr Papierberge und Datenfriedhöfe? Selbst
das Land Schleswig-Holstein mit einer SPD-geführten
Landesregierung, die im Auftrage des Landtages einen
Armutsbericht zu erstellen hatte, hat letztendlich nichts
anderes gemacht, als die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1993 auszuwerten und Klienten in Beratungsstellen von Wohlfahrtsverbänden zu befragen. Die
Ergebnisse finden Sie zum Beispiel auch im Armutsbericht des Deutschen Caritasverbandes in Hülle und Fülle
dokumentiert. Sprich: Nichts Neues durch den Armutsbericht in Schleswig-Holstein. Ich frage mich daher, was
der Armutsbericht der rotgrünen Bundesregierung Neues
bringen soll.
({1})
Auch den von Ihnen mit Wonne geführten Streit um
den Armutsbegriff werden Sie nicht lösen. Professor Richard Hauser, der als der führende Armutsforscher in
Deutschland gilt, schreibt zu Recht:
Armut meßbar zu machen ist eine schwierige Aufgabe, die im streng wissenschaftlichen Sinn nicht
zu lösen ist; denn letztlich stehen hinter jeder Interpretation des Armutsbegriffs und hinter jedem darauf beruhenden Meßverfahren Wertüberzeugungen,
über deren Richtigkeit im ethischen Sinn sich wissenschaftlich nicht abschließend urteilen läßt.
Aber es gibt eben eine Gruppe von Menschen, die
- Sie haben es bereits erwähnt - bislang in den vielen
bereits existierenden Berichten ausgeblendet oder als
nicht quantifizierbar behandelt wird. Es sind jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die trotz eines bestehenden
Rechtsanspruches auf Sozialhilfe ihre berechtigten Ansprüche nicht einfordern. Bei jenen Menschen, die als
verdeckt Arme aus den verschiedensten Gründen - Unwissenheit, Angst vor Regreßforderungen an die Angehörigen, Scham - ihre Ansprüche nicht einfordern und
wahrnehmen, besteht tatsächlich die Gefahr einer existentiellen Armut.
Die Nationale Armutskonferenz geht davon aus,
daß etwa 2 Millionen Menschen die ihnen zustehende
Unterstützung nicht beantragen. Besonders gravierend
ist, daß die sogenannte verdeckte Armut mit der Haushaltsgröße ansteigt und somit besonders Kinder darunter
zu leiden haben.
Einer der Sozialforscher, der schon Armutsberichte
geschrieben hat, Ulrich Neumann von dem Institut für
Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung in
Frankfurt, hat jüngst zu diesem Problem geschrieben:
Der Terminus verdeckte Armut ist darauf zurückzuführen, daß dieser Personenkreis in keiner offiziellen Statistik geführt wird und damit in der öffentlichen Wahrnehmung verdeckt bleibt. Zudem bleibt
dieser Sachverhalt auch neben der amtlichen Statistik empirisch verborgen, da wissenschaftliche
Untersuchungen zu diesem Thema - etwa im Vergleich zur relativen Einkommensarmut - kaum
durchgeführt werden.
Deswegen lohnt sich die Mühe, endlich über diesen Personenkreis, über den bislang keine offiziellen Statistiken
geführt werden, Genaueres zu erfahren, um zielgerichtet
politisch handeln und helfen zu können.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte
schön.
Bitte sehr.
Herr Kollege, Sie reden
immer von verdeckter Armut. Wollen Sie damit zum
Ausdruck bringen, daß es keine offizielle Armut gibt?
Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die finanzielle Situation der Obdachlosen in Deutschland bewerten? Wie kennzeichnen Sie Ihre Haltung angesichts der
Tatsache, daß sich beispielsweise die Regierung in Holland jahrelang geweigert hat, einen Armutsbericht zu erstellen, der aber auf Druck der Sozialverbände im vorigen Jahr unter dem Titel „Das andere Gesicht Hollands“
erschien. Ist Ihnen das „andere Gesicht Deutschlands“
schon begegnet?
Ich will
zunächst die Frage beantworten, die mich persönlich
betrifft. Da ich über zehn Jahre lang für den Deutschen
Caritasverband gearbeitet habe, sind mir die Not und die
Armut in vielfältiger Form begegnet. Was die Statistik
anbelangt, möchte ich Ihnen sagen: Aufgabe unseres
Bundessozialhilfegesetzes - darauf sollten wir stolz
sein; man sollte es nicht immer schlechtreden ({0})
ist es, Menschen, die keine Einkommensmöglichkeit haben und keine andere Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, finanziell so abzusichern, daß sie
nicht in existentielle Not geraten. Das ist die Leistung
unseres Sozialhilfegesetzes.
Diejenigen Menschen leben in existentieller Armut,
die diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Sie
mögen damit recht haben, daß sich unter den Obdachlosen in unserem Land relativ viele befinden, die diese
Leistungen nur ungenügend oder gar nicht in Anspruch
nehmen. Diese Tatsache möchte ich nicht bezweifeln.
Die Situation muß aber in einer Untersuchung, die wir
anregen, näher erforscht werden.
Gestatten Sie eine
Zusatzfrage? - Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen und die Sozialhilfeempfänger selber die
Auffassung vertreten, daß Sozialhilfe nicht Armut verhindert, sondern Armut ist?
Herr
Kollege, das ist eine Frage der Definition. Ich habe Ihnen vorhin schon mit Professor Hauser geantwortet, der
nun wirklich als der „Armutspapst“ in Deutschland gilt,
daß sich eine wissenschaftlich exakte, von allen geteilte
Armutsdefinition so einfach nicht finden läßt, sondern es
immer eine relative Armut ist, über die wir sprechen und
über deren Definition wir natürlich trefflich streiten
können.
Übrigens, meine Damen und Herren von der rotgrünen Koalition: Da Sie uns in der Haushaltsberatung so
nachdrücklich berichtet haben, daß wir kein Geld zum
Ausgeben und erst recht nicht zum Verschenken haben,
wäre es eigentlich ein Gebot der Stunde, die reduzierten
Mittel auf eine Untersuchung zu der Thematik zu konzentrieren, zu der wirklich etwas Neues und bis dahin
nicht Bekanntes erforscht werden kann.
({0})
Nun hat ja das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bereits beim Institut für Sozialforschung
und Gesellschaftspolitik eine Vorstudie in Auftrag gegeben, die uns leider erst nächste Woche offiziell vorgestellt wird. Ich bedaure das, weil man Parlamentsdebatten eigentlich in dem Wissen um das, was in einer Vorstudie steht, führen sollte, statt im Nebel herumzustochern.
({1})
- Ich rede von der Vorstudie, Herr Ostertag.
Aber ich möchte auf einen Punkt, der in dieser Vorstudie untersucht worden ist, hinweisen, nämlich auf die
Frage: Wie kommt dieser Bericht zustande? - Herr
Kollege Gilges, ich habe gelernt, daß man sich, wenn
man im Parlament eine Rede hält, gut vorbereiten soll.
Das habe ich selbstverständlich versucht. Dazu gehört,
daß ich mir die Informationen, die nicht offiziell zugänglich sind, trotzdem besorgt habe. Das machen Sie
doch sicher auch so!
({2})
- Okay.
Nach dieser Vorstudie sagen 60 Prozent der befragten
Personen, diese Armutsstudie möge von unabhängigen
Wissenschaftlern und einer unabhängigen Steuerungsgruppe in Zusammenarbeit mit dem Ministerium erarbeitet werden. Auch der Vorsitzende der Nationalen
Armutskonferenz, Professor Dr. Walther Specht vom
Diakonischen Werk, hat den Fraktionsvorsitzenden von
SPD und Grünen in einem Brief geschrieben:
Allerdings beobachten wir jetzt mit einer gewissen
Sorge, daß das Thema Armut und die Diskussion
über die Berichterstattung aus dem Feld der Politik
in das Feld Verwaltung abrutscht. Dies kann nicht
hingenommen werden. Die politisch interessanten
Berichte sind die von unabhängigen Sachverständigen erstellten Expertisen, zu denen die Bundesregierung eine Stellungnahme abgibt.
Deswegen sollte es hier nicht nur einen Regierungsbericht, sondern auch einen Expertenbericht geben,
wenn man ein solches Unterfangen überhaupt in Auftrag
geben will.
({3})
Nun sind ja Berichte, die man sich bestellt, die eine
Sache. Konkretes Handeln ist eine andere Sache. Herr
Gilges hat mit Wonne von den letzten 16 Jahren
CDU/CSU-geführter Bundesregierung gesprochen. Er
hat aber überhaupt nicht von dem einen Jahr gesprochen,
in dem Rotgrün regiert hat!
({4})
Was ist in dem einen Jahr, seit Rotgrün regiert, in Sachen Armutsbekämpfung und Sozialhilfe geschehen?
Das ist die Frage.
({5})
Erstens. Die Einführung einer sogenannten Ökosteuer, bei der demnächst auch noch Stufe zwei und drei
folgen sollen, geht einseitig zu Lasten der Sozialhilfeempfänger.
({6})
Zweitens. Es ist gut, daß das Kindergeld erhöht wird.
Aber keine einzige Familie, die von Sozialhilfe lebt, hat
etwas von der Kindergelderhöhung, weil das Kindergeld auf die Sozialhilfe angerechnet wird.
({7})
Eine Regelsatzerhöhung haben Sie ebenfalls nicht mitgemacht, sondern Sie haben die Übergangsregelungen
um zwei Jahre verlängert.
({8})
Drittens. Rotgrün schafft die sogenannte originäre
Arbeitslosenhilfe ab. 65 000 Personen, die bislang
Arbeitslosengeld beziehen, werden ab 1. Januar zum
Sozialamt geschickt. Sie schaffen mehr Sozialhilfefälle;
das ist Ihre Politik.
({9})
Viertens. Rotgrün kürzt die Beiträge für Arbeitslosenhilfebezieher zur Sozialversicherung.
({10})
Es ist absehbar, daß auf Grund dieser Politik in einigen
Jahren Menschen auf Sozialhilfe angewiesen sein werden, die bislang darauf hoffen konnten, sich eine eigenständige Alterssicherung aufzubauen.
Selbst wenn die von Herrn Gilges so gelobte bedarfsorientierte Grundsicherung kommt, werden diese Personen sie nicht mehr haben. Das ist für sie Jacke
wie Hose. Das ist nur ein anderes Wort für Sozialhilfe.
({11})
- Entschuldigen Sie, genau das hat uns Frau Mascher
im Rahmen der Beantwortung einer Anfrage vorgetragen. Selbst wenn ein Bezieher der sogenannten Grundsicherung zum Beispiel einmalige Leistungen nach dem
BSHG wünscht, muß er zum Sozialamt gehen und sie
beantragen. Braucht er beispielsweise Hilfe zur Pflege,
muß er ebenfalls zum Sozialamt gehen und sie beantragen. Von daher ist es für die Betroffenen Jacke wie
Hose.
({12})
Auch ohne wissenschaftliche Untersuchungen und
Expertenanhörungen kann man schon heute die Überschrift und das Schlußwort für den Armutsbericht der
rotgrünen Koalition formulieren. Für die Überschrift
schlage ich vor: Armut in Deutschland hat einen neuen
Namen: Rotgrün.
({13})
Auch den Schlußsatz dieses Armutsberichts kann man
bereits formulieren: Ändern Sie Ihre Politik! Sie sind auf
dem falschen Weg.
({14})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Ekin Deligöz.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verstehe das
nicht, Herr Kollege: Zu Beginn sagen Sie, wer zum Sozialamt geht, ist gar nicht arm; denn wer Sozialhilfe
kriegt, ist nicht arm. Am Schluß zählen Sie auf, wie
viele Leute zum Sozialamt gehen. Ich finde das ein bißchen widersprüchlich.
({0})
Entweder sind die Menschen arm, wenn sie Sozialhilfe
kriegen, oder sie sind es nicht. Sie müssen sich da schon
entscheiden.
Es gibt einen Wert in der Bevölkerung, der in den
letzten Jahren unglaublich an Bedeutung gewonnen hat.
Es ist der Wert der sozialen Gerechtigkeit. Klassisch
bedeutet soziale Gerechtigkeit Verteilungsgerechtigkeit.
Wenn wenige fast alles besitzen, wenn die Aufstiegschancen für Benachteiligte minimal sind, dann spüren
viele Menschen, daß etwas nicht stimmt, auch wenn sie
von Gleichmacherei nichts halten.
Die Wahrnehmung einer sozialen Schieflage hat nicht
unbedingt etwas mit absoluter Armut zu tun. Ein Sozialhilfeempfänger in den neuen Bundesländern hat vermutlich einen höheren Lebensstandard als viele Kleinunternehmer in der sogenannten dritten Welt. Er fühlt
sich aber möglicherweise - anders als sein Kollege in
der dritten Welt - von der Gesellschaft ausgestoßen und
wertlos. Sein Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen
ist schlecht, seine Aussichten auf eine Verbesserung seiPeter Weiß ({1})
ner Situation sind es ebenfalls. Seinen Kindern ist die
soziale Randständigkeit häufig in die Wiege gelegt.
Bei Kindern aus Familien mit großem Einkommen ist
es umgekehrt: Ihr Millionenvermögen ist keineswegs
zwangsläufig ein Ergebnis überdurchschnittlicher Leistung. Sie hatten einfach die Gnade einer Geburt in günstige Familienverhältnisse.
Eine weitere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit
ist die Generationengerechtigkeit. Es ist ungerecht,
wenn wir auf Kosten unserer Nachkommen leben. Das
gilt in der Ökologie genauso wie in der Finanzpolitik.
Das Gebot des Sparens darf aber nicht dazu führen,
daß wir auf politische Gestaltungsmöglichkeiten verzichten. Wenn wir heute auf eine Politik zur Bekämpfung von Armut verzichten, wenn wir die Bildungs- und
Ausbildungschancen für Kinder aus einkommensschwachen Familien nicht drastisch verbessern, bedeutet dies
in der Konsequenz eine gigantische Verschwendung von
Talenten und Fähigkeiten.
({2})
Ein Versäumnis haben wir bei unserer Vorgängerregierung erlebt: Noch nie seit 1982 waren die sozialen
Aufstiegschancen für Kinder aus armen Familien
schlechter, noch nie war ihr Anteil an der Zahl der Studierenden so gering wie heute. Es ist kaum anzunehmen,
daß die Begabungsreserve aus ärmeren Schichten heute
um so vieles kleiner ist als in den vergangenen Jahrzehnten.
Radikal im Kontrast zu klassischen Gerechtigkeitsvorstellungen steht die neoliberale Ideologie: Wenn wir
nur die Angebotsbedingungen verbessern, die Gewinnaussichten für Investoren verbessern, die Erträge von
Vermögen vergrößern, entstehen von alleine neue Arbeitsplätze, und alles wird gut.
({3})
Ohne ideologische Scheuklappen können wir heute
sehen, daß die neoliberalen Patentrezepte genauso einseitig und unzureichend sind wie die alten Patentrezepte, die im Massenkonsum das alleinige Heil suchten. An beidem ist aber etwas dran, doch die Verabsolutierung führt uns alle in die Irre. Die Suche nach
gangbaren dritten Wegen ist die eigentliche Herausforderung.
Weil die Patentrezepte versagt haben, weil wir zugleich tatsächlich eine beträchtliche soziale Schieflage
in unserem Land haben, ist die Politik dringend auf
grundlegende Informationen über Armut und Reichtum
angewiesen. Nur wenn wir detaillierte Angaben über die
Verteilung des materiellen Wohlstandes und über deren
Veränderung, präzisere Angaben über die Lebenslagen in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten
haben, nur wenn wir wissen, wie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ihre Ressourcen einsetzen,
nur dann haben wir die Informationsgrundlage für eine
Politik, die über platte Umverteilungsparolen oder das
Quasi-Nichtwissenwollen der alten Regierung hinausreicht.
({4})
Die vorliegenden Oppositionsanträge sind in diesem
Zusammenhang höchst bezeichnend. Sie von der Union
interessieren sich ausschließlich für die versteckte Armut. Andere Armut, wie zum Beispiel von Kindern in
der Sozialhilfe, wird schlichtweg geleugnet.
Reden Sie einmal an dieser Stelle - das empfehle ich
Ihnen wirklich - mit Fachleuten von der Diakonie, von
der Caritas, vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und
von zahlreichen anderen Organisationen, und dann erfahren Sie endlich einmal, wie es wirklich in unserem
Land aussieht.
({5})
Aber verdeckte Armut ist tatsächlich ein Problem,
das genauer untersucht werden muß. Was wir allerdings darüber wissen, das reicht uns bereits heute aus,
um aktiv zu werden. Deshalb wird die Koalition
eine Mindestrente einführen, um Altersarmut zu bekämpfen.
Darüber hinaus haben wir im Sozialhilferecht einen
sogenannten Experimentierparagraphen eingeführt, damit sogenannte einmalige Leistungen nicht einzeln und
bürokratisch aufwendig beantragt werden müssen, denn
das führt dazu, daß Menschen aus Scheu vor bürokratischen Hürden auf Ansprüche verzichten.
Die verdeckte Armut wäre beseitigt, wenn wir entsprechend dem grünen Konzept eine bedarfsorientierte
Grundsicherung einführen würden. Wir haben auch im
Koalitionsvertrag vereinbart, eine solche Grundsicherung anzugehen.
Zu dem PDS-Antrag kann ich nur sagen: Sie haben
wieder einmal ein gentechnisches Wunder vollbracht eine eierlegende Wollmilchsau, kann man da nur sagen.
Sie wollen nicht nur eine Datenerhebung als Grundlage
für eine verantwortliche Politik - das wollen wir auch -,
sondern Sie wollen auch gleich ein Patentrezept, wie mit
diesen Daten umzugehen ist. Den Prozeß der politischen
Auseinandersetzung, die Schlußfolgerungen gleich vorwegzunehmen, das paßt vielleicht zu Ihrer Art des politischen Denkens, aber unsere kann es nicht sein.
({6})
Darüber hinaus haben Sie an den Bericht Anforderungen gestellt, die schlichtweg unsinnig sind. Die Frage
der Gerechtigkeit in bezug auf die dritte Welt gleich
mitbehandeln zu lassen, das sprengt meiner Meinung
nach den möglichen Rahmen einer solchen Untersuchung.
({7})
Da drängt sich ein wenig der Verdacht auf, daß Sie die
Hürde absichtlich so hoch legen, damit Sie danach gaEkin Deligöz
rantiert etwas zu meckern haben, und das finde ich nicht
besonders seriös.
({8})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte sehr, Herr Kollege.
Frau Kollegin, Sie haben
hier wiederholt auf jenes Windei verwiesen, von dem
noch niemand weiß, was darin ist: auf die Grundsicherung.
Finden Sie es nicht etwas merkwürdig, wenn die Regierungskoalition im April dieses Jahres von der Erhöhung der Eckregelsätze in der Sozialhilfe nach dem Warenkorbprinzip Abstand nimmt, also eine etwas bedarfsdeckendere Ermittlung und die Angleichung an die
Rentenerhöhung unterstützt, um dann anschließend die
Rentenerhöhung wieder zu deckeln, indem man in der
Tat nach den Preissteigerungen gehen will und damit erneut die Sozialhilfe deckelt? Diejenigen, die schon wenig haben, werden noch laufend gedeckelt. Nun kommen Sie mit einer Grundsicherung, von der Sie gerade
gesetzlich Abstand genommen haben, indem Sie die gesetzeswidrige Regelung der Kohl-Regierung, die zeitlich
begrenzt war, verlängert haben.
Herr
Kollege, ich habe bereits vorhin erwähnt, daß wir eine
Mindestrente einführen wollen, um tatsächlich punktuell
etwas gegen Altersarmut zu tun, genau für die alten
Leute, die das auch brauchen.
({0})
Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, keine Flickschusterei
zu betreiben, weil wir ein sinniges, in sich geschlossenes
Konzept möchten, dann finde ich das einen etwas seltsamen Vorwurf. Das können Sie gern sagen, aber dazu
stehe ich. Ich glaube, wir brauchen nicht Teillösungen,
sondern eine Gesamtlösung. Die dazu notwendige Zeit
werden wir uns nehmen.
({1})
Frau Kollegin, es
gibt noch zwei Zwischenfragen. Wollen Sie die zulassen?
Wenn
Herr Weiß unbedingt etwas sagen will, dann ja. - Herr
Weiß, Sie haben doch heute schon gesprochen.
Frau
Kollegin, da Sie soeben auf das Thema Grundsicherung
eingegangen sind, möchte ich Sie fragen: Was ändert
sich finanziell beim Leistungsbezug für einen älteren
Menschen, der bislang auf Sozialhilfe angewiesen ist,
wenn er künftig auf Ihre bedarfsorientierte Grundsicherung angewiesen ist? Was ändert sich konkret? Wird er
künftig zum Beispiel nicht mehr zunächst seine Vermögensverhältnisse offenlegen müssen, wie er das im
Rahmen des Bezugs von Sozialhilfe tun muß?
Herr
Kollege, über ungelegte Eier spreche ich nicht. Das
sollten auch Sie nicht tun.
({0})
- Wir gackern nicht. Wir kündigen vielmehr an, daß wir
im Gegensatz zu Ihnen endlich einmal zu Taten schreiten und nicht nur darüber sprechen.
({1})
Wollen Sie eine
weitere Zwischenfrage zulassen?
Nein,
ich möchte jetzt meine Rede fortführen.
Die Kollegin möchte
also keine Zwischenfrage mehr zulassen. - Dann fahren
Sie bitte in Ihrer Rede fort.
Wir
haben eine umfassende Analyse in Auftrag gegeben, die
auf Grund der verwendeten wissenschaftlichen Literatur
und zahlreicher qualifizierter Rückmeldungen von Institutionen und Verbänden in ein schlüssiges Konzept
mündet. Die Ergebnisse dieser Analyse werden am
7. Oktober dieses Jahres vorgestellt.
Der Reichtums- und Armutsbericht wird die Grundlage für eine rationale gesellschafts- und sozialpolitische
Debatte bilden, und zwar ohne falsche Tabus. Es kann
nicht angehen, daß immer wieder Mißbrauchskampagnen gegen Arme gestartet werden, während Reichtum
mit dem Mantel des Schweigens verhüllt wird. In den
bisherigen Einkommens- und Verbraucherstichproben
besteht ein blinder Fleck: Nichtdeutsche Haushalte und
Haushalte mit einem Monatseinkommen über
35 000 DM fehlen in der bisherigen Statistik ganz.
Wir wollen, daß darüber gesprochen wird. Dabei darf
es nicht um Sündenböcke gehen, sondern es muß um effiziente politische Rahmenbedingungen auch in Zeiten
knapper Kassen und nicht zuletzt um die Fragen gehen:
Wie erhalten wir den sozialen Frieden? Wie verteidigen
und erweitern wir die bürgerlichen Freiheiten sowie das
Fundament einer zivilen Gesellschaft?
Die Antworten, die wir auf diese Fragen geben, werden darüber entscheiden, wie wir alle künftig leben werden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der
Kollege Dr. Kolb, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Oppositionsparteien der letzten Legislaturperiode legen uns heute Anträge vor, für deren Durchsetzung sie damals keine
Mehrheit fanden.
({0})
Allerdings, Herr Gilges, schon damals machten diese
Anträge keinen Sinn. Dies ist leider bis heute so.
Herr Gilges, was wollen Sie denn mit den vorgesehenen Berichten bezwecken? Datenmaterial über den Bezug von Sozialhilfe, also - das sage ich jetzt sehr deutlich - Datenmaterial über von der Gesellschaft solidarisch verhinderte Armut? Datenmaterial dieser Art gibt
es genug.
({1})
Die daneben vorhandene verdeckte Armut - ich
stimme dem Kollegen Grehn zu, daß es diese gibt - erfassen Sie mit dem in Ihrem Antrag geforderten Bericht
meines Erachtens nicht.
({2})
Von daher ist der Antrag der CDU/CSU, die verdeckte
Armut zu erforschen, sehr viel sinnvoller.
({3})
Nur, Herr Kollege Weiß, darüber sollte man sich auch
im klaren sein: In diesem Zusammenhang verläßliches,
vergleichbares und vor allen Dingen auch objektiv
nachprüfbares Datenmaterial zu ermitteln, halte ich für
eine sehr schwierige, wenn nicht sogar unmögliche Aufgabe; so wichtig es auch wäre, sie zu lösen.
Wenn wir schon über Lücken im Datenmaterial sprechen, dann ist festzustellen: Ich fände es auch interessant, einen nationalen Bericht über den ungerechtfertigten Bezug von Sozialleistungen zu erarbeiten. Man
könnte so die Bedürftigen von den Findigen, also von
denjenigen, die sich in unserem Sozialsystem besser
auskennen als auf den Wegen, die zu einem neuen Arbeitsplatz führen, trennen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gilges?
Ja, sicher.
Bitte sehr, Herr
Kollege Gilges.
Herr Kollege Kolb, könnten
Sie sich vorstellen, daß in einem umfassenden Reichtums- und Armutsbericht unter anderem auch stehen
könnte, was verdeckte Armut ist, wie sie aussieht und
welche Qualität sie hat? Ich verstehe überhaupt nicht,
daß Sie dem widersprechen. Bei Ihnen fällt mir dies
noch mehr auf als bei Herrn Weiß bzw. bei dem Antrag
der CDU/CSU. Ich habe immer gedacht, daß die
CDU/CSU mit ihrem Antrag von einer Generaldarstellung von Reichtum und Armut in der Bundesrepublik
ablenken will und daß Sie das unterstützen. Denn es
könnte ja sein, daß in diesem Bericht Ihrer Klientel, den
Reichen
({0})
- ich meine die Besserverdienenden, Herr Niebel -, ein
besonderes Kapitel gewidmet würde. Strategisch verstehe ich ja, daß Sie dies verhindern wollen und sagen: Wir
wollen nur die verdeckte Armut darstellen; den Rest lassen wir im dunkeln.
Nun müssen Sie eine
Frage stellen.
Ich frage ihn - ich habe ihn
aber schon gefragt -, ob er sich einen Bericht vorstellen
kann, der nicht nur die verdeckte Armut, sondern die gesamte Armut und auch den gesamten Reichtum, einschließlich des verdeckten Reichtums, darstellt.
Herr Gilges, ich habe
eine sehr große Vorstellungskraft. Deswegen kann ich
mir dies vorstellen.
Nur - das will ich hier noch einmal sehr deutlich sagen -, Sie haben bisher in den Debatten den Eindruck
erweckt, als sei Armut schon deshalb in unserer Gesellschaft so weit verbreitet, weil es so viele Sozialhilfeempfänger gibt.
({0})
Das ist immer wieder mehr oder weniger deutlich zum
Ausdruck gekommen.
Ich glaube, wir sind uns darin einig, daß der sehr
breite Bereich der Menschen, die in unserer Gesellschaft
Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, im engeren
Sinne nicht dem Bereich der Armut zuzurechnen ist;
denn gerade durch die Sozialhilfe wird die Armut bei
den Empfängern beseitigt. Es gibt aber Unterschiede das ist in dieser Debatte gesagt worden -, davon gehen
wir aus.
Jetzt geht es um die Frage: Wie werden die schwierigen Fälle, die Obdachlosen, die nicht seßhaften Menschen - es sind relativ kleine Teile unserer Gesellschaft
-, erfaßt? - Insofern war die Zwischenfrage des Kollegen Grehn wirklich hilfreich. - Auf diese Probleme hinzuweisen habe ich mir erlaubt. - Darf ich noch antworEkin Deligöz
ten? Ja, der Kollege Gilges steht noch. - Ich bin sowieso
gespannt, wie Sie mit dem Bericht umgehen werden.
({1})
Sie, Herr Gilges, haben hier gefordert, der Bericht solle
im Jahr 2001 vorliegen. Ich habe die Befürchtung, daß
dann während Ihrer Regierungszeit nichts mehr passieren wird. Wenn Sie nämlich im Jahr 2001 nach dem
Prinzip „Versuch und Irrtum“, wie Sie es bisher in diesem Jahr vorgeführt haben, an diese Aufgabe herangehen, werden Sie bis 2002, wenn Sie die Regierungsbänke wieder verlassen müssen, nichts bewirkt haben.
({2})
Der Kollege Gilges
setzt sich hin, und damit ist die Zwischenfrage beantwortet.
Ja. - Meine Damen
und Herren, die Neugierde von Rotgrün und PDS, den
Reichtum unseres Landes betreffend, kann ich durchaus
verstehen. Unser Land ist reich. Es ist reich an Bildung,
Wissen, schöner Natur, Landschaft, reich an Kultur. Es
gibt auch materielles Vermögen in diesem Land.
({0})
Seien Sie ehrlich, Herr Gilges! Um dieses geht es Ihnen
doch. Dann aber sollten Sie es auch klar und deutlich
sagen und nicht mit dem Begriff „Reichtum“ ablenken;
denn der Begriff „Reichtum“ erweckt Neid.
({1})
Mit diesem Neid wollen Sie einen weiteren Griff in die
Taschen der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
vorbereiten.
({2})
- Das genau ist mein Verdacht. Mit dem Bericht wollen
Sie ausspähen, was für Ihre Umverteilungspolitik zur
Verfügung steht. Sie wollen eine Datengrundlage für die
Umverteilung schaffen. Das aber ist der falsche Weg.
Ich bestreite nicht, daß es in der Bundesrepublik
Deutschland beträchtliches Vermögen in privater Hand
gibt. Gleichzeitig gibt es Menschen, die gemessen an
ihrem Einkommen und Vermögen zu den Schwachen
unserer Gesellschaft gehören. Diesen ist mit Papier nicht
geholfen. Diese brauchen echte Chancen und Angebote,
die ihre Situation verbessern. Halten Sie sich also nicht
mit der Erstellung von Berichten auf, die hinterher noch
diskutiert und in Arbeitsgruppen beraten werden müssen, sondern handeln Sie!
Die vorliegenden Anträge, Herr Kollege Gilges, beweisen doch, daß Sie immer noch die Alten sind, nämlich papier- und diskussionsverliebte Ideologen. Diesen
Vorwurf muß ich speziell an die Adresse der Koalition
richten.
({3})
Von der PDS hatte ich ohnehin nichts anderes erwartet.
Ich will noch einmal deutlich die Unterschiede zwischen Ihrer und unserer Position herausarbeiten: Sie
glauben, man müsse den Bürgern und Unternehmern
erst per Steuer oder - neuester Trick - per Abgabe das
Geld abnehmen, um es dann mit den entsprechenden
Verwaltungsverlusten den Bedürftigen zukommen zu
lassen. Einmal abgesehen davon, daß dieses Geld oftmals wieder die gleichen Leute erreicht, hilft es den sogenannten verdeckten Armen nicht.
Wir setzen dagegen auf die wohlstandssteigendernde
Wirkung von Investitionen und Arbeitsplätzen.
({4})
Wir wollen, Frau Kollegin Deligöz, durch steuerliche
Entlastungen den Spielraum für Investitionen und Arbeitsplätze schaffen. Auch glauben wir, daß die Bürger
besser als der Staat mit dem Geld umgehen können.
Wenn Sie sagen, das sei Neoliberalismus, dann halte ich
Ihnen entgegen, daß ich heute mit Interesse das „Handelsblatt“ gelesen habe, in dem es hieß: „Grüne für liberale Trendwende“. Was Ihre Wirtschaftssprecherin Margareta Wolf vorschlägt, ist à la bonheur. Allerdings
wurde es tapfer bei der alten Koalition, insbesondere bei
den Liberalen, abgeschrieben.
({5})
Angesichts dessen sollten Sie also sehr vorsichtig sein,
wenn Sie uns hier Neoliberalismus vorwerfen.
Da es ja viel einfacher ist, Berichte zu verfassen und
Geld umzuverteilen, als gute Politik für Investitionen
und Arbeitsplätze zu machen, möchte ich Ihnen noch
einmal in aller Kürze und zum Mitschreiben sagen, worauf es ankommt.
Herr Kollege, der
Kollege Grehn möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Wenn dann noch
Bedarf nach weiteren Zwischenfragen sein sollte, wäre
es gut, wenn sich nicht immer dieselben Fragesteller zu
Wort meldeten. - Herr Kollege Grehn, bitte sehr.
Ich habe zur Kenntnis genommen, daß Sie mich mehrfach zitiert haben. Lassen
Sie mich daher rückfragen: Ist Ihnen, der Sie auf Investitionen setzen, nicht bekannt, daß in Deutschland Arbeit immer weniger vor Armut schützt, weil der Niedriglohnsektor und die untertarifliche Bezahlung eben
nicht mehr einen erträglichen Lebensstandard garantieren?
Das ist mir durchaus
bekannt. Bei einem der vier Punkte, die ich jetzt vorstellen werde, werde ich auf dieses Problem eingehen.
Aus Gründen der Zeitökonomie bitte ich Sie, die Antwort auf Ihre Frage dann entgegenzunehmen.
In aller Kürze und zum Mitschreiben also vier Punkte, auf die es aus meiner Sicht besonders ankommt:
Erstens. Wir brauchen eine Steuerreform, die man
zu Recht als solche bezeichnen kann, also eine Steuerreform mit Nettoentlastung und klaren, auch im Ausland
verständlichen Tarifen von zum Beispiel 15, 25 und 35
Prozent, Herr Ostertag.
({0})
Aber diejenigen von Ihnen, die das kapieren, werden ja
vom Kanzler persönlich zusammengefaltet.
Zweitens. Die Betroffenen brauchen Gelegenheiten,
ihre Situation aus eigener Kraft verbessern zu können.
Viele haben das in der Vergangenheit getan, indem sie
beispielsweise als Verkaufsfahrer mit Bezuschussung
durch die Bundesanstalt für Arbeit als Subunternehmer
selbständig geworden sind. Andere haben sich als Zeitungsausträger etwas dazuverdient. Diesen Menschen
haben Sie von Rotgrün mit dem Scheinselbständigenund dem 630-Mark-Gesetz unnötig Knüppel zwischen
die Beine geworfen.
({1})
Das haben wir gestern bei der Anhörung wieder deutlich
bestätigt bekommen. Deswegen müssen diese Gesetze
im Interesse der sozial Benachteiligten auch wieder zurückgenommen werden.
Drittens. Das ist jetzt die Antwort auf Sie, Herr
Grehn. Die Tarifvertragsparteien müssen Wege finden,
wie zum einen im Niedriglohnbereich wieder Jobs entstehen können.
({2})
Die Tarifabschlüsse der Vergangenheit haben dafür gesorgt, daß Menschen mit geringen Qualifikationen keine
Arbeit mehr oder nur solche Arbeit finden, bei der der
Lohn zum Leben nicht ausreicht. Aber es ist auch klar,
daß sich der Lohn für eine Tätigkeit an der Produktivität
und nicht am Existenzminimum orientieren muß. Weil
jedoch das Einkommen aus einfacher Tätigkeit nicht
mehr ausreicht, muß hier die staatliche Unterstützung
ansetzen. Wir haben dafür das Bürgergeldsystem vorgeschlagen. Wir setzen damit auf Leistungsanreize, anstatt
Vollkaskomentalität zu verbreiten.
({3})
Viertens. Wir brauchen weniger Regulierung. Aus
Zeitgründen kann ich das nicht mehr alles vortragen. Ich
schlage Ihnen vor, daß Sie das bei Frau Wolf nachlesen.
Was sie dazu gesagt hat, ist ja weitgehend liberales Gedankengut.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
Sie von Rotgrün und PDS stellen auf die Verteilung von
Einkommen ab. Sie tendieren in Richtung einer Gleichverteilung. Wir wollen, daß alle die gleichen Chancen
haben, auf Grund ihrer eigenen Leistung Einkommen zu
erzielen. Das ist ein Unterschied. Das Einkommen ist
dann gerecht verteilt, wenn die Chancen am Start gleich
sind. Was die Menschen aber nicht wollen, ist, beim
Hundertmeterlauf Hand in Hand über die Ziellinie geführt zu werden. Deswegen fordere ich Sie auf: Machen
Sie Schluß mit der Umverteilung! Das höchste soziale
Gut ist und bleibt ein Arbeitsplatz. Ein Arbeitsplatz ist
und bleibt auch das beste Mittel gegen Armut.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun
die Kollegin Professor Luft, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zunächst einmal
meiner Genugtuung darüber Ausdruck, daß eine von der
PDS mit einem Antrag vom 11. Dezember 1996 im
Deutschen Bundestag angestoßene Debatte nun bei den
heutigen Regierungsfraktionen endlich Folgerungen
ausgelöst hat. Wir haben damals beantragt, nicht nur
Armut zu untersuchen, sondern auch Reichtum unter die
Lupe zu nehmen und Armut und Reichtum im Zusammenhang politisch zu bewerten. Das ist auch Gegenstand unseres jetzt eingebrachten Antrages.
Frau Deligöz, man kann ja zu unserem Antrag gegenteiliger Auffassung sein; das ist normal. Aber zu behaupten, uns gehe es nicht um die Betroffenen, sondern
nur darum, hier irgend etwas vorzulegen, damit der Beweis erbracht sei, daß das nicht erfüllt werden könne,
das grenzt, mit Verlaub, an Diffamierung.
({0})
Wir haben von 1996 bis jetzt bei diesem gravierenden
Thema einen Zeitverlust von drei Jahren zu beklagen.
Die Lösung des Problems ist für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft außerordentlich wichtig.
Ich nenne nur zwei Zahlen, um zu belegen, wie dieser
soziale Zusammenhalt der Gesellschaft durch die Polarisierung zwischen Arm und Reich, die ständig zunimmt, gefährdet ist. Das obere Drittel der privaten
Haushalte besitzt 70 Prozent der Vermögenswerte; das
untere Drittel hat mehr Schulden als Vermögen - und
das doch nicht, weil die alle Häuser bauen und deshalb
Kredite aufgenommen haben. Vielmehr handelt es sich
dabei um jene privaten Haushalte, zu denen Alleinerziehende, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger,
Langzeitarbeitslose und Beschäftigte im Niedriglohnbereich gehören.
Die alte Bundesregierung hatte sich zwar per Unterschrift unter das Abschlußdokument des Weltsozialgipfels von Kopenhagen 1995 verpflichtet, einen nationalen
Armutsbericht zu erstellen; sie ist dieser Verpflichtung
bis zum Ende ihrer Amtszeit aber nicht nachgekommen
- und das nicht, weil sie das zeitlich nicht mehr geschafft hätte, sondern weil sie es politisch nicht gewollt
hat. Das ist beschämend.
({1})
Ich darf Sie daran erinnern, daß Frau Nolte - sie ist leider nicht da - als die damals zuständige Familienministerin noch bis kurz vor der Bundestagswahl die Existenz von Kinderarmut lauthals bestritten hat.
({2})
Wenn die CDU/CSU-Fraktion jetzt ähnlich, wie im
übrigen wir das in unserem Antrag tun - das halten wir
für vernünftig -, vehement die Bekämpfung der verdeckten Armut fordert, dann gibt sie erstens endlich zu,
daß solche verdeckte Armut existiert, und sie gibt zweitens zu, daß keine brauchbaren statistischen Unterlagen
vorhanden sind. Schließlich muß ich sagen, daß Sie in
Ihrer 16jährigen Regierungszeit selbst etwas dagegen
hätten tun können; denn verdeckte Armut ist nun nicht
erst in den letzten zwölf Monaten, seit dem Regierungswechsel, entstanden.
({3})
Man kann wirklich Zweifel hegen, ob Sie, meine Damen
und Herren von der Union, es ernst mit dem meinen,
was Sie vorgelegt haben. Aber vielleicht können wir uns
in dem Punkt der Bekämpfung der verdeckten Armut ja
durchaus treffen.
Der Antrag der Fraktionen der rotgrünen Regierung
findet in vielen Punkten unsere Zustimmung und deckt
sich ja auch mit den meisten unserer Forderungen. Insbesondere unterstützen wir, daß ein Regierungsbericht
die Ursachen von Armut und von Reichtum darlegen
soll.
({4})
Allerdings offenbart dieser Antrag der SPD und der
Bündnisgrünen angesichts der sozialen Schieflage des
Sparpakets, über das wir in diesen Tagen ja auch reden,
ebenfalls eine Glaubwürdigkeitslücke. Es ist doch
schwer verständlich, wenn die Koalitionsfraktionen die
Bekämpfung von Armut zu einem Schwerpunkt ihrer
Politik erklären und zugleich einen großen Teil der sozial Schwachen einseitig zur Konsolidierung des Haushalts heranziehen - es darf doch nicht verschwiegen
werden, daß es hier eine Schieflage gibt -,
({5})
während Besserverdienende und Reiche verschont werden.
Über das, was von dem Haushalt 2000 zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ausgeht, haben wir
schon oft gesprochen. Von ihm werden diesbezüglich
keine Impulse ausgehen, im Gegenteil: Es wird ein weiterer Abbau von Arbeitsplätzen zu verzeichnen sein.
Wir brauchen im übrigen, denke ich, einen solchen
Bericht auch rascher als irgendwann im Jahr 2001. Das
Jahr 2001 hat ja zwölf Monate, und wenn Sie die Vorlage des Berichts auf den Dezember verschieben, dann
muß ich sagen: Diese Zeitspanne ist uns zu lang.
Hoffentlich will die SPD mit ihrer Entscheidung über
die überfällige Einführung einer Vermögensabgabe analog dem Lastenausgleich aus dem Jahre 1952 - nicht
warten, bis dieser Bericht vorliegt. Man könnte aus
mancher Formulierung in dem Antrag diesen Eindruck
gewinnen. Wie Herr Schlauch von den Bündnisgrünen
eine Abgabe für Millionäre als Symbolpolitik bezeichnen kann, das bleibt mir verschlossen, und das muß er
auch der Öffentlichkeit erst noch erklären.
Die Öffentlichkeit muß zum Beispiel endlich erfahren, welchen Zusammenhang es zwischen eskalierender
öffentlicher Verschuldung und sich potenzierendem privaten Reichtum gibt. Diejenigen, die jahrzehntelang von
öffentlicher Schuldenaufnahme profitierten, müssen
endlich ihren Obolus für die Gesellschaft leisten, auch
zur Bekämpfung von Armut.
({6})
Auch dieses leistungslose Einkommen - um das handelt
es sich doch - muß dem Gebot des Grundgesetzes unterliegen und nicht nur das Vermögen, das auf eigener
Arbeit beruht.
Es geht, Herr Kolb, nicht um Sozialneid. Es geht um
soziale Gerechtigkeit, es geht um soziale Fairneß. Offenbar weil die F.D.P. diese Zusammenhänge außer
acht läßt, hat sie mit den Wahlergebnissen zu tun, mit
denen sie sich in den letzten Wochen auseinandersetzen
mußte.
({7})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit!
Ja, ich komme zum Ende. Ich will nur noch sagen: Der Zusammenhang gilt doch
einfach nicht, daß allein durch Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit die Polarisierung von Armut auf der
einen Seite und von Reichtum auf der anderen Seite aus
der Welt zu schaffen ist. Das Nettoeinkommen der abhängig Beschäftigten, die zu einem ganz großen Teil in
der Wirtschaft tätig sind, ist in den letzten Jahren, von
1992 bis 1998, um 4,4 Prozent gestiegen, während das
Nettoeinkommen aus Gewinn und Vermögen in der
gleichen Zeit um 52 Prozent gestiegen ist. Diesen Widerspruch müssen wir auflösen. Dann können wir auch
Armut energisch bekämpfen.
Danke schön.
({0})
Ich erteile nun der
Parlamentarischen Staatssekretärin Ulrike Mascher das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß
wir heute - gerade auch angesichts der Beiträge von
Herrn Weiß und Herrn Kolb - ein neues Kapitel in der
unendlichen Geschichte der Armuts- und Reichtumsberichterstattung beginnen.
({0})
Denn wenn ich mir die Diskussionen zur Armutsberichterstattung im Bundestag in den letzten 16 Jahren noch
einmal vergegenwärtige, muß ich feststellen, daß es immer das gleiche Muster war: Die Vertreter der CDU, der
CSU, der F.D.P., der alten Bundesregierung, haben Armut geleugnet. Sie haben versucht, sie wegzudefinieren.
Sie haben versucht, die Ergebnisse der großen Armutsuntersuchungen von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und
Gewerkschaften kleinzureden. Sie haben die Datengrundlage in Zweifel gezogen. Ja, sie haben sogar versucht, die Ergebnisse eigener Berichte - wie die des
Zehnten Kinder- und Jugendberichtes - unter Verschluß
zu halten, weil sie ihnen einfach nicht ins Konzept gepaßt haben.
({1})
Herr Weiß, wenn Ihre früheren Kollegen von der Caritas
Ihren Beitrag heute gehört hätten, ich fürchte, sie müßten verzweifeln an dem, was in der Politik - jedenfalls
von seiten der CDU/CSU - artikuliert wird.
({2})
Obwohl sich die alte Bundesregierung 1995 im Abschlußdokument des Weltsozialgipfels verpflichtet hat,
einen nationalen Armutsbericht zu erstellen, ist sie dieser Verpflichtung nicht nachgekommen. Eine Debatte
über die Wohlstands-, über die Reichtumsentwicklung in
diesem Land ist - wie auch heute von Herrn Kolb - immer als Neiddebatte diffamiert worden.
Ich finde es bemerkenswert, daß die ehemalige Regierungsfraktion CDU/CSU nun immerhin einen Bericht
über die „verdeckte Armut“ fordert, um auf dieser
Grundlage Strategien zur Bekämpfung der verdeckten
Armut zu entwickeln. Ich kann ja verstehen, daß es
schwerfällt, unangenehme Fakten anzuerkennen. Aber
offenbar hat Ihnen die neue Sichtweise von der Oppositionsbank den Blick zumindest so weit geöffnet, daß es
nach 16 Jahren Ihrer Regierung Handlungsbedarf gibt
und daß es für zielgerichtetes, effektives Handeln sinnvoll und notwendig ist, sich erst einmal ein gesichertes
Datengerüst zu verschaffen.
({3})
Denn es besteht - ich zitiere aus Ihrem Antrag bei jener „verdeckten Armut“, die aus verschiedensten Gründen - Unwissenheit, Angst vor Regreßforderungen an Angehörige, Scham - ihre Ansprüche nicht einfordert, tatsächlich die Gefahr der existentiellen Gefährdung.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU,
diese „existentielle Gefährdung“ hat auch zu Ihrer Regierungszeit bestanden. Ich frage mich, warum Sie das
nicht wahrgenommen haben.
({4})
Für die neue Bundesregierung ist die Verbesserung
der Lebenslage der von Armut bedrohten oder betroffenen Menschen eine wichtige Aufgabe. Dazu brauchen
wir eine Bestandsaufnahme der sozialen Lage in unserem Land. Wir brauchen Informationen über die Einkommens- und Vermögensverteilung und zu den Lebenslagen, die zu Verarmung führen können. Grundlage
dieser Bestandsaufnahme ist für uns ein Armuts- und
Reichtumsbericht. So hoch entwickelt unsere Statistik
auch ist, hat sie immer noch Defizite, zum Beispiel was
die Zusammenhänge von Bildung und Armut sowie von
Gesundheit und Armut betrifft. Hier brauchen wir neue
Informationen.
In Absprache mit dem Bundesfamilienministerium
und in Kenntnis der Koalitionsvereinbarung der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen hat das Bundesarbeitsministerium das Projekt „Armuts- und Reichtumsberichterstattung“ auf den Weg gebracht. Frau Luft, die
SPD hat das schon vor 1996 über viele Jahre hinweg gefordert, und auch Bündnis 90/Die Grünen hat bereits vor
1996 diese Forderung aufgestellt.
Zur sorgfältigen Vorbereitung einer Armuts- und
Reichtumsberichterstattung wurden für eine Konzeptund Umsetzungsstudie zirka 200 Experten aus Politik,
Wissenschaft, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Betroffenenorganisationen befragt. Damit
wurden bereits beim ersten Schritt der Sachverstand und
die praktischen Erfahrungen der Länder, der Kirchen,
der Gewerkschaften und vieler Nichtregierungsorganisationen einbezogen.
In einer Woche, am 7. Oktober 1999, werden wir diese Ergebnisse im Rahmen des Forums „Armut und
Reichtum in Deutschland“ hier in Berlin öffentlich zur
Diskussion stellen. Die Tagung unterstreicht den Willen
der Bundesregierung, das Projekt der Armuts- und
Reichtumsberichterstattung voranzubringen und den bereits begonnenen Dialog mit allen Interessierten fortzuführen. Dieses Gesprächsangebot entspricht auch der
Absicht des Antrags von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen, daß dieser Bericht von einem Beratungsprozeß begleitet wird, an dem interessierte Organisationen, die Fachverbände sowie Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen beteiligt sind.
({5})
Wir wollen die Fragen der inhaltlichen Gestaltung
eines Armuts- und Reichtumsberichts öffentlich diskutieren. Diese Fragen werden zwar von der interessierten
Fachöffentlichkeit seit längerem intensiv diskutiert, die
Bundesregierung will aber darüber einen breiten öffentlichen gesellschaftlichen Dialog führen. Der Armutsund Reichtumsbericht soll nicht in einem internen verwaltungsmäßigen Arbeitsprozeß, sondern in einem lebendigen Austausch mit allen Interessierten und Betroffenen entwickelt werden.
Die Bundesregierung wird nach dieser Fachkonferenz
die Armuts- und Reichtumsberichterstattung vorantreiben. Das Bundesarbeitsministerium wird dabei seine
ganze Fachkompetenz einbringen, um den Bericht zu
realisieren.
Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist aber kein
Selbstzweck. Sie ist ein wichtiges und notwendiges Instrument, um die Lebenssituation von Menschen in Armut, die am Rande unserer Gesellschaft leben, überhaupt erst einmal wahrzunehmen und in ihrer Komplexität festzustellen, um sie dann gezielt zu verbessern.
Eine gerechtere Verteilung von Wohlstand und Erwerbsarbeit ist ein wichtiges Element gesellschaftlicher
und politischer Stabilität.
Ich will die Entwicklung einer Armuts- und Reichtumsberichterstattung nicht mit zu hohen Erwartungen befrachten, aber das Ausblenden der Armut und
der Reichtumsentwicklung aus unserer politischen Debatte hat ein wichtiges Stück Realität aus der politischen Arbeit verdrängt. Wir wollen uns hier in Berlin
dieser Realität stellen. Sie haben das 16 Jahre lang versäumt.
Danke.
({6})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin, dem Kernsatz am Anfang Ihrer Rede, daß die
CDU/CSU die Armut konstant geleugnet hat, muß ich
widersprechen: Das ist nicht der Fall.
({0})
Wir haben die Sozialpolitik unter schwierigsten Bedingungen gestaltet: So wurde sie für die Menschen der
jungen Bundesländer fortgeschrieben. Zum gleichen
Zeitpunkt sind - überproportional - 30 Prozent, 600 000
ausländische Mitbürger Sozialhilfeempfänger geworden.
So war das. Ich kann mir erlauben, so zu reden, weil ich
aus meinen Erfahrungen im Stadtrat heraus spreche und
mir diese Menschen genausoviel wert sind. Wir haben
zur gleichen Zeit einen erheblichen Anteil alleinerziehender Mütter mit ihren Kindern in die Sozialhilfe aufgenommen. Sie können sich im übrigen an dem heute
morgen behandelten Kinder- und Jugendbericht orientieren. Ich habe das noch einmal getan.
Nun zum Antrag selbst. Die Armut wird hier wieder
sehr vordergründig behandelt und an der materiellen
Teilhabe sowie an den Betroffenen orientiert, die am
Rande der Gesellschaft stehen. Diesem Problem sollten
wir uns auch stellen. Dies ist sicher nur ein Teil der Armut, die wir mit unserer Arbeit gemeinsam bekämpfen
sollten.
Ich bin stolz darauf, daß ich seit den 50er Jahren in
einem Sozialstaat - Herr Gilges, auch in den 60er und
70er Jahren - mitwirken durfte. Auch in den 70er Jahren
hätte man einen Armuts- und Reichtumsbericht vorlegen
können. Ich bin stolz darauf, daß ich mit Sozialdemokraten und Freien Demokraten in vielen Bereichen gemeinsam wirken durfte. Ich bin stolz auf diesen Sozialstaat.
({1})
Wir können dies nicht nur durch Gesetze und Verordnungen bekämpfen. Daß die Verteilung zwischen
Reichtum und Armut am Ende zu Nur-Armut führt,
haben Sie Frau Luft, mit Ihrer Regierung in der DDR
- Sie waren in der letzten Regierung der DDR - ja bewiesen.
({2})
Warum sage ich das? Die Wahrnehmung von Bedürftigkeit und die Situation der Betroffenen, der Bedürftigen, ist immer von der ganz konkreten Lebenssituation abhängig. Sie offenbart sich dort immer und ist
auch dort sichtbar und spürbar. Deshalb brauchen wir
eine Kultur des Helfens - ich will hier einmal auf eine
andere Linie, die uns hoffentlich verbindet, eingehen und des Mitempfindens. Das ist ganz wichtig. Dazu
brauchen wir die kleinen Einheiten im sozialen, kulturellen und nachbarschaftlichen Bereich.
Heute morgen ist von diesem Pult aus von Rednern
Ihrer Partei, der SPD, die soziale Stadt propagiert worden.
({3})
- Ja, jetzt wollen wir uns einmal um die Armen in der
Gesellschaft kümmern. - Ich bin der Meinung, daß wir
auch die Starken brauchen. Wir brauchen sehr viele
Starke, die die Schwachen tragen. Das ist entscheidend.
Anders kann unsere Gesellschaft in unserem System
überhaupt nicht funktionieren.
({4})
Dies ist aktuell und wird auch zukünftig für uns alle
aktuell bleiben. Ich will Sie auch schützen - das sage ich
ganz offen -, damit Sie keine Hoffnungen wecken, die
Sie nicht erfüllen können, und dann in zwei Jahren mit
dem Rücken an der Wand dastehen. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß es darum geht, daß der Sozialstaat
nach wie vor eine Verpflichtung gegenüber den Schwachen in der Gesellschaft hat, die an der Gesellschaft auf
Grund ihrer Eignung und Neigung sowie ihrer Leistungsfähigkeit nicht so teilnehmen können, wie es die
Starken können. Ich bin der Meinung, daß wir uns auf
diese konzentrieren sollten.
({5})
Wenn ich von kleinen Einheiten und Einrichtungen
spreche, meine ich einmal die Familien. Der heute morgen behandelte Kinder- und Jugendbericht, den ich vorhin schon erwähnt habe, sagt sehr deutlich: Bildung und
Qualifizierung sind entscheidend für die Teilhabe an
einer fortschreitenden Wirtschafts- und Dienstleistungsgesellschaft.
({6})
Da mache ich mir Sorgen um die Schulabgänger.
({7})
Die Sprecherin der Grünen hat sich vorhin Sorgen gemacht, daß das Bildungsdefizit zunimmt. Ich habe festgestellt, daß in den letzten Jahren - ich komme aus der
beruflichen Bildung - die Qualität der Schulabschlüsse
nachgelassen hat und daß Jugendliche unmittelbar nach
der Schule zu Sozialhilfeempfängern werden. Das ist für
mich eine Katastrophe.
({8})
Dies ist eine Bugwelle, die zwangsläufig zur Langzeitarbeitslosigkeit führt. Das ist verheerend.
({9})
- Ich sage Ihnen, Frau Schmidt, auch warum. - Die Jugendlichen sind im Moment mit dem, was die Sozialhilfe leistet, sogar zufrieden. Sie sehen nicht, in welche
schicksalhafte und unendlich schwierige Lage sie am
Ende geraten. Das sind unsere Kinder, und um die müssen wir uns kümmern.
({10})
Dem kann nicht allein mit Geld abgeholfen werden.
Es geht um andere Werte. Es fehlt den Jugendlichen an
Liebe und Zuneigung.
({11})
Es liegt oft daran, daß die Mutter, der Vater, die Geschwister, Großeltern und auch die Nachbarn das
Schicksal des anderen einfach nicht wahrnehmen, weil
wir in einer Gesellschaft leben, die dies mit den Ellenbogen verdrängt. So steht der Jugendliche dann allein
da.
({12})
- Wissen Sie, damit müssen Sie mir nicht kommen.
Mich können Sie nicht auf die Linie des Schröder/BlairPapiers einschwören. Dies können Sie mit Herrn Schröder machen. Dies sage ich Ihnen ganz offen. Mir ist dieses Papier egal.
({13})
Ich gehe Ihnen doch nicht auf den Leim. Ordnen Sie erst
einmal Ihr Parteiprogramm. Wenn Sie dies tun, dann
werden Sie auch wieder von den Wählern verstanden.
Die Ereignisse der letzten Woche sind doch ein Beleg
dafür, daß Sie nicht mehr verstanden werden.
Ich sage Ihnen: Die soziale Bindung zwischen Familienangehörigen ist teilweise nicht mehr vorhanden. Das
gilt auch für die älteren Menschen. Ich stelle dies fest
und beklage es. Aber ich nehme es als Fakt hin; denn ich
weiß, daß wir hier ansetzen und helfen müssen. Wir
können die Menschen nicht alleine lassen. Wer möchte
das schon?
Die Einsamkeit der Menschen nimmt besonders stark
dort zu, wo die Wertbindung verlorengeht. Eine solche
Einsamkeit bedeutet in einer Gesellschaft ohne persönliche Verantwortung für den Nächsten - dies habe ich
eben schon deutlich gemacht - eine neue Dimension. An
diesem menschlichen Problem sollten wir uns orientieren. Wenn wir uns nur an Statistiken orientieren, werden
wir nichts verändern können.
Heiner Geißler hat in den 70er Jahren ein Ergebnis
der arbeitsteiligen Gesellschaft, die von Bindungslosigkeit und fortschreitender Materialisierung geprägt ist diese Entwicklung möchte ich Ihrer damaligen Regierung gar nicht anlasten -, als „Neue Armut“ beschrieben. Dazu gehört auch die verschämte Armut, die hier
angesprochen wurde und die unstrittig ist. Diese Armut
kann nicht mit einer Statistik erfaßt werden. Wir können
auch nicht die Höhe der Einkommen als Meßlatte für
dieses Phänomen nehmen. Dieses Problem läßt sich damit nicht sichtbar machen. Wenn wir die Statistik als
Meßlatte nehmen, dann werden wir viel Zeit vertun,
einen großen Aufwand betreiben und anschließend in
schlauen Büchern nachlesen, wie wir es anders machen
können. Sie sind doch mit mir der Meinung, daß das,
was ich sage, richtig ist. Wenn dem so ist, dann benötigen wir auch keinen Armutsbericht, sondern können sofort an die Lösung dieses Problems herangehen.
Ihr Antrag geht ins Leere; denn Sie - dies haben Sie,
Herr Gilges, eben ausgeführt - erfassen mit dem geforderten Bericht im Kern nur einen qualifizierten Satz von
Daten über die Verteilung von Armut und Reichtum.
Dies ist die Kernaussage Ihres Antrags. Zu der Gruppe,
die in den Berichten ausgeblendet ist - das hat der Kollege Peter Weiß eben deutlich gemacht -, gehören zum
Beispiel jene Menschen, die trotz Rechtsanspruchs auf
Sozialhilfe nicht ihre berechtigten Ansprüche einfordern.
({14})
Sie werden von der Armutsforschung bisher nicht erfaßt.
Dies ist die verdeckte Armut. Um diese sollten wir uns
kümmern. Hier sollte das Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung konkret ansetzen. Es sollte nicht nur
Mittel für Forschungsaufträge zur Analyse und Bekämpfung der verdeckten Armut bereitstellen.
({15})
Es geht hier um Prävention. Ich bleibe dabei: Wir können unsere Kinder nur dort abholen und fördern, wo sie
stehen. Es geht um die Prävention vor Ort, ganz konkret
in den Kommunen.
({16})
- Ich weiß, Frau Rennebach, Sie betrachten die Probleme mehr aus dem Blickwinkel einer Funktionärin, ich
aus der eines Kommunalpolitikers.
({17})
Herr
Kollege Schemken, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bodewig?
Aber gerne. Bitte.
Ich möchte keine Frage an
den Funktionär des Kolping-Werks stellen, sondern an
den Bundestagskollegen. Herr Schemken, warum schaffen Sie zwischen Ihrem Appell, mehr Menschlichkeit
durch persönliches Engagement in der Gesellschaft herzustellen - diesen Appell unterstützen wir alle -, und der
Erhebung von Daten über die Frage, wie Reichtum und
Armut in dieser Gesellschaft wirklich verteilt sind, einen
künstlichen Gegensatz?
Ich bin der Meinung, daß eine Statistik, an der man die Verteilung von
Reichtum und Armut ablesen kann, lediglich ein Maßstab für Verteilung der Einkommensverhältnisse ist. Ich
möchte ein praktisches Beispiel anführen: Der Durchschnittsverdienst in Düsseldorf ist sicherlich höher als
der in Duisburg. Was möchte ich damit sagen? Mit einer
solchen Statistik werden Sie dem Anliegen, das ich
postuliere, nicht gerecht. Sie können die Probleme der
Menschen nur ganz konkret vor Ort lösen. Ich möchte
Ihnen auch erklären, warum dies so ist.
Die Bekämpfung und Prävention kann nur über
Nachbarschaftshilfe, über die Träger der Jugend- und
Familienhilfe und über die Einrichtungen der Kirchen
geschehen. Dazu gibt es in der Gesellschaft eines Sozialstaates, wie wir ihn uns vorstellen, keinen alternativen Weg - es sei denn, der Staat richtet es. Ich kann
Ihnen sagen: Wenn er es richten soll, dann richtet er es
nicht. Er geht an dem Einzelschicksal vorbei, obwohl
das Problem gerade dort und nicht bei der großen Zahl
beginnt.
({0})
Wir sollten hier lieber Beispiele darüber zusammentragen, was in den Kommunen zwar sehr unterschiedlich, aber mit viel Erfolg geschieht. Dort gibt es ehrenamtlich Tätige, auch wenn es an der finanziellen Ausstattung fehlt. Es gibt in der Stadtteilarbeit den Ganzheitsansatz. Man beginnt bei der Familie, bei Vater und
Sohn, und möglicherweise sind auch die Nachbarn dabei. Anders ist eine Lösung der Probleme nicht möglich,
weil wir in einer anonymen Gesellschaft leben. Es geht
einmal darum, die Frage der Armut aufzugreifen. Es
geht darüber hinaus darum, die Notsituation zu bewältigen, die sich aus der langen Zeit der Armut ergibt. Das
ist das Besondere dieses Ansatzes.
Herr
Kollege Schemken, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum
Schluß.
Es geht um dringende Hilfen. Helfen Sie uns dabei,
das Sparpaket nicht Wahrheit werden zu lassen! Einer
mittelständischen Stadt wie der, aus der ich komme,
wird 1 Million DM durch die Einsparungen beim Unterhaltsvorschuß genommen. Für Wohngeld in der Sozialhilfe fehlen der Stadt 4 Millionen DM. Ich weiß nicht,
wie unsere Stadt auf dem guten Weg, unmittelbar an die
Menschen heranzukommen, präventiv tätig zu sein und
die Menschen vor Armut zu schützen, angesichts dieser
Einsparungen von 5 Millionen DM weiterkommen soll.
Den eingeschlagenen Weg fortzuführen sollte unser Ansatz sein - ganz praktisch, direkt, mit wenig Aufwand.
Schönen Dank.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/999 und 14/1069 sowie
14/1213 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der
Bundeswehr vor Verunglimpfung
- Drucksache 14/985 ({0})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 14/1632 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Norbert Geis
Jörg van Essen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Werner Siemann von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nachdem es Verteidigungsminister Scharping leider nicht gelungen ist, entgegen der
ihm gegebenen Zusage die radikalen Ad-hoc-Kürzungen
im Verteidigungshaushalt zu verhindern, und da der
Bundeswehr in materieller Hinsicht die Aushöhlung
droht, dürfen wir nicht auch noch zulassen, daß ihr auf
ideeller Ebene das gleiche Schicksal widerfährt.
({0})
Das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ wird regelmäßig bei feierlichen Gelöbnissen in der Öffentlichkeit gerade von denen benutzt, die die Soldaten und ihre
Angehörigen mit Diffamierungen treffen wollen und die
wissen, daß sie dabei straffrei ausgehen. Damit untergraben sie das Grundgesetz. Sie erschleichen sich den
Schutz der Meinungsfreiheit, um straffrei Hetze gegen
die Soldaten betreiben zu können. Die hinter der Meinungsfreiheit stehenden Intentionen können jedoch nicht
sein, denjenigen Tür und Tor zu öffnen, die die Funktionsfähigkeit einer Verfassungsinstitution zu schwächen
versuchen.
({1})
Es wäre naiv und weltfremd, der Mehrheit dieser
Demonstranten hehre Ziele zu unterstellen. Ihnen geht
es in der Masse nicht darum, die moralische Abscheu
vor dem Krieg zum Ausdruck zu bringen; vielmehr sollen durch bösartige Verleumdungen die Soldaten beleidigt und die Bundeswehr in ihrem Ansehen geschädigt
werden.
Der Soldaten-sind-Mörder-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom August 1994 hat zu großer Verunsicherung und auch zu Bestürzung innerhalb der Bevölkerung geführt; denn durch diese Entscheidung entstand
der Eindruck, Bundeswehrsoldaten könnten straflos als
Mörder bezeichnet werden. Daß dem nicht so ist, wird
leider viel zuwenig publiziert.
({2})
Vor diesem Hintergrund ist die derzeitige Regelung
unzureichend und änderungsbedürftig. Mit Nachdruck
treten wir für eine Klarstellung dieser Fehlinterpretation
ein und fordern die staatliche Sanktionierung von verleumderischen Äußerungen über Bundeswehrsoldaten.
Unser Gesetzentwurf dient nicht nur der Verbesserung
des Schutzes der Bundeswehr vor Verunglimpfung, sondern ist zugleich auch ein wichtiges Zeichen für die Soldaten und ihre Familien.
Allein im Kosovo setzen zur Zeit 4 758 deutsche Soldatinnen und Soldaten tagtäglich ihr Leben ein, um
Menschen zu helfen, die von Terror, Aggression und
Vertreibung bedroht sind.
({3})
Sie leisten einen Dienst an der Menschlichkeit. Wie infam klingt da der Vorwurf, sie seien Mörder. Wie muß
es auf die Soldatinnen und Soldaten sowie ihre Familienangehörigen wirken, wenn sie bei Gelöbnissen und
anderen vergleichbaren Anlässen bösartigen Verleumdungen und Ehrkränkungen ausgesetzt sind?
({4})
Während unsere Soldaten im Einsatzland als Befreier
gefeiert und verehrt werden, sollen sie bei uns zu Hause
beschimpft und verachtet werden dürfen? Das kann doch
wohl nicht richtig sein.
({5})
Anschließend verlangen wir dann von denselben Soldaten, die als Mörder tituliert wurden und die wir bislang nicht effektiv vor diesen Diffamierungen schützen
konnten, hochmotiviert und voller Idealismus ihren
Dienst zu verrichten.
({6})
Daß sie dabei im Rahmen von friedenserhaltenden und
friedensschaffenden Maßnahmen ihr Leben aufs Spiel
setzen müssen, um die Menschen im Einsatzland vor
wirklichen Mördern zu schützen, soll dann als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Unser Grundgesetz verpflichtet zum Wehrdienst. Insofern haben die Wehrpflichtigen eine Sonderstellung.
Daher besteht für den Gesetzgeber eine besondere
Schutzverpflichtung gegenüber denen, die dieser Verpflichtung nachgekommen sind und in Zukunft nachkommen werden. Wir, dieses Parlament, und kein anderer tragen dafür Verantwortung, daß das Ansehen unserer Soldaten nicht verletzt wird und die Einsatzfähigkeit
der Bundeswehr gewahrt bleibt.
Die Bundeswehr leistet einen aktiven, wertvollen und
unverzichtbaren Friedensdienst. Aus aller Welt erreichen uns Bitten, Wünsche und Forderungen, die Bundeswehr möge helfen. Unsere Soldaten dienen dem
Frieden und schützen die oft völlig wehr- und schutzlose
Zivilbevölkerung vor Mördern.
({7})
Soldaten verhindern die Ermordung von Menschen, allen voran die Soldaten der Bundeswehr, die sich in der
Vergangenheit gerade auch bei humanitären Einsätzen
bestens bewährt haben.
({8})
Zur Zeit wird die Entsendung von 50 Bundeswehrsanitätern nach Osttimor erwogen, um im Rahmen der
UNO-Mission Interfet den Menschen zu helfen. Auch
dies ist ein weiterer Beleg für den Friedensdienst unserer
Armee.
({9})
Das Bild des Soldaten hat sich gewandelt. Es wird
Zeit, die Gesetzeslage den geänderten Verhältnissen anzupassen. Daher müssen die Soldaten der Bundeswehr
stärker als in der Vergangenheit vor Beleidigung und
Verunglimpfung geschützt werden.
({10})
Die materielle und finanzielle Ausstattung der Bundeswehr ist mehr als bescheiden. Eine Aussicht auf
Besserung ist nicht in Sicht. Das Ansehen der Bundeswehr kann indes ohne großen Aufwand besser als bisher
geschützt werden. Daher appelliere ich an Sie, meine
Damen und Herren, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
({11})
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Joachim Stünker von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf beschäftigt das Hohe Haus nicht zum erstenmal. Ein Gesetzentwurf gleichen Inhaltes wurde
schon 1996 von der alten Koalition hier eingebracht.
({0})
Er ist dann Ende 1996 stillschweigend beerdigt worden,
weil Sie damals für Ihren eigenen Gesetzentwurf keine
Mehrheit hatten.
({1})
Dieses geschah aus gutem Grund, weil der Entwurf
rechtspolitisch schlichtweg überflüssig ist. Sie, Herr
Siemann, haben es, wie ich denke, genauso gelernt wie
ich, daß hier der alte Rechtsgrundsatz gilt: Was überflüssig ist, ist falsch.
({2})
Wäre die Verunglimpflichung und die Verletzung der
Ehre von Bundeswehrsoldaten und der Funktionstauglichkeit der Bundeswehr als solcher in unserem Land
tatsächlich nicht strafrechtlich geschützt, es bestände
unzweifelhaft gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Dieses würde allein der von der Verfassung konzipierte
Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der
Menschenwürde gebieten, ein Schutz, der Selbstverständlich auch für die Staatsbürger in Uniform gilt.
Weiter würde es die Gewährleistung der Landesverteidigung gebieten.
Also fragen wir uns: Wie ist eigentlich die geltende
Rechts- und Gesetzeslage?
({3})
- Die scheinen Sie nicht zu kennen, Herr Kollege Geis. In den Paragraphen 185ff StGB werden Beleidigung, üble
Nachrede und Verleumdung unter Strafe gestellt.
({4})
An dieser eindeutigen Rechtslage hat sich durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober
1995, der in der Öffentlichkeit so heftig diskutiert und
politisch über das Maß des Erträglichen hinaus polemisiert wurde, nichts, aber auch gar nichts geändert, Herr
Kollege Siemann.
({5})
Wer dies behauptet, hat die Entscheidung entweder nicht
gelesen, nicht verstanden oder bewußt mißverstanden.
({6})
Wir alle wissen: Es ging und es geht dabei um Äußerungen wie „Soldaten sind Mörder“ und „Soldaten sind
potentielle Mörder“. Das Bundesverfassungsgericht
hat die Gleichstellung von Bundeswehrsoldaten mit
Mördern ausdrücklich für nicht zulässig erklärt.
({7})
Der Entscheidung liegen vielmehr drei tragende Erwägungen zu Grunde, die ich gerne erläutern möchte Herr Siemann hat dazu gerade aufgefordert -: Erstens.
Das Bundesverfassungsgericht hat in Übereinstimmung
mit den Strafgerichten in der wertenden Gleichstellung
eines Soldaten mit einem Mörder eine tiefe Kränkung
gesehen. Die umstrittenen Äußerungen müssen im Einzelfall diesen Sinn aber auch wirklich gehabt haben.
Zweitens. Art. 5 Abs. 2 GG erlaubt Beschränkungen
der Meinungsfreiheit zum Schutz der persönlichen Ehre.
Ich wiederhole - so steht es in der Verfassung -: der
persönlichen Ehre. Deshalb müssen die herabsetzenden
Äußerungen einzelne Personen betreffen. Aber auch in
Äußerungen über ein Kollektiv kann unter Umständen
ein Angriff auf die persönliche Ehre seiner Mitglieder
liegen. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich
bestätigt und klargestellt, daß die aktiven Soldaten der
Bundeswehr ein derartiges Kollektiv bilden.
Drittens. Kommt es zu einem Konflikt zwischen
Meinungsfreiheit und Ehrenschutz, so muß eine Abwägung zwischen der Schwere der Beeinträchtigung vorgenommen werden, die jedem der beiden Rechtsgüter
droht.
Herr
Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Breuer?
Nein, ich möchte meine
Rede im Zusammenhang vortragen.
({0})
Hierbei sind die Umstände des Einzelfalles abzuwägen. Der Abwägung bedarf es dann nicht mehr, wenn es
sich bei der Äußerung um eine Schmähkritik handelt. In
diesen Fällen geht der Ehrenschutz immer der Meinungsfreiheit vor.
({1})
Diese Abwägungsschritte muß der Strafrichter bei jeder Beurteilung, in jedem Einzelfall vornehmen. Das
mag kompliziert klingen, und das ist es für den Laien sicherlich auch. Aber seien Sie gewiß: Das können die
Gerichte, das ist erlernte Subsumtionstechnik, das ist
Praxis seit 50 Jahren, seit Geltung des Grundgesetzes in
diesem Land.
({2})
Lassen Sie mich daher den vorigen Bundespräsidenten, einen ja nicht gerade unbedeutenden Verfassungsrechtler in unserem Land, zitieren, bei dem ich 1967 an
der Freien Universität in Berlin Staats- und Verfassungsrecht gelernt habe.
({3})
Er hat unter Bezugnahme auf den obengenannten Beschluß vor Kommandeuren der Bundeswehr kurz nach
Veröffentlichung dieses Beschlusses gesagt:
Es kann bestraft werden, wer konkrete Soldaten
einfach deshalb, weil sie Soldaten sind, als Mörder
bezeichnet, und es kann sogar bestraft werden, wer
die Bundeswehr als Ganzes - also immerhin einen
Kreis von
- damals noch 340 000 Personen - als Mörder bezeichnet.
So Roman Herzog.
Es bleibt deshalb die Frage, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der F.D.P. - denn Sie wollen
dem Entwurf ja auch zustimmen -: Was wollen Sie mit
dem Gesetzentwurf rechtspolitisch erreichen?
({4})
- Ich habe ihn sehr wohl gelesen, Herr Geis. Ich habe in
meinem Beruf gelernt, erst zu lesen und dann zu reden.
Das scheint bei Ihnen nicht der Fall zu sein.
({5})
In der Begründung heißt es, „die Verunglimpfungen
von Bundeswehrangehörigen“ sollen „pönalisiert“ werden, „sofern jene geeignet sind, das Ansehen der Bundeswehr oder ihrer Soldaten in der öffentlichen Meinung
herabzuwürdigen“.
({6})
Auf den Ehrschutz habe ich eben hingewiesen. Es
gibt aber noch § 109 d StGB unter der Überschrift
„Straftaten gegen die Landesverteidigung“. Diese Vorschrift stellt bereits heute die Störpropaganda gegen die
Bundeswehr - den Fall, daß jemand unwahre oder verzerrte Behauptungen über die Bundeswehr aufstellt und
damit ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigt - unter
Strafe, immerhin mit einer Strafandrohung von maximal
fünf Jahren Freiheitsstrafe.
Was bezweckt also die von Ihnen beabsichtige Einführung von § 109 b StGB? Es tut mir leid,
({7})
- Herr Geis, es tut mir leid, weil ich nicht gedacht hätte,
daß Sie so weit gehen würden -, daß ich nach einer
rechtlichen Prüfung nur antworten kann: Was Sie vorhaben, ist der Versuch, das einzuschränken, was das Bundesverfassungsgericht als ein klares konstitutives Element der Demokratie bezeichnet, nämlich das hohe Gut
der Meinungsfreiheit.
({8})
Genau das werden wir nicht zulassen. Es muß auch in
diesem Staat möglich sein, extrem pazifistische Äußerungen polemisch von sich zu geben. Wir sind davon
überzeugt: Das hält unsere Demokratie aus,
({9})
genauso wie Weimar 1932 das Ossietzky-Urteil ausgehalten hat.
({10})
Herr
Kollege Stünker, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja, ich komme zum
Schluß.
Eine abschließende Überlegung. Mit der von Ihnen
beabsichtigen Einführung von § 109 b StGB werden
Sie Art. 5 des Grundgesetzes und den Schutz der freien
Meinungsäußerung im Rahmen der hierzu entwickelten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
nicht außer Kraft setzen können. Das einfache Recht
bricht nicht Verfassungsrecht. Was heißt das? Wenn
Ihre Regelung in Kraft treten würde, würden Sie die
Probleme nur nach untern, auf die Gerichte verlagern,
die dann mit einem Gesetz zu tun hätten, das meines
Erachtens nicht handhabbar wäre. Das wollen wir verhindern.
Schönen Dank.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich bin, so glaube ich, zum vierten
Mal Redner meiner Fraktion zu diesem Thema. Deshalb
liegt es nahe, daß ich ein Resümee ziehe. In diesem Zusammenhang muß man feststellen, daß es in dieser Debatte immer wieder Stereotypen gibt. Es lohnt sich, einmal nachzuschauen, inwieweit sie eigentlich zutreffen
oder nicht zutreffen.
Es wird zum Beispiel immer wieder die Behauptung
aufgestellt, schon nach dem geltenden Recht könne jederzeit eine Beleidigung von Bundeswehrsoldaten strafrechtlich verfolgt werden. Diese Aussage ist zunächst
einmal für sich genommen richtig, weil wir ja Beleidigungsvorschriften haben, die jedermann und damit auch
die Soldaten der Bundeswehr schützen. Wer aber ein
wenig mit der Praxis zu tun hatte - ich war sehr lange
Zeit für diesen Bereich zuständig -, der weiß, daß das
eine Behauptung ist, die von der Wirklichkeit nicht einmal andeutungsweise gedeckt wird.
({0})
Der Grund dafür ist einleuchtend: Personen beleidigen bewußt und vorsätzlich die Bundeswehr, weil es ihrer politischen Überzeugung entspricht. Obwohl ich ihre
Meinung nicht teile, habe ich Respekt davor. Wenn aber
ein Ermittlungsverfahren gegen diese Personen eingeleitet wird, dann ziehen sie sozusagen die Karte, indem
sie sagen: Ich habe mit der Aussage „Soldaten sind
Mörder“ nicht die Bundeswehrsoldaten gemeint. Diese
Aussage entspricht meiner allgemeinen pazifistischen
Auffassung, die ich damit zum Ausdruck gebracht habe.
Auf Grund der Fälle, mit denen ich befaßt war, kann ich
sagen: Wenn diese Karte gezogen wird, dann wird das
Ermittlungsverfahren eingestellt.
({1})
Mit diesem Sachverhalt müssen wir uns beschäftigen. Er
entspricht doch der Realität.
({2})
Obwohl es kein Straftatbestand ist, müßte man möglicherweise wegen Dummheit bestraft werden, wenn
man nicht zu dieser Karte im Falle eines drohenden Ermittlungsverfahrens greifen würde. Machen wir uns
doch nichts vor: Das tun doch alle in diesem Fall. Es gehört zur Ehrlichkeit in dieser Diskussion, darauf hinzuweisen.
({3})
Die zweite Frage, die wir beantworten müssen, lautet:
Singen wir eigentlich das Hohelied der Meinungsfreiheit immer gleich? Wenn Personen vom rechten Rand
des politischen Spektrums ihre politischen Gegner diffamieren - zum Beispiel nationale oder sexuelle Minderheiten -, dann bildet sich sofort eine große Koalition
- ich bin froh, daß es so ist -, die sagt: Das kann nicht
hingenommen werden; dagegen muß eingeschritten
werden. Ich bin froh darüber, daß es so ist. Aber wenn
wir auf der anderen Seite des politischen Spektrums Personen haben,
({4})
die das gleiche, möglicherweise sogar mit gleichen
Formulierungen, machen gegen diejenigen, die sie politisch nicht akzeptieren - dazu gehören nun einmal die
Soldaten der Bundeswehr -, hören wir unglaublich viele,
die das Hohelied der Meinungsfreiheit singen.
({5})
- Nein, Herr Beck, ich gestatte Ihre Zwischenfrage
nicht.
({6})
Wer, wie ich, lange Zeit im Bereich der Strafverfolgung mit politischem Hintergrund tätig war, weiß, daß
es da zum Teil groteske Vorgänge und sehr unterschiedliche Beurteilungen gleicher Vorgänge gibt.
Die letzte Bemerkung, die ich machen möchte - weil
mir leider nur noch 30 Sekunden Zeit bleiben -: Wir
müssen hier, wie ich finde, eine der Verfassung gemäße
Abwägung zwischen zwei Dingen vornehmen: dem
Recht auf Meinungsfreiheit auf der einen Seite - ein
hohes Gut in einer Demokratie; gerade Liberale schätzen
dieses Gut besonders hoch ein - und dem, ebenfalls von
der Verfassung geschützten, Recht auf Ehre und Menschenwürde auf der anderen Seite.
Nach meiner Auffassung haben wir bei dieser Abwägung hier einen vernünftigen Weg gefunden. Nicht jede
einfache Beleidigung wird unter Strafe gestellt. Deshalb
bleibt es zum Beispiel hier beim Strafantragserfordernis.
Es bleibt auch bei der Abwägung, die das Bundesverfassungsgericht vorgenommen hat. Verunglimpfung dagegen bedeutet einen besonders hohen Grad der Beleidigung.
({7})
Sie ist auch systematisch durchaus richtig angesiedelt. Der Kollege Stünker hat heute ein Argument nicht
wiederholt, das wir in den vergangenen Debatten gehört
haben. Er hat zu Recht auf § 109 d Strafgesetzbuch hingewiesen, in dem wir Fälle der Störpropaganda gegen
die Bundeswehr geregelt haben, was auch von der Einordnung her paßt. Ich glaube, daß wir hier eine vernünftige Abwägung vorgenommen haben.
Ich glaube auch, daß wir genau das machen, was das
Bundesverfassungsgericht immer von uns fordert. Wenn
wir mit dem einen oder anderen Urteil nicht zufrieden
sind, sagen uns die Richter: „Macht doch ein anderes
Gesetz! Dann nehmen wir eine Abwägung vor.“ Genau
dieser Auffassung bin ich. Wir machen hier einen Gesetzgebungsvorschlag, der das Bundesverfassungsgericht dazu bringt, eine neue Abwägung vorzunehmen.
Ich halte das für richtig. Deshalb wird die F.D.P.Bundestagsfraktion dem besseren Schutz der Soldaten,
den diese verdient haben, zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker Beck
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lauter alte
Bekannte treffen wir hier im Plenum.
({0})
Die Wiedervorlagemappe der Union scheint wirklich
unerschöpflich zu sein. Aber so richtig ernst können Sie
Ihre Vorlage ja nicht nehmen: Sie haben sie uns bereits
im Jahre 1996 präsentiert. Damals haben Sie das nicht
weiterverfolgt, weil Ihr Koalitionspartner nicht mitgemacht hat.
({1})
Heute sehe ich in der Gruppe der F.D.P., die anwesend
ist, keine Liberalen.
({2})
Aber Sie können ja mit Sicherheit davon ausgehen, daß
das nicht ins Gesetzblatt kommt.
Es besteht keinerlei Bedürfnis nach einem zusätzlichen strafrechtlichen Schutz der Bundeswehrsoldaten. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt - das
wurde schon betont -: Strafgerichte sind bereits heute
nicht daran gehindert, herabsetzende Meinungsäußerungen, zum Beispiel schwere Kränkung, zu bestrafen,
wenn diese auf Soldaten der Bundeswehr als überschaubare Gruppe bezogen sind. Eine Beleidigung von Soldaten der Bundeswehr ist nach § 185 StGB strafbar. Aber Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Unions-Fraktion, wollen offenbar jegliche gegen
Soldaten gerichtete dümmliche Äußerung unter Strafe
stellen.
Wir sind uns hier im Haus einig: Bundeswehrsoldaten
sind keine Mörder.
({3})
Was könnten wir Besseres für ihre Ehre tun, als uns als
demokratische Politiker vor ihre Armee zu stellen und
diese, wie es sich gehört, in der demokratischen Auseinandersetzung zu verteidigen? Wir brauchen nicht zu allem das Strafrecht in der politischen Auseinandersetzung.
Herr Geis, wenn jeder Blödsinn bestraft würde, würde ich mir Sorgen um Ihre Fraktion machen, denn dann
würde sie demnächst als kriminelle Vereinigung verboten!
({4})
Herr van Essen, es ist einfach nicht korrekt, was Sie
vorhin gesagt haben. Niemand in diesem Haus hat einen
besonderen strafrechtlichen Schutz zum Beispiel für bestimmte Minderheiten gefordert. Sie finden einen solchen besonderen Schutz auch nicht im Strafrecht.
({5})
Volksverhetzung ist verboten. Ansonsten muß jeder Angehörige einer Minderheit als Einzelperson beleidigt
worden sein,
({6})
um einen strafrechtlichen Schutz für sich einfordern zu
können.
({7})
Meine Damen und Herren, wie oft kommt es immer
noch vor, daß aufopferungsvoll arbeitende junge Männer
etwa im Bereich der Alten- oder Krankenpflege, die Zivildienstleistenden, als Drückeberger beschimpft werden?
({8})
Käme jemand auf die Idee, das zu einem Fall für die
Strafjustiz zu machen? Das ist Unsinn. Das weisen wir
zurück, und damit ist es auch gut.
({9})
Weder Zivildienstleistende noch Bundeswehrsoldaten
sind aus Zuckerwatte. Wenn wir gemeinsam solche Äußerungen zurückweisen, reicht dies aus.
({10})
Da, wo individuell jemand beleidigt wurde oder wo gehetzt wurde, muß der Strafrichter einschreiten, aber
nicht bei jeder Äußerung, die weit darunterliegt.
Herr
Kollege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Nolting?
Im Gegensatz zu Ihrem Kollegen van Essen bin ich so
kulant.
Herr Kollege
Beck, würden Sie uns einmal den Unterschied zwischen
dem Begriff „Mörder“ und dem Begriff „Drückeberger“
erklären?
({0})
Natürlich besteht da ein Unterschied, den ich Ihnen aber,
glaube ich, nicht erklären muß, weil er so offensichtlich
ist.
({0})
Beides jedoch ist in gleicher Weise beleidigend und
herabsetzend gemeint. Sie schreiben in Ihr Gesetz ja
nicht hinein, der Satz: „Soldaten sind Mörder“ ist strafbar, sondern Sie wollen jede herabwürdigende Äußerung
bestrafen. Damit sind wir auch bei Begriffen wie „Drükkeberger“, Begriffen also, die unter dem liegen, was Sie
hier zur Diskussion stellen.
({1})
Natürlich ist auch dieser Begriff herabsetzend, wenn
Sie sehen, was für einen aufopferungsvollen Dienst die
Leute leisten. Ich finde es auch absurd, daß Sie mit solchen Gegenüberstellungen kommen, wodurch Sie insinuieren, wir wollten das auf eine Ebene heben. Wir weisen beides gleichermaßen zurück. Natürlich ist das eine
ein schärferer Vorwurf. Aber Sie differenzieren in Ihrem
Gesetz nicht nach schärferen und weniger scharfen
Vorwürfen. Sie wollen jede Schmähkritik verbieten.
({2})
Ich meine, eine solche muß man zurückweisen, sollte sie
aber nicht verbieten.
({3})
Wen wollen Sie eigentlich beglücken, Herr Geis? Der
Deutsche Bundeswehrverband hat selbst kein Interesse
an diesem strafrechtlichen Schutz. Das ist ein reines
Wahlkampfmanöver.
({4})
Ich finde es auch schofel, wie Sie hier vorgegangen
sind. Unsere Soldaten leisten gegenwärtig im Kosovo
eine sehr schwierige Aufgabe. Wir alle hoffen, daß ihnen nichts zustößt - ihr Leib und Leben setzen sie jeden
Tag für Frieden und für Menschenrechte ein -;
({5})
das ist unser aller Sorge als Parlamentarier; denn wir
tragen die Verantwortung, weil wir sie dort hingeschickt
haben.
({6})
In dieser Situation eine billige parteipolitische Suppe
wie mit diesem Gesetzentwurf zu kochen, das ist der gegenwärtigen Situation nicht angemessen. Wir lassen unsere Soldaten nicht im Regen stehen. Wir wollen, daß da
unten niemandem etwas passiert. Aber hier mit strafrechtlichen Forderungen zu kommen ist einfach Blödsinn. Deshalb sage ich Ihnen: Lassen Sie diese Debatte
ruhen. Lassen Sie uns gemeinsam denjenigen entgegentreten, die mit unqualifizierter Kritik in die Debatte gehen.
({7})
Sie erwecken mit der heutigen Debatte den Eindruck,
als ob es zwischen den demokratischen Parteien da einen Dissens gäbe.
({8})
Das ist für die politische Atmosphäre in unserem Land
in der Tat ein Schaden, den wir eigentlich vermeiden
sollten.
Vielen Dank.
({9})
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Jünger von der PDSFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird Sie vermutlich nicht überraschen, daß wir den Gesetzentwurf der CDU/CSUFraktion ablehnen.
({0})
Er ist unnötig, sinnlos und - wie Ralph Giordano schon
1996 zu diesem Thema schrieb - „von allen legislativen
Kröpfen der bundesdeutschen Justizgeschichte der überflüssigste“.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion hat ihren verstaubten Entwurf aus der letzten Wahlperiode hier mitten im Kosovo-Krieg eingebracht. Damit wollte sie wohl diese Zeit
nutzen, um sich in der Öffentlichkeit und vor allem bei
den Soldaten als Oberpatrioten und Verteidiger der Soldatenehre aufzuspielen.
Ich denke, daß wir für Soldaten keinen besonderen
Ehrenschutz brauchen. Die bestehenden Regelungen im
Strafgesetzbuch reichen völlig aus.
({2})
- Da war ich aber nicht drin. Das können Sie mir glauben. Ich bin erst 26. Rechnen Sie einmal nach!
Ich bin aber der Meinung, daß es ein Recht auf Meinungsfreiheit gibt und daß Soldaten in einer demokratischen Gesellschaft damit leben können müssen, wenn
jemand eine andere Auffassung über ihren Berufsstand
und über das potentiell tödliche Kriegshandwerk vertritt.
Krieg - das heißt nun einmal Morden, Verstümmeln
und noch viel mehr Greueltaten, auch wenn Fernsehbilder heutzutage tödliche Luftangriffe wie harmlose Videospiele aussehen lassen und die Bomberpiloten ihre
Opfer nicht mehr sehen, weil sie schon viele Kilometer
entfernt sind, wenn die Bomben einschlagen. Das muß
jedem und jeder klar sein. Gerade Soldaten als Staatsbürger in Uniform müssen diesen Tatsachen ins Auge
sehen und sich auch den Positionen der Gegnerinnen
und Gegner ihres Metiers stellen.
Herr Nachtwei hat in der ersten Lesung gesagt, die
Soldaten von heute seien ja unterwegs, um Mord und
Totschlag zu verhindern. Aber das ist im Kosovo mit
Bomben versucht worden, oder etwa nicht? Aber gleichzeitig mit dem neuen Auftrag und der neuen Rolle der
Bundeswehr wurde der deutschen Öffentlichkeit ja auch
eine neue Sichtweise und ein neuer Sprachgebrauch nahegelegt. Daß auch NATO-Luftangriffe tödlich sind kein Thema! Und wenn dann ein vollbesetzter Linienbus
oder ein Flüchtlingstreck von Bomben getroffen werden,
dann heißt das in diesem Frühjahr auch in Deutschland
„Kollateralschaden“. Nach dieser Logik, dieser Kriegslogik, sind Soldaten heutzutage sowieso keine Mörder
mehr.
({3})
- Frau von Renesse, ich darf Sie an die Erklärung des
Genossen Gysi zu 1968 erinnern. Wenn Sie mich fragen,
kann ich Ihnen auch meine Position zum Einmarsch von
1968 darlegen.
({4})
Das geht dann auf meine Redezeit; das werde ich jetzt
nicht mehr tun.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn
Sie die Ehre von Soldaten wirkungsvoll schützen wollen, dann sorgen Sie in Zukunft mit dafür, daß diese
Männer nicht im staatlichen Auftrag morden müssen.
Das wäre weitaus sinnvoller, als unliebsame Zitate und
Parolen aus der Öffentlichkeit verbannen zu wollen.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerd Höfer von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns in diesem Hause relativ schnell einig, wenn wir über die Bundeswehrsoldaten sprechen, indem wir das, was sie zur Zeit tun,
loben und ihnen öffentlich Dank und Anerkennung aussprechen.
({0})
Auch das will ich ihnen heute nicht versagen.
Wir sind uns in diesem Hause einig, daß die Bundeswehrsoldaten Bürger in Uniform sind. Wir sind uns
ebenso einig, daß die Soldaten diese Rolle angenommen
haben und diese Rolle in diesem Staate hervorragend
ausfüllen.
({1})
Wir sind uns nicht einig, daß die Folgerungen juristischer Art, die mein Kollege hervorragend dargestellt hat,
für die Soldaten als Bürger in Uniform noch zusätzlich
ergänzt werden müssen.
({2})
Die Soldaten sehen das ganz anders, weil ihre selbstbewußte Rolle es mit sich bringt, daß sie sich nicht durch
Aussprüche wie „Soldaten sind Mörder“ oder ähnliches
beleidigen zu lassen brauchen und sie dadurch auch
nicht beleidigt werden können.
({3})
- Das haben viele Soldaten auch Ihnen, Herr Breuer, bei
den vielen Truppenbesuchen und bei den Besuchen der
Institutionen der Bundeswehr bestätigt, und auch Ihnen
ist bestätigt worden, zum Beispiel durch den Bundeswehrverband,
({4})
daß diese Dinge nicht unbedingt notwendig sind.
Nun hat mich mein alter Vater, weil er Kriminalbeamter war, gelehrt, daß man, wenn irgend etwas passiert,
nach dem Motiv fragen sollte. Also frage ich nach dem
Motiv für diese Debatte und stelle fest: Diese Art der
Debatte - vor allem, wie sie Herr Siemann geführt hat haben die Soldaten nicht verdient.
({5})
- Herr van Essen, es sind keine Stereotypen, die hier
dargeboten werden, sondern es sind Rituale.
({6})
Was soll hier ritualisiert werden? - Hier soll ritualisiert
werden, wie Sie es versucht haben in dem Vergleich mit
dem Hohelied der Meinungsfreiheit, daß man, je nachdem, in welchem politischen Lager man stehe,
({7})
bestimmte Beleidigungen eher lieber höre als andere.
({8})
Diese Unterstellung weise ich zurück,
({9})
auch im Interesse Ihrer Partei, weil Ihre Parteilichkeit in
diesem Bundestag dargestellt werden soll, denn die Demokratie lebt auch von Parteilichkeit und unterschiedlichen parteipolitischen Ansätzen. Da zu unterstellen, daß
einseitig das Hohelied der Meinungsfreiheit ausgenutzt
wird - in dem Sinne haben Sie es heute dargestellt -, ist
einfach nicht akzeptabel.
({10})
Wenn ich bei der Suche nach einem Motiv bin und
Rituale feststelle, dann ist es ganz einfach: Das Motiv ist
das Ritual. Gegenüber unseren Soldaten, die demokratisch kontrolliert sind, die ihre Aufträge von diesem
Parlament mit großer Mehrheit bekommen und die 80
Prozent der Bevölkerung hinter sich wissen, soll hier
herausgearbeitet werden: Da gibt es eine kleine Gruppe,
die besser hinter ihnen steht als die anderen. Das ist der
ritualisierte Zweck der Übung, die heute zum zweitenmal hier vorgeführt wird.
({11})
Ich habe Verständnis dafür, daß in der letzten Legislaturperiode wegen besserer Einsicht ein Gesetzesvorhaben verschwunden ist. Ich habe jedoch kein Verständnis dafür, dieses, nachdem die Rolle gewechselt
wurde, wiederaufleben zu lassen, um mit billiger
Polemik möglicherweise neues Wählerpotential auszuschöpfen.
({12})
Diese Ritualisierung haben unsere Soldaten nicht verdient.
({13})
Sie haben es verdient, daß wir uns fürsorglich um sie
kümmern. Sie haben es verdient, daß derjenige, der solche beleidigenden Äußerungen wie „Mörder“ hört, den
Mut hat, diese unter Nennung der Person - falls er dazu
in der Lage ist - strafrechtlich anzuzeigen. Dann ist eine
solche Äußerung verfolgbar.
Ich habe auf der entsprechenden Kommandeurstagung neben dem Bundespräsidenten Herzog gesessen, als dieses Zitat fiel. Er hat den aufgeregten Offizieren gesagt: Wenn einer diese Beschimpfung angezeigt
hätte, wäre sie verfolgt und strafrechtlich relevant geworden.
({14})
Das gilt heute nach wie vor. Die Tatsachen ändern sich
durch die Art und Weise Ihres Verhaltens hier nicht.
Lassen Sie uns wieder auf den Boden zurückkehren,
unseren Job in Gelassenheit tun, unseren Soldaten fürsorglich gegenüberstehen und dafür sorgen, daß die
Bundeswehr ihren Auftrag erfüllen kann. Bei den Soldaten wird es durch diese Debatte mit Sicherheit zu keiner Aushöhlung der Verteidigungsfähigkeit kommen.
Darauf werden insbesondere die Soldaten selber achten.
Ich glaube nicht, daß diese Debatte geeignet ist, die Motivation der Soldaten zu stärken - eher andersherum.
({15})
Als
nächster und vermutlich letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Götzer von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Unsere
Soldaten riskieren ihr Leben beim Einsatz für Frieden
und Menschenrechte im Kosovo. Ihr Dienst ist ethisch
nicht nur gerechtfertigt, sondern auch aus Gründen der
Humanität notwendig. Unsere Soldaten retten und
schützen Leben. Trotzdem kommt es immer wieder zu
Verunglimpfungen der Bundeswehr. Das kann uns
nicht gleichgültig lassen. Schon gar nicht dürfen wir es
hinnehmen, daß unsere Soldaten als Mörder bezeichnet
werden können.
({0})
Leider haben zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gezeigt, daß der Schutz der Bundeswehr und ihrer Soldaten vor Verunglimpfung in bestimmten Fällen durch das geltende Recht nicht ausreichend gewährleistet ist.
({1})
- Verehrte Kollegen von der Regierungskoalition, ich
werde darauf eingehen. - Das sind die Fälle, in denen
unter vorgeblicher Berufung auf radikalpazifistische Positionen in Wirklichkeit bewußte Ehrverletzungen begangen werden.
Diese beiden Entscheidungen sind in der deutschen
Öffentlichkeit heftig kritisiert worden. Aber auch innerhalb des Ersten Senats gab es gravierende Meinungsverschiedenheiten, wie das Abstimmungsergebnis 5 : 3 und
das Sondervotum der Richterin Haas zeigen.
Sogar Bundespräsident Roman Herzog befaßte sich in
seiner schon erwähnten Rede vor den Kommandeuren
der Bundeswehr im November 1995 in München damit
und nannte die Debatte „unglückselig“. Er sah sich, wie
die „Welt“ treffend schrieb, in die merkwürdige Rolle
gezwungen, als das Verfassungsorgan Bundespräsident
das Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht zu interpretieren. Entscheidend sei, so Bundespräsident Herzog damals - das alles haben Sie heute, soweit Sie den
Bundespräsidenten Herzog zitiert haben, nicht erwähnt -,
was die Strafgerichte aus den Richtlinien des Verfassungsgerichtes machten.
Was hat das Landgericht Mainz, an das das Verfahren
zurückverwiesen wurde, gemacht? Der Vorsitzende
Richter erklärte, durch den Karlsruher Spruch sei der
Handlungsspielraum seines Landgerichts fast auf Null
eingeschränkt worden. Er konnte den Angeklagten
praktisch nur freisprechen und entschuldigte sich dafür
bei den Bundeswehrangehörigen.
({2})
- Sie stellen Ihren Richterkollegen ein trauriges Urteil
aus, Kollege Stünker.
Um diesem nur sehr schwer erträglichen Zustand abzuhelfen, hat die Union in dieser Wahlperiode erneut
den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht.
({3})
Daß dies notwendig und richtig ist, werte Frau Kollegin,
hat die Mehrzahl der Sachverständigen in der Anhörung
des Rechtsausschusses 1996 bestätigt.
Herr
Kollege Götzer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Nein, ich
möchte, daß Sie jetzt zuhören. Dann verstehen Sie vielleicht, um was es uns geht. Dann wird vielleicht auch Ihre Frage überflüssig.
({0})
Ist Ihnen denn bekannt oder haben Sie vergessen, daß
der Verteidigungsausschuß nach der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts mit den Stimmen der SPD
das Parlament aufgefordert hat, tätig zu werden?
({1})
Der Schmähruf „Soldaten sind Mörder“ ist nicht nur
eine Kränkung, wie das Bundesverfassungsgericht
meint, sondern er verletzt die Ehre unserer Soldaten und
ihrer Familien zutiefst. Er verunglimpft das Ansehen der
Bundeswehr insgesamt. Das darf nicht straflos bleiben.
({2})
Ich habe nicht den Eindruck, werte Kolleginnen und
Kollegen, daß wir in einer Zeit leben, in der die Meinungsfreiheit zu kurz kommt. Gerade auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zieht die
Grenzen hierfür immer weiter. Ich glaube, es ist vielmehr an der Zeit, dem Ehrenschutz wieder mehr Gewicht zu verleihen.
Herr Kollege Stünker von der SPD, wenn Sie vorhin
das Jahr 1932 als Beispiel für praktizierte sinnvolle Toleranz angeführt haben, dann muß ich Ihnen sagen: Das
war ein Eigentor, das Sie geschossen haben.
({3})
Auf das Jahr 1932 folgt das Jahr 1933. Die Machtübernahme der Nazis war mit entscheidend auf die falsche
Toleranz gegenüber den Extremisten von rechts und
links in der Weimarer Republik zurückzuführen.
({4})
Unsere Soldaten haben einen Anspruch auf den
Schutz durch unsere Rechtsordnung. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf ein Zeichen setzen, werte Kolleginnen und Kollegen. Bei aller Heftigkeit in der politischen Auseinandersetzung um die Bundeswehr gibt es
Grenzen, die nicht ungestraft überschritten werden dürfen. Das sind wir unseren Soldaten schuldig.
({5})
Ich kann beim besten Willen die Argumentation der
SPD nicht verstehen, die allen Ernstes unseren Entwurf
unter anderem mit der Begründung ablehnt, damit würden die Soldaten isoliert. Das Gegenteil ist richtig.
Wenn wir uns nicht uneingeschränkt und demonstrativ
hinter unsere Soldaten stellen, werden sie sich allein
gelassen fühlen.
({6})
Die von Rotgrün geplanten finanziellen Kürzungen
führen zur militärischen Demontage unserer Bundeswehr. Ich frage Sie: Soll jetzt durch die Hinnahme der
Verunglimpfung unserer Soldaten auch noch die moralische Demontage kommen? Mit uns nicht!
({7})
Frieden und Freiheit verdanken wir nicht denen, die
mit Schmähplakaten unsere Soldaten verunglimpfen,
sondern zu einem wesentlichen Teil denen, die mit ihrem Dienst an der Waffe die Sicherheit unseres Landes
und seiner Verfassung vor äußerer Bedrohung garantieren.
({8})
Herr
Kollege Götzer, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum
Schluß, Herr Präsident.
Lassen Sie mich aus dem Sondervotum der Verfassungsrichterin Haas aus der fraglichen Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zitieren:
Eine Rechtsordnung, die junge Männer zum Waffendienst verpflichtet, muß denjenigen, die diesen
Pflichten genügen, Schutz gewähren, wenn sie wegen dieses Soldatendienstes geschmäht und öffentlich als Mörder bezeichnet werden.
Genau dies wollen wir mit unserem Gesetzentwurf.
Deswegen bitte ich Sie sehr eindringlich um Ihre Zustimmung.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Zumkley das Wort für eine Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Götzer hat soeben in seiner Rede ausgeführt, daß der Verteidigungsausschuß mit
den Stimmen der Sozialdemokratischen Partei beschlossen habe, aktiv zu werden.
Ich darf dazu eindeutig feststellen und erklären, daß
die SPD-Mitglieder im Verteidigungsausschuß niemals
einer solchen Aktivität wie hier, sprich: ein Gesetz zum
Schutze der Soldaten hinsichtlich Beleidigung, zugestimmt haben, wie das hier unterschwellig behauptet
worden ist.
({0})
Es gibt
eine weitere Kurzintervention des Kollegen Ströbele.
Vielleicht kann Herr Götzer dann auf beide eingehen.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben mir leider nicht die
Gelegenheit zu einer Frage gegeben. Deshalb muß ich
Ihnen den Gedanken auf diese Art und Weise näherbringen.
Sehen Sie es nicht auch so, wie ich es gesehen habe,
daß es nicht eine Frage des § 185 des Strafgesetzbuches,
also der Beleidigung, oder des neuen Paragraphen, den
Sie jetzt vorschlagen, sondern eine Frage des Artikels 5
des Grundgesetzes ist? Wenn die Richter des Bundesverfassungsgerichtes - Sie haben es vorhin geschildert durch Artikel 5 des Grundgesetzes wegen des hohen
Guts der Meinungsfreiheit und des hohen Wertes dieses
Grundrechts in unserer Verfassung gehindert waren, zu
einer Verurteilung zu kommen, obwohl sie den Tatbestand des § 185 des Strafgesetzbuches bejaht haben,
dann wäre damit, selbst wenn Ihre Vorschrift ins Strafgesetzbuch Einlaß fände, Artikel 5 des Grundgesetzes
doch nicht außer Kraft gesetzt. Auch da müßten Sie diese Abwägung durchführen und kämen wegen des hohen
Gewichtes des Artikels 5 des Grundgesetzes wiederum
zu demselben Ergebnis.
({0})
Deshalb ist die von Ihnen vorgeschlagene Vorschrift
völlig überflüssig. Sie bringt nichts Neues und setzt den
Artikel 5 Gott sei Dank nicht außer Kraft.
({1})
Herr
Kollege Götzer, Sie haben Gelegenheit, auf beide
Kurzinterventionen zu erwidern.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zum
Kollegen Ströbele: Wenn unser Gesetzentwurf Gesetz
würde, müßte eine neue Abwägung im Lichte und unter
Berücksichtigung dieses neuen Straftatbestandes stattfinden.
({0})
Auf den Kollegen Zumkley antworte ich wie folgt:
Nach meinen Informationen hat der Verteidigungsausschuß - etwas anderes habe ich auch nicht behauptet nicht beschlossen, diesen Gesetzentwurf oder überhaupt
einen Gesetzentwurf zu verabschieden. Hätten Sie mir
zugehört, hätten Sie gemerkt, daß ich das in meiner Rede auch nicht gesagt habe. Vielmehr habe ich gesagt, der
Verteidigungsausschuß habe beschlossen, tätig zu werden, also nicht tatenlos zu bleiben. Das können Sie gern
nachprüfen.
({1})
Wir sind
am Ende der Aussprache. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der CDU/CSU zum verbesserten
Schutz der Bundeswehr vor Verunglimpfung, Drucksa-
che 14/985. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksa-
che 14/1632, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse
über den Gesetzentwurf der CDU/CSU auf Drucksache
14/985 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ich
bitte um die Gegenstimmen. - Ich bitte um Enthaltun-
gen. - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-
lehnt. Zugestimmt haben ihm die Fraktionen von
CDU/CSU und F.D.P., abgelehnt haben ihn die anderen
Fraktionen.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Jahresgutachten 1997 „Welt im Wandel: Wege zu einem
nachhaltigen Umgang mit Süßwasser“ des
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“
- Drucksachen 13/11435, 14/69 Nr. 1.16, 14/837 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Dr. Klaus W. Lippold ({1})
Birgit Homburger
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Kommission
Durchführung der Richtlinie 91/271/EWG des
Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung
von kommunalem Abwasser, geändert durch
die Richtlinie 98/15/EG der Kommission vom
27. Februar 1998
Zusammenfassung der von den Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen und Bewertung
der in Anwendung von Artikel 13 und 17 der
Richtlinie enthaltenen Informationen
- Drucksachen 14/488 Nr. 2.49, 14/1343 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Georg Girisch
Ulrike Flach
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich bitte diejenigen, die
an dieser Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu verlassen und die Gespräche außerhalb fortzusetzen. Noch besser wäre es allerdings, wenn sie an
der Debatte weiterhin teilnehmen würden.
Als erste Rednerin hat die Kollegin Petra Bierwirth
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wasser ist das Lebenselixier der
Erde. Wasser ist ein unverzichtbarer Teil aller Ökosysteme, eine natürliche Ressource, ein besonders lebensnotwendiges soziales und wirtschaftliches Gut. Das von
uns genutzte Wasser sollte möglichst unbelastet in den
natürlichen Wasserkreislauf zurückfließen. Während die
Weltmeere unbegrenzte Mengen an Wasser und eine nur
scheinbar unbegrenzte Belastbarkeit an Schadstoffeintrag anbieten, ist sauberes Süßwasser eine äußerst empfindliche und in vielen Regionen vor allem eine begrenzte natürliche Ressource.
({0})
Festzustellen ist, daß der Süßwasserbedarf mit zunehmendem Bevölkerungswachstum weiterhin steigen
wird. Hinzu kommt, daß die Nutzung von Süßwasser in
der Landwirtschaft, der Industrie, der Energiewirtschaft
und den privaten Haushalten die natürlichen und die
vom Menschen geschaffenen hydrologischen Systeme
bis an die Grenzen belastet. Zum Teil werden sie durch
Schadstoffeinleitungen und Übernutzung gefährdet und
sogar zunehmend zerstört. Zentrale Aufgabe der gesamten Politik müssen so der flächendeckende und vorsorgende Schutz der Gewässer als Bestandteil des Naturhaushaltes und die sparsame Verwendung und Sicherstellung der öffentlichen Wasserversorgung und
natürlich auch der Abwasserentsorgung sein.
Auf der UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, auf der im Juni 1992 in Rio de Janeiro mehr
als 170 Länder ein Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert verabschiedet haben, kam die herausragende
Bedeutung des Süßwasserschutzes zum Ausdruck. Ein
ganzes Kapitel in der Agenda 21 wurde dem Schutz der
Güte und Menge der Süßwasserressourcen, der Anwendung integrierter Ansätze zur Entwicklung und Bewirtschaftung der Wasserressourcen sowie der Behandlung
von Abwasser gewidmet.
Wie aber sieht die Situation heute, sieben Jahre nach
Rio, aus? Welche Schlüsse haben wir aus dieser Entwicklung gezogen? Welche notwendigen Maßnahmen
haben wir begonnen? Zu dem vom Umweltausschuß
diskutierten Jahresgutachten des Sachverständigenrates
„Welt im Wandel: Wege zu einem nachhaltigen Umgang mit Süßwasser“ wird meine Kollegin Marga Elser
noch sprechen.
Darüber hinaus hat sich der Umweltausschuß vor
kurzem zum einen mit dem Bericht der Kommission zur
Umsetzung der Richtlinie über die Behandlung von
kommunalem Abwasser und den von den EUMitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen und zum anderen mit dem Vergleich der Abwassergebühren im europäischen Rahmen befaßt. Die von der SPD-Fraktion
initiierte Beschlußempfehlung ist im Umweltausschuß
von allen Fraktionen unterstützt und einvernehmlich angenommen worden.
Festzustellen ist, daß mit Ausnahme Italiens alle
Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Richtlinie
in nationales Recht umgesetzt haben. Die Umsetzungsniveaus freilich sind sehr unterschiedlich. So sind
Deutschland und Österreich führend bei der praktischen
Umsetzung, sie sind es allerdings auch bei den Gebühren. In den meisten anderen Unionsstaaten sind der Anschlußgrad und das Reinigungsniveau erheblich niedriger und, daraus resultierend, auch die Gebühren. Zudem
wird die Abwasserreinigung vielfach subventioniert.
Diese unterschiedlichen Faktoren schließen eine direkte
Vergleichbarkeit der Abwassergebühren in der EU aus.
Dennoch gibt es EU-weit einen Trend zu steigenden
Gebühren für die Wasserversorgung und AbwasserentVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
sorgung. Ausschlaggebend für die Kostensteigerungen
sind aber nicht, wie oft behauptet, die Umweltanforderungen, die technischen Standards für die Abwasserreinigungsanlagen. Lediglich 6 bis 7 Prozent der Gesamtkosten sind hierauf zurückzuführen. Besonders deutlich
wird dies, wenn man die überdurchschnittlich hohen
Gebühren und Beiträge im Osten Deutschlands untersucht. Denn hier sind eine ganze Reihe anderer Faktoren, beispielsweise Altlasten, Fehlplanungen und Mißmanagement, ursächlich für dieses Mißverhältnis.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht zum
Vergleich der Abwassergebühren enthält eine ganze
Reihe zu diskutierender technischer Vorschläge zur
Senkung der Abwassergebühren. Als Weg zur Kostensenkung werden in jüngster Zeit hierzulande wieder verstärkt Privatisierung und Liberalisierung der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung diskutiert. Ich selbst
betrachte diese Diskussion mit sehr gemischten Gefühlen. Die Wasserversorgung und Abwasserbehandlung
sind gemäß Art. 28 des Grundgesetzes Aufgaben, die
von den Gemeinden wahrzunehmen sind. Nach meiner
Erfahrung ist die Privatisierung im Wasserbereich
auch kein Allheilmittel zur Kostensenkung. Wir, die wir
hier im Reichstag sitzen, müssen gar nicht so weit gukken, um dafür ein Beispiel zu finden. Daß die Bürgerinnen und Bürger geringeren finanziellen Belastungen
durch die teilweise oder vollständige Privatisierung ausgesetzt sind,
({1})
erweist sich meiner Meinung nach als Illusion. Es ist
doch so, daß die Kommunen gegenwärtig nach Wegen
suchen, wie sie ihrer Finanzknappheit entgehen können,
und nur deshalb veräußern sie ihre Wasserbetriebe teilweise oder vollständig. Ich halte es aber für problematisch, die Kontrolle über diese Anlagen und die Möglichkeiten für strategische Entscheidungen aus der Hand
zu geben.
({2})
Desgleichen stehen Wettbewerb und vorsorgender
Gewässerschutz in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis. Ein Blick nach Großbritannien und Frankreich
zeigt deutlich, wie die weithin privaten Monopolunternehmen die notwendigen Investitionen in Anlagen dieses Bereiches unterlassen. In Deutschland gibt es seit
kurzem ganz offen Forderungen des Verbands privater
Abwasserentsorger nach Absenkung der Abwassergrenzwerte. Ich denke, den Privatisierungsverfechtern
sollte dies Anlaß zum Nachdenken sein.
({3})
Auch die Liberalisierung der Wassermärkte, wie
sie gegenwärtig im Trinkwasserbereich diskutiert wird,
scheidet nach meiner Meinung als Weg zur Kostensenkung im Wasserbereich aus. Dies gilt auch, wenn gegenwärtig der Telekommunikations- und der Energiemarkt den gegenteiligen Eindruck vermitteln mögen. Es
ist offenbar aber völlig aus dem Blickwinkel geraten,
daß Wasser keine Ware ist wie zum Beispiel Strom.
Wasser ist ein nicht herstellbares Naturprodukt. Wasser
ist für uns das Lebensmittel Nummer eins. Wasser ist
die Basis allen Lebens auf der Erde, also auch des
menschlichen. Wasser muß ebenso wie die Luft und der
Boden durch Maßnahmen des Umweltschutzes gesichert
werden. Wasser kann und darf nicht den betriebswirtschaftlich orientierten kurz- oder langfristigen Gewinninteressen von Großunternehmen und einem Umweltschutz nur als hemmend begreifenden Wettbewerb geopfert werden. Eine kostengünstige, sichere und hygienisch einwandfreie Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung und -beseitigung sind von einem regional
wirksamen, vorsorgenden Umweltschutz abhängig und vor allem - von besonderer Bedeutung. Sie sind unter
ständiger Kontrolle und in der Verantwortung der örtlichen politischen Vertreter zu gewährleisten.
Die zunehmende Verknappung unbelasteter natürlicher Wasservorkommen, die allmähliche Zerstörung und
sich ausweitende Verschmutzung der Wasserressourcen
machen eine integrierte Planung und ökologisch verantwortliche nachhaltige Bewirtschaftung dieses Gutes erforderlich. Solch eine integrierte Betrachtungsweise
erfordert einerseits die Einbeziehung aller Arten von
Gewässern und andererseits die Berücksichtigung der
Quantität und Qualität. Berücksichtigt werden müssen
aber ebenso auch der Zusammenhang mit der sozioökonomischen Entwicklung und die unterschiedlichen Nutzungsarten.
Die zentrale Bedeutung der ganzheitlichen Bewirtschaftung des Wassers als begrenzter und empfindlicher
Ressource sowie die Integration sektoraler Wasserwirtschaftspläne und -programme im Rahmen der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik wurden bereits in
der Agenda 21 betont. In diese Richtung zielt auch die
EG-IVU-Richtlinie zur integrierten Vermeidung und
Verminderung der Umweltverschmutzung. Nicht zuletzt
deshalb muß sie hierzulande schnellstmöglich umgesetzt
werden.
Wir brauchen darüber hinaus auch dringend europaeinheitliche, verbindliche Anforderungen an die Abwasserentsorgung nach dem Stand der Technik. Nur so
vermeiden wir ein Umweltdumping in Europa mit entsprechenden Wettbewerbsverzerrungen. Das Thema ist
auf europäischer Ebene in der Diskussion und wird in
diesem Herbst wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Das
Europäische Parlament fordert eine Verschärfung der
EG-Wasserrahmenrichtlinie, wie wir das auch im Deutschen Bundestag in einer gesonderten Entschließung gefordert haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin gespannt
auf die vom Umweltministerium und vom Wirtschaftsministerium organisierte Tagung in Berlin zur Auswertung des Gutachtens über die Abwassergebühren in der
EU. Ich werde dort mit Interesse die erörterten Schlußfolgerungen und Maßnahmen verfolgen. Erforderlichenfalls werden wir uns mit den Ergebnissen der Fachtagung sicherlich auch hier im Hause zu beschäftigen haben.
Viele Anregungen für eine effektive, kostensparende
und dezentrale Abwasserbehandlung sind von meiner
Fraktion bereits in den Deutschen Bundestag eingebracht worden. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger
müssen diese gegen Bestrebungen einer Zentralisierung
und einer Absenkung der Umweltstandards durchgesetzt
werden.
Danke.
({4})
Frau Kollegin Bierwirth, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Christian
Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Auch meine Fraktion arbeitet
arbeitsteilig. Lassen Sie mich einige Ausführungen zu
den globalen Aspekten des Süßwasserproblems machen.
Wenn man noch vor wenigen Wochen vor den
Trümmern des Hochwassers im eigenen Wahlkreis gestanden hat, dann möchte man es kaum glauben - aber
es ist trotzdem wahr -, was in dem einschlägigen Bericht zum Ausdruck kommt: Das Wasser als Lebenselixier unserer Erde wird bedrohlich knapp. Um Christi
Geburt teilten sich 300 Millionen Menschen dieselbe
Wassermenge wie heute 6 Milliarden Menschen. Diese
Segnungen sind auch noch ungleich verteilt: Während
wir in Mitteleuropa manchmal zu viel Wasser abbekommen, spitzt sich die Situation in anderen Regionen
der Welt dramatisch zu. Bereits jetzt leben die Menschen in 15 Ländern der Erde, vor allem in Teilen Asiens und Afrikas, knapp am absoluten Minimum von 500
Kubikmetern Wasser pro Kopf und Jahr. Weitere 12
Länder stehen kurz vor dieser Schallmauer, und manche
Länder, wie Saudi-Arabien und Libyen, entnehmen bereits heute mehr Wasser, als neu zufließt oder entsteht.
Diese Situation in den Entwicklungs- und Schwellenländern wird durch drei katastrophale Entwicklungen noch verschärft. Die eine ist die flächendeckende
Wald- und Naturzerstörung, die ungebremst weitergeht.
Die zweite ist das Ausufern der Mega-Städte; die sanitären Verhältnisse beispielsweise in Lagos, Mexiko, Kairo
oder Bombay sind völlig außer Kontrolle geraten. Die
dritte Entwicklung besteht darin, daß gerade oftmals die
Länder mit den größten Wasserproblemen auch diejenigen mit der größten Bevölkerungszunahme und den
größten Armutsproblemen sind. Diese Konvergenz von
unglücklichen Umständen und Entwicklungen führt
nicht nur zu wachsenden menschlichen Tragödien im
Alltag, sondern beschwört natürlich auch zunehmend die
Gefahr zwischenstaatlicher oder innerstaatlicher Konflikte herauf. Anwar el Sadat, der ehemalige ägyptische
Präsident, hat schon vor 20 Jahren gesagt: Wer mit dem
Nilwasser spielt, erklärt uns den Krieg. - Der Kampf
ums Wasser - nicht nur am Nil, sondern auch an anderen Brennpunkten - droht Realität zu werden.
Natürlich müssen wir uns fragen: Was können wir,
was kann die deutsche Politik tun? Zunächst erscheint es
mir sehr wichtig, Gelegenheiten wie diese zu nutzen, um
uns selbst und unsere Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, daß die Staatengemeinschaft weltweit mit den natürlichen Ressourcen, insbesondere mit Wasser, Wald
und Klima, anders umgehen muß; daß auch unsere Insel
der Seligen bedroht ist, wenn die Armuts- und Umweltprobleme in den Entwicklungs- und Schwellenländern
eskalieren; daß auch wir im Glashaus sitzen, auch wenn
wir selbst Wasser im Überfluß haben; und daß wir deswegen in unserem ureigenen Interesse den Rio-Prozeß
weiterführen müssen.
Meine Damen und Herren, die technischen Lösungen sind eigentlich vorhanden. Wir wissen, daß
70 Prozent des Wasserverbrauchs auf Kosten der Landwirtschaft erfolgt, aber nur 40 Prozent des Wassers die
Pflanzen erreicht. Das liegt vor allem an der Ineffizienz
der eingesetzten Bewässerungssysteme. Dagegen haben
wir bereits technische Rezepte, die in Israel erprobt sind;
sie müssen auch anderswo zur Anwendung kommen.
Die Wissenschaft - in Deutschland beispielsweise in
Weihenstephan - arbeitet mit Hochdruck an der Züchtung neuer Nutzpflanzen, die auch auf ruinierten oder
versalzten Böden eine Chance haben oder Trockenheit
besser vertragen als bisher. Die Wissenschaft arbeitet
hier vor allem mit Hilfe der Gentechnik und der Biotechnologie. Das ist ein weiterer Punkt, zu dem ich sagen muß: Lassen Sie uns die Chancen, die die Biotechnologie für Entwicklungsländer bietet, nutzen.
({0})
Weiterhin hat die deutsche Entwicklungshilfe Techniken und Systeme entwickelt, mit denen Einkommen
für Staat und Bevölkerung gerade dadurch erzielt werden können, daß man die Natur, etwa in Wassereinzugsgebieten oder Nationalparks, schützt. Es gibt inzwischen
sogar erfolgreiche Ansätze, die Wasserversorgung und
Abwasserentsorgung in Großstadtslums in den Griff zu
bekommen. Das sind simple, aber durchaus wirkungsvolle Ansätze.
Entscheidend ist jedoch, daß auch die Politik, die
Gesetzgebung und die Verwaltung in den betroffenen
Ländern mitziehen; denn die technischen Lösungen, die
es bereits gibt, verpuffen, wenn zum Beispiel die illegalen Monopole der Wasserhändler im Untergrund nicht
angetastet werden, wenn Umwelt- und Wasserdelikte
Kavaliersdelikte sind und die Instanzen zur Überwachung und Strafverfolgung keine politische Rückendekkung erhalten, wenn man sich nicht traut, der weitverbreiteten Wasserverschwendung durch den Abbau von
Subventionen zu begegnen, oder wenn es keinen Willen
zu einer zusammenhängenden, schlüssigen Landnutzungsplanung und deren Durchsetzung gibt.
Wir waren erst vor kurzem mit einer Delegation auf
Borneo. Wenn man wie wir vier Stunden durch verbrannte Wälder gefahren ist und die Taktik der verPetra Bierwirth
brannten Erde gesehen hat, die dafür gesorgt hat, daß
allein 1997 30 Prozent der CO2-Emissionen auf das
Konto von Borneo gingen, dann weiß man, wo der entscheidende Schlüssel für die Politik liegt.
Von entscheidender Bedeutung ist aber auch, daß
man Anrainer, selbst verfeindete Anrainer wie Indien
und Pakistan, wie Äthiopien und Ägypten, oder Staaten,
die gar nicht Anrainer, aber trotzdem voneinander abhängig sind, an einen Tisch bringt. Denn die Entwaldung in Nepal zum Beispiel verursacht Überschwemmungen in Bangladesch.
Wir müssen auch die Frage stellen, ob es angesichts
der dramatischen Wasserprobleme sinnvoll ist, wenn
manche wasserarme Staaten nach Autarkie bei Nahrungsmitteln streben, aber beispielsweise für ein Kilogramm Reis 1000 Liter Wasser aufbringen müssen, statt
dieselbe Menge viel billiger und ökologisch sinnvoller
zu importieren.
Meine Damen und Herren, Politik in anderen Ländern
zu beeinflussen ist immer etwas besonders Schwieriges.
Aber ich glaube, auch in diesem Fall müssen wir uns
einmischen. Dabei haben wir drei Möglichkeiten, die
auch in dem Bericht erwähnt sind: Erstens. Wir müssen
den Politikdialog mit den betreffenden Ländern verstärken. Die Wasserkonferenz im letzten Sommer auf dem
Petersberg hat gezeigt, daß wir als Nichtkolonialmacht
ganz gut den ehrlichen Makler spielen können. Ich glaube, das war eine sehr erfolgreiche Konferenz, gerade
auch was das Problembewußtsein in Afrika und Asien
anbelangt.
Zweitens. Wir müssen den Weg weitergehen, als
größter Beitragszahler in internationalen Organisationen
unseren Einfluß stärker durchzusetzen, wie es bei der
Weltbank in den letzten Jahren geschehen ist.
Drittens. Wir müssen auch selbst finanziell und technisch besser helfen. Wir sind in den letzten Legislaturperioden Schritt für Schritt zum wichtigsten Entwicklungspartner im Umwelt- und Wasserbereich geworden.
Doch entgegen den vollmundigen Ankündigungen von
Kanzler Schröder droht uns gerade auch in der Entwicklungspolitik eine Trendwende nach unten. Statt mit
mehr Mitteln und mit mehr Personal wird das Entwikkungsressort mit einer weit überproportionalen und noch
nie dagewesenen Kürzung gesegnet. Die mittelfristige
Finanzplanung von Rotgrün macht die Entwicklungspolitik endgültig zum Steinbruch.
Denken Sie an Ihre
Redezeit!
Angesichts der
dramatischen Zuspitzungen halten wir das für völlig unakzeptabel ebenso wie die rotgrüne Umweltpolitik insgesamt, die auch international einem Steinzeitmodell
gleicht. Mit der Politik, die Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, zum Beispiel China
anbieten - weder Wasser noch Kohle noch Atomenergie -, werden Sie in China nur ein mildes Lächeln hervorrufen. Eine solche Politik macht Deutschland lächerlich, macht uns politisch einflußlos. Wir werden dafür
kämpfen, daß dieser freie Fall in die umweltpolitische
Inkompetenz möglichst schnell beendet wird.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt hat der Kollege
Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Akuter Wassermangel bedroht große Teile dieser
Welt. Das ist eine der zentralen Botschaften dieses Gutachtens. Das ist offensichtlich auch bei den Rednerinnen
und Rednern vor mir angekommen. Sie alle haben darauf hingewiesen. Es ist aber nicht nur dieses Gutachten,
das auf dieses Problem hinweist; zahlreiche andere Studien belegen dasselbe. So sagt etwa die Weltorganisation für Meteorologie, daß heute bereits in 29 Ländern
Afrikas und Asiens akuter Wassermangel herrscht und
daß auch zukünftig in den USA, in China und Indien
sowie in anderen Staaten Wassermangel herrschen wird.
Bis zu einem Drittel der Menschheit soll davon betroffen sein. Knapp ein Sechstel der Menschheit ist bereits
heute ohne einen direkten, ausreichenden, gesicherten
Zugang zum Lebensmittel Nummer eins, dem Wasser.
Wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, kann
es sein - davon sprechen viele Prognosen -, daß Mitte
des nächsten Jahrhunderts bis zu 2,5 Milliarden Menschen von dieser Wasserknappheit betroffen sein werden.
Nun mögen manche sagen: Das Vortragen dieser
Zahlen ist typischer Katastrophensound, da hauen die
Wissenschaftler wieder einmal auf die Ökopauke und
malen ein Untergangsszenario an die Wand. Aber ich
sage Ihnen: Wenn nur ein Teil dieser Prognosen stimmt,
haben wir in den nächsten Jahrzehnten ein gravierendes
Problem, dann tickt tatsächlich eine Zeitbombe, die auch
für unser Land Folgen haben wird.
Flucht, Vertreibung und Migration sind heute oft
noch Folgen von Kriegen. Sie können und werden zukünftig wohl eher auch Folgen von Umweltproblemen
sein, zum Beispiel von Wasserknappheit. Einige Kriege
der Vergangenheit sind schon aus diesem Motiv geführt
worden. In Zukunft werden diese Probleme zunehmend
ein Motiv für kriegerische Auseinandersetzungen sein.
Angesichts dieser Entwicklung und der Prognosen darf
die Bundesrepublik Deutschland, die auch die Agenda
21 in Rio unterzeichnet hat, nicht tatenlos zusehen.
({0})
Wenn wir von Globalisierung sprechen, müssen wir
auch von globaler Verantwortung sprechen. Globale
Verantwortung heißt in diesem Zusammenhang Kollege Ruck, Sie haben es angesprochen -, daß wir
auch etwas tun müssen. Es geht in der Tat darum, daß
sich die reichen Länder aktiv und finanziell unterstützend an der Bekämpfung der Armut in den armen LänDr. Christian Ruck
dern beteiligen, indem sie ihnen Mittel zur Lösung ihrer
Probleme geben.
({1})
Sie haben zu Recht beklagt, daß der Entwicklungshaushalt zusammengestrichen worden ist. Dies hat uns
alle geschmerzt. Aber Sie haben vergessen, daß wir in
einem anderen Bereich mutig vorangeschritten sind und
dort etwas zustande gebracht haben, was Sie nicht geschafft haben: Wir haben nämlich auf der Weltwirtschaftskonferenz dafür gesorgt, daß den 36 ärmsten
Ländern der Welt 130 Milliarden DM Schulden erlassen
worden sind. An diesem Schuldenerlaß ist die Bundesrepublik mit 150 Millionen DM beteiligt. Herr Kollege
Ruck, ich möchte um Aufmerksamkeit bitten: Dies ist
die wesentliche Voraussetzung dafür, daß die armen
Länder etwas tun können. Auf Ihre vorhin gestellten
Fragen, welchen Hebel wir ansetzen können und welchen Einfluß wir ausüben können, antworte ich: Die
Schulden werden nur dann erlassen, wenn Kosteneinsparungen in den betroffenen Ländern zu Investitionen in
ihre ökologische Zukunft führen.
({2})
Dies ist in der Beschlußempfehlung des Umweltausschusses so formuliert:
Von Wasserkrisen betroffene oder bedrohte Staaten
müssen besser unterstützt und friedensstiftende
Umwelt- und Entwicklungsvorhaben in Wasserkrisengebieten gefördert werden, wozu auch wasserbezogene Bildungsprogramme gehören.
Sie merken: Wir nehmen dieses Thema sehr ernst. Sie
dürfen nicht immer nur die Einsparungen im Entwicklungsetat anführen. Ich finde, man muß die Entwicklungspolitik im Gesamtzusammenhang betrachten.
Ich möchte nun darauf eingehen, welche Bedeutung
die Wasserknappheit auf nationaler Ebene hat. Trotz internationaler Wasserknappheit wird man nicht von einer
Wasserknappheit in Deutschland reden können. Dies
tut niemand. Aber auch in Deutschland gibt es das Problem - dies wird sich in Zukunft noch verschärfen -,
sauberes und qualitativ hochwertiges Trinkwasser zu garantieren. Zwar haben wir im Bereich der Oberflächengewässer durch Abwasserreinigung zweifellos Erfolge
erzielt. Aber wir leiden unter den Folgen der vergangenen Politik, unter dem unachtsamen Umgang mit Wasser und unter den Spätfolgen, die jetzt im Grundwasser
sichtbar werden. Im Grundwasser finden sich heute
Schadstoffe wie etwa Pestizide, die vor 30 oder 40 Jahren im Boden versickert sind. Dies ist unser Problem.
Wenn wir von Wasserpreisen sprechen, müssen wir zuallererst bedenken, daß sich im Preis die Kosten für die
Reinigung des Wassers niederschlagen. Ob es auf diesem Markt Konkurrenz gibt oder nicht, spiegelt sich
nicht so sehr in den Preisen wider.
({3})
Damit bin ich bei einem heißen Eisen angelangt, das
auch mit dem angesprochenen Gutachten und mit der
Debatte um die Wasserversorgung zusammenhängt.
({4})
- Es lag nicht an mir, daß Sie diese Themen in der Vergangenheit nicht behandelt haben. Ich bin erst seit einem
Jahr Bundestagsabgeordneter. Ich bringe diese Themen
jetzt ein. Sie hatten, soviel ich weiß, mehr Zeit als ich
zur Verfügung, diese Themen anzusprechen.
Ich habe die Frage der Liberalisierung und der Privatisierung angesprochen. Ich beobachte die Privatisierung und den kompletten Verkauf der Berliner Wasserbetriebe mit Sorge. Diese Entwicklung läßt sich auch in
anderen Städten verfolgen.
({5})
Mit der Privatisierung schaffen wir uns zwar die Kosten vom Hals, sehen aber nicht, daß wir unter dem
Deckmantel einer Liberalisierung und einer Deregulierung unter Umständen einer neuen Monopolwirtschaft
das Wort reden, und zwar nicht mehr unter öffentlichrechtlichem, sondern unter privatwirtschaftlichem Vorzeichen.
({6})
- Es tut mir leid, ich habe Sie nicht verstanden. Wenn
jemand einfach so dazwischenredet, dann ist es nicht
immer zu verstehen.
Frau Kollegin, mit
„hallo“ sollte man nicht dazwischenrufen.
Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen spricht zwar von wettbewerbsorientierten Öffnungen der Wassermärkte, von einer Änderung der
Eigentumsrechte usw., und er macht einige nähere Vorschläge dazu. Ich glaube aber nicht, daß er an neue
Monopolstrukturen denkt. Er schreibt zum Beispiel:
Bei der Regulierung von Wasserangebot und
-nachfrage sollte das Subsidiaritätsprinzip gelten.
Dezentral gegliederte Versorgungsstrukturen und
-regelungen sind in der Regel effizienter, für die
Betroffenen eher nutzbar bzw. nachvollziehbar und
dem jeweiligen Charakter der Region eher angepaßt
als starre zentrale Lösungen.
Es geht hier also nicht um „privat“ oder „nicht privat“,
sondern um „dezentral“ oder „zentral“. Das ist die entscheidende Frage.
({0})
Denken Sie an Ihre
Redezeit, bitte.
Für meine Fraktion sage ich: Wir beobachten die Liberalisierung in diesem Bereich mit großer Skepsis.
({0})
Es ist ganz klar: Wasser ist nicht mit Strom zu vergleichen. Wasser kann man schmecken, Wasser ist ein Lebensmittel, Wasser kann man nicht beliebig durch die
Leitungen schicken und mit allem möglichen vermischen und vermengen. Es macht aus ökologischer Sicht
Sinn, eine dezentrale, ökologisch bewußte Wasserversorgung beizubehalten. Es macht aus ökologischer Sicht
keinen Sinn, einer neuen und, wie ich meine, ideologisch begründeten Liberalisierung im Wasserbereich das
Wort zu reden.
Sie müssen jetzt
bitte zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß.
Mein Fazit lautet: Es geht darum, in den kommenden
Jahrzehnten weltweit zu einer sozial gerechten Wasserversorgung beizutragen. Alle sollen Zugang zur Wasserversorgung haben. In Deutschland müssen wir die Ressource Wasser sorgfältig pflegen und darauf achten, daß
sie nicht weiter verschmutzt wird. Wir müssen die Umwelt integriert schützen. Schließlich plädiere ich für die
Beibehaltung einer dezentralen Wasserversorgung. Ich
bin gegen eine zentralistische, monopolartige, privatisierte Wasserversorgung.
Vielen Dank.
({0})
Ich unterbreche einen Redner ungern. Meine herzliche Bitte ist, daß wir
uns ein bißchen an die Redezeiten halten.
({0})
Ich weiß, wie lästig mein Intervenieren ist; aber ich muß
es tun, sonst sitzen wir hier noch um Mitternacht. Das
wollen wir nicht. Was ich gesagt habe, war nur ein
freundlicher Appell.
Ich gebe jetzt der Kollegin Birgit Homburger das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir diskutieren heute das Jahresgutachten 1997 des Wissenschaftlichen Beirats Globale
Umweltveränderungen zum Thema „Wege zu einem
nachhaltigen Umgang mit Süßwasser“. Zu Beginn
möchte ich feststellen, daß in diesem Bericht die Arbeit
der alten Bundesregierung gelobt wird.
({0})
In der Tat wurde von der alten Bundesregierung auf diesem Gebiet sehr viel erreicht.
({1})
Das Thema Wasserpolitik ist ein zentrales Thema der
Zukunft. Das wurde auch in den bisherigen Beiträgen
deutlich. Wasser ist als Lebensgrundlage unverzichtbar.
Die Verschmutzung von Wasser führt bereits heute in
vielen Regionen zu Krankheiten und zu Flüchtlingsströmen. Die Aussage, daß zukünftig Krieg um Wasser
geführt werden wird, beinhaltet keine neue Erkenntnis.
Sie sollte aber eine Mahnung sein, das Thema Wasserpolitik weltweit voranzutreiben.
Der Bericht macht deutlich, daß die alte Bundesregierung für den nachhaltigen Umgang mit Süßwasser national wie international viel getan hat, wofür ihr internationale Anerkennung zuteil geworden ist. Der Schutz
des Grundwassers und die Verbesserung der Qualität der
Oberflächengewässer sind von der alten Bundesregierung in den verschiedensten Ressorts mit großer Initiative vorangetrieben worden.
Herr Hermann, Sie sagten vorhin, daß Sie das Thema
ernst nähmen. Wie ernst Sie das Thema nehmen, hat
sich gestern im Umweltausschuß des Deutschen Bundestages gezeigt. Da hat der Umweltminister einen Vortrag über die Perspektiven der Umweltpolitik in dieser
Legislaturperiode gehalten. Er wollte wohl dem Vorwurf
ein Ende setzen, zwei Steckenpferde zu haben: den Ausstieg aus der Kernenergie und die Ökosteuer. Deswegen
hat er im Umweltausschuß eine lange Liste von Themen
aufgezählt, bei denen er etwas tun will. Wenn man sich,
anstatt Schwerpunkte zu setzen, auf eine solche Aufzählung von Details einläßt, dann sollte man das allerdings gründlich machen. Jedenfalls kam das Thema
Wasserpolitik im gesamten Vortrag nicht mit einem einzigen Wort vor. Jetzt erklären Sie uns heute hier, daß Sie
das Thema ernst nehmen. Ich bin der Auffassung, daß
Umweltminister Trittin und auch Außenminister Fischer
endlich die Bedeutung dieses Themas begreifen müßten.
({2})
Ich fordere die Bundesregierung auf, das Thema der
weltweiten Wasserversorgung mit gleicher Beharrlichkeit auf die internationale Agenda zu setzen, wie es seinerzeit Außenminister Dr. Kinkel getan hat.
({3})
Unser Einsatz im Bereich der Wasserpolitik sollte das war immer unsere Position - als Vorstoß zur Schaffung einer internationalen Umweltrechtsordnung verstanden werden. Ich fordere daher die Bundesregierung
auf, in der UNO eine Initiative mit dem Ziel zu ergreifen, eine völkerrechtlich verbindliche Erklärung mit
Sanktionsmechanismen herbeizuführen, in der alle
UNO-Mitgliedstaaten erklären, wesentliche Beeinträchtigungen der Lebensgrundlagen anderer Staaten zu unterlassen und zu verhindern.
({4})
Wir müssen gemeinsam durchzusetzen versuchen, daß
sich alle Vertragsstaaten bei Streitigkeiten, welche die
Verpflichtung zum Schutz der internationalen Lebensgrundlagen betreffen, der Rechtsprechung des internationalen Gerichtshofes in Den Haag unterstellen.
({5})
Nur so können wir auf internationaler Ebene zu verläßlichen Vereinbarungen kommen.
Es muß auch gelingen, die fortschrittlichen Techniken der Trinkwasseraufbereitung und der Abwasserbehandlung weltweit zur Anwendung zu bringen, um Gesundheitsschäden durch verschmutztes Wasser nachhaltig zu bekämpfen. Die Entwicklung ortsangepaßter
Techniken der Wassergewinnung und -aufarbeitung
sowie die Ausbildung des örtlichen technischen Personals sollte von den Industrieländern gefördert werden.
Außerdem sollte, wie in unserem Entschließungsantrag
zu diesem Bericht gefordert, die Arbeit verschiedener
weltweit tätiger internationaler Organisationen auf dem
Gebiet der Wasserwirtschaft von den Geberländern internationaler Entwicklungshilfe gleichzeitig gestärkt,
aber auch international gestrafft werden.
Im Gegensatz zu anderen Staaten stellt sich in
Deutschland nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf absehbare Zeit nicht das Problem eines akuten Wassermangels, sondern eher das Problem der anthropogenen Verunreinigung von Grund- und Oberflächenwasser. Der Eintrag persistenter organischer
Stoffe mit zum Teil noch ungeklärter physiologischer
Wirkung ist besorgniserregend. Demgegenüber sind
Versauerung und Eutrophierung seltener geworden. Wie
wir bereits in dem von uns eingebrachten Antrag dargestellt haben, ist dies kein Anlaß zur Entwarnung; denn es
ist stets zu bedenken, daß ein Stoffeintrag im Oberflächenwasser und auf Böden erst nach Jahren im Grundwasser ankommt und mit entsprechender Verzögerung
bei einer Grundwasserentnahme bemerkt werden kann.
Auf dem Gebiet des Gewässerschutzes hat die alte
Bundesregierung sehr viel erreicht. Ich will hier keine
weiteren Beispiele nennen,
({6})
sondern nur auf den Gewässergüteatlas hinweisen, der
diese Woche vorgestellt wurde und die Entwicklung der
Wasserbeschaffenheit von 1987 bis 1996 beschreibt.
Aus ihm geht hervor, daß sich die Gewässergüte in
Deutschland deutlich verbessert hat. Diese Verbesserungen sind in erster Linie auf den konsequenten Ausbau
von Anlagen zur Abwasserbehandlung zurückzuführen.
Ich bedaure, daß diese Entwicklung nicht in allen EUMitgliedstaaten festzustellen ist.
Das Ziel der Richtlinie über die Behandlung kommunalen Abwassers, die wir ja heute auch diskutieren,
die Mitgliedstaaten zur Sammlung und Reinigung der
kommunalen Abwässer zu verpflichten, ist noch nicht
erreicht. Der Bericht der Kommission über die Durchführung dieser Richtlinie zeigt große Umsetzungsdefizite und Unterschiede hinsichtlich der rechtlichen und
vor allem der tatsächlichen Umsetzung auf. Ich frage die
Bundesregierung, was sie dagegen zu tun gedenkt.
({7})
Im Bereich der Abwassergebühren zeigt der von den
Ministerien für Wirtschaft und Technologie sowie Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Auftrag gegebene Bericht über den Vergleich der europäischen
Abwassergebühren vom Oktober 1998, daß Abwassergebühren in Europa kaum vergleichbar sind. In vielen
anderen Staaten Europas ist sowohl das Reinigungsniveau als auch der Anschlußgrad deutlich niedriger. Zudem wird die Abwasserreinigung in einigen Staaten
hoch subventioniert. Dieser Zustand ist weder ökologisch noch ökonomisch akzeptabel. Auch hier frage ich:
Wo bleiben die Initiativen der Bundesregierung?
({8})
Sie könnten ja handeln, denn es gibt hierzu einen einstimmigen Beschluß des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages. Wir sind uns in diesem Punkt alle
einig. Man sollte wirklich zusehen, daß man in diesem
Bereich Initiativen auf europäischer Ebene ergreift.
({9})
Zum Schluß noch eine Bemerkung zu Ihnen, Herr
Kollege Hermann. Sie haben vorhin hier lang und breit
dargelegt, daß Sie Bedenken gegen eine Privatisierung
im Bereich von Wasser und Abwasser haben. Sie erklärten außerdem, daß das alles überhaupt keine Effekte
habe.
Wir haben bereits in vielen Debatten - im Umweltausschuß, aber auch hier im Deutschen Bundestag - die
Situation im Bereich Wasser und Abwasser diskutiert
und haben festgestellt, daß organisatorische Maßnahmen, flexiblere Handhabung, Ausschreibungsmechanismen usw. Einfluß auch auf die Gebührenhöhe haben.
Das alles will ich nicht im einzelnen aufführen,
kann -
Können Sie auch
nicht, Frau Kollegin, weil Ihre Redezeit vorbei ist.
Das weiß ich, Frau
Präsidentin; deswegen mache ich es auch nicht.
Eine letzte Bemerkung: Wir sind weiterhin der
Meinung, daß nichts gegen die Privatisierung spricht.
Dem steht auch nicht das Öffentlich-Rechtliche entgegen, wie Sie das gesagt haben. Sie haben bisher noch
nie begründet, warum das auf öffentlich-rechtlichem
Wege gemacht werden soll und dann besser sei. Wir
dagegen haben begründet, warum es privatwirtschaftlich
besser gehen kann.
Die rotgrüne Bundesregierung hat im Gewässerschutz
keine erkennbaren Initiativen ergriffen, weder international noch in Europa, noch hat sie für kostengünstigere
privatwirtschaftliche Modelle in Deutschland gesorgt.
Ich stelle also fest: Es ist ein verlorenes Jahr für den
Gewässerschutz.
({0})
Nun hat die Kollegin
Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Zwanzigstel der Abwässer sind weltweit gereinigt. Zwei Milliarden Menschen haben kein sauberes Wasser. In Guatemala stirbt aus diesem Grund jedes dritte Kind unter
fünf Jahren an den Folgen von Durchfallerkrankungen.
Aber aus dieser Sicht scheinen die deutschen Probleme von Gewässerbeschaffenheit, Reinigungskosten und
Gebührenexplosion scheinbar zweitrangig. Natürlich:
Sie sind es auch angesichts der unzähligen Menschenleben, die schmutziges oder einfach fehlendes Süßwasser
fordert.
Aber vielleicht gibt es auch Verbindungen oder Parallelen zwischen unserer nationalen Wirtschafts- bzw.
Exportpolitik und den globalen Gefährdungen. Beispielsweise weist der Wissenschaftliche Beirat in seinem
Gutachten darauf hin, daß Staudämme weltweit kritischer betrachtet werden sollten. Insbesondere forderten
die Wissenschaftler, die im Herbst 1996 gewährten
deutschen Hermesbürgschaften für den chinesischen
Drei-Schluchten-Staudamm zurückzuziehen.
({0})
- Sie waren doch einmal Staatssekretär. Warum stellen
Sie so dumme Fragen?
({1})
Unseres Wissens ist hier weder die alte noch die neue
Bundesregierung aktiv geworden - und das, obwohl
völlig klar ist, daß dieses Monument des bürokratischen
Gigantismus auf Grund der Zwangsumsiedlungen die
Menschenrechte mit den Füßen tritt und die Umwelt
zerstört.
Seit vielen Jahren stoßen die Großstaudammprojekte
weltweit auf Widerstand. Zahlreiche Studien belegen
ökonomische Ineffizienz, ökologisches Desaster und
zahlreiche Verstöße gegen die Menschenrechte. Daniel
Beard, ehemaliger Leiter des Bureau of Reclamation,
einer US-Behörde, die mehr Staudämme auf der Welt
gebaut hat als jede andere Organisation auf der Welt,
weist seit einigen Jahren auf die fatale Logik hin, daß
die wachsenden Baukosten für Staudämme es lohnenswert machen, den Wasserverbrauch anzukurbeln. Er
vergleicht große Staudammprojekte mit Atomkraftwerken:
Vordergründig liefern sie billig saubere Energie
und Wasser in Überfluß. In der Praxis verursachen
sie Schäden, die künftigen Generationen riesige
Kosten aufbürden.
Die Bundesrepublik hat das nicht daran gehindert,
den Bau von Staudämmen kräftig zu unterstützen. Seit
dem 1. Januar 1994 hat die Regierung Finanzmittel in
Höhe von insgesamt 227,7 Millionen DM für sechs
Großstaudammprojekte bereitgestellt. Und: In den
letzten 10 Jahren wurden Zulieferungen zu insgesamt
sechs Staudammprojekten mit Hermes-Exportkreditversicherungen des Bundes in Höhe von insgesamt 2 Milliarden DM abgesichert, so die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage. Abgesichert wurden
hier vor allem die exportierenden Unternehmen wie
Siemens und Co. Das möchte ich noch hinzufügen.
Die jetzigen Regierungsparteien, die noch in der
letzten Wahlperiode dieses Gebaren heftigst kritisiert
haben, sind sich bis heute nicht zu schade, festzustellen,
daß für diese Vorhaben eine wirtschaftlich wie sozialund umweltpolitisch ausgewogene Gesamtlösung gefunden worden sei. Wörtlich heißt es in der Anfrage:
Nicht beherrschbare oder nicht akzeptable Umweltund Sozialwirkungen sind nicht bekannt.
Innerhalb kürzester Zeit hat sich also Ihre Meinung geändert.
Auf der anderen Seite steht die versprochene Reform
der Hermes-Kredit-Vergabe in Richtung sozialer und
ökologischer Standards in den Sternen. Dafür wird
schon wieder darüber nachgedacht, den Bau des IllisuStaudamms in der Türkei mit Hermes-Bürgschaften für
ein deutsches Exportkonsortium zu unterstützen. Aber
gerade die Türkei hat sich ja geweigert, die UNKonvention über die nichtschiffbare Nutzung grenzüberschreitender Wasserwege zu unterzeichnen. Konflikte
mit den Anrainerstaaten des Tigris, Syrien und Irak, sind
vorprogrammiert. Es besteht so die Gefahr, daß die ohnehin schon angespannte Trinkwassersituation in dieser
Region noch weiter verschärft wird. Das weiß jeder, der
sich dort einigermaßen auskennt.
Die Bundesrepublik wartet vor der Freigabe noch ab,
wie sich andere Staaten in dieser Frage verhalten. Abwarten! Ich muß schon fragen: Soll dies unser Beitrag
zur Lösung globaler Probleme sein?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch bei der Verschmutzung der Flüsse in der dritten Welt hat
Deutschland die Hand im Spiel. Der Umweltrat spricht
hier von der Gefährdung des Süßwassers durch die
„grüne Revolution“. Beispielsweise - das kann man einem Bericht von jemandem entnehmen, der kürzlich in
dieser Region war - sind die Hohlwege im MusterGemüseanbaugebiet im guatemaltekischen Almalonga
von Pestizidflaschen und Düngemitteltüten der Firma
Bayer nur so übersät. Kinder verspritzen tonnenweise
die Gifte, um nachher Turbokarotten zu ernten, die doppelt so groß, aber nur halb so schwer sind wie normal.
Dabei geht nicht nur die Gesundheit der Kinder, sondern
auch das Grund- und Oberflächenwasser vor die Hunde.
Dies berichtet jemand, der erst kürzlich in dieser Region
war.
Ich meine: Wasser ist, vermittelt über die Weltwirtschaftsordnung, ein globales Problem. Da haben wir ein
Stück mehr Verantwortung. Wir müssen daher weiter
diskutieren und unsere Verantwortung ernst nehmen.
Zum Abschluß noch ein Wort an Herrn Hirche. Sie
reden immer sehr fragwürdig über AKWs. Wir sollten
aber im Rahmen dieser Umweltdebatte nicht vergessen,
was heute in Japan passiert ist. Es ärgert mich, daß in
einer so zynischen Art und Weise über Atomkraft gesprochen wird, obwohl doch gerade Hunderte und Tausende von Menschen in Japan verstrahlt wurden.
({2})
- Sie haben die neueste dpa-Meldung noch nicht gelesen. Es handelt sich um ein paar hundert Menschen. Sie
werden zur Zeit aus der Gefahrenzone gebracht. Man
sollte daher nicht so menschenverachtend darüber reden.
({3})
Jetzt erteile ich der
Parlamentarischen Staatssekretärin Gila Altmann das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon gesagt worden, daß sich Minister Trittin gestern
über dieses Thema nicht geäußert habe. Das hat aber absolut nichts mit seiner Einschätzung dieses Themas zu
tun.
({0})
Er hat gewußt, daß wir heute darüber debattieren. Insofern handelt es sich um eine sehr freie Interpretation Ihrerseits.
Die Erdoberfläche besteht zu 71 Prozent aus Wasser.
2,5 Prozent dieses weltweiten Wasserbestandes ist Süßwasser. Davon wiederum ist nur ein Sechstel für den
Menschen nutzbar.
In 50 Jahren wird Süßwasser für die meisten Nationen - das ist nicht lustig; da vergeht einem das Lachen wichtiger als Öl sein. Das besagt eine UN-Studie von
1996. Wir haben schon gehört: In ungefähr 30 Ländern
herrscht bereits heute Wasserknappheit. Rund 2 Milliarden Menschen leben jetzt schon ohne sauberes Trinkwasser. Nur 5 Prozent der weltweiten Abwässer werden
gereinigt. 80 Prozent aller Krankheiten werden durch
verschmutztes Wasser verbreitet. Zwischen 10 und
25 Millionen Menschen sterben jährlich an den überwiegend auf diese Weise übertragenen Infektionskrankheiten Diarrhö, Hepatitis, Cholera und Typhus.
Der globale Wasserverbrauch hat sich in den letzten
45 Jahren nahezu versechsfacht, wobei die Landwirtschaft weltweit mit etwa 70 Prozent der größte Wasserverbraucher ist. In diesem Zusammenhang sind die Monokulturen schon angesprochen worden. Der Einsatz
von Hochertragssorten und intensive Exportlandwirtschaft sind weitere Gründe.
Die weltweit drohende Wasserkrise wird sich in Zukunft noch verschärfen, und es besteht dringender
Handlungsbedarf, wenn wir verhindern wollen, daß die
nächsten Kriege um Wasser geführt werden. Viele
schwelende Konflikte gibt es bereits.
Das Gutachten, das wir heute hier diskutieren - Wege
zu einem nachhaltigen Umgang mit Süßwasser -, bietet
wertvolle Lösungsansätze, um den Schutz der Wasserreserven für kommende Generationen sicherzustellen.
Denn eines muß uns klar sein: Wasser kennt keine
Grenzen. Lösungen müssen deshalb regional wie international im Einvernehmen gefunden werden. Eigentlich läuft uns die Zeit davon. Aber wir brauchen sie,
weil wir es im Dialog schaffen müssen und nicht einfach
als Heilsbringer über den Globus rennen können.
Die Bundesregierung hat ihren Teil bereits beigetragen, indem sie die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates in die verschiedenen internationalen Gremien eingebracht hat.
({1})
So setzt sich die Bundesregierung, wie von Frau Homburger gefordert, bei den Vereinten Nationen für die
Verbesserung der frühzeitigen Erkennung zum Beispiel
von Sicherheitsrisiken ein, die durch die ungeregelte
Nutzung grenzüberschreitender Gewässersysteme entstehen können. Auch das Übereinkommen der Vereinten
Nationen über das Recht der nichtschiffahrtlichen Nutzung internationaler Wasserläufe wird voraussichtlich
in der ersten Hälfte des Jahres 2000 ratifiziert werden.
Im Rahmen des Umweltforschungsprogramms der
Bundesregierung werden unter dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung Studien zum weltweiten Wandel
des Wasserkreislaufs durchgeführt sowie neue Wassertechnologien und Modelle für regionales Süßwassermanagement entwickelt. 2002 veranstaltet die Bundesrepublik Deutschland eine Weltwasserkonferenz zum Thema Süßwasser in Vorbereitung der CSD-Konferenz zur
nachhaltigen Entwicklung.
Generell notwendig sind aus unserer Sicht eine Bündelung und eine bessere Koordinierung der verschiedenen internationalen Organisationen im Umwelt- und
Wasserbereich. Es ist ebenso klar, daß internationale
Wasserpolitik immer auch Entwicklungspolitik ist. Wie
das geht, hat mein Kollege Winfried Hermann bereits
erläutert.
Sieht man sich die Situation in den Industrieländern
an, so kann man sagen, daß die Bundesrepublik sehr
wohl ein Musterknabe ist. Sie steht, was den niedrigen
Wasserverbrauch in Europa angeht, mit 127 Litern pro
Tag an dritter Stelle. Aber das ist kein Grund nachzulassen. Es ist auch noch weniger möglich, ohne daß man an
Komfort einbüßen muß.
Von der Regierungsseite wurden - das stimmt - in
den vergangenen Jahren weitere Anstrengungen unternommen, um die Trinkwasserqualität und die Vorsorge
zu verbessern. Die Kostenbegrenzung ist dabei allerdings nur bedingt gelungen. Der Anstieg der Trinkwasserpreise hat sich im vergangenen Jahr in Deutschland
zwar weiter verlangsamt und betrug nur 1,5 Prozent. So
bezahlt man derzeit für einen Kubikmeter Wasser ungefähr 3,26 DM. Aber die Kosten für die Abwässer übersteigen mittlerweile die Kosten für das Trinkwasser. Das
sind - auf die Fehler der Vergangenheit ist schon hingewiesen worden - Ihre Fehler, die Sie zum Beispiel im
Osten gemacht haben, indem Sie überdimensionierte
Kläranlagen gefördert haben, weil die „blühenden Landschaften“ kommen sollten, die aber nicht gekommen
sind.
({2})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Homburger?
Nein, im Moment nicht.
Ich möchte als letztes die Liberalisierung des Wassermarktes ansprechen, den Sie ebenfalls hochhalten.
Da muß ich aus Sicht des Umweltministeriums ganz klar
sagen, daß eine Privatisierung ohne Wenn und Aber, wie
sie Ihnen vorschwebt, mit fatalen Folgen verbunden sein
kann, wenn man Wasser ausschließlich unter Wettbewerbsaspekten betrachtet. Es ist hier schon ein paarmal
angesprochen worden: Wasser ist mehr als ein Wirtschaftsgut. Es ist ein Lebensmittel, von dem wir alle,
Opposition und Koalition, abhängig sind.
({0})
Wenn unter Kostenaspekten nur das Notwendigste für
die Einhaltung der Grenzwerte der Trinkwasserverordnung getan würde, wäre die Konsequenz, daß wir entweder hygienische Probleme bekämen oder zum Beispiel die Chlorbeigaben erhöht würden. Auf jeden Fall
würde die Qualität leiden. Die Gesundheit der Verbraucher muß Vorrang vor der Freiheit des Wettbewerbs haben.
({1})
Der Schutz geschlossener Versorgungsgebiete muß
erhalten bleiben, weil ansonsten die Gefahr besteht, daß
nach dem Prinzip der Rosinenpickerei die Großabnehmer bevorzugt werden und die Kleinabnehmer zurückbleiben, die dann auch noch Preissteigerungen hinzunehmen hätten. Eine breite Versorgung der Bevölkerung
muß gewährleistet bleiben, und zwar zu sozial verträglichen Trinkwasserpreisen.
({2})
Deshalb haben sich Umweltministerium und Gesundheitsministerium bei der Beibehaltung des § 103 durchgesetzt, der den Gebietsschutz bei der Wasserversorgung
garantiert. Die hohe Qualität der Wasserversorgung darf
nicht angetastet werden.
({3})
Insofern wird das Umweltministerium - das kann ich
Ihnen, Frau Homburger, zu Ihrer Beruhigung sagen eine Informationskampagne zur Organisation der
Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung starten und
intensive Gespräche mit den Verbänden der Wasserversorgung und des Umweltschutzes führen; denn wir haben erkannt, daß Wasserpolitik eines der wichtigsten
Politikfelder der Zukunft sein wird. Die neue Bundesregierung wird ihren Teil dazu beitragen. Sie wird nicht
nur reden, sondern sie wird handeln.
({4})
Wir nehmen Ihre Mitarbeit dabei gerne an.
({5})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Homburger das Wort.
({0})
Frau Staatssekretärin
Altmann, ich möchte, weil Sie keine Zwischenfrage zugelassen haben, kurz etwas zu Ihrer Bemerkung sagen,
wir hätten in der Vergangenheit Fehler gemacht und wir
- also die alte Bundesregierung, die alte Koalition hätten in den neuen Bundesländern überdimensionierte
Kläranlagen gebaut.
Es scheint Ihnen nicht bekannt zu sein, Frau Kollegin
Altmann, daß für die Projektierung von Kläranlagen
nicht der Bund zuständig ist, sondern daß die Kommunen dafür zuständig sind. Das ist das erste, was ich festhalten will. Der Bund ist für die Setzung von Rahmenbedingungen zuständig. Da kann er in der Tat lenken.
Aber das gilt nicht für die Frage der Dimensionierung
der Kläranlage; das wird vor Ort entschieden.
({0})
Es gibt sowohl öffentlich-rechtlich als auch privatrechtlich betriebene Anlagen in den neuen Bundesländern, die zu groß dimensioniert sind. Im übrigen gibt es
solche auch in den alten Bundesländern; das ist keine
Seltenheit.
Parl. Staatsekretärin Gila Altmann
Dazu will ich Sie nur auf eines hinweisen: Bei denen,
die privatwirtschaftlich betrieben werden, gab es immer
Diskussionen darüber, ob die Kläranlage so groß sein
muß; denn wenn eine Kläranlage überdimensioniert ist,
wirkt sich das sofort auf die Gebühren aus.
Rostock wird immer als Paradebeispiel dafür angeführt, daß privatwirtschaftlich betriebene Anlagen nicht
funktionieren. Da ist aber nicht der Betreiber schuld daran, daß die Kläranlage zu groß dimensioniert ist; vielmehr hat seinerzeit der Stadtrat entschieden, daß nicht so
gebaut wird, wie der Betreiber es will und wie er die anfallende Wassermenge einschätzt, sondern daß das ursprünglich angenommene Mengenwachstum und der
alte Plan zugrunde gelegt werden, so daß man die Wassermenge nach dem alten Plan berechnet hat. Das heißt,
es war eine politische Entscheidung und keine fachlich
begründete Entscheidung. Es ist immer schlecht, wenn
Politik meint, sie könnte fachliche Entscheidungen politisch treffen.
({1})
Frau Staatssekretärin, möchten Sie antworten? - Bitte sehr.
Frau Kollegin Homburger, ich finde es etwas ärmlich, das jetzt auf die Kommunen abzuwälzen. Natürlich
kennen wir die Kompetenzabgrenzung.
({0})
- Ich versuche es ja gerade zu erklären. Warten Sie doch
ab.
Im Augenblick hat
die Frau Staatssekretärin das Wort. Wir sollten ihr ein
bißchen zuhören. - Bitte sehr.
Die Kommunen haben ihre Bedarfsplanung aber
doch danach ausgerichtet, was letztendlich vom Bund an
Daten vorgegeben worden ist.
({0})
Das heißt, Sie haben blühende Landschaften versprochen.
({1})
Sie haben in den Best-case-Prognosen Zuwächse vertreten. Das hat letztendlich dazu geführt, daß die Anlagen so geplant worden sind, wie es geschehen ist. Die
Zeche zahlen jetzt die Endverbraucher.
({2})
Das ist letztendlich der Punkt, an dem Sie Ihre politischen Fehler gemacht haben, auch wenn Sie es heute
nicht mehr wahrhaben wollen.
({3})
Nun hat das Wort
der Kollege Werner Wittlich, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die allgemeine Besorgnis über die Qualität der kommunalen Abwässer
hat ihren Grund in der umweltschädlichen Wirkung dieser Abwässer, die häufig nicht ausreichend gereinigt
werden.
Die Einleitung unbehandelter kommunaler Abwässer
kann schon rein optisch zu Beeinträchtigungen führen
und den Erholungswert von Flüssen, Seen, Flußmündungen und Meeren mindern. Im Süßwasser kann die
Verringerung des gelösten Sauerstoffs und die Einleitung von Ammoniak und größeren Mengen von
Schwebstoffen das ökologische Gleichgewicht erheblich
stören. Das wirkt sich wiederum stark negativ auf Flora
und Fauna, insbesondere die Fischbestände, aus. Auch
Wasser, das für den menschlichen Gebrauch bestimmt
ist, kann von dieser Verschlechterung der Wasserqualität
stark betroffen sein. Die Einleitung kommunaler Abwässer ins Meer kann außerdem dazu führen, daß dieses
zum Baden und für die Zucht von Schalentieren usw.
nicht mehr geeignet ist.
1988 wurden Initiativen für eine neue, wirksamere
Wasserpolitik der Gemeinschaft ergriffen. Der Europäische Rat von Hannover forderte die Kommission und
den Rat auf, ihre Anstrengungen zur Bekämpfung und
Verhütung der Luft- und Wasserverschmutzung zu verstärken. Am 9. November 1989 hat die Kommission den
Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Behandlung kommunaler Abwässer vorgelegt. Diese Richtlinie
trat am 21. Mai 1991 in Kraft.
Der hier nunmehr zur Beratung stehende Bericht der
Kommission ist eine Bilanz über die Umsetzung dieser
Richtlinie in einzelstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Die einstimmige Beschlußlage im Ausschuß darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß - wie
zum Beispiel bei Art. 3 Abs. 1 des Vertrages - auch hier
immer noch ein großes Potential an Verbesserungsmöglichkeiten besteht.
Es kann nicht sein, für grundsätzlich alle Gemeinden
entsprechend den Bestimmungen des Art. 3 Abs. 1 Kanalisationssysteme zu bauen. Ich halte es für dringend
geboten, die Forderung für den Bau von Kanalisationssystemen auf Gemeinden ab einer bestimmten Mindestgröße zu beschränken.
({0})
Weiter möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion daran
Kritik üben, daß der vorliegende Kommissionsbericht
mit vier Jahren Verspätung vorgelegt wurde. Die BeBirgit Homburger
gründung der Kommission für die verspätete Vorlage
kann somit nicht akzeptiert werden.
({1})
- Erzählen Sie doch keine Märchen!
({2})
Die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht Art. 19 der Richtlinie - erfolgte in Deutschland wegen
fehlender Umsetzungsverordnungen in den Bundesländern endgültig im Februar 1998.
Ich darf daran erinnern, daß der Deutsche Bundestag
am 18. Juni 1998 zur Gebührenthematik in der kommunalen Abwasserentsorgung einen Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. unter der
Überschrift „Gewässer schützen - Kosten senken“ angenommen hat.
Ich fordere Umweltminister Trittin auf - er ist nicht
da, die Staatssekretärin auch nicht -,
({3})
zum Stand der Umsetzung zu berichten, zum Beispiel
zur Überprüfung der Regelwerke und zu der Umsetzung
der 6. Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz in den Ländern.
({4})
Was ist zum Beispiel mit der Kommunalabgabe oder
mit der Vergabe- und der Honorarregelung? Sind diese
Arbeiten in Vorbereitung, oder sind sie möglicherweise
schon abgeschlossen?
Meine Damen und Herren, die Europäische Kommission hat der Bundesrepublik Deutschland im November
1998 wegen mangelnder Umsetzung der EG-Richtlinie
über kommunale Abwässer ein Mahnschreiben übersandt. Damit hat sie ein Vertragsverletzungsverfahren
nach Art. 169 EG-Vertrag eingeleitet.
Nach der Richtlinie mußten kommunale Kläranlagen
in Einzugsgebieten von „empfindlichen Gebieten“, sofern sie Gemeinden von über 10 000 Einwohnern entsorgen, grundsätzlich bis Ende 1998 mit der sogenannten dritten Reinigungsstufe zur gezielten Nährstoffentfernung ausgestattet sein. Dies gilt dann nicht, wenn die
vorhandenen kommunalen Abwasserbehandlungsanlagen insgesamt Stickstoff und Phosphor um 75 Prozent
reduzieren. Diese 75-Prozent-Regelung nach Art. 5 Abs.
4 der Richtlinie ist der entscheidende Ansatzpunkt, um
zu belegen, daß Deutschland den Anforderungen genügt,
welche die Kommission aus der Richtlinie ableitet.
Deswegen ist es unverständlich, daß sich die Bundesregierung in ihrem Antwortschreiben nur andeutungsweise
auf diese Klausel beruft. Dies gilt um so mehr, als sie
selbst davon ausgeht, daß die deutschen Abwasserentsorger diese Anforderungen erfüllen.
So hat unter anderem die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, Simone Probst,
anläßlich der „Essener Tagung“ im März 1999 in Aachen erklärt:
Die Bundesrepublik Deutschland wird gegenüber
der Kommission den Nachweis dieser Frachtreduzierung erbringen können, wenngleich beim Stickstoff die 75 Prozent nur knapp erreicht werden.
In der Tat wurden bereits 1995 in den betroffenen
Wassereinzugsgebieten Ems, Weser, Elbe und Oder zur
Behandlung in den Kläranlagen anfallende Abwässer zu
81 Prozent einer biologischen Abwasserreinigung mit
gezielter Nährstoffentfernung unterzogen. Dieses hohe
Niveau trägt dazu bei, daß die deutschen Unternehmen
im europäischen Vergleich einen unangefochtenen Spitzenplatz einnehmen.
Inzwischen ist der Leistungsstandard in Deutschland
noch höher, weil seit 1995 allein in die Abwasserwirtschaft in den neuen Bundesländern zirka 20 Milliarden
DM investiert wurden. Nach meinen Informationen haben sich Nachbarstaaten Deutschlands bereits frühzeitig
auf die 75-Prozent-Regelung berufen.
Ich fordere daher unseren Umweltminister, Jürgen
Trittin, auf, diesem Beispiel zu folgen und der Kommission einen zufriedenstellenden Bericht zur 75-ProzentRegelung vorzulegen.
({5})
Es muß damit gerechnet werden, daß die Kommission in
wenigen Wochen eine „mit Gründen versehene Stellungnahme“ gegen Deutschland richtet. Dadurch wäre
die nächste Verfahrensstufe beschritten. In der Stellungnahme würde die Kommission Deutschland auffordern,
innerhalb einer festgelegten Frist bestimmten Anordnungen nachzukommen. Dann hätte Deutschland nur
noch sehr eingeschränkte Möglichkeiten, entlastendes
Material nachzureichen.
Wenn die Bundesregierung der Kommission keine
besseren Gegenargumente als bisher präsentiert, muß
Deutschland damit rechnen, vom Europäischen Gerichtshof verurteilt zu werden. Das wäre ein weiteres
Zeugnis dafür, wie dilettantisch die Bundesrepublik
Deutschland von dieser Bundesregierung international
vertreten wird.
Vielen Dank.
({6})
Herr Kollege Wittlich, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Marga Elser,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste zu später Stunde!
Wenn ich Ihnen sage, daß der menschliche Organismus
zu etwa zwei Dritteln aus Wasser besteht, so ist mögliWerner Wittlich
cherweise der oder die einzelne von Ihnen mit mir der
Meinung, daß dies nicht für Abgeordnete gelten kann.
Die Versorgung mit Trinkwasser - nicht die mit geistigen Getränken - ist bei unserer Arbeit - man sieht es nicht immer gewährleistet. - Aber Spaß beiseite. Ein
Mensch kann zwar viele Wochen leben, ohne zu essen.
Ohne Wasser aber wird er höchstens sechs Tage überleben.
Der Bericht der Bundesregierung zum Jahresgutachten 1997 über Wege zu einem nachhaltigen Umgang mit
Süßwasser zeigt uns eine ernste Krise an: Heute leben
rund 2 Milliarden Menschen ohne Zugang zu sauberem
Trink- und Sanitärwasser. Der Wasserverbrauch hat sich
weltweit von 1950 bis 1994 nahezu vervierfacht. Dabei
ist abzusehen, daß die nutzbaren Wasservorräte der Erde
bis zum Jahr 2000 - das ist nun wirklich nicht mehr lange - im Vergleich zu 1950 in Asien um drei Viertel, in
Afrika um zwei Drittel und in Europa um ein Drittel zurückgehen werden.
Das Menschenrecht auf Nahrung schließt auch das
Recht des Menschen auf eine angemessene Menge von
nutzbarem Wasser ein. Internationale Konflikte um
Süßwasserressourcen haben ihren Ursprung oft nicht nur
in der zunehmenden Wasserknappheit, sondern auch in
dadurch begründeten politischen Entscheidungen. Alles
Wasser, das wir auf der Erde haben, befindet sich in
einem ständigen Kreislauf: Nichts verschwindet und
nichts kommt dazu. Immer mehr Menschen - nun sind
es 6 Milliarden - müssen sich diese endlichen Wasservorräte teilen.
Die Folgerungen aus dem Bericht haben wir in einer
Beschlußempfehlung zusammengefaßt, in der wir die
Bundesregierung auffordern, eine Reihe von Maßnahmen sowohl im nationalen als auch im internationalen
Bereich zu ergreifen. Bedauerlich ist übrigens, daß Sie,
meine Damen und Herren der CDU/CSU und der
F.D.P., dieser Beschlußempfehlung im Umweltausschuß
nicht zugestimmt haben.
({0})
Vielleicht hat Sie die wasserarme Sommerpause eines
Besseren belehrt, und Sie können sich heute doch noch
zu einer Zustimmung durchringen.
({1})
Wir jedenfalls sind davon überzeugt, daß es bei der
Dramatik der Süßwasserkrise keine isolierte nationale
Alleinbetrachtung und das Herumdoktern an Einzelsymptomen geben kann. Gefordert ist hier nicht nur die
Umweltpolitik, sie kommt zwar zuerst, aber wir Umweltpolitiker sehen die Umweltpolitik als Querschnittsaufgabe. Gefordert sind alle Politikbereiche, von
der Wirtschaft über den Verkehr, die Land- und Forstwirtschaft bis hin zur Entwicklungszusammenarbeit.
({2})
Wir sind davon überzeugt, daß mit der Beseitigung
des Trinkwassermangels und der Entlastung der Gewässer durch Abwasserreinigung international ein großer
Beitrag zum inneren und äußeren Frieden in den
Ländern geleistet werden kann. Die Umsetzung der RioBeschlüsse von 1992 auf nationaler und internationaler
Ebene und der Petersberger Erklärung von 1998 zur Lösung dringender Fragen auf dem Wassersektor muß als
ein Schwerpunkt der gesamten Regierungsarbeit vorangetrieben werden.
({3})
Auf internationaler Ebene hat die 6. Sitzung der
UNO-Kommission für nachhaltige Entwicklung im
April 1998 in New York „Strategische Ansätze für
Süßwasser-Management“ verabschiedet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
einigen wasserrelevanten Schwerpunkten im nationalen
Bereich kommen. Der Bericht sagt aus, daß wir in
Deutschland dank unserer klimatisch günstigen Lage im
allgemeinen keine Probleme mit der mengenmäßigen
Wasserversorgung haben. Wir haben auch einen seit
Jahren kontinuierlich zurückgehenden Wasserverbrauch.
Das ist nicht nur, aber auch ein Erfolg gewachsenen
Umweltbewußtseins und verbesserter technischer Voraussetzungen.
({4})
Wir müssen aber noch viel mehr als bisher nicht nur
nachsorgenden, sondern vorsorgenden Gewässerschutz betreiben.
({5})
Auch bei einem vergleichsweise hohen technischen
Standard zeigt die biologische Gewässergütekarte der
Bundesrepublik dennoch nur verschwindend wenige unbelastete Gewässer, während das Gros der Flüsse zu den
mäßig bis kritisch belasteten gehört und an Elbe und
Ruhr noch stark verschmutze Abschnitte zu beklagen
sind. Die Vereinbarung über die internationale Kommission zum Schutz der Elbe hat sich dort bereits positiv
ausgewirkt.
({6})
- Abwarten, das kommt schon.
({7})
Gewässerschutz hat nicht nur mit der Verhinderung
von Schadstoffeinträgen in unsere Oberflächengewässer
und ins Grundwasser zu tun, sondern auch mit der Wiederherstellung und dem Erhalt natürlicher Bachläufe,
Flußauen, Feuchtgebiete, Moore und Auwälder. Daher
ist es unerläßlich, daß der Bedeutung der Gewässer als
unentbehrlicher Teil des Ökosystems umfassend Rechnung getragen wird. Dies ist auch und gerade im Zusammenhang mit der europäischen Wasserrahmenrichtlinie zu sehen, mit deren allgemeinen Forderungen aber
klare Handlungsanweisungen und Kriterien einhergehen
müssen. Vor allem die Ableitungen und Emissionen giftiger, schwerabbaubarer organischer Stoffe und der Eintrag von Stickstoff und Phosphor müssen soweit wie
möglich reduziert werden.
Unsere Gewässer bieten vielfältigen Tier- und Pflanzenarten den benötigten Lebensraum. Trocknet ein Wasserlauf aus, wird ein Bach begradigt und zementiert oder
gar überdeckelt, sterben Arten, geht Vielfalt verloren,
verändert sich das Kleinklima. Der Kommunalpolitik,
den Landschaftsplanern, der Flußgebietsplanung und
den unteren Naturschutzbehörden kommt dabei eine
sehr große Verantwortung zu. Es ist notwendig, nicht
mehr in Gemarkungsgrenzen, sondern in Wassereinzugsgebieten zu denken.
({8})
Der integrierte Hochwasserschutz ist davon genauso abhängig wie die Darstellung des ökologischen und chemischen Gewässerzustandes und der vorhandenen Schutzgebiete.
Die Bewahrung der biologischen Vielfalt, wie sie
auf der Konferenz von Rio in eindringlicher Weise formuliert wurde, kann nur durch einen umfassenden
Schutz der Lebensräume mit ihren Lebensgemeinschaften erreicht werden. Nach Aussage von Wissenschaftlern sind rund 300 Biotoptypen bei uns gefährdet. Besonders betroffen sind alle Feuchtlebensräume: Moore,
naturnahe Flüsse und Bäche, Seen und Kleingewässer.
Der Verlust ist auch durch aufwendigste Naturschutzmaßnahmen kaum - wenn ja, dann nur in sehr langen
Zeiträumen - oder aber gar nicht ausgleichbar.
Die Erhaltung und Wiederherstellung von Flußauen
sichert zum einen die artenreichsten Lebensräume
in Deutschland und leistet zum anderen einen kostengünstigen Beitrag zum Hochwasserschutz. Sie
sichert die Vitalität der Auenwälder und darüber
hinaus eine nachhaltige Grundwasserneubildung.
Dieses Zitat stammt aus den Vorschlägen des Bundesamtes für Naturschutz für eine Naturschutzpolitik des
Bundes. Dabei soll nicht verkannt werden, daß sich der
Natur- und Gewässerschutz sehr häufig in einem schier
unlösbaren Zielkonflikt mit anderen gleichfalls umweltpolitischen Zielsetzungen befindet. Ich nenne dafür nur
zwei Beispiele:
Der Ausbau der Wasserkraftwerke ist zweifellos eine Förderung regenerativer Energien. Gleichwohl kann
das Stauen und Ausleiten von Wasser einen Fluß und
damit einen ganzen Lebensraum zerstören. Die Veränderung von Fließgeschwindigkeit, Strömungsmustern und
Sauerstoff- sowie Temperaturhaushalt bedingt den
Rückgang von Flora und Fauna. Davon abhängig vermindert sich auch die natürliche Regenerationsfähigkeit
des Wassers. Bei Neubauten kleiner und größerer Wasserkraftanlagen bedarf es daher der Erarbeitung einer
umfassenden und langfristigen Ökobilanz.
({9})
Erst dann ist es für die Planer vor Ort möglich, abzuwägen und nachhaltige Entscheidungen zu treffen.
Zweites Beispiel: Die vermehrte Nutzung von Wasserstraßen für den Schwerguttransport ist ein erklärtes
Ziel unserer Verkehrspolitik. Das ist zweifellos richtig;
denn damit werden Verkehrsschadstoffe und die Belastung der Straßen mit Schwerverkehr vermindert.
Schwierig wird es, wenn durch den Ausbau bisher noch
halbwegs intakter Flußlandschaften aus Flüssen Wasserstraßen werden, wenn permanent ausgebaggert werden
muß, wenn Strombaumaßnahmen ökologische Kriterien
als nachrangig betrachten. Die Gefahr ist groß, daß die
Erneuerungsfähigkeit des Gewässers erlischt und eine
natürliche Strömungsdiversität unterbunden wird. Wenn
beispielsweise Totholz sowie Kies- und Sandbänke fast
völlig fehlen und die ökologische Durchgängigkeit
durch Staustufen fast vollständig unterbunden wird,
führt dies dazu, daß das Grundwasser sinkt, die Hochwassergefahr steigt und die Trennung von Fluß und Aue
zunimmt. Als Folge davon sterben Arten. Deshalb appelliere ich an dieser Stelle an die Verkehrspolitiker,
dem ökologischen Aspekt bei der Verkehrswegeplanung
einen hohen Rang einzuräumen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Land ist eines
der fortschrittlichsten und umwelttechnisch am höchsten
entwickelten. Wir sind davon überzeugt, daß innovative
Umwelttechnologien Arbeitsplätze schaffen und Exportchancen eröffnen. Darauf dürfen wir stolz sein. Allerdings sind wir als Industrienation auch einer der größten
Mitverursacher globaler Umweltprobleme. Daraus
erwächst uns eine riesengroße Verantwortung für den
globalen Umgang mit der kostbaren Ressource Süßwasser. Wir haben zumindest teilweise gelernt, daß der beste Schutz unserer Umwelt die Vermeidung ist. Die Endof-pipe-Strategie ist erkanntermaßen uneffektiv und teuer. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, daß ein
nachhaltiger Umgang mit dem Lebensmittel Wasser für
alle Menschen dieser Welt möglich wird! Stimmen Sie
der Beschlußempfehlung des Umweltausschusses zu!
Ich danke Ihnen.
({11})
Frau Kollegin Elser,
das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich
gratuliere Ihnen im Namen des Hauses.
({0})
Zum Abschluß dieses Tagesordnungspunktes hat jetzt
die Kollegin Vera Lengsfeld das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir
heute einer im Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit parteiübergreifend erarbeiteten Beschlußempfehlung in Sachen kommunales Abwasser zustimmen, so darf doch nicht in Vergessenheit geraten,
daß der ungeheure Nachholbedarf in den neuen Bundesländern in Sachen ökologische Vernunft die Folge
der umweltpolitischen Mißwirtschaft der DDR ist, das
heißt des SED-Regimes,
({0})
das schon allein Datenerfassung und die öffentliche Diskussion ökologischer Realitäten behindert hat oder die
Daten geheimhielt. Deshalb sind Forderungen der PDS
nach einem Fonds zur Unterstützung der Bürger im
Osten bei Zahlung hoher Abwassergebühren heuchlerisch zu nennen.
({1})
Nun heißt es ja nach einem französischen Sprichwort:
Die Heuchelei ist die Verbeugung des Lasters vor der
Tugend. Wir möchten doch allzugern annehmen, daß die
Postkommunisten heute, zehn Jahre nach ihrer Wende,
auf dem Pfade ökologischer Tugend wandeln. Aber wie
wir im Laufe des Abends sehen werden, sind gerade in
Sachen Abwasserpolitik die Aussichten in den Ländern
ganz besonders trübe, in denen die PDS stark ist, die
Regierung toleriert oder gar mitregiert.
({2})
Das Wirtschafts- und das Umweltministerium haben
bekanntlich einen Forschungsauftrag vergeben, um Behauptungen auf den Grund zu gehen, wonach Deutschland das Land der höchsten Trinkwasserpreise und der
höchsten Abwassergebühren sei. Dies, so wird behauptet, sei auf überhöhte Technikanforderungen und mangelnde Kosteneffizienz zurückzuführen. Die Ergebnisse
dieser Studie, die auch nach Bundesländern differenziert, sind allerdings bemerkenswert.
Sicher ist der hohe Standard der Abwasserreinigung
in Deutschland nicht billig. Die Abwasserreinigung erfolgt zu zirka 89 Prozent biologisch. Deutschland liegt
also beim Gewässerschutz, aber auch bei den Kosten an
der Spitze Europas. Im allgemeinen gilt die Faustregel:
Ein hoher Grad des Anschlusses an öffentliche Kanäle
und Abwasserreinigungsanlagen korreliert mit hohen
Kosten. Dies zeigt die Studie auch für die einzelnen
Bundesländer. Der Zeitraum, der hier untersucht wird,
liegt zwischen 1995 und 1998. Da zeigt sich: Thüringen
und Sachsen sind für ihre Bürger mit 163 DM bzw. 124
DM pro Einwohner und Jahr vergleichsweise billig; sie
haben aber mit nur 48 Prozent bzw. zirka 60 Prozent
auch den geringsten Anschlußgrad der Bevölkerung. Im
Vergleich dazu sind die Bewohner Berlins oder des
Saarlandes mit 264 DM bzw. 280 DM pro Einwohner
und Jahr hoch belastet, aber auch zu knapp 97 Prozent in Berlin - oder 69 Prozent - im Saarland - angeschlossen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin BullingSchröter?
Nein, im Augenblick
nicht; nachher vielleicht.
({0})
Es fällt allerdings auf, daß das Saarland die höchsten
Kosten, aber nur den geringsten Anschlußgrad hat.
({1})
- Ja, man sollte sich diese Sachen wirklich einmal anschauen, statt immer nur Phrasen zu dreschen. - Sachsen
war wirklich gut; es gab einen Anschlußgrad von knapp
60 Prozent bei niedrigen Kosten.
Sehr interessant ist die Abbildung 3 dieser Studie, die
uns übrigens in Drucksache 14/1343 auf Seite 41 vorliegt. Hier werden die Abwassergebühren in D-Mark pro
Einwohner und Jahr über den Anschlußgrad an kommunale Kläranlagen geplottet. Die neuen Länder liegen bei
niedrigen, die alten bei hohen Anschlußgraden. Der allgemeine Trend „Je höher der Anschlußgrad, desto teurer“ kann dadurch verdeutlicht werden, daß man eine
ansteigende Gerade durch die Punkte zieht und sich dabei die Bundesländer auf einer Ausgleichsgeraden denkt.
({2})
- Ich kann das auch zeigen. - Auf dieser Geraden liegen
die Bundesländer, die mittlere Kosten und mittlere Anschlußgrade haben. Und jetzt wird es wirklich interessant. Diese „mittleren“ Länder sind zum Beispiel Hamburg und Schleswig-Holstein. Dann gibt es die Abweichler nach links und nach rechts.
({3})
Thüringen und Sachsen zum Beispiel erreichen einen
angemessenen Anschlußgrad an Kläranlagen bei niedrigen Kosten für die Bürger; sie weichen also nach rechts
unten ab.
({4})
Aber links oben auf der Trendgeraden finden wir - jetzt
dürfen Sie dreimal raten; dann können Sie weiterlachen - Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt
und Brandenburg.
({5})
Das heißt, diese drei Länder sind teurer für die Bürger
und erreichen den geringsten Anschlußgrad an die Kläranlagen.
Übrigens sind auch Bayern und Baden-Württemberg
Ausreißer vom mittleren Trend. Sie reinigen ihre Abwässer zu 88 bzw. 97 Prozent mit Kläranlagen, haben
aber mit 189 bzw. 181 DM pro Einwohner und Jahr nur
unterdurchschnittliche Kosten. Auch dies ist eine Abweichung nach rechts unten.
({6})
- Man sollte sich ab und zu einfach einmal die Materialien anschauen, die wir im Ausschuß so geliefert bekommen.
Wenn man sich die Mühe macht, sich diese Grafik
genau anzuschauen, dann kann man eine statistische
Korrelation ableiten, die in Worte gefaßt lautet: Je röter
das Land, desto höher die Abwasserkosten; je schwärzer, desto kosteneffizienter.
({7})
Angesichts dieser Grafik wundert man sich natürlich
nicht mehr, daß es in Brandenburg Hungerstreiks gegen
Abwasserpreiserhöhungen gibt, während aus Sachsen
vergleichbare Dinge nicht zu berichten sind.
({8})
Es besteht erneut die
Bitte nach einer Zwischenfrage. - Offensichtlich lassen
Sie im Moment keine Zwischenfragen zu?
Nein, im Augenblick
nicht. - Das liegt auch daran, daß man in Sachsen in Sachen ökologische Vernunft Augenmaß bewahrt hat. Die
von der Europäischen Union vorgegebene Einstufung
von Gewässern und Einzugsgebieten als „empfindliches
Gebiet“ hätte in der ursprünglichen pauschalen Form das
Land mit 30 Milliarden DM belastet bzw. die Bürger
über Jahre mit 750 DM pro Kopf und Jahr. Aber man
erkannte, daß stehende Gewässer wegen ihrer limnologischen Puffer- und Klärwirkung zum Beispiel der Schilfgürtel stabiler auf Abwasserbelastung reagieren, so daß
diese aus der Kategorie „empfindlich“ herausgenommen
werden konnten, ohne an ökologischer Qualität einzubüßen.
Im übrigen, weil wir heute immer über die Güte der
Oberflächengewässer gesprochen haben: Es liegt eine
Studie aus München vor, die besagt, daß unsere Flüsse
am Ende dieses Jahrtausends so sauber sind, wie sie zu
Beginn dieses Jahrtausends waren, aber niemals in den
Jahrhunderten dazwischen. Das ist einerseits ein Grund,
ganz zufrieden zu sein. Andererseits hat dies einen dramatischen Artenrückgang zur Folge, weil die Arten aussterben, die auf eine gewisse Trübung des Wassers angewiesen sind. Ich sage das nur, um einmal auf die
Wechselwirkungen hinzuweisen.
Frau Kollegin,
kommen Sie bitte zum Schluß!
Ja, ich komme zum
Schluß. - Der Bund kann die regionalen und lokalen
Gebietskörperschaften im Sinne des Subsidiaritätsprinzips unterstützen, wenn er hilft, angemessene und vernünftige Interpretationen der Länder gegenüber der EU
geltend zu machen. Er sollte sich, besonders bezogen
auf die neuen Länder, nicht aus seinem finanziellen Engagement in der Abwasserfrage zurückziehen. Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ wurde auch der Ausbau der Abwasserentsorgung, der zum Beispiel in ländlichen Gebieten in
Thüringen besonders schwierig ist, vom Bund mitgetragen; die Teilfinanzierung ist dann aber ausgesetzt worden. Diese Aussetzung sollte wieder aufgehoben werden. Wenn das Management stimmt, dann ist das gut
angelegtes Geld. Eine Bundesregierung, die den Aufbau
Ost zur „Chefsache“ gemacht hat, sollte dies verstehen.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat nun das Wort die Kollegin Bulling-Schröter.
({0})
Ich mache es
auch ganz kurz. - Frau Kollegin Lengsfeld, Sie haben
wieder mit Vehemenz gegen meine Partei geschossen.
({0})
Ich möchte einiges von dem, was Sie ausgeführt haben,
klarstellen.
Zunächst einmal: Die Umweltminister MecklenburgVorpommerns und Sachsen-Anhalts waren bis 1994
Mitglied Ihrer jetzigen Partei, also der CDU.
({1})
In dieser Zeit wurden die gesamten Kläranlagen in den
neuen Bundesländern konzipiert und projektiert, und
damals wurden auch die Zuschüsse gewährt. Es gab
auch die Honorarverordnung, die begünstigte, daß diese großen Kläranlagen gebaut wurden. Dafür gab es
sehr wenig Verständnis. Sie wissen wahrscheinlich
besser als ich, daß die Wasserwerke in der früheren
DDR zerschlagen wurden und in diesem Bereich dezentralisiert wurde. Es gab wesentlich weniger Wasserwerke.
({2})
Zweitens wollte ich Sie an etwas erinnern: Wir waren
einmal gemeinsam in Thüringen auf einer Montagsdemo
zum Thema Wasser und Abwasser. Wenn ich mich nicht
täusche, war es in Zeulenroda. Damals waren Sie noch
Mitglied der Grünen, und damals haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern, die dabei waren, ganz andere Dinge
über die Frage der Preise in Thüringen erzählt. Mich
würde interessieren: Hat sich Ihre Meinung mit dem
Parteiwechsel geändert, oder ist es die Studie der Bundesregierung?
({3})
Frau Kollegin,
möchten Sie antworten? - Bitte sehr.
Frau Kollegin, wenn
Sie mir richtig zugehört hätten, hätten Sie gewußt, daß
ich nur die Zahlen aus der Studie, die uns allen vorliegt,
referiert habe und nichts weiter. Das hat mit meinem
Parteiwechsel überhaupt nichts zu tun; denn die Studie
ist nicht in meinem Auftrag erstellt worden, sondern im
Auftrag der Bundesregierung.
({0})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Der Ausschuß
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit emp-
fiehlt in seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache
14/837 zum Jahresgutachten 1997 die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Be-
schlußempfehlung ist bei Enthaltung oder Nichtbeteili-
gung der F.D.P. angenommen.*)
Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/1343 unter
Nr. 1, den Kommissionsbericht zum kommunalen Ab-
wasser zur Kenntnis zu nehmen, und unter Nr. 2 die An-
nahme einer Entschließung. Kann ich darüber gemein-
sam abstimmen lassen? - Das ist der Fall. Wer stimmt
für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Gegen-
stimmen der CDU/CSU angenommen.**)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Riegert, Friedrich Bohl, Georg Brunnhuber,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Vereinsförderung
und der Vereinfachung der Besteuerung der
ehrenamtlich Tätigen
- Drucksache 14/1145 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Ihr wollt diesen Punkt nicht zu
Protokoll geben. Damit ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Riegert, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Lobreden auf die
Arbeit unserer Vereine sind unüberhörbar. Gern wird bei
Festveranstaltungen und Jubiläen deren Bedeutung für
unser Gemeinwesen hervorgehoben, und dies zu Recht.
Vereine leisten eine hervorragende Jugendarbeit. Ver-
eine holen Jugendliche von der Straße und sorgen für ei-
ne sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Je weniger Jugend-
amt, um so besser.
In Vereinen ist gemeinsames Handeln angesagt. Dies
prägt die Persönlichkeit eines jungen Menschen. Wer
von klein auf in einem Verein aufwächst, lernt gemein-
schaftliches Handeln. Unsere Vereine integrieren durch
*) Anlage 2
**) Anlagen 3 und 4
ihr breites Angebot ausländische Mitbürger unbürokratisch und wie selbstverständlich. Behinderte wie auch
ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger finden in Vereinen
Gemeinschaft, Eingliederung und Lebenssinn. Vereine
leisten Vorbildliches im Rahmen der gesundheitlichen
Fürsorge. Vereine fördern die Leistungsbereitschaft und
arbeiten erfolgsorientiert. Sie üben demokratische Verhaltensweisen ein. Fair play ist oberstes Gebot. Der
Staat fördert unsere Vereine nach dem Prinzip der Subsidiarität: erst Eigenhilfe, dann staatliche Hilfe. Dies
stärkt die Autonomie unserer Vereine und macht sie in
ihren Entscheidungen frei.
Besonders danken möchte ich den ehrenamtlichen
Helferinnen und Helfern.
({0})
Ohne deren unentgeltliches und freiwilliges Engagement wären die Leistungen in unseren Vereinen nicht
denkbar. Dafür an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Vereine geben Millionen von Menschen Lebenssinn. Die ehrenamtliche Struktur unserer Vereine stabilisiert unsere
Demokratie, weil sie Werte und Tugenden vermittelt.
Deshalb müssen wir dafür sorgen, daß die Mitgliedsbeiträge niedrig bleiben. Bezahlbare Mitgliedsbeiträge sind
eine wesentliche Voraussetzung für einen Verein für alle. Nur dann ist eine Teilnahme aller sozialen Schichten
am Vereinsleben gesichert. Deshalb müssen wir die
Rahmenbedingungen für Vereine so gestalten, daß sie
ihre Aufgaben autonom, in eigener Verantwortung
wahrnehmen können. Sie dürfen nicht zu billigen
Dienstleistern werden und ihre Strukturen rein kommerziellem Denken unterordnen.
Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat 1989
das Vereinsförderungsgesetz initiiert, und der Deutsche Bundestag hat es verabschiedet. Dieses Gesetz trägt
dem Anliegen der Vereine Rechnung. Es gewährt Steuervergünstigungen bzw. Steuerfreiheit bei der Körperschaft-, Gewerbe-, Vermögen-, Umsatz-, Grund- und
Erbschaftsteuer. Allerdings hat es seit zehn Jahren keine
Veränderung gegeben.
({2})
Die Besteuerungs- und Zweckbetriebsgrenzen liegen
weiterhin bei 60 000 DM im Jahr. Die Aufwandsentschädigung ist nicht gestiegen.
({3})
Gestiegen sind aber die Belastungen für die Vereine.
Die staatlichen und städtischen Zuschüsse sind geringer
geworden. Viele Kommunen erheben die Nutzungsentgelte für die Benutzung von Sportanlagen. Für die meisten Sportvereine fließen die Sponsorengelder nicht so,
wie von der Öffentlichkeit oft vermutet.
In den vergangenen zehn Jahren aber sind die Aufgaben der Vereine sowie die Anforderungen und Ansprüche der Mitglieder an die Vereine gewachsen:
({4})
mehr Freizeit, Streben nach mehr Individualisierung, gesteigerte Interessen, verstärkte Angebote in der Freizeitgestaltung. Dies geht an den Vereinen nicht spurlos vorüber.
Wir haben es begrüßt, daß die Koalition die Rahmenbedingungen für die Vereine verbessern wollte. So steht
es in der Koalitionsvereinbarung. Sie hätten uns auf Ihrer
Seite gefunden. Doch was hat diese Bundesregierung gemacht? Sie hat erstens die Sportfördermittel gekürzt und
zweitens bei den Energiesteuern abkassiert. Dies ist eine
außerordentlich hohe Belastung für unsere Vereine und
die dort tätigen Übungsleiter und ehrenamtlich Tätigen.
Fahrten von Jugendlichen und Kindern zum Training, zu
den Übungsplätzen und zu Wettkämpfen verteuern sich
drastisch. Sie erhalten keinen Ausgleich. Unterhaltungskosten für Vereinsheime und Sportstätten sowie Nutzungsentgelte für kommunale Einrichtungen verteuern
sich drastisch, ohne Ausgleich für unsere Vereine.
Drittens belasten die Neuregelungen der 630-MarkJobs und der Scheinselbständigkeit die Vereine erheblich und lassen den dort Tätigen weniger in der Tasche.
({5})
Die Anhörungen zu den Steuererhöhungen und Neuregelungen haben dies deutlich gemacht. Die Auswirkungen für unsere Vereine sind fatal. Durch ihre Gesetzgebung haben SPD und Grüne die Strukturen unserer Vereine geschädigt.
({6})
Nebenberuflich Tätige kündigen die Mitarbeit. Dies hat
Folgewirkungen für das ehrenamtliche Engagement.
Wie sich die Neuregelungen an der Basis auswirken,
zeigt eine Umfrage bei Sportvereinen. Ein Drittel der
Übungsleiter in den Sportvereinen hat seine Arbeit hingeworfen. Sie sind es leid, auf Festveranstaltungen von
Ihnen für ihr Engagement gelobt zu werden, während
Sie ihnen gleichzeitig in die Tasche greifen. Dies mögen
sie nicht.
Für ein weiteres Drittel der Übungsleiter übernimmt
der Verein die Sozialversicherungsbeiträge. Dieser finanzielle Kraftakt ist nur über Beitragserhöhungen
möglich. Aber diese Erhöhungen gehen zu Lasten sozial
Schwacher.
Die CDU/CSU hat gefordert, die gemeinnützigen
Vereine im Rahmen der Neuregelungen von der Sozialversicherungspflicht auszunehmen.
({7})
Rotgrün hat dies abgelehnt. Die CDU/CSU hat gefordert, die gemeinnützigen Vereine und Organisationen
von der Erhöhung der Energiesteuern auszunehmen. Sie
haben auch dies abgelehnt. Ihnen scheint es gleichgültig
zu sein, was die ständigen Steuererhöhungen und die
Neuregelung der 630-Mark-Jobs in den Vereinen anrichten. Ihnen scheint es egal zu sein, ob Jugendarbeit
noch möglich ist, ob Arbeit mit älteren Menschen zurückgestellt werden muß und ob Behinderten eine vernünftige Betreuung zuteil wird. Dies ist kein Vermittlungsproblem, von dem Sie glauben, daß Sie es überall
haben. Dies ist ein Teil Ihrer sozialen Kälte.
({8})
Nun versuchen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, den
Pfusch, den sie mit der Neuregelung der 630-DM-Jobs
angerichtet haben, zu übertünchen. Sie wollen auf dem
Wege der Bereinigung von steuerlichen Vorschriften das
Einkommensteuergesetz ändern. Die Übungsleiterpauschale soll von 200 auf 300 DM pro Monat erhöht werden.
({9})
Dies können Sie machen. Aber damit es auch dem letzten von Ihnen klar wird, weise ich auf folgendes hin: Die
Übungsleiterpauschale hat mit der Neuregelung der 630DM-Jobs nichts zu tun. Sie können mit der Anhebung
dieser Pauschale die Vereine und die dort Tätigen nicht
an den Stellen entlasten, an denen Sie willkürlich Belastungen beschlossen haben. Wir werden Ihnen diese
Mogelpackung nicht durchgehen lassen.
({10})
Die Richtigkeit unserer Auffassung bestätigen uns die
Finanzexperten Ihrer eigenen Fraktion. Ich zitiere jetzt
aus einem Papier der AG Finanzen der SPD-Fraktion
vom Juni 1999. Dort heißt es:
Mit der Aufstockung der Übungsleiterpauschale
sollen die durch die Neuordnung der geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisse auftretenden Belastungen der Vereine und gemeinnützigen Organisationen abgemildert werden. Das beabsichtigte Ziel
kann mit der Aufstockung der Übungsleiterpauschale nicht erreicht werden. Die Vereine sind belastet, weil ihre Arbeitnehmer, die über zwei Beschäftigungsverhältnisse verfügen und bei denen
infolge der Neuregelung die Voraussetzung für eine
geringfügige Beschäftigung nicht mehr vorliegen,
eine Lohnerhöhung fordern, um die Abzüge zu
kompensieren. Eine Anhebung der steuerfreien
Aufwandspauschale würde die gemeinnützigen
Vereine nicht von den beklagten Belastungen befreien, da die Aufwandspauschale nicht den Vereinen zusteht, sondern den dort tätigen Personen, und
das 630-DM-Gesetz und § 3 Nr. 26 EStG unterschiedliche Personengruppen betreffen.
Nicht zu dem nach § 3 Nr. 26 EStG begünstigten
Personenkreis zählen Gerätewarte, Hausmeister,
Kassierer, Platzwarte, Reinigungskräfte, SchriftfühKlaus Riegert
rer, Vereinsvorsitzende. Die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse führt jedoch gerade bei diesen Personengruppen zu den
von den Vereinen beklagten Problemen. Damit
würde eine Aufstockung der Übungsleiterpauschale
insbesondere eine Privilegierung selbständiger
Übungsleiter im Nebenjob gegenüber z. B. Reinigungskräften bewirken, die wegen ihrer sozialen
Schieflage nicht hingenommen werden kann. Eine
Ausweitung des Anwendungsbereiches auf diese
Personen wäre verfassungsrechtlich zumindest bedenklich.
So weit das Zitat aus dem Papier der AG Finanzen der
SPD-Fraktion.
({11})
Zutreffender, lieber Herr Kollege Hermann, kann man
den Unfug, den Sie angerichtet haben, gar nicht beschreiben.
({12})
Ihre Finanzkollegen bescheinigen Ihnen, daß die
Neuregelung der 630-DM-Jobs und der Scheinselbständigkeit zu enormen Belastungen der Vereine geführt hat.
Deshalb fordere ich: Ziehen Sie die Neuregelung der
630-DM-Jobs und der Scheinselbständigkeit zurück!
Lassen Sie die Flickschusterei mit der Erhöhung der
Übungsleiterpauschale!
({13})
Wir trennen sauber Einnahmen und Aufwand. Wenn
Sie die Neuregelung der 630-DM-Jobs zurückziehen,
dann können wir über die Übungsleiterpauschale reden.
Da Sie sich verständlicherweise noch zieren, müssen wir
handeln, um den Vereinen wieder eine verläßliche
Grundlage zu geben. Wir halten es für richtig, die von
der CDU/CSU eingeführte Vereinsförderung fortzuschreiben und sie den geänderten Bedingungen anzupassen. Sie hat sich bewährt. Es ist konsequent, dem gestiegenen Aufwand ehrenamtlich Tätiger Rechnung zu tragen und die Übungsleiterpauschale anzuheben. Dies ist
der richtige Weg. Diesem Anliegen dient der vorliegende Gesetzentwurf.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hermann?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
Ich habe zwei ganz einfache Fragen. Kollege Riegert,
warum haben Sie nicht in der Vergangenheit irgendeine
Vorlage eingebracht, um die Vereine zu fördern? Warum haben Sie die Übungsleiterpauschale nicht von 2 400
DM auf 4 800 DM erhöht?
Herr Kollege Hermann,
selbstverständlich werde ich Ihnen die Fragen ganz genau beantworten. Wie Sie sich erinnern, haben wir über
ein Gesamtsteuerkonzept - Stichwort „Petersberger
Beschlüsse“ - beraten.
({0})
Wenn ich auf der einen Seite die direkten Steuern absenken will und auf der anderen Seite die direkten Steuern erhöhen will und gleichzeitig Sondertatbestände verändere, dann ist es politisch unklug, über Erhöhungen
von entsprechenden Tatbeständen zu diskutieren. Deshalb haben wir die Petersberger Beschlüsse abgewartet.
Es gab Überlegungen von verschiedenen Seiten, zum
Beispiel von Professor Bareis, die Übungsleiterpauschale völlig zu streichen. Es gibt auf dem Gebiet des
Steuerrechts Sachverständige, die die Übungsleiterpauschale den Streichungen völlig anheimstellen möchten.
Wir sind dagegen.
Wir haben die Besteuerungs- und Zweckbetriebsgrenzen bei 60 000 DM und den steuerfreien Übungsleiterpauschbetrag bei 2 400 DM belassen. In unserer
Regierungsverantwortung hätten wir einen entsprechenden Gesetzentwurf logischerweise vorgelegt.
({1})
Wir sind uns einig, daß die Erhöhung der Übungsleiterpauschale von 200 DM auf 400 DM als Ersatz für
Aufwand der richtige Weg ist. Auch hierfür glaubten wir
Zustimmung zu finden. Ihr Fraktionsvorsitzender Peter
Struck, seine Vertreterin Ulla Schmidt und der sich
gleich hier rechtfertigende Wilhelm Schmidt
({2})
haben im Mai in der Öffentlichkeit vollmundig verkündet, die Übungsleiterpauschale werde auf 400 DM verdoppelt. Im gleichen Atemzug haben sie versprochen,
diese Übungsleiterpauschale auf alle ehrenamtlichen
Tätigkeiten auszuweiten.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluß.
Wir hätten diese Ausweitung sofort mitgemacht.
Doch wie es bei Ihnen so ist: Kaum versprochen, schon
gebrochen. Das ist das einzige, worauf man sich in Ihrer
Partei und in Ihrer Fraktion verlassen kann.
({0})
Ich erteile nun dem
Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße zu dieser Stunde, in der wir über einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion sprechen, ganze fünf
Kolleginnen und Kollegen aus dieser Fraktion, der es
angeblich so wichtig ist, über dieses Thema zu sprechen.
({0})
Herzlich willkommen!
Ich werde im übrigen auf das, was Herr Riegert gesagt hat, nur insofern eingehen, als ich Sie von diesem
Pult aus frage, warum Sie die vergangenen Jahre seit Inkrafttreten des Vereinsförderungsgesetzes 1989 - nicht
nur Sie allein, sondern wir gemeinsam haben es auf den
Weg gebracht - nicht genutzt haben, um das, was Sie
nun für verbesserungsbedürftig halten, im Deutschen
Bundestag als Gesetz zu verabschieden. Diese Frage
steht im Raum, und Sie haben sie nicht beantwortet.
({1})
Herr Kollege Riegert, von daher will ich gar keine Zwischenfragen zulassen.
({2})
Herr Kollege
Schmidt, ich hätte Sie gern danach gefragt, ob Sie eine
Zwischenfrage zulassen. Aber nun haben wir die Antwort schon bekommen.
Lassen Sie uns
doch einmal versuchen, die Angelegenheit etwas strukturiert zu diskutieren. Wie kommt bei Ihnen die Erkenntnis zustande, daß die nun wirklich sehr moderate
Ökosteuer für die Vereine und für die anderen Organisationen eine Zumutung ist, während Sie ihnen über die
vergangenen Jahre hinweg das Fünf-, Sechs- oder Siebenfache der Benzinpreiserhöhungen ohne ähnliche Reaktion ihrerseits zugemutet haben?
({0})
Zu dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf kann
ich nur sagen: Das Ganze ist so etwas von heuchlerisch
und gegenüber dem Publikum so etwas von irreführend,
daß Ihre Seriosität offensichtlich alle Maße verlassen hat.
({1})
- Und dieVereine haben das erkannt.
({2})
Um in meinem Redebeitrag wenigstens ansatzweise
auf Ihren Gesetzentwurf einzugehen - Herr Eich wird
diese Ausführungen in seinem Beitrag komplettieren -,
möchte ich folgendes sagen: Sie schreiben im Gesetzentwurf unter Punkt:
B. Lösung
- Schaffung einer zusätzlichen Rücklagemöglichkeit …
- Erhöhung der Besteuerungs- und Zweckbetriebsgrenzen von 60 000 DM auf 120 000 DM.
- Erhöhung des steuerfreien Übungsleiterpauschbetrags von 2 400 DM auf 4 800 DM.
- Erhöhung der Grenze für die Pauschalierung der
Vorsteuer von bisher 60 000 DM auf 120 000 DM.
Das sind grandiose Versprechungen.
Dann schreiben Sie unter Punkt
D. Kosten der öffentlichen Haushalte
Gering
({3})
Wer kann das eigentlich noch glauben. Ich will hier
zwar keine Rechnung aufmachen - vielleicht macht es
mein Kollege Eich noch -, aber muß doch sagen, daß
das mehr als unseriös ist. Von daher lassen wir das auch
nicht durchgehen.
Umgekehrt wird daraus ein Schuh. Sie fügen genau
an dieser Stelle den Vereinen, Verbänden und Organisationen in Deutschland, die nicht unwesentlich mit ehrenamtlicher Arbeit zum Gemeinnutzen beitragen und unglaublich viel Gutes in diesem Lande tun, Schaden zu.
Mit diesem Gesetzesantrag helfen Sie diesen Organisationen überhaupt nicht, sondern Sie schaden ihnen dadurch, daß Sie so etwas in die Welt setzen. Sie hätten in
den vergangenen Jahren nicht im entferntesten daran gedacht, so etwas auf den Tisch zu bringen. Bei näherer
Betrachtung kann es auch nicht ernsthaft als seriös bezeichnet werden, so etwas auf den Tisch gebracht zu haben.
({4})
Sie haben außerdem noch den verzweifelten Versuch
unternommen, den Rahmen des Gesetzentwurfes ein
klein wenig zu sprengen, indem Sie in der Art einer
Sonntagsrede beleuchteten, wie wertvoll ehrenamtliche
und gemeinnützige Arbeit für dieses Land ist. In Ihrem
Gesetzentwurf beziehen Sie sich dabei aber eigentlich
nur auf den Sport. Da ich Bezirkssportbundvorsitzender
bin, kann mir das eigentlich nur recht sein. Aber das ist
ein bißchen zu kurz gegriffen.
({5})
Der Hintergrund dafür scheint zu sein, daß Sie sich zuwenig Gedanken über diese Frage gemacht haben. Sie
legen nämlich einen schlampigen und irreführenden Gesetzentwurf vor, der dazu noch nicht einmal alle Perso5256
nengruppen und Organisationen erfaßt, die in diesem
Sektor zu berücksichtigen sind, wenn man wirklich
ernsthaft an die Sache herangehen will.
Ich möchte jetzt einmal deutlich machen, in welchem
Umfang ehrenamtliche und gemeinnützige Tätigkeit in
diesem Lande geleistet wird. Natürlich macht der Sport
dabei den überwiegenden Teil aus, die gleiche Arbeitsmoral und das gleiche Engagement findet man aber auch
im kirchlichen Bereich, in den Schulen, in den Kindergärten, bei den Jugendvereinen, im Kulturbereich, bei
der Kunst, auch in der Politik - denken wir einmal an
unsere Kolleginnen und Kollegen in der Kommunalpolitik -, bei den Sozialeinrichtungen, den Feuerwehren,
den Rettungsdiensten, dem Katastrophenschutz und bei
anderen öffentlichen Ehrenämtern im Tierschutz, im
Umweltbereich, bei der gesundheitlichen Selbsthilfe, bei
Dritte-Welt-Projekten sowie bei vielen anderen. Das sage ich deswegen mit so großem Nachdruck, weil damit
die Dimension klar wird, um die es uns bei diesem Versuch eigentlich gemeinsam gehen müßte. Das populistische Ziel, das Sie mit Ihrem Schnellschuß hier zu erreichen versuchen, läßt Sie hier jedoch völlig ins Leere laufen.
({6})
Meine Damen und Herren, genau das ist der Grund dafür, daß wir nicht allein den Sport betrachten dürfen.
Wir müssen ihn natürlich als Motor der ganzen Bewegung durchaus berücksichtigen und einbeziehen, aber
alle anderen verdienen es auch.
So komme ich nun auf unseren Versuch - Sie hatten
das ja schon angesprochen -, diesem ganzen Bereich seriöser zu begegnen: Wir gehen nicht gleich ins Steuerrecht hinein und tun dann so, als wenn alles gelöst sei.
Wir müssen die Rahmenbedingungen in der Gesellschaft
für diese Arbeit insgesamt verbessern. Es kann doch
nicht angehen, daß draußen in einer veränderten Arbeitswelt die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer
von Vereinen und Organisationen jede Woche Nachteile
im beruflichen Leben erleiden müssen, weil ihnen ihre
Arbeitgeber diesen ehrenamtlichen Einsatz nicht nachsehen. Genau auf diesem Felde wollen wir durch die
Debatten, die in den nächsten Wochen und Monaten zu
diesem Thema folgen werden, Veränderungen erreichen.
An dieser Stelle bitten wir die Wirtschaft und die Arbeitgeber in diesem Lande sehr nachdrücklich darum,
sich dieser Bewegung anzunehmen und sie zu unterstützen. Sie loben sie ja oftmals selber, benachteiligen sie
aber leider dann, wenn es konkret wird. Das gilt genauso
für die Feuerwehrleute wie für die Vertreter von Sportvereinen. Das gilt für diejenigen in den sozialen Diensten genauso wie für diejenigen, die bei uns Jugendarbeit im ehrenamtlichen Bereich leisten. Jeder, der dieses
nebenbei oder zusätzlich macht, muß es natürlich in erster Linie mit sich und seiner Freizeitgestaltung abmachen, aber ab und zu wirkt das natürlich auch in seine
Arbeitswelt hinein.
Entscheidend ist, daß wir an dieser Stelle nicht nur
um die Veränderung und Verbesserung gesetzlicher
Rahmenbedingungen ringen, sondern Einfluß auf die gesellschaftlichen Prozesse nehmen. Diesen Ansatz verfolgen wir von der SPD-Fraktion dadurch, daß wir uns
mit den Verbänden und Organisationen treffen, sie in
unsere Arbeit einbeziehen und mit ihnen gewissermaßen
laufend in engstem Kontakt stehen, da wir nicht erst
jetzt, sondern auch schon in den vergangenen Jahren mit
ihnen zusammengearbeitet haben.
Dabei ist uns - um das deutlich zu machen - die Erkenntnis gekommen, daß all diese Verbände und Organisationen sehr gerne bereit sind zusammenzuarbeiten.
Es gab von Ihrer Seite diese unsäglich Stiftung „Bürger
für Bürger“. Ich will sie hier ansprechen, damit klar
wird, welche Dimensionen das Ganze hat: Sie war das
parteipolitische, das regierungsamtliche und das wahlkampftaktische Mittel von Frau Nolte - sie ist nun Gott
sei Dank nicht mehr Ministerin -, um angeblich etwas
für das Ehrenamt zu tun. Nichts ist daraus geworden. Es
gab ein paar Veranstaltungen, auf denen Frau Nolte
durch die Presse gezerrt worden ist. Sonst ist nicht viel
dabei herausgekommen.
Das Entscheidende ist, daß wir ein breit angelegtes
Bündnis für das Ehrenamt, für die gemeinnützige Gesellschaft brauchen. Das muß mehr sein als das, was Sie
hier vorlegen.
({7})
Wenn sich an Stelle dieser Stiftung, die sich - ich sage
hier von dieser Stelle: Gott sei Dank - in Auflösung befindet, ein breites Bündnis der gesellschaftlichen Gruppen und Verbände verwirklichen ließe, dann würden wir
das sehr begrüßen. Die Initiative, die wir stark unterstützt haben, hat schon erste Früchte getragen: Der
Deutsche Sportbund und der Deutsche Kulturrat, die
auch in unserer Arbeitsgruppe sitzen, haben sich, wie
vor kurzem zu lesen war, zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Dazu herzlichen Glückwunsch!
({8})
Ich kann alle anderen Verbände und Organisationen nur
auffordern und dringendst bitten, sich diesem Bündnis
für das Ehrenamt anzuschließen.
({9})
Ich möchte folgendes sagen, damit die Dimension
klar wird: Es ist wesentlich mehr - darum müssen wir
schon jetzt überlegen, was wir in den nächsten Monaten
und Jahren machen werden - als das, was durch einen
solchen steuerpolitischen Ansatz von Ihnen erreicht
würde. Wir wollen uns zum Beispiel rechtzeitig auf das
Internationale Jahr des Ehrenamtes im Jahr 2001
vorbereiten. Auch das bedarf einer sehr intensiven Auseinandersetzung in der Sache. Denn wir müssen uns
klarwerden: Wo sind die Defizite in dieser modernen
Leistungsgesellschaft? Wo sind die Defizite in dieser arbeitsweltorientierten Gesellschaft? Wo sind die Defizite
in der medienorientierten Gesellschaft? In welchem Bereich kommen die Ehrenamtlichen überhaupt noch in
angemessener Zahl vor? Woher kommt die Unterstützung, um sie in ihren Vereinen, Verbänden und Organisationen entsprechend zu fördern? - Darum ist es an dieWilhelm Schmidt ({10})
ser Stelle noch einmal hervorzuheben: Es muß wesentlich mehr sein.
Ich möchte auf ihren Hinweis eingehen und etwas
zum steuerpolitischen Gesamtzusammenhang sagen;
Einzelheiten kann Herr Eich hinzufügen. Das Entscheidende ist, daß wir der Auffassung sind, daß wir einen
finanzierbaren, seriösen Vorschlag auf den Tisch bringen müssen. Das werden wir in den nächsten Wochen
auch tun, und zwar im Zusammenhang mit dem Steuerbereinigungsgesetz, in das wir entsprechend eine solche
Änderung einpflanzen. Das macht die Sache so interessant, weil wir damit schnell eine Umsetzung zustande
bringen. Ihre Anträge dagegen sind, wenn man sie aus
diesem Blickwinkel betrachtet, ein Verschiebebahnhof
und helfen uns in der Sache nicht so sehr viel.
Ich kann Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur auffordern: Nehmen wir alle
gemeinsam Rücksicht auf diese veränderten Entwicklungen in der Gesellschaft. Bemühen wir uns an dieser
Stelle gemeinsam - ich rufe ausdrücklich dazu auf - um
mehr als nur darum, vordergründige, kurzfristige Anträge auf den Weg zu bringen, die Sie, wenn Sie noch in
der Regierungsverantwortung wären, niemals auf den
Weg gebracht hätten.
Wir danken ausdrücklich den vielen Millionen ehrenamtlich Tätigen in diesem Lande dafür, daß sie tagtäglich ihren Einsatz unter Beweis stellen und damit vielen
Millionen Menschen aller Generationen, aller sozialen
Schichten immer wieder so hervorragend helfen. Recht
herzlichen Dank dafür!
({11})
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, was noch eine Rolle spielen muß. Wir haben in unserer Arbeitsgruppe „Förderung des Ehrenamts“ Entsprechendes vorbereitet, so daß wir mit weiteren Anträgen kommen. Sie können das also berücksichtigen. Wir
werden auch im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes Veränderungen herbeiführen, um die Verfügbarkeitsregeln zu entschärfen, die nach unserer Einschätzung immer noch nicht in dem Maße hingenommen
werden kann, wie das im Moment der Fall ist.
Wir werden im übrigen auch auf Bundesebene darüber zu sprechen haben, wie wir denn versuchen können, zum Beispiel jungen Menschen, die sich als Schülerinnen und Schüler oder als Studentinnen und Studenten
für ihre Gemeinschaft einsetzen, besser in das Berufsleben zu verhelfen, als das bis jetzt der Fall ist. Dies
könnte durch eine Anerkennung über Zeugnisse, vielleicht sogar - ich will diesen Punkt hier ansprechen,
auch wenn er utopisch erscheint - über Bonussysteme
im Bereich des Numerus clausus geschehen. Darüber
muß man ernsthaft reden. Dieses Thema wird weit über
den Tag hinaus Bedeutung haben. Wir werden uns deshalb an dieser Stelle weiter darüber unterhalten müssen.
Die Botschaft, die wir als Reaktion auf Ihren Antrag
an Sie richten, lautet: Das Thema hat weit über den Tag
und vor allen Dingen weit über den kurzfristig orientierten Antrag der CDU/CSU Bedeutung. Hinzu kommt,
daß die Unseriosität Ihres Vorgehens gen Himmel
schreit und daß Sie dadurch entlarvt werden. Sie werden
von den Verbänden und Organisationen schon die Quittung dafür bekommen.
({12})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Riegert das Wort. Bitte
sehr.
Lieber Kollege
Schmidt, Ihre Rede war entlarvend: nicht zuhören, Fragen stellen, aber Gegenfragen nicht zulassen; zum
Bündnis aufrufen, aber spaltend reden. Ich will drei
konkrete Punkte ansprechen:
Erstens. Es gab im Januar dieses Jahres eine Bundesratsinitiative des heutigen Bundesfinanzministers Eichel,
eine Erhöhung der Freigrenze im Vereinsförderrecht zu
erreichen.
Zweitens. Am 5. Dezember 1997 hatten wir am Tag
des Ehrenamts eine große Debatte. Wir hatten damals
noch als Regierungsfraktion einen Entschließungsantrag
eingebracht und hatten damit genau die Adressaten, die
auch Sie in Ihrer Sonntagsrede erwähnt haben, nämlich
Arbeitswelt, Medien, Organisationen im Bereich Erziehung und Bildung, Vereine und Organisationen angesprochen. Diesen Entschließungsantrag haben Sie aber
abgelehnt.
Drittens. Sie rufen zu einem breiten Bündnis für das
Ehrenamt auf, bringen aber einen parteipolitischen
Touch in die Diskussion, der auch entlarvend ist. Dies
wird am Beispiel der Stiftung „Bürger für Bürger“ deutlich. Es ist richtig: Ich war Stifter und habe eigenes Geld
in die Stiftung eingebracht. Der Vorstandsvorsitzende
der Stiftung, Herr Corsa, ist aber SPD-Mitglied. Dem
Vorstand der Stiftung gehörte ebenfalls die heutige Gesundheitsministerin Fischer an. Weil Sie diese Stiftung
sozusagen als Kind der Frau Nolte ansehen, rufen Sie
jetzt in entlarvender Weise zu einem breiten Bündnis
auf, um aber gleichzeitig zu spalten.
({0})
Herr Kollege
Schmidt, Sie dürfen erwidern.
In aller Kürze:
Zunächst einmal muß ich sagen, daß man mit Entschließungsanträgen die Sache überhaupt nicht voranbringt.
Sie hätten ja im vorigen Jahr nach 16jähriger Vorbereitung einen Gesetzentwurf vorlegen können. Warum haben Sie das nicht gemacht?
({0})
Zu den anderen Punkten kann ich Ihnen nur sagen,
daß es sich dabei um eine objektive Bewertung von TatWilhelm Schmidt ({1})
beständen handelt, die wir in den vergangenen Jahren
bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema Förderung der Ehrenämter immer wieder festgestellt haben.
Ich lasse Ihnen an dieser Stelle nicht durchgehen, daß
die Stiftungen, die Sie organisiert haben, im Zusammenhang mit der Bundespolitik eine solch deformierte Wirkung erzielt haben. Sie haben die entsprechenden Regelungen mit Ihrer Mehrheit in den Gremien durchgesetzt. Lassen Sie also die Kirche im Dorf! Der Sachverhalt liegt so, wie ich ihn beschrieben habe.
({2})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Schmidt, Sie kennen sicherlich den Spruch: Wenn ich
nicht mehr weiterweiß, dann gründe ich einen Arbeitskreis. So ähnlich kommt mir Ihr Handeln vor: Sie bilden
ein Bündnis und bereiten sich so auf das Internationale
Jahr des Ehrenamtes vor.
Ich kann natürlich in der Politik alles und jedes abwürgen, indem ich zu einem Antrag sage: Es gibt noch
hundert andere Dinge zu tun.
({0})
- Herr Kollege Schmidt, wenn wir dies zusätzlich tun,
dann kommen wir uns schon viel näher.
({1})
Wir müssen uns alle zusammensetzen und überlegen,
was wir für die Vereine tun können. Wir müssen auch in
der breiten Öffentlichkeit viel deutlicher machen, welch
wichtige Funktion die Vereine bei uns haben. Nach meiner Einschätzung wird dies zunehmend wichtig.
({2})
Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen, der meiner Ansicht nach viel zu kurz kommt. Für mich und
auch für die Demokratie haben die Vereine eine ganz
wichtige Funktion. Wo lernen eigentlich junge Leute
besser als im Verein, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten
optimal auszubilden,
({3})
Kompromisse zu schließen, sich selbst einzubringen und
gemeinsame Ziele zu verwirklichen? Auch das ist für
uns als Deutscher Bundestag ein Grund, uns dieses
Themas wieder viel mehr anzunehmen.
({4})
Nun war ich selbst überrascht, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, daß Sie in der Begründung
Ihres Entwurfs nur von Sportvereinen sprechen. Ich
selbst bin Vorsitzender eines großen Laienmusikverbandes. Ich nenne Ihnen bloß einmal einige Zahlen. Wir haben allein bei den instrumentellen Laienmusikverbänden
12 000 Vereine mit zirka 700 000 aktiven Mitgliedern.
Wir haben bei den Chören 50 000 Vereine mit 1,5 Millionen Sängerinnen und Sängern. Für viele Vereine in
diesem Bereich trifft das, was Sie zu Recht fordern, genauso zu wie für die Sportvereine. Deshalb müssen wir
das ein wenig ausweiten.
({5})
Wir brauchen das Ehrenamt. Daran hat niemand bei
uns Zweifel. Ich denke, wir stimmen auch überein, daß
wir es fördern wollen. Nur über die Wege sind wir im
Augenblick wohl unterschiedlicher Auffassung.
Herr Kollege Schmidt, da möchte ich gerne eine
grundsätzlichere Diskussion führen, und zwar darüber,
daß das, was wir jetzt in diesem und anderen Bereichen
vorlegen, einiges mit der Steuerpolitik allgemein zu tun
hat. Wenn die Steuerreform, die die alte Koalition in
diesem Hause beschlossen hat und die Sie aus Gründen,
die wir alle kennen, blockiert haben, durchgekommen
wäre, dann müßten wir heute vielleicht nur über andere,
kleinere Dinge sprechen.
({6})
- Nein!
({7})
- Entschuldigung, wenn Sie das begreifen würden: Wir
als F.D.P. wollten eine drastische Steuerreform, mehr
noch, als es später in den Petersberger Beschlüssen festgelegt wurde. Selbstverständlich hätten damit andere
Maßnahmen einhergehen müssen; das ist völlig klar.
Nachdem Sie das abgelehnt haben, besteht jetzt Korrekturbedarf.
Herr Kollege Schmidt, wenn Sie selbst sagen, Sie seien im Verein aktiv, dann verstehe ich nicht, mit wem Sie
reden. Wir kennen doch alle die Probleme, die die Neuregelung der Scheinselbständigkeit und des 630-DMGesetzes im Sportverein oder im Musikverein verursacht.
({8})
Ich kann Ihnen die Vereinsvorsitzenden zeigen, die sich
verzweifelt bemühen, alle rechtlichen Voraussetzungen
zu prüfen.
({9})
Sie sind damit völlig überfordert. Das müssen Sie sehen.
({10})
Wilhelm Schmidt ({11})
Das Problem, daß wir keine Ehrenamtlichen bekommen,
hängt doch auch damit zusammen, daß sich die Leute
das nicht mehr trauen. Fragen Sie doch einmal nach, was
Ihre Gesetze zur Scheinselbständigkeit und zur 630DM-Regelung bewirken!
Und wenn Sie über das Thema Ökosteuer so leicht
hinweggehen,
({12})
muß ich Ihnen sagen: Die Ökosteuer ist für manche Vereine eine ganz schön große Belastung.
({13})
Wir haben Reparaturbedarf. Ich sage für die F.D.P.:
Der CDU/CSU-Entwurf geht sicher in vielen Teilen in
die richtige Richtung. Wir werden ihn auch in Teilen
mittragen, aber nicht in allen.
Ich möchte hier noch einen Punkt ansprechen, der
bisher nicht angesprochen wurde. Steuerliche Ausnahmetatbestände sind für uns als F.D.P. von vornherein
bedenklich. Steuerliche Ausnahmetatbestände werden
um so bedenklicher, wenn sie Benachteiligungen für andere im Wettbewerb bedeuten. Das ist hier natürlich der
Fall. Wir können nicht so tun, als sei das nicht so. Wir
alle und auch diejenigen, die in diesem Geschäft tätig
sind, wissen, daß die Vereinsgastronomie zum Teil in
erheblichen Wettbewerb zur herkömmlichen Gastronomie tritt. Das ist ein Problem, an dem wir - ich denke,
alle miteinander - arbeiten. Dieses Problem entsteht übrigens nicht nur durch die Vereinsgaststätten, sondern
noch viel mehr durch die Straßenfeste, die für viele
Wirte eine sehr große Belastung darstellen. Deshalb
werden wir der Verdoppelung der Besteuerungsfreigrenze so nicht zustimmen. Ich bitte Sie, daß wir das einmal
etwas unvoreingenommener diskutieren.
Ich schlage Ihnen vor, den Antrag der badenwürttembergischen Landesregierung im Bundesrat zur
Hand zu nehmen. Dort wird ein anderes Modell vorgeschlagen, nämlich, das Ganze stärker an die Jugendkomponente zu binden. Jugendarbeit muß für uns vorrangig
sein. Es wird vorgeschlagen, die Grenze für jedes jugendliche Mitglied um 500 DM bis zu einem Höchstbetrag
von 90 000 DM zu erhöhen. Damit wären, denke ich, die
Interessen beider, der Vereine wie auch der Gastronomie,
durchaus unter einen Hut zu bringen. Wir werden auch
andere Punkte dieser Vorlage der baden-württembergischen Landesregierung in die Diskussion einbringen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie sehr herzlich
um eines: Ich glaube, wir müssen in diesem Feld, das für
uns alle eminent wichtig ist, unvoreingenommen und offen in die Beratung gehen. Wir müssen ein Ergebnis bekommen, das für beide tragbar ist und damit für die Gesellschaft insgesamt von Nutzen ist.
Ich sage zum Schluß nochmals: Es gäbe noch eine
einfachere Möglichkeit. Eine vernünftige Steuergesetzgebung mit einer starken Steuersenkung ist die beste
Hilfe.
({14})
Wenn Sie Ihre Gesetze zurücknehmen - das ist keine
Ökosteuer, sondern eine zusätzliche Steuererhöhung -,
die die Vereine vor unlösbare Verwaltungsschwierigkeiten stellen, dann ist dieser aufgeplusterte und sinnlose
Verwaltungsaufwand weg, und dann können die Ehrenamtlichen das tun, was sie am liebsten tun, nämlich ihr
Hobby ausüben und anderen helfen, dies auch zu tun.
({15})
Wir haben Gelegenheit dazu. Ich bitte alle, diese Gelegenheit zu nutzen.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen
und Herren! Man soll ja immer mit dem Positiven anfangen: Ich habe mich gefreut, daß die CDU/CSUFraktion einen Gesetzentwurf zur Förderung von Vereinen und Ehrenamtlichen vorgelegt hat. Es ist gut, daß
man das diskutiert. Meiner Ansicht nach ist das ein netter Beitrag.
Ich glaube, es ist ein guter Zeitpunkt - das haben bisher alle Fraktionsrednerinnen und -redner gesagt; ich bin
sicher, daß die nächsten das auch noch tun werden -, an
dieser Stelle ein kräftiges Dankeschön auszusprechen
und zu sagen: Das braucht die Gesellschaft. Das ist gut
für die Gesellschaft. Ohne das Engagement von Ehrenamtlichen, von Vereinen wäre diese Republik sicherlich
um einiges farbloser. Insofern besteht da sicherlich ein
Konsens im Hause, daß es ein bißchen den Schweiß der
Rednerinnen oder Redner wert ist.
Schade finde ich allerdings, daß weder in Ihrer Rede
noch in der Rede des Kollegen von der F.D.P. irgendein
ernsthafter Beitrag zur Debatte kam. Ich finde es extrem
schade, daß Sie einen Antrag vorgelegt haben, der mit
der Haushaltskasse, dem Sparpaket, über die wir diskutieren, und mit der Sanierung bzw. Konsolidierung des
Haushaltes, die wir zu bewältigen haben, überhaupt
nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, und Forderungen aufstellen, die nicht zu verwirklichen sind.
Sie haben vorgeschlagen, die Übungsleiterpauschale
zu verdoppeln. Den Wunsch kann ich nachvollziehen;
im Prinzip ist das sicherlich sehr wünschenswert. Ich
denke, gerade nach Verabschiedung des 630-MarkGesetzes ist das die richtige Richtung, das richtige
Signal für die Vereine in dieser Republik.
({0})
- Richtig; da kommt noch ein entsprechender Zwischenruf.
Nur, die ständige Polemik Richtung 630-Mark-Gesetz
kann ich seit heute morgen nicht mehr nachvollziehen.
Ich bin sicher, auch Sie haben zum Beispiel das „HanErnst Burgbacher
delsblatt“ gelesen, das über die Veröffentlichung der ersten Zwischenstudie des Kölner Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik zum Thema 630-MarkGesetz berichtet hat. Im Gegensatz zu Ihren Unkenrufen
sind die Auswirkungen wesentlich geringer ausgefallen.
({1})
Man kann da nachlesen, daß es sich vor allem um
einen Rückgang der Nebentätigkeiten gehandelt hat. Das
sind die Leute, die zwei oder mehr Stellen gehabt haben.
Man kann nachlesen, daß sich bei denen, die nur ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis gehabt haben, also
die vielleicht auf das Geld angewiesen sind, kaum etwas
geändert hat und - damit will ich es bei dem kleinen
Ausflug belassen - daß 13 Prozent der Minijobs in reguläre Voll- oder Teilzeitstellen umgewandelt worden
sind.
({2})
Das heißt, genau das, was wir gewollt haben, ist eingetreten.
({3})
Das, was Sie in „Schwarzreden“ an die Wand gemalt
haben, ist schlicht nicht eingetreten.
Auch SPD und Bündnisgrüne wollen die Menschen
unterstützen - - Ich warte mit dem Passus.
Sie hätten Ihren Satz
gern beenden können. - Herr Kollege, gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher?
Ja.
Bitte sehr, Herr
Kollege Burgbacher.
Herr Kollege, darf ich
Ihre Aussage, daß genau das eingetreten ist, was Sie
wollten, an die betroffenen Vereinsvorsitzenden und alle, die sonst im Verein betroffen sind, weitergeben?
Sehr geehrter Herr Kollege Burgbacher,
eine schlaue Frage.
({0})
Natürlich dürfen Sie dieses Zitat gern weitergeben.
Ich bin auch sicher, daß Sie dann an die Vereinsvorsitzenden genauso weitergeben, daß dieses Gesetz dazu
führt, daß wir die Lohnnebenkosten mit stabilisieren
({1})
- natürlich; auch Sie, Herr Seiffert, können die Statistiken lesen -, daß die Rentenkassen und die Krankenkassen dadurch zur Zeit mehr Einnahmen haben, sogar wesentlich mehr, als Herr Riester ursprünglich prognostiziert hat, daß es also insgesamt ein sinnvolles Gesetz
gewesen ist. Ich bin sicher, daß Sie das weitergeben
können.
({2})
Zu dem Satz zurück, den ich eben unterbrochen habe.
Kollege Schmidt hat schon darauf hingewiesen, daß natürlich auch wir, die rotgrüne Koalition, die Erhöhung
der Übungsleiterpauschale vornehmen werden. Im Gegensatz zu Ihnen konnten wir uns nicht zu einer Verdopplung durchringen, sondern wir werden noch einmal
die Hälfte der derzeitigen Pauschale aufstocken, so daß
wir in Zukunft eine Aufwandsentschädigung haben, die
nicht bei 2 400 DM, sondern bei 3 600 DM steuerfreier
Einnahmen im Jahr liegen wird.
Schon das kostet uns Überwindung - das will ich
ganz ehrlich sagen -, nicht inhaltlich, denn da könnte
man Ihrem Antrag zustimmen, sondern schlicht auf
Grund der Finanzierungsprobleme. Schon unser Antrag
wird wahrscheinlich Steuermindereinnahmen von ungefähr 270 Millionen DM bewirken. Das fällt uns im
Rahmen der Steuergesetzgebung, des Sparpaketes an
dieser Stelle nicht leicht, weil es ein Stück weit inkonsequent ist.
({3})
Allein Sie fordern in Ihrem Antrag das Doppelte an
diesem einen Punkt. Wenn man das hochrechnet, bedeutet das ungefähr eine halbe Milliarde DM an Steuerausfällen. Das mag Ihnen wie Peanuts erscheinen, aber
vor dem Hintergrund des Sparpakets, zu dem mit Ausnahme der Familien- und der Bildungspolitik alle rundherum beizutragen haben, ist das eine ganze Menge. Da
wirkt natürlich im Umkehrschluß unser Antrag für gemeinnützig Engagierte. Auch der Sport ist relativ gut bei
dem Sparpaket weggekommen, so daß wir insgesamt
hier einen guten und sinnvollen Akzent setzen.
({4})
Gleichzeitig werden wir eine qualitative Veränderung
dieser Aufwandspauschale vornehmen. Diese Pauschale
wird in eine steuerfreie Einnahme umgewandelt, um der
Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nachzukommen. Dieses hatte in einer Entscheidung bemängelt, daß
steuerfreie Zuzahlungen in Form von Aufwandsentschädigungen zu hoch bemessen wurden. Darüber hinaus
werden wir diese steuerfreien Einnahmen von bis zu
3 600 DM im Jahr nicht mehr nur auf nebenberufliche
Übungsleiter, Ausbilder, Erzieher, Künstler und Pfleger
beschränken, sondern - darauf ist auch schon hingewiesen worden - sie gleichzeitig auf nebenberufliche Betreuer ausweiten. Im Mittelpunkt der rotgrünen Politik
steht nämlich der gemeinnützige Dienst an der Gesellschaft. Das hat die alte Regierung leider nicht geschafft,
und das ist bedauerlich.
({5})
Klaus Wolfgang Müller ({6})
Ich will auch noch einmal nachbohren, weil wir darauf bisher keine Antwort erhalten haben - Sie haben ja
noch einen Redner, den Sie ins Rennen schicken -: Ich
möchte wissen, warum Sie diese Tätigkeit in Sportvereinen so in den Vordergrund stellen, warum Sie nicht an
all das andere Engagement - das ist lange aufgezählt
worden - denken.
Die Sportvereine sind zentral und wichtig und sind
auch quantitativ ein sehr, sehr großer Bereich. Das ist
unbestritten. Aber es gibt in der Umweltarbeit, in der
kirchlichen Bewegung, in vielen anderen Gruppen engagierte Leute, und es ist mir ein Rätsel, warum Sie das in
Ihren Antrag nicht hineinnehmen, warum Sie andere Bereiche dort aussparen. Das ist - so finde ich - leider
nicht nachvollziehbar.
({7})
Ich möchte an dieser Stelle unbedingt noch auf zwei
andere Perspektiven hinweisen. Zum ersten wird unser
Familienförderungsgesetz aus zwei Teilen bestehen. Im
zweiten Schritt, den wir im kommenden Jahr beraten
werden, haben uns die Verfassungsrichter und Verfassungsrichterinnen die Berücksichtigung des Erziehungsbedarfes aufgetragen. Darunter fallen auch die Mitgliedsbeiträge in Vereinen. Das ist ein wichtiges Zeichen und rückt die Bedeutung, die die Vereine auch in
der Erziehung von Kindern und Jugendlichen haben
- dazu hat Karlsruhe ein sehr progressives Verständnis
geäußert -, in das richtige Licht. Ich glaube, in diesem
Kontext werden wir sicherlich noch einmal über das
Reale, was man dort tun kann und tun sollte, reden.
Zum zweiten sind in weiten Teilen von Kunst und
Kultur, Wissenschaft und Forschung, Jugend- und Altenhilfe die Grenzen steuerfinanzierter Förderung erreicht. Staat und Gesellschaft sind darauf angewiesen,
mehr privates Vermögen gemeinnützigen Zwecken zur
Verfügung zu stellen. Deshalb fordern Bündnis 90/Die
Grünen schon lange eine Reform des Stiftungsrechts.
Wir haben dazu in der letzten Legislaturperiode einen
Gesetzentwurf vorgelegt, den wir in den kommenden
Wochen gemeinsam mit unserem Koalitionspartner
weiter anschieben wollen und demnächst dann auch beschließen werden.
Trotz unseres Wohlstandes gibt es in Deutschland
keine besondere Stiftungskultur. Gab es um die Jahrhundertwende noch ungefähr 100 000 Stiftungen in
Deutschland, sind es derzeit ganze 8 000. Dabei sind
verschiedene Rahmenbedingungen zu schaffen, woran
sich Rotgrün jetzt machen wird. Zum einen ist hier mehr
Transparenz nötig. Zum anderen würde eine höhere
Rechtssicherheit über die Gründungserfordernisse zu
mehr Gründungen führen. An Stelle von staatlichen Genehmigungsverfahren im obrigkeitsstaatlichen Stil könnte man ein Stiftungsregister einführen. Das Einhalten
formaler Kriterien würde ausreichen, um eine Stiftung
zu gründen. Auch das wäre eine Vereinfachung. Auch
über steuerliche Anreize beispielsweise im Spendenrecht
ist nachzudenken. Zielrichtung müßte dabei sein, den
dauerhaften Erhalt des Kapitalstocks gemeinnütziger
Stiftungen zu sichern. Wir befinden uns in der Vorbereitung dieses Vorhabens und sind auf einem guten
Weg.
Abschließend ist festzustellen: In der Förderung gemeinnütziger Engagements von Bürgerinnen und Bürgern sehen wir, Rotgrün, eine wichtige Aufgabe. In der
spürbaren Erhöhung der Übungsleiterpauschale dokumentiert sich unser Wille, nicht nur Sonntagsreden zu
halten, nachdem man abgewählt worden ist, sondern in
der Zeit, in der wir in der Regierungsverantwortung sind
und die Mehrheit in diesem Hause stellen, hier etwas zu
tun. Das, was Sie fordern, fordern Sie mindestens ein
Jahr zu spät. Darum wirkt es leider unglaubwürdig, so
edel der Zweck an dieser Stelle ist. Das, was Sie fordern,
ist in dieser Form nicht finanzierbar. Insofern räume ich
Ihrem Gesetzentwurf keine große Chance ein.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Gustav-Adolf Schur, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Vormittagsdebatte zum Zehnten Kinder- und Jugendbericht beinhaltete zwar auch gesundheitliche Probleme unserer
Kinder und Jugendlichen, jedoch, wie ich empfunden
habe, unterbelichtet. Was auf dieser Welt nicht käuflich
ist, ist nun einmal die Gesundheit. Sie ist daher unser
kostbarstes Gut.
Es ist für mich ein Erfolgserlebnis, immer wieder
feststellen zu können, daß es im Sportausschuß des
Deutschen Bundestages zu diesem Fakt keine andere
Auffassung gibt. Erst gestern wurde ich darin anläßlich
der Diskussionen über die Bedeutung von Schul-, Vereins- und Leistungssport im neuen Jahrtausend bestätigt.
Auch im vorliegenden Gesetzentwurf zur Verbesserung
des Vereinsförderungsgesetzes findet das verbal in den
allgemeinen Begründungen seinen Niederschlag, bleibt
aber unvollständig.
Deshalb sind einige Erweiterungen notwendig. Denn
es geht mir nicht vornehmlich um sportliche Höchstleistungen, sondern um gesunde Kinder und Jugendliche,
um unser aller Anliegen, nämlich um die Gesundheit der
Bevölkerung. Jüngste Studien belegen, daß in Deutschland etwa 1 Million psychisch kranke und verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche leben. Die Tendenz ist
steigend. Fast 50 Prozent aller Schüler leiden an Haltungsschäden. Sechs von zehn können nicht normal
rückwärts laufen. Gegenüber 1975 wiegen heute Vierbis Fünfjährige im Schnitt 2 Kilogramm mehr. Bewegungsmangel führt zu Skeletterkrankungen und erhöht
das Risiko für spätere Herz- und Kreislaufkrankheiten.
Die körperliche Leistungsfähigkeit ist von 1986 bis 1995
dramatisch gesunken. Schuldirektoren verstecken die
Ehrentafeln ihrer Schulrekorde im Keller, weil die
sportlichen Bestleistungen aus den 60er bis 80er Jahren
für unsere derzeitige Schuljugend demotivierend wirken.
Klaus Wolfgang Müller ({0})
Die Sportorganisationen bzw. der DSB mit seinen über
80 000 Vereinen dürfen im neuen Jahrtausend nicht zur
Reparaturwerkstatt für gesellschaftliche Fehlentwicklungen werden.
({1})
Eine Verbesserung des Vereinsförderungsgesetzes
von 1989 war und ist seit langem überfällig. Dieser Problematik hat sich der Sportausschuß seit Jahren gestellt.
Darüber wurde interfraktionell mit Vehemenz und großer Sachkompetenz diskutiert.
Werter Kollege Riegert, Ihrem Dankeschön an unsere
Ehrenamtlichen schließe ich mich selbstverständlich
an. Ich bin Mitglied des Ausschusses für Ehrungen und
Auszeichnungen des Landes Sachsen-Anhalt, und ich
kann Ihnen versichern: Wir machen uns seit Jahren Gedanken, wie wir das Engagement unserer Ehrenamtlichen auf moralische Art und Weise ehren können. Da
Sie für Ihre Fraktion den vorliegenden Gesetzesantrag
federführend zeichnen, muß ich Ihnen heute in diesem
Plenum mitteilen, was Kollegen schon vor mir angesprochen haben: Wenn Sie diesen Antrag zur Verbesserung des Ehrenamtes und der Vereinsförderung vor zwei
Jahren eingebracht hätten, dann wären Sie für den deutschen Sport in die Unsterblichkeit eingegangen.
({2})
Darüber hinaus hätten alle Festredner zum 50. Bundestagsjubiläum ein Vorzeigebeispiel dafür gehabt, daß
man nicht erst Bundespräsident sein muß, um mit politischer Streitkultur und Sachkompetenz über verkrustete
Parteizwänge hinaus seinem Wählerauftrag gerecht werden zu können.
({3})
Ich würde die Richtung als verfehlt betrachten, aber
die Zielstellung des Antrages ist auch heute noch gut.
Zwar fehlt mir darin einiges, beispielsweise eine deutliche Absenkung des enormen Verwaltungsaufwandes im
bürokratischen Gestrüpp von Formularen und Fragebögen für ehrenamtlich Tätige. Aber ich könnte Ihnen
meine Zustimmung im Sinne eines bezahlbaren Sportes
für jedermann, der Gesundheit der Bevölkerung und einer den gesellschaftlichen Verhältnissen und Belastungen entsprechend notwendigen körperlichen Leistungsfähigkeit geben.
Abschließend ein Tip an die Regierungskoalition:
Gesundheit ist, wie ich schon sagte und wie wir alle wissen, nicht käuflich. Aber bestimmte Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, um gesünder leben zu können. Das muß bezahlt werden. Darüber sollten wir im
Ausschuß weiter streiten.
Ich bedanke mich.
({4})
Nun erteile ich dem
Kollegen Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Wer an
den Dingen seines Staates keinen Anteil nimmt, ist kein
stiller Bürger, sondern ein schlechter Bürger.“ So sagte
nicht Günter Grass, der heute den Literaturnobelpreis
erhalten hat, sondern Perikles vor genau 2 500 Jahren.
Wir debattieren heute über den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Vereinsförderung und zur
Vereinfachung der Besteuerung der ehrenamtlich Tätigen. Die Ziele, die sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion von diesem Gesetz verspricht, sind klar: Die Vereine in Deutschland und die in ihnen ehrenamtlich Tätigen
- das sind im Sinne von Perikles gute Bürger - sollen
gestärkt werden.
({0})
Welche Aufgaben das sind, hat uns der Kollege Klaus
Riegert in klaren und deutlichen Worten bereits geschildert. Ich will das nicht alles wiederholen. Ich denke ohnehin, daß wir uns mit Blick auf das Ziel einig sind.
Aber, Herr Müller, eines muß ich Ihnen schon sagen:
Lesen Sie doch den Gesetzentwurf, den Text genau bis
zu der Stelle durch, bei der auch meine Unterschrift
steht. Dann werden Sie feststellen, daß dort von einer
Beschränkung auf Sportvereine nichts zu finden ist. Im
Gegenteil: Dort ist von künstlerischen, pflegerischen,
mildtätigen, kirchlichen und ähnlichen Zwecken die Rede. Lediglich in der Begründung werden die Sportvereine hervorgehoben.
({1})
- Das ist der eigentliche Gesetzestext im Entwurf. Lesen
Sie es auf Seite 2 nach.
Zur Verdeutlichung: Das Statistische Bundesamt hat
1991 festgestellt, daß in Deutschland 48 Milliarden Erwerbsarbeitsstunden und - man höre - 76 Milliarden
Ehrenamtsstunden geleistet werden. Konkreter: In unseren rund 11 000 Turn- und Sportvereinen beträgt der
durchschnittliche Jahresbeitrag 120 DM. Müßte die ehrenamtlich geleistete Arbeit bezahlt werden, stiege der
durchschnittliche Jahresbeitrag auf 1 400 DM an. Diese
Zahl macht den Wert ehrenamtlicher Arbeit deutlich.
Im Ziel, denke ich, sind wir uns einig, aber die Wege
sind sehr verschieden. Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat mit dem Vereinsförderungsgesetz vom
18. Dezember 1989 die steuerlichen Rahmenbedingungen für Vereine wesentlich vereinfacht und auch verbessert. Ich nenne nur noch einmal die Steuerfreiheit bei der
Körperschaft- und Gewerbesteuer, die Besteuerung der
Umsätze mit dem ermäßigten Steuersatz von 7,5 Prozent, die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden, die Befreiung von Grund- und Erbschaftsteuer sowie die steuerfreie Übungsleiterpauschale von jährlich 2 400 DM.
Damit sind 90 Prozent aller Vereine seitdem von der
Steuerpflicht befreit.
Doch seit 1989 hat sich die Welt selbstverständlich
auch für unsere Vereine verändert: auf der einen Seite
Kommerzialisierung und Sponsoring im Sport ebenso
wie in der Kultur, auf der anderen Seite knapper werGustav-Adolf Schur
dende Mittel der öffentlichen Hand, gestiegene Ansprüche der Mitglieder an ihre Vereine und auch die Konkurrenz vieler anderer Anbieter. Hier muß sich vor allem in
der mittelbaren Förderung der Vereine etwas tun, und
hier wollen wir etwas tun.
Unser Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, ist tatsächlich Hilfe
zur Selbsthilfe. Wenn man in die Steuergesetze und in
die geltende Rechtsprechung eingreift, sollte man das so
tun, daß auch von einer echten Hilfe gesprochen werden
kann. Was ihre Vorschläge anbelangt, bin ich mir nicht
ganz sicher. Ihre Überlegungen sind halbherzig und gehen zum Teil auch in die falsche Richtung; ich werde
das gleich noch erläutern.
Unser Gesetzentwurf ist wesentlich konsequenter.
Was wollen wir? Zunächst geht es um die Ergänzung
des § 58 Nr. 7 Buchstabe b der Abgabenordnung. Damit
wollen wir die Möglichkeit schaffen, daß die Vereine
steuerfreie Rücklagen bis höchstens 50 000 DM bilden
können, begrenzt auf höchstens 100 DM pro Jahr und
Mitglied.
Wir wollen zweitens durch Änderung des § 64 Abs. 3
der Abgabenordnung die Besteuerungsgrenze von
60 000 auf 120 000 DM erhöhen. Das erleichtert die
Steuerpraxis und reduziert Verwaltungsaufwand. Das
brauchen unsere Vereine; dies ist übrigens ein Projekt,
dem Sie sich in ihrer einjährigen Regierungszeit trotz
vollmundiger Wahlversprechen bislang bemerkenswert
erfolglos gewidmet haben. Zunehmend mehr Vereine,
auch kleine und mittelgroße, überschreiten diese Grenze
und werden dann mit der ganzen Unübersichtlichkeit
unseres Steuersystems konfrontiert.
Auch die großen Vereine, die oft nur auf Grund der
Anzahl ihrer Abteilungen groß sind, werden durch die
bisherige Grenze in ihrer Tätigkeit eingeschränkt. Nun
sehen auch wir kaum eine Möglichkeit, jeder einzelnen
Abteilung von Großvereinen, auch wenn diese teilweise
größer als Einzelvereine sind, einen eigenen Freibetrag
einzuräumen. Aber wenn man dann schon eine Besteuerungsgrenze zieht, dann muß sie so ausgerichtet sein,
daß sie der Größe, die unsere Vereine inzwischen erreicht haben, auch gerecht wird.
({2})
- Das ist kein Populismus, darauf komme ich noch zurück.
Wir wollen drittens die Zweckbetriebsgrenze des
§ 67a der Abgabenordnung entsprechend anpassen.
Auch hier ist eine Verdoppelung von 60 000 auf
120 000 DM sachgerecht und notwendig.
Als viertes nenne ich die Änderung in § 23a Abs. 2
des Umsatzsteuergesetzes. Die Erhöhung der Grenze für
die Pauschalierung der Vorsteuer von 60 000 auf
120 000 DM folgt der Logik der bisherigen Argumente.
Schließlich wollen wir fünftens - darum geht es uns
insbesondere - die steuerfreie Übungsleiterpauschale
in § 3 Nr. 26 des Einkommensteuergesetzes von bislang
2 400 DM auf 4 800 DM verdoppeln.
Nun wissen wir wohl, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß dies Steuerausfälle von einigen hundert Millionen DM zur Folge hätte, seien es 400 oder 500 Millionen DM. Wir sind aber dennoch der Auffassung, daß vor
dem Hintergrund der Tatsache, daß wir wieder mit steigenden Steuereinnahmen zu rechnen haben - ich bin auf
die Steuerschätzung im November gespannt; dann werden meine Worte bestätigt sein -, diese Weichenstellung
richtig und angemessen ist.
Herr Schmidt, wir haben diesen Gesetzentwurf in unserer Fraktion sehr seriös diskutiert. Das ist nicht Populismus. Vor dem seriösen Hintergrund, daß wir jederzeit
damit rechnen, auch wieder die Regierungsverantwortung zu übernehmen, haben wir diesen Entwurf vorgelegt.
({3})
Die begünstigten Personen üben ihr Ehrenamt in der
Regel neben einem Hauptberuf aus. Soweit es sich um
ein Entgelt handelt, sollen damit die zum Teil hohen
finanziellen Aufwendungen aufgefangen werden. Es
handelt sich also um echte Aufwandsentschädigungen,
die grundsätzlich zu versteuern sind. Der bisher geltende
Freibetrag in Höhe von 2 400 DM entbindet die
Übungsleiter von der sonst üblichen Pflicht zum Nachweis jeder einzelnen Aufwendung und ermöglicht, daß
diese Personen - das ist ganz wichtig - sozusagen nichts
mit dem Finanzamt zu tun haben.
Diese Aufgaben kann der Freibetrag aber nur dann erfüllen, wenn und solange er ausreicht, um die erfahrungsgemäß anfallenden Aufwendungen eines Übungsleiters unbürokratisch und ohne Einzelnachweis erstatten
zu können. Was von seiten der Regierungsfraktionen
bislang zu diesem Thema gekommen ist, wird diesem
Anspruch jedenfalls nicht gerecht und reiht sich in die
Chaoscombo der bisherigen Steuergesetze ein.
Nebenbei bemerkt, Herr Müller: Mit Ihrer sogenannten Ökosteuer belasten Sie - das sollten Sie endlich
einmal zur Kenntnis nehmen - viele, insbesondere größere, Sportvereine ganz erheblich. Ich kann Ihnen das
Beispiel eines großen deutschen Sportvereins nennen,
der allein durch die Ökosteuer Mehrkosten von 15 000
DM pro Jahr hat. Da müssen Sie mir sagen, wie dieser
Verein das auffangen soll.
({4})
Ihr aktueller Vorschlag - Erhöhung auf 3 600 DM
und sonst nichts - wird den veränderten Anforderungen,
die man mit denen 1989 nicht mehr vergleichen kann,
jedenfalls nicht gerecht. Meine Hauptkritik setzt aber an
zwei weiteren Punkten an, die keine Fortentwicklung
des Vereinsteuergesetzes mehr darstellen, sondern eine
grundlegende Veränderung - wenn Sie so wollen, eine
Verschlimmbesserung.
Zum ersten wollen Sie den Kreis der Empfänger der
Übungsleiterpauschale nach meinem jetzigen Kenntnisstand relativ unüberlegt ausweiten. Neben Übungsleitern, Ausbildern und Erziehern sollen fortan auch Betreuer und alle vergleichbar nebenberuflich Tätigen in
ihren Genuß kommen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob
Ihnen die Tragweite dieser Änderung überhaupt bewußt
ist. Denn schon jetzt sind - das weiß auch ich - zu viele
Personengruppen begünstigt
({5})
- das ist mir bewußt - und können diese Übungsleiterpauschale in Anspruch nehmen. Andererseits gibt es ehrenamtliche Funktionsträger, zum Beispiel bei den Feuerwehren, zum Beispiel in Ortschaftsräten, in den Gemeinderäten, die ehrenamtliches Engagement par excellence ausüben und die gleich behandelt werden sollten.
({6})
Daher mein Rat an Sie: Bevor Sie den Empfängerkreis
nahezu unkontrollierbar und womöglich ungerecht verändern, fördern Sie lieber die Richtigen, und zwar so,
daß sie etwas davon haben, also in dem notwendigen
Umfang! Lieber den Richtigen mehr als vielen wenig
geben!
Der zweite wichtige Punkt. An dem von Ihnen verwendeten Begriff „Einnahmen“ bin ich hängengeblieben. Einnahmen - klingt nach Einkommen, nach Lohn
für geleistete Dienste. Das sind die Leistungen, die mit
dem Übungsleiterfreibetrag freigestellt werden sollen,
eben nicht. Es sind Entschädigungen für Aufwendungen,
die im Rahmen eines ehrenamtlichen, also grundsätzlich
unentgeltlichen Engagements für die Gesellschaft erbracht werden. Die Aufwandsentschädigung für den typischen Ehrenamtler - denken Sie doch einmal an den
Übungsleiter im Sportverein - ist doch nicht mit den nebenberuflichen Einkünften einer Erwerbsperson gleichzusetzen.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit?
Ich denke daran.
({0})
Sie tun den Ehrenamtlichen keinen Gefallen, wenn
Sie deren Tätigkeit mit dem auf Einkommenserwerb
ausgerichteten Nebenjob eines Würstchenverkäufers
gleichsetzen. Ganz im Gegenteil!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wollen
von uns immer Alternativen, eigene Vorschläge hören.
Ihnen liegt ein Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vor. Das ist ein gutes Gesetz. Ich fordere
Sie auf: Erinnern Sie sich Ihrer eigenen Entwürfe, Ihrer
eigenen Versprechungen gegenüber den Vereinsvertretern! Machen Sie Schluß mit Ihrer Politik der gespaltenen Zunge und des gebrochenen Versprechens! Nehmen
Sie sich ein Herz und unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf!
Danke.
({1})
Nun hat der Kollege
Ludwig Eich, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Barthle, ich will
gerne mit dem Gemeinsamen beginnen. Im Ziel dieser
Initiative sind wir einer Meinung: Es ist in der Tat ausgesprochen wichtig, daß wir die Möglichkeiten, die Vereine unseren Kindern bieten, erhalten.
({0})
Für Kinder ist das Vereinswesen von großer Bedeutung.
Ebenso wichtig sind die Ziele der Vereine. Diese Strukturen sind die Klammer, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Schon deswegen haben sie eine enorme gesellschaftspolitische Bedeutung.
({1})
Allerdings bezweifle ich, daß Ihr Gesetzentwurf dieser Bedeutung gerecht wird. Ich muß mich schon wundern, Kollege Barthle, daß man ein so unseriöses
Machwerk seriös diskutieren soll.
({2})
Ich weiß nicht, wie das geht.
Ich möchte zunächst einmal darüber sprechen, was
die SPD will, was die Regierungskoalition vorhat. Zunächst einmal: Ab dem 1. Januar 2000 wollen wir das,
was früher die Übungsleiterpauschale war, um
1 200 DM erhöhen. Das ist immerhin eine Erhöhung
von 200 auf 300 DM im Monat. Selbstverständlich
wollen wir diese Einnahmen, die steuerfrei sind, auch
von Sozialabgaben freihalten.
({3})
Gleichzeitig erweitern wir, wie hier schon gesagt wurde,
den begünstigten Personenkreis um die Betreuer. Das
hätte schon längst geschehen müssen, ist also eine längst
überfällige Maßnahme.
({4})
Nicht zuletzt wollen wir durch die Überarbeitung des
Spendenrechts etwas wirklich Vereinfachendes - das
wurde von Ihnen hier gefordert - durchsetzen. Wir wollen
die Kompetenz, Spendenquittungen auszustellen, von
den Verwaltungen auf die Vereine übertragen. Wie ich
gehört habe, liegt diese Maßnahme schon einige Jahre
beim BMF auf Halde. Ich muß mich schon sehr wundern,
daß von Ihrer Seite ständig angemahnt wird, man müsse
gerade wegen der Vereine vereinfachen. Hatten Sie keine Courage, das durchzusetzen? Wir werden das tun.
({5})
Dies ist eine enorme Vereinfachung für die Vereine.
Diese Maßnahme dient nicht nur der Vereinfachung,
sondern ist auch eine Entlastung der öffentlichen Verwaltung. Wer aus der Praxis kommt, weiß doch, was den
Verwaltungen am Jahresende, kurz vor Toresschluß,
noch alles zugemutet wird, um an Spendenquittungen zu
kommen. Insofern ist diese Maßnahme, so denke ich,
wirklich sehr gut. Sie sollten das würdigen.
({6})
Die Entscheidung, quasi die Übungsleiterpauschale
zu erhöhen, ist natürlich nicht kostenlos zu haben. Das,
was wir wollen, kostet nicht wenig Geld. Unsere Maßnahmen bewirken, das derzeitige Steuerrecht zugrunde
gelegt, Steuermindereinnahmen von 540 Millionen
DM. Sehen Sie in der Ausschußdrucksache 14/146 nach;
dort ist das niedergelegt. Allein die Erhöhung der
Übungsleiterpauschale, die wir vorschlagen - Kollege
Müller hat das genannt -, bedeuten 270 Millionen DM
weniger Steuereinnahmen: für den Bund 115 Millionen
DM, für die Länder 115 Millionen DM und für die Gemeinden immerhin auch noch 40 Millionen DM.
Diese Steigerung um 50 Prozent ist keine Kleinigkeit.
Ich denke, das ist bemerkenswert und verdient, festgehalten zu werden. Wir können diese Kosten für die
Gemeinschaft der Steuerzahler aber in der Tat nur rechtfertigen, wenn wir das Ziel der Anerkennung für das Ehrenamt zugrunde legen, wenn wir im Blick haben, in
welch schwieriger Situation sich die Sportvereine befinden, nämlich in Konkurrenz - man muß doch einmal sehen, was sich geändert hat - zu den Fitneßcentern. Vor
diesem Hintergrund ist das gut angelegtes Geld und
dient dazu - wer will das bestreiten? -, Kriminalität und
Gewalt einzudämmen.
Unsere Maßnahmen darf man allerdings nicht isoliert
sehen. Der Kollege Schmidt hat erwähnt, daß wir noch
mehr tun wollen: Verbesserung der Gemeinnützigkeits-,
Sponsoring- und Stiftungsvorschriften. Was wir brauchen, ist ein neuer Rahmen, sind neue Bedingungen und
neue Impulse im gesamten Bereich.
Nun möchte ich doch gerne auf Ihren Gesetzentwurf
zu sprechen kommen, weil er in der Tat ein interessantes
Werk ist.
({7})
Erstens. Durch eine zusätzliche Rücklagemöglichkeit in der Begründung schreiben Sie: „freie Rücklage“ wollen Sie die Liquidität der Vereine erhöhen. Sie sagen
nicht, wieviel das kostet, in welcher Höhe damit Steuermindereinnahmen verbunden sind. Ich frage mich:
Gibt es hier keine Zweckbindung? Ist es egal, für was
diese Rücklagen verwendet werden? Dürfen Amateurvereine - Sie beziehen sich ja immer wieder auf den Bereich des Sports - dafür Spieler kaufen? Ist das gewollt,
ist das sinnvoll? Ich denke, daß vieles von dem unausgegoren ist. Mit Seriösität hat das wirklich nichts zu tun.
Zweitens: Verdoppelung der Besteuerungs- und
Zweckbetriebsgrenzen von 60 000 auf 120 000 DM.
Wahrscheinlich ist die Begeisterung der Vereine über
diesen Punkt schon sehr groß. Ich muß allerdings fragen:
Was geschieht hier? Wie wirkt diese zweite Maßnahme,
kumulierend mit der ersten, mit den Rücklagen? Können
Sie darauf eine Antwort geben? Ich denke, Ihr Gesetzentwurf wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt.
Interessant ist auch die Begründung, die Sie dafür geben. - Sie wollen den vielen Vereinen die Möglichkeit
nehmen, so wie bisher gestalterisch tätig sein zu können.
Ich kann noch nachvollziehen, wie man als Verein Steuern sparen kann, wenn man die Vereinsgaststätte verpachtet. Aber wie geht das bei der Aufteilung des
Hauptvereins in Abteilungen? Das müssen Sie mir einmal klarmachen. Ich muß ehrlich sagen, ich verstehe Ihre Begründung nicht.
({8})
Sie können nicht durch Aufteilung in Abteilungen Steuern sparen. Ich muß sagen: Seriös ist das nicht.
({9})
Die Frage nach den Steuermindereinnahmen und ihrer
kumulierenden Wirkung müssen Sie beantworten.
Sie verdoppeln die Grenze für die Pauschalierung der
Vorsteuer und die Übungsleiterpauschale. Im Grunde
genommen ist das ein Verdoppelungsgesetz. Das ist
doch klar. Ich weiß nur nicht, wohin das führen soll.
Die finanziellen Auswirkungen verdoppeln sich.
Betrachten wir einmal die Übungsleiterpauschale, wie
Sie sie jetzt wollen. 500 Millionen DM Mehrausgaben
oder umgekehrt Steuermindereinnahmen sind erheblich.
Wenn man sich jetzt überlegt, daß das bisher schon geltende Steuerrecht dazu führt, daß über eine halbe Milliarde DM Steuermindereinnahmen entstehen, dann ist,
ohne daß man weiß, wie das mit der steuerfreien Rücklage, mit der Verdoppelung der Besteuerungs- und
Zweckbetriebsgrenzen oder der Verdoppelung der Pauschalisierung zu Buche schlägt, einfach festzustellen,
daß Sie jetzt schon für diese Maßnahmen einen Betrag
von über 1 Milliarde DM ausgeben wollen.
Sie schreiben unter Buchstabe D - hier muß man sich
richtig aufregen -, die Kosten der öffentlichen Haushalte
seien gering. Ich muß ehrlich fragen: Wer hat Ihnen eigentlich ständig eingeredet, Sie könnten mit Geld umgehen? Ich kann das wirklich nicht verstehen.
({10})
Ihr Entwurf ist nicht solide. Er ist mißbrauchsanfällig,
und im übrigen ist er - die strategische Funktion ist klar
- eine Reaktion auf das, was die Regierungskoalition
mit ihrem Vorschlag im Steuerbereinigungsgesetz unterbreitet hat. Das ist deutlich zu spüren.
({11})
- Herr Kollege Fromme, ich habe einen interessanten
Schriftwechsel vor mir, der das belegt. Der Entwurf ist mit
heißer Nadel gestrickt, und so sieht auch Ihr Antrag aus.
({12})
Ich möchte zusammenfassen. Die Bedeutung von Ehrenamt und Vereinen verdient und erfordert angemessene politische Berücksichtigung. Das ist völlig klar. Es
geht um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und
nicht zuletzt um den Kampf gegen Kriminalität und
Gewalt. Angemessen ist hier vor allem das Ziel; denn
Sparsamkeit ist auch an dieser Stelle wichtig. Auch hier
können wir jede Mark nur einmal ausgeben.
Die Maßnahmen der SPD und von Bündnis 90/Die
Grünen fördern angemessen; davon sind wir überzeugt.
Wir erhöhen nicht nur die Übungsleiterpauschale, sondern wir erweitern auch den Personenkreis. Das ist eine
längst überfällige Maßnahme. Wir vereinfachen und
entbürokratisieren die Spendenpraxis. All dies, meine
Damen und Herren von der Opposition, hätten Sie in
den vergangenen Jahren schon machen können. Sie
bleiben aber die Antwort darauf schuldig, warum Sie es
nicht gemacht haben.
({13})
Statt dessen legen Sie einen Entwurf vor, der mehr
Fragen aufwirft, als er beantwortet. Sie betreffen die
Höhe der Steuermindereinnahmen, die kumulative
Wirkung einzelner Elemente in diesem Gesetz und die
Möglichkeiten einer nicht sachgerechten Verwendung von steuerbegünstigten Rücklagen. Man muß sich
einmal vorstellen, was das bedeutet. Die Kosten der
Verdoppelung betragen im Grunde über 1 Milliarde
DM.
Die Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
weiß um die Bedeutung der Vereine. Wir wollen das Ehrenamt mit unseren Maßnahmen anerkennen. Ich finde,
daß die Entscheidungen, die wir für das Jahr 2000 treffen, beweisen, daß wir das Ehrenamt anerkennen und
faire Partner der Vereine sind.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/1145 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
weitere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Bekämpfung der Steuerkriminalität durch
kontinuierliche und bundeseinheitliche Betriebsprüfung
- Drucksache 14/1192 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({0})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ihre Reden zu Protokoll
gegeben haben: Frau Kollegin Gisela Frick, Herr Kolle-
ge Hans Michelbach, Frau Kollegin Christine Scheel,
Frau Kollegin Simone Violka.*) Ich gehe davon aus,
daß Sie damit einverstanden sind - nunmehr erteile ich
der Kollegin Heidemarie Ehlert, PDS, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das Anliegen unseres Antrags ist
nicht ganz neu. Bereits 1996 hat die SPD einen ähnlichen Antrag im Zusammenhang mit dem Aktionsprogramm gegen Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung eingebracht. 1997 hat sich der ehemalige Finanzminister Waigel ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt, allerdings ohne wesentlichen Erfolg, wie die
Zahlen 1998 zeigen. Sonst hätte sich der Bundesrechnungshof in seinem Bericht zur Jahreshaushaltsrechnung
nicht erneut mit diesem Thema befassen müssen.
Aber offensichtlich werden auch Berichte des Bundesrechnungshofes mit der Begründung mißachtet, daß
der Einsatz von Betriebsprüfern Ländersache sei. Diese
Auffassung hat Herr Eichel erst im Juni dieses Jahres
erneut im Rechnungsprüfungsausschuß vertreten. Allerdings verschweigt er, daß der Bundesfinanzminister für
die Gleichmäßigkeit der Besteuerung auch bei der Erhebung von Steuern zuständig ist.
Mit einer wirkungsvollen Betriebsprüfung und Steuerfahndung verbunden ist im übrigen auch die Sicherstellung des Grundsatzes der Belastungsgleichheit im
Sinne des Art. 3, Abs. 1 des Grundgesetzes: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Aber nach wie vor
ist es hier wie fast überall: Manche sind gleicher, zumindest in der Besteuerung. Hinzu kommt, daß sich die
Verwaltung seit April dieses Jahres an einer Überarbeitung der Betriebsprüfungsordnung versucht.
Herr Eichel, nutzen Sie endlich diese Chance und
machen Sie Nägel mit Köpfen, indem Sie den Prüfungsturnus für alle Betriebsgrößen bundeseinheitlich
festschreiben!
({0})
- Es geht so. Schauen Sie bitte in dem Gesetz nach, wofür der Bund zuständig ist.
Insbesondere die neuen Bundesländer, aber auch
Bayern sind ein Eldorado für Steuerflüchtlinge.
({1})
*) Anlage 5
Man muß sich eigentlich wundern, warum so viele immer noch die Steueroasen im Ausland aufsuchen. Für
Bayern konnten die Prüfungsergebnisse des Jahres 1998
gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ nachgelesen
werden.
Wer ernsthaft Steuergerechtigkeit will, wie es unter
anderem auch in der Koalitionsvereinbarung gefordert
wird, sollte dann ebenso ernsthaft die notwendigen Gesetze dazu schaffen. Das Bundesfinanzministerium muß
endlich seine Aufgaben der Rechts- und Fachaufsicht
hinsichtlich der Betriebsprüfung in vollem Umfang
wahrnehmen. Es kann nicht länger hingenommen werden, daß nur Arbeitnehmer zu 100 Prozent geprüft werden und manche Unternehmen während der gesamten
Dauer ihres Bestehens überhaupt nicht.
({2})
Die Besteuerungspraxis ist von der Umsetzung des
Verfassungsgrundsatzes immer noch meilenweit entfernt, und das in doppelter Hinsicht. Eine Gleichbehandlung existiert real weder zwischen Lohnsteuer und
veranlagter Einkommen- und Körperschaftsteuer noch
zwischen Bundesländern und Betriebsgrößen. Angesichts des von der Regierung verordneten Sparkurses
und der in diesem Zusammenhang immer wieder betonten Entlastung insbesondere der unteren Einkommensgruppen durch Kindergeld, höheren Eingangssteuersatz
und ähnliches ist es unseres Erachtens aus zweifacher
Sicht notwendig, hier etwas zu tun:
Erstens. Auf Grund verfassungsmäßiger Gründe ist
die Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen geboten.
Zweitens. Angesichts der angespannten Lage der Haushaltskassen sind Einnahmen von Mehrsteuern, die nicht
durch die Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zustande kommen, ein Gerechtigkeitsgebot.
So haben die Betriebsprüfungen im Jahr 1998 zu
rechtmäßigen Mehrsteuern von 22,2 Milliarden DM geführt. Damit könnten die im Jahr 2000 von Herrn Eichel
geplanten Einsparungen fast gedeckt werden.
({3})
- Ja, so einfach ist das. Man muß es nur wollen.
({4})
Innerhalb der Unternehmen entstehen durch zu lange
und höchst unterschiedliche Prüfungsabstände immer
noch prüfungsfreie Zonen, abhängig von Betriebsgröße
und Bundesland. Bei Großbetrieben lag der Prüfungsturnus 1998 bei durchschnittlich 4,4 Jahren. Diese Betriebe müßten laut Gesetz eigentlich schon heute lükkenlos geprüft werden; denn gerade hier ergibt sich der
größte Teil der Mehrsteuern. 1997 waren es 78 Prozent.
Der Bundesrechnungshof und die Steuergewerkschaft
haben deshalb immer wieder die personelle Aufstockung
der Betriebsprüfungsstellen gefordert. Es widerspricht
eben nicht dem Gedanken des Föderalismus, wenn die
Bundesregierung eine bundeseinheitliche Regelung für
den Rhythmus der Betriebsprüfung trifft, um die zeitnähere steuerliche Prüfung der Betriebe zu ermöglichen.
Sicher, angesichts des von der Regierung geforderten
Sparens und des Rufs vor allem von den Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU nach einem schlanken
Staat mag es wieder populistisch klingen, wenn wir die
Einstellung von 10 000 Betriebsprüfern und 1 000 Steuerfahndern in den Finanzämtern fordern. Wir fordern
auch, daß der Bund dies fördern soll.
({5})
Diese zusätzlich Eingestellten würden im Unterschied
zu vielen anderen ihr Einkommen selbst erwirtschaften
und darüber hinaus dem Staat Mehrsteuern erbringen.
Kommen Sie bitte
zum Schluß, Frau Kollegin.
Ausgebildet wurden in
den letzten Jahren genügend Jugendliche. Sie sollten
wissen, daß ab morgen Hunderte von ausgebildeten Diplomfinanzwirten auf Grund von Haushaltssanierungen
der Länder auf der Straße stehen, weil sie nach bestandener Prüfung nicht übernommen werden. Sie sehen also, das notwendige Personal für die Umsetzung unseres
Antrages liegt förmlich auf der Straße. Greifen Sie zu!
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1192 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Oktober 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.