Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/9/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich bitte Sie, sich zu erheben. Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland trauern in die- sen Wochen mit der türkischen Nation um die Opfer des katastrophalen Erdbebens, das in den frühen Morgen- stunden des 17. August weite Teile der Westtürkei zer- stört hat. Heute scheint sicher zu sein, daß das Erdbeben mehr als 20 000 Menschen das Leben gekostet hat. Hunderttausende, die diese Katastrophe überlebt haben, sind weiterhin ohne Obdach. Unvorstellbar ist das Leid, das die Menschen im Erdbebengebiet erfahren haben. Als Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität mit ih- nen und den Angehörigen, die hier in Deutschland nach langem Bangen um ihre Familien in der Türkei trauern, rufen wir zu weiteren Spenden auf. Spontan haben bereits in der ersten Zeit nach dem verheerenden Beben zahlreiche private Initiativen mit Geld- und Sachspenden geholfen. Auch im Katastro- phengebiet selbst wurde aktive Hilfe geleistet. Den deutschen Hilfstrupps, die Seite an Seite mit Hilfs- trupps aus anderen Ländern noch nach Tagen Ver- schüttete lebend aus den Trümmern bargen, gilt unser Dank. Während die Menschen in der Türkei noch dabei sind, die tragischen Ausmaße und Konsequenzen des Geschehens zu begreifen, erreichten uns vor zwei Tagen aus dem Nachbarland Griechenland neue Unglücks- nachrichten. Auch dort hat ein Erdbeben viele Tote ge- fordert und erhebliche Schäden angerichtet. Unsere auf- richtige Anteilnahme in diesen schwierigen Tagen gilt auch der griechischen Nation. Wir bitten alle Bürgerinnen und Bürger, in ihrem Mitgefühl und ihrer Hilfsbereitschaft nicht nachzulas- sen; denn unsere türkischen und griechischen Nachbarn hier in Deutschland werden noch sehr viel Trost und die Menschen in der Westtürkei darüber hinaus noch sehr viel tatkräftige Hilfe benötigen, um mit den Folgen die- ser Naturkatastrophen fertigzuwerden. - Ich danke Ih- nen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8a bis 8c sowie den Zusatzpunkt 3 auf: 8a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Familienförderung - Drucksache 14/1513 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOBT b) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der ökologischen Steuerreform - Drucksache 14/1524 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Tourismus Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOBT c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften ({2}) - Drucksache 14/1514 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({3}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOBT ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Hildeberecht Braun ({4}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Ordnungspolitisch vernünftige Steuergesetze verabschieden - Drucksache 14/1546 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({5}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Land braucht Aufbruch und Erneuerung, braucht eine Politik für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit, ({0}) braucht Mut zur Wahrheit und Mut zum Handeln. ({1}) Mit dem Zukunftsprogramm 2000, über dessen steuerpolitischen Teil wir heute debattieren, stellen sich Bundesregierung und die sie tragende Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen dieser Herausforderung. Handeln und Mut zur Wahrheit sind um so notwendiger, ({2}) als die letzte Regierung, die Regierung Kohl, nicht nur einen Schuldenberg in Höhe von 1 450 Milliarden DM hinterlassen hat, ({3}) sondern auch ein verwüstetes Steuerrecht, ({4}) das soziale Schieflagen produziert hat ({5}) und darüber hinaus einen Mangel an Dynamik in unserer Wirtschaft. Diese Lähmung muß endlich durchbrochen werden. ({6}) Mit dem Antritt der neuen Bundesregierung im Herbst 1998 sind die Weichen zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Nüchternheit und zu mehr Wahrheit in der deutschen Politik gestellt worden. ({7}) Die Schieflage bei der sozialen Belastung im Steuerrecht war nicht mehr zu ertragen. ({8}) Sie haben das nicht mehr wahrhaben wollen. Aber Sie haben diese Debatten doch selbst geführt. ({9}) - Herr Glos, es ist schön, daß Sie so fröhlich sind. ({10}) Aber Sie haben offenbar die Hinterlassenschaft der Regierung Kohl/Waigel nicht wahrgenommen. ({11}) Wir befanden uns in einer Situation, in der das Prinzip „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“ geradezu auf den Kopf gestellt wurde, weil es im damaligen Steuerrecht eine Fülle von Schlupflöchern gab, die es denjenigen, die ein hohes Einkommen hatten, ermöglichten, sich vor dem Finanzamt arm zu rechnen. ({12}) Das haben wir mit dem Steuerentlastungsgesetz beseitigt. Wir sind zu dem Prinzip „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“ zurückgekehrt. ({13}) Es kommt Schritt für Schritt zu einer Entlastung in breiten Kreisen der Bevölkerung in diesem Lande. Eine von uns durchgeführte Entlastung der Familien mit Kindern ist bereits in diesem Jahr in Kraft getreten: ein zusätzliches Kindergeld in Höhe von 30 DM für jedes erste und zweite Kind. Wir haben das Kindergeld bereits von 220 auf 250 DM im Monat angehoben. Mit der heutigen Vorlage werden wir eine weitere Anhebung des Kindergeldes auf 270 DM durchsetzen. ({14}) Sie tun so, als wäre das nichts. Denn Sie haben vergessen, was es für eine Familie bedeutet, ob 250 oder 270 DM in der Kasse sind. Das wissen Sie gar nicht mehr! ({15}) Präsident Wolfgang Thierse Wir werden in den Jahren 2000 und 2002 - das ist bereits geltendes Recht - für alle Bürgerinnen und Bürger mit einem normalen Einkommen - auch für die ohne Kinder - eine spürbare Entlastung durchführen. Wir werden auch endlich wieder zu der Situation kommen auch das ist nicht geringzuschätzen -, daß Menschen mit einem hohen Einkommen einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben leisten. ({16}) Wir werden mit der zweiten Stufe der ökologischen Steuerreform die Zukunft auch in anderer Hinsicht sichern. ({17}) Wir werden sicherstellen, daß der Energieverbrauch nicht unbegrenzt steigt, daß wir faire Bedingungen bzw. Kostenrelationen in bezug auf den Faktor Arbeit und den Faktor Energieverbrauch haben. Unerträglich war ja, wie es Ihre Regierung damals hingenommen hat, daß der Faktor Arbeit durch eine unzumutbare Erhöhung der Sozialabgaben, der Lohnnebenkosten, immer teurer wurde. ({18}) Sie haben in Feiertagsreden immer das Gegenteil von dem behauptet, was Sie in Wirklichkeit getan haben. Das war bei der Familienpolitik so, und bei der Wirtschaftspolitik war es ganz ähnlich. Wir haben zu beklagen - deswegen ist es eine besondere Dreistigkeit, daß die F.D.P. heute einen Antrag einbringt, in dem sie an die ordnungspolitische Orientierung im Steuerrecht erinnert -, ({19}) daß bei Ihnen die ökonomische Wirkung von Steuern offenbar überhaupt keine Rolle gespielt hat. Diesen Wust von Sonderabschreibungen und Verlustzuweisungen, der geradezu eine Umkehrung des gesunden marktwirtschaftlichen Prinzips, daß sich Investitionen an Gewinnerwartungen und nicht an Verlustzuweisungen zu orientieren haben, gebracht hat, ({20}) haben Sie, Herr Gerhardt, doch für Ihre Klientel herbeigeführt. ({21}) Es hat Sie auch gar nicht gestört, daß die Schiffe, die irgendwo in Korea gebaut wurden - ({22}) - Herr Kollege Gerhardt, es scheint Sie irgendwie zu treffen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Gerhardt, Sie haben Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen; dann brauchen Sie sich nicht so anzustrengen. ({0}) - Dann melden Sie sich bitte. ({1}) Kollege Spiller, gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Kollegen Solms? Er hatte sich ordnungsgemäß erhoben und seine Zwischenfrage angemeldet. ({2})

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will die Hierarchie in der F.D.P. nicht durcheinanderbringen; das ist nicht meine Sache. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Spiller, könnten Sie mir eine einzige Ausnahmeregelung im Steuerrecht nennen, der die SPD-Fraktion nicht zugestimmt hat? Insbesondere im Hinblick auf den Schiffbau ({0}) kann ich mich gut daran erinnern, wie Ihr Kollege Kröning um jeden Millimeter Schiffbauförderung gekämpft hat. Das will ich gar nicht kritisieren. Ich will nur sagen, daß es die gemeinsame Verantwortung von Ihnen und uns war, denn spätestens im Bundesrat haben Sie jeweils zustimmen müssen.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Solms, das, was die SPD-Fraktion in der vorigen Wahlperiode gemacht hat, war, vernünftige Übergangsregelungen zu verlangen. ({0}) Das ist auch zu rechtfertigen. Übergangsregelungen ja, aber nicht auf Dauer, wie Sie es gemacht haben, Herr Kollege Solms. ({1}) Sie haben diese ganzen Vergünstigungen doch nicht gemacht, weil Sie damit eine wirtschaftspolitische Konzeption verfolgt haben, sondern nur weil Sie in völliger Orientierungslosigkeit eine Klientel bedienen wollten. Herr Kollege Solms, besonders schön finde ich, daß Sie sich zu der Behandlung von Lebensversicherungen äußern; Sie haben das neulich auch gegenüber der Presse gemacht. Ich darf einmal an folgendes erinnern: Ihre damalige Koalition hat in den Petersberger Beschlüssen vorgeschlagen, daß in die Bedingungen bestehender Lebensversicherungsverträge eingegriffen wird. ({2}) In dem Gesetzentwurf, den Sie damals in den Deutschen Bundestag eingebracht haben, wollten Sie Kapitallebensversicherungen besteuern, und zwar alle - egal, wann die Verträge abgeschlossen worden sind. ({3}) Das war Ihre Position. ({4}) - Unsere Position war immer - und sie ist überhaupt nicht verändert -: Wir wollen eine faire und, Herr Kollege Solms, ordnungspolitisch neutrale Behandlung von unterschiedlichen Anlageformen und von unterschiedlichen Arten der Vorsorge, greifen aber nicht in bestehende Verträge ein. ({5}) Für die Öffentlichkeit muß ich noch einmal betonen: Niemand, der heute bereits eine Kapitallebensversicherung hat, wird die Sorge haben müssen, daß die Bedingungen dafür im nachhinein staatlicherseits verschlechtert werden. ({6}) Das ist ganz anders als das, was Sie damals gemacht haben. Jetzt plustern Sie sich auf. Das ist unehrlich, Herr Solms. ({7}) Ich weiß nicht, ob sich vorhin noch jemand zu einer Zwischenfrage gemeldet hatte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Es ist ungewöhnlich, daß der Redner zu einer Zwischenfrage auffordert, aber sie war vorhin avisiert. Herr Kollege Gerhardt, wenn Sie noch wollen, können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. Es geht etwas gemischt zu, aber das ist parlamentarisch durchaus nicht ungewöhnlich. Herr Kollege Spiller, ich möchte Ihnen die Frage stellen - wobei es durchaus unterschiedliche Beweggründe gibt, über Ausnahmebestimmungen so oder so zu rechten -, weshalb Ihre Partei in der letzten Legislaturperiode die gesamte Steuerreform, die der Deutsche Bundestag mit der Mehrheit von CDU/CSU und F.D.P. beschlossen hatte und die unter Aufhebung von Ausnahmebestimmungen eine deutliche Steuersenkung in Deutschland bedeutet hätte, zwei Jahre lang blockiert hat, ohne sich auf einen ernsthaften Dialog einzulassen. ({0})

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gerhardt, das will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: weil die Re- form, die Sie vorgeschlagen haben, absolut unseriös war. [Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehrwertsteuer!) Denn Sie haben Mindereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden in Höhe von 45 Milliarden DM pro Jahr angekündigt. Dann gab es aber noch eine Fußnote, in der stand, daß das vielleicht noch durch eine Anhebung indirekter Steuern geregelt werden könnte. Gemeint war die Mehrwertsteuer. Als die arme Frau Nolte in einem Anflug von Ehrlichkeit ({0}) darauf hingewiesen hat, ist die gesamte Union über sie hergefallen, weil die Union und auch die F.D.P. meinten, es schicke sich nicht, den Leuten die Wahrheit zu sagen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Spiller, gestatten Sie noch eine Nachfrage des Kollegen Gerhardt?

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Darf ich Sie, Herr Kollege Spiller, dann fragen, weshalb Ihr Fraktionsvorsitzender in dieser Sommerpause sogar noch eine weitergehende Vorstellung der F.D.P. als Weg zu mehr Gerechtigkeit im Steuerwesen bezeichnet hat?

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir ist dabei bloß aufgefallen, Herr Kollege Gerhardt, daß die F.D.P. gar nicht weiß, was sie will. Sie haben sich in der vorigen Wahlperiode mit Ihrem damaligen Koalitionspartner für die Petersberger Beschlüsse eingesetzt. Die hatten mit dem Modell, das Sie neuerdings vertreten, gar nichts zu tun. Daher ist es natürlich sehr spannend zu sehen, wie bei Ihnen die Debatten laufen. Ein Punkt gilt für alle hier im Hause gemeinsam: Die Debatte über Steuerpolitik wird mit dem Abschluß dieser Wahlperiode nicht zu Ende sein. ({0}) Wir werden auch in der neuen Wahlperiode darüber nachzudenken haben, wie das Steuersystem vereinfacht werden kann. Ich sage Ihnen allerdings auch: Das Modell, das Ihnen vorschwebt, überzeugt mich überhaupt nicht. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei einem so anspruchsvollen Programm sind auch schmerzhafte Entscheidungen zu treffen. Es geht um die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, um das Ausbrechen aus der Schuldenfalle, die die Regierung Kohl/Waigel hinterlassen hat. Das bedeutet, wir müssen wegkommen von der Verpflichtung, 80 Milliarden DM im Jahr an Zinsen zu zahlen. Das sind pro Kopf der Bevölkerung 1 000 DM, also für eine vierköpfige Familie 4 000 DM im Jahr lediglich als Zinsendienst, ohne daß eine müde Mark von der öffentlichen Verschuldung getilgt würde. Es ist doch wohl normal, daß über eine konsequente, mutige Politik, die Bundeskanzler Schröder und Bundesfinanzminister Eichel eingeleitet haben, auch debattiert wird. Wir haben in den beiden hinter uns liegenden Tagen hier im Hause, aber natürlich auch innerhalb der Fraktionen und innerhalb der Parteien über die Tradition der öffentlichen Debatte gesprochen. Das muß auch so bleiben. Ich sage Ihnen einmal, wie es bei der SPD sein wird, nämlich so, wie es unsere Tradition ist: eine offene Debatte und geschlossenes Handeln. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der 247. Sitzung des Deutschen Bundestages in der 13. Wahlperiode - das ist gerade ein Jahr her - hat der Abgeordnete Joseph Fischer ({0}) gesagt: Die hohe Arbeitslosigkeit ist das Krebsgeschwür, mit dem wir uns herumzuplagen haben. Wenn wir in diesem Bereich im ersten halben Jahr mit einer neuen Regierung keine Trendwende erreichen, dann wird diese Regierung scheitern. ({1}) Ich kann nur sagen: Wo der Vizekanzler recht hat, hat er recht. Ich habe mir noch einmal die Liste der Propheten angeschaut. Es gibt unter anderem den Propheten Josua. Aber ich glaube, Herr Fischer ist näher am Propheten Hiob, der Unheil richtig vorausgesagt hat. ({2}) Wenn wir uns einmal umschauen, erkennen wir, daß die Arbeitslosenzahlen steigen. Das ist sehr gefährlich. Sie steigen auch saisonbereinigt: März plus 1 000, April plus 12 000, Mai plus 13 000, Juni plus 13 000, August plus 4 000. Herr Bundeskanzler, der einzige wirksame Beitrag, den Sie bis jetzt zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit geleistet haben, war die Tatsache, daß Sie den arbeitslosen Ministerpräsidenten Eichel zum Finanzminister gemacht haben. ({3}) Jetzt wollen Sie den arbeitslosen Ministerpräsidenten Klimmt zum Verkehrsminister machen. Ich frage mich: Wie lange dauert es, bis Heide Simonis und Wolfgang Clement hier herkommen? ({4}) Wir werden dafür sorgen, daß sie bald hier sind. Ich kann Sie ja gut verstehen, daß Sie die Leute nicht aus der Fraktion holen. Das zeigt auch Ihre ganze Verachtung für diese Fraktion. ({5}) Ich meine, ein Stück weit hat sie es verdient; aber ganz so schlimm, wie Sie sie behandeln, Herr Bundeskanzler, hat sie es nicht verdient. ({6}) Für Schreiner hat man noch nichts gefunden; er stand Oskar zu nahe. ({7}) - Das hat mit den Steuern sehr viel zu tun, weil der Anstieg der Arbeitslosigkeit mit Ihrer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik zu tun hat - wenn Sie das genau wissen wollen, Frau Kastner. ({8}) Ich zitiere noch einmal den Vizekanzler - das wird man doch noch tun dürfen. Er sagte weiter: Ich sage Ihnen: Dieser Aufschwung hält genau bis zum 27. September 1998. Danach werden wir eine ganz andere Situation haben. Recht hatte der Herr Fischer. Diese Weitsicht läßt sich auch an Zahlen belegen: 2,8 Prozent Wachstum brachte die Regierung Kohl in 1998 auf die Waage. Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, sind auch in dieser Hinsicht ein Leichtgewicht gegenüber Helmut Kohl. ({9}) Sie haben in 1999 nicht einmal die Hälfte des Wachstums vorzuweisen. Das DIW schätzt das Wachstum für das erste Halbjahr 1999 auf 0,8 Prozent. In vergleichbaren Ländern dagegen - ich nenne einmal die USA; sie können vor Kraft nicht laufen - haben wir ganz andere Wachstumszahlen. Wir in Deutschland haben das schlechteste Wachstum innerhalb der Europäischen Union. ({10}) Das muß doch hausgemachte Ursachen haben, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({11}) Ich komme noch einmal zu der Frage nach den Ursachen, die von Frau Kastner gestellt worden ist. Es ist ganz klar: Die Politik der Regierung Schröder hat Menschen und Betriebe in Deutschland verunsichert. Die Leute haben kein Vertrauen in die Bundesregierung. Wo kein Vertrauen herrscht, wird weder investiert noch konsumiert. Wir kennen eine lange Kette von Fehlleistungen, die gemacht worden sind. Wir haben es heute ja mit sogenannten Korrekturgesetzen zu tun. Sie geben selber zu, daß Sie die Hausaufgaben schlecht gemacht haben; denn Sie müssen sie wieder korrigieren. Das zeigt alleine der Name der Gesetze. ({12}) Ich darf nur ein paar Beispiele - wenn Sie es nicht mehr wissen - in Erinnerung rufen: Die Neuregelung des 630-DM-Gesetzes ist ein Flop. Die SPD-Zentrale, so habe ich gelesen, hat fast zwei Drittel ihrer Mitarbeiter verloren. Dort müssen über 70 630-DM-Kräfte beschäftigt gewesen sein. Das ist schon abenteuerlich, wenn man bedenkt, wie gegen die Existenz der 630DM-Jobs polemisiert worden ist - wie schlimm das doch sei -, während man gleichzeitig diese Art der Beschäftigung selber weitlich genutzt hat. Auch das gehört zur Doppelbödigkeit der SPD. ({13}) Weitere Beispiele sind das Gesetz gegen die sogenannte Scheinselbständigkeit, der Rentenbetrug und die steuerliche Mehrbelastung von Bürgern und Betrieben, die als Steuerentlastungsgesetz getarnt wurde. Das war eine böse Täuschung; denn in Wirklichkeit war die Nettobelastung danach höher. Beispiel Ökosteuer. Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, haben eine Erhöhung der Mineralölsteuer um sechs Pfennig angekündigt, nachdem es vorher ein martialisches öffentliches Ringen darum gegeben hatte, das Ihnen wahrscheinlich Ihre Spindoctors empfohlen hatten, um sich besser in Szene setzen zu können. Wenn Sie das durchgehalten hätten, dann hätte ich Sie gewisserweise sogar noch bewundert. Tatsächlich herausgekommen sind fünf Steuererhöhungen à sechs Pfennig. Das macht insgesamt 30 Pfennig. Die Bürger werden auch bei Strom, Heizöl und Erdgas mehr belastet. Davon war vor der Wahl in dieser Art und Weise nicht die Rede. ({14}) Herr Eichel, wenn Sie den Verkehrsinfarkt in Deutschland vermeiden wollen - auch auf den Autobahnen rund um Frankfurt herum sieht es schlimm aus -, dann kann ich Ihnen nur empfehlen: Verwenden Sie einen Teil der Mehreinnahmen, die Sie erzielen werden, wenn Sie Ihr Sparpaket in der jetzigen Form durchsetzen können - wir können es nicht verhindern, weil Mineralöl- und Energiesteuern reine Bundessteuern sind -, für den Verkehrswegeausbau. Wenn Sie das nicht tun, wird es einen Verkehrsinfarkt auf den Autobahnen geben. ({15}) Herr Müntefering verläßt das Kabinett mit einer ganz schlimmen Bilanz. Er hat während seines Jahres als Verkehrsminister nichts gestaltet und nichts bewirkt. Er hat sich noch nicht einmal gegen die von Ihnen, Herr Eichel, geplanten Investitionskürzungen in seinem Etat wehren können. Er ist vielleicht in Sachen Wahlkampf ein guter Mann. Aber man kann nicht drei Jahre lang Wahlkampf machen und Kampagnen führen, wenn die Leistungen nichts taugen, die letztlich dahinterstehen müssen. ({16}) Ich kann nur sagen: Die Autofahrer laufen Ihnen davon. Ich habe kürzlich am Wahlkampf in Thüringen teilgenommen. Die Leute ärgern sich dort maßlos darüber, daß man ihnen, wo sie jetzt endlich ordentliche Autos und Straßen haben, das Autofahren vergällen will. Ihre Mineralölsteuererhöhung ist auch deshalb vollkommen falsch, weil im Moment die Energiepreise auf den Weltmärkten steigen. Das wirkt sich dann doppelt auf die Autofahrer aus. Das ärgert die Autofahrer zu Recht. In dieser Phase sind massive Mineralölsteuererhöhungen falsch. Sämtliche Stufen der Ökosteuerreform werden im nationalen Alleingang durchgeführt. Das ist besonders schlimm, weil es sich auf die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft und unserer Betriebe auswirkt. Trotz der Wachstumsschwäche in Deutschland und anziehender Energiepreise auf den Weltmärkten wird zusätzlich an der Steuerschraube gedreht. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das Ergebnis einer Umfrage der IHK Wuppertal verweisen. Nach dieser hat die Ökosteuer bei der Hälfte der Unternehmungen - trotz gleichzeitiger Senkung der Rentenversicherungsbeiträge - zu Kostenerhöhungen geführt. Das kostet letztendlich Arbeitsplätze. Die überwiegende Mehrheit der Unternehmen setzt trotz der Ökosteuer keine energiesparenden Produktionsverfahren ein. Es wird also nichts aus der sogenannten doppelten Dividende der vermeintlichen Ökosteuer. Beispiel Rente. Noch am 17. Februar 1999 haben Sie, Herr Bundeskanzler, gesagt - zugegebenermaßen, es war im bayerischen Vilshofen; aber man sollte auch die Bayern gut behandeln -: Ich stehe dafür, daß die Renten in Zukunft so steigen wie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. ({17}) So dürfen Sie sich selbst nicht beschädigen. Es geht um Ihre Glaubwürdigkeit. Ich könnte natürlich sagen: Das macht uns wenig Sorgen, wenn Ihre persönliche Glaubwürdigkeit erschüttert ist. Aber ich stelle auch immer wieder fest: Die Menschen draußen, insbesondere unsere älteren Mitbürger, verlieren das Vertrauen in die Politik. Wenn man älter ist und nicht mehr für sich selbst sorgen kann, dann ist man darauf angewiesen, daß das, was man während seines Berufs- und Arbeitslebens eingezahlt hat, auch, wie versprochen, für die Zeit im Alter zur Verfügung steht. Deswegen müssen unsere Renten kalkulierbar bleiben. Über sie darf nicht willkürlich und nach Kassenlage entschieden werden. ({18}) - Herr Poß, ich halte das insbesondere im wiedervereinigten Deutschland für ganz schlimm, weil in der DDR immer nach Kassenlage über Renten entschieden worden ist. Es ist ein Fortschritt, daß es in Westdeutschland nie so gewesen ist. ({19}) Die Rentner sollen keine Almosenempfänger sein, und sie sollen nicht von der Barmherzigkeit der Politik und von der Barmherzigkeit der jeweiligen Parlamentsmehrheit leben müssen; vielmehr müssen die Renten langfristig kalkulierbar bleiben. Deswegen haben wir eine Rentenreform durchgeführt, die diesen Namen verdient. Sie haben sie sofort kassiert. Was Sie jetzt an die gleiche Stelle setzen wollen, ist Flickwerk. ({20}) - Da die Zwischenrufe von der SPD bei diesem Thema nicht aufhören, kann man nur sagen: Betroffener Hund bellt. Ich möchte Oskar Lafontaine zitieren, auch wenn ich damit möglicherweise etwas aus seinem Buch vorwegnehme. ({21}) - Es war Ihr Vorsitzender. Möglicherweise waren Sie beim Putsch in Mannheim sogar dabei und haben ihn gewählt. Sie müssen sich jetzt anhören, was der Mann gesagt hat, weil die Leute, die Ihre Partei gewählt haben, Lafontaine und Schröder, also beide, gewählt haben. Deswegen wird man zitieren dürfen, was Oskar Lafontaine gesagt hat: Wir denken … an die, die 45 Versicherungsjahre haben; wir denken vor allem an die Kriegerwitwen, die ihre Männer im Krieg verloren haben, die die Kinder allein großgezogen haben, die zuwenig geklebt haben, die von kleinen Renten leben müssen und die keine Nebeneinkünfte haben. Mein Wort steht: Diesen Menschen die Rente zu kürzen ist und bleibt schamlos! ({22}) Zwar kann ich es nicht in der gleichen wortgewaltigen, polemischen Art und Weise sagen, wie Oskar Lafontaine solche Dinge immer gegen uns gerichtet hat; aber Sie müssen ertragen, daß man Ihnen jetzt in einer ruhigeren Sprache vorhält, was er gesagt hat und was er versprochen hat. ({23}) Beispiel Steuerreform. Ich zitiere Peter Struck: „Wir brauchen eine Steuerreform, die diesen Namen verdient.“ ({24}) Ich kann nur sagen: Wo der Mann recht hat, hat er recht. Von seinem Sprecher, den er hier hat reden lassen, habe ich dazu wenig gehört. Erst jahrelang die Zustimmung zu einer kräftigen Absenkung der Steuersätze verweigern, dann selbst eine halbherzige, dafür aber komplizierte Reform beschließen und sich am Ende als großer Visionär darstellen - das geht nicht. Ich möchte kurz auf das eingehen, was Sie zum Beispiel zu den Abschreibungen für Schiffbau gesagt haben. Wahr ist: Wir haben die Regelungen, die zu weit gingen, die zu immer abenteuerlicheren Konstruktionen geführt haben und die als Steuersparmodelle über Vertriebskanäle behandelt worden sind, mit der Bundestagsmehrheit von CDU/CSU und F.D.P. geändert. Der Bundesrat hat diese Regelung verhindert. Herr Eichel war damals der Koordinator, der dafür verantwortlich war. Machen Sie sich kundig, wenn Sie schon eine Sprecherfunktion haben. ({25}) - Herr Poß, Sie sollten das wissen. Sie sind einer derjenigen, der Steuerpolitik von Anfang an mitgestaltet hat. Wir beide waren damals Sprecher im Finanzausschuß. Daß Sie nicht hinter das Rednerpult getreten sind, das ehrt Sie. Aber daß Sie Herrn Spiller so ins Abseits laufen lassen, finde ich weniger gut. ({26}) Ich will gar nicht alle komplizierten Regelungen aufzählen, die Sie eingeführt haben. Falls es noch arbeitslose Steuerberater gibt - es gibt sie eh nicht - , dann hätten sie bald Arbeit, weil sie ungeheuer zu büffeln haben, um die komplizierte Materie nachzulesen. Die Finanzverwaltung hat kräftig zu tun. Sie muß aufgestockt werden. Struck hat recht: Niedrigere Steuersätze, weniger Ausnahmen ({27}) und das ordentlich in einem Ruck durchführen, so wie wir das gewollt haben und so wie es von Herrn Eichel blockiert worden ist, das ist das Richtige. ({28}) Die letzten Jahre im Bundesrat waren reine Blockadejahre. Mit Ihren Zwischenrufen können Sie darüber überhaupt nicht hinwegtäuschen. Beispiel Familienentlastung. Sie haben sich gerade gerühmt. Statt endlich ein schlüssiges Konzept vorzulegen, beschränkt sich die Bundesregierung darauf, die zu beachtenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ({29}) nur halbherzig umzusetzen. Über Details wird hier noch gesprochen werden. Es ist eine halbherzige Umsetzung. Es ist lediglich Flickwerk. ({30}) Jetzt möchte ich gerne noch einmal - heute hat Herr Spiller das wieder gebracht, Herr Eichel bringt es immer wieder, und gestern abend bei einer Fernsehdiskussion kam Herr Struck mit der ollen Kamelle - ausführlich auf die Geschichte mit den 1,5 Billionen DM Erblast eingehen. ({31}) - Hier tut überhaupt nichts weh, weil Zahlen für sich sprechen. Die Wahrheit ist: Wir haben von 1982 bis 1989 Konsolidierungspolitik vorgemacht; davon sollten Sie lernen. Das Ausgabenwachstum lag damals im Schnitt bei 2,5 Prozent im Jahr; diese Steigerung lag halb so hoch wie das Anwachsen des Bruttosozialproduktes. Nur so kann man vernünftig konsolidieren. ({32}) Theo Waigel wäre der erste Finanzminister in der neueren Geschichte der Bundesrepublik gewesen, der die Defizite zurückgeführt hätte, wenn nicht die von uns allen herbeigesehnte deutsche Wiedervereinigung gekommen wäre. Um Verdrehungen vorzubeugen, möchte ich noch einmal sagen, wie es damals war: In den 90er Jahren mußte der Bund die finanzielle Erblast von 40 Jahren Kommunismus und Sozialismus in Höhe von 350 Milliarden DM schultern. Diese Schulden hat er direkt übernommen; das können Sie nachlesen. Die dafür und für die übernommenen Schulden der Regierung Schmidt zu zahlenden Zinsen und Zinseszinsen zusammen mit 600 Milliarden DM an Transferleistungen, die allein der Bund - ich lasse die Länder unberücksichtigt - geleistet hat, ergeben letztlich diese Zahl. Natürlich ist es richtig, Herr Eichel, daß wir jetzt sparen müssen. Aber Sie sparen nicht wirklich, sondern verhalten sich wie auf einem Verschiebebahnhof. Außerdem nehmen Sie die Steuergesetze von Oskar Lafontaine zurück, obwohl auch Sie dafür Verantwortung tragen. Sie ermöglichten es nämlich mit Ihrer Stimme im Bundesrat, obwohl Sie von den hessischen Wählerinnen und Wählern schon abgewählt waren, daß dieser Haushalt und diese Steuergesetze in Kraft treten konnten. Jetzt versuchen Sie, die Luftblasen, die damals in den Haushalt gekommen sind, wieder herauszulassen. ({33}) Wenn man unsere Finanzpolitik als liederlich bezeichnet, ist das eine bewußte Lüge und Irreführung. ({34}) Wir haben die Maastricht-Kriterien trotz aller Unkenrufe auf Punkt und Komma erfüllt und den Anteil der Bundesausgaben am Bruttosozialprodukt 1998 mit 11,8 Prozent auf einen neuen historischen Tiefstand gedrückt. Der Bundeshaushalt ist ständig gesunken und nicht angestiegen; erst unter Oskar Lafontaine stieg er wieder an. Sie wissen, daß man Zahlen nicht fälschen kann. ({35}) Deswegen hören Sie sich doch noch einmal die Zahlen an. Der Anteil der Bundesausgaben betrug zu Zeiten der Regierung Helmut Schmidt 15 Prozent vom Bruttosozialprodukt. Am Ende der Amtszeit von Helmut Kohl und Theo Waigel waren es trotz der gewaltigen Belastungen durch die deutsche Wiedervereinigung lediglich 11,8 Prozent. Alle finanzpolitischen Maßnahmen, die von uns in den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden sind, wurden blockiert, weil man das Gefühl von Stillstand erzeugen wollte. Die Rechnung ist ja letztendlich aufgegangen. Die Suppe aber, die Sie sich eingebrockt haben, müssen Sie jetzt selbst auslöffeln. Wir werden uns dennoch nicht so verhalten, wie Sie es getan haben. Wenn wir dazu in die Lage versetzt werden, werden wir unsere Mehrheit - wir haben ja keine absolute Mehrheit im Bundesrat, Sie haben sie aber auch nicht mehr - nicht zur totalen Blockade gebrauchen. Uns ist nämlich das Land und das Wohl und Wehe der Menschen immer noch wichtiger als die Frage, ob man selber oder jemand anders gerade regiert. ({36}) Die Methode, mit der Sie an die Macht gekommen sind, muß entlarvt werden. ({37}) Auch die Tatsache, Herr Bundeskanzler, daß Sie den blanken Hans, wie man ihn inzwischen nennt, zum Finanzminister gemacht haben, ({38}) wird Ihnen wenig helfen. Wenn man sich nämlich seine Leistungen in Hessen ansieht ({39}) das müssen Sie sich vorhalten lassen, Herr Bundesfinanzminister -, stellt man fest, daß sich in Hessen von 1990 bis 1999 der Schuldenstand um 60 Prozent erhöht hat und die Zinsausgaben um fast 70 Prozent gestiegen sind. Warum prangern Sie das eigentlich nicht an, Herr Eichel, sondern gehen immer wieder auf die Regierung Kohl/Waigel/Gerhardt los? Warum kritisieren Sie nicht diese willkürliche Ausgabensteigerung in Hessen, während der Bund die deutsche Wiedervereinigung zu schultern hatte? Diese Polemik und solche Erörterungen lassen wir Ihnen so nicht durchgehen. ({40}) Jetzt könnte ich noch auf Ausführungen von Herrn Metzger eingehen, aber ich fürchte, die Zeit reicht nicht aus. Er hat richtigerweise vor einem weiteren Durchmogeln gewarnt. Sie, Herr Schlauch, sind gut beraten, wenn Sie sich ein Stück weit von der Politik absetzen, die hauptsächlich von Herrn Eichel und von Herrn Schröder gemacht wird. ({41}) Im Moment werden die Investoren und Bürger durch eine endlose Debatte über weitere Steuererhöhungen verunsichert. Ich nenne beispielsweise die Erbschaftsteuer und die Einführung einer Vermögensabgabe bzw. -steuer. Jetzt verlangt Frau Schreyer, die aus Ihren Reihen kommt, noch eine zusätzliche EU-Steuer. All das ist nicht angetan, wieder die Dynamik in die Wirtschaft zu bringen, die wir wollen. Hören Sie mit hektischen Reformschritten auf; betreiben Sie eine kalkulierbare, längerfristig durchschaubare Steuerpolitik! Dann geht es im Land wieder aufwärts. Ich fürchte, Sie haben nicht die Kraft und nicht die Rückendeckung in Ihren Reihen, um so etwas durchzusetzen. Ich will kein solcher Prophet wie der Prophet Joseph werden. Aber ich glaube trotzdem, daß die Union guten Grund hat, den künftigen Wahltagen mit Zuversicht entgegenzusehen, weil die Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit haben, auch bei Landtagswahlen über die verfehlte Politik der Bundesregierung abzustimmen. Danke schön. ({42})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort der Kollege Klaus Müller.

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Glos, ich bin enttäuscht. Ich hatte eigentlich gedacht, daß wir zu Beginn des Tages hier im Reichstag, zu Beginn der wirklich spannenden Debatten über die Zukunft des Sparpaketes, über das Zukunftsprogramm von Ihnen eine spritzige Rede hören würden, eine Rede mit eigenen Vorschlägen. ({0}) Aber nein, es war eine rückwärtsgewandte Rede. Sie trauern noch immer Herrn Lafontaine hinterher. Das kann ich verstehen, ein interessanter Politiker. ({1}) Aber die Realitäten sind inzwischen etwas weiter fortgeschritten. Daß Sie das nicht gemerkt haben, tut mir leid. Ferner war Ihre Rede voller Halbwahrheiten und Unwahrheiten. Beispiel Ökosteuer - dazu werden wir heute hoffentlich noch etwas Qualifiziertes von Ihrer Fraktion hören -: Wenn Sie die ganze Zeit nur die eine Seite der Medaille betrachten, nämlich die Frage der Energiepreise, dann ist das schlicht die Hälfte der Wahrheit. Sie müssen sehen, daß das Geld zur Senkung der Lohnnebenkosten verwendet wird, die Sie in Ihrer Amtszeit immer weiter erhöht haben. Das ist eine richtige und kluge Politik. ({2}) Am Anfang haben Sie versucht, sich über die Personalpolitik dieser Bundesregierung auszulassen. Man könnte fast meinen, daß Sie angesichts der Ereignisse in Ihrem Heimatland, in Bayern, wo Stoiber gerade gut dabei ist zu glänzen, wo ein bißchen der Lack abblättert von Ihrem Ministerpräsidenten ({3}) - kräftig abblättert -, schon dabei wären, auch für ihn einen Posten im Bundeskabinett zu suchen. ({4}) Ich bin ganz sicher, der Bundeskanzler wird diesen Vorschlag ablehnen. ({5}) Da müssen Sie nicht versuchen, uns Herrn Stoiber irgendwo unterjubeln zu wollen. ({6}) Noch ein Letztes zu Ihnen. Ich hätte gehofft, daß Sie irgendein Wort zu den Vorschlägen aus Ihren Reihen, von Herrn Uldall und Herrn Protzner, Ihrem ehemaligen Generalsekretär, sagen, die das Arbeitslosengeld für einen Monat streichen wollen. Das ist die Politik Ihrer Fraktion. Das finde ich extrem enttäuschend und extrem bedauerlich. Ich habe auch vermißt, daß von Ihnen ein einziger Vorschlag zur Sache kommt. ({7}) Wir diskutieren heute die Steuerpolitik von Rotgrün. Ich hätte von einer wirklich guten Opposition eigentlich erwartet, daß sie mit einem einzigen eigenen Vorschlag käme. Schade, Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Was wir heute diskutieren müssen, ist, welchen Ansatz Rotgrün verfolgt, um die Generationengerechtigkeit auch in der Steuerpolitik umzusetzen. Um zu ergründen, warum wir tatsächlich Reformen benötigen, ist es notwendig, zu schauen, was sie uns hinterlassen haben. Wenn man die Bilanz Ihrer Politik zieht, dann stellt man fest, daß die steuerliche Entlastung von Familien zu gering gewesen ist - das hat Ihnen Karlsruhe ins Stammbuch geschrieben - und daß Sie einen Schuldenberg angehäuft haben. Egal wie man herumrechnet „Zahlen lügen nicht“, haben Sie gesagt -, die Verschuldung unter Ihrer Regierungszeit hat sich vervielfacht. Sie haben sich nicht getraut, es ehrlich zu finanzieren. ({8}) Unsere Familienpolitik, über die wir heute beraten wollen, beruht auf zwei Erkenntnissen: Erstens müssen wir etwas für die gegenwärtige Generation tun, die unsere Zukunft ist; deshalb gibt es eine Kindergelderhöhung, eine Erhöhung der Freibeträge. ({9}) Aber zweitens - dies gehört elementar dazu - müssen wir auch etwas für den Abbau des erdrückenden Schuldenberges tun. Darum haben wir ein Zukunftsprogramm geschnürt, mit dem wir sowohl die Familien jetzt fördern als auch die Nettoneuverschuldung, die Sie uns hinterlassen haben, sukzessive, Jahr für Jahr, abbauen. Beides gehört zusammen. Normalerweise kann man ein Erbe ausschlagen. Das Erbe Staatsverschuldung kann man leider nicht ausschlagen; darum haben wir die Pflicht, für die nächste Generation vorzusorgen. ({10}) Als die Karlsruher Richter im letzten Herbst ihren Beschluß zur Familienpolitik gefaßt haben, lag das Kindergeld noch bei 220 DM. Als wir angekündigt haben, die erste Maßnahme unserer Politik sei, hier für mehr Gerechtigkeit durch das Steuerentlastungsgesetz zu sorgen, hat sich die Kollegin Hasselfeldt noch hingestellt und gesagt, diese Erhöhung sei ja ganz erfreulich, aber sie sei ein Wahlgeschenk. Das war keine respektierliche Bemerkung. Ich finde, es ist notwendig, an dieser Stelle etwas für die Familien zu tun. ({11}) Insofern haben wir Karlsruhe bereits vorgegriffen. Wir werden jetzt noch etwas obendrauf legen, so daß eine Familie mit zwei Kindern unter Rotgrün im nächsten Jahr um insgesamt 1 200 DM entlastet wird. Das bedeutet fiskalisch, daß wir für Familien mit Kindern insgesamt etwa 10 Milliarden DM ausschütten. Das ist, so finde ich, eine respektable Leistung. ({12}) Nach intensiver Prüfung des Karlsruher Urteils haben wir uns entschlossen, neben der steuerlichen Entlastung, die uns Karlsruhe vorschreibt, etwas für Familien zu tun, die keine Steuern zahlen oder in nicht so hohem Umfang Steuern einsparen können. Darum beträgt das Volumen des Familienförderungsgesetzes - das hätten Sie festgestellt, wenn Sie einen Blick in das Finanztableau geworfen hätten, Herr Glos - 5,5 Milliarden DM.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Müller, Sie sprechen von einer Entlastung der Familien mit Kindern und davon, daß das Kindergeld erhöht werde. Ich würde von Ihnen gerne die Auskunft haben - das haben ja Wissenschaftler ausgerechnet -, wie hoch die Belastung der Familien mit Kindern durch die Ökosteuer ist: ({0}) infolge der Mineralölsteuererhöhung, der Kostensteigerung beim Heizen, beim Wohnen. Können Sie mir darauf bitte eine Antwort geben?

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie genau geprüft hätten, wie diese Ökosteuer aufgebaut ist, dann hätten Sie festgestellt, daß Hans Eichel insofern etwas traurig ist, als das Aufkommen der Ökosteuer nicht in sein Säckel fließt, sondern durch die Senkung der Lohnnebenkosten - die Stabilisierung der Beiträge zu der Rentenversicherung - komplett zurückgegeben wird. ({0}) Die Belastung durch die Ökosteuer wird für die Men- schen, die erwerbstätig sind, in vollem Umfang kompen- siert. Darüber hinaus ist gewährleistet, daß die Erhöhung der Warmmiete von der Sozialhilfe abgedeckt ist. Das heißt, insgesamt ist das plus/minus null. [Jörg van Essen [F.D.P.]: Was ist bei Rentnern, was ist bei Arbeitslosen? Das ist doch Unsinn!)

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Müller, gestatten Sie eine Nachfrage der Kollegin Lenke?

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Müller, so geht es nicht. Ich habe gefragt, wie hoch die Belastung einer Familie mit zwei Kindern durch die Ökosteuer ist, monatlich oder jährlich. Diese Frage würde ich gerne von Ihnen beantwortet bekommen angesichts der Tatsache, daß Sie von einer Entlastung durch die Steuergesetzgebung sprechen. ({0}) Klaus Wolfgang Müller ({1})

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegin, ich habe von einem Paket von Steuermaßnahmen gesprochen. Ich werde nachher noch auf Ihren Entschließungsantrag zu sprechen kommen, in dem Sie von Steuererhöhungen sprechen, ({0}) und Ihnen dezidiert darlegen, daß die verschiedenen Steuerpakete zur Entlastung führen und aufkommensneutral sind. Ich bin sicher, daß Sie auch gerne eine schriftliche Anfrage an das Finanzministerium richten können, um für die verschiedenen Fälle noch einmal die einzelnen Zahlen dargelegt zu bekommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Müller, es gibt zwei weitere Wortmeldungen, zunächst der Kollege Michelbach, dann die Kollegin Höll. ({0})

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Müller, Sie geben an, daß Ihre zusätzlichen Ökosteuern zur Senkung der Lohnnebenkosten verwandt werden und dadurch ein Plus und mehr Wachstum und Beschäftigung entstehen. Ich frage Sie, Herr Kollege Müller: Wo steht in Ihrem Gesetz die definitive Verwendung der Einnahmen für die Senkung der Lohnnebenkosten? Ist es nicht so, daß Sie im Jahr über 20 Milliarden DM zusätzlich einnehmen? Nehmen Sie nicht bis zum Jahre 2003 über 100 Milliarden DM mehr ein? Ist es nicht so, daß die Senkung der Lohnnebenkosten um 0,5 Prozentpunkte nur 8 Milliarden DM ausmachen? Wohin fließt das Geld? Das ist doch ein Abkassieren, es fließt einfach in den Haushalt und sonst nirgendwo hin. ({0})

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Michelbach, ich bin sicher, daß Sie die Vorlagen, die Sie im Finanzausschuß und im Bundestag abgelehnt haben, auch gelesen haben. ({0}) - Doch, das darf man ihm unterstellen. - Dann wissen Sie, daß die Lohnnebenkosten bereits jetzt gesenkt sind, daß in den Beschlüssen des Kabinetts, die wir breit diskutiert haben und die veröffentlicht worden sind, die Senkung bzw. Stabilisierung der Beiträge weitergehen. Insofern ist genau das erfüllt, was wir angekündigt und versprochen haben. ({1}) Das Steuerentlastungsgesetz, das Sie Anfang des Jahres so polemisch bekämpft haben, wird im Jahre 2002 zu einer Entlastung der Menschen in dieser Republik von über 20 Milliarden DM führen. Ich glaube, daß Sie das wissen müßten und daß Sie deshalb nicht von einer Steuermehrbelastung reden können. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Es gibt noch zwei weitere Wortmeldungen zu Zwischenfragen. Bitte fassen Sie sich sehr kurz, damit wir in der Debatte fortfahren können.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Müller, Sie konnten mir nicht erklären, wofür die zusätzlichen Einnahmen verwendet werden. ({0}) Es ist auch nicht so, daß die Arbeitskosten gesenkt werden. Herr Müller, können Sie mir dahin gehend recht geben, daß die Kosten einer Arbeitsstunde durch Ihre Lohnnebenkostensenkung nur um 10 Pfennig gesenkt werden, daß aber gleichzeitig durch Ihre Steuerpolitik zusätzliche Arbeitskosten in Höhe von 18 Pfennig pro Stunde entstehen, so daß unter dem Strich eine Mehrbelastung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer entsteht?

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, Herr Michelbach, Sie haben leider nicht recht. Ich kann Ihren Äußerungen nicht zustimmen. Wir geben die Energiekostenerhöhung 1 : 1 zurück bzw. verwenden sie zur Beitragsstabilisierung. Ich wiederhole mich an dieser Stelle nur ungern, aber nur deshalb, weil Sie das Gegenteil behaupten, wird es nicht wahr. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Müller, es liegen noch zwei weitere Wortmeldungen vor.

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde jetzt gern weitermachen. Vielleicht können wir bei Gelegenheit oder im Finanzausschuß eine Zwischenfrage unterbringen. Ich möchte gern zu der Politik zurückkommen, die wir jetzt beschließen und zu der es bisher keine Alternative aus den Reihen der Opposition gibt. Ich habe ausgeführt, daß wir das Kindergeld und die Freibeträge erhöhen werden. Wir haben noch ein Weiteres gemacht: Wir machen Ernst mit einer Politik für vollstationär untergebrachte behinderte Kinder. Hier nehmen wir eine erstmalige Erhöhung des Kindergeldes vor. Auch das gehört zu dem sozial gerechten Paket unseres Zukunftsprogramms. Ich möchte noch einen kritischen Satz sagen. Wir haben gerade von Gewerkschaften und Familienverbänden die Anfrage erhalten, ob es nicht für Alleinerziehende mit kleinen und mittleren Einkommen zu einer Belastung käme. Wir haben das intensiv geprüft und das Finanzministerium gebeten, eine Sonderauswertung der Daten der Lohn- und Einkommensteuerstatistik vorzunehmen, um genau nachweisen zu können, daß das nicht der Fall ist. Wir können jetzt beruhigt sagen, daß es trotz der Vorgaben aus Karlsruhe, die besagen, daß wir Alleinerziehende nicht besser stellen dürfen als verheiratete Eltern, für mindestens 90 Prozent aller Alleinerziehenden auf gar keinen Fall zu einer Schlechterstellung kommt. Bei den restlichen 10 Prozent gibt es möglicherweise in Einzelfällen eine Schlechterstellung. Ich gebe zu, daß ist eine sehr gute Auskunft aus dem Finanzministerium gewesen, mit der man auch offensiv nach außen gehen kann. Ich will noch etwas zu den Aspekten des Karlsruher Familienurteils sagen, die uns nicht glücklich gemacht haben. Jeder normale Mensch auf der Straße, den Sie danach fragen, ob nicht jedes Kind steuerlich gleichbehandelt werden müßte, sagt Ihnen: Ja. Jeder normale Mensch hat ein Gerechtigkeitsgefühl und sagt, ja, jedes Kind müßte dem Staat eigentlich gleich viel wert sein. Darum ist meine Fraktion nach dem Karlsruher Urteil mit der Debatte um einen Kindergrundfreibetrag, der für jedes Kind die gleiche steuerliche Entlastung bedeutet hätte, so wie es auch unserer Gerechtigkeitsvorstellung entspricht, in die Öffentlichkeit gegangen. Dazu haben wir viel Zustimmung aus der Bevölkerung und von Ökonomen bekommen. Leider - das bekomme ich die ganze Zeit über ins Ohr geblökt - sind die Juristinnen und Juristen in unserer Gesellschaft nicht dieser Meinung gewesen. Ich möchte nur eines deutlich machen: Das Ziel, daß jedes Kind steuerlich gleich viel wert sein sollte, bleibt bestehen. Dies bleibt Ziel dieser Koalition; ich halte dies für richtig und notwendig. ({0}) Man kann niemandem erklären, warum das Kind eines Millionärs, wie die „Zeit“ so schön gefragt hat, Kaviar nötig hätte, das Kind eines normal verdienenden Menschen aber nicht. Hier gibt es sicherlich noch Debattenbedarf. Eine zweite Anmerkung. Im Koalitionsvertrag hatten wir vereinbart, über das Ehegattensplitting zu reden, eine Institution, die schon seit Jahren kritisiert wird und hinsichtlich derer uns Karlsruhe jetzt eine Handhabe gegeben hat. Das Gericht hat nämlich gesagt, es gebe die Möglichkeit, an die Förderung von Ehen heranzugehen, in der die Ehepartner sehr unterschiedliche Einkommen haben, wo es also per se gar nicht um die Förderung der Familie geht. Die Förderung steht hier nicht mehr im Zusammenhang mit Kindern. Vielmehr muß es zu einer Förderung der Kinder unabhängig vom Ehegattensplitting kommen. Hier sehen wir gewisse Spielräume: Weil rund 20 Prozent der Familien nicht der klassischen Vorstellung von verheirateten Eltern mit Kindern entsprechen, weil der Splittingvorteil abschmilzt, wenn beide Elternteile berufstätig sind, und sich auf Null reduziert, wenn beide gleich viel verdienen, und weil es eben viele Ehen ohne Kinder gibt, die heute noch davon profitieren. Im Sinne einer konsequenten Individualbesteuerung ist es notwendig, hier weitere Schritte zu gehen. ({1}) In den weiteren Beratungen müssen wir darüber nachdenken, was mit Kindern ist, die ein großes Vermögen haben, obwohl sie noch minderjährig sind. Nach den gegenwärtigen Regelungen gibt es sowohl das steuerfreie Existenzminimum von Kindern als auch die Möglichkeit für die Eltern, einen hohen Kinderfreibetrag in Anspruch zu nehmen. Hier sollten wir im Sinne von sozialer Gerechtigkeit dafür sorgen, daß wir nicht zu einer Ungerechtigkeit dergestalt kommen, daß wohlhabende Eltern wohlhabender Kinder zweimal steuerlich begünstigt werden können. Das heißt, wir werden in den weiteren Beratungen, die ich als durchaus ernsthaft ansehe - ich hoffe, daß wir von der Opposition auch eigenständige Vorschläge bekommen -, noch zu Änderungen kommen können, wenn wir uns verständigen. Herr Glos, Sie haben vorhin gesagt, Sie möchten keine Totalopposition sein, keine Blockade machen. Auch hörte ich in den vergangenen Wochen von Ihren eigenen Ministerpräsidenten immer wieder die Worthülse, man wolle ja nicht blockieren, aber… Dann wurden von ihnen aber leider enorme Hürden aufgebaut: Sie wollen dem nicht zustimmen, Sie wollen dem anderen nicht zustimmen usw. Ich halte dies für bedauerlich, weil Sie bisher keine eigenständige Vorstellung geäußert haben, und ich wünsche mir, daß Sie in den kommenden Wochen Farbe bekennen und tatsächlich eigene Vorschläge vorlegen. Gerade heute kann man hier in Berlin sehen, wie ernst es Ihre Partei mit einer Haushaltskonsolidierung meint. Rot und Grün strengen sich gemeinsam an, in Berlin zu wirklichen Einsparungen zu kommen. Ihre Partei hingegen ergeht sich jetzt vor den Wahlen in Populismus. Ich halte das nicht für ehrlich und wünsche mir, daß wir hier im Bundestag eine andere Debatte mit Ihnen führen können und von Ihnen ehrliche Vorschläge bekommen, was Einsparungen im Haushalt angeht. ({2}) Zum Schluß möchte ich noch etwas zum Steuerbereinigungsgesetz sagen, zu dem Sie schon wieder so polemisch argumentiert haben, als dürfte man nichts ändern, wenn man gemerkt hat, daß eine Regelung nicht so funktioniert, wie man sie vorgesehen hat. Wir werden hinsichtlich des Steuerbereinigungsgesetzes vor allem über einen Punkt diskutieren müssen - das hat der Kollege Spiller schon angesprochen -: über die Besteuerung der Erträge aus Lebensversicherungen. Sie werfen uns vor, wir machten hier eine widersprüchliche Politik. ({3}) Klaus Wolfgang Müller ({4}) D u d d B N g c l n W e u n K K r g e s d l O d A i u T A b l Z K b F a e s d z R d S h d w K laus Wolfgang Müller ({5}) azu kann ich nur sagen: Alle applaudieren, wenn es m eine konsequente Steuerreform geht. Auch Sie haben as in Ihrer Rede angebracht, Herr Glos. Alle sprechen avon, die Steuersätze müßten heruntergehen und die emessungsgrundlage müsse verbreitert werden. ({6}) ur, wenn es konkret wird, Herr Michelbach, sind Sie egen jede einzelne Streichung von Steuerschlupflöhern, gegen jede Verbreiterung der Bemessungsgrundage, wie sie beispielsweise bei Lebensversicherungen otwendig ist. ({7}) ir sind uns mit allen Fachleuten einig, daß es eine steurliche Ungleichbehandlung von Lebensversicherungen nd anderen Anlageformen gibt. Diese ist systematisch icht zu halten. Ich gebe zu, daß wir uns für den Fall, daß arlsruhe in diesem Herbst tatsächlich das Urteil zu dem omplex der Besteuerung der Altersvorsorge spricht, echtzeitig ein Signal aus Karlsruhe wünschen, damit wir emäß dem Konzept der nachgelagerten Besteuerung zu iner Gesamtlösung kommen könnten. In der Koalition sind wir uns in der Frage der Beteuerung der Lebensversicherungen absolut einig. Nur er Weg ist noch strittig. Daß es hier ein Steuerschlupfoch und eine Ungleichbehandlung gibt, kann auch die pposition nicht leugnen. Zum Schluß möchte ich noch etwas zu dem Antrag er verehrten Kollegen von der F.D.P. sagen. Über Ihren ntrag war ich, gelinde gesagt, etwas verwundert; aber mmerhin kommt er diesmal zu Beginn der Beratung nd nicht erst am Schluß. Ich sehe ein, daß Sie am vergangenen Sonntag einen iefschlag erlitten haben. ({8}) ber ist das ein Grund, gleich Wahnvorstellungen zu ekommen? In Ihrem Gesetzentwurf sprechen Sie von einer deutichen Erhöhung der Steuerbelastung. Also habe ich die ahlen addiert: Unsere Ökosteuer ist - wie ich Ihrer ollegin schon vorhin versucht habe deutlich zu machen aufkommenneutral; das Familienförderungsgesetz ringt eine Kindergelderhöhung, einen zusätzlichen reibetrag, also eine Entlastung von 5,5 Milliarden DM; us dem Steuerbereinigungsgesetz folgen Steuerminderinnahmen von 1,6 Milliarden DM. Das alles macht zuammen eine steuerliche Entlastung von gut 7 Milliaren DM. Ich bin sicher, daß auch Ihr Taschenrechner um gleichen Ergebnis kommen wird wie unserer. echnet man noch das Steuerentlastungsgesetz hinzu, ({9}) ann kommen wir unter dem Strich noch einmal auf eine teuerentlastung von 20 Milliarden DM. Alles in allem aben wir eine Steuerentlastung von 27 Milliarden DM, ie diese Koalition beschlossen hat bzw. beschließen ird. Von Steuererhöhungen kann also keine Rede sein. Zwei Erklärungsmöglichkeiten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, warum Ihr Antrag das aussagt, was Sie hineingeschrieben haben: Erstens. Sie wissen nicht, was der Unterschied zwischen plus und minus ist. Das kann sein; ({10}) die desolate Haushaltslage, die Sie uns hinterlassen haben, spricht leider dafür. Die zweite Erklärung: Sie betrachten nur die Steuerschlupflöcher, die wir geschlossen haben; denn Sie als F.D.P. haben nur einen Blick für große Unternehmen und Abschreibungskünstler. ({11}) Wenn Sie da über Steuererhöhungen klagen, wenn Sie da kritisieren, daß wir die Steuerschlupflöcher geschlossen haben, dann kann ich nur sagen, daß es Ihre Art von Politik war, mit der Sie sich über Steuerschlupflöcher arm gerechnet haben. Rotgrün hat eine andere Perspektive: Wir sind für eine gerechte Besteuerung, für eine Ökosteuer, die zur Senkung der Lohnnebenkosten beiträgt, und für eine gerechte Entlastung von Familien mit Kindern. Das ist die Politik von Rotgrün. Dafür werben wir um Unterstützung und um Vertrauen. Dafür machen wir Politik, und dafür sind wir gewählt worden. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Höll, PDS-Fraktion.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Müller, Sie haben sich eben über die F.D.P. mokiert. Wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, dann lagen Ihre Wahlergebnisse am Sonntag auf dem Niveau der F.D.P. Deswegen würde ich mich nicht über andere lustig machen. Sie haben von Redlichkeit und Ehrlichkeit gesprochen. Dazu gehört für mich aber auch, mit den Zahlen richtig zu rechnen. Ein Beispiel: Alleinerziehende mit einem mittleren Einkommen werden durch die Streichung der Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten ab 1. Januar 2000 wesentlich höher belastet. Das heißt konkret, daß sie bei einem Gehalt von 50 000 DM und bei einer Aufwendung für Kinderbetreuung von jährlich 4 000 DM gegenüber 1999 pro Jahr 691 DM mehr an Steuern zahlen müssen. Bei einem Gehalt von 60 000 DM macht das 899 DM aus. Sie haben zu diesem Thema also nicht die Wahrheit gesprochen. Es ist gut, wenn Alleinerziehende eine Arbeit haben. Daß sie durch Ihre steuerlichen Vorschläge im nächsten Jahr mehr Steuern zahlen müssen und schlechtergestellt werden als selbst 1996 ,ist nicht sozial und nicht gerecht. Zum zweiten möchte ich bemerken: Sie haben versucht, den Eindruck zu erwecken, als ob Ihre Politik zu einer Entlastung aller Familien mit Kindern führen würde. Das ist unwahr. 1 Million Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre leben in der Bundesrepublik Deutschland von Sozialhilfe. Sie wissen, daß Sozialhilfe und Kindergeld gegengerechnet werden. Solange Ihre Kindergeldvorschläge unter dem Sozialhilfesatz liegen, wird das gegengerechnet. Das führt zu einer Entlastung der Finanzen der Kommunen, aber nicht zu einer Besserstellung und Entlastung der Familien. Der Eindruck, den Sie versucht haben, hier zu erwecken, war also falsch. Drittens. Sie wissen so gut wie alle anderen hier im Raum, daß die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils durchaus anders möglich gewesen wäre, nämlich durch ein einheitliches Kindergeld für alle Kinder, um dem Staatsziel zu entsprechen, daß alle Kinder dem Staat tatsächlich gleich viel wert sind. Das wäre auf der Grundlage des Urteils möglich gewesen. Aber natürlich brauchen wir dann ein Kindergeld von mindestens 400 DM. Das kann man auch erwirtschaften und durchsetzen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Müller, Sie haben das Wort.

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Kollegin Höll, vielen Dank für Ihre Nachfrage. Ich habe nicht die Unwahrheit gesagt. Wir haben genau überprüft, wie das bei Alleinerziehenden aussieht. Vor allem haben wir uns die Mühe gemacht, nachzuprüfen, in welchen Einkommensgruppen welche Betreuungsfreibeträge wirklich in Anspruch genommen werden. Das ist das erste. Wir werden im Finanzausschuß gern noch einmal Tabelle neben Tabelle legen. Meine Tabellen sagen da etwas anderes aus als Ihre Tabellen. Das werden wir überprüfen. Das zweite ist, daß es in vielen Fällen beispielsweise einkommensabhängige Kindergartenbeiträge gibt, so daß wir auch hier davon ausgehen können, daß das zu einem geläufigen Effekt führt. Ich bitte auch, nicht zu vergessen, daß am 1. Januar 2000 die zweite Stufe des Steuerentlastungsgesetzes in Kraft tritt, die ebenfalls dagegenwirken wird, so daß wir sicherlich noch einmal im Detail Zahlen vergleichen können. Das zweite, was Sie gesagt haben, ist richtig. Von vielen Verbänden und Gewerkschaften ist kritisiert worden, daß bei Sozialhilfeempfängerinnen die Kindergelderhöhung nicht ankommt, weil sie systemimmanent gegengerechnet wird. Die Kritik ist auch bei uns angekommen; ich sage das ganz offen. Wir prüfen, welche Möglichkeiten es hier gibt, und wir werden uns sicherlich im Laufe des weiteren Beratungsverfahrens darüber verständigen, ob und, wenn ja, in welcher Weise es möglich ist, etwas zu ändern. Aber Ihre letzte Bemerkung, Frau Höll, ist etwas populistisch, finde ich. Sie sagen, natürlich könnte man für alle Familien das Kindergeld erhöhen. Natürlich könnte man das Kindergeld auf 400 oder 500 DM erhöhen. Das würde ich mir auch wünschen, gar keine Frage. Nur müssen Sie dann sagen, wie Sie das Ganze erwirtschaften wollen. Darauf habe ich von Ihnen bisher keinerlei Antwort gehört. Sie wissen genauso wie ich: Die Vorgabe des Karlsruher Verfassungsgerichtes ist, daß wir die Freibeträge - leider - nicht senken können, daß sie beibehalten werden müssen, so daß wir da auf Ihre Vorschläge von der PDS doch sehr gespannt sind. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Hermann Otto Solms, F.D.P.Fraktion.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann die Ausführungen von Frau Höll voll bestätigen. Sie widerlegen die Aussagen des Kollegen Müller, die aus Wahrheiten, Unwahrheiten und Halbwahrheiten gemischt waren. Im einzelnen will ich darauf noch zurückkommen. Das Entscheidende aber ist, daß die drei Steuergesetze, die drei Pakete,die nun vorgelegt werden, nicht zusammenpassen. ({0}) Es gibt keine ordnungspolitische Leitlinie, an der entlang diese Gesetzentwürfe entwickelt worden sein könnten. Sie widersprechen sich selber, sie sind in sich widersprüchlich, und sie wirken dadurch natürlich verunsichernd, verwirrend und erzeugen keinen Mut für Investitionen und neue Arbeitsplätze. Das heißt also, nachdem der Bundesfinanzminister Hans Eichel - das will ich meinem hessischen Landsmann zugestehen - in der Haushaltspolitik eine richtige Kehrtwende durchgeführt hat, die zu unterstützen ist, fährt er in der Steuerpolitik den Chaoskurs weiter, den sein Vorgänger angerichtet hat. ({1}) Deswegen wird es auch nicht zu den Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt kommen, von denen Sie reden und die wir uns alle wünschen; denn Ihre Politik in diesem Jahr hat geradezu einen Scherbenhaufen auf dem Arbeitsmarkt angerichtet. Die Zahlen bestätigen ja nicht nur, daß die Arbeitslosigkeit mehr oder weniger gleichgeblieben ist, sondern dahinter steht eine demographische Entwicklung, durch die der Arbeitsmarkt in diesem Jahr um einige Hunderttausende entlastet wird. In Wirklichkeit - das zeigt die bekannte Schröder-Uhr in der „Wirtschaftswoche“ - ist die Arbeitslosigkeit leicht gestiegen, aber die Zahl der Beschäftigen, die Zahl der Arbeitsplätze ist um über 300 000 gesunken. ({2}) Damit wird deutlich - das zeigt ja auch die konjunkturelle Entwicklung -, daß der Wachstumsprozeß mit Beginn dieser Regierung gestoppt worden ist, daß die Investitionsquote heruntergegangen ist und daß der Arbeitsmarkt darniederliegt. Das „Handelsblatt“ hat vorgestern gerade erst seine neue westdeutsche Konjunkturanalyse vorgelegt. Es kommt zu dem Ergebnis, daß im September der Frühindikator gegenüber August von 1,6 Prozent noch einmal auf 1,3 Prozent zurückgegangen ist. ({3}) Es ist natürlich wirklich deprimierend, wenn man sich das anschaut. Deswegen sehe ich auch für die nächsten Monate und wahrscheinlich für das nächste Jahr noch keine deutliche Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt. Gerade in dieser Situation, Herr Eichel, wäre es nun dringend geboten, Beschlüsse in der Steuerpolitik zu fassen, die die Menschen ermutigen, zu investieren, ({4}) Existenzgründungen vorzunehmen, Leute einzustellen und nicht zu entlassen, nicht nur zu rationalisieren und nicht die Arbeitsplätze zu exportieren. ({5}) Das Gegenteil tun Sie. Ich will nun zu den einzelnen Vorschlägen kommen, die heute vorgelegt werden. Fangen wir mit der Ökosteuer an. Herr Müller hat sich mit dem, was er dazu gesagt hat, wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. ({6}) - Es ist doch offenkundig, Herr Müller: ({7}) Zuerst einmal müssen Sie eine wahre Analyse machen. ({8}) Es ist keine Ökosteuer, es ist ganz schlicht eine Erhöhung von vier Energiesteuern. Mit dem Begriff Ökosteuer wollen Sie dem Ganzen einen guten Anstrich geben. In Wahrheit ist es eine Erhöhung von Energiesteuern. Auch darüber kann man natürlich diskutieren. ({9}) - Moment. Ich gehöre ja eher zu denen in meiner Fraktion, die diesem Gedanken nähertreten. ({10}) - Das zeigen ja auch unsere Beschlüsse. ({11}) Wir wollen das allerdings mit einem anderen Instrument tun, nämlich mit einem dritten Mehrwertsteuersatz, weil das technisch viel einfacher ist. ({12}) Sie müssen hinsichtlich Ihrer Pläne erst einmal deutlich sagen, wer davon betroffen ist. Bezüglich der geplanten Entlastung steht in den Gesetzen überhaupt nichts darüber, was Sie mit dem Geld machen wollen. Es gibt Absichtserklärungen, denen man glauben oder nicht glauben kann. In einem Monat kann die Situation wieder eine andere sein, und dann brauchen Sie das Geld für etwas anderes. Dann gilt es nicht mehr; es steht ja noch nicht im Gesetzesblatt. Rentner, Hausfrauen, Studenten, Schüler, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger haben von der von Ihnen geplanten Entlastung nichts; sie bekommen keinen Pfennig. ({13}) Das sind gerade die sozial Schwächsten, und sie müssen netto draufzahlen. ({14}) Auch die Leute auf dem Lande, die einen längeren Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung zurücklegen müssen, werden natürlich mehr belastet, weil sie von der Mineralölsteuererhöhung ganz besonders betroffen sind. Sie müssen sich das Ganze also sehr genau anschauen und ehrlich untersuchen. Eine weitere Bemerkung zur Ökosteuer: Wieso verwenden Sie die Einnahmen aus der Ökosteuer, um Sozialpolitik zu machen, um sich an der Notwendigkeit einer Strukturreform der Rentenversicherung vorbeizumogeln? Nichts anderes tun Sie. ({15}) Selbst der DGB hat das heute erkannt und sagt: Nein, wir müssen das Rentenniveau anders ausgestalten; wir brauchen einen demographischen Faktor in der Rentenversicherung, damit das eine verläßliche Größe für unsere Rentner ist. ({16}) Selbst der DGB hat das, wenn auch spät, erkannt und eingestanden. Aber Sie hängen immer noch Ihrem alten Plan nach. Wenn Sie schon eine Verbrauchsteuererhöhung machen wollen - nichts anderes ist das -, dann sollten Sie sie vornehmen, um unser Steuersystem zu reformieren. Das Ifo-Institut hat kürzlich gesagt: Hätten Sie das Geld doch wenigstens genommen, um endlich die Gewerbesteuer abzuschaffen. ({17}) Wenn Sie das machen würden, dann hätten Sie in einem Schritt eine Unternehmensteuerreform, die Sinn machen würde. Was Sie, Herr Eichel, da planen und was Ihre Reformkommission vorgeschlagen hat, ist ja das reinste Unding. Die Kapitalgesellschaften werden doch durch Ihre Pläne entlastet, Herr Müller. ({18}) Für die Personengesellschaften und die Einzelkaufleute ({19}) haben Sie noch keinen Plan, Herr Poß. ({20}) Da wollen Sie Modellspiele machen. Das hat Frau Hendricks gerade neulich in einer Diskussion gesagt. Sie haben doch keinen Plan. ({21}) - Nein, ich unterstelle gar nichts. Ich habe mich mit Frau Hendricks ausgetauscht, und sie hat das bestätigt: Sie wollen Modellversuche machen. ({22}) Sie haben noch keinen Vorschlag. Ergebnis dieser Unternehmensteuerreform ist - es ist ja das Erstaunliche, daß das von der SPD vorgeschlagen wird -, daß nach Ihren Plänen die großen, international arbeitenden Kapitalgesellschaften, die ihre Steuerhöhe ohnehin im internationalen Rahmen stärker gestalten können, als das kleine Unternehmen hier tun können, weniger besteuert werden als die große Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen hier, ({23}) aber auch weniger als die Arbeitnehmer in diesem Land, die Landwirte und die Leute, die von Vermietung und Verpachtung leben. Das ist doch eine enorme Diskreditierung gerade der natürlichen Personen. Das kann einen ja auch nicht wundern, wenn man hört, daß der Herr Bundeskanzler letzte Woche bei der Verabschiedung des Bundesbankpräsidenten Tietmeyer auf der Versammlung, bei der der gesamte Finanzsachverstand im Frankfurter Palmengarten versammelt war, erklärte: Wir wollen eine Unternehmensteuerreform und eine Senkung der Unternehmensteuern, wir wollen aber keine Senkung der Unternehmersteuern. ({24}) Das zeigt, daß er überhaupt kein Verständnis für die Zusammenhänge in der Wirtschaft hat. ({25}) Das ist unser Bundeskanzler, der Regierungschef eines Industriestaates. Er versteht nicht, daß es keine Unternehmen gibt, wenn es nicht auch Unternehmer gibt. Einer muß ja die Initiative ergreifen, um ein Unternehmen erst einmal zu gründen. Das geschieht nur dadurch, daß er mit seinen Ersparnissen ein Risiko eingeht und ein Unternehmen startet. ({26}) - Ich habe das selber einmal gemacht, vor 20 Jahren. Ich weiß, wie es ist, ({27}) wenn man den letzten Pfennig hinlegen muß, um ein Unternehmen zu starten. Sie dürfen diese Unternehmer eben nicht dadurch entmutigen, daß Sie sie schlechter behandeln als die Großunternehmen. Vielmehr brauchen sie Gleichbehandlung. ({28})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spiller?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön, Herr Spiller.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Solms, wären Sie bereit einzugestehen, daß es ein tragender Punkt des Konzepts zur Unternehmensteuerreform, das diese Kommission vorgelegt hat, ist, daß kleine und mittlere Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform ({0}) die gleiche steuerliche Belastung erfahren sollen wie Kapitalgesellschaften, ({1}) daß also diejenigen Unternehmen entlastet werden sollen, die ihre Gewinne im Unternehmen reinvestieren? ({2}) Wären Sie bereit zuzugestehen, daß eines der großen Probleme der jungen Unternehmen insbesondere in Ostdeutschland und der neugegründeten Unternehmen die Bildung von eigenem Kapital ist und daß die Reform, die wir vorschlagen - eine steuerliche Besserbehandlung des Gewinnes, der zum Aufbau einer gesunden eigenen Kapitalbasis im Unternehmen verbleibt -, ein Schritt ist, der insbesondere kleinen und mittleren, vor allem aber jungen Unternehmen helfen wird? ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Spiller, ich will fair sein: Ich akzeptiere, daß Sie die Absicht haben, dies zu tun. ({0}) - Das habe ich nicht unterstellt. ({1}) Bisher aber haben Sie keinen geeigneten Weg. Der Weg, den Sie gehen wollen, birgt so viele Schwierigkeiten, daß er nicht gangbar ist. ({2}) Deshalb wird dies scheitern, und deswegen wird es bei einer einseitigen Entlastung bleiben. Nächstes Gegenargument: Sie verbinden dies mit dem Plan, die einbehaltenen Gewinne zu bevorzugen. Das wiederum belastet natürlich den Kapitalmarkt. Das führt dazu, daß das Geld im Unternehmen bleibt, obwohl vielleicht eine Investition in einem anderen Unternehmen oder in andere wirtschaftliche Vorhaben sinnvoller wäre. Die Volkswirte sagen: Dieser Lock-inEffekt ist volkswirtschaftlich schädlich. Weiteres Gegenargument - dies ist für mich das wichtigste -: Indem Sie für unterschiedliche Einkunftsarten - für Einkünfte aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit, für Einkünfte aus einem Gewerbebetrieb usw. - eigene Steuersätze postulieren, schaffen Sie die Voraussetzung dafür, daß wieder manipuliert wird. Dann nämlich wird wieder versucht, die Einkünfte von einer Einkunftsart in eine andere, günstiger besteuerte Einkunftsart zu verlagern. Auf Grund meiner langjährigen Beschäftigung mit der Steuerpolitik habe ich die Auffassung: Am besten wäre es, Sie machten ein ganz einfaches Steuersystem; das haben wir auf unserem Parteitag beschlossen. Ich will jetzt gar nicht über die Steuersätze reden. Sie kritisieren immer die Steuersätze. Lassen wir diese aber einmal außen vor! Es müßte ein einfaches Steuersystem geben, bei dem gar nicht mehr zwischen Einkunftsarten unterschieden wird. Gleichbehandlung führt zu Gerechtigkeit. Dann nämlich gäbe es keine Gerechtigkeitslücke. ({3}) Durch Ihre Pläne werden zwangsläufig Ungerechtigkeiten ausgelöst. ({4}) Unser Problem ist doch, daß wir das komplizierteste, undurchschaubarste Steuerrecht der Welt haben. Jeder hat das Gefühl, der andere würde besser behandelt und man selber schlechter - aus welchen Gründen auch immer. Sie werden nur dann eine Akzeptanz des Steuersystems erreichen, wenn solche Gefühle nicht mehr auftreten, wenn es Ihnen gelingt, das Steuersystem so einfach zu gestalten, daß es auch die Menschen verstehen, die keine Steuerspezialisten sind. ({5}) - Wir haben es auch nicht erreicht, Herr Poß; das weiß ich doch. Aber wir waren mit den Petersberger Beschlüssen in dieser Richtung einen Riesenschritt weiter. ({6}) Unsere jetzigen Pläne gehen noch einen Schritt darüber hinaus, denn wir sagen: Es darf keine Unterschiede zwischen den Einkunftsarten geben, alle Einkünfte müssen steuerlich gleich behandelt werden. Deswegen war es ein Lichtblick Ihres Fraktionsvorsitzenden Peter Struck, als er sagte, es solle einen Stufentarif geben und keine Ausnahmen. Das wäre doch eine gute Sache. ({7}) Ich dachte, daß es in der SPD wenigstens Gedankenfreiheit gäbe. Die aber gibt es nicht. Dort werden wieder Denktabus aufgerichtet, und jeder, der sich dagegen auflehnt und einmal seine Meinung sagt, wird sofort zur Ordnung gerufen. Das ist das Schlimme in dieser Diskussion. Ich sage Ihnen - darüber werden wir noch diskutieren -: Unsere Philosophie, die Gleichbehandlung der Steuerzahler, ist die richtige Philosophie. Darauf kommt es in der Steuerpolitik an. Über eine maßvolle Höhe der Besteuerung muß man diskutieren. Aber die jetzt bestehenden vielen Unterschiede müssen verschwinden. Nun komme ich zu dem Thema Gerechtigkeitslücke. Das gehört dazu. Das spielt ja jetzt bei Ihnen eine große Rolle. Auch mit dem Argument der Gerechtigkeitslücke wird eine ehrliche Diskussion verbrämt. Dies ist ein Thema, das Herr Gysi liebt, wenn er über eine Vermögensteuer bzw. eine Vermögensabgabe spricht. ({8}) - Ich weiß; aber ich kenne ja Ihre Argumente. ({9}) Ein ehrlicher Umgang bedeutet, festzustellen: Die Vermögensteuer ist ja nicht aufgehoben worden. ({10}) Sie wird zur Zeit aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erhoben. ({11}) - In der Kürze der Zeit hätten wir uns auch nicht einigen können. ({12}) - Herr Poß, wir stimmen überein. Der Wegfall der Vermögensteuer ist - das müssen Sie hinzufügen - durch die Erhöhung der Grunderwerbsteuer, durch die Erhöhung der Erbschaftsteuer im Rahmen der Erbschaftsteuerrefom und durch die Veränderung des Bewertungsgesetzes überkompensiert worden. ({13}) Auch das müssen Sie den Menschen sagen. ({14}) Sonst heißt es ja immer: Die Reichen können geben. Ein weiterer Punkt: Anstatt von einer Vermögensteuer wird jetzt von einer Vermögensabgabe gesprochen. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, daß mein leider so früh verstorbener Kollege Gattermann in der 12. Legislaturperiode in der Koalition die Frage zur Diskussion gestellt hat, ob man nicht aus Gründen der Finanzierung der deutschen Einheit eine Vermögensabgabe einführen sollte. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen. Der Vorschlag kam von uns. Nach langer, intensiver Diskussion haben wir uns - zwar nicht zu unserer Freude, aber es ist so gewesen - auf eine Ergänzungsabgabe geeinigt, den sogenannten Solidaritätszuschlag. Die Argumente aber, die gegen eine Vermögensabgabe sprachen, waren stichhaltig. Das will ich hier bestätigen. Denn es wäre ungeheuer kompliziert, würde einen ungeheuren Verwaltungsaufwand bedeuten und es würde große Bewertungsprobleme, insbesondere im Immobilienbereich, auslösen. ({15}) Der Verwaltungsaufwand hätte das gar nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen. Deswegen bitte ich diejenigen, die eine Vermögensabgabe wollen, diesen Gesichtspunkt in der öffentlichen Diskussion einzubeziehen, Herr Gysi. Man kann immer über alles sprechen. Erst muß man die Voraussetzungen klären, und dann muß man fragen: Was sind die ökonomischen Ergebnisse, die ich damit bewirke? Hier möchte ich ein weiteres Argument ansprechen. Denn ich glaube, daß in Ihren Köpfen noch nicht angekommen ist, daß wir nicht mehr in einer geschlossenen Volkswirtschaft leben. ({16}) Die Möglichkeiten nationaler Gesetzgebung sind extrem begrenzt. ({17}) Die Ökonomie ist heute weltweit tätig. Der Wettbewerb findet weltweit statt. Mit strikten Regelungen in Deutschland können wir unsere Unternehmen nur behindern. Wenn wir auf dem Arbeitsmarkt Erfolg erzielen wollen, dürfen wir unsere Unternehmen nicht mit höherem Ballast belegen als die Wettbewerber in anderen Industriestandorten, die mit uns im Wettbewerb stehen. Wenn ich an die Vermögensteuer bzw. die Vermögensabgabe denke, muß ich feststellen: Sie können heute Vermögen, also mobiles, liquides Vermögen - dies gilt nicht für Immobilienvermögen -, nicht einschließen. Sie können es auch nicht kontrollieren. Das ist völlig ausgeschlossen. Dazu bräuchten Sie noch ein paar hunderttausend Betriebsprüfer mehr, trotzdem könnten sie es nicht. Denn heute kann jeder Schuljunge in Sekundenschnelle mit Hilfe des Internets sein Sparvermögen von der Sparkasse hier zur Sparkasse in Hongkong transferieren. Darauf haben Sie überhaupt keinen Zugriff mehr. ({18}) Was können Sie also tun? Sie können die Sparer in Deutschland so behandeln, daß sie keinen Anreiz haben, ihr Geld an einen anderen Ort zu tragen. ({19}) Das ist heute, im Zeitalter der Globalisierung - die ist nun einmal da, ob man das will oder nicht -, die eigentliche ökonomische Begründung, warum wir auf die Wettbewerbsregeln, auf die Rahmenbedingungen weltweit, insbesondere in den Industrieregionen der Welt, zu achten haben, und warum wir dafür sorgen müssen, daß unsere Wettbewerber nicht behindert werden. Ich erinnere an eine Glosse in der „Süddeutschen Zeitung“ vor ungefähr einem Jahr. Hier wurde ein Ruderwettkampf zwischen Amerika und Deutschland verglichen. Die Amerikaner sind angetreten mit acht kräftigen Ruderern und einem zierlichen Steuermann. Die Deutschen sind angetreten mit acht kräftigen Steuermännern und einem zierlichen Ruderer. Wie, glauben Sie, geht dieser Wettbewerb aus? ({20}) - Das ist übertrieben, das weiß ich. Aber es ist ein schönes Bild. ({21}) - Leider hat es sich noch verschlechtert, Herr Schmidt. Sie wollten ja antreten, es besser zu machen, aber bis jetzt ist es schlechter geworden. Legen Sie Ihre alten ideologischen Denkschranken beiseite! Lassen Sie uns über eine grundsätzliche Steuerreform diskutieren, die uns allen, insbesondere den Menschen in diesem Lande, nützt und die zu neuen Arbeitsplätzen führt! Dazu sind wir gerne bereit; dazu ist sicherlich auch die CDU/CSU-Fraktion bereit; dazu sind die Experten, die wir in diesem Lande haben, ebenfalls bereit. Dann können wir ein gutes Ergebnis erzielen. Alleine und auf dem Weg, den Sie jetzt begonnen haben, werden Sie das nicht erreichen. Vielen Dank. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion, das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dieser Bundestag ist in einer gewissen Schwierigkeit. Das hängt damit zusammen, daß die CDU/CSU- und die F.D.P.-Fraktion natürlich nicht umhinkommen, daran erinnert zu werden, welche Politik sie noch vor einem Jahr gemacht haben. Gelegentlich ist es für Sie deshalb etwas schwer, sich mit der heutigen Regierung auseinanderzusetzen. Sie hat eine ähnliche Schwierigkeit: Sie muß es sich gefallen lassen, gelegentlich an das erinnert zu werden, was sie noch vor einem Jahr gesagt hat, und daß man das zum Maßstab macht. Damit haben Sie offensichtlich Ihre Probleme. Ich möchte gerne daran erinnern, daß wir vor einem Jahr einen sehr grundsätzlichen Streit um den Begriff der Reform hatten. Damals haben Sie Altbundeskanzler Kohl und der gesamten Regierung vorgeworfen, daß sie den Reformbegriff mißbrauchen würden. Unter dem Begriff Reform finde lediglich ein Sozialabbau statt, und im übrigen gehe es sowieso immer nur um Zahlen nach oben und nach unten, aber nie um strukturelle Veränderungen. Jetzt schaue ich mir einmal Ihr Rentenkonzept und Ihr Konzept zu Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe an und frage Sie, was daran außer Kürzungen eine Reform ist. Strukturelle Veränderungen finden nicht statt. Das Problem ist doch, daß SPD und Grüne vor gut einem Jahr durchs Land zogen und gegen das Sparpaket von Kohl und gerade gegen die Rentenkürzungspläne wetterten. In Brandenburg wurden 45 000 Unterschriften gegen das Sparpaket gesammelt. Die Leute haben heute bei dem, was sie lesen und hören, doch nicht ganz zu Unrecht den Eindruck, daß Ihre Vorschläge ein wenig geklont sind. ({0}) Das löst dann die entsprechende Unzufriedenheit aus. Zum Teil ist das, was Sie machen, tatsächlich anders, aber nicht immer besser, sondern teilweise auch eindeutig schlechter. Es wird so viel über Rente gesprochen. Lassen Sie mich dazu etwas sagen. Wir müssen sehen, daß Sie die Nettolohnanpassung nicht nur bei der Rente, sondern auch beim Arbeitslosengeld, bei der Arbeitslosenhilfe und bei den Unterhaltsbeiträgen ausfallen lassen wollen. Damit belasten Sie Gruppen, denen Sie überhaupt keinen Ausgleich in irgendeiner anderen Form geben. Während Sie dort, wo Sie Abschreibungsmöglichkeiten streichen, sofort darüber nachdenken, wie man den Betroffenen durch Senkung des Spitzensteuersatzes wiederum entgegenkommen kann, gibt es für die anderen Gruppen einen solchen Gedanken nicht. Was Sie damit anrichten, ist aus vielen Gründen schlimm. Das schlimmste ist, daß Sie die Nettolohnanpassung zur Willkürmasse einer Regierung machen, je nach Kassenlage. Wenn das einmal einreißt, wird sich das auch fortsetzen. ({1}) Von besonderer Bedeutung - darüber werden wir heute vielleicht zu späterer Zeit noch sprechen - ist folgendes: Sie organisieren, daß bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, bei der Rente und bei den Unterhaltsbeiträgen die Entwicklung zwischen West und Ost wieder auseinandergeht. Unter Kohl war es immerhin so, daß es, weil die Nettolohnanpassung nach Ost und nach West differenziert erfolgte, wenigstens eine allmähliche Angleichung gab; der Prozentsatz im Osten war immer etwas höher als im Westen. Jetzt nehmen Sie eine durchschnittliche Inflationsrate. Sie müssen aber wissen: Die Inflationsrate ist im Osten höher als im Westen. Das heißt, daß Sie im Osten faktisch unterhalb der Inflationsrate bleiben und damit die Entwicklung von Renten, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Unterhaltsbeiträgen wieder weiter auseinanderklaffen lassen. Das ist völlig konträr zum Einigungsauftrag, den wir haben und für den wir Politik zu machen haben. ({2}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang gleich noch etwas zur Ökosteuer sagen. Ich behaupte: Wenn der Bundestag in seiner Mehrheit etwas auf sich hielte, müßte er die erste beschlossene Ökosteuerreform zurücknehmen. Wissen Sie auch weshalb? Weil sie unter falschen Voraussetzungen - man kann fast sagen: mit ein bißchen Täuschung - beschlossen wurde. Ich weiß noch, wie ich im März hier stand ({3}) - stimmt, nicht hier, in Bonn - und darauf hinwies, daß Arbeitslose und Rentner die Ökosteuer voll zu zahlen hätten. Daraufhin trat ein Minister an das Pult und sagte, das sei nicht wahr, und zwar aus folgendem Grund nicht wahr: Weil die Einnahmen verwendet würden, um die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu senken, entstünde eine Erhöhung der Nettolöhne. Davon hätten die Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeitslosen ein Jahr später durch die Nettolohnanpassung etwas. Die Ökosteuer wurde ausdrücklich damit begründet, daß es dann - wenn auch mit einjähriger Verzögerung - zumindest teilweise eine Entlastung gäbe. Unter diesen Bedingungen hat der Bundestag die Ökosteuer beschlossen. Wenn dann einen Monat später gesagt wird, man lasse die Rentenanpassung an die Nettolohnsteigerung ausfallen, müßte dieser Bundestag eigentlich sagen: Wir sind damals getäuscht worden. Das lassen wir uns nicht bieten. Wir heben die Ökosteuer wieder auf. - Das wäre die Konsequenz. ({4}) Oder man hätte es damals wenigstens gleich ehrlich sagen müssen. Das haben Sie aber nicht getan. Wissen Sie, was eine strukturelle Rentenreform wäre? Das wäre, wenn wir über zwei Dinge nachdenken würden. Erstens. Kann es dabei bleiben, daß Unternehmen die zweite Hälfte der Beiträge - ich sage es vereinfacht - als feste Größe, unabhängig von ihrer Produktivität, unabhängig von ihrer Wertschöpfung für ihre Beschäftigten in die Versicherungssysteme einzahlen, als eine Größe, die belastet und dazu führt, daß nicht gern eingestellt wird, und die im übrigen dazu führt, daß bei Entlassungen immer eine doppelte Belohnung stattfindet, indem man bei Entlassungen nicht nur den Lohn, sondern auch die Beiträge spart, die man für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzuzahlen hat? Deshalb wäre es viel sinnvoller, einmal eine richtige Reform zu machen und zu sagen: Unternehmen zahlen künftig einen bestimmten Prozentsatz nach ihrer Wertschöpfung in die Versicherungssysteme ein: Geht diese hoch, zahlen sie mehr, geht sie herunter, zahlen sie weniger, unterschreitet sie eine bestimmte Grenze, zahlen sie gar nichts. Das wäre höchst flexibel und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit angepaßt. Wir hätten mehr in den Kassen, und es wäre gerechter, weil ein arbeitskräfteintensives Unternehmen nicht mehr so bestraft würde wie heute, aber ein Hochtechnologieunternehmen entsprechend seiner Leistungsfähigkeit herangezogen werden könnte. ({5}) Wir müßten uns noch einen zweiten Gedanken machen: Da nun einmal die Zahl der Lohnabhängigen im Vergleich zu den Menschen, die auf andere Art Einkommen beziehen, sinkt, ist es auf Dauer vielleicht nicht richtig, daß nur die Lohnabhängigen Beiträge in die Versicherungssysteme zahlen. Wir müssen uns einfach Gedanken darüber machen, wie auch Bezieher anderer Einkommen herangezogen werden könnten. Dann hätten wir keine Probleme. Dann müßte hier niemand über Nettolohnanpassung oder, besser gesagt, über deren Ausfall diskutieren. Dann könnte es dabei bleiben. Dann brauchten wir im übrigen auch keine Rentenniveausenkung. ({6}) Die Grünen machen wirklich eine extrem altenfeindliche Politik. ({7}) - Entschuldigen Sie. Sie haben ein Papier vorgelegt, nach dem die Nettolohnanpassung für immer ausfallen soll. Dann wollen Sie gleich noch das Rentenniveau um 5 Prozent senken. Aber was ich Ihnen dabei so übel nehme, ist, daß Sie dabei immer von Generationengerechtigkeit reden, daß Sie so tun, als ob das eine Politik für die Jugend und eine Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sei. Deshalb dazu von mir drei Bemerkungen. Erstens. Ich glaube im Unterschied zu Ihnen nicht, daß sich die Jugend wohlfühlt, wenn man ihr erklärt, es soll ihr zu Lasten der Arbeitslosen, der Rentnerinnen und Rentner etwas besser gehen. ({8}) Das mag Ihre Einstellung sein, aber so denkt die Jugend in dieser Gesellschaft in Wirklichkeit nicht. Sie versuchen eine Entsolidarisierung, die nicht hinzunehmen ist. ({9}) Zweitens. Was verschweigen Sie dabei? Nehmen wir einmal ein konkretes Beispiel eines Arbeitnehmers, den Sie angeblich entlasten wollen. Sie verschweigen natürlich zwei Dinge, nämlich erstens, daß auch die Unternehmen Beiträge zahlen. Aber wie wirkte es, Herr Bundesfinanzminister, wenn der Kanzler in einen Brief an eine Rentnerin nicht hineinschriebe: Bitte haben Sie Verständnis, daß wir die Beiträge der nächsten Generation nicht so hoch schrauben wollen. Denken Sie an Ihre Kinder und Enkelkinder. Deshalb werden Sie das Ganze verstehen. - Die Arbeitslosen sollen das auch noch verstehen. Wenn er vielmehr schriebe: „Bitte haben Sie doch Verständnis dafür: Das Unternehmen DaimlerChrysler zahlt seit vier Jahren keine Ertragsteuer, und wir wollen ihm jetzt nicht auch noch höhere Beiträge zumuten“, wäre das natürlich etwas unangenehmer. Das schreibt sich nicht so gut in einem Brief. Also lassen Sie die zweite Seite der Zahler in Ihren Briefen völlig aus. Drittens. Eines sagen Sie natürlich überhaupt nicht. Angenommen, wir hätten in den nächsten Jahren für die Durchschnittsrente bei Dynamisierung immer einen Anstieg um 10 DM, dann wären das nach zehn Jahren 100 DM. Für den Arbeitnehmer, der in zehn Jahren in Rente geht, heißt das: Beginnt er mit 100 DM mehr, falls er die Durchschnittsrente bekommt, oder mit 100 DM weniger? Sie kürzen doch nicht nur die Renten der heutigen Rentnerinnen und Rentner, sondern aller künftigen Rentnerinnen und Rentner. Das verschweigen Sie jedesmal. ({10}) Auch für die 20jährige, die heute Beiträge zahlt, steht fest: Wenn die Dynamisierung ausfällt, hat sie in 40 oder 45 Jahren eine geringere Rente als im Falle einer Dynamisierung. Diese Tatsache verschweigen Sie regelmäßig. Sie schaffen eine Entsolidarisierung, die schon aus moralischen Gründen nicht geht, die aber auch faktisch falsch ist. ({11}) Wenn man über ein Konsolidierungspaket spricht, dann muß man selbstverständlich auch über Einnahmen und Ausgaben reden. Ich kann das hier nur stichwortartig tun. Herr Solms, Sie haben schon wieder tapfer gegen die Vermögensteuer polemisiert. Sie haben dabei auf die USA und auf das Ruderboot verwiesen. Ich möchte Ihnen dazu einmal sagen: Wenn wir eine USamerikanische Vermögensteuer in Deutschland hätten, gäbe es bei uns jährliche Mehreinnahmen in Höhe von 30 bis 40 Milliarden DM. Ihr ganzes Problem, Herr Bundesfinanzminister Eichel, wäre mit einem Schlag gelöst. Man wird doch als demokratischer Sozialist in diesem Hause noch eine US-amerikanische Vermögensteuer vorschlagen dürfen! Weiter gehen wir doch gar nicht. Das wird doch noch erlaubt sein! ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gysi, ich glaube, ich habe deutlich gemacht - ich weiß nicht, ob Sie das verstanden haben - , daß man, wenn man von einer zusätzlichen Vermögensteuer oder Vermögensabgabe spricht, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen in einer globalisierten Welt beachten muß und man deswegen aufpassen muß, daß es nicht mehr schadet als nutzt.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Einverstanden, Herr Solms. Nur, da alle Industriestaaten mit Ausnahme von Deutschland und den Niederlanden eine Vermögensteuer haben, kann in diesem Falle das Standortargument einfach nicht zählen. Wir würden nur etwas tun, was auch alle anderen Industriestaaten machen. Übrigens, Grüne und SPD haben es schwer kritisiert, als Sie die Vermögensteuer abgeschafft haben. Nur, seitdem Herr Schröder Bundeskanzler ist, will er davon nichts hören, obwohl es in der Koalitionsvereinbarung steht, obwohl es in beiden Wahlprogrammen steht. Das macht eben die Unglaubwürdigkeit aus. ({0}) Natürlich haben wir eine soziale Schieflage, und zwar eine extreme. Ich will Ihnen auch etwas zu den Unternehmensteuern sagen. Ich nenne nur eine Zahl, die Ihnen, glaube ich, nicht bekannt ist: Hätten wir noch die Sätze von 1980, hätten wir eine jährliche Mehreinnahme in Höhe von 100 Milliarden DM. Das ist mehr als dreimal soviel, wie Bundesfinanzminister Eichel sparen will - mehr als dreimal soviel! ({1}) - Moment! Natürlich, wir haben jetzt andere Bedingungen; ich will die alten auch nicht wiederhaben. Sie müssen schon zu Ende zuhören! Mein Problem sind nicht die kleinen und mittelständischen Unternehmen; sie sind wirklich zu hoch besteuert. Mein Problem sind die Großen, die Banken, die Versicherungen, die Konzerne, die sich aus der Finanzierung der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet haben. Daimler-Chrysler zahlt bei Reingewinnen in Höhe von 9, 10 oder 12 Milliarden DM - sie liegen immer in dieser Größenordnung - seit vier Jahren keine Mark Ertragsteuer in Deutschland. Die Deutsche Bank hat für das letzte Jahr einen Gewinn von über 60 Milliarden DM ausgewiesen. Da gehen Sie nicht heran. Aber Sie kürzen Renten und behaupten, es gäbe keine, aber auch gar keine Alternativen. Die gibt es selbstverständlich, auch bei der Einkommensteuer. ({2}) Sie erklären immer, das sei alles so sozial ausgeglichen und verweisen auf das Kindergeld. Beim Kindergeld erwähnen Sie aber nicht, daß die Erhöhung nur für das erste und zweite Kind gilt. Ab dem dritten Kind gibt es nicht mehr. ({3}) Ich frage mich immer, ob das Ansätze chinesischer Politik sind. Das Zweite ist - Sie haben auf das Problem selber immer hingewiesen -: Die Sozialhilfeempfängerin bekommt die 20 DM Erhöhung sofort wieder abgezogen; sie hat netto nichts davon. Ich bekomme sie netto ausgezahlt; niemand nimmt mir die 20 Mark wieder weg. Das sagt doch alles über die soziale Schieflage. Ist es denn von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung wirklich zuviel verlangt, das Sozialhilfegesetz so zu verändern, daß dieser Frau wenigstens die 20 DM netto verbleiben und sie ihr nicht gleich wieder abgezogen werden? ({4}) Das war schon zum 1. Januar 1999 so, und das wird auch zum 1. Januar 2000 wieder so sein. - Nein, das ist nicht hinzunehmen. Zum Eingangssteuersatz der Einkommensteuer möchte ich kurz sagen: Es gibt Millionen, die davon nichts haben, weil sie kein Einkommen beziehen, das sie versteuern könnten: Rentnerinnen und Rentner, Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und all diejenigen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden. Trotzdem - das ist richtig -, auch wir würden den Eingangssteuersatz senken. Sie verschweigen eine Tatsache, nämlich daß Sie dann, wenn Sie den Eingangssteuersatz senken, nicht nur den Wenig- und Normalverdienenden, sondern auch den Besser- und Bestverdienenden helfen, also auch uns allen hier im Hause; es gehört zur Ehrlichkeit dazu, so etwas zu sagen. ({5}) - Herr Poß, eines räume ich ein: Ich könnte es auch nicht anders machen, wenn ich die Verantwortung trüge. ({6}) - Nein, Sie müssen auch den zweiten Teil meiner Ausführungen hören. Gerade weil es so ist, nämlich daß ich es nicht ändern könnte, werfe ich Ihnen vor, daß Sie gleichzeitig auch den Spitzensteuersatz senken. Wir alle sind doch schon durch die Senkung des Eingangssteuersatzes begünstigt. Deshalb müssen Sie nicht auch noch den Spitzensteuersatz senken. Das werfe ich Ihnen vor. ({7}) Aber Sie machen es so und sagen dann, daß sie kein Geld hätten und deshalb bei den Renten sowie dem Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe sparen müßten. Das ist das eigentlich Unerträgliche. ({8}) Die geplante Reduzierung der Abschreibungsmöglichkeiten geht in Ordnung. Man kann hier über vieles diskutieren. Aber die Besteuerung der Kapitallebensversicherungen ist und bleibt problematisch. ({9}) - Ich weiß, daß Sie sich immer aufregen, wenn ich darüber rede. Nur, Sie müssen doch auch einmal über Ihre eigene Politik nachdenken. Sie sagen andauernd, daß die Leute selbst Vorsorge betreiben sollten, weil sie später nicht mehr die Renten erhalten, die ursprünglich geplant waren. Aber im gleichen Atemzug sagen Sie, daß die Lebensversicherungen besteuert werden müssen. Das ist ein Widerspruch in sich. Man muß sich für eine Richtung in der Politik entscheiden. Ich kritisiere, daß Sie das bisher nicht getan haben. ({10}) Zur Ökosteuer möchte ich nur noch so viel sagen: Sie können das Benzin Jahr für Jahr immer teurer machen. Das kann man immer extremer betreiben. Wenn Sie das tun, wäre es nur unter einer Bedingung nachvollziehbar, ({11}) nämlich dann, wenn Sie für einen öffentlichen Personennah- und Fernverkehr sorgten, der sich nicht rechnen muß, der sicher ist, der bequem und extrem preisgünstig ist. Durch Ihre Ökosteuer dagegen werden Bus und Bahn immer teurer. Damit gibt es für die Leute keine Alternative zum Auto. Wir beide, Herr Schwanhold, können uns die 5 DM, die Sie irgendwann verlangen werden, leisten. Aber die anderen Menschen müssen dann zu Hause bleiben. Das ist nicht akzeptabel. Durch Ihre Ökologiepolitik betreiben Sie soziale Ausgrenzung. Wir wollen eine sozialverträgliche Ökologiepolitik. Sie ist ganz wichtig, damit die Leute einen ökologischen Umbau auch akzeptieren und ihn nicht immer als Verlust empfinden. ({12}) Sie leisten der Ökologie den schlechtesten aller Dienste, wenn Sie Ihre gegenwärtigen Regelungen umsetzen. Ihr Paket ist auch deshalb noch unehrlich, weil Sie eine Kostengröße nie erwähnen. Die Finanzierung des Krieges, der Stationierung deutscher Soldaten im Ausland und des Wiederaufbaus macht Ihre geplanten Erhöhungen notwendig. Nennen Sie doch wenigstens einmal die Zahlen! ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Gysi, ich möchte Sie nur darauf hinweisen, daß Sie die gesamte Redezeit Ihrer Fraktion aufgebraucht haben. Sie haben sie sogar schon überschritten. ({0}) Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte beweist, daß sich die Koalition auf dem richtigen Weg befindet. ({0}) Sie hat ein Zukunftsprogramm. Hier im Parlament haben wir nur Demagogie von links und von rechts erlebt, zuletzt Gysi von links und vorher Amigo-Glos und Solms von rechts. Wir sind auf dem richtigen Weg. ({1}) Eine persönliche Bemerkung möchte ich noch machen: Herr Solms und ich mögen uns persönlich sehr. Daß Sie sich mit der Steuerpolitik lange beschäftigt haben, hat zu dem Ergebnis geführt, daß das Steuerrecht in Deutschland total verwüstet wurde, Herr Solms. Das ist das tatsächliche Ergebnis. ({2}) Wir kennen die Beispiele aus dem Finanzausschuß: Policendarlehen - von wegen Kapitallebensversicherung -, Schulgeld und andere Themen. Herr Solms, treten Sie hier nicht so auf, wie Sie es tun! Sie müßten sich nach dem, was Sie angerichtet haben, eher aus der Politik zurückziehen, als solche Reden wie heute morgen zu halten. ({3}) Zur Globalisierung. Herr Gysi, Sie sollten hier nicht Wahlkampf für Thüringen und andere Länder machen, sondern sich statt dessen das internationale Unternehmensteuerrecht anschauen. Dort gibt es eine stärkere Trennung zwischen Privat- und Betriebssphäre als in Deutschland. Wir vollziehen diese Entwicklung nach. Wir machen unser Unternehmensteuerrecht europafähig. Das haben Sie, meine Damen und Herren von der alten Koalition, doch nicht zustande gebracht. Das muß man hier festhalten. Sie haben doch kein Konzept vorgelegt. ({4}) Ich möchte auch noch etwas zur Gerechtigkeitslücke sagen, obwohl der Oberdemagoge, Herr Gysi, nicht mehr da ist. Was haben wir nicht alles für die Arbeitnehmer und die Familien in den letzten zehn Monaten zuwege gebracht, um die Arbeitnehmerrechte wieder zu verbessern und die Fehlentwicklungen aus der Vergangenheit zu korrigieren! Wir haben die Trendwende für Millionen von Arbeitnehmern und Familien in zehn Monaten zustande gebracht, nicht Sie. Sie haben vorher nur für Belastungen gesorgt. Das sind die Fakten. ({5}) Diese Koalition kann auf ihre Leistungsbilanz stolz sein, auch wenn ich zugeben muß, daß nicht alle Mitglieder dieser Koalition das schon richtig verstanden haben. Wenn das so wäre, dann hätten wir nicht die Debatten, die wir gelegentlich erleben. Das muß man ehrlicherweise zugeben. ({6}) CDU/CSU und F.D.P. haben seit Jahren über Steuersenkungen geredet und das Gegenteil getan. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen Welten. Sie haben die Steuerzahler Jahr für Jahr mit Milliarden und Abermilliarden DM zusätzlich belastet. Den Soli haben Sie für die Jahre 1991 und 1992 eingeführt und ihn dann wieder abgeschafft - zickzack, von wegen Stetigkeit in der Steuerpolitik -: je 11 Milliarden DM. Erhöhung der Mineralölsteuer 1991 und 1994: 25 Milliarden DM. Erhöhung der Tabaksteuer - damit kann man einverstanDr. Gregor Gysi den sein -: 2 Milliarden DM. Erhöhte Mehrwertsteuer auf Grund höherer Mineralölsteuer und Tabaksteuer: 3 Milliarden DM. Ich erinnere auch an die Versicherungsteuer. Soll ich Ihnen all das vorlesen, was Sie an Steuerbelastungen in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Buckel haben? Stellen Sie sich doch hier nicht hin, und tun Sie nicht so, als wäre das nicht die Realität, die Sie geschaffen haben! ({7}) Wir haben die schwierige Aufgabe, Ihre Hinterlassenschaft aus 16 Jahren schrittweise zu korrigieren. Das ist die Doppeloperation, die wir vornehmen. Wir begrenzen die Staatsverschuldung. Wir führen aus dem Schuldenstaat heraus, und wir entlasten diejenigen, die von Ihnen systematisch belastet wurden; das können wir mit Zahlen belegen. Das ist unsere Politik. ({8}) Wenn Sie das akzeptieren, dann können wir darüber sprechen, ob wir noch eine Gerechtigkeitslücke haben. Wir haben eine Koalitionsvereinbarung für vier Jahre. Auch in unseren Reihen verläuft die Diskussion etwas ungeordnet. Das gebe ich zu. Ich hoffe, daß wir die Diskussion ordnen können. Aber natürlich muß man über Vermögensbesteuerung im internationalen Zusammenhang reden können. Herr Gysi hat in diesem Punkt ausnahmsweise recht. Übrigens, in den Niederlanden wird jetzt eine neue Vermögensbesteuerung diskutiert. Es muß doch möglich sein, tabufrei über solche Dinge zu reden. Man muß hinzufügen: Wir haben eine relativ niedrige Gewinnbesteuerung. Man muß alles berücksichtigen, damit wir endlich aus dieser verdammten ideologischen Diskussion über die richtige Steuerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland herauskommen. Wir sollten die Sache in den Vordergrund stellen. Ich bin ganz zuversichtlich, daß uns das gelingt. ({9}) Es ist schon ein Problem, daß die Wählerinnen und Wähler offenbar ein kurzes Gedächtnis haben - ich mache keine Beschimpfungen - und schon verdrängt haben, was CDU/CSU und F.D.P. uns hinterlassen haben. Wir müssen mit dieser Hinterlassenschaft fertig werden. Herr Glos, stellen Sie sich einmal vor, Ihre Koalition wäre am 27. September 1998 bestätigt worden. Wie wäre das Drehbuch für die anschließende Koalitionsvereinbarung gewesen? Es hätte ein „Drehbuch Protzner/ Uldall“ gegeben. Protzner hat etwas mit Ihnen zu tun. Er war einmal Generalsekretär in der F.D.P. ({10}) - Entschuldigung, in der CSU. ({11}) Wir sollten nicht so kleinlich sein, auch die F.D.P. hatte keine besseren Generalsekretäre. Durch die Arbeitslosenversicherung sollte die Arbeitslosigkeit nicht länger subventioniert werden. So sollten Arbeitslose im ersten Monat ohne Job keine Leistungen mehr erhalten und diese Zeit durch den Rückgriff auf Reserven überbrücken. Die Arbeitslosen haben sehr wahrscheinlich viele Reserven. In der Krankenversicherung sollten alle Leistungen begrenzt werden, die über das notwendige Maß hinausgehen. So sollten die Zuzahlungen für Medikamente erhöht werden. Jeder sollte zudem, wie bei einer Teilkaskoversicherung für Autos, einen jährlichen Selbstbehalt von 300 DM übernehmen. - Wir haben die Medikamentenzuzahlung abgesenkt. Darin liegt der Unterschied zwischen dem, was wir machen, und dem, was bei Ihnen gedroht hätte. Ich könnte die Reihe der Punkte, die in diesem fulminanten Papier von Herrn Protzner und Herrn Uldall zu lesen sind, fortsetzen. ({12}) Ich glaube, in Deutschland muß sich herumsprechen, was Ihre Absicht ist. Mit Ihren polemischen Angriffen vernebeln Sie ständig. Nichts anderes findet statt. Wir sind mit den heute morgen zu diskutierenden Gesetzentwürfen auf dem richtigen Weg. Sie sind wesentlicher Bestandteil unserer Reformvorhaben. Die Koalition und ihr Finanzminister Hans Eichel werden diese Finanz- und Steuerpolitik fortsetzen. Wir haben die Trendwende in Gang gesetzt. Was bedeutet das in Zahlen? Das Steuerentlastungsgesetz bedeutet eine Lohnsteuerabsenkung von 7,9 Milliarden DM in diesem Jahr. Im nächsten Jahr wird die Lohnsteuerabsenkung bei 18,3 Milliarden DM liegen. Im Jahre 2001 wird die Lohnsteuerabsenkung bei 20,4 Milliarden DM liegen. Im Jahre 2002 liegt die Absenkung dann insgesamt bei 46 Milliarden DM. Das heißt, bis zum Jahre 2002 wird die Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer um 14 Prozent gegenüber dem bisher geltenden Steuerrecht reduziert. Das ist fast ein Sechstel des Aufkommens. Das, was wir realisieren, ist doch wohl ein Wort! ({13}) Die große Masse der Bürgerinnen und Bürger wird das bei ihren Nettobezügen in den nächsten Jahren spüren. Die Familien mit Kindern merken es schon heute. Die breite Masse der Arbeitnehmer und Familien - ich wiederhole es - ist der große Gewinner unserer Politik. Sie haben dem Publikum vorgelogen, Sie wollten die deutsche Einheit aus der Portokasse bezahlen. Haben Sie das vergessen? Kennen Sie nicht mehr Ihre Anzeige vom November 1990? Es hat auch zu Ihrem Wahlerfolg beigetragen, daß Sie systematisch getäuscht haben. ({14}) Das hat doch zum Politikverdruß in Deutschland beigetragen. Wir machen das nicht, bleiben bei allem GegenJoachim Poß wind unbeirrt bei einer Politik der Wahrhaftigkeit und vertreten sie auch. ({15}) Bei Ihnen wurden immer mehr Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen höher belastet. Sie haben doch zugelassen, daß Steuerkünstler und Spitzenverdiener sich trotz hoher und höchster Einkommen armrechnen durften und das Finanzamt leer ausging. Diese Ihre Erbschaft, meine Damen und Herren, hat sich aber noch nicht richtig herumgesprochen. Wir haben mit dem Steuerentlastungsgesetz einen Schritt genau in die andere Richtung gemacht. Die Zahlen zeigen es ja schon: Das Steueraufkommen aus der veranlagten Einkommensteuer steigt, weil wir Schlupflöcher geschlossen haben. Wir haben das gemacht, was Sie nicht gemacht haben. ({16}) Wir werden diese Politik der sozialen Gerechtigkeit auch fortsetzen. In dieser Situation sagen wir, daß alle gesellschaftlichen Gruppen Opfer bringen müssen. Vor dem Hintergrund der Umsetzung einer sozial gerechten Politik muten wir allen Gruppen etwas zu und beziehen dabei zugegebenermaßen auch die Rentner und Arbeitslosen mit ein. Was wäre denn Ihre Alternative gewesen? Im Zusammenhang mit der Aufstellung des Haushaltes 2000 und der Festlegung der mittelfristigen Finanzplanung hätten Sie, wenn Sie ehrliche Politik betreiben würden - es wußte doch jeder, daß da die Stunde der Wahrheit kommt -, Farbe bekennen müssen. Das war klar, unabhängig vom Wechsel des Finanzministers. Wir haben mit unserem Zukunftsprogramm die richtige Antwort gegeben. ({17}) Hätten Sie eine Alternative dazu gehabt? Jeder seriöse Mensch, der sich ein wenig mit Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik auskennt, weiß doch, daß die konservativen Zeitungen diesen Kurs unterstützen. Das kann Ihnen nicht passen, wo ist denn die Alternative? Treten Sie doch einmal vor, und nennen Sie eine! Ich jedenfalls kenne keine. ({18}) Wir sind auf dem richtigen Kurs, um die Gestaltungsfähigkeit der Politik wiederzugewinnen. Die nicht gerechtfertigte steuerliche Begünstigung von Lebensversicherungen, soweit sie als reine Kapitalanlage abgeschlossen werden, wird beseitigt. Damit werden reine Kapitalanlagen, die aus steuerlichen Gründen mit dem Mantel einer Lebensversicherung verhüllt werden, anderen Geldanlageformen gleichgestellt nicht mehr und nicht weniger. ({19}) Im übrigen - ich wiederhole mich auch dabei - hatte die abgewählte Regierung eine ähnliche Regelung vorgesehen. Sie hätte aber außerdem noch den Bestand besteuert, was wir nicht machen. Wir wahren den Vertrauensschutz. Das ist der Fall. ({20}) Wenn man sich anhört, wie Sie hier über das Familienförderungsgesetz reden, kommen einem ja die Tränen. ({21}) - Nein. - Herr Waigel wollte aber damals, als die Neuregelung auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes anstand, das Kindergeld für das zweite Kind um 20 DM erhöhen. Gemeinsam mit der Mehrheit der Länder haben wir im Bundesrat einen großen Schritt vollzogen und das Kindergeld auf 250 DM angehoben. Wir setzen diese Politik unverändert fort. Wir brauchten die Ermahnung des Bundesverfassungsgerichts gar nicht, die dann gekommen ist, weil wir schon auf dem richtigen Weg waren. ({22}) Wie haben Sie denn im letzten Herbst diskutiert? Sie waren doch gegen die Anhebung um 30 DM, weil das keine Arbeitsplätze schaffe. Mich würde einmal interessieren - das hat keiner von Ihnen gesagt -, wie Sie sich zu den einzelnen Gesetzen verhalten. ({23}) Das ist eine spannende Frage. Werden Sie dem Familienförderungsgesetz zustimmen? Die Ökosteuer - so habe ich das verstanden - werden Sie wohl ablehnen, weil Sie da den reinen Populismus fortsetzen. Aber warten wir doch einmal ab, wie Sie sich beim Steuerbereinigungsgesetz verhalten. Ich verspreche Ihnen nur folgendes: Intellektuell werden wir es Ihnen nicht einfach machen, Ihren Zickzackkurs vor der Öffentlichkeit zu verschleiern. ({24}) Das Kindergeld wird zum 1. Januar um weitere 20 DM auf 270 DM für die ersten beiden Kinder angehoben. Was ist das denn? Der steuerliche Freibetrag wird auf knapp 10 000 DM erhöht. Eine Familie mit zwei Kindern hat ab dem Jahre 2000 ein steuerfreies Einkommen von knapp 50 000 DM. Von einer solchen steuerlichen Entlastung, die wir hier realisieren, konnten Familien unter der Regierung Kohl nur träumen. ({25}) Im nächsten Akt werden wir uns mit der zweiten Stufe des Familienförderungsgesetzes beschäftigen und die Familien weiter entlasten, möglicherweise auch gerechJoachim Poß ter durch einen Systemwechsel, den der Kollege Müller hier erwähnt hat. Darüber besteht zwischen beiden Fraktionen Übereinstimmung. Denn wir wollen insbesondere den Familien mit kleinen und mittleren Einkommen helfen, die finanziellen Lasten der Kindererziehung besser tragen zu können. Wir werden ebenso die Regelungen bezüglich der Sozialhilfeempfänger noch einmal prüfen. Auch hier gilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. ({26}) - Wissen Sie, wir haben mit zwei Dingen zu tun. Die einen fragen: Was habt ihr bisher denn eigentlich schon zuwege gebracht? Und die anderen sagen: Ihr habt euch da verhaspelt. Da muß man sich schon für eine Linie entscheiden. Wir haben viel angepackt und mußten viel anpacken, weil wir Ihre Erbschaft hatten. Das ist die Wahrheit in der Bundesrepbulik Deutschland. ({27}) Wenn Sie dann mit dem Thema Rente kommen, kann ich nur sagen: Ich verstehe ja den Ärger von Rentnerinnen und Rentnern. Aber es ist eine verlogene Kampagne, die die Union sich erlaubt, wenn man weiß, daß bei Helmut Kohl die Rentensteigerungsrate in 16 Jahren achtmal unterhalb der Preissteigerungsrate lag. ({28}) Sie haben überhaupt kein Recht, eine solche Debatte zu führen. Da bin ich, genau wie bei der Frage der Vermögensbesteuerung, dafür, daß wir hier eine ehrliche Debatte, einen ehrlichen Diskurs führen. Natürlich muß und kann man über Rentenkonzepte kontrovers diskutieren, sowohl innerhalb von Parteien als auch zwischen Parteien. Aber lassen Sie uns diese Diskussion um der Zukunft unserer Gesellschaft willen, unserer Kinder wegen, um das einmal etwas pathetisch zu sagen, nicht auf dem Niveau führen, auf dem Sie diese Debatte führen. So werden Sie unserem Zukunftsprogramm und unserem Ansatz in keinster Weise gerecht. Ein bißchen bessere Gegner hätten wir heute morgen schon erwartet. ({29})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Poß, ich weiß, Sie sind ein leidenschaftlicher und temperamentvoller Redner. Ich möchte aber doch die Empfehlung aussprechen, daß Sie mit Titulierungen wie „Demagoge“ oder „Oberdemagoge“ sehr vorsichtig umgehen. ({0}) Damit erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herrn Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Poß, wenn Sie glauben, auf dem richtigen Wege zu sein, dann muß Ihre Wahrnehmung schon stark getrübt sein. ({0}) Die Steuerdiskussion ist doch in der Tat chaotisch. Ich habe niemals vorher erlebt, daß in der Wirtschaft, bei Handwerkern und Selbständigen die Irritation, die Ratlosigkeit und der Vertrauensverlust bezüglich der politischen Rahmendaten so groß gewesen wären wie zum heutigen Zeitpunkt. Ich bleibe einmal bei dem, was heute vorgelegt wird. Die Wirtschaftsverbände und die Steuerberaterkammern haben in das heute vorgelegte Steuerbereinigungsgesetz teilweise große Hoffnungen gesetzt. Diese werden mit der heutigen Vorlage allesamt enttäuscht. Sie nehmen lediglich die Abzugsbesteuerung bei ausländischen Werkvertragsunternehmen zurück, womit Sie sich ohnehin international blamiert hatten. Ferner hat offenbar der Druck aus der Industrie gereicht, um das Betriebsausgabenabzugsverbot für steuerfreie ausländische Schachteldividenden zu reduzieren. Letztendlich wollen Sie bei den lang laufenden kapitalbildenden Lebensversicherungen Kasse machen, indem Sie diese besteuern, ohne daß Sie dabei auch nur im Ansatz eine Antwort auf die strukturellen Probleme der Rentenversicherung geben würden. Alle unzumutbaren Belastungen für kleine und mittlere Betriebe, die sich jetzt bei der Umsetzung des Steuerentlastungsgesetzes ergeben, haben Sie nicht angepackt und nicht zurückgenommen, trotz teilweise gravierender Fehler. Ich komme darauf an Hand von zwei Beispielen zurück. Es bleibt dabei: Dieses sogenannte Steuerentlastungsgesetz ist und bleibt ein Belastungsgesetz für den Mittelstand. ({1}) Durch die Änderung der Gewinnermittlungsvorschriften kassiert diese Regierung bei den kleinen und mittleren Betrieben auf brutalste Weise ab. Sie entlastet nicht, wie versprochen, sondern sie belastet genau diejenigen, die in den vergangenen Jahren nachweisbar zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen haben. Bei dem ganzen Chaos, das Sie seit Monaten anrichten - auch durch die widersprüchlichen Äußerungen innerhalb Ihrer eigenen Reihen -, fällt mir ohnehin auf, daß Sie kaum mehr von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sprechen. Ihre vollmundigen Versprechungen, alles zu tun, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, spielen zwischenzeitlich offenbar keine Rolle mehr. Bundeskanzler Schröder hat bei seinem Amtsantritt in der Regierungserklärung gesagt, daß er genau daran geJoachim Paß messen werden wolle. Herr Bundeskanzler - er ist jetzt nicht da, aber ich nehme an, es wird ihm übermittelt -, Ihre Zwischenbilanz ist verheerend. Seit Ihrem Amtsantritt im Oktober 1998 ist die Zahl der Arbeitslosen um 135 000 auf mehr als 4 Millionen gestiegen. Das Ganze muß ja vor dem Hintergrund gesehen werden, daß die Arbeitslosigkeit 1998 im Jahresdurchschnitt noch um 400 000 gegenüber 1997 zurückgegangen war. Das aber war noch der Erfolg der alten Regierung unter Bundeskanzler Dr. Kohl. ({2}) Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin nennt 1999 zu Recht ein verlorenes Jahr für die Arbeitslosen. Das Ganze ist aus meiner Sicht aber noch viel schlimmer - Kollege Solms hat es eben kurz angesprochen -: Die Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Institute hat am 27. April 1999 in ihrem „Bericht zur Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft“ ausgeführt - ich zitiere -: Für dieses und das nächste Jahr wird mit einer Abnahme des Erwerbspersonenpotentials um fast eine halbe Million Personen gerechnet ({3}). ({4}) Wenn das nur annähernd stimmt - daran habe ich überhaupt keine Zweifel -, erhebt sich die Frage, wie es mit der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland aussieht. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Rückgang des Erwerbspersonenpotentials lassen darauf schließen, daß wir in Deutschland seit dem Amtsantritt von Schröder 350 000 Beschäftigte weniger haben. ({5}) Ich wollte gestern dieser Frage exakt nachgehen und habe dabei eine erschreckende Feststellung gemacht. Da ich seit Jahren die Arbeitslosen- und Beschäftigtenzahlen monatlich verfolge, habe ich meinen Mitarbeiter gebeten, diese Zahlen, die bis Dezember 1998 bzw. Oktober 1998 vorlagen, durch Rückfragen beim Arbeitsministerium zu vervollständigen. Die Bemühungen waren erfolglos; das Ganze war äußerst enttäuschend und frustrierend. Ich darf Ihnen die Aktennotiz meines Mitarbeiters vorlesen. Er schreibt: Auf meine Bitte, mir die monatlichen Zahlen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ab November 1998 zu nennen, teilte mir Herr Ministerialrat Lepper mit, daß es auf Grund neuer Methoden bei der Datenerfassung und eines differenzierteren Meldeverfahrens seit Jahresbeginn keine Zahlen über die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gibt. ({6}) Die Pressestelle der Bundesanstalt für Arbeit bestätigte diesen Sachverhalt und ergänzte, daß der Präsident, Herr Jagoda, monatlich bei der Bekanntgabe der Arbeitslosenzahlen diesen Mißstand anprangere, da es sich bei den Beschäftigtenzahlen um einen volkswirtschaftlich äußerst relevanten Parameter handele. Meine Damen und Herren, ich habe vermutet, daß das, was ich da hörte, nicht wahr sein kann, ({7}) da die „Wirtschaftswoche“ jeden Monat die „SchröderUhr“ veröffentlicht. Mein Anruf bei einem maßgeblichen Journalisten der „Wirtschaftswoche“ hat dann ergeben, daß auch diese Zeitschrift seit Monaten keine aktuellen Zahlen mehr über die Beschäftigten bekommt und sie bei dieser „Schröder-Uhr“ folglich alte Zahlen einstellen muß. Ich habe dann vergeblich versucht, Herrn Jagoda zu erreichen. Sein Mitarbeiter Herr Hönig hat diese Angaben jedoch meinem Mitarbeiter gegenüber bestätigt und mir das Statement von Herrn Jagoda zur Pressekonferenz vor ein paar Tagen zu den Arbeitsmarktzahlen von August 1999 zukommen lassen. Dort heißt es im zweiten Absatz: Nach wie vor fehlen aktuelle Daten zur Erwerbstätigkeit, weil es wegen der Neugestaltung des Meldeverfahrens zur Sozialversicherung vorübergehend zu Problemen gekommen ist. Jedoch sprechen die Daten zur Personalentwicklung in einzelnen Bereichen - besonders Industrie, Bauwirtschaft und Handwerk -, aber auch die Veränderungen der Arbeitslosigkeit dafür, daß die Zahl der Erwerbstätigen im bisherigen Jahresverlauf nicht weiter gewachsen ist. Meine Damen und Herren, der Präsident drückt sich sehr zurückhaltend aus. Diese Regierung quetscht nicht nur den Mittelstand und die Bauern aus, sorgt nicht nur für Chaos in der Steuer- und Finanzpolitik, vernichtet nicht nur Arbeitsplätze und Existenzen, nein, sie fängt jetzt auch an zu tricksen und zu manipulieren. ({8}) Ich halte es für einen Skandal, daß den Parlamentariern und der Öffentlichkeit solch wichtige volkswirtschaftliche Daten wie die Beschäftigtenzahlen vorenthalten werden. Der kleinste Handwerksbetrieb in Deutschland kann es sich nicht leisten, 10 Monate lang nicht zu wissen, woran er ist, nur weil er seine Datenerfassung auf Computer umgestellt hat. Das kann sich kein solider Betrieb leisten, aber von Solidität kann bei dieser Bundesregierung offenbar keine Rede mehr sein. ({9}) Es muß - ich sage das noch einmal - angenommen werden, daß unter der Regierung Schröder die Zahl der ordentlich Beschäftigten in Deutschland um 350 000 zurückgegangen ist. Ich habe es oft in Bonn gesagt, und ich sage es hier wieder: Herr Bundeskanzler, Herr Eichel, wer wie Sie in Deutschland eine Politik gegen den Mittelstand und gegen die kleinen und mittleren Betriebe betreibt, wird niemals eine Wende auf dem Arbeitsmarkt herbeiführen können! ({10}) Der Unfug mit der Fortführung der Ökosteuerreform und das völlig unzulängliche Steuerbereinigungsgesetz werden diese negative Entwicklung nur noch beschleunigen. Wissen Sie eigentlich noch exakt, was Sie tun? Haben Sie überhaupt ein Stückchen Ahnung von der Praxis? ({11}) Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. In meiner Nachbarschaft hat der 68jährige Besitzer sein Hotelrestaurant, das er mit seiner Frau und seiner Tochter betrieben hat, verkauft, weil die Tochter nicht mehr weitermachen wollte. Er hat bei dem Verkauf einen Erlös in Höhe von 1,8 Millionen DM gehabt. Bei einem Buchwert des veräußerten Anlagevermögens in Höhe von 400 000 DM betrug der Veräußerungsgewinn 1,4 Millionen DM. Darauf muß er exakt 787 000 DM Steuern zahlen. Es verbleiben dem Mann gerade noch 613 000 DM. ({12}) - Sie würden besser zuhören, als andere der Polemik zu bezichtigen, Herr Poß. ({13}) Seine Verbindlichkeiten bei der Bank aus dem Hotelbau betrugen noch 600 000 DM. Es bleiben dem Mann also 13 000 DM übrig. Sie haben diesem Mann mit Ihrer vollen Besteuerung bei Betriebsveräußerungen die Altersversorgung kaputtgemacht. Ich will das sehr deutlich sagen. ({14}) Sie haben alle Hinweise in den Wind geschlagen, dies zurückzunehmen. ({15}) Mein zweites Beispiel: Durch die Abschaffung des Mehrkontenmodells nach § 4 Abs. 4 a Einkommensteuergesetz - Herr Eichel, hören Sie bitte genau zu tritt ein Nebeneffekt ein, der mit dem Mehrkontenmodell überhaupt nichts zu tun hat. Wenn zum Beispiel ein Handwerksmeister über das Kontokorrentkonto eine Maschine für 100 000 DM finanziert, im gleichen Jahr 80 000 DM für sich und seine Familie entnimmt, damit sie leben können, und insgesamt 100 000 DM Gewinn macht, kann er die Schuldzinsen, obwohl das Kontokorrentkonto das ganze Jahr bei minus 100 000 DM stand, zukünftig nicht mehr als Betriebskosten absetzen. Herr Eichel, das kommt einem Entnahmeverbot gleich. Die Finanzierung aller betrieblichen Investitionen einschließlich aller Entnahmen und Einnahmen über das Kontokorrentkonto ist die Regel bei den meisten kleinen und mittleren Betrieben. Obwohl Sie, Herr Eichel, zigmal durch Briefe über diesen Unfug informiert worden sind, ist nichts bei der Bereinigung geändert worden. Durch diese unverständliche Regelung zum Nachteil des Mittelstands werden Hunderttausende von Selbständigen bei der nächsten Steuerprüfung erhebliche Steuernachzahlungen bekommen. Ich kann abschließend nur eines feststellen. Ich will dieser Regierung keine Böswilligkeit unterstellen, aber eines steht für mich fest: Ihr wißt nicht, was Ihr tut. Schönen Dank. ({16})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nun der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben mit unserem Gesetzentwurf heute eine Verstetigung dessen vorgelegt, womit wir im letzten Jahr angefangen haben: die ökologischsoziale Steuerreform. ({0}) Wir steigern damit nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationsfreude unserer Wirtschaft, sondern wir verbessern auch und gerade den Stand der Wirtschaft im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften und leisten einen Beitrag zu einem nachhaltigeren Wirtschaften. ({1}) Wir bemühen uns, die Frage des Klimaschutzes mit einem neuen Schub zu versehen. Die ökologische Steuerreform ist kein Modell zum Abkassieren, sondern das Angebot an Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen, legal Steuern zu sparen, indem durch umweltbewußtes Verhalten der Energieverbrauch eingeschränkt und damit der Schadstoffausstoß verringert wird. ({2}) Mit der Verstetigung, die wir heute vorlegen, korrigieren wir eine dramatische Fehlentwicklung, die Sie zu verantworten haben. ({3}) Das Aufkommen aus Steuern und Abgaben, aufgegliedert nach verschiedenen Faktoren, lag in den 70er Jahren und noch Ende der 80er Jahre, bezogen auf das Gesamtsteueraufkommen, deutlich unter 60 Prozent, nämlich bei 54 Prozent, das Steueraufkommen aus dem Umweltbereich bei 7 Prozent. Als Sie die Regierung verlassen haben, lag der Anteil, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Steuern und Sozialabgaben am Gesamtsteueraufkommen zu erbringen hatten, inzwischen bei zwei Dritteln, bei 66 Prozent. Die rotgrüne Koalition ist darangegangen, diese soziale Schieflage zu korrigieren. Zugleich leiteten Sie eine katastrophale ökologische Entwicklung ein. Als alle von Ressourceneffizienz sowie davon sprachen, tatsächlich weniger Schadstoffe auszustoßen und weniger Energie zu verbrauchen, ist als Ergebnis Ihrer Steuerpolitik folgendes übrig geblieben: Der Anteil des Aufkommens an Umweltabgaben ist auf knapp 5 Prozent gesunken. Wenn ich höre, daß die ökologische Steuerreform eine Steuererhöhung sei, dann sage ich ganz ruhig: Nein, meine Damen und Herren, hier geht es nicht um mehr Steuern, sondern um Umsteuern. Als Ergebnis dieses Prozesses wird im Jahre 2003 die Steuerbelastung aus dem Faktor Arbeit um 2 Prozentpunkte gesenkt und die Steuerbelastung aus Abgaben aus dem Faktor Umwelt wieder um 2 Prozentpunkte erhöht worden sein. ({4}) Zu einer ökologisch-sozialen Steuerreform gehört das möchte ich gleich im Zusammenhang mit den Äußerungen einiger Kollegen sagen - Stetigkeit. Man kauft nicht an jedem Tag ein neues Auto oder einen neuen Fernseher, Unternehmen investieren nicht an jedem Tag neu. Es muß also ein Stück Berechenbarkeit bei Investitionen gegeben sein, und es muß klar sein, ob es sich lohnt, beispielsweise bei der Neuanschaffung eines Pkw auf ein verbrauchsärmeres, energieeffizienteres Modell zu setzen, oder ob bei Investitionen in Betrieben Energiespartechniken bevorzugt eingeführt werden. Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf schaffen wir Berechenbarkeit für Unternehmen, aber auch und gerade Berechenbarkeit für private Konsumentinnen und Konsumenten. ({5}) Herr Glos hat vorhin gesagt, die 30 Pfennige seien aber ein Skandal. ({6}) Mit Gregor Gysi hat er einen prominenten Fürsprecher; „Seit' an Seit'“ könnten sie auch in der Autofahrerpartei streiten. ({7}) Aber es gibt einen Unterschied zu Herrn Gysi, meine Damen und Herren von der CSU: Herr Gysi hat da eine saubere Weste, Sie nicht. ({8}) Sie haben 1987, 1988, 1989, 1991, 1992 und 1994 die Mineralölsteuer erhöht, und zwar teilweise um Sätze von jährlich 14 bis 22 Prozent. Der Unterschied zu dieser Koalition ist: Sie haben diese Einnahmen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht zurückgegeben, sondern sie für Ihre Haushaltssanierung mißbraucht. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Trittin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Bulling-Schröter?

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Bitte. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Minister Trittin, Sie haben über die Einsparpotentiale gesprochen. Mich interessiert, wo Sie die Einsparpotentiale bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sehen. Wo sehen Sie die Einsparpotentiale bei der Industrie, die momentan von der Ökosteuerbelastung weitgehend ausgenommen ist?

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Meine liebe Kollegin, Sie wissen als Umweltpolitikerin sehr genau: Für die Beantwortung der Frage nach der Belastung durch die Ökosteuer gibt es - aus diesem Grunde konnte Kollege Müller die Frage der Kollegin Lenke nicht mit der von ihm bekannten Präzision beantworten keine statistische Grundlage, weil die Belastung vom subjektiven Verhalten des einzelnen abhängt. Wir geben den Menschen die Mündigkeit zurück, indem sie selbst entscheiden können, in welcher Höhe die Steuer sie trifft. ({0}) - Lachen Sie nicht! Ich kann Ihnen an einem ganz einfachen Beispiel vorführen, wie Sie Ihre Stromrechnung unabhängig von der Liberalisierung auf diesem Markt um 10 Prozent reduzieren können: Vermeiden Sie Stand-by-Schaltung Ihrer Elektrogeräte, dadurch können Sie 11 Prozent des Stromverbrauchs einsparen. Sie können mir nicht erzählen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß solch einfache Maßnahmen Arbeitslosen und anderen verwehrt sind. Ich will noch eine zweite Argumentation aufgreifen. Mir kommen immer die Tränen in die Augen, wenn ich den geschätzten Fraktionsvorsitzenden Gysi über die Höhe der Benzinpreise in diesem Land reden höre. Wenn wir schon von Ehrlichkeit an dieser Stelle reden, dann gehört das Erwähnen der Tatsache dazu, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Benzinpreise ein Niveau haben, das die niederländische Regierung dazu gebracht hat, Tankstellen in Grenznähe zu subventionieren, weil nämlich die Niederländer zum Tanken in die Bundesrepublik Deutschland gefahren sind. Mit dem Einstieg in eine ökologisch-soziale Steuerreform haben wir im europäischen Konzert einen Gleichklang erreicht. Ich will auf zwei Punkte eingehen, die bei dieser ökologisch-sozialen Steuerreform für mich von großer Bedeutung sind. Durch diese Steuerreform werden wir bei der Einführung schwefelarmer Kraftstoffe in Europa weit vor dem europäischen Durchschnitt liegen. Wir werden nicht erst 2005, sondern bereits 2001- das erlaubt die Konstruktion und Nutzung sehr verbrauchseffektiver Motoren - schadstoffarmes Benzin mit einem Schwefelanteil von 50 ppm einführen. Wir werden einen noch niedrigeren Wert, nämlich 10 ppm, bereits 2003 erBundesminister Jürgen Trittin reichen. Wir können heute auf diese Weise Fahrzeuge auf den Markt bringen, die zwischen 10 und 25 Prozent des heutigen Verbrauchs einsparen. Schließlich sorgen wir mit der ökologisch-sozialen Steuerreform für ein Stück Wettbewerbsgleichheit auf dem Energiemarkt. Ich kann nicht mit ansehen, daß auf einem liberalisierten Strommarkt das Rückgrat der Energieversorgung der Zukunft, nämlich hocheffiziente Gas- und Dampfkraftwerke, im Vergleich zu anderen Energieträgern durch die Besteuerung des Primärenergieeinsatzes benachteiligt wird. Die nun durchzuführende Steuerfreistellung von GuD-Kraftwerken, ähnlich der von KraftWärme-Kopplungsanlagen, sorgt hier für Wettbewerbsgerechtigkeit und -gleichheit. ({1}) Wettbewerbsgerechtigkeit und -gleichheit für diese Energieversorgung brauchen wir dringend; denn wir können nicht mit ansehen, wie moderne Kraft-WärmeKopplungsanlagen und moderne GuD-Kraftwerke teilweise nicht gebaut und teilweise sogar stillgelegt werden, weil sie mit abgeschriebenen Altanlagen, deren Stillegungszeitpunkt - unabhängig von allen Debatten um die Atomenergie - absehbar ist, nicht mehr konkurrieren können. Wer dieser Entwicklung tatenlos zusehen würde, der würde in der Tat dann die Verantwortung dafür tragen, daß die Bundesrepublik Deutschland von einem Land, in dem Energie nicht nur konsumiert und gehandelt, sondern auch produziert wird, zu einem reinen Stromhandelsland absinken würde. Dies kann und darf nicht sein, und deswegen haben wir hier entsprechende Regelungen im Rahmen dieser ökologischsozialen Steuerreform vorgesehen. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn ich mir die ersten Debatten um die ökologisch-soziale Steuerreform auch vor dem Hintergrund des Beitrages des Kollegen Solms hier anhöre, dann muß ich doch ein gewisses Erstaunen an den Tag legen. ({3}) - Meinen Glückwunsch! - Sie haben sich den „Stern“ offensichtlich zu Herzen genommen. ({4}) Meine Damen und Herren, es ist ja prophezeit worden, daß die ökologisch-soziale Steuerreform Nachteile bringen würde. Das Gegenteil ist richtig: Die ökologisch-soziale Steuerreform verbessert die Standortbedingungen, und das ist offensichtlich eine Lehre, die in ganz Europa verstanden wird. Nicht nur in den skandinavischen Ländern, sondern auch in Großbritannien und anderen Ländern wie Italien hat inzwischen die Lehre um sich gegriffen: Wer Energie spart, schont die Umwelt; wer Energie spart, der spart dann auch Steuern. Die Einnahmen aber können benutzt werden, um den Faktor Arbeit zu verbilligen und so einen Schritt hin zu mehr Beschäftigung zu tun. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Klaus Lippold. ({0})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Ökosteuergesetz ist absolut untauglich. Herr Trittin weiß das, und Herr Trittin hat deshalb so über die soziale Komponente gesprochen, falsch und unrichtig, weil er auf den ökologischen Lenkungsansatz nicht eingegangen ist. Er läßt wissenschaftliche Aufträge in diesem Bereich vergeben und erhält durch die Gutachten bestätigt - das ist eine schallende Ohrfeige -, wie untauglich seine Reform ist. Darauf aufbauend läßt er bereits die Reform der Reform machen, nämlich ein neues Steuergesetz in Planung, an das er anknüpfen will. Und dann stellt er sich hier hin und spricht von Stetigkeit und spricht von Berechenbarkeit! Herr Eichel, es ist, ehrlich gesagt, eine schallende Ohrfeige für Sie: ({0}) Sie dürfen das Ökosteuergesetz jetzt hier einbringen, begründen, vertreten, und er denkt über eine neue Reform nach, läßt das wissenschaftlich begründen, und dann sagt er hier nichts. Dann bringen Sie doch die Gesamtheit dessen, was Sie wissen, hier in die Diskussion ein! Dazu gehört, daß Ihnen Ihre Wissenschaftler die Untauglichkeit bescheinigen. ({1}) Ich kann zitieren, Herr Trittin: Andere Ziele als umweltpolitische Ziele gewinnen die Oberhand. Umweltpolitische Lenkungsaufgaben werden falsch gestellt. - Das sagt Ihr Gutachter! Wenn das umweltpolitische Ziel nicht völlig aus den Augen verloren werden soll, müssen andere Weichenstellungen erfolgen. - Ihr Gutachter! Anreizfunktionen werden weitgehend ausgehebelt. - Ihr Gutachter! Herr Eichel, das müssen Sie sich sagen lassen: Der im Gesetz angelegte und im neuesten Entwurf des Bundesfinanzministers auch formal beschrittene Weg ist in doppelter Hinsicht zum Scheitern verurteilt. Die gegenwärtige Konstruktion des Ökosteuergesetzes wird sich daher weder mit Blick auf die EU noch binnenwirtschaftspolitisch aufrechterhalten lassen. Das, Herr Trittin, müssen Sie hier im Parlament zu den von Ihnen genannten Konstruktionen einbringen, nicht aber sich hier hinstellen und sagen, das sei ökologisch, das sei sozial. Es ist weder ökologisch noch sozial. Ihre Leute wissen das, und Sie enthalten uns das vor. Wir werden das mit Ihnen diskutieren. So lassen wir diese Reform nicht durchgehen. ({2}) Herr Eichel, ich verstehe ja: Der Bundeskanzler ist schon gewohnt, daß er von diesem Minister fortlaufend ans Schienenbein getreten wird, aber Sie sollten doch wenigstens noch die Sensibilität haben, um zu wissen, daß man so nicht mit sich umspringen läßt. ({3}) Das ist im Grunde genommen nicht mein Problem, sondern es ist Ihr Problem.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Matschie?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, im Moment nicht. Wir müssen die ganze Schande mal aufgreifen. ({0}) Da er ja weiß, wie schwierig das Ganze ist, läßt er seinen Experten das dänische Modell der Energiebesteuerung prüfen. Dabei geht es um eine weitere Ökosteuererhöhung, Herr Trittin. Das muß man ja auch einmal sagen. Von dem Aufkommen dieser weiteren Energiesteuererhöhung geben Sie dann gnädig den Unternehmen, die ein Energieaudit machen, etwas zurück nicht alles, sondern nur etwas. Das geschieht mit einem ungeheueren bürokratischen Aufwand. Das ist ja der reine Lustgewinn für die Beratungsagenturen, aber das bedeutet den Tod für den Mittelstand, dem Sie damit eine weitere Schlinge um den Hals legen. Denn diese Bürokratie ist nicht weiter zu ertragen. ({1}) Davon sagen Sie hier nichts. Zu dem gesamten Schwachsinn, den Sie veranstalten, ({2}) sagt der Rechtsexperte: An meinen formalverfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber diesem Gesetz halte ich ebenso fest wie an den materialverfassungsrechtlichen Bedenken. - Damit sind die Bedenken zum Reformmodell des Reformmodells gemeint. Das heißt, auch darin ist schon das Scheitern angelegt. Es ist also nicht nur das falsch, was jetzt diskutiert wird, sondern auch das, was daran anschließen soll. Auch das wird mit verfassungsrechtlichen Fragezeichen versehen. Im übrigen lobt derselbe Gutachter unser Modell der Selbstverpflichtung als die bessere Alternative, weil es adäquat und angepaßt ist und keine Überregulierung bedeutet. Das sind die Positionen. Deshalb sage ich Ihnen, Herr Loske, da Sie etwas zur Selbstverpflichtung in dem sogenannten Realo-Papier ausgeführt haben: Ich bin einmal gespannt, ob Sie dazu auch stehen, ob das wirklich nicht nur eine wahltaktische Geschichte war. Sie hatten das ja rechtzeitig vor den Brandenburger Wahlen vorgelegt, und Sie wollten damit ein Stück Unionspolitik kopieren. Das ist Ihnen fast gelungen, aber nicht ganz. Es reicht nicht, wenn Sie das einfach nur formal kopieren; Sie müssen auch die Inhalte übernehmen und hier im Parlament vertreten. Das sollten Sie tun. Das ist nicht alles. ({3}) Auch das Umweltbundesamt übt ja Kritik - wenn auch indirekt - an der Ökopolitik dieser Regierung und schlägt ein neueres, breiteres Modell vor. Weitere Steuererhöhungen werden vorgeschlagen, etwa 1 DM für das Benzin, und zwar sowohl für Diesel wie für das andere. Die Abwasserabgabe kommt vor. Weitere Abgaben werden genannt. Es ist ein Paket, dessen Umfang in kurzer Zeit - das kann man hochrechnen - zusätzliche 150 Milliarden DM erreichen wird. Damit ist nicht die jetzige Ökosteuerreform gemeint; das ist das, was das UBA zusätzlich vorschlägt. Dies, Herr Trittin, stellen Sie alles unter das Stichwort „Berechenbarkeit“: drei Vorschläge zur gleichen Zeit! Stichwort „Stetigkeit“: drei Vorschläge zur gleichen Zeit! Ja, das Chaos ist perfekt. Legen Sie uns doch einmal dar, wo Ihre eigentliche Linie ist. Herr Loske, wenn Sie wirklich zu dem stehen, was Sie gesagt haben, nämlich: „Bürokratie weg“, dann haben Sie jetzt eine Lebensaufgabe vor sich, und zwar mit Ihrem eigenen Minister. Nur so könnten Sie dies einigermaßen in den Griff bekommen. ({4}) Ich will Ihnen noch etwas anderes sagen. Das ist in dieser UBA-Presseerklärung noch schöner angelegt. Mich wundert eigentlich, daß Sie sie so einfach haben herausgehen lassen. Das ist schon erstaunlich. ({5}) - Herr Loske, hören Sie erst zu! Dort steht: Mit diesen 150 Milliarden lassen sich bestimmte Minderungen - dann werden Prozentsätze von drei bis 15 Prozent genannt - bei Schadstoffen erreichen. Aber das Entscheidende ist doch: Sie wissen gar nicht, ob das wirklich so ist. Dort steht, Sie erwarteten eine Verringerung der Umweltbelastung, und dann kommt hinterher der Satz: Das sind Schätzwerte, die Dr. Klaus W. Lippold ({6}) mit erheblichen Unsicherheiten verbunden sind. Das heißt: keine Lenkungsgenauigkeit, zusätzliches Abkassieren, und Sie wissen hinterher noch nicht einmal, ob die ökologische Lenkungsfunktion überhaupt erfüllt wird. Was Sie hier vorführen ist ein Fiasko, wie man es noch nicht erlebt hat. ({7}) Dann hat Herr Trittin auch von einer sozialen Komponente gesprochen. Das hat man bei ihm zwar nicht so oft gehört. ({8}) - Wenn er das jetzt nicht hört, dann bekommt er es schon noch gesagt. ({9}) In der UBA-Presseerklärung steht wörtlich zu den Maßnahmen, die Sie vorschlagen: Relativ am stärksten zu ihrem Einkommen werden die unteren Einkommensgruppen belastet. - Das ist in Ihren Augen sozial! Ich gratuliere! Teure Anzüge tragen, teure Zigaretten rauchen und die unteren Einkommensgruppen am stärksten belasten - das ist es, was wir von Ihnen zu erwarten haben. ({10}) Nein, meine Damen und Herren, so kommen Sie nicht davon. Was sagt der Chef der Bahn? Sie sagen doch immer: Der Bahnverkehr ist ökologisch günstig. Mit Ihren Ökosteuervorstellungen - hat er gesagt - kann er keine Bahnreform machen, eine Reform, die die Schiene wettbewerbsfähig erhält und neue Investitionen zuläßt. Das heißt also, das ökologische Verkehrsmittel, das Sie propagieren, wird genau durch Ihre Maßnahmen blockiert. Es ist also auch in diesem Bereich nichts mit Ökologie. Ich sage ganz offen: Es ist erstaunlich, wieviel Unfug Sie in kürzester Zeit zusammentragen, diesem Haus präsentieren, und daß Sie dann noch hoffen, daß wir Ihnen das durchgehen lassen. Das können Sie innerhalb Ihrer eigenen Truppe so halten - die glauben Ihnen das vielleicht, wenigstens für eine kurze Zeit -, aber machen Sie das nicht mit dieser Opposition. Wir werden das in den Ausschußberatungen anmahnen; darauf können Sie sich verlassen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe für die SPD-Fraktion dem Kollegen Ernst Ulrich von Weizsäcker das Wort.

Dr. Ernst Ulrich Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem Buch des leider gegenwärtig abwesenden Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Herrn Dr. Wolfgang Schäuble, ({0}) habe ich 1994 den, wie ich empfand, richtungsweisenden Satz gelesen: Ökonomisch wie ökologisch sinnvoller wäre es, im Mix der Produktionsfaktoren menschliche Arbeit billiger und im Gegenzug den Verbrauch von Rohstoffen und Energie teurer zu machen. ({1}) Im Dezember 1995 haben 17 Abgeordnete - signifikanterweise junge Abgeordnete - von CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Grünen zum Klimaschutz durch eine ökologische Umgestaltung des Steuersystems aufgerufen. ({2}) Wenige Wochen zuvor hatte die damalige F.D.P.-Spitze nachdrücklich die EU-weite Einführung eines ökologischen Steuerkonzepts gefordert. Wörtlich hieß es dazu: Wir sind jedoch bereit, auf nationaler Ebene mit gutem Beispiel voranzugehen. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Der Grundgedanke der ökologischen Steuerreform ist parteiübergreifend akzeptiert. ({3}) An der Ausgestaltung aber scheiden sich, wie es in der Politik nicht unüblich ist, die Geister. ({4}) In der Debatte zum Einstieg in die ökologische Steuerreform habe ich im März dieses Jahres eingeräumt, daß eine einmalige Veränderung des Preisgefüges zwischen Energie und Arbeit weder eine große ökologische Lenkungswirkung hat noch ein bedeutendes Signal für den Arbeitsmarkt sein kann; das wissen wir alle. Also haben wir die langfristige Fortsetzung über die Legislaturperiode hinaus als notwendig bezeichnet. Eben deshalb habe ich in dieser Frage für einen parteiübergreifenden Konsens plädiert. Unser heutiger Gesetzentwurf soll als Signal in diese Richtung verstanden werden. Wir suchen und schaffen im Rahmen unserer politischen Handlungsmöglichkeiten Planungssicherheit für Unternehmen und Bürger. Die vorgesehenen Preissteigerungen bei Kraftstoffen und bei Strom bis 2003 sind verkraftbar. Sozial verkraftbar sind sie im Rahmen einer Steuerentlastungspolitik, die wir für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen ja betreiben. Wirtschaftlich verkraftbar sind sie insbesondere in einer Phase generell sinkender Strompreise. Dennoch gibt unser Reformpaket durch seine langfristige Ausrichtung ein klares Signal in Dr. Klaus W. Lippold ({5}) Richtung Verhaltensveränderung beim Verbrauch und Technologieentwicklung. In einer seriösen neuen Studie zweier Institute, die der Kollege Lippold soeben angesprochen hat, wird zugegebenermaßen eingewandt, daß für eine deutliche ökologische Lenkungswirkung noch wesentlich höhere Steuersätze, als sie von uns vorgeschlagen werden, wünschenswert wären. Aber es wird auch ganz klar die Devise „Langfristigkeit und Stetigkeit vor Höhe“ vertreten. Langfristigkeit und Stetigkeit bekommen wir aber nicht durch brutale Steuersätze. ({6}) Und genau das ist der Grund, weshalb wir sozialpolitisch Konzessionen machen, die um der Langfristigkeit willen dann auch ökologisch die bessere Alternative sind. ({7}) Wir sind uns natürlich über eines im klaren: Gerade weil wir diese Konzessionen machen müssen, wird die ökologische Steuerreform alleine die notwendigen ökologischen Veränderungen nicht herbeiführen. ({8}) Sie ist Bestandteil eines größeren Pakets. Ich würde lieber sagen: Sie soll langfristig eine Art Grundton der Melodie sein, der dann tagespolitische Obertöne aufgesetzt werden können. ({9}) Herr Lippold, dazu gehören selbstverständlich auch die freiwilligen Vereinbarungen. Die sind aber, der Natur solcher Vereinbarungen entsprechend, immer nur ein paar Jahre gültig. Mehr wäre von der Wirtschaft nicht zu verlangen. Auch der jetzt eingeführte Oberton einer Differenzierung nach Schadstoffgehalten beim Benzin - übrigens ein Gedanke aus einem CDU-geführten Bundesland - ist von uns mit aufgenommen worden. Das ist aber nur ein Oberton. Wir erwarten von dieser Besteuerung kein sonderlich berückendes zusätzliches Einkommen für den Staat. Aber das, was wir jetzt beschließen, wird in der Gesamtheit ausreichen, um, wie Minister Trittin gesagt hat, die Rentenbeiträge noch einmal um insgesamt 1 Prozentpunkt zu senken. Kollege Solms hat aber vollständig recht, wenn er darauf hinweist, daß allein über diesen Weg die Kalamität im Bereich der Rentenfinanzierung nicht gelöst werden kann. Es kommt also darauf an, daß gerade wir Umweltpolitiker mit daran arbeiten, daß diese Kalamität mit Hilfe von zusätzlichen Maßnahmen beseitigt bzw. bearbeitet wird. ({10}) Auch dabei sind wir selbstverständlich auf einen parteiübergreifenden Konsens angewiesen. Ich vernehme mit großem Interesse die neuen Töne nach den letzten Landtagswahlen, die dahin gehen, daß man seitens der Bundestagsopposition keine Obstruktion betreiben will. Da müssen wir sie beim Wort nehmen. ({11}) Wir müssen im Interesse der Gesamtgesellschaft, der Umwelt und insbesondere der Jugend eine langfristige, stabile Politik hinbekommen. Das verlangt an einigen zentralen Punkten, die ich die Grundmelodie genannt habe, einen parteiübergreifenden Konsens. ({12}) Wir haben deswegen ein Konzept vorgelegt, welches über die Grenze der Legislaturperiode hinausgeht. Das ist für die Planungssicherheit wichtig. Es wäre für uns alle sehr wünschenswert, wenn sich dieses Hohe Haus über diese für den Generationenvertrag entscheidende Frage nicht weiter zerstreiten würde. Vielen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Reinhard Loske.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin an und für sich ein großer Freund der Holzarchitektur. Aber heute bin ich froh, daß wir hier mehr Stein und Beton haben; denn die Balken hätten sich angesichts dessen, was uns die Opposition hier geboten hat, gebogen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. ({0}) Herr Kollege Lippold, ich möchte den Begriff der Glaubwürdigkeit ins Zentrum rücken und feststellen: Es ist völlig unglaubwürdig, was Sie hier tun. Auf der einen Seite singt Kollege Rauen das Lied vom Niedergang des Standortes Deutschland durch die ökologische Steuerreform und tut so, als ob die gesamte Wirtschaft kollabierte. Auf der anderen Seite zitieren Sie Studien, die besagen, die ökologische Steuerreform gehe nicht weit genug. Dies ist in vielen Punkten sicherlich richtig; aber von der Tendenz her wird uns ja zugestimmt. Das heißt, Sie können nicht beides feststellen. Entweder kollabiert der Standort, oder diese Reform geht nicht weit genug. An die Regeln der Logik sollten auch Sie sich halten. ({1}) Genauso unschlüssig ist Ihr Vorgehen in folgendem Bereich: Auf der einen Seite werfen Sie Herrn Trittin vor, daß er einen bürokratischen Moloch herstellt. Das stimmt objektiv nicht. Jeder, der genau hinschaut, kann das erkennen. Auf der anderen Seite verlangen Sie tausenderlei Ausnahmeregelungen, die in der Tat einen bürokratischen Moloch erzeugen würden. Auch das ist total unglaubwürdig. ({2}) Ein weiterer Punkt bei der Opposition, den ich wirklich noch einmal ansprechen muß: Sie sehen immer nur die eine Seite der Medaille. In Wahrheit wissen Sie es natürlich besser, stellen aber immer nur die eine Seite der Medaille in den Raum. Denn Sie betonen immer nur die Erhöhung der Energiepreise. Sie wissen doch ganz genau, daß die Schritte, die wir über die Legislaturperiode hinaus bis zum Jahr 2003 festgelegt haben - viermal sechs Pfennig beim Sprit und viermal einen halben Pfennig bei der Stromsteuer -, eine Entsprechung haben. Diese Entsprechung heißt: Absenkung der Lohnnebenkosten. Das ist doch das, was wir uns immer gemeinsam vorgenommen haben; das ist das Entscheidende. Die Rentenversicherungsbeiträge sind zum 1. April bereits von 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent gesunken. Bis 2003 werden sie um insgesamt knapp zwei Prozentpunkte sinken. Das enthebt uns nicht der Verpflichtung - das hat der Kollege von Weizsäcker vollkommen zu Recht gesagt -, eine vernünftige Rentenreform zu machen. Es ist aber ein Beitrag zur Lösung dieser Problematik. ({3}) Wenn ich dann diese Horrorszenarien erlebe! Ich weiß nicht, ob der Kollege Austermann jetzt im Saal ist - ich sehe ihn gerade nicht -, aber er hat gestern wieder eine Presseerklärung herausgegeben, bei der sich die Balken wirklich gebogen hätten; wahrscheinlich wären sie sogar gesprungen. Kollege Austermann behauptet, die ökologische Steuerreform würde dem Bund jährlich 19 Milliarden DM in die Kasse spülen. Wenn wir so viel Geld für die Entlastung des Haushalts hätten, dann wäre uns Hans Eichel sicher dankbar. Es ist aber nicht so, denn das Geld fließt in die sozialen Sicherungssysteme und zu einem kleinen Teil in die Förderung erneuerbarer Energien. Das wissen Sie ganz genau. ({4}) Hören Sie doch mit solchen Märchen auf! ({5}) Zum nächsten Punkt. Für uns Grüne - das sage ich als umweltpolitischer Sprecher meiner Fraktion - steht die ökologische Lenkungswirkung der Ökosteuer natürlich im Mittelpunkt. Das ist völlig klar. Herr Lippold, Sie haben das angemahnt. Ich will die Punkte im einzelnen nennen: Die Kraft-Wärme-Kopplung wird gezielt gefördert. Wenn Wirkungsgrade von über 70 Prozent erreicht werden, wird sie von der Mineralölsteuer freigestellt. Das war bei Ihnen nicht so. Die kleinen Blockheizkraftwerke - ganz wichtig für die dezentrale Energieerzeugung - werden sowohl von der Mineralölsteuer als auch von der Stromsteuer freigestellt und erhalten dadurch einen ganz klaren Wettbewerbsvorteil. Auch das ist gut so. Die modernen Gas- und Dampfturbinenkraftwerke werden bessergestellt. Das Erdgas im Verkehrsbereich wird für zehn weitere Jahre privilegiert, was für die öffentlichen Busflotten und auch für die gewerblichen Flotten ganz wichtig ist. Die schwefelarmen Kraftstoffe werden vier Jahre eher eingeführt, als das bei Ihnen der Fall gewesen wäre. Schließlich haben wir ein Förderprogramm für erneuerbare Energien in Höhe von 200 Millionen DM jährlich. Das alles läßt sich vorzeigen; das alles ist ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutzprogramm. ({6}) Zu meinem letzten Punkt. Kollege Gysi ist leider nicht mehr da. Es geht um die soziale Komponente. ({7}) Dazu muß man doch die Gesamtschau anstellen. Ich muß sagen, dieser blanke Populismus geht mir langsam auf den Geist. ({8}) Man muß das Steuerpaket also in der Gesamtschau betrachten, und dann ist die soziale Komponente sehr wohl ausgewogen. Ich darf vielleicht darauf hinweisen - als Ökologe sehe ich das durchaus mit einem weinenden Auge -, daß wir uns im Moment in einem Umfeld stark sinkender Strompreise bewegen. Das, was wir durch die ökologische Steuerreform auf den Strompreis draufpacken, reicht möglicherweise gar nicht aus, um dieses Absinken zu kompensieren. Damit werden wir uns noch beschäftigen müssen. Wir alle wollen ja den Wettbewerb. Gott sei es gedankt: Die Monopolrenten schmelzen ab. Wenn das aber im Gegenzug dazu führte, daß Energiesparaktivitäten praktisch eingestellt werden, wäre das ökologisch verheerend. ({9}) Ich komme zum Schluß. Ich glaube, das, was wir obwohl bekannt ist, daß wir Grünen durchaus gewillt gewesen wären, in diesem Punkt noch ein bißchen weiter zu gehen - guten Gewissens vorzeigen können, ist zunächst das, was von Weizsäcker gesagt hat, nämlich die Verstetigungsperspektive. Wir alle wissen nun: Auf diese Sache kann man sich verlassen; sie bekommt eine Perspektive, und zwar auch über die Legislaturperiode hinaus. Das ist ein Mut, den ich mir in der Vergangenheit manchmal auch bei Ihnen gewünscht hätte. ({10}) Zudem kommen wir von der hechelnden Kurzatmigkeit weg, mit der Sie sozusagen je nach Kassenlage die Mineralölsteuer erhöht haben. Heute wissen die Leute es; sie können sich darauf verlassen. ({11}) Noch eines: Für das Erreichen des Klimaschutzziels, das wir uns mit der CO2-Reduktion um 25 Prozent bis zum Jahre 2005 gesetzt haben - das sind nur noch sechs Jahre, und wir haben mit 13 Prozent die Hälfte der Wegstrecke erreicht, dennoch ist noch ein ganzes Stück zu gehen -, brauchen wir in der Tat mehr Maßnahmen als nur die ökologische Steuerreform. Dabei ist zweierlei besonders wichtig. Erstens müssen wir uns im Raumwärmebereich etwas ausdenken, denn wir haben in den nächsten Schritten Öl und Erdgas von der Besteuerung ausgenommen. Es muß etwas anderes kommen. Die Energiesparverordnung muß dafür sorgen, daß auch im Gebäudebestand wirklich gespart wird. Zweitens haben wir die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes als große Aufgabe vor uns. Sie sehen also, wir haben für den Klimaschutz noch genug zu tun. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Unterstützung für unser Gesetz. Danke schön. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als nächste spricht die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis.

Dr. Edith Niehuis (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001609

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute reden wir über den Entwurf des Familienförderungsgesetzes, den die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben. Familienpolitik ist ein wichtiges Herzstück moderner Gesellschaftspolitik. Damit Sie von der CDU/ CSU jetzt nicht wieder auf die Idee verfallen, hier platte Oppositionspolitik zu machen, will ich Ihnen gleich vorweg sagen: In Ihrer Regierungszeit hat die Familienpolitik nur so vor sich hergedümpelt. ({0}) - Herr Merz, bleiben Sie ganz ruhig. Sie brauchen mich überhaupt nicht, um eine kritische Bilanz über die Familienpolitik der Kohl-Regierung zu ziehen. Das kann man mittlerweile von Leuten aus Ihren eigenen Reihen lang und breit lesen. ({1}) Sie können bei dem CDU-Landesvorsitzenden in NRW nachfragen, was er über die Familienpolitik der Kohl-Regierung sagt. ({2}) Sie können auch bei der Generalsekretärin der CDU nachfragen, was sie überall über die alte Familienpolitik sagt. Noch heute habe ich in einer dpa-Meldung gelesen, daß sie in der „Mitteldeutschen Zeitung“ gesagt hat, in der Familienpolitik habe die Partei Defizite. Sie führt das auch näher aus. ({3}) Im Kern trifft Sie der Vorwurf, daß Sie nicht bereit gewesen sind, die Lebenswirklichkeit von Familien wahrzunehmen, daß Sie nicht bereit gewesen sind, zu sehen, daß es mittlerweile viele Formen von Familien gibt, und daß Sie auch nicht bereit gewesen sind, das Rollenverständnis der Frauen, der Mütter, der erwerbstätigen Mütter ernsthaft in Ihre Familienpolitik einzubeziehen. ({4}) Sie sind - lassen Sie mich das ganz freundschaftlich sagen - auch jetzt nicht auf einem guten Weg, wenn in Ihren Reihen das Erziehungsgehalt intensiv diskutiert wird. Meine Damen und Herren, das Erziehungsgehalt wäre ein familienpolitischer Rückschritt, würde zu einer erneuten Polarisierung der Geschlechterrollen in der Familie führen und letztendlich erneut die Frauen in den Familien benachteiligen. ({5}) Wir haben aber Grund genug, auch über die materielle Situation von Familien zu reden, was wir heute tun. Wie erging es denn den Familien unter den Familienministerinnen und den Finanzministern der CDU/CSU? Das Bundesverfassungsgericht verkündete ein Urteil nach dem anderen und mahnte einen deutlich verbesserten Familienlastenausgleich an. Es war schon bemerkenswert, wie taub sich die alte Bundesregierung gegenüber diesen Verfassungsgerichtsurteilen gestellt hat. Wer weiß denn noch, daß das Kindergeld für das erste Kind 1995 gerade einmal 70 DM mit der Folge betrug, daß die Gutverdienenden auf Grund des vorherrschenden Kinderfreibetrags für ihr Kind vom Staat weitaus mehr bekamen als die Gering- und Normalverdienenden? ({6}) Wir alle wissen - das wurde heute auch schon gesagt -, daß es einer erheblichen Einflußnahme seitens der SPD-Mehrheit im Bundesrat bedurfte, um das Kindergeld 1996 auf 200 DM und 1997 auf 220 DM für das erste und das zweite Kind anzuheben. Nach langer Zeit zog damals, vor zwei Jahren, so etwas wie soziale Gerechtigkeit wieder in die Familienpolitik ein. ({7}) Aber 250 DM Kindergeld konnten wir als Opposition bei Ihnen nicht durchsetzen. Dazu brauchte es in der Tat den Regierungswechsel. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Parlamentarische Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schenk?

Dr. Edith Niehuis (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001609

Ja, bitte.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben kritisiert, daß die Politik der alten Bundesregierung in Sachen Familienförderung so zu charakterisieren ist, daß insbesondere die Besserverdienenden davon einen Vorteil hatten. Sind Sie bereit einzuräumen, daß sich mit dem heute vorliegenden Vorschlag daran nichts Wesentliches ändert? Ab einem Einkommen in Höhe von 50 000 DM für Einzelpersonen oder 100 000 DM für Ehepaare ist der Ertrag aus der Steuerersparnis höher als das Kindergeld. Im Prinzip ist dies also nichts anderes als das, was wir vorher hatten.

Dr. Edith Niehuis (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001609

Frau Schenk, ich habe gerade erst angefangen. Ich wollte gerade erzählen, was wir tun. Vielleicht können wir uns darauf einigen, daß Sie erst einmal zuhören und dann, wenn Ihnen noch etwas einfällt, noch einmal nachfragen. Ich möchte nämlich erwähnen - da kann ich gleich an die Frage von Frau Schenk anknüpfen -, daß die Steuerpolitik der jetzigen Bundesregierung in jedem Fall dazu führt, daß die Arbeitnehmerfamilien, die Familien mit mittleren und durchschnittlichen Einkommen, die Gewinner unserer Steuerpolitik sein werden, und zwar durch die Absenkung des Eingangssteuersatzes und die Anhebung des Grundfreibetrages. ({0}) Sie können nicht nur einen Ausschnitt aus einem großen finanzpolitischen Bereich nehmen. Heute diskutieren wir wieder ein familienpolitisches Versäumnis der alten Bundesregierung. Vollkommen zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht angemahnt, auch bei verheirateten Eltern nicht nur das sächliche Existenzminimum von Kindern finanziell zu berücksichtigen, sondern auch den Betreuungs- und Erziehungsbedarf. Auf Grund der schlechten Erfahrungen mit unserer alten Bundesregierung, die nichts umsetzte, hat das Bundesverfassungsgericht unserer neuen Bundesregierung leider eine ganz enge Frist zur Umsetzung gegeben. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes für die Politik sind ausschließlich auf das Steuerrecht bzw. die Steuerfreistellung von bestimmten Aufwendungen und von Eltern - im Gegensatz zu Kinderlosen - erbrachten Betreuungs- und Erziehungsleistungen ausgerichtet. Das bedeutet konkret: Es hätte ausgereicht, die Kinderfreibeträge anzuheben, um das Verfassungsgerichtsurteil umzusetzen. Das wäre auch noch die kostengünstigste Lösung für den öffentlichen Haushalt gewesen. Insofern wäre das eine verführerische Variante insbesondere für einen Bundesfinanzminister gewesen und zwar angesichts der Tatsache, daß wir die gigantische Staatsverschuldung, die in 16 Jahren Kohl-Regierung entstanden ist, abbauen wollen und abbauen müssen das im übrigen auch um unserer Kinder willen. ({1}) Auch wenn eine leistungsgerechte Besteuerung familienpolitisch von besonderem Gewicht ist, kann ich doch nicht daran vorbeigehen, Frau Schenk, daß eine ausschließliche Verfolgung dessen dazu führen würde, daß die Bezieher höherer Einkommen sehr viel für ihr Kind erhalten würden und die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen gar nichts oder wenig für ihr Kind bekämen. Das wäre eine Familienpolitik, die - da brauchen wir nur auf die Straße zu gehen - alle für äußerst ungerecht halten. Eine solche Familienpolitik könnte daher nicht zufriedenstellen. Das heißt, meine Damen und Herren: Horizontale Steuergerechtigkeit darf nicht der wesentliche Maßstab für Familienpolitik sein. Vielmehr muß immer auch eine bedarfsgerechte Familienförderung hinzukommen. ({2}) Darum ist es richtig und wichtig, was die Regierungskoalition in ihrem Gesetzentwurf gemacht hat: Obwohl das Kindergeld in diesem Jahr schon um 30 DM erhöht wurde, hat sie gesagt: Wir nehmen das Verfassungsgerichtsurteil zum Anlaß, noch einmal 20 DM Kindergeld dazuzulegen. Es gibt also 50 DM Kindergelderhöhung innerhalb eines Jahres. Das hat es in einer Regierungspolitik noch nie gegeben. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Niehuis, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Dr. Edith Niehuis (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001609

Ja, bitte.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Niehuis, als erstes: Es ärgert mich, daß die Regierungsmitglieder immer die deutsche Einheit vergessen, wenn sie von den Schulden der Bundesrepublik Deutschland sprechen. ({0}) Ich denke, dazu gehört auch ein Stück Ehrlichkeit. Daß Sie das immer vergessen, zeigt, daß das eine Strategie von Ihnen ist. ({1}) Jetzt komme ich zu meiner Frage: Frau Niehuis, können Sie mir sagen, weil Herr Müller das nicht konnte, wie hoch die Belastung durch die Ökosteuer bei einer Familie mit zwei Kindern pro Haushalt und pro Jahr ist? ({2})

Dr. Edith Niehuis (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001609

Zunächst einmal zu der Staatsverschuldung: Ohne Zweifel war die deutsche Einheit ab 1990 eine besondere Herausforderung. Aber wenn Sie sich die Haushalte bis 1989 anschauen - vielleicht wissen Sie das als neue Abgeordnete im Bundestag nicht -, die hier im Bundestag verabschiedet wurden, dann stellen Sie fest, daß die Staatsverschuldung von Jahr zu Jahr auch ohne deutsche Einheit zugenommen hat. ({0}) Das Zweite: Natürlich muß man über die ökologische Steuerreform reden. Der Hintergrund Ihrer Frage ist, nehme ich an: Bei mehr Köpfen in der Familie gibt es mehr Stromverbrauch. Aber immerhin bleibt es in der Regel noch bei einem Auto; es passen dort vier Personen hinein. Ihre Argumentation, über die Ökosteuer würde unsere familienpolitische Gerechtigkeit in Schwierigkeiten kommen, ist total falsch. Rechnen Sie doch einmal nach: Wenn die Steuern auf Strom, Diesel und Benzin nach dem neuen Konzept höher werden, dann bedeutet das für den von Ihnen genannten Haushalt einer vierköpfigen Familie gerade einmal eine Mehrbelastung von vier bis fünf DM im Monat. ({1}) Sie können einmal gegenrechnen, wieviel diese Familie im Rahmen des Familienlastenausgleichs erhält. ({2}) Wir reden aber heute über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es kann passieren, daß uns die steuerpolitische Ausrichtung dieses Urteils eine zu enge familienpolitische Diskussion aufzwingt. Aber durch die Fokussierung des Urteils auf den Betreuungs- und Erziehungsbedarf haben wir auch die Möglichkeit, die familienpolitische Diskussion zu erweitern. Wir alle wissen zum Beispiel, daß Eltern mit volljährigen behinderten Kindern, die vollstationär untergebracht sind, von der Politik seit langem fordern, anzuerkennen, daß sie - auch wenn das sächliche Existenzminimum der Kinder durch Eingliederungshilfe abgedeckt ist - einen erheblichen Betreuungsaufwand haben, zum Beispiel durch häufige Besuche, durch Betreuung an Wochenenden und in den Ferien. Lange haben Eltern von behinderten Kindern darauf warten müssen, daß die Politik dies anerkennt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird dies anerkannt, weil nun diese Eltern ein Teilkindergeld oder einen teilweisen Betreuungsfreibetrag beanspruchen können. ({3}) Ich halte dies für einen ganz wichtigen Schritt in der Familienpolitik; denn ich kenne so viele Eltern, die ihre behinderten Kinder liebevoll und intensiv betreuen, auch dann, wenn diese Kinder im Heim untergebracht sind. Diese Eltern haben es wirklich verdient, daß man ihre Leistungen heute auch steuerpolitisch anerkennt. ({4}) Auch für Alleinerziehende ist es wichtig, daß der Gesetzgeber berücksichtigt, daß ein Elternteil das Kind betreut, während sich der andere nicht an der Betreuung beteiligt. Wenn es so ist, dann ist es nur recht und billig, daß der Alleinerziehenden auf Antrag der Betreuungsfreibetrag voll übertragen werden kann. Auch dies wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Wir beschränken uns bei der Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 bewußt zunächst nur auf die zum 1. Januar 2000 geforderte Regelung. Familienpolitisch lohnt es sich, noch einmal genau zu prüfen, ob im Hinblick auf Betreuungs- und Erziehungsbedarf die Gesichtspunkte der horizontalen Steuergerechtigkeit ebenso beachtet werden müssen wie beim Grundbedarf in Höhe des sächlichen Existenzminimums. Das Bundesverfassungsgericht ({5}) fordert, Frau Frick, daß der Betreuungs- und der Erziehungsbedarf einkommensteuerrechtlich generell zu berücksichtigen sind, ({6}) unabhängig davon ({7}) - lassen Sie uns familienpolitisch doch einmal weiterdenken -, ob überhaupt Aufwendungen die finanzielle Leistungsfähigkeit der Eltern mindern. Ich möchte diesen Gedankengang einmal weiterspinnen: Wenn der sächliche Unterhalt die finanzielle Leistungsfähigkeit der Eltern zwingend mindert, die Betreuungs- und Erziehungsleistungen jedoch nicht oder nur zu einem disponierbaren Teil, dann kann meines Erachtens die steuerliche Berücksichtigung des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs zumindest prinzipiell zu einem Teil anders geregelt werden als die des Grundfreibetrags. Ich möchte Sie einfach einladen, mit uns darüber nachzudenken, ob nicht auch diese Lösung verfassungskonform wäre; denn eine differenzierte Betrachtung des Betreuungsbedarfs macht auch eine differenzierte finanzpolitische Argumentation möglich. Dieser Gedanke weist in die Zukunft. Ich gebe zu: Die Verfassungskonformität dieser Regelung muß äußerst streng geprüft werden. Aber warum dürfen wir nicht einmal weiterdenken? Gibt es denn nicht noch einen gerechteren Maßstab als nur die horizontale Steuergerechtigkeit? ({8}) Das Finanzielle ist nur das eine. Als Familienpolitikerin bedauere ich sehr, daß wir über all die anderen familienpolitischen Themen heute nicht mehr diskutieren können. Aber wir werden demnächst noch weitere Vorlagen einbringen. Dann können wir auch über die anderen Rahmenbedingungen für Familien reden. Ich freue mich auf die weitere familienpolitische Debatte. Danke schön. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Ilse Falk.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist viel die Rede von Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewesen. Je nachdem, auf welcher Seite man steht, greift man auf das eine oder andere zurück. Es würde jetzt Spaß machen, aus alten Protokollen zu zitieren. Ich will Ihnen das nicht in aller Ausführlichkeit zumuten; denn das würde zu weit führen. Sie kennen das. Sie werden heute an Dingen gemessen, die wir damals vielleicht nicht so gerne gehört haben. Wir sahen damals keinen anderen Weg. Wir haben eine Familienpolitik entwickelt, die unseren Vorstellungen von Familie in einem umfassenden Maße entsprach. Heute hätten Sie die Möglichkeit gehabt, mit der Macht Ihrer Mehrheit Ihre damalige Kritik konstruktiv in einen ideenreichen, großen Entwurf zur Familienförderung umzusetzen. Es hätte sich zum Beispiel angeboten, schon jetzt den Erziehungsbedarf mitzuregeln und keine Zweiteilung vorzunehmen, um damit erst einmal wieder mit dem denkbar kleinsten Aufwand die unausweichlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen. Es scheint mir übrigens ein sehr merkwürdiges Zusammentreffen in dieser Debatte zu sein, daß ein steuererhöhendes Gesetz wie das über die ökologische Steuerreform, die die Familien belastet, für die nächsten vier Jahre festgeschrieben wird. - So sah es zumindest bisher aus. Nach dem, was Herr Trittin gerade gesagt hat, scheint darüber aber schon wieder Unsicherheit zu bestehen. - Wenn es um die Entlastung von Familien geht, dann können Sie sich zunächst nur auf die erste Stufe verständigen. Die erforderliche zweite Stufe soll in einem Gesetzgebungsverfahren für das Jahr 2002 geregelt werden. Was von der Parlamentarischen Staatssekretärin Niehuis eben anklang, war zu diffus, als daß es Planungssicherheit für Familien geben könnte. ({0}) Ein Zitat will ich Ihnen dennoch nicht ersparen. ({1}) - Eine Zwischenfrage möchte ich jetzt nicht beantworten. Ich möchte jetzt vortragen, was wir zu Ihrem Gesetzentwurf zu sagen haben. Fragen haben Sie zu beantworten. ({2}) Frau Ministerin Bergmann hat sich an dem messen zu lassen, was sie selber angesichts des Urteils in der Aktuellen Stunde vom 22. Januar 1999 gesagt hat. ({3}) - Man wird es ihr schon weitersagen. - Sie sagte, daß die Regierung bei der Neuregelung des Einkommensteuergesetzes die Erfahrungen berücksichtigen werde, die - Zitat … wir mit dem kumulierenden dualen System des Familienlastenausgleichs gemacht haben. Dieses System hat gesellschaftspolitisch falsche Auswirkungen, weil die Freibeträge bei niedrigen Einkommen nicht oder nur teilweise genutzt werden können, dafür aber bei steigendem Einkommen eine immer höhere Entlastung eintritt. Diesen Effekt wollen wir nicht erreichen. Das Protokoll notiert Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen. - Weiter sagte Frau Bergmann: In einer solchen Herausforderung liegt auch die Chance, … strukturell moderne Wege einzuschlagen. Wo sind denn jetzt die „strukturell modernen Wege“? Sie sind doch Ihren eigenen Ansprüchen mit diesem Gesetzentwurf nicht ansatzweise gerecht geworden. Sie selbst arbeiten sich heute mühsam an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ab und werden diesen Mindestanforderungen kaum gerecht. Sie haben die Chance nicht genutzt, einen verfassungsrechtlich auf Dauer unanfechtbaren, ordnungspolitisch richtigen, steuersystematisch einfachen und sozial gerechten Gesetzentwurf vorzulegen. Wo ist denn Ihre Perspektive einer zukunftsfähigen Familienpolitik? Natürlich freuen wir uns, wenn die Familien jetzt für das erste und zweite Kind je 20 DM mehr bekommen und damit 270 DM pro Monat erhalten. ({4}) Schade ist nur, daß Sie alle weiteren Kinder vergessen. ({5}) Was ist eigentlich mit den Mehrkinderfamilien? Wo sind die bei Ihnen? Wir begrüßen auch die Einführung eines Betreuungsfreibetrages von 1 080 DM für ein Elternpaar und die Einführung des Kindergeldes von 30 DM monatlich für volljährige behinderte Kinder, die vollstationär untergebracht sind. ({6}) - Ich werde Ihnen gleich die Zahlen nennen, die angeben, was wir gemacht haben. Bis ich zu diesem Punkt komme, möchte ich noch eine Kritik vortragen: Der in dem Gesetzentwurf vorgesehene pauschale Betreuungsbetrag von 3 024 DM ist geringer als der bisher bei Nachweis abzugsfähige Betreuungsbetrag von 4 000 DM für Alleinerziehende. Damit stellen Sie die Alleinerziehenden schlechter, bei denen Kosten in Höhe von mehr als 3 024 DM für die Betreuung durch Dritte, zum Beispiel durch Tagesmütter, Au-pair-Mädchen usw., anfallen. ({7}) Ist das sozial und gerecht? ({8}) - Ich möchte jetzt erst einmal zusammenhängend vortragen, damit Sie auch hören, was wir gemacht haben. An einer Stelle greifen Sie diese Schlechterstellung auf: bei nicht miteinander verheirateten Eltern im BAföGGesetz. Es wird in den Diskussionen zu klären sein, was Sie im einzelnen damit gemeint haben, daß diese die 4 000 DM wieder geltend machen können. Ich verstehe es bisher so, daß miteinander verheiratete Eltern, die BAföG-Leistungen beziehen, dieses nicht geltend machen können. Aber das werden Sie mir sicherlich erklären. Hier haben wir noch Fragen an die Regierung. Für Nicht-Steuerbelastete und Geringverdiener bringt die Anhebung des Kindergeldes um 20 DM Verbesserungen, die bei den Sozialhilfeempfängern wieder voll abgeschöpft werden. Es wurde hier schon gesagt, daß die Bundesregierung damit gerade im Sozialleistungsbereich keine Verbesserungen herbeigeführt hat. ({9}) Im Gegenteil: Diejenigen, für die die steuerlichen Wirkungen unterhalb der Kindergeldfreibeträge liegen, haben nichts von der optisch deutlichen Verbesserung einer Freibetragsanhebung. Mehrkinderfamilien sind auch in diesem Falle die Benachteiligten, denn sie werden im Regelfall nur über ein Einkommen verfügen und schnell den Freibetrag ausgeschöpft haben. ({10}) Damit werden - das ist auch hier schon häufig gesagt worden - Spitzenverdiener stärker entlastet als Durchschnitts- und Geringverdiener. Das ist zwar steuersystematisch durchaus richtig, entspricht aber nicht Ihren eigenen Forderungen. Daran messen wir Sie zur Zeit. ({11}) Wenn Sie immer wieder betonen, Sie machten alles sehr viel sozialer und gerechter, als wir es seinerzeit gemacht haben, dann müssen Sie sich auch diesen Vorwurf gefallen lassen. Kommen wir zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Sie bezeichnen es gerne als eine schallende Ohrfeige für unsere Familienpolitik. ({12}) Ich habe es immer als eine Aufforderung empfunden, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, weil es der richtige Weg war. ({13}) Wir haben den Alleinerziehenden zunächst etwas zugestanden, was nun die Familien im Rahmen des Gesetzes im Nachtrag bekommen. Nun will ich Ihnen sagen, welche Leistungen wir für die Familien erbracht haben. Dazu einige Zahlen, um endlich mit der Fehlinformation aufzuräumen, es sei während unserer Regierungszeit überhaupt nichts passiert, Familienpolitik sei nur so dahingedümpelt. Die Erhöhung des Kindergeldes von 70 DM auf zunächst 200 DM fand im Rahmen der Umstellung auf das sogenannte Optionsmodell statt. ({14}) Das war eine grundsätzliche Änderung, die Ihren Wünschen, daß die Höherverdienenden nicht stärker entlastet werden sollten als diejenigen, die nicht viel absetzen können, in hohem Maße entgegenkam. Wir haben es miteinander so vereinbart. ({15}) Das hat auch dazu geführt, daß 95 Prozent aller Familien das Kindergeld in Anspruch genommen haben, also nur 5 Prozent davon nicht erfaßt wurden. Nachdem der Kindergeldbetrag von 200 auf 220 DM angehoben wurde, haben wir zugleich das Kindergeld für das dritte Kind auf 300 DM und ab dem vierten auf 350 DM erhöht. Das ist bis heute so geblieben - unverändert von Ihnen. Die Umstellung auf das Optionsmodell, die Sie gerne als Schönfärberei bezeichnen, da sich dadurch für Familien angeblich nichts geändert habe, hat den Familien damals tatsächlich 11 Milliarden DM mehr gebracht. ({16}) Dann bekommen Niedrigverdienende in den ersten beiden Jahren nach der Geburt eines Kindes 600 DM Erziehungsgeld monatlich. Außerdem will ich eine Summe nennen, die von Ihnen nie herangezogen wird; ich weiß nicht, ob das gegen Ihre familienpolitische Ausrichtung ist. Wir haben eine Erziehungsrente eingeführt, nach der zunächst ein Jahr bzw. bei Müttern, deren Kinder nach 1992 geboren sind, drei Jahre Erziehungszeit in der Rente anerkannt werden. Diese bemißt sich im nächsten Jahr an 100 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das heißt in Zahlen, daß der Bundeszuschuß in die Rentenkasse für diese Mütter monatlich 862 DM Rentenversicherungsbeitrag bedeutet. Diese Zahl kommt bei Ihnen an keiner einzigen Stelle vor. Ist denn das überhaupt nichts? ({17}) Diese Zahlen - einschließlich des Kindergeldes in Höhe von 220 DM - summieren sich - ich sage dazu: bei niedrigen Einkommen - auf 1 682 DM im Monat während der ersten beiden Jahre und auf 1 083 DM im Monat im dritten Jahr. Inzwischen sind auch noch die 30 DM dazugekommen, die Sie in diesem Jahr beschlossen haben. Erziehungsgehalt war ein Stichwort. Aber ich glaube, dazu muß ich nichts mehr sagen, denn das ist für uns kein Punkt, an dem Familienpolitik stattfindet. Wir erarIlse Falk beiten zur Zeit ein umfangreiches Konzept, das wir Ihnen dann rechtzeitig vorlegen werden. Wir werden Gelegenheit haben, den Gesetzentwurf in den nächsten Wochen intensiv zu diskutieren. Aber ich appelliere zum Schluß schon heute an Sie: Lassen Sie nicht zu, daß die Familien diese verbesserten Leistungen selber bezahlen müssen. ({18}) Die Umsetzung Ihrer Wahlversprechen - dazu gehört auch die Anhebung des Kindergeldes - hat dazu geführt, daß der Bundeshaushalt erheblich ausgeweitet wurde. Das wird jetzt über das sogenannte Sparpaket wieder aufgefangen. Da wir aus Ihren Plänen wissen, daß etliches auf die Kommunen abgeschoben und zusätzlich die Ökosteuer erhoben wird, sehen wir, daß damit Belastungen auf die Familien zukommen, die nach all Ihren Aussagen von Ihnen so nicht gemeint sein können. Vergessen Sie eines nicht: Familienpolitik ist mehr als nur Anhebung von Kindergeld. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich nunmehr zunächst das Wort der Kollegin Christina Schenk und anschließend zu einer weiteren Kurzintervention der Kollegin Nicolette Kressl.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Dr. Niehuis hat vorhin meine Frage nicht beantwortet. Das nehme ich zum Anlaß, einige Anmerkungen zu ihren Ausführungen zu machen. Zum einen hat sie auf die Kindergelderhöhung verwiesen und betont, daß es ohne das Wechselspiel zwischen Kindergeld einerseits und Steuerfreibeträgen andererseits eine noch größere Gerechtigkeitslücke gäbe. Das ist zweifellos richtig. Aber das eigentliche Problem, die soziale Schieflage, wird damit überhaupt nicht beseitigt. Ich sage es noch einmal: Mit den jetzt vorgeschlagenen Steuerfreibeträgen von 10 000 DM ergibt sich für die Spitzenverdiener ein Ertrag von monatlich 420 DM. Das sind immerhin 150 DM mehr, als das Kindergeld von 270 DM gegenwärtig beträgt. Das ist für mich eine unakzeptable Sache. Es bleibt also festzustellen: Mit dem, was man hierzulande unter Steuergerechtigkeit versteht, ist soziale Gerechtigkeit nicht herzustellen. Es führt kein Weg an dem vorbei, was die PDS schon lange vorgeschlagen hat, nämlich ein einheitliches Kindergeld für alle zu zahlen. Der zweite Punkt, auf den ich eingehen will, ist die Anrechnung der Kindergelderhöhung auf die Sozialhilfe. Ich verstehe wirklich nicht, warum seit Januar, als die erste Kindergelderhöhung um 30 DM stattgefunden hat - selbst wenn Sie das Problem vorher nicht in voller Schärfe erkannt haben sollten -, nicht genügend Zeit gewesen sein sollte, um heute hier einen Vorschlag vorzulegen. Ich finde, in dieser Sache hat sich die rotgrüne Regierung nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Eine dritte Anmerkung zu der Situation von Alleinerziehenden: Sie hatten vorher einen Betreuungsfreibetrag von 4 000 DM, jetzt haben sie einen von 3 000 DM. Das ist ganz klar eine Schlechterstellung. Das heißt, unter dem Strich kommt heraus, daß die Alleinerziehenden die finanzielle Besserstellung verheirateter Eltern finanzieren. Insgesamt habe ich den Eindruck, daß wir es hier mit einem Diktat der Finanzpolitik in der Weise zu tun haben, daß nicht einmal ernsthafte Bemühungen erkennbar sind, zusätzliche Finanzierungsquellen zu erschließen. Nach Berechnungen des DIW beläuft sich zum Beispiel der Steuerausfall durch das Ehegattensplitting pro Jahr auf 60 Milliarden DM. Damit - so hat der Deutsche Frauenrat errechnet - ließe sich mühelos ein Kindergeld von über 500 DM finanzieren. Das, was Sie hier vorgelegt haben, bleibt insgesamt also außerordentlich dürftig. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Kressl.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wende mich sowohl an die Kollegin Falk als auch an die Kollegin Schenk: Sehr geehrte Kolleginnen, ich bin zu der Kurzintervention veranlaßt worden, weil es mir ein wichtiges Anliegen ist, daß Sie sich, wenn Sie schon über Steuerpolitik und Freibeträge diskutieren, das dann bitte auch genau anschauen. Sie haben einfach zwei Zahlen nebeneinandergestellt und behauptet, Alleinerziehende seien automatisch benachteiligt, weil sie jetzt „nur“ einen Freibetrag von 3 024 DM haben, während sie vorher 4 000 DM geltend machen konnten. Dies entspricht nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist, daß jetzt alle Alleinerziehenden diesen Freibetrag pauschal, das heißt, ohne nachweisen zu müssen, daß sie Kosten in dieser Höhe hatten, geltend machen können, während es bisher so war, daß dieser Betrag nur in dem Fall abziehbar war, wenn tatsächlich Kosten in Höhe von 4 000 DM nachgewiesen werden konnten. Hinzu kam in der Regel ein Selbstbehalt, so daß überhaupt nicht 4 000 DM in Anspruch genommen werden konnten. Ich bitte Sie, sich in die Steuersystematik so einzuarbeiten, daß Sie nicht hinterher in reine Polemik verfallen und falsche Dinge behaupten. ({0}) Ein Weiteres: Frau Niehuis hat in ihrer Rede sehr deutlich gemacht, daß wir uns neben Änderungen bei Freibetrag und Kindergeld noch anderes gewünscht hätten. Aber das ist eben der Punkt, den auch ich Sie fragen wollte, Frau Kollegin: Wie kommen Sie dazu, zu behaupten, wir hätten nur das verfassungsrechtlich Notwendigste gemacht? ({1}) Sie müßten doch wissen, daß es verfassungsrechtlich nicht notwendig war, das Kindergeld um 20 DM zu erhöhen, daß wir das lediglich aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit gemacht haben und daß es gereicht hätte, allein die Freibeträge zu erhöhen. Natürlich hätten auch wir den Betrag lieber auf 400 DM angehoben. Aber Verantwortung für Kinder wahrzunehmen bedeutet eben, sowohl das Kindergeld zu erhöhen als auch sich um einen soliden Haushalt zu kümmern. ({2}) Ich bitte Sie, in Ihrer Argumentation etwas seriöser zu bleiben. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

In der Aussprache hat für die SPD-Fraktion nun die Kollegin Lydia Westrich das Wort.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steuerpolitik ist immer spannend. Aber wenn in der Steuergesetzgebung eines besonders Spaß macht, dann dieses: die Familienförderung immer weiter voranzutreiben. Die Freude, diesen Gesetzentwurf der rotgrünen Regierungskoalition als erste Stufe der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs in den Bundestag einzubringen, lassen wir uns auch nicht durch Ihre Reden nehmen, die nur in den Krümeln suchen und nichts Konkretes dagegensetzen können. ({0}) Wir sind angetreten, die desolate Lage vieler Familien zu beenden, in die sie erst durch Ihre familienfeindliche Politik hineingeraten sind. In der öffentlichen Diskussion heißt es, Kinder seien heute das Armutsrisiko Nummer eins, Kinder seien ein Luxus, den man sich nicht leisten könne oder wolle. Das ist doch ein vernichtendes Urteil über eine Bundesregierung, die einstmals die geistig-moralische Wende propagiert hat. ({1}) Noch im Februar 1999, nach Ergehen des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes, war öffentlich große Freude von Ihnen, Herr Merz, darüber zu hören, daß die Gleichmacherei in der Familienpolitik damit endlich aufhören müsse. Eine Freude für die Familien war das sicher nicht. So ehrenwert der Grundsatz der horizontalen Gerechtigkeit auch sein mag - also der Vergleich von Familien mit Kindern und kinderlosen Paaren -: Die meisten Bürgerinnen und Bürger akzeptieren und verstehen ihn überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Und es gibt ja auch den Anspruch auf eine vertikale Gerechtigkeit, auf die Gleichbehandlung aller Kinder. Das Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler - nun gerade kein Intimfreund der Sozialdemokraten hat erst neulich wieder aufgelistet, wie viele Male die sozialdemokratische Bundestagsfraktion seit der 11. Legislaturperiode Anträge auf ein einheitliches Kindergeld gestellt hat. Es gibt eine stattliche Anzahl von Drucksachen dazu. Der Bund der Steuerzahler hat es natürlich sehr beklagt, daß wir es erst in der 13. Legislaturperiode endlich geschafft haben, der damaligen Regierungskoalition das einheitliche Kindergeld abzuringen. Auch da hat natürlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachgeholfen. Unsere Forderung nach einem einheitlichen Kindergeld ist schließlich in das Jahressteuergesetz von Herrn Waigel eingeflossen. Das Kindergeld ist auf 200 DM für das erste und zweite Kind erhöht worden. Der Kinderfreibetrag wurde auf 6 264 DM erhöht. Dies war zwar im Vergleich zur bisherigen Regelung, Frau Falk, ein Fortschritt, dennoch wollten wir schon immer mehr. So haben wir, wenn ich die Kollegen und Kolleginnen aus dem Finanzausschuß daran erinnern darf, 1997 einen Entschließungsantrag gestellt, in dem wir die Erhöhung des Kindergeldes auf 250 DM und die Erweiterung der steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten bei erwerbstätigen Eltern generell gefordert haben. Das ist natürlich abgelehnt worden. Wir haben damals dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Anfang dieses Jahres vorgegriffen. Direkt nach dem Regierungswechsel haben wir unsere erste Forderung umgesetzt. Immer wieder hört man, daß wir das Geld mit vollen Händen hinausgeschmissen hätten, weil wir das Kindergeld für das erste und zweite Kind ab Januar 1999 von 220 DM auf 250 DM erhöht haben. Allein diese Erhöhung ergibt - ich will einmal die Zahlen nennen - in 1999 für Familien mit zwei Kindern eine Entlastung von 720 DM im Jahr. Des weiteren haben wir den Grundfreibetrag angehoben und den Eingangssteuersatz gesenkt. Nach diesen steuerlichen Verbesserungen - rechnen Sie nach zahlt ein verheiratetes Ehepaar mit zwei Kindern bei einem Bruttoeinkommen von weniger als 90 000 DM 1 100 DM bis 1 200 DM weniger Steuern als zuvor. ({2}) Wir haben damit vor allem Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen entlastet, wie wir das immer gewollt haben. ({3}) Das ist, Frau Falk, eine Politik, wie sie die Familien in den letzten 16 Jahren nicht erleben durften. Während dieser Zeit konnten sie nur zusehen, wie andere immer weiter steuerlich begünstigt wurden und sich immer besserstellten, während bei den Familien mit Kindern das Geld in der Tasche immer weniger wurde und sie außer moraltriefenden Phrasen nichts bekamen. Was Familien aber wirklich brauchen, sind steuerliche Erleichterungen. Deutlicher ausgedrückt: Sie brauchen einfach mehr Geld; denn Kinder großzuziehen kostet Geld - siehe die öffentliche Diskussion. Was sind wir dafür, daß wir dieses Geld gleich zu Beginn unserer Regierungszeit aufgebracht haben, von der Opposition, also von Ihnen, gescholten worden! Bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das uns die Rechnung für die verfehlte Politik von 16 Jahren konservativ-liberaler Regierung präsentiert hat, so daß jede Kritik an Aufwendungen für Familien im Keim ersticken mußte, hieß es, wir würden das Geld mit vollen Händen zum Fenster herauswerfen. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Westrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele?

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. Frau Kollegin. Sie erklären immer, daß unter der alten Koalition nichts für die Familien getan worden sei. ({0}) Darf ich daran erinnern, daß das Kindergeld während der Zeit der alten Koalition ab 1996 von 70 auf 200 DM gestiegen ist ({1}) und um weitere 20 DM auf 220 DM erhöht wurde und daß ausweislich der Äußerungen der Staatssekretärin im Finanzministerium die Summe der Entlastungen für Familien in diesem Zeitraum um mehr als 50 Prozent erhöht wurde, so daß man nicht sagen kann, die alte Koalition habe nichts für die Familien getan. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich sehe, daß das Kindergeld von 70 DM auf 220 DM gestiegen ist, habe ich nicht den Eindruck, daß das eine Politik der sozialen Kälte war. Ich habe auch nicht den Eindruck, daß die kleinen Schritte, die Sie gegangen sind bzw. momentan gehen - eine Erhöhung auf 250 DM, dann auf 270 DM - , ein Riesenschritt sind. Es ist nur die Fortsetzung der von der alten Koalition vernünftigerweise eingeleiteten Linie. Stimmen Sie mir zu? ({2})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Thiele, wir haben das im Finanzausschuß zusammen gemacht. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an den Kollegen Dr. Fell, der leider verstorben ist, erinnern. Er hat sich zurückgezogen, weil ihm die Diskussion über den Familienleistungsausgleich, der mit dem Jahressteuergesetz 1996 einhergegangen ist, einfach zu viel war. Er war damals Vorsitzender des katholischen Familienbundes. Er war es leid, zu sehen, wie darüber diskutiert wurde. Deswegen hat er sich zurückgezogen. Wir haben es dennoch zusammen gemacht, und ich hoffe, daß wir auch dieses Gesetz zusammen vorwärtsbringen; denn die Familienförderung ist das Lohnendste, was es gibt. Herr Thiele, ich kann Sie nur herzlich dazu einladen, das mit uns gemeinsam zu machen. ({0}) Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müßte Ihnen doch in höchstem Maße peinlich sein. Können Sie sich noch an die alte Bundesverfassungsgerichtsentscheidung erinnern, die wir 1996 mit durchgesetzt haben? Es hat dann drei Jahre gedauert, bis überhaupt irgend etwas passiert ist. Das heißt, von Ihnen ist die Frist bis zum letzten Moment ausgeschöpft worden. Wir dagegen haben uns unverzüglich darangemacht, das Urteil zur steuerlichen Gleichstellung von Familien und Alleinerziehenden umzusetzen. Wir haben unsere Pflicht erfüllt: Wir haben alle Vorgaben des Karlsruher Urteils geprüft und abgewogen, was daraus zu machen ist. Wir haben verschiedene Optionen, um die Karlsruher Entscheidung durchzusetzen. Die Freibetragslösung, die verfassungskonform gewesen wäre, ist in hohem Maße unsozial und scheidet deswegen aus. Eine reine Kindergeldlösung, bei der sich das Kindergeld an der Höhe des Kinderfreibetrages und am Spitzensteuersatz orientiert, wäre zwar sozial gerecht und uns am liebsten, ist aber angesichts der leeren Kassen und der Verantwortung, die wir für die Finanzen zu übernehmen haben, im Moment nicht umzusetzen. Schließlich schied der von uns favorisierte Kindergrundfreibetrag, der eine gleichmäßige Entlastung aller Eltern garantiert hätte, wegen verfassungsrechtlicher Bedenken aus. Wir haben uns daher für die Beibehaltung des bisherigen Modells von Kinderfreibetrag und Kindergeld entschieden. Mit dem Gesetzentwurf zur ersten Stufe einer Neuregelung des Familienleistungsausgleichs sind wir einen weiteren entscheidenden Schritt in die richtige Richtung gegangen. Der Gesetzentwurf sieht im Kern die Einführung eines Betreuungsfreibetrags in Höhe von 3 024 DM für Eltern zusätzlich zum bisherigen Kinderfreibetrag vor. Daneben wird das Kindergeld für das erste und zweite Kind nochmals um 20 DM auf 270 DM zum 1. Januar 2000 erhöht werden. Im Jahr 2002 werden wir das Kindergeld nochmals erhöhen. Auch für die Eltern volljähriger Kinder, die seelisch oder geistig behindert und in Einrichtungen untergebracht sind, haben wir endlich eine Lösung gefunden, damit diese Eltern die Leistungen, die sich an einen Kindergeldanspruch knüpfen, wieder erhalten können. Das war für uns das wichtigste. Wie haben wir im Finanzausschuß nach Möglichkeiten gesucht! Immer hieß es, es sei nicht durchsetzbar. Kreativität in der Familienpolitik war noch nie Ihre starke Seite. ({1}) Auch für die Grenzgänger in die Schweiz - können Sie sich daran noch erinnern, Frau Frick? - haben wir endlich Gerechtigkeit wiederhergestellt. Marion Caspers-Merk und Karin Rehbock-Zureich können ein Lied von Familien singen, die Sie viele Monate lang bedrängt haben. Aber immer hieß es, es gehe nicht. Dieses Gesetz ist nur ein erster Schritt. Aber es bringt einem Arbeitnehmerhaushalt mit zwei Kindern und einem durchschnittlichen Familieneinkommen von rund 7 000 DM monatlich brutto im Jahre 1999 gegenüber 1998 rund 1 100 DM, im Jahr 2000 rund 2 400 DM und im Jahr 2002 sogar rund 4 200 DM Entlastung. Wir haben es trotzdem nicht aufgegeben, einen Systemwechsel zur einheitlichen steuerlichen Entlastung für Erziehungs- und Betreuungsbedarf zu erreichen. Wir werden uns das noch in allen Richtungen überlegen. Bis zum Jahr 2002 werden wir die Familien, von 1997 an gerechnet, mit rund 40 Milliarden DM entlastet haben. Auch die besondere Entlastung für Alleinerziehende wird nicht vergessen. Kinder sind kostbar; aber ein Luxus dürfen sie trotzdem nicht werden. ({2}) Frau Merkel hat es gestern eingesehen. Ich hoffe, daß wir eine gute Beratung dieses Gesetzentwurfes bekommen und das Gesetz gemeinsam verabschieden können. Danke schön. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nunmehr der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute war vielfach gar nicht von dem eigentlichen Anlaß dieser Debatte die Rede, nämlich von den drei Steuergesetzentwürfen, die ins Parlament eingebracht worden sind. Ich habe nichts dagegen, daß Sie diese drei Gesetzentwürfe in einen Zusammenhang mit der Haushaltspolitik und der Steuerpolitik dieser Regierung stellen wollen. Darauf, Herr Solms, will ich Ihnen antworten, daß dieser Zusammenhang selbstverständlich besteht und daß die Gesetzentwürfe kein Flickwerk sind. Die fünf Elemente, aus denen die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung besteht, lassen sich nämlich genau beschreiben: Erstens. Es gibt eine deutliche Steuersenkung für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen für die Familien und für den Mittelstand, um die Kaufkraft im Lande zu stärken. ({0}) - Rufen Sie doch nicht dazwischen, und hören Sie einmal einen Moment zu! ({1}) Zweitens. Es geht um die Senkung der Lohnnebenkosten, um die Chancen zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen und um die Wettbewerbsfähigkeit für Betriebe, die mit Menschen statt mit Maschinen arbeiten, zu erhöhen. Drittens. Es geht um die Verteuerung des Ressourcenverbrauches, die in unserer Wirtschaft für einen Modernisierungsschub sorgen soll. ({2}) Viertens. Es geht um die Verbesserung der Chancen für Investitionen. Dazu gehört das Thema Unternehmensteuerreform, dem Sie sich, Herr Solms, ausführlich gewidmet haben, obwohl dazu noch kein Entwurf der Regierung auf dem Tisch liegt. Fünftens. Es geht um Haushaltskonsolidierung. Ich will nebenbei bemerken, daß dieser fünfte Punkt in der Regel in den Reden der Oppositionsmitglieder nicht nur völlig nachrangig, sondern überhaupt nicht behandelt wird. Das ist das fundamentale Problem Ihrer Regierungstätigkeit von 16 Jahren. An diesem Punkt muß ich ansetzen. ({3}) Bitte wärmen Sie folgenden Punkt nicht immer wieder auf: Ich habe nie die Kosten der Wiedervereinigung kritisiert - ich bekenne mich ausdrücklich dazu -, sondern ich habe nur darauf hingewiesen, daß die Art, wie Sie die Wiedervereinigung finanziert haben, extrem unsolide war und daß uns die Folgen in Form der hohen Staatsverschuldung jetzt einholen. ({4}) - Darüber können wir gerne reden. Aber wir reden hier über die Situation des Bundes, die sehr viel problematischer ist. Von den Gesamtschulden in Höhe von 1,5 Billionen DM stammen Schulden in Höhe von 1,2 Billionen DM aus der Zeit, in der Sie die Regierungsverantwortung hatten. Diese Schulden sind nämlich im Zeitraum von 1982 bis 1998 entstanden. Übrigens muß man auch mit der Mär von den niedrigen Schulden in den 80er Jahren vorsichtig sein. Immerhin haben Sie in dieser Zeit Schulden in Höhe von 300 Milliarden DM angehäuft. Diesen Punkt muß man festhalten. Heute ist der Bund in einer schlechteren finanziellen Verfassung als das Haushaltsnotlagenland Saarland. Nur noch das Haushaltsnotlagenland Bremen befindet sich in einer schlechteren finanziellen Verfassung als der Bundeshaushalt. Das ist das Ergebnis Ihrer Regierungstätigkeit. ({5}) - Ich bin völlig einverstanden. Wir haben im Bundesrat vieles gemeinsam gemacht. Sie können meine Rede vom 25. September des vergangenen Jahres nachlesen, in der ich den Sachverhalt minutiös dargestellt habe. Es steht aber fest - über diesen Punkt brauchen wir gar nicht zu diskutieren -, daß nicht nur ich als hessischer Ministerpräsident, sondern daß alle 16 Ministerpräsidenten sich nicht in erster Linie als die Interessenwahrer des Bundes hinsichtlich seiner Finanzsituation gefühlt haben. Das ist wahr. ({6}) Das galt also sowohl für die Ministerpräsidenten Ihrer Couleur wie auch für die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten. ({7}) Ich habe immer gesagt: Ich beklage mich nicht, daß ich jetzt für die Aufräumarbeiten infolge Ihrer Hinterlassenschaft verantwortlich bin. Ich sage nur, daß die Hauptverantwortlichen, die 80 Prozent der Gesamtschulden in Höhe von 1,5 Billionen DM zu verantworten haben, wenigstens einen kleinen Beitrag dazu leisten können, daß wir aus dieser Schuldenfalle herauskommen. Man kann schon verlangen, daß sie uns nicht noch Knüppel zwischen die Beine werfen. ({8}) Bei der Bewertung der Schulden hilft Ihnen auch nicht die trickreiche Aussage, der Finanzminister Eichel nehme das zurück, was der Finanzminister Lafontaine draufgetan habe. ({9}) - Auf diesen Punkt komme ich sofort zurück, Herr Glos. - An dieser Legende können Sie nur deswegen stricken, weil wir die Zahlen ein halbes Jahr nach Regierungsantritt auf den Tisch gelegt haben; ansonsten wäre Ihnen diese Ausrede verbaut. Sie müssen schon einräumen, daß die Schulden in Höhe von 1,5 Billionen DM nicht zwischen dem September des vergangenen Jahres und dem 23. Juni dieses Jahres entstanden sind. Aber genau diese Schulden verursachen jetzt die Zinskosten in Höhe von 82 Milliarden DM. ({10}) Ich sage übrigens einmal mit Blick auf die PDS: Es ist schon ein erstaunlicher Vorgang, daß jemand, der sich für links hält oder jedenfalls so tut als ob, die Themen Staatsverschuldung und Umverteilung von unten nach oben - das ist nämlich die schlimmste, die es überhaupt gibt - und ihre sozialpolitischen Probleme überhaupt nicht in den Blick nimmt, sondern wie viele die Augen fest zumacht und die Debatte erst dahinter anfängt. Das ist ein schwerer Fehler. ({11}) Deswegen: Wer überhaupt eine soziale Politik in diesem Land machen will, der muß an dieser Ursache ansetzen, so bitter das ist. Meine Damen und Herren, es muß auch noch einmal gesagt werden - und daran erinnere ich mich nun sehr gut -: Im Jahr 1990 haben wir eine Debatte über die Finanzierung der Kosten der Einheit geführt. Erstens haben Sie konsequent die Kosten geleugnet. Daran werden Sie sich erinnern. Zweitens haben Sie aber auch konsequent die damalige Bereitschaft im Volke, die Lasten zu tragen, weil wir sie gern getragen hätten, nicht genutzt ({12}) und die Debatte darüber vermieden. Die SPD, die Gewerkschaften und übrigens auch viele aus der Wirtschaft haben Ihnen damals vor der Bundestagswahl Steuererhöhungen zur Finanzierung der Kosten der Einheit vorgeschlagen. Sie haben das alles in den Wind geschlagen. ({13}) Ich bin ganz sicher, daß das Wahlergebnis von 1990 für Helmut Kohl nicht einen Deut anders ausgefallen wäre, wenn er den Mut gehabt hätte, damals vor der Bundestagswahl den Menschen zu sagen: Jawohl, zeitlich befristet müssen wir jetzt für die Kosten der Einheit mehr Geld nehmen, weil wir es andernfalls in eine ganz ferne Zukunft verschieben, unsere Kinder das finanzieren lassen und im übrigen unseren Staat nach ein paar Jahren handlungsunfähig machen. Das ist genau die Lage, in der wir uns heute befinden. ({14}) Das heißt, das fundamentale Versäumnis kurz vor der Wahl, die Solidarität der Menschen nicht eingefordert zu haben, als sie bereit waren, sie zu geben, und als die Opposition bereit war, Ihnen zuzustimmen, holt uns jetzt ein. Deswegen bitte ich schon sehr herzlich darum, daß sich alle, die sich zur Einheit und ihren Kosten bekennen, jetzt wenigstens auch zur seriösen Finanzierung eben dieser Kosten bekennen. Nun etwas, Herr Glos, zu der Mär, daß ich jetzt das zurücknehmen müßte, was Herr Lafontaine draufgetan hätte. Sie wissen doch wie ich - das können Sie nun nachlesen, und das habe ich in der Bundesratsrede am 25. September 1998 einzeln dargelegt -, daß der Haushaltsentwurf für 1999, den Sie damals auf den Tisch gelegt haben, eine Fülle von Dingen, die eigentlich hineingehört hätten, überhaupt nicht beinhaltet hat. Er war ja in der offiziellen Darstellung schon ganz knapp unter der Grenze der Verfassungsmäßigkeit. Sie haben nicht einmal die Hilfen für die Haushaltsnotlagenländer Saarland und Bremen eingestellt. Da fehlten 3 Milliarden DM. Die mußten natürlich hinein. ({15}) Sie haben so getan, als ob die Sowjetunion oder dann Rußland immer weiter die Schulden tilgen würde, die sie bei uns haben. Daß das nicht so ist und daß wir nun in Paris umschulden mußten und daß das jetzt zum Beispiel zu einer laufenden Belastung von knapp 3,5 Milliarden DM im Haushalt führt, haben wir Ihnen damals vorausgesagt. Sie haben keinerlei Vorsorge im Haushalt getroffen. Das mußte aber in den Haushalt 1999 hinein. Zu den Postunterstützungskassen: Sie haben doch das ganze Dilemma, daß Sie eigentlich gar keinen verfassungsgemäßen Haushalt mehr vorlegen konnten - übrigens seit 1996 nicht mehr -, immer nur durch Privatisierungserlöse verdeckt. Diese Mittel stehen erstens nicht mehr so zur Verfügung, zweitens waren sie dafür nie gedacht. Sie waren immer dafür gedacht, die Pensionen für die Beamten, die da übergegangen sind - es geht um 6,5 Milliarden DM mit wachsender Tendenz -, langfristig abzudecken. Wenn wir aber die Privatisierungserlöse bei der Telekom in großen Tranchen nehmen und in den Haushalt stecken, dann kommt in etwas späterer Zukunft - und diese ist gar nicht lange hin - die volle Last der Pensionen für die Beamten auf den Bundeshaushalt zu. ({16}) Sehen Sie, meine Damen und Herren, so kann man Haushaltspolitik doch nicht betreiben. Abgesehen davon: Wir haben ja Gott sei Dank eine breite Privatisierung bei der Telekom erreicht, nicht nur Aktienoptionspläne für die Vorstände. Das meine ich nicht. Wir haben erreicht, daß dann doch bitte alle beteiligt wurden. Dabei muß man auch wissen, wie der Bund, nach wie vor noch Hauptaktionär, mit der Privatisierung umgehen soll. Man kann überhaupt nicht mit so großen Tranchen an den Markt gehen, weil die Konsequenz dann der Kursverfall wäre. Im übrigen könnten wir von den Kleinaktionären bei der Telekom strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn wir uns so verhielten. Das geht alles überhaupt nicht. ({17}) Aber so ist das gelaufen. In diesem Fall ist ein großes Paket bei der KfW geparkt worden. Aber so etwas hat ja alles seine Grenzen; vor allen Dingen ist es dann in kürzester Zeit aufgebraucht. Es waren übrigens 6,5 Milliarden DM, die dort gefehlt haben. Auf den folgenden Punkt werde ich anschließend noch einmal zurückkommen, wenn wir über die Lohnnebenkosten reden. Jetzt will ich nur folgendes sagen: Sie haben doch auch ein Viertel des Aufkommens aus der Mehrwertsteuer vergessen. Wir haben zusammen zum 1. April 1998 eine Mehrwertsteuererhöhung um 1 Prozent beschlossen, damit der Rentenversicherungsbeitrag nicht über 21 Punkte steigt. Das war aber für das betreffende Jahr nur für ein dreiviertel Jahr veranschlagt. Jetzt, 1999, müssen wir das für das gesamte Jahr veranschlagen. Auch das sind schon wieder 4 Milliarden DM. Wenn ich das alles zusammenrechne - ich habe das jetzt nicht mehr so genau im Kopf -, bewegen wir uns in einer Größenordnung zwischen 15 und 20 Milliarden und dies bei 30 Milliarden, die dadurch zustande kommen, daß Herr Waigel damals schlicht das nicht veranschlagt hat, was veranschlagt werden mußte. ({18}) Es kommt eine andere Sache hinzu - hierbei gebe ich Ihnen zu, das haben wir im Bundestagswahlkampf natürlich weidlich ausgeschlachtet. Sie müssen das aber vertreten -: Sie haben vor der Bundestagswahl die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik - vorzugsweise für die ostdeutschen Länder - ordentlich heraufgesetzt, damit Sie noch schnell vor der Wahl eine schöne Statistik vorweisen konnten. Die Mittel mußten alle auch schnell, schnell ausgegeben werden. Im Haushalt 1999 hatten Sie dann dafür überhaupt nichts mehr vorgesehen. So kann man auch mit den Arbeitslosen nicht umgehen, etwa nach dem Motto: Mal vor der Wahl schnell rein in den Job und hinterher wieder raus. ({19}) Das sind auch noch einmal 6,5 Milliarden DM. Wenn Sie, verehrter Herr Glos, wollen, daß wir über diese Frage weiter reden, machen wir das. ({20}) Übrigens glaubt diese Legende, die Sie hier bilden wollen, in der Bevölkerung sowieso keiner. Sie führen ja sozusagen lauter Bäume vor. Die Leute sehen aber trotz der vielen Bäume den Wald sehr genau. Sie sehen die 1,5 Billionen DM Staatsverschuldung und sagen: Genau das ist es. Sie wissen genau: Es ist etwas faul im Staate der Satz heißt eigentlich - Dänemark. Dieser Satz ist falsch, weil die Dänen eine viel bessere Finanzpolitik haben als wir. Der Satz muß lauten: Es ist etwas faul im Staate Deutschland. Das wissen die Leute. ({21}) Wir hatten ja auch den Sommer über genügend Streit in den eigenen Reihen. Es ist ja nicht einfach, so etwas klarzumachen und durchzuziehen. Aber glauben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht, daß Sie aus dem Streit und der Verwirrung, die es da gab, langfristig einen Gewinn ziehen können. ({22}) - Ja, natürlich; dieser Herbst wird schwierig für uns. ({23}) Ich sage Ihnen einmal, daß viele Menschen - wildfremde - mich jeden Tag ansprechen und sagen: Sie haben doch ganz recht; das geht doch wirklich nicht so weiter. Ziehen Sie das einmal durch! - Das sagen mir sehr viele Menschen, übrigens auch aus Ihrem Lager, und das geht quer durch die ganze Bevölkerung. Die Leute wollen endlich, daß ihnen reiner Wein eingeschenkt wird. Sie wissen es im Grunde schon; sie wollen, daß das einmal klargemacht wird. ({24}) Sie wollen vor allen Dingen auch, daß ein Ausweg aufgezeigt wird. Sie sind ja auch bereit, etwas mitzutragen, wenn sie wissen, daß es ihren Kindern zugute kommt, und wenn sie wissen, daß alle nach ihrer Leistungsfähigkeit mit dabei sind. Das ist ein völlig richtiger Satz, gegen den ich überhaupt nichts einzuwenden habe. Das kann man im einzelnen durchdeklinieren; das will ich aber heute nicht tun. Wir werden ja in der nächsten Woche die Debatte um den Haushalt führen. Ich will jetzt nur kurz auf die Steuerpolitik eingehen. Es sind dabei ja mehrere Elemente zu beachten. Einige haben sich noch einmal mit dem Steuerentlastungsgesetz beschäftigt. Es ist richtig: Ich habe das mitgetragen. Das ist völlig wahr. Ich will jetzt nicht über die Verwirrung im März reden; das war immer falsch. Aber wie dem auch sei: Das war damals der erste Baustein - das gehört alles zusammen -, nämlich eine starke Entlastung der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen und der Familien. Sie müssen sich jetzt einmal die Steuerpolitik, die Sie in 16 Jahren gemacht haben, und die Steuerpolitik, die wir jetzt machen, ansehen. Eines gestehe ich Ihnen, Herr Thiele, zu: Den ersten großen Schritt haben wir zusammen getan, als wir das steuerfreie Existenzminimum, den Grundfreibetrag, nach dem betreffenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts und das Kindergeld ordentlich angehoben haben. Ich finde es schon sehr schön, wenn Sie das heute auf Ihre Habenseite schreiben. ({25}) Lesen Sie doch bitte einmal nach, was damals im Vorfeld die F.D.P. - die ganz besonders -, aber auch die CDU/CSU zu diesem Thema gesagt haben. Das konnte nur deshalb umgesetzt werden, weil wir eine Mehrheit im Bundesrat hatten; ohne diese hätte man es nicht hinkriegen können. ({26}) Es war immer das Prinzip sozialdemokratischer Steuerpolitik, das steuerfreie Existenzminimum möglichst hoch anzusetzen, also wenigstens - jetzt sage ich es einmal präzise, weil dort ein großes Mißverständnis liegt - auf der Höhe der Sozialhilfe. Wir wollten das als steuerfreies Existenzminimum definieren und es auch wirklich steuerfrei stellen; das war bis dahin nämlich nicht der Fall, und das war verfassungswidrig. Wir haben in der Tat die Vorstellung, daß jedes Kind - um es präzise zu sagen: das des Sozialhilfeempfängers und das des Millionärs - dem Staat das gleiche wert sein soll. ({27}) Es gibt viele, die sagen: Bei meinem Einkommen habe ich es gar nicht nötig, Kindergeld zu bekommen. Das wäre verfassungswidrig; Sie wissen das. Es kann allerdings verteilungspolitisch geregelt werden. Es ist nur eine Frage der Höhe des Spitzensteuersatzes und der Möglichkeiten der Steuergestaltung. So können Sie von der Verteilung her genau das richtige Ergebnis erzielen. Insofern ist es richtig, den Weg eines einheitlichen Kindergeldes für alle zu gehen. Es ist aber Populismus, wenn jetzt gesagt wird, wir müßten dies gleichmachen. Die Ungerechtigkeit bezieht sich übrigens nicht auf die Bezieher der Sozialhilfe. Die Ungerechtigkeit bezieht sich auf die Bezieher kleiner Tarifeinkommen. Bei der Sozialhilfe handelt es sich um den einzigen Fall, wo wir nach dem Bedarfsdeckungsprinzip ein kostendeckendes Kindergeld in Höhe von 408 DM haben. ({28}) Derjenige aber, der ein kleines Tarifeinkommen bezieht, guckt ins Röhrchen, und zwar nicht wegen des kleinen Tarifeinkommens - da ist das Lohnabstandsgebot zur Sozialhilfe gewahrt; das wird in der Öffentlichkeit im- mer falsch diskutiert -, sondern weil die Familienkom- ponenten in der Sozialhilfe andere sind. Das ist nicht in Ordnung. Deshalb müssen wir endlich dahin kommen, daß die Familienkomponente genauso hoch ist wie bei der Sozialhilfe. Das ist die Zielsetzung. [Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deswegen wird die Haushaltskonsolidierung immer völlig aus dem Blick gelassen. Sie reden nicht von der Staatsverschuldung, weil Sie dann nämlich konkret werden müßten, wenn es darum geht, was noch möglich ist und was nicht. Eine Erhöhung des Kindergeldes von jetzt 250 DM auf 410 DM kostet mehr als 30 Milliarden DM. Mir muß einmal jemand vorrechnen, wie dies finanziert werden soll. Das kann mit keinem Rechenschieber ermittelt werden. ({29}) Wenn das Komma verschoben würde, dann wäre dies möglich. - Das ist die eine Seite. In Wirklichkeit war in der Gesellschaft die Situation entstanden, daß nur diejenigen, die den Steuern nicht ausweichen konnten - das sind die, die fast ihr gesamtes Geld zum Leben brauchen -, die volle Steuerlast getroffen hat. De facto ist die Steuerlast schwergewichtig in der Mitte der Gesellschaft, bei den Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen, übrigens auch bei den kleinen Unternehmen, die nur in diesem Lande ihre Tätigkeit entfalten, abgeladen worden. Denn durch die vielen Steuergestaltungsmöglichkeiten der Bezieher höherer Einkommen - ich rede nur von den legalen Möglichkeiten - könnten diese in großem Umfang am Finanzamt vorbeikommen. So ist zum Beispiel der Aufbau Ost über die Sonderabschreibungen - Sie wissen, daß wir dies ursprünglich nicht wollten; wir wollten ein Zulagensystem - zu einem Vermögensbildungsprogramm West geworden. Das ist eines der Probleme, die wir vorgefunden haben. Dies hätte vernünftigerweise anders geregelt werden müssen. ({30}) Meine Damen und Herren, ich muß der Wahrheit die Ehre geben: Dies hat begonnen mit dem, was wir zuvor gemeinsam verabschiedet haben. Herr Poß hat vorhin zu Recht gesagt, daß die veranlagte Einkommensteuer wiederkommt. In diesem Frühjahr haben wir die Beendigung der Sonderabschreibungen „Aufbau Ost“ mit Wirkung zum 31. Dezember vergangenen Jahres gemeinsam beschlossen und die Finanzierung auf ein Zulagensystem umgestellt. Im nächsten Frühjahr werden Sie sehen, was das, wogegen Sie wütend angerannt sind, obwohl es auch in Ihren Petersberger Beschlüssen enthalten ist, hervorgerufen hat. ({31}) Beispiele: Teilwertabschreibung, das absolute Wertaufholungsgebot, die Einschränkung der gegenseitigen Verrechnung von Gewinnen und Verlusten aus unterschiedlichen Einkunftsarten, das Abzinsungsgebot zum Beispiel für Rückstellungen bei den Energieversorgungsunternehmen, die sie für die Entsorgung von Kernkraftwerken gebildet hatten. ({32}) Allein das - und deswegen ist die Mär von der Mit- telstandsbelastung falsch - macht 16,7 Milliarden DM aus. Jetzt komme ich zu Ihren niedrigeren Steuersätzen. Ihr Problem war - das wissen Sie ganz genau; deswegen haben Sie Frau Nolte am Schluß auch nicht durchgehen lassen, daß sie die Wahrheit gesagt hat -: Ihre Steuerre- form bedeutete einen Einnahmeausfall von rund 40 Mil- liarden DM für alle öffentlichen Kassen. Hinzu kam noch 1 Prozentpunkt mehr an Mehrwertsteuer. Das war politisch nicht verantwortbar. [Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Wahrheit ist, daß kein Ministerpräsident, auch keiner von der CDU, dies gewollt hat. Wir nehmen im Rahmen des Steuerentlastungsgesetzes eine Entlastung von - und das fällt für alle öffentlichen Haushalte hart genug aus - mehr als 20 Milliarden DM vor. Aber eine Herabsetzung auf 40 Prozent wäre nicht möglich gewesen. Sie haben sich ja am Schluß nicht einmal zu ihrer Gegenfinanzierung bekannt, die ja in dem gesamten Paket vorgesehen war. Nun komme ich zum zweiten Teil der Unternehmensteuerreform, über den Herr Solms ausschließlich gesprochen hat, obwohl der noch gar nicht vorliegt. Er hat über Empfehlungen der Kommission gesprochen, die - ganz zu Recht - drei Elemente der Besteuerung von Personengesellschaften vorsehen. Wir machen die entsprechenden Planspiele ja deshalb, weil wir bei dem einen Element, bei dem es in der Tat zu einer Belastung der kleinen und mittleren Unternehmen kommt, sagen: Genau das wollen wir nicht. Deswegen brauchen wir eine sorgfältige Gesetzgebung. Trotzdem bauen Sie immer einen solchen Popanz auf. Ich weiß nicht, ob Sie damit noch jemanden beeindrucken. Aber mit Wahrheit hat das jedenfalls gar nichts zu tun. ({33}) Wir müssen eine Unternehmensteuerrefom durchfüh- ren, um die Investitionen zu begünstigen; denn das ist wichtig. Auch das Realkapital bei uns muß erneuert werden. Das ist für die Schaffung von Arbeitsplätzen bedeutend. Nun müssen Sie sich entscheiden - denn sie wech- seln ständig die Prioritäten -, ob Sie jetzt, wenn wir eine ordentliche Senkung der Unternehmensteuersätze und eine Nettoentlastung vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen vornehmen, auch noch eine Senkung des privaten Spitzensteuersatzes fordern, ob- wohl, wie Sie auch wissen - deswegen ist Ihre Argu- mentation in volkswirtschaftlicher Hinsicht, Herr Solms, nicht sehr überzeugend -, in allen Industrielän- dern zwischen dem im Unternehmen verbliebenen Ge- winn und dem privaten Spitzensteuersatz unterschieden wird. [Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die haben doch eine andere Gesellschaftsstruktur! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) Wenn wir die Unternehmensteuerreform mit unseren Eckpunkten hinter uns haben und bei einer Belastung der Unternehmen von 38 Prozent und bei einem Spitzensteuersatz von 48,5 Prozent liegen, kommt es zu einer Spreizung von 10 Prozentpunkten. Das ist im europäischen Umfeld so ziemlich die niedrigste Spreizung, die es gibt. Die benachbarte Niederlande haben eine Spreizung von 25 Prozentpunkten, und zwar bei 35 auf der einen und 65 Prozent auf der anderen Seite. Die Niederländer reduzieren jetzt den Spitzensteuersatz auf 52 Prozent. Es bleibt aber immer noch eine Spreizung von 17 Prozentpunkten übrig. Angesichts dessen müssen Sie sich fragen, ob Sie, wenn Sie eine europaweit konkurrenzfähige Unternehmenbesteuerung durchführen wollen - das müssen wir -, gleichzeitig an die Senkung des Spitzensteuersatzes herangehen wollen und woher Sie das Geld dafür nehmen. Das mag alles schön sein. Aber in Wirklichkeit heißt das, daß Sie die Unternehmen nicht so sehr entlasten können, wie wir das eigentlich wollen. Beim Rückblick auf die 16 Jahre Ihrer Regierungspolitik ist festzustellen: Durch unser Steuerentlastungsgesetz, das in diesem Jahr in Kraft getreten ist, wird in dieser Wahlperiode der Spitzensteuersatz um 4,5 Punkte gesenkt, und zwar von 53 auf 48,5 Prozent. Das ist bereits Gesetz. Sie haben in Ihren 16 Regierungsjahren gerade einmal eine Senkung um 3 Prozentpunkte hinbekommen, und zwar von 56 auf 53 Prozent. Mehr nicht! Auch aus diesem Grunde sollten Sie mit Ihrer Polemik ein bißchen vorsichtig sein. ({34}) Was den unteren Rand, dem unsere Leidenschaft auch aus vernünftigen ökonomischen Gründen - zugegebenermaßen mehr gehört, betrifft: Da haben Sie eine merkwürdige Politik gemacht. Es ging immer hin und her: einmal bis zu 3 Prozentpunkte runter und dann wieder 3 Prozentpunkte rauf. Im Rahmen unserer Steuerreform, die wir Anfang dieses Jahres beschlossen haben, geht der Eingangssteuersatz in einer Wahlperiode um 6 Prozentpunkte zurück, und zwar von 25,9 auf 19,9 Prozent. Das hat es noch nie in Deutschland gegeben. ({35}) Herr Gysi hat natürlich recht, wenn er sagt, daß das allen zugute kommt. Aber es kommt vorrangig den Empfängern unterer Einkommen zugute - deswegen ist diese Reform ja so teuer -, und das wollen wir auch. Daher weise ich darauf hin: Wer darüber nachdenkt, wie wir das Problem des Transfereinkommens, also das des Übergangs von Nichtbeschäftigten zu Beschäftigten, besser lösen, der wird sich, wenn er denn kann, noch einmal mit dem Eingangssteuersatz beschäftigen müssen. Das wäre eine vernünftigere Idee als manch andere. ({36}) Zum vorliegenden Gesetzentwurf zur Familienförderung: Es ist zu betonen, daß trotz einer solchen Haushaltslage sehr viel in sehr kurzer Zeit getan wird. In der Koalitionsvereinbarung haben wir für diese Wahlperiode eine Erhöhung des Kindergeldes um 40 DM versprochen. Wenn das, was wir hier vorgeschlagen haben, am 1. Januar 2000 im „Bundesgesetzblatt“ steht - ich vermute einmal, daß Sie nicht dagegen stimmen werden, ({37}) obwohl Sie im vergangenen Jahr immer erklärt haben, daß eine Erhöhung des Kindergeldes nicht so wichtig sei; dazu könnte man einmal Reden aus dem vergangenen Jahr heraussuchen; ich bin mir aber sicher, daß Sie nicht dagegen stimmen -, dann werden wir bereits nach einer Regierungstätigkeit von 14 bzw. 15 Monaten mehr getan haben, als wir am Beginn der Wahlperiode in Kenntnis der schwierigen Haushaltslage versprochen haben. Das sollte uns einmal jemand nachmachen. ({38}) Zum Steuerbereinigungsgesetz sage ich nur: Ich habe mit großem Amüsement gehört, daß Sie, Herr Gysi, jetzt zum Befürworter der Steuerfreiheit der Erträge aus der Kapitallebensversicherung mutieren. Das werde ich den Versicherungen erzählen. Die werden Ihnen die Bude einrennen. Da können Sie noch Stimmen sammeln. Dieses Steuerschlupfloch wollen wir wirklich schließen. Ich weiß, Sie von der Opposition wollten es mit Eingriffen in die bestehenden Verträge schließen. Das haben wir uns nicht getraut. Das gebe ich offen zu. Das ist vielleicht auch nicht richtig. Aber wir wollen es schließen, weil es uns zuallererst darauf ankommt - das ist doch das Interesse der Gemeinschaft -, daß alle im Alter ein regelmäßiges gesichertes Einkommen haben, mit dem sie vernünftig auskommen können, das über der Sozialhilfe liegt und das ihren Lebensstandard einigermaßen sichert. Das wollen wir steuerlich fördern. ({39}) Darüber hinaus kann von mir aus jeder machen, was er will. Aber Gegenstand besonderer Steuersubventionen muß das wirklich nicht sein. ({40}) Herr Gysi, ich bin sehr gespannt, ob die PDS das fordert. Wir sollten an anderer Stelle einmal darüber sprechen, was das eigentlich bedeutet. Ferner aber, meine Damen und Herren, gibt es eine Menge an Bereinigungen, die wir im Hinblick auf EURecht machen müssen. Es gibt auch einige Bereinigungen - das ist jedes Jahr so - im Zusammenhang mit dem Steuerentlastungsgesetz. Es ist wahr - und das sollten wir lernen -, daß der bloße Steuersatz, den man festlegt, das Geld nicht bringt, wenn sich das ganze Umfeld nicht entsprechend bewegt. Deswegen müssen wir selbstverständlich eine Steuerpolitik - künftig wird das übrigens auch bei den Abgabensystemen so sein - mit Blick auf unsere Nachbarn machen; denn wir sind nun einmal nicht mehr alleine. Der Hinweis, daß das so sein muß, ist richtig. Die europäische Einigung muß in diesem Punkt vorangehen. Sie wird in vielen anderen Feldern vorangehen müssen. Wir müssen uns mit unserem Rechtssystem darauf einstellen. Zum letzten Punkt: Ökosteuer und der Lohnnebenkosten. Ich sage es noch einmal in aller Ruhe: Ich hatte den Eindruck - Herr von Weizsäcker hat das sehr nachdrücklich geschildert -, daß inzwischen zwei Dinge Gemeingut sind - unabhängig davon, ob man schon in der Lage war, das in Handeln umzusetzen: Zum einen ist es in der Zeit hoher Arbeitslosigkeit ein fundamentaler Fehler, die Arbeit so teuer zu machen. Das bedeutet jetzt nicht, man muß Druck auf die Einkommen der Arbeitnehmer ausüben. Es geht darum, daß wir zu hohe Lohnnebenkosten haben. Das hängt auch von den Tarifvertragsparteien - nicht nur vom Staat - ab. Wir müssen die Lohnnebenkosten senken, wenn wir Chancen für Arbeit schaffen wollen. Zum anderen ist es gut, wenn wir mit dem knappen Gut unserer natürlichen Ressourcen sparsamer umgehen und wenn wir insbesondere entsprechende Preissignale setzen. Denn das ist marktwirtschaftlich die vernünftigere oder jedenfalls die interessantere Lösung, als nur Ordnungspolitik zu betreiben. Denn Ordnungspolitik verlangt immer sogleich einen größeren Überwachungsapparat. Diese beiden Punkte sind richtig und können überhaupt nicht bestritten werden. Meine Damen und Herren, wenn Sie uns nun vorwerfen, daß wir vorsichtiger als Sie Anfang der neunziger Jahre - da waren es nämlich bei der Mineralölsteuer 50 Pfennig in fünf Jahren -, ({41}) aber systematischer an das Problem herangehen, weil wir ein langfristiges Signal setzen und nicht einfach Haushaltslöcher stopfen wollen und weil wir gleichzeitig das Geld für die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge nutzen werden, während in Ihrer Zeit sowohl die Mineralölsteuer als auch die Lohnnebenkosten gestiegen sind, dann sind Sie schlechte Kritiker unseres Vorhabens. ({42}) Auch an dieser Stelle gilt eines wieder: Ganz plötzlich - das betrifft Sie, Herr Solms - wechseln Sie die Prioritäten und sagen: Wenn ihr die Verbrauchsteuern erhöht, dann macht das, um die direkten Steuern zu senken. Dabei haben Sie selbst die ganze Zeit davon geredet, was für ein Problem die Lohnnebenkosten darstellen. Sie kamen doch gar nicht ohne unsere Hilfe aus. Sie hätten das auch mit der Mineralölsteuer machen können. Sie haben aber über die Mehrwertsteuer verhindert, daß der Rentenversicherungsbeitrag gestiegen ist. Jetzt sagen Sie mir einmal, was daran im Prinzip anders als bei unserem Konzept ist und wieso Sie jetzt plötzlich, nur weil wir das fortsetzen, die Prioritäten wechseln. Damals haben Sie doch mit uns - das ging sogar auf Ihre Initiative zurück; wir hatten doch gar keine Veranlassung dazu beschlossen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um die Rentenversicherungsbeiträge nicht über 21 Prozent steigen zu lassen. Ich fände es ganz in Ordnung, wenn wir auf der Basis unseres gemeinsamen Verhaltens - also auf Basis dessen, was jeder von uns in der Vergangenheit gemacht hat miteinander diskutieren würden. Das würde manche Debatte - es ist schon witzig, welche Volten so geschlagen werden - ein ganzes Stück versachlichen und würde hier und dort vielleicht auch zu breiteren Mehrheiten führen, aber jedenfalls nicht dazu, daß wir den Leuten heute das Gegenteil von dem erzählen, was gestern noch galt. ({43})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Minister Eichel, gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Solms? Ich will vorweg darauf hinweisen, daß sich die Debatte wegen der Überschreitung der Redezeiten verlängert. Gleich haben wir auch noch zwei Kurzinterventionen. Nun der Kollege Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, darf ich Ihnen in Erinnerung rufen, daß es ein Kompromiß mit der Koalition war, einen demographischen Faktor in die Rentenversicherung einzubauen und einen Teil der versicherungsfremden Leistungen - das war unser Zugeständnis - über 1 Prozentpunkt mehr Mehrwertsteuer mitzufinanzieren. Das war der Kompromiß. Das gehört zusammen. Seitdem hat aber selbst Ihr Arbeitsminister zugestanden - insbesondere auch nach dem, was Sie jetzt bei der ersten Stufe der Ökosteuer gemacht haben -, daß die versicherungsfremden Leistungen durch die Zuschüsse aus dem Haushalt voll abgedeckt sind. Einen zusätzlichen Anlaß oder eine Begründung dafür, weitere Zuschüsse in die Rentenversicherung zu leiten, gibt es nicht. Was jetzt zu tun ist, ist, die Rentenversicherung in ihrer Struktur zu reformieren, damit sie auf Dauer bestandsfähig wird, und die Steuerpolitik so zu reformieren, daß sie auch den Ansprüchen des Kapitalmarktes und insbesondere der wirtschaftlichen Entwicklung des Arbeitsmarktes gerecht wird. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie sich nicht an diesen Kompromißzusammenhang erinnern. ({0})

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Solms, das war ein Kompromiß in Ihrer Koalition. Der erste Teil war nie Bestandteil unserer Zustimmung, wie Sie wissen. Gegenstand unseres Kompromisses - also zwischen der damaligen Regierungskoalition und der damaligen Opposition respektive der Bundesratsmehrheit - war der, daß der Rentenversicherungsbeitrag nicht über 21 Punkte steigen sollte und daß deswegen die Mehrwertsteuer um einen Punkt erhöht wird. Das war der Gegenstand unseres Kompromisses. Zu dem bekenne ich mich auch. Der ist qualitativ nicht anders als das, was wir machen. ({0}) ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Gysi hat seine Kurzintervention zurückgezogen, da es ohnehin eine Debatte dazu geben wird. Aber Herr Thiele möchte seine Kurzintervention aufrechterhalten. Bitte sehr.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, Sie hatten mich direkt zur Familie angesprochen. Sie haben auch die Wahrhaftigkeit angesprochen. Dazu möchte ich wie folgt Stellung nehmen: Erstens. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber einen Auftrag erteilt. Nicht der Bundesrat hat die Änderung des Gesetzes und die Erhöhung des Kindergeldes von 70 DM auf 200 DM beschlossen. Das hat vielmehr der Finanzausschuß und in der Folge des Finanzausschusses der Deutsche Bundestag beschlossen. Es gab keinen Druck des Bundesrates, sondern das hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Der Bundesrat hat dem nachher zugestimmt. ({0}) Der Deutsche Bundestag hat in diesem Zusammenhang nach dem Modell der F.D.P. und nicht der SPD die SPD wollte eine reine Transferleistung als soziale Wohltat an die Bürger, die F.D.P. wollte, daß die Bürger das Existenzminimum ihrer Kinder aus steuerfreien Geldern bestreiten können - 1996 erstmalig das Kindergeld im Einkommensteuergesetz als negative Einkommensteuer geregelt. Das ist vernünftig so, weil die Leistungen für die Familien in Form des Kindergeldes keine Wohltat eines Arbeitsministers oder des Staates sind. Jeder, der erwerbstätig ist, hat einen Anspruch darauf, das Existenzminimum aus steuerfreien Geldern bestreiten zu dürfen. Das war der Punkt, den wir damals durchgesetzt haben. Zweitens. Sie haben angesprochen, daß die Unternehmen entlastet würden. Mit keinem Gesetz, das heute von Ihnen vorgelegt wird, werden die Unternehmen auch nur um einen Pfennig entlastet: Im Gegenteil: Durch das Steuerbelastungsgesetz sind sie mehr belastet worden. Wenn Sie dann Ihre Unternehmensteuerreform, die eigentlich zum 1. Januar 2000 kommen sollte - das war im Bündnis für Arbeit verabredet -, jetzt aber auf 2001 verschoben wird, als Vision in den Raum stellen, kann ich nur sagen: Dazu werden wir noch fröhliche Debatten erleben. Denn Sie übersehen einen Unterschied: In Deutschland haben wir Personen und Personengesellschaften und keine Kapitalgesellschaften. Deshalb ist der Handwerker, der mittelständische Unternehmer nicht genauso zu behandeln wie eine große Aktiengesellschaft in Deutschland. Insofern ist das, was Sie wollen, ein Bruch mit unseren mittelständischen Wirtschaftsunternehmen. Damit werden wir uns in Zukunft noch konkret beschäftigen. Drittens. Die Lohnnebenkosten werden mit keinem dieser Gesetze auch nur um einen Pfennig gesenkt. Auch in dem Gesetz über die Erhöhung der ökologischen Steuer, die Verbrauchsteuererhöhung, die Sie ansprechen, ist mit keinem Wort davon die Rede, daß die Gelder zweckgebunden für die Rente genutzt werden. ({1}) Wenn Sie schon zu diesen Gesetzen sprechen, dann gehört das dazu. Viertens, zur Art der Finanzierung der deutschen Einheit: Ich glaube, inzwischen durchschaut jeder, daß man nicht sagen kann: In den 16 Jahren Regierung Kohl ist nur ein Schuldenberg entstanden. Diese 16 Jahre bestehen aus zweimal acht Jahren: acht Jahre bis zur deutschen Einheit und acht Jahre ab der deutschen Einheit. ({2}) Wir haben versucht - auch die damalige CDU/CSUF.D.P.-Bundesregierung -, die Finanzierung der deutschen Einheit in einem Solidarpakt mit einer stärkeren Berücksichtigung der Länder zu regeln. Die westdeutschen Länderministerpräsidenten haben sich dieser Herausforderung verweigert. ({3}) Deshalb hatte die Last ausschließlich der Bund zu tragen. Wenn Sie auf eine solche Gruppe von Ministerpräsidenten gestoßen wären, hätten Sie überhaupt nicht anders handeln können, als die damalige Bundesregierung gehandelt hat - vorausgesetzt, daß man die deutsche Einheit wollte und auch den Aufbau in den neuen Bundesländern wollte. Insofern ist es unredlich, diese Verschuldung der alten Koalition zuzuweisen. Sie ist die Folge eines sozialistisch ruinierten Landes. Dieser Last hat sich jeder zu stellen. Das haben wir gemacht. Deshalb bitte ich Sie, das Ammenmärchen, daß das alles die Regierung Kohl zu vertreten habe, nicht weiter zu erzählen und den wirklichen Zusammenhang zukünftig klarer darzustellen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Diese Kurzintervention war mindestens eine Minute zu lang; ich weise darauf nur hin. Es war eine „Langintervention“. Nun kehren wir sozusagen zur normalen Debatte zurück. ({0}) - Entschuldigung! Der Herr Minister darf antworten. Das war eine Kurzintervention.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Sie haben völlig recht: Den Freibetrag haben Sie durchgeboxt. Das war nie sozialdemokratische Politik. Insofern bin ich für Ihre Klarstellung dankbar. Wir wollten immer gleiches Kindergeld für alle. Sie haben ganz besonders den Anteil betont, der die Entlastung oben am höchsten macht. Das ist richtig so. ({0}) Zweiter Punkt - über dieses Problem wird man im Ernst reden müssen. Sie haben ja recht: Eine Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2000 kann es nicht geben, wenn man sie einigermaßen seriös machen will. Denn für die Personengesellschaften die gleiche Steuerentlastung zu erzielen, wie wir sie für die Kapitalgesellschaften relativ leicht erzielen können, ist steuerrechtlich schwierig. Das ist der ganze Hintergrund. ({1}) - Ich sagte doch schon: Das Thema Haushaltskonsolidierung scheint es in Ihren Köpfen überhaupt nicht zu geben. Sie können doch die Mark nur einmal ausgeben! Weil Sie immer geglaubt haben, wir könnten sie zweimal ausgeben, sind wir doch in der heutigen Situation. ({2}) Dann können Sie den Körperschaftsteuersatz eben nicht auf 25 Prozent senken. Allerdings müssen Sie dann fragen, wo Sie im europäischen Vergleich stehen. An diesem Punkt müssen wir auch über die Großen sprechen: Wir haben die meisten transatlantischen Unternehmen im Lande. Deren Ausschüttungsverhalten das kenne ich sehr gut - hat sehr viel damit zu tun, wie unsere Steuersätze im Vergleich zum übrigen Europa bzw. zu den Vereinigten Staaten aussehen. Da müssen Sie ehrlicherweise bekennen, daß Sie die Unternehmensteuern ein ganzes Stück höher lassen wollen, wenn Sie gleichzeitig den privaten Einkommenspitzensteuersatz drankoppeln. Das macht keinen Sinn. Das können wir zu einem späteren Zeitpunkt immer noch regeln, wenn das gewünscht wird. Wir müssen dann, glaube ich, auch noch einmal über den Eingangssteuersatz reden. Wer aber bei der Körperschaftsteuer einen Steuersatz von 25 Prozent - das erfordert eine große Kraftanstrengung - und eine genauso hohe Belastung bei den Personengesellschaften will, der hat nicht mehr das Geld, um den Einkommenspitzensteuersatz beim Privateinkommen zu senken, wie Sie das vorhaben; Sie machen da den Leuten etwas vor. ({3}) Letzter Punkt: Ich habe den Zusammenhang mit der deutschen Einheit völlig klar dargelegt. ({4}) - Dann wollen Sie nicht zuhören. Ich habe gesagt, die Kosten waren nötig; die bestreite ich nicht. Ich bestreite aber Ihre Finanzierung. Sie haben die Kosten in die Zukunft geschoben, statt seriös zu einem Zeitpunkt, wo wir es Ihnen noch angeboten hatten, eine solide Finanzierung, das hieß damals Steuererhöhung, zu machen. Das allein ist der Punkt. ({5}) Sie wissen das alle auch selber. Deshalb haben Sie einen solchen Scherbenhaufen hinterlassen. Ich beschwere mich nicht, daß diese Regierung das jetzt hauptverantwortlich abtragen muß. Aber es muß schon festgehalten werden, daß die Schulden in Höhe von 1,2 Billionen DM in Ihrer Zeit entstanden sind und daß Sie die Pflicht haben, an der Aufräumarbeit bei dem, was Sie selber hinterlassen haben, mitzuwirken. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Friedrich Merz.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede kritisiert, daß sich die Debatte des heutigen Vormittags zum Teil mit Themen beschäftigt, die nicht Gegenstand der eingebrachten Gesetzesentwürfe sind. Trotzdem haben Sie selber einen großen Teil Ihrer Redezeit darauf verwandt, um über andere Themen zu sprechen. Ich kritisiere das nicht. Ich glaube, die erste Sitzungswoche des Deutschen Bundestages in Berlin ist eine gute Gelegenheit, um auch über die Finanzpolitik im allgemeinen zu sprechen. Ich hätte es begrüßt, wenn Sie etwas früher das Wort ergriffen hätten; denn dann hätten wir wesentlich früher mit derselben Aussprache beginnen können. Lassen Sie mich nun etwas zur Entwicklung der öffentlichen Finanzen seit 1990 sagen. Richtig ist, daß viele von uns die tatsächliche Herausforderung, die mit der Überwindung der deutschen Teilung verbunden war, unterschätzt haben. Aber es ist auch richtig, daß es im Jahr 1990, als Sie, Herr Eichel, noch Ministerpräsident eines großen Bundeslandes waren ({0}) - oder gerade werden wollten -, eine Facette in den Verhandlungen über den Einigungsvertrag gab, die in der deutschen Öffentlichkeit fast vollständig vergessen worden ist. Auf sie möchte ich hinweisen. Die SPDgeführten Bundesländer haben im Jahr 1990, als der Einigungsvertrag zur Ratifikation im Bundesrat anstand, verlangt, im Rahmen einer Protokollerklärung zum Ratifikationsgesetz festzuhalten, daß der zu erwartende Privatisierungserlös aus der Tätigkeit der Treuhandanstalt zur Hälfte zwischen Bund und Ländern aufgeteilt wird. ({1}) Der damalige Verhandlungsführer der SPD-geführten Bundesländer ist ein Mann, der in der deutschen Öffentlichkeit noch immer nicht vergessen ist: Es war Oskar Lafontaine, der damalige Ministerpräsident des Saarlandes. Er selbst hat den zu erwartenden Erlös aus der Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt auf 500 Milliarden bis 1 Billion DM beziffert. Wer damals eine so eklatante Fehleinschätzung abgegeben hat, der hat nicht das Recht, andere zu kritisieren, die auch die Herausforderung der deutschen Einheit unterschätzt haben. ({2}) Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch an einen anderen Punkt. Als die Treuhandanstalt am 31. Dezember 1994 ihre Tätigkeit eingestellt hat, stand nicht ein Privatisierungserlös, sondern - wenn ich es richtig in Erinnerung habe - ein Defizit in Höhe von 270 Milliarden DM in den Büchern. Zu diesem Zeitpunkt redete allerdings niemand mehr vom Teilen zwischen Bund und Ländern. ({3}) - Damals waren Sie Ministerpräsident, Herr Eichel. - Es war völlig selbstverständlich, daß die bis zu diesem Zeitpunkt aufgelaufenen Defizite einschließlich der danach noch folgenden Altschulden der Kommunen aus der DDR vom Bund übernommen wurden. Ich sage Ihnen deshalb an dieser Stelle in aller Nüchternheit und Klarheit: Wer damals die deutsche Einheit nicht wollte - die meisten SPD-Ministerpräsidenten wollten sie nicht -, der hat heute nicht das Recht, uns zu kritisieren, daß wir sie falsch gemacht hätten. ({4}) In dem Jahr, als das von mir erwähnte Defizit der Treuhandanstalt offensichtlich wurde, hat es Verhandlungen zwischen dem Bund und den Ländern über die Neuverteilung des Steueraufkommens gegeben. Auch zu diesem Zeitpunkt waren Sie, Herr Eichel, Ministerpräsident. Damals haben sich die Ministerpräsidenten ich gebe zu, es waren nicht nur die SPD-Ministerpräsidenten -, nach dem Abschluß der Verhandlungen mit dem Bund landauf, landab gerühmt, daß sie den Bund über den Tisch gezogen und es fertiggebracht hätten, mehr als die Hälfte des Steueraufkommens, das der Gesamtstaat ausweist, für die Länder und die Kommunen zu vereinnahmen. Zu Beginn der 90er Jahre flossen fast zwei Drittel aller Steuereinnahmen in den Bundeshaushalt. Seit Mitte der 90er Jahre verfügt der Bund durch Ihr Mitwirken, Herr Eichel, nur noch über rund die Hälfte der Steuereinnahmen des Gesamtstaates. Wenn Sie das heute beklagen, dann beklagen Sie eine Entwicklung, die Sie selber als Ministerpräsident mitzuverantworten haben. ({5}) Sie stehen jetzt mit Ihrem Haushalt von zwei Seiten unter erheblichem Druck. Ich will Ihnen jetzt sagen wir werden die Diskussion fortsetzen, wenn der Bundeshaushalt für das Jahr 2000 nächste Woche von Ihnen eingebracht wird -: Wir werden uns der konstruktiven Mitwirkung an der Konsolidierung der Staatsfinanzen nicht versagen. Wir werden nicht nach dem Vorbild Ihres Amtsvorgängers Oskar Lafontaine Obstruktion und Blockade im Bundesrat praktizieren, und wir werden auch im Deutschen Bundestag als Opposition unseren Beitrag leisten. Ich füge gleichzeitig hinzu: Sie können von uns nicht erwarten, daß wir den grundlegend falschen Weichenstellungen der Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung unsere Zustimmung geben. ({6}) Ich möchte ein Thema ganz konkret aufgreifen, das Sie angesprochen haben, nämlich die Steuerpolitik der letzten 16 Jahre. Herr Eichel, die Steuerpolitik der letzten Bundesregierung hat nicht bei der Neuordnung des Kindergeldes zum 1. Januar 1996 begonnen; vielmehr haben wir insbesondere in den 80er Jahren eine Steuerpolitik betrieben, die auch Vorbild für die Steuerpolitik des nächsten Jahrhunderts in Deutschland sein könnte. Ich meine eine Steuerpolitik, die sich im wesentlichen auf die Stärkung der Wachstums- und Investitionskräfte der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland konzentriert hatte. Ich erinnere daran, weil die alte Regierung in den 80er Jahren in Deutschland eine Steuerreform auf den Weg gebracht hat - diese Steuerreform verbindet sich eng mit dem Namen des damaligen Finanzministers Gerhard Stoltenberg -, die Sie alle in der SPD nicht wollten. Am Ende dieser Steuerreform stand genau der Erfolg, den Sie heute für Ihre Politik beanspruchen, nämlich mehr Arbeitsplätze und eine niedrigere Staatsquote. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß das Thema Staatsquote in den Reden des Bundesfinanzministers überhaupt keine Rolle spielt, obwohl der unmittelbare Nachbar des Bundesfinanzministers - er sitzt neben Ihnen, Herr Eichel - keinen Jahreswirtschaftsbericht für den ist er nicht mehr zuständig -, aber einen Wirtschaftsbericht für das Jahr 1999 herausgegeben hat, in dem das ehrgeizige Ziel formuliert ist, die Staatsquote in der Bundesrepublik Deutschland auf 40 Prozent abzusenken. Herr Eichel, bei irgendeiner Gelegenheit hätte ich gern von Ihnen gewußt, ob Sie das Ziel Ihres Nachbarn, des Bundeswirtschaftsministers, teilen, die Staatsquote in Deutschland auf 40 Prozent abzusenken. Mit der Politik, die Sie gegenwärtig betreiben, werden Sie gegenüber der Staatsquote des Jahres 1998 am Ende des Jahres 1999 vermutlich eine höhere Staatsquote erzielen. ({7}) Ich erinnere an die Steuerpolitik der 80er Jahre, weil in dieser Zeit in drei Stufen - 1986, 1988 und 1990 eine steuerliche Nettoentlastung in der Bundesrepublik Deutschland für Betriebe und für Familien in einer Größenordnung von gut 45 Milliarden DM realisiert worden ist. Auch damals gab es in den öffentlichen Haushalten Zwänge. Aber Gerhard Stoltenberg und die damalige Bundesregierung haben immer den richtigen Ansatz vertreten, daß eine auf die Stärkung der Investitions- und Wachstumskräfte in der Volkswirtschaft ausgerichtete Steuerpolitik innerhalb sehr kurzer Zeit auch wieder zu höheren Steuereinnahmen führen wird. Ich habe in den letzten Tagen die Zahlen nachgelesen, um sie Ihnen hier vorzutragen. Die mit der dritten Stufe der Steuerreform 1990 in Kraft getretene Nettoentlastung hat bereits im ersten Jahr nach der dritten Stufe, nämlich im Jahr 1991, Steuermehreinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden in einer Größenordnung von 115 Milliarden DM gegenüber dem Jahr vor Beginn dieser dreistufigen Steuerreform gebracht. Das zeigt eines ganz deutlich: Wenn Sie eine wirtschaftspolitisch ausgerichtete Steuerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland betreiben, dann können Sie dadurch nicht nur höheres Wachstum und mehr Arbeitsplätze schaffen, sondern auch einen erheblichen Teil an Mehreinnahmen für die öffentlichen Haushalte. ({8}) Sie sollten wenigstens den Versuch machen, Ihre Steuerpolitik, die Sie mit der am 1. April in Kraft getretenen ersten Stufe begonnen haben, auf diese wirklich entscheidende Zielrichtung abzustellen, nämlich auf die Stärkung der Wachstumskräfte in Deutschland. Bis zum heutigen Tag ist Ihnen aber nachweislich das Gegenteil gelungen. Wir hatten im Jahr 1998 - das war das letzte dieser „schrecklichen“ Jahre, in der die CDU/CSU regiert hat ein reales wirtschaftliches Wachstum von 2,8 Prozent. ({9}) Im ersten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit hat es im Vergleich zu allen europäischen Ländern - ich mache diesen Vergleich bewußt, damit Sie nicht behaupten können, es handele sich um externe Schocks aus Asien, Rußland oder Südamerika - in der Bundesrepublik Deutschland den höchsten Wachstumseinbruch gegeben. Sie stehen am Ende dieses Jahres mit einem wirtschaftlichen Wachstum von nur noch 1,5 bis 1,6 Prozent da. ({10}) So sieht das erste Jahr der rotgrünen Bundesregierung aus, wo doch, wie wir gehört haben, in diesem Jahr nicht alles anders, aber vieles besser werden sollte. Nichts ist durch Ihre Steuerpolitik besser geworden. Der Kollege Thiele hatte eben völlig zu Recht darauf hingewiesen: Sie haben mit dieser Steuerpolitik Vertrauen in die auf Stetigkeit bedachte und langfristig angelegte Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zerstört. ({11}) Sie haben kritisiert, daß es uns in 16 Jahren nicht gelungen sei, den Spitzensteuersatz zu senken. Zu einer solchen Kritik gehört wirklich Mut. Sie haben doch zu denen gehört, die im Jahre 1997 eine grundlegende Reform unseres Steuersystems im Bundesrat verhindert haben, durch die der Spitzensteuersatz in der Bundesrepublik Deutschland von 53 auf 39 Prozent abgesenkt werden sollte. Sie können sich doch heute nicht darüber beklagen, daß das nicht gelungen ist, wenn Sie selbst zu denen gehört haben, die dafür Verantwortung tragen, daß es verhindert wurde. ({12}) In diesem Zusammenhang will ich auch ganz freimütig zugeben: Natürlich gab es ein gewisses Gegenfinanzierungsrisiko bei dieser Steuerreform, die wir 1996/97 konzipiert haben. Wir haben aber immer gesagt, daß wir bereit gewesen wären, mit der Opposition im Deutschen Bundestag wie mit der Mehrheit im Bundesrat Verhandlungen darüber zu führen, ob eine solche Steuerreform, wenn die öffentlichen Haushalte es nicht hergeben, nicht möglicherweise in Stufen verwirklicht werden sollte. Wir haben immer gesagt, ein Satz von 39 Prozent muß nicht im ersten Schritt realisiert werden. Die Reform ist aber nicht daran gescheitert, daß Sie gesagt hätten, 39 Prozent seien zu niedrig, 45 Prozent wären besser, sondern sie ist gescheitert, weil Sie, Herr Eichel, im Bundesrat eine parteipolitisch motivierte Strategie mitgetragen haben, die damals überhaupt keine Kompromißfähigkeit mehr erkennen ließ. ({13}) Erlauben Sie mir, daß ich einige Anmerkungen zu dem Thema Ökosteuer mache. Es ist ja schon in den ersten Runden hier etwas dazu gesagt worden. In diesem Zusammenhang haben Sie hier ein Wort gebraucht, das mich außerordentlich hellhörig gemacht hat. Dem Sinne nach haben Sie gesagt: Ordnungspolitik in diesem Zusammenhang hat immer etwas mit mehr Überwachung durch den Staat zu tun. ({14}) - Nein, er sprach von Ordnungspolitik, aber sei es drum; vielleicht hat er sich versprochen. Sprechen wir lieber über den Kern des Themas. Natürlich kann man die Frage diskutieren, ob es nicht richtig ist, in unserem Steuersystem den Anteil der indirekten Steuern zugunsten einer Absenkung der direkten Steuern zu erhöhen. Insbesondere vor dem Hintergrund der Liberalisierung der Energiemärkte, durch die Monopolgewinne und tatsächliche Belastungen erheblich reduziert werden, kann man die Frage stellen, ob es nicht richtig wäre, durch eine etwas höhere Besteuerung von Energie Probleme zu lösen, die wir im Steuer- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland insgesamt haben. ({15}) - Das ist übrigens keine neue Erkenntnis, sondern diese Diskussion führen wir schon viel länger, als Sie hier sitzen. ({16}) Gleichzeitig haben wir aber immer gesagt, daß die einseitige Anhebung von Ökosteuern und die Verwendung dieser Erträge zur Quersubventionierung der Sozialversicherungssysteme aus mehreren Gründen der falsche Weg ist. Ich will Ihnen einen entscheidenden Grund nennen: In den letzten Jahren haben wir uns über die sogenannten versicherungsfremden Leistungen gestritten. Die Leistungen der Rentenversicherung, die nicht durch Beiträge abgedeckt gewesen waren, hatten ein Volumen von etwa 90 Milliarden DM. Über eine Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen aus dem allgemeinen Staatshaushalt sind wir längst hinaus. Die Finanzierung der Rentenversicherung durch Ökosteuern und allgemeine Steueraufkommen hat in diesem Jahr eine Höhe von 119 Milliarden DM erreicht. Die zweite, dritte, vierte und fünfte Stufe der Ökosteuer, die Sie von den Koalitionsfraktionen uns heute in diesem Gesetz vorgelegt haben, werden dazu führen, daß wir nach der fünften Stufe 150 Milliarden DM auszahlen, die nicht mehr durch Beiträge, sondern durch allgemeine Steuern finanziert werden. Ein Staat, der auf diese Art und Weise mehr als ein Drittel der Rentenauszahlungsleistung nicht mehr durch Beiträge, sondern durch allgemeine Steueraufkommen finanziert, eröffnet sich damit - ich will es vorsichtig formulieren einen wesentlich größeren Spielraum für Rentenanpassungen je nach tagespolitischer Opportunität. Ich könnte auch sagen: einen wesentlich größeren Spielraum für Manipulationen. ({17}) Vor diesem Hintergrund erscheinen Ihre Beschlüsse, die Rentenanpassung in den Jahren 2000 und 2001 nur noch entsprechend der Inflationsrate vorzunehmen, natürlich in einem völlig anderen Licht. Sie befinden sich geistig schon auf dem Weg in die Staatsrente. Nur derjenige, der eine Staatsrente will, kann nach Maßstäben der tagespolitischen Opportunität Rentenanpassungen vornehmen. Wir widersprechen nachhaltig dem Versuch, die Probleme der Rentenversicherung dadurch zu lösen, daß Sie nur eine neue Finanzierungsquelle suchen. Das ist die entscheidende Kritik, die wir an diesem Konzept der sogenannten ökologisch-sozialen Steuerreform üben. Sie befinden sich mit dieser Steuerpolitik und dieser Sozialpolitik auf einem grundlegend und, wenn Sie so wollen, ordnungspolitisch völlig falschen Weg. ({18}) Sie werden die Probleme der Rentenversicherung, die wir unbestritten haben, nicht dadurch lösen, daß Sie nur eine neue Finanzierungsquelle suchen. In diesem Zusammenhang spreche ich etwas an, was Sie in dem vorliegenden Gesetzentwurf konkret ändern wollen, nämlich die Bedingungen für die Lebensversicherung. Auch wir haben nie bestritten, daß man die einseitige Privilegierung dieser besonderen Form der Kapitalbildung durch das Einkommensteuerrecht überprüfen muß. Wir haben damals eine Form diskutiert, die durchaus auch kritikwürdig war. Aber ich frage mich: Warum verschlechtern Sie die Bedingungen der Lebensversicherung jetzt, zu einem Zeitpunkt, zu dem es eigentlich an der Zeit wäre, eine grundlegende Neuordnung der Besteuerung der Alterseinkommen insgesamt vorzunehmen? ({19}) Ich frage mich auch: Warum warten Sie nicht wenigstens die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im Herbst über die Besteuerung der Alterseinkommen ab, ({20}) um danach eine in sich geschlossene, für alle Formen der betrieblichen, privaten und gesetzlichen AltersverFriedrich Merz sorgung gültige Lösung vorzuschlagen? Mit dem, was Sie jetzt machen, Herr Eichel, belasten Sie insbesondere diejenigen, die die Versorgungslücke haben werden, weil Sie nämlich nicht jetzt zugreifen, sondern, bei einer durchschnittlichen Dauer einer Lebensversicherung von 25 Jahren, erst im Jahr 2025 - in Kraft treten soll das ja ab dem 1. Januar 2000 -, also bei denen, die heute 20, 30, 40 Jahre alt sind und im Jahr 2025 eine Versorgungslücke in der gesetzlichen Rentenversicherung haben werden. Bei denen schlagen Sie mit der Besteuerung der Lebensversicherung zu, wenn sie das Kapitalwahlrecht in Anspruch nehmen. Übrigens: Ich halte die Differenzierung, die Sie im Gesetz vornehmen, für grob willkürlich. Sie beschränken damit die freie Verwendung des Kapitals aus einer Lebensversicherung in einer nicht sachgerechten und meines Erachtens auch verfassungsrechtlich höchst anfechtbaren Weise. ({21}) Ich will nur der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, daß Sie mit dieser Form der Besteuerung der Lebensversicherung in der Bundesrepublik Deutschland einen Markt zerstören, der sich erst seit dem 1. Januar 1994 herausbilden konnte, nämlich im Zuge der Liberalisierung und der Öffnung des europäischen Binnenmarktes. Die Besteuerung betrifft nämlich auch alle Lebensversicherungen, die von nichtdeutschen Bewohnern bei deutschen Gesellschaften erworben werden, also von Ausländern, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland eine DM-Police erwerben. Die Besteuerung in Deutschland, die zwangsläufig all diejenigen erfaßt, die hier in Deutschland eine Lebensversicherung abgeschlossen haben, zerstört einen erheblichen Markt der Dienstleistungen, die in der Bundesrepublik Deutschland für ausländische Steuerbürger erbracht werden können, die in Deutschland, nachdem das, was Sie hier vorschlagen, Wirklichkeit geworden ist, keine Lebensversicherung mehr erwerben werden. ({22}) Ich will in diesem Zusammenhang ein weiteres Thema ansprechen, bei dem Sie mittlerweile Gefangene Ihrer eigenen Wahlkampfrhetorik sind. Sie diskutieren seit der Sommerpause intensiv über die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe und jetzt über die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Herr Eichel, nachdem nun gestern unwidersprochen die Nachrichten durch die Medien gingen, daß das Bundesfinanzministerium plant, die Bewertungsgrundlagen für die Anwendung des Erbschaftsteuergesetzes zu ändern, hätte ich von Ihnen an dieser Stelle eine Klarstellung erwartet, daß Sie solche Pläne nicht haben. Ich erinnere daran, daß wir in der letzten Legislaturperiode, Ende 1996, rückwirkend in Kraft getreten zum 1. Januar 1996, schon einmal eine massive Anhebung der Erbschaftsteuer beschlossen haben. Wir haben damals übrigens, was die meisten von Ihnen offensichtlich nicht mehr wissen, den von uns geschätzten Privatanteil an der Vermögensteuer auf die Erbschaftsteuer übertragen und sie erheblich erhöht. Wir haben gleichzeitig auf Betreiben des Bundesrates sogar die Grunderwerbsteuer von 2 auf 3,5 Prozent erhöht und damit fast verdoppelt. Jetzt geht die Diskussion über die Erbschaftsteuer wieder los. Ich will Sie darauf hinweisen: Wir haben damals eine außergewöhnlich große Spreizung in der Bewertung des Betriebsvermögens und des Privatvermögens vorgenommen. Wir haben das gemeinsam getan, Bundestag und Bundesrat, weil wir uns von dem Gedanken haben leiten lassen, daß in Deutschland die Betriebsübergänge beim Erbgang von der Erbschaftsteuer weitestgehend verschont bleiben sollen. Wenn Sie die Bewertungsgrundlagen für die Anwendung des Erbschaftsteuergesetzes heute verschärfen, dann verschärfen Sie zwangsläufig die steuerliche Belastung all der Unternehmen, die sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im Erbübergang an die nächste Generation befinden. ({23}) Sie kommen wegen dieses Sachzusammenhangs, den ich aufgezeigt habe, nicht umhin, eine höhere Steuerbelastung zu realisieren. ({24}) Die eigentümergeführten Unternehmen in Deutschland insbesondere die des Mittelstandes - können eine höhere Erbschaftsteuerbelastung beim Übergang in die nächste Generation ohne Gefährdung ihrer Existenz nicht tragen. ({25}) Das sollten Sie wissen, Herr Eichel, wenn die Diskussion über die Erbschaftsteuer ihren Fortgang nimmt. Ich will Ihnen an dieser Stelle sagen, wo es in der Steuerpolitik eine Gerechtigkeitslücke gibt. Ich bin dankbar, daß Sie, Herr Bundeskanzler, wieder da sind. ({26}) - Nein, er war eben nicht da; aber das ist ja auch in Ordnung. ({27}) - Ich war die ganze Zeit da; andere waren es nicht. Aber das ist doch kein Thema! ({28}) - Ich habe gesagt: Ich freue mich, daß der Bundeskanzler wieder da ist. Teilt die SPD-Bundestagsfraktion diese Freude? - Danke schön. Ich will auf eine wirkliche Gerechtigkeitslücke hinweisen, die in der Steuerpolitik in der Tat besteht: Die Besteuerung von Kapitalerträgen ist nach wie vor nicht gleichmäßig. - Herr Bundeskanzler, Sie nicken. Es war eines Ihrer großen Vorhaben für die deutsche Ratspräsidentschaft, während der ersten sechs Monate des Jahres 1999 eine entsprechende Richtlinie in der Europäischen Union durchzusetzen, ({29}) die diese Gleichmäßigkeit der Besteuerung in Europa tatsächlich verwirklicht. Das war eines Ihrer großen Vorhaben. ({30}) Nur, in der entscheidenden Phase, als dies in Brüssel möglich war - und zwar auf Grund von Vorarbeiten, die Theo Waigel geleistet hat -, ist der Bundesrepublik Deutschland der Finanzminister abhanden gekommen. ({31}) Ich komme zum letzten Thema, den sogenannten Steuerschlupflöchern, die auch heute schon mehrfach zitiert worden sind. Richtig ist, daß unser außergewöhnlich kompliziertes Steuerrecht eine ganze Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, die wir aber, als der Gesetzgeber sie verabschiedet und in Kraft gesetzt hat, fast alle gekannt haben. Es handelt sich also nicht um Steuerschlupflöcher, sondern es handelt sich in der Regel um Steuergestaltungsmöglichkeiten, die wir aus finanz-, steuer- oder wirtschaftspolitischen Begründungen für richtig gehalten haben. Sie haben jetzt eines dieser sogenannten Steuerschlupflöcher geschlossen, indem Sie die sogenannte Mindestbesteuerung eingeführt und die eigentlich richtige und notwendige Verrechnungsmöglichkeit von positiven und negativen Einkünften bei den verschiedenen Einkunftsarten des Einkommensteuergesetzes stark begrenzt haben. Das ist sehr kompliziert. Aber ich will Sie auf eine Konsequenz hinweisen: Durch diese Mindestbesteuerung und durch die nicht mehr vorhandene Möglichkeit, entstandene Verluste bei der einen Einkunftsart mit Überschüssen der anderen Einkunftsart zu verrechnen, gefährden Sie in ihrer Existenz ganze Branchen, insbesondere diejenigen, deren Unternehmen in den ersten Monaten ihrer unternehmerischen Tätigkeit zwangsläufig hohe Anlaufverluste erwirtschaften. Ich nenne Ihnen eine Branche, die zu den in der Bundesrepublik Deutschland sich wirklich gut entwickelnden Branchen gehört und die gar nicht weit von diesem Ort ihr neues Zentrum gründet, nämlich die Filmwirtschaft in Deutschland. Die produzierenden Unternehmen der Filmwirtschaft erwirtschaften in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit typischerweise hohe Verluste, weil in den ersten Monaten der Tätigkeit eines solchen Produktionsunternehmens sämtliche Kosten anfallen. Sie versagen mit der fehlenden Möglichkeit der Verlustverrechnung mit anderen Einkunftsarten diesen Unternehmen jede Startchance. Sie werden in den nächsten Jahren erleben, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Filmwirtschaft kaum noch eine Chance hat, weil auf diese Art und Weise Verluste mit anderen Einkommen nicht mehr verrechnet werden können. Dieser Weg ist falsch, Herr Eichel, und er sollte im Zuge des Steuerentlastungsgesetzes korrigiert werden. ({32}) Lassen Sie mich zum Schluß deutlich machen, daß wir uns hier nicht um Details streiten. Manche steuerpolitische Einzelfallregelung erweckt den Eindruck, als gehe es hier wirklich nur um Stellen hinter dem Komma. In Wahrheit geht es in der steuerpolitischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition um die grundlegende Ausrichtung der Steuerpolitik in Deutschland. Wir widersprechen Ihnen mit Nachdruck, daß die Steuerpolitik, wenn sie nur ein höchstmögliches Maß an Verteilungsgerechtigkeit und ein höchstmögliches Maß an Binnenkaufkraft realisiert, zu den gewünschten Ergebnissen auf dem Arbeitsmarkt führen kann. Die Bundesrepublik Deutschland braucht eine Steuerpolitik, die sich ganz strikt darauf konzentriert, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Deutschland zu verbessern und nicht zu verschlechtern, eine Steuerpolitik, die sich strikt darauf konzentriert, die Investitions- und Wachstumskraft dieser Volkswirtschaft zu stärken. In den ersten zehn Monaten einer real existierenden rotgrünen Bundesregierung in Deutschland ist genau das Gegenteil von dem eingetreten. ({33})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit?

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen sage ich Ihnen eine sehr konstruktive, sehr kritische, in der Sache aber harte Auseinandersetzung über den zukünftigen Weg der Steuerpolitik dieser Bundesregierung voraus. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Merz, ich will nicht auf alles eingehen, was Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben. ({0}) Das geht auch nicht im Wege einer Kurzintervention. Ihre Rede hat sich nahtlos in das eingefügt, was wir in der letzten Zeit von Oppositionspolitikern erleben müssen. Sie beklagen die Verunsicherung der deutschen Wirtschaft und tragen dennoch durch Fehlinformationen in allen steuerpolitischen Bereichen massiv zur Verunsicherung der deutschen Wirtschaft bei. ({1}) Sie tun das teilweise wider besseres Wissen, teilweise aber auch in Unkenntnis des Steuerrechts. Ich will jetzt nur ganz kurz auf das eingehen, was Sie zum Erbschaftsteuerrecht gesagt haben, und dem Hohen Hause folgendes mitteilen. Es gibt im Bundesfinanzministerium eine Arbeitsgruppe von Beamten aus Bund und Ländern, die sich mit Bewertungsfragen befaßt. Sie wird im nächsten Jahr ihren Bericht vorlegen. Die Beamten kommen, wie gesagt, aus dem Bund und mehreren Ländern. Die Länder sind nicht politisch sortiert, sondern es handelt sich um eine ganz normale Arbeitsgruppe, die sich mit Bewertungsfragen befaßt. Bewertungsfragen gelten natürlich nicht nur für das Erbschaftsteuerrecht, sondern Bewertungsfragen von Immobilienvermögen gelten natürlich auch für das Grundsteuerrecht. In der Tat gibt es auch aus technischen Gründen möglicherweise Anpassungsnotwendigkeiten. Es ist im übrigen so, daß wir das bebaute und das unbebaute Immobilienvermögen durchaus unterschiedlich bewerten und daß wir es anders bewerten als anderes Vermögen. Das ist auch ein Grund dafür gewesen, weswegen gerade das im Vermögensteuerurteil des Bundesverfassungsgerichts gegeißelt worden ist. Vergleichbares, was im Vermögensteuerrecht als nicht mehr zulässig bezeichnet worden ist, haben wir im Erbschaftsteuerrecht. Damit ist aber keinesfalls irgendeine politische Vorentscheidung darüber gefällt worden, wie man mit dem Erbschaftsrecht in Zukunft umgehen wird. Es muß aber doch möglich sein, daß sich Beamte Gedanken über die Fortentwicklung des Steuerrechts unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten machen können. Sie haben davon gesprochen, daß es schwierig ist, den Übergang von Betriebsvermögen zu organisieren. Deshalb darf ich die gesamte Öffentlichkeit darauf hinweisen - Ihnen, Herr Merz, ist das wohl bewußt; Sie sagen das wider besseres Wissen -, daß wir so umfangreiche Freibeträge bei der Erbschaftsteuer auf Betriebsvermögen haben, daß eine Witwe mit zwei Kindern ein Betriebsvermögen in Höhe von 2,7 Millionen DM vollkommen erbschaftsteuerfrei erben kann. Der von Ihnen angesprochene Mittelstand, der normale Handwerksbetrieb und alle anderen, die man dabei ins Auge fassen kann, können also im Regelfall erbschaftsteuerfrei erben. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Merz, möchten Sie darauf antworten? Es muß nicht sein. Bitte.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich mache nicht von den drei Minuten Gebrauch, die die Kollegin beansprucht hat. Ich will nur eines sagen: Ein Betriebsvermögen in Höhe von 2 Millionen DM oder 2,5 Millionen DM ist noch nicht einmal das Vermögen eines sehr kleinen mittelständischen Unternehmens. Ich nehme Ihre Kurzintervention zum Anlaß, festzustellen, daß Sie im Bundesfinanzministerium nur über Bewertungsfragen und nicht über Steuererhöhungsfragen nachdenken lassen. Wenn das anders ist, bitte ich um ausdrücklichen Widerspruch, damit wir bei Gelegenheit darauf zurückkommen können. Herzlichen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Gisela Frick.

Prof. Gisela Frick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002656, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kurzintervention der Frau Staatssekretärin Hendricks kann nicht ganz unwidersprochen bleiben, auch wenn Herr Merz schon selbst geantwortet hat. Sie haben damit einen ganz interessanten Punkt angesprochen, nämlich die Diskussion über die Vermögensteuer bzw. Vermögensabgabe in Ihrer Koalition, insbesondere in der SPD-Fraktion. Sie haben gesagt: Die Bewertung brauchen wir nur für die Erbschaftsteuer, allenfalls noch für die Grundsteuer. Genau das war ein wesentlicher Vorteil der Neuregelung, die wir, unsere Koalition, in der letzten Wahlperiode getroffen haben. Wenn Sie jetzt wieder zur Vermögensteuer oder zu einer Vermögensabgabe zurückwollen, stehen Sie wieder vor dem Problem, daß Sie eine Dauerbewertung für die Immobilien - egal, ob bebaut oder unbebaut, ob privat oder betrieblich - brauchen. Insofern haben Sie hier schon wunderbar die Argumente vorgetragen, die wir später beim Kampf gegen eine Vermögensteuer oder eine Vermögensabgabe benutzen werden. Wir brauchen so etwas in Zukunft nicht mehr, und wir wollen auch nicht dahin zurück. Das ist ganz eindeutig unsere Position. Deshalb wollen wir auch nichts mehr von der Bewertung des Immobilienvermögens hören. ({0}) Daß die Vermögenswerte für Immobilien verhältnismäßig schonend festgesetzt werden, haben wir überhaupt nicht bestritten. Aber das Bundesverfassungsgericht hat dies ausdrücklich zugelassen. Nicht zugelassen hat das Bundesverfassungsgericht, daß sozusagen auf kaltem Wege die Werte bei der Einheitsbewertung nicht mehr stimmten. ({1}) Das Gericht hat aber ausdrücklich gesagt, wenn es insbesondere aus Gründen der Sozialpflichtigkeit, wie es beim Betriebsübergang der Fall ist - gewollt sei, dann könne es gemacht werden. Das gilt natürlich auch für immobiles Vermögen. Das haben wir damals auf mein Betreiben - daran erinnere ich mich noch - in die Begründung hineingeschrieben, so daß wir auch deshalb etwas schonender an die Bewertung des Immobiliarvermögens herangegangen sind, weil hier eben die Sozialbindung gegeben ist. Insofern müssen hier andere Regeln als beim Geldvermögen oder bei sonstigem leicht zu bewertenden Vermögen herrschen. Ich möchte die Mahnung von Ihnen, Herr Eichel, aufgreifen, beim Thema zu bleiben. Ich weiß allerdings nicht, ob bei Ihnen die Freude größer wird, wenn ich beim Thema bleibe. Versprechen kann ich Ihnen das beim besten Willen nicht. Wir haben heute drei Steuergesetze zu debattieren. Bei allen drei Steuergesetzen stimmt schon die Überschrift nicht. ({2}) - Ich komme gleich zur Familienförderung, Herr Müller; keine Sorge! - Es wäre ja nicht schlimm, wenn es nur eine Frage der Sprache wäre. Aber diese falschen Überschriften zeigen eben auch die falsche „Denke“, die bei Ihnen in der Regierungskoalition herrscht. Fangen wir gleich mit der Familienförderung an, Herr Müller. Der Entwurf heißt „Gesetz zur Familienförderung“. Familienförderung ist aber ein äußerst schmaler Bereich des Inhalts dieses Gesetzentwurfes. Das haben Sie in § 31 selbst ganz klar ausgeführt schauen Sie in Ihren eigenen Entwurf hinein -, wo es heißt, Aufgabe des Freibetrages sei es, das sächliche Existenzminimum und den Betreuungsbedarf steuerfrei zu stellen. Die entsprechende Forderung haben wir schon seit langer Zeit immer wieder vom Bundesverfassungsgericht auf den Tisch bekommen. Wenn es nur um die Freistellung des Existenzbedarfes geht, ist von Förderung noch überhaupt keine Rede, ({3}) ob es sich nun um das sächliche Existenzminimum oder um den jetzt neu einzuführenden Betreuungsbedarf handelt. Es ist eine selbstverständliche Folge der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. ({4}) Wenn Aufwand für den Unterhalt von Kindern und für die Betreuung von Kindern anfällt, dann ist die Steuerfreistellung eine Selbstverständlichkeit ({5}) und noch keine Förderung. Förderung ist nur in dem schmalen Bereich gegeben, in dem das Kindergeld für die Steuerfreiheit des Existenzminimums - wohlgemerkt: unter Einschluß des Betreuungsbedarfes - nicht erforderlich ist. Da ist ein kleiner Überschuß und manchmal auch ein etwas größerer Überschuß vorhanden, und da gibt es eine Förderung. Aber der Schwerpunkt des Gesetzes liegt ganz eindeutig auf der Steuerfreistellung des Existenzminimums und damit natürlich auch auf einer entsprechenden Durchführung mittels Freibeträge. In diesem Zusammenhang muß ich leider auf etwas zurückkommen, was ich in meiner allerersten Rede im Januar 1995, in meiner sogenannten Jungfernrede, im Bundestag schon einmal gesagt habe und was leider immer noch aktuell ist: Wenn Sie immer wieder gebetsmühlenhaft behaupten - das gilt beileibe nicht nur für Sie, Herr Müller, der sie gerade so erwartungsfroh gucken, sondern für die ganze Koalition -, ({6}) daß jedes Kind dem Staat gleich viel wert sein muß, dann sage ich: Genau das wird mit den gleich hohen Freibeträgen gemacht. ({7}) Ich will nicht für Kinder von Beziehern höherer Einkommen den Kaviar berücksichtigen, indem ich einen höheren Freibetrag für das sächliche Existenzminimum einsetze, und ich will auch nicht die englische Nurse berücksichtigen, indem ich einen höheren Freibetrag für die Kinderbetreuungskosten einsetze. Vielmehr ist es ein und derselbe Freibetrag. Die Tatsache, daß er sich unterschiedlich auswirkt, ist ausschließlich nur eine Folge der Steuerprogression. ({8}) Ich habe schon 1995 gesagt: Wenn Sie diese Situation nicht wollen, dann seien Sie bitte auch konsequenterweise gegen einen progressiven Tarif bei der Einkommensteuer. Das höre ich aber von Ihnen beileibe nicht. Seien Sie also konsequent! Wenn Sie darüber hinaus mehr für eine echte Förderung der Familien tun wollen, dann erhöhen Sie das Kindergeld. ({9}) Diese Maßnahme können Sie zusätzlich durchführen. In diesem Punkt werden Sie uns immer an Ihrer Seite finden. Es geht aber in erster Linie um die steuerliche Komponente. In diesem Zusammenhang - das hat eben auch die Staatssekretärin gesagt - reicht die Regelung bezüglich des Freibetrages natürlich aus, weil es dabei nur um eine gerechte Erfassung der Leistungsfähigkeit geht. Soweit meine kurzen Ausführungen zu dem Gesetzentwurf zur sogenannten Familienförderung. Wenn Sie den Gesetzentwurf zur Ökosteuer als den „Entwurf eines Gesetzes zur Fortführung der ökologischen Steuerreform“ bezeichnen, dann kann ich nur sagen: Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur für die Opposition, sondern für die gesamte Bevölkerung eine Drohung, ({10}) weil Sie diesen Unsinn, den Sie mit der ersten Stufe der ökologischen Steuerreform angerichtet haben, noch fortführen wollen. Obwohl es heute schon häufiger gesagt worden ist, stelle ich noch einmal fest: Es handelt sich um ein Abkassieren und hat überhaupt keinen ökologischen Sinn. ({11}) Ich will es einmal ein wenig auf die Spitze treiben. Wir haben heute von der Koalition mehrfach gehört, daß diese Ökosteuer hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Gesamtbelastung aufkommensneutral ist. Ich sage: Es handelt sich um eine reine Aufkommenssteuer, die, wenn Sie Glück haben, im besten Falle ökoneutral ist. Aber auch das bezweifle ich. ({12}) Ich brauche nicht noch einmal zu betonen - dieser Punkt ist schon x-mal angesprochen worden -, daß eine soziale Schieflage vorliegt, weil eine Deckung allenfalls im gesamtvolkswirtschaftlichen Vergleich einigermaßen vorhanden ist. Ich komme zu dem dritten Gesetzentwurf, zu dem Entwurf des sogenannten Steuerbereinigungsgesetzes. Wie kann man um Gottes Willen etwas bereinigen, was im Kern so verkorkst ist, daß es verkorkster gar nicht mehr sein kann? ({13}) Da ein kleines bißchen Kosmetik zur Bereinigung zu betreiben reicht überhaupt nicht aus. Herr Eichel, ich habe mich sehr gefreut, als Sie in der ersten Woche nach ihrem Amtsantritt dem Finanzausschuß einen Besuch abgestattet haben - im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger, der nie erschienen war. Sie haben uns bei diesem Besuch die Agenda für die künftige Arbeit im Finanzausschuß vorgetragen. Vielleicht erinnern Sie sich, daß ich damals schon gesagt habe: Alles, was Sie vorgetragen haben, insbesondere in bezug auf die Unternehmensteuerreform, ist richtig; das sehen wir genauso. Wir warten gerne ab, welche Regelungen folgen werden. Ich habe Ihnen damals auch gesagt, daß Sie etwas ganz Wichtiges vergessen haben. Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß wir - damit meine ich die Regierungsfraktionen im Bundestag und nicht die Oppositionsfraktionen - die ganze Legislaturperiode damit beschäftigt sein werden, Korrekturgesetze durchzuziehen, um den Unsinn, der zu Beginn dieser Legislaturperiode angerichtet wurde, wieder einigermaßen aus der Welt zu schaffen. Jetzt machen Sie mit dem sogenannten Steuerbereinigungsgesetz einen allerersten zaghaften Schritt; denn interessanter als das, was darin enthalten ist, ist eigentlich all das, was fehlt, was aber auch bereinigt werden müßte. ({14}) Es ist eine Katastrophe, daß es in diesem Zusammenhang nur wenige Änderungen, zum Beispiel hinsichtlich des § 50a Abs. 7, gibt. In der Begründung zu dieser Änderung heißt es, daß sich nach den bisherigen Erkenntnissen die neue Vorschrift zur Erreichung des gewünschten Zieles nicht bewährt hat. Das haben Sie immerhin schon im August erkannt, nachdem Sie im März dieses Gesetz, das am 1. April in Kraft treten sollte, erlassen hatten. Konsequenterweise wird es rückwirkend zum 1. April schon wieder außer Kraft gesetzt. Mit anderen Worten: Es galt also nie. Dennoch wollen Sie uns erzählen, daß durch Ihre Politik die Wirtschaft nicht verunsichert wird. Ja, man weiß doch überhaupt nicht, was heute gilt. ({15}) Wir haben keine Klarheit darüber, ob Sie im Oktober nicht rückwirkend zum April Gesetze ändern, die die Unternehmer und die Bürger heute für geltendes Recht halten. Eine Bereinigung reicht nicht aus. Sie müssen vielmehr neu von vorne anfangen. Ich habe schon in einer anderen Diskussion über die Steuerpolitik gesagt: Ihre grundsätzliche Konzeption ist falsch. Stampfen Sie alles ein! Der Papierkorb reicht dazu nämlich nicht aus, allenfalls der Reißwolf. Machen Sie alles noch einmal neu, und machen Sie es richtig! Sie haben uns damals im Finanzausschuß - das habe ich mit großem Vergnügen gehört - versprochen: In Zukunft soll Sorgfalt vor Schnelligkeit gehen. Ich erinnere Sie an dieses Versprechen. Das Steuerbereinigungsgesetz ist schon wieder ein Schnellschuß, von Sorgfalt ist nichts zu sehen. Also machen Sie alles noch einmal neu! Gucken Sie sich die Erkenntnisse bitte noch einmal im Lichte des Septembers dieses Jahres an, und Sie werden feststellen, daß sich noch viele andere Regelungen im sogenannten Steuerentlastungsgesetz, das seit dem 1. April dieses Jahres gilt, nicht bewährt haben und sich gar nicht bewähren können. Und deshalb holen Sie es bitte alles wieder zurück. Danke schön. ({16})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Gregor Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, sicher. Sachsen kommt auch noch. ({0}) - Na, nun übertreiben Sie doch nicht so schamlos. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß schon etwas zu den Vorwürfen des Bundesfinanzministers an unsere Adresse sagen. Das kann ich so nicht stehenlassen. Sie haben zunächst kritisiert, daß über die eigentlichen Gesetze kaum gesprochen worden sei - was ja auch stimmt - und haben dann wiederum kritisiert, die PDS-Fraktion habe keine Vorschläge gemacht und sich überhaupt nicht mit dem Thema des Abbaus der Staatsverschuldung befaßt. Das war heute eigentlich nicht der Gegenstand der Debatte. Das wird in der nächsten Woche Gegenstand sein, wenn es denn um den Bundeshaushalt für das Jahr 2000 geht. Abgesehen davon ist aber diese Darstellung von Ihnen auch falsch, Herr Bundesfinanzminister. Es gibt zahlreiche Vorschläge der PDS-Bundestagsfraktion,wie man Staatsverschuldung abbauen kann. Sie können sagen, daß Ihnen diese Vorschläge nicht gefallen. Sie können ja auch sagen, sie gehen Ihrer Meinung nach in die falsche Richtung. Aber Sie können nicht behaupten, daß es diese Vorschläge nicht gibt. Das finde ich dann unredlich. ({1}) Wenn wir sagen, die Einführung einer Vermögensteuer nach amerikanischem Vorbild würde in Deutschland zum Beispiel eine Mehreinnahme von 30 bis 40 Milliarden DM bringen, dann ist das eben ein Vorschlag. Wir fordern, den Spitzensatz der Einkommensteuer nicht zu senken. Wenn man diesen Steuersatz um einen Prozentpunkt senkt, dann bedeutet das eben, daß man pro Prozentpunkt 1 Milliarde DM weniger hat. Sie wollen ihn insgesamt um 4,5 Prozentpunkte senken. Das sind dann 4,5 Milliarden DM. Wir haben auch Vorschläge zu den Unternehmensteuern gemacht, wobei ich noch einmal vor Mißverständnissen warne. Auch ich sage, die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind in Deutschland zu hoch besteuert. Das Problem sind die Banken, die Versicherungen und die Konzerne, die sich aus der Finanzierung der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet haben. Dafür haben Sie keine Lösungsansätze vorgelegt. Also machen wir Vorschläge. ({2}) Genauso haben wir Vorschläge auch zur Ausgabenseite gemacht. Glauben Sie denn, wir haben alle vergessen, daß Frau Matthäus-Maier Jahr für Jahr, bei jedem Haushalt - wie ich meine, völlig zu Recht - die alte Regierung für den Eurofighter kritisiert hat? Was lese ich in Ihrem Entwurf`? 1,7 Milliarden DM für das Jahr 2000. Nichts hat sich diesbezüglich an der Ausgabenseite geändert. ({3}) Da können wir auch über den Transrapid reden und über andere Großprojekte. Jetzt können Sie sagen, das sei alles falsch. Sie machen lauter andere Vorschläge, Herr Bundesfinanzminister; in Ordnung. Aber Sie können nicht sagen, daß wir keine machen. Das, finde ich, geht einfach zu weit. Dann noch einen Satz zum Kindergeld. Es ist doch nicht so, daß wir das im luftleeren Raum vorschlagen, sondern dahinter steckt doch ein anderes Konzept. Wir sagen eben, die Methode, über Freibeträge zu gehen, ist im Ergebnis falsch, weil es Millionen gibt, die eben kein Einkommen haben, die keine Einkommensteuer zahlen und die deshalb nichts davon haben. ({4}) Deshalb schlagen wir vor, langfristig den Weg zu gehen, das Kindergeld zu erhöhen und die Freibeträge abzubauen und im übrigen das Ehegattensplitting aufzugeben. Damit wäre das Ganze auch finanzierbar. ({5}) Nun lassen Sie mich noch ein Wort zu den Kapitallebensversicherungen sagen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Aber nur ein Wort, denn ich habe Ihnen schon ein bißchen Redezeitüberschreitung eingeräumt.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wissen Sie, ich habe gar nicht gesagt, ob ich dafür oder dagegen bin. Nein, da bin ich viel zu vorsichtig. ({0}) - Ja, ich habe nur auf einen Widerspruch hingewiesen. Sie können doch nicht einerseits überall erklären, die Rente sei zukünftig nicht mehr sicher und die Leute sollten deshalb durch Lebensversicherungen privat vorsorgen, um dann andererseits zu sagen, daß sie, falls sie es tun, steuerlich zur Kasse gebeten werden. Das ist ein Widerspruch in sich. Auf den wird man doch wohl noch hinweisen dürfen. Danke schön. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür- fe auf den Drucksachen 14/1513, 14/1524, 14/1514 und 14/1546 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9a bis 9d sowie die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf: 9a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Aufbau Ost endlich wieder richtig machen - Drucksache 14/1210 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({0}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Kurt-Dieter Grill, Dr. Angela Merkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Strompreise in Deutschland angleichen neue Stromsteuern im Osten aussetzen - Drucksache 14/1314 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse und zur Herstellung von mehr Rechtsicherheit in Ostdeutschland - „Chefsache Ost“ - Drucksache 14/1277 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({2}) Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Kultur und Medien d) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die wirtschaftliche Stärkung der neuen Länder - Voraussetzung für die Gestaltung der deutschen Einheit - Drucksache 14/1551 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({3}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuß ZP4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, Joachim Günther, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes - Drucksache 14/1540 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Tourismus ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Türk, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Aufbau Ost muß weitergehen - Drucksache 14/1542 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({5}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, Horst Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Verkehrsprojekte Deutsche Einheit müssen zügig realisiert werden - Drucksache 14/1543 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für die Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sabine Kaspereit für die SPD-Fraktion.

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daß wir in der ersten ordentlichen Sitzungswoche in Berlin die weitere Gestaltung der Einheit Deutschlands debattieren, freut mich ganz besonders, obwohl mir natürlich durchaus bewußt ist, daß der Grund für die Beantragung dieser Debatte eher im Landtagswahlkampf von Thüringen und Sachsen zu suchen ist. Das sieht man den Anträgen der Opposition auch an. Sie enthalten wirklich keine neuen Vorschläge für die Politik und für den Aufbau Ost. Ich frage die ehemaligen Regierungsparteien, warum sie sich erst jetzt so vehement für die neuen Länder ins Zeug werfen. ({0}) Haben Sie nicht neun Jahre Zeit gehabt, die Weichen richtig zu stellen? ({1}) Gerechterweise will ich zugeben, daß die Ostdeutschen in Ihrer Fraktion schon öfter den Mund gespitzt haben. Aber gepfiffen haben sie nie. Sie wissen wie ich, in welcher Haushaltssituation wir sind; wir haben gerade über drei Stunden darüber debattiert. Die Tatsache, daß ein Fünftel der Haushaltsmittel allein für den Zinsendienst aufgewendet werden muß, zeigt, wie eng die Handlungsspielräume für gestaltende Politik geworden sind. Daran sind nicht wir Sozialdemokraten schuld, sondern die alte Regierung, die diese Schulden aufgehäuft hat. Ich weiß natürlich - und stelle das in Rechnung -, daß die Finanzierung der deutschen Einheit dazu beigetragen hat. Dies will ich in keiner Weise herunterreden. Ein paar Zahlen zur Illustration. Die Gesamtschulden aller Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik stiegen von 1 048 Milliarden DM im Jahre 1990 auf 2 341 Milliarden DM im Jahre 1999; das ist ein Anstieg von 1 297 Milliarden DM in weniger als 10 Jahren. Verglichen mit dem Jahrzehnt zuvor hat sich das Verschuldungstempo verdoppelt. Vizepräsidentin Anke Fuchs Besonders dramatisch ist dabei die Verschuldungslage beim Bund. Nahm der Bund in den 80er Jahren insgesamt 290 Milliarden DM neue Schulden auf, so stieg die Verschuldung in den 90er Jahren um 847 Milliarden DM, das heißt, das Verschuldungstempo verdreifachte sich fast. ({2}) - 1,5 Billionen DM. Die Tragweite dieser Staatsverschuldung ist nur schwer zu begreifen, weil das menschliche Denkvermögen kaum ausreicht, diese Zahl mengenmäßig zu erfassen. Um es plastisch auszudrücken: Pro Kopf der gesamten Bevölkerung, vom Säugling bis zum Greis, stieg die Bundesschuld von 6 777 DM auf 16 945 DM; also ein Anstieg von über 150 Prozent in nur neun Jahren. Das ist die schwere Erblast, die uns alle so bedrückt und der die Regierung Schröder nun endlich auch zu Leibe rückt. Dazu gibt es keine, aber auch keine Alternative. Auch wenn mancher Wähler den steinigen Weg, den wir nun gehen müssen, nicht mitgehen mag, bleibt das Ziel doch richtig. Wer einen besseren, einen bequemeren Weg weiß, der möge das auch sagen. Wir Ostdeutschen sind bereit, unseren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung zu leisten, weil diese Konsolidierung kein Selbstzweck ist. Sie ist unumgänglich, um die notwendigen Handlungsspielräume für gestaltende Politik zurückzugewinnen, die in der Regierungszeit von Kohl verlorengegangen sind. Der falsche Mix aus Kreditaufnahme, Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen hat zwar am Beginn der 90er Jahre zu einer Scheinblüte in Ost und West geführt, aber für diese Scheinblüte zahlen wir heute bitter mit Zins und Zinseszins. Deshalb ist das Zukunftsprogramm 2000 der neuen Bundesregierung so wichtig und so richtig. ({3}) Ich denke, es liegt vor allem im Interesse der neuen Länder, weil uns die Verringerung der Ausgaben für die Zinsen im Bundeshaushalt wieder in die Lage versetzt, politisch zu gestalten und die Förderung der neuen Länder fortzusetzen. Die neuen Länder brauchen noch auf absehbare Zeit einen wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitisch aktiven Staat, um gleichwertige und einheitliche Lebensbedingungen in ganz Deutschland zu verwirklichen. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren; denn wir können es auf Dauer nicht hinnehmen, daß das Leben in einem begrenzten Teil Deutschlands einen Nachteil bedeutet. Dabei sind populistische Anträge ohne brauchbare Finanzierungsvorschläge genausowenig hilfreich wie Wahlkampfanträge, die uns hier vorliegen. ({4}) Eines möchte ich betonen: Niemandem in Deutschland, auch nicht unseren westdeutschen Mitbürgern, kann daran gelegen sein, durch überzogene Haushaltsbeschlüsse des Bundes den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern zu beeinträchtigen oder gar zu gefährden. ({5}) Je länger es dauert, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und damit die Lebensverhältnisse anzugleichen, desto länger wird Ostdeutschland am Tropf hängen müssen. Der Aufbau Ost behält - das kann ich für meine Fraktion sagen - auch in dieser schwierigen Haushaltssituation höchste Priorität. Dies ist auch die Linie der Bundesregierung. ({6}) Im übrigen: Für den Aufbau Ost ist nicht die absolute Höhe des Fördervolumens entscheidend, sondern das Präferenzgefälle zwischen Ost und West. Eine intelligente Sparpolitik kann beides erreichen: den Haushalt konsolidieren und durch ein Präferenzgefälle zwischen Ost und West das Investieren in den neuen Ländern wieder attraktiver gestalten. Deshalb ist es richtig, die bisher angewandten Förderinstrumente auf den Prüfstand zu stellen, um Effizienz und Zielgenauigkeit zu verbessern. Wenn dabei Finanzmittel eingespart werden können - um so besser. Wir werden aber nicht nur Förderprogramme auf den Prüfstand stellen, sondern auch Sonderregelungen daraufhin prüfen, ob sie noch ostdeutschen Sondertatbeständen entsprechen oder ob inzwischen die Voraussetzungen dafür gegeben sind, gesamtdeutsche Regelungen zu treffen. Ein Sondertatbestand, dem wir besondere Aufmerksamkeit widmen müssen, ist die Tatsache, daß wir auch unter den Bedingungen der liberalisierten Strommärkte für die ostdeutsche Braunkohleproduktion und die Verstromung der Braunkohle eine wettbewerbskonforme Übergangsregelung brauchen werden. Im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost treibt mich ein anderes Thema um: Die F.D.P. will den Solidarzuschlag abschaffen, die CSU will die Förderung im Osten vom Wohlverhalten oder besser Wahlverhalten der Bürger abhängig machen, ({7}) und die Südländer stellen den Finanzausgleich in Frage. ({8}) Der Angriff einiger unionsgeführter Länder auf das Föderale Konsolidierungsprogramm zielt unmittelbar auf die neuen Länder; denn 85 Prozent der durch das FKP umverteilten Steuereinnahmen fließen im Moment noch dorthin. Nach Berechnungen des Finanzministeriums von Sachsen-Anhalt würde die Verwirklichung der Vorschläge der Südländer in den ostdeutschen Ländern zu Mindereinnahmen in Höhe von über 10 Milliarden DM führen. Andere Berechnungen weisen sogar zirka 20 Milliarden DM aus. ({9}) Die Finanzkraft der Einwohner der neuen Länder liegt jedoch nur bei 60 Prozent des Durchschnitts aller Bundesländer. ({10}) Deshalb ist es für uns Ostdeutsche völlig unverständlich, daß sich CDU-geführte Länder, die ihren eigenen Wohlstand der Solidarität der Länder untereinander verdanken, nun aus diesem Zusammenhalt verabschieden wollen. Hätten diejenigen Länder, die heute dem Wettbewerbsföderalismus das Wort reden, dies vor 30 Jahren getan, wäre Bayern vermutlich ein Agrarland geblieben - vielleicht mit der lila Kuh als Wahrzeichen. ({11}) Ich frage mich: Wie stehen eigentlich die Ministerpräsidenten Vogel und Biedenkopf zu den Vorschlägen der Herren Stoiber, Teufel und Koch? Nebenbei: War es nicht Franz Josef Strauß, der zusammen mit Karl Schiller in der großen Finanzreform 1967 das Konzept des kooperativen Föderalismus vollendet und verfassungsrechtlich abgesichert hat? Dieses Konzept wird heute von seinen politischen Enkeln als bürokratisch, bürgerfern und unitaristisch-zentralistisch denunziert, nun, da man es offensichtlich selber nicht mehr braucht. Was wäre die Folge für den Osten? Die Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand käme zum Erliegen. Der gerade für die wirtschaftliche Gesundung notwendige Aufbau der öffentlichen Infrastruktur würde abgebrochen werden. Dies wiederum hätte erhebliche Konsequenzen für die private Investitionstätigkeit. Kurz gesagt: Der Aufbau Ost würde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden, mit all den Folgen, vor denen ich nur warnen kann. Ein solcher Wettbewerbsförderalismus muß zum Scheitern dessen führen, was im Osten schon erreicht wurde. Nun dürfen wir wirklich nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Lassen Sie uns lieber in den Wettbewerb der besseren Konzepte eintreten. ({12}) Ich denke, es werden viele Schritte und auch viele gute Gedanken notwendig sein. Dazu würde ich Sie gern einladen. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Paul Krüger.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu Frau Kaspereit denke ich, es ist angemessen, daß wir uns etwa ein Jahr nach Antritt der neuen Bundesregierung - zumal dies unsere erste Sitzungswoche hier an diesem Ort ist - mit dem Aufbau Ost beschäftigen. Frau Kaspereit, liebe Kollegen von der rotgrünen Koalition, was ich nicht angemessen finde, ist der Zeitpunkt, an dem wir hier diskutieren. Mich ärgert schon, daß Sie den Zeitpunkt für diese, wie ich meine, wichtige Debatte auf den Nachmittag anberaumt haben. ({0}) Wir können dem Bundeskanzler nicht durchgehen lassen, daß er aus vermeintlichen Termingründen heute nicht hier sein kann. Das ist Ausdruck der Bedeutung, die die ganze Koalition dieser Problematik, nämlich dem Aufbau Ost, beimißt. Wenn wir uns nach einem Jahr die Bilanz Ihrer Arbeit anschauen, dann stellen wir fest, daß die Wirtschaft in den neuen Bundesländern stagniert. Auch schon vorher gab es bedenkliche Einbrüche im Bereich der Bauwirtschaft. Aber im Bereich des verarbeitenden Gewerbes kam es noch zu hervorragenden Entwicklungen. Diese Zeit ist jetzt vorbei. Wir haben vor allen Dingen einen Rückgang im Bereich der Arbeitsplätze zu verzeichnen, was mich noch mehr bedrückt als die Erhöhung der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Das steht im Gegensatz zu den vielen Versprechen, die Sie vor den Wahlen gemacht haben. Sie haben viel versprochen und angekündigt. Mittlerweile haben sich in Ostdeutschland in bezug auf Ihre Politik Enttäuschung, Resignation und Verunsicherung breitgemacht. Wir werden heute von Herrn Schwanitz und auch von anderen Rednern wahrscheinlich wieder die übliche Floskel hören, der Aufbau Ost werde auf hohem Niveau weiter gefördert. ({1}) Jeder, der in der Politik zu Hause ist, weiß, was das eigentlich heißt. Auf hohem Niveau weiter fördern heißt absenken. ({2}) Dies bedeutet nicht mehr eine Förderung auf dem gleichen Niveau wie bisher, sondern nur noch auf hohem Niveau. ({3}) In der Tat, die Leistungen für die neuen Länder sind reduziert worden und werden nach Ihren Planungen weiter reduziert. ({4}) Das geben Sie schon heute mehr oder minder zu. Die Ostdeutschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, „haben verstanden“. Eigentlich wollte ich in diesem Zusammenhang den Bundeskanzler direkt ansprechen; aber der ist ja bekanntlich nicht anwesend. Meine Damen und Herren, wir haben uns anzuschauen, was die Bundesregierung tut. Das für mich größte und gravierendste Problem hat erst einmal gar nichts mit der Förderung zu tun, sondern mit den Belastungen, die diese Bundesregierung den Menschen in den neuen Bundesländern zusätzlich aufbürdet. ({5}) Ich nenne das „Benachteiligung durch Gleichbehandlung“. Die alte Bundesregierung hat die ostdeutschen Probleme sehr wohl immer wieder differenziert betrachtet und differenziert darauf reagiert. Jetzt wird alles pauschal heruntergebügelt. Wir haben zu konstatieren, daß in den neuen und in den alten Bundesländern unterschiedliche Verhältnisse bestehen. In den neuen Bundesländern gibt es eine Vermögensbasis, die wesentlich schlechter ist als die in den alten Bundesländern. Das haben uns die Kollegen von der SED bzw. der PDS hinterlassen. Die Menschen in Ostdeutschland haben im Durchschnitt ein Geldvermögen, das ungefähr einem Drittel dessen entspricht, was der Bürger in Westdeutschland im Durchschnitt zur Verfügung hat.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte diesen Gedanken gerne zu Ende bringen. - Sie haben ein Viertel des Immobilienvermögens, und sie haben niedrige Einkommen. Die liegen - wir wissen und bedauern, daß das immer noch der Fall ist - zur Zeit bei 75 Prozent. Das ist eine Kluft zwischen Ost und West, die sich noch verstärkt. In Ostdeutschland gibt es - das sage ich im Zusammenhang mit der Mineralölsteuererhöhung eine wesentlich geringere Bevölkerungsdichte. Vor diesem Hintergrund verstärken Sie die Belastungen in Ost und West gleichermaßen. Die Ostdeutschen - das wissen wir inzwischen aus vielen Umfragen - haben als das höchste Ziel, das sie verfolgen, die Gerechtigkeit in den Vordergrund gestellt. Ich habe schon zu DDR-Zeiten einen Spruch über meinem Schreibtisch gehabt, der lautete: „Nichts ist ungerechter als die gleiche Behandlung Ungleicher!“ Sie aber behandeln Ost und West gleich. Ich nenne im Hinblick auf die Belastungen einige Beispiele. Die Ökosteuererhöhung wirkt für die Ostdeutschen doppelt hart, weil Sie die gleiche Belastung auf Ost und West verteilen, die Ostdeutschen aber höhere Mobilitätsanforderungen zu realisieren haben. Sie differenzieren überhaupt nicht. Auch die Energiepreissteigerungen wirken doppelt hart, weil bei der niedrigeren Einkommensbasis ein höherer Anteil des Einkommens für Energie gezahlt werden muß und weil die Energiepreise in Ostdeutschland ohnehin schon höher sind. Dann haben Sie beschlossen, die Renten nur noch um die Inflationsrate zu erhöhen. Das trifft Ostdeutschland doppelt hart, weil die Steigerungen, an denen die Ostdeutschen bislang teilhatten, nicht mehr stattfinden. Alles das sind Dinge, die die Ostdeutschen in doppelter Weise bestrafen. Das werden wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht durchgehen lassen. ({0}) Im übrigen verstoßen Sie mit Ihrer Politik auch gegen Art. 3 des Grundgesetzes, wozu das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, daß Gleiches gleich und Verschiedenes seiner Eigenart entsprechend unterschiedlich zu behandeln ist. Die ehemalige Bundesregierung hat das immer - bei allen Entscheidungen, die sie getroffen hat - berücksichtigt. Wir fordern Sie auf, die neuen Länder ungleich zu behandeln - bezogen auf die Zukunft und auf das, was bisher schon beschlossen ist. Darüber hinaus nehmen Sie - Frau Kaspereit, das ist nun wirklich keine Erfolgsstory - Kürzungen in fast allen Bereichen der Förderung vor. Das beginnt beim Infrastrukturausbau, dem nachgewiesenermaßen wichtigsten Bereich für Ostdeutschland. Sie stehen nicht an, insoweit zu Streichungen zu kommen. Ich denke, zur ICEStrecke Nürnberg-Erfurt werden einige Kollegen von uns heute noch etwas sagen. ({1}) Auch andere Dinge werden in Frage gestellt. Obwohl Sie die Mineralölsteuer erhöht haben, geht kein Pfennig von dieser Erhöhung in den Verkehrswegeausbau. Damit bestrafen Sie die Ostdeutschen, die ohnehin schon überproportional zahlen, wiederum doppelt. Sie kürzen bei der Förderung in verschiedenen Bereichen; das ist schon gestern abend in der Debatte angesprochen worden. Ich erinnere nur an die 900 Millionen DM bei der BvS und 200 Millionen DM GA-Wirtschaftsförderung. ({2}) Zudem wird bei der Städtebauförderung und in vielen anderen Bereichen gekürzt. Was mich besonders betroffen gemacht hat, ist - das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen - die Tatsache, daß jetzt auch noch im Bereich Forschung und Entwicklung, von dem ich immer dachte, daß die Bundesregierung dort einen Schwerpunkt setzt, gekürzt werden soll. ({3}) - Innoregio ist einmal aus meiner eigenen Feder entstanden. Machen Sie sich einmal richtig sachkundig! Sie kürzen des weiteren durch die Verhängung einer Haushaltssperre; darauf wird der Kollege Schmidt noch eingehen. Das einzige und wichtige Programm für Existenzgründer in den neuen Bundesländern, FUTOUR, wird durch Sie zum Jahresende gekappt. Auch das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Sie betreiben eine völlig falsche Akzentsetzung in der Arbeitsmarktpolitik. Wir haben versucht, die Integration von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt durch eine Brückenfunktion zu vollziehen. Wir haben versucht, das über Lohnkostenzuschüsse, über VergabeABM und andere Instrumente verstärkt zu pushen. Jetzt wird das um 180 Grad umgedreht: Sie versuchen jetzt wieder, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine reine Beschäftigungsfunktion zu installieren. Ich sage Ihnen: Das ist der falsche Weg. Wir werden dagegen sein. ({4}) Wenn ich mir anschaue, was die Bundesregierung im Bereich der Energiepolitik macht, dann muß ich sagen, daß das für die neuen Bundesländer geradezu tödlich ist. Es ist nicht nur so, daß Sie nichts dagegen tun, daß wir in Ostdeutschland schon erhöhte Energiepreise haben, was seine Ursache darin hat, daß wir mehr investieren mußten, weil wir die gesamte Energiewirtschaft neu aufbauen mußten. Nein, Sie erhöhen die Energiepreise in den neuen Bundesländern durch die Ökosteuer noch weiter. Das führt natürlich dazu, daß für die ostdeutsche Energiewirtschaft überhaupt keine Chancen im Wettbewerb zur internationalen Energiewirtschaft, aber auch zur westdeutschen Energiewirtschaft bestehen. Darüber hinaus belasten Sie die Privathaushalte und vor allem die gesamte ostdeutsche mittelständische Wirtschaft überproportional. Das wird sich nicht nur negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung, sondern vor allem auch auf die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern auswirken. Im übrigen betrifft das auch die gesamte Braunkohlewirtschaft in den neuen Bundesländern. Das ist der falsche Weg. Wir haben einen Antrag eingebracht, die Belastungen durch die Ökosteuer - also die sogenannte zweite Stufe der Ökosteuerreform - auszusetzen. Damit würden wir auf gleiche Energiepreise kommen und alle diese negativen Effekte, die ich eben genannt habe, umgehen. ({5}) Meine Damen und Herren, dazu, was dieser Bundeskanzler im Bereich der Strukturpolitik macht oder nicht macht, will ich nur ein Beispiel nennen: den A3XX. Das ist das größte europäische Infrastrukturvorhaben bzw. Wirtschaftsvorhaben, das von wesentlicher staatlicher Unterstützung getragen und begleitet wird. Der alte Bundeskanzler Helmut Kohl hat zum Standort Rostock/Laage ganz klar Position bezogen. Von seiten des neuen Bundeskanzlers ist hierzu bisher keine Äußerung erfolgt, obwohl wir ihn mehrfach direkt im Plenum des Deutschen Bundestages dazu aufgefordert haben. Ich will gar nicht darauf eingehen, was dies wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch für die neuen Länder bedeutet. Ich will Sie nur darauf hinweisen, wie enttäuscht die Menschen in Ostdeutschland, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern und Rostock von dieser Haltung der neuen Bundesregierung sind. Ich kann Ihnen nur sagen: Setzen Sie sich dafür ein, daß sich Ihr Bundeskanzler und Ihre Bundesregierung nachhaltig dafür aussprechen und auf internationaler Ebene dafür kämpfen, daß der Standort Rostock/Laage eine faire Chance bekommt oder/und darüber hinaus die neuen Bundesländer an diesem großen Vorhaben intensiv beteiligt werden. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit!

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, all das, die Kulisse, die ich hier eben geschildert habe, führt dazu, daß die Chefsache Aufbau Ost in Ostdeutschland langsam als Drohung empfunden wird.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir alle wünschen uns, daß Sie es nicht zur Chefsache, sondern es wie unser alter Bundeskanzler zur Herzenssache erklären, den Aufbau im Osten zu betreiben. Wir haben unsere Anträge heute eingebracht, um den wirklich schlimmen Entwicklungen, die im Moment in Ostdeutschland im Gange sind, entgegenzuwirken. ({0}) Sie werden die Suppe, die Sie uns eingebrockt haben, auslöffeln müssen. Vielen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich habe zwei Bitten um Kurzinterventionen vorliegen. Frau Kollegin Luft, bitte sehr.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Krüger, als Sie noch auf der Bank der Regierungsfraktionen gesessen haben, haben Sie schon keine Zwischenfragen zugelassen. Jetzt sitzen Sie auf der Oppositionsbank, aber dies setzt sich fort. Ich finde, das ist kein besonders guter Stil. Aber egal. Ich gehe doch sicher richtig in der Annahme, wenn ich sage, daß die Überschrift des Antrages Ihrer Fraktion „Aufbau Ost endlich wieder richtig machen“ suggerieren soll, er sei schon einmal richtig gemacht worden, nämlich unter der Regierung Kohl. ({0}) - Ich wußte, daß Sie applaudieren würden. - Jetzt darf ich Sie fragen: Wie erklären Sie sich dann, daß sich wenige Monate nach für die CDU verlorengegangener Bundestagswahl über 120 ehemalige christdemokratische Abgeordnete der frei gewählten Volkskammer der DDR in einem Brief an Fraktionschef Schäuble über das beschwert haben, was beim Aufbau Ost gelaufen ist? Ich habe hier eine Pressenotiz - ich könnte Ihnen viele Notizen bringen -, in der insbesondere gesagt wird, daß Art. 28 und 29 des Einigungsvertrages verletzt worden seien - ich zitiere wörtlich durch die „bloße Übertragung der Wirtschaftsmechanismen der alten Bundesländer nach 40jähriger Entwicklung in Richtung Ost“. Ganz oben bei dieser Initiative stand Frau BergmannPohl. Ich nehme an, daß auch Sie zu diesen 120 Abgeordneten gehörten. Wir beide waren in der frei gewählten Volkskammer und saßen dort gemeinsam im Haushaltsausschuß. Ich erinnere mich sehr gut. Sie haben angesprochen, daß die Energiepreise im Osten höher sind als in den alten Ländern, daß die Vermögensverhältnisse unterschiedlich sind und daß die Renten differieren. Hier kann ich Ihnen nur zustimmen. Das sind richtige Feststellungen. Aber diese Tatsachen sind nicht seit September vergangenen Jahres in der Welt, sondern die gibt es schon eine ganze Weile. ({1}) Wenn Sie die Ansiedlungspolitik, die betrieben wird, beklagen, möchte ich dazu etwas Konkretes sagen: Wir beide sind gebürtige Mecklenburger. Mir liegt der Standort Rostock/Laage genauso am Herzen wie Ihnen. Im Wirtschafts- und im Haushaltsausschuß hat die PDS in dieser Legislaturperiode als erste Fraktion den Antrag eingebracht, die Ausschüsse mögen sich parteiübergreifend darauf verständigen, die Bundesregierung aufzufordern, alles in ihrer Kraft Stehende zu tun, um die Produktion des Großraumpassagierflugzeuges in Rostock/Laage anzusiedeln. Das ist auch von den Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion abgelehnt worden. ({2}) Ich will zum Ende kommen. Meine Erfahrung ist gerade in diesen Tagen, in denen der Wahlkampf läuft: Die Menschen in den neuen Bundesländern verdrießt total die schlechte Wahlbeteiligung unterstreicht das -, daß die Parteien, die früher an der Regierung waren, heute die damaligen Oppositionsargumente benutzen, und diejenigen, die heute in der Regierung sind, frühere Regierungsargumente benutzen. Das ist für die Menschen inzwischen nicht mehr erträglich. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Krüger, möchten Sie jetzt antworten oder nach der zweiten Kurzintervention? ({0}) - Jetzt. Bitte sehr.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Luft, Zwischenfragen habe ich schon damals nicht gerne zugelassen, wenn ich den Eindruck hatte, daß sie nichts weiter als meinen Redefluß stören sollten, ({0}) damit ich den Gedanken, den ich vortragen wollte, nicht herüberbringen konnte. ({1}) Sie haben gefragt, ob wir den Aufbau Ost richtig gemacht haben. Darüber kann man sich natürlich bestens streiten. Wir waren der Auffassung, daß wir sehr vieles richtig gemacht haben. Wir sind nicht der Meinung, daß wir alles richtig gemacht haben. Das kann auch niemand. Jeder, der etwas tut, macht Fehler. Die haben auch wir gemacht. Das sollten Sie uns auch einräumen. Aber ich glaube, wir haben sehr viel Wesentliches richtig gemacht. Von dem Brief, den Sie eben erwähnten, habe ich in der Zeitung gelesen. Ich habe allerdings auch nach eingehenden Recherchen nicht ermitteln können, wer diesen Brief geschrieben haben soll. - Nicht alles, was in der Zeitung steht, stimmt. Das sollte auch Ihnen, Frau Luft, nicht entgangen sein. - Ich habe viele von den Kollegen, die heute noch im Bundestag sind, gefragt. Niemand von ihnen hat diesen Brief unterzeichnet. Mir ist auch nicht ein einziger Kollege aus der ehemaligen Volkskammer bekannt, der diesen Brief unterzeichnet hat. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob das nicht nur eine Zeitungsente gewesen ist, die möglicherweise wohlweislich aus irgendwelchen Gründen lanciert worden ist. Ich will auch auf das noch eingehen, was Sie, Frau Luft, im Zusammenhang mit der Haushaltssituation angesprochen haben. Auch als wir den Aufbau Ost betrieben haben, sind die Bäume nicht in den Himmel gewachsen. Damals mußten wir sehen, daß wir bei den hohen Belastungen, die wir aus der ehemaligen DDR übernehmen mußten, das Ausgabevolumen tatsächlich auf das konzentrierten, was für den Aufbau in den neuen Bundesländern wesentlich war. Das haben wir versucht, und das ist uns im großen und ganzen, glaube ich, gut gelungen. Wir hatten dabei immer auch die Unterstützung der Bundesregierung. Sicher, wir haben sehr hart dafür kämpfen müssen. - Ich schaue mich hier um und sehe einige Kollegen, die das mitgetragen haben. - Wir haben manchmal auch warnende Blicke von unseren Kollegen bekommen - ich entdecke hier den Kollegen Uldall -, daß wir das wegen der Haushaltsverschuldung nicht überziehen. Einen Teil der Haushaltsbelastungen, die wir heute hier beklagen, haben wir natürlich deshalb, weil wir dringende und wichtige Maßnahmen für den Aufbau Ost realisiert haben. Frau Luft, zu Ihrem Antrag zum A3XX, der etwa zeitgleich mit unserem Antrag in den Ausschuß überwiesen wurde ({2}) - das ist auch egal; darüber brauchen wir uns nicht zu streiten; mittlerweile gibt es eine ganze Reihe solcher Anträge mit unterschiedlicher Substanz und unterschiedlicher Forderung -: Sie wissen, daß wir uns mit dieser Problematik im Ausschuß sehr intensiv beschäftigen. Es gibt bisher überhaupt keine Ablehnung dieser Anträge. Die Anträge liegen noch im Ausschuß; die Entscheidung ist im Moment nicht aktuell. Gerade gestern haben wir in der Obleutebesprechung darüber geredet, daß wir eine öffentliche Anhörung zum A3XX durchführen wollen, um dieses Thema intensiv auch in die Öffentlichkeit zu bringen. Ich denke, daß wir alle gemeinsam dafür kämpfen sollten - das tun wir auch -, daß ein möglichst hoher Anteil von der sogenannten Workshare mit dem A3XX verbunden ist und somit möglichst viele Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern entstehen können. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Denken Sie bitte an die Redezeit! Ich muß jetzt ein bißchen strenger sein, weil wir sonst den ganzen Tag der Zeit hinterherlaufen.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich schließe dann. Ich glaube, es war wichtig, daß ich das noch einmal anmerken konnte. Danke. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Hustedt.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Krüger, Sie haben hier Krokodilstränen darüber geweint, daß die Energiepreise in Ostdeutschland höher sind als in Westdeutschland - was in der Tat stimmt: ungefähr zwei Pfennig bei der Industrie, und teilweise gibt es sogar noch größere Unterschiede. Jetzt frage ich Sie: Warum ist das so? Auch Sie waren in der letzten Legislaturperiode in diesem Parlament. Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie dagegen protestiert haben, daß diese Bundesregierung genau dies mit ihren Maßnahmen vorbereitet hat. Wir haben einen Wettbewerb im Energiebereich. Wir als Grüne haben das immer begrüßt, unterstützt und gefördert. ({0}) - Herr Ulldal, wir haben einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, der weiter geht als der der Bundesregierung. Das mußte selbst Herr Rexrodt zugeben. Wir müssen Ihren Vorschlag ablehnen; denn Sie haben während Ihrer Regierungszeit den gesamten Energiebereich im Osten vom Wettbewerb ausgenommen. Sie haben einen Schutzzaun um die Veag gezogen. Das hat genau den Effekt erzielt, daß die Energiepreise im Osten höher als die im Westen sind. Es gibt also ein zweigeteiltes Recht auf dem Energiemarkt dieser Republik. Sie ziehen damit eine virtuelle Mauer zwischen Ost und West. Die Folgen sind, daß die ostdeutsche Industrie, aber in Zukunft auch die ostdeutschen Bürger wenn die freie Wahl des Stromlieferanten im Westen sehr schnell umgesetzt wird - höhere Energiepreise zahlen müssen. Das geht zu Lasten der Entwicklung der ostdeutschen Industrie. Damals habe ich keinen Protest von Ihnen gegen diese Entwicklung gehört. Jetzt weinen Sie Krokodilstränen. Jetzt schlagen Sie vor, die virtuelle Mauer - das zweigeteilte Recht für Ost und West - durch ein zweigeteiltes Steuerrecht noch zu erhöhen. Das wäre auch überhaupt nicht EU-kompatibel. Nach unserem Vorschlag, den wir schon in der letzten Legislaturperiode unterbreitet haben und den wir in dieser wahrscheinlich realisieren werden, sollen durch die Einführung einer bundesweiten Quote die Investitionen, für die Ost und West gemeinsam aufkommen sollen - gemeint sind neue Investitionen -, in die Produktion von Strom aus Braunkohle gesichert werden. ({1}) Damit soll gleichzeitig ermöglicht werden, daß auch Ostdeutschland in den Genuß des Wettbewerbs gelangt. Auf diese Weise sollen sich die Energiepreise in Ost und West zügig aneinander angleichen. Das ist unser Weg, nicht der des zweigeteilten Rechts zwischen Ost und West. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt darf der Kollege Krüger antworten. Bitte sehr.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für Ihre Kurzintervention. Sie gibt mir zunächst die Gelegenheit, auch noch auf einige Ausführungen von Frau Luft zu erwidern, auf die ich vorhin aus Zeitgründen nicht eingehen konnte. Frau Luft, Sie haben vorhin gefragt, warum wir früher nicht das umgesetzt haben, was ich jetzt fordere. Der einzige Grund liegt darin, daß wir früher den Ostdeutschen keine zusätzlichen Belastungen aufbürden wollten. Wir haben versucht, die Bürger und auch die Wirtschaft in Ostdeutschland in allen möglichen Bereichen zu entlasten oder „incentives“, also Anreize, zum Beispiel für Investitionen, zu geben. Wir haben immer versucht, Ostdeutsche dort zu präferieren, wo es nur möglich war. Aber wir haben den Ostdeutschen - jedenfalls ist mir das nicht bekannt - nicht solche Belastungen aufgebürdet, die auf einer differenzierten Betrachtungsweise der Vermögens- und Einkommenssituation in West- und Ostdeutschland beruht hätten; denn die Verhältnisse in Ostdeutschland waren generell schlechter als die in Westdeutschland, und zwar deutlich. Deshalb kannten wir während der Regierung Kohl das heutige Problem - Gott sei Dank - nicht. Darauf wollte ich noch einmal hinweisen. Kurz zu Frau Hustedt. Frau Hustedt, wir haben uns schon damals um die um zwei Pfennig im Vergleich zu Westdeutschland höheren Energiepreise in Ostdeutschland sehr gesorgt. Uns war klar, daß diese Differenz die ostdeutsche Wirtschaft belastet. Wir hatten kaum eine Chance, daran etwas zu verändern, obwohl wir immer versucht haben, Lösungen für dieses Problem zu finden. Um die Investitionen zu schützen und gleichzeitig auch die Braunkohlewirtschaft in Ostdeutschland wenigstens in einem bestimmten Umfang zu erhalten, haben wir keinen Schutzzaun errichtet - wir konnten ja nicht Subventionen für die ostdeutsche Braunkohlewirtschaft in Höhe der Subventionen für den Steinkohlenbergbau in Westdeutschland durchsetzen; die Subventionen für Westdeutschland haben insbesondere Sie durchgesetzt -, sondern versucht, eine möglichst wettbewerbsverträgliche Übergangsregelung zu schaffen, damit nicht zu viele Arbeitsplätze in der ostdeutschen Wirtschaft verlorengehen mußten. Das ist uns sicherlich nicht super gelungen. Es ist mehr oder weniger gut gelungen. Wenn wir tatsächlich einen großen Schutzzaun um die Veag errichtet hätten, dann müßte dieser Energiekonzern jetzt jubeln und große Renditen abwerfen. Aber das ist leider nicht der Fall. Die Veag hat große Probleme, von denen Sie wissen dürften, wenn Sie sich mit der Materie auskennen. Wir haben damals versucht, einen vernünftigen Kompromiß zu finden. Mir scheint, daß es für die ostdeutsche Wirtschaft, insbesondere für die ostdeutsche Energiewirtschaft, tödlich ist, daß sie einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt ist - und das bei schlechterer Eigenkapitalsituation, bei höheren Abschreibungen für Investitionen und bei all den Lasten, die sie zusätzlich zu tragen hat. Sie haben das - ohne mit der Wimper zu zucken - hingenommen. Das war bisher kein Thema. Die Gruppe in Ihrer Fraktion, die sich jetzt entschlossen hat, für den Aufbau Ost zu kämpfen - ich frage mich, gegen wen sie kämpfen will -, hat sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet. Es ist ein Thema, das wir mit unserem Antrag einbringen. Wir sollten es ernst nehmen. Für die Entwicklung in Ostdeutschland ist es gravierend. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Mir liegen weitere Wünsche nach einer Kurzintervention vor. Ich lasse sie aber nicht zu, weil es auf die Antwort auf eine Kurzintervention keine erneute Kurzintervention gibt. Die Präsidentin oder der Präsident kann entscheiden, ob sie oder er eine Kurzintervention zuläßt. Da wir in der ersten Runde dieser Debatte sind und in den weiteren Runden noch eine Menge Argumente vorgetragen werden, lasse ich jetzt keine weiteren Kurzinterventionen mehr zu. Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zeitpunkt und der Ort der heutigen Debatte zum Aufbau Ost geben mir die Gelegenheit, an das zu erinnern, was wir bereits bewältigt haben, und uns zu vergegenwärtigen, was noch zu leisten ist. Herr Kollege Krüger, wir sind nicht gut beraten, den Aufbau Ost zu einer derartigen Erbsenzählerei zu machen und eine wichtige Sache dadurch so zu zerfasern. ({0}) - Herr Kollege Türk, man kann sich leidenschaftlich darüber streiten, ob der Aufbau Ost Chef- oder Herzenssache ist. Sie machen ihn lediglich zu einer schlechten Drucksache. ({1}) Die Drucksache ist in sich widersprüchlich, weil Sie behaupten, die Bundesregierung mache kaum etwas anderes als das, was Sie gemacht hätten. Gleichzeitig behaupten Sie, nur Sie selbst könnten es gut machen. Das haben wir in der Zeit unserer Opposition längst widerlegt, obwohl wir es uns gar nicht so einfach gemacht haben. Ich will diese Debatte in eine andere Dimension rükken. Wir haben vorgestern hier, in diesem neuen Haus des Bundestages, 50 Jahre parlamentarische Demokratie in Deutschland gefeiert. Das ist möglich geworden, weil wir vor zehn Jahren eine friedliche Revolution hatten. Das „Haus der Demokratie“ in der Friedrichstraße, also unweit von hier, ist in das Eigentum des Beamtenbundes übergegangen. Es ist das Schicksal deutscher Revolutionen, irgendwie institutionalisiert zu werden und schwere Eigentumsfragen aufzuwerfen - aber das nur nebenbei. Vor genau 10 Jahren, am 9. September 1989, ist in Berlin-Grünheide der Aufruf zur Gründung des „Neuen Forums“ verfaßt worden. Das war ein Aufschrei zum Widerstand gegen einen Überwachungsstaat. Es war ein Aufbruch, um aus diesen festgefahrenen, betonierten Strukturen und Verhältnissen auszubrechen. Der Mauerfall hat uns wenig später beidseitig überrascht. Im Westen Deutschlands hatte man ein Ministerium für innerdeutsche Fragen, aber keines für gemeinsame gesamtdeutsche Antworten. Wir im Osten waren überrascht, wie schnell das Ganze geht und daß es überhaupt keinen Sinn mehr gemacht hat, die DDR zu reformieren, was ursprünglich der Anspruch war. Der Zustand der DDR war katastrophal. Das belegt das Geheimpapier, der Offenbarungseid von Gerhard Schürer, den er an die Staatliche Plankommission im Herbst 1989 gerichtet hat. In diesem Papier kommt zum Ausdruck, daß dieser Staat zahlungsunfähig war. Er war ruiniert, die Arbeitsproduktivität lag am Boden. Es ging so gut wie nichts mehr. Viele Kommunen und viele Städte sind dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen. Auch die rettende Vereinigung hat nur kurzzeitig Freude und Optimismus hervorgerufen; denn Arbeitslosigkeit und Zukunftsängste haben diese Anfangsfreude relativ schnell verdrängt. Die Ostdeutschen haben sehr schnell erfahren, was es heißt, wenn Entscheidungen woanders fallen und wenn man doch wieder fremdbestimmt wird. Manche Entscheidungen der Treuhand waren leider so undurchsichtig wie die der Staatlichen Plankommission - wobei ich beide nicht vergleichen möchte. ({2}) - Auch das, aber unter Ihrer Verantwortung, Herr Kollege! ({3}) Ich spreche das an, um unsere Ausgangssituation klarzumachen. Die heutige Bundesregierung hat eine doppeltschwere Erblast übernommen, und zwar die der SED, aber auch die der letzten Koalitionsregierung. Wie gesagt, man darf sich die Sache nicht so einfach machen. Man hat auch in der Opposition redlich zu urteilen. Diesbezüglich hat Ihnen Ihr Fraktionsvorsitzender diese Woche ja ins Gewissen geredet. Es geht jetzt eben nicht nur um die Vollendung der inneren Einheit, sondern auch um die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft. Vor dieser Aufgabe stehen wir, sie müssen wir lösen. Von der PDS hätte ich mir zumindest gewünscht, daß sie im Vorspann ihres Antrages etwas dazu ausführt, was für eine kaputte Piste sie hinterlassen hat, wenn sie schon den Osten zu einem neuen Experimentierfeld machen und dort ein Pilotprojekt starten möchte. ({4}) Die Angleichung der Lebensbedingungen war doch der Anspruch Ihrer Ursprungspartei. Ich verwende ungern die Formel von 40 Jahren SED-Herrschaft. Aber die SED hatte doch wirklich den Anspruch, West- bzw. Weltniveau zu erreichen. Sie hatte dazu ja auch alle Gelegenheit, und die PDS könnte jetzt in MecklenburgVorpommern sofort diesen Pilotversuch starten. Ich frage mich, warum Sie, Kollege Gysi, das dort nicht tun und statt dessen Forderungen an diese Bundesregierung stellen, obwohl Sie wissen, daß diese eigentlich nicht finanzierbar sind, wie es übrigens auch ein internes Papier aus Ihrem Haus, dem Karl-Liebknecht-Haus, belegt. ({5}) Ich wollte das hier jetzt nicht ausschlachten, aber der Kollege Bartsch, unter dessen Federführung es entstanden ist, hat einmal die Forderungen, die Sie so locker in die Welt hinausposaunen und vor allen Dingen in den ostdeutschen Wahlkampf tragen, unter die Lupe genommen und festgestellt, daß diese jeglichen finanzpolitischen Rahmen sprengen würden. Die Aufstellung erfolgte wohl nach dem alten „Wünsch dir was“-Katalog. So steht es auch wortwörtlich in diesem Papier. Sie sollten stärker solche kritischen Papiere beachten, bevor Sie solche Anträge einbringen. ({6}) Bei aller Kritik, die wir aus der Rolle der Opposition heraus damals geübt haben, haben wir durchaus auch die positiven Leistungen der alten Bundesregierung gewürdigt. Hier muß man ja differenzieren. An dem Grundfehler, daß die Vereinigung auf Pump gemacht wurde und dem politischen Mut zur Wirtschafts- und Währungsunion leider nicht der Mut zu einem Lastenausgleich gefolgt ist, kommen wir auch heute nicht vorbei. Wir hätten es sonst in finanzieller Hinsicht um einiges leichter, bräuchten diesen Schuldenberg nicht abzutragen, und Hans Eichel hätte nicht so schwer an der Erblast von Theo Waigel zu schleppen, wenn dieser Fehler am Anfang nicht passiert wäre. Dazu müssen Sie sich politisch bekennen. ({7}) Die Länder, die so keß die Reduzierung der Finanzhilfen für den Osten fordern, sollten sich auch daran erinnern, daß sie damals mit dem Bund mächtig gefeilscht haben und ihrer Verantwortung eigentlich nicht gerecht geworden sind. So begegnet heute mancher Finanzminister dem ehemaligen Ministerpräsidenten und stellt fest, daß das Herz nicht nur links schlägt, sondern manchmal auch zwei Herzen in einer Brust schlagen. Das Versprechen von den blühenden Landschaften hat einerseits völlig überzogene Erwartungen geweckt, auf der anderen Seite kann niemand bezweifeln, daß ein Teil dieses Versprechens durchaus eingelöst worden ist und man einiges davon sehen kann. Allerdings müssen wir uns von der Illusion befreien, daß eine größere Anzahl von industriellen Kernen wirklich zu retten gewesen wäre. Trotz aller Anstrengungen und Mühen, die man sich gegeben hat, finden wir kein Headquarter eines Großkonzerns im Osten, und im Deutschen Aktienindex sucht man vergeblich nach einem ostdeutschen Unternehmen. Die Dresdner Bank ist in Frankfurt geblieben und die Gothaer Versicherung in Köln. Ich könnte das weiter fortsetzen. Weil im Osten nur Filialbetriebe eingerichtet worden sind, ergibt sich, wie Sie wissen, das Problem, daß die wirtschaftliche Basis dort eben noch nicht ohne weiteres einen selbsttragenden Aufschwung ermöglicht. Sicherlich wurden auch kapitale Fehler begangen: Fehlallokationen in Hotel- und Bürobauten sowie in Gewerbegebiete. Es ist aber schon ein Witz, daß ausgerechnet aus Bayern immer wieder Vorwürfe kommen, nachdem man jetzt durch das Aufdecken des LWSSkandals sieht, wie dort zum Teil mit Geldern umgegangen wurde. Es ist manchmal ratsam, nicht nur vor, sondern auch hinter der eigenen Tür zu kehren. Das geschieht ja im Moment auch ein wenig. Der Aufbau Ost eignet sich nicht, um die eigenen Versäumnisse zu rechtfertigen. ({8}) Der Aufbau Ost selbst kommt voran; wir sind zwar noch nicht über den Berg, aber auf gutem Weg. Die Bundesregierung hat mit dem Zukunftsprogramm eine Marschroute festgelegt, die uns in den nächsten Jahren auch finanzielle Spielräume eröffnet, um weiterhin entsprechende Mittel für den Aufbau Ost zur Verfügung zu stellen. Mittlerweile ist im Osten eine sehr leistungsfähige und moderne Wirtschaft entstanden. Sie ist aber noch zu schmal. Die Experten sagen: ,,too small but beautiful“. Das heißt, wir dürfen uns künftig nicht nur um die Existenzgründer, sondern müssen uns auch um die Wachstumskräfte der bereits bestehenden Unternehmen stärker kümmern. ({9}) Auch das ist erkannt worden; auch das tut diese Regierung. Es geht um die Zielgenauigkeit der Fördermittel. ({10}) Werner Schulz ({11}) - Sie tut es, Herr Kollege Luther. Daß Sie daran Zweifel haben, kann ich nicht verstehen. Das können Sie doch aus Ihrer eigenen Region bestätigen. Leider ist die Arbeitsplatzbilanz, die Arbeitsmarktentwicklung nicht positiv. Das wissen wir. Die saisonbereinigte Arbeitslosenquote ist weiter gestiegen. Diese Entwicklung ist also auf dem Arbeitsmarkt leider noch nicht angekommen. Das ist schon bedrückend. Das schafft im Grunde genommen auch die schlechte Stimmung im Osten. Denn die wirtschaftliche Entwicklung, vor allen Dingen der Strukturwandel, gäbe eigentlich jeden Grund zu Hoffnung und zu Optimismus. Denn es sind sehr leistungsfähige Betriebe, die hier entstanden sind. Aber die Bundesregierung tut vieles, um hier voranzukommen. Denken Sie beispielsweise an das erfolgreiche Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit, ({12}) oder denken Sie an den Innoregio-Wettbewerb zur Förderung der regionalen Strukturen. Das sind, finde ich, wichtige Impulse, die hier gesetzt werden. Es gibt also im Moment noch keinen Grund, beim Aufbau Ost einen Gang zurückzuschalten. Die Bundesregierung wird deswegen - da brauchen wir uns über die einzelnen Fördertöpfe hier gar nicht zu streiten den Aufbau Ost auf sehr hohem Niveau fortführen. Das ist festzuhalten. Es ist eine Unterstellung, wenn Sie hier sagen, es werde gekürzt. Im Gegenteil, wenn Sie sich einmal die Bundeshaushalte vor Augen führen, sehen Sie, daß die Priorität des Aufbaus Ost noch viel deutlicher zum Vorschein kommt, weil alle anderen Ressorts sparen müssen. Der Bundesfinanzminister hat deutlich gemacht, daß man gerade beim Aufbau Ost nicht spart. ({13}) Daher ist es im Interesse der ostdeutschen Bundesländer, dem Sparpaket zuzustimmen, weil das den finanziellen Spielraum schafft, den wir brauchen, um den Osten dauerhaft unterstützen zu können. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Frau Kollegin.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schulz, wenn Sie sagen, die Bundesregierung treibt den Aufbau Ost voran: Wie erklären Sie dann bitte, daß im Sparhaushalt von Herrn Eichel allein 3 Milliarden DM für den Aufbau Ost gestrichen werden, unter anderem für die Eigenkapitalstärkung gerade mittelständischer Unternehmen in den neuen Bundesländern in Höhe von, wenn ich mich recht entsinne, 5 Millionen DM? Darüber hinaus werden insgesamt 3 Milliarden DM im Sparprogramm vorgesehen bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen, auch in den neuen Bundesländern, nicht nur beim ICE von Nürnberg nach Erfurt über Halle, Leipzig, Berlin, sondern auch beim Autobahnausbau, beim Straßenausbau und bei Ortsumgehungen, die dringend gebraucht werden und die Voraussetzungen sind für die Investitionen und Arbeitsplätze. Wie können Sie bei solchen Zahlen und Fakten, wie ich sie Ihnen hier nenne, vom Aufbau Ost sprechen? Ich bezeichne das als Abbau Ost, was Sie hier betreiben. ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollegin Pieper, es ist zwar eine große Leistung, wie Sie mit diesen Zahlen hier jonglieren, aber das sind keine Fakten, sondern im Grunde genommen kann man das alles relativieren und widerlegen, was Sie sagen. Zur ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt wird mein Kollege Schmidt hier in der Debatte noch sprechen. Das muß man ein bißchen ausführlicher erklären. Wir schaffen eher neue Chancen für den Osten. ({0}) - Aber natürlich. Sie müssen nämlich dazusagen, daß wir die Mitte-Deutschland-Bahn und die FrankenSachsen-Magistrale dafür bauen werden, daß hier Mittel frei werden für Projekte, die Sie ins Blaue hinein geplant haben. ({1}) Das Geld ist doch gar nicht da. Wir wären ja froh, wenn dieses Geld da wäre, das der Kollege Waigel eingeplant hatte, obwohl er es nicht hatte und das immer nur auf Pump gemacht worden ist. ({2}) Außerdem wissen Sie ganz genau, daß bei der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ die Mittel gerade aus Ihrem Land Sachsen-Anhalt bisher nicht wie geplant abgerufen wurden, daß die Kofinanzierung der Länder vielfach nicht geklappt hat oder daß Mittel gebunkert werden. Gerade daraus, wie man mit den bisherigen Fördermitteln umgegangen ist, hat die neue Bundesregierung Konsequenzen gezogen, um, wie gesagt, die Zielgenauigkeit zu erhöhen. Es stimmt also nicht, was Sie sagen. Die Zahlen kann ich Ihnen nicht bestätigen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt gibt es noch den Wunsch nach einer Zusatzfrage der Kollegin Pieper und den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Herrn Kollegen Luther. Möchten Sie beide zulassen?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich lasse nur noch die Zusatzfrage zu; sonst zerfasert die Debatte immer mehr. Werner Schulz ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zusatzfrage, Frau Pieper, bitte.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie sagen, die Mittel im Bundeshaushalt seien nicht da, wie erklären Sie sich dann, Herr Kollege Schulz, daß zwar bei den Subventionen für die neuen Bundesländer gekürzt wird, sprich: bei den Mitteln für den Aufbau Ost? Man kann dies eigentlich gar nicht als Subvention bezeichnen; ({0}) denn es geht ja um die Chancengleichheit der Ausgangsbedingungen der Menschen. Wie erklären Sie es sich, daß ausgerechnet bei den Subventionen zum Beispiel für den Steinkohlebergbau der alten Länder nicht oder nicht in ausreichendem Maße gekürzt wird?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Auseinandersetzung um die Steinkohlesubventionen ist beliebt. Sie wissen, daß wir diese Unterstützung immer kritisch gesehen haben, daß wir sie viel drastischer reduziert hätten. Aber die Verbindlichkeiten der alten Bundesrepublik lasten sehr stark. Bei der Steinkohle handelt es sich ja um eine Verpflichtung, die die alte Bundesregierung eingegangen ist. ({0}) - Ich bitte Sie! Natürlich kommt immer das Argument, daß sich Joschka Fischer bei der Demonstration in Bonn vor die Steinkohlekumpel gestellt hat. Das alles können Sie lassen. Er hat sich im Grunde genommen dort nur hingestellt, damit die F.D.P.-Zentrale, die Zentrale der Partei der Besserverdienenden, nicht demoliert wurde. ({1}) - Das können Sie mir glauben! Denn die Kumpel aus dem Saarland waren schon bereit, sich die Fensterscheiben vorzunehmen. ({2}). - Sie freuen sich, weil Sie nichts abbekommen haben? Das kann ich gut verstehen. Also: Freuen Sie sich, daß wir die Braunkohle nicht subventionieren müssen, daß wir damit eine wettbewerbsfähige Energienform haben. Genaugenommen fließen in die neuen Länder gar keine Subventionen, Kollegin Pieper. Ich glaube, Sie haben sich in Ihrer Frage auch dahin gehend berichtigt. Vielmehr handelt es sich im Moment um Förderhilfen. Wir wollen ja gerade vermeiden, daß Betreibe an den Subventionstropf kommen. Ich glaube, wir müssen uns auch um die föderalen Finanzbeziehungen kümmern, das heißt, das Föderale Konsolidierungsprogramm muß neu geordnet werden. Wir wissen, daß wir den eingegangenen Verpflichtungen nachkommen müssen. Wir werden den Solidarpakt auch nach 2004 fortsetzen. Ich freue mich, daß auch der Herr Kollege Teufel aus Baden-Württemberg das noch einmal bestätigt hat. Allerdings finde ich es etwas unredlich, daß er sich bereits im Vorfeld über die künftige Höhe der Mittel geäußert hat. Ich glaube, die Lastenteilung muß zwischen Bund und Ländern fair neu bestimmt werden. Wir werden uns auch darüber unterhalten müssen, ob der Zuschnitt des heutigen Bundesgebietes wirklich noch zeitgemäß ist. Eine föderale Reform verlangt vielleicht auch die Zahl von 16 Ländern und diesen hochkomplizierten Finanzausgleich von Geber- und Nehmerländern zu überdenken. Insofern denke ich, daß die Forderung nach Vollendung der inneren Einheit - ein Sammelbegriff für all die Defizite, die sich angehäuft haben - heute eine Frage nach der Gestaltung der Zukunft ist. Ich will zum Schluß aus dem eingangs erwähnten Gründungsaufruf des „Neuen Forums“ zitieren. Da stand: Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Auch wenn diese Sätze damals in einem anderen Zusammenhang entstanden sind: Sie haben bis heute ihre Aktualität nicht verloren. Eben auch diese Ansprüche will die rotgrüne Bundesregierung mit ihrer Politik in die Tat umsetzen. In diesem Sinne werden wir, wie gesagt, die innere Einheit vollenden: indem wir die gemeinsame Zukunft gestalten. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Luft, Sie haben von der Schuld der alten und der neuen Regierung gesprochen, aber Sie haben so ganz nebenbei vergessen, welche Schuld die ganz alte Regierung auf sich geladen hat. Ohne die brauchten wir heute keinen Aufbau Ost zu betreiben. Es ist einfach nicht seriös, dies einfach wegzulassen; denn es ist die Ursache dafür, daß wir jetzt solche Anstrengungen für den Aufbau Ost unternehmen müssen. ({0}) Jetzt geht es wieder einmal um den Aufbau Ost. Da geht es nicht nur um eine Drucksache, sondern es muß immer wieder Druck gemacht werden, weil der Aufbau Ost noch nicht abgeschlossen ist. Der Grund dafür ist, daß die vorgebliche Chefsache des Kanzlers zur Nebensache geworden ist. Das ist kein Populismus, das ist eine Feststellung. ({1}) Es ist auch keine Erbsenzählerei, Herr Schulz, wie Sie sie, als Sie noch in der Opposition waren, betrieben haben. Wir werden Fakten aufzeigen und uns auch daran halten. Das, was die F.D.P.-Wirtschaftsminister Möllemann und Rexrodt - daran darf man nebenbei erinnern - initiiert bzw. erfolgreich fortgesetzt haben - ich erinnere zum Beispiel an die Rettung von EKO Eisenhüttenstadt; das war zwar ein ordnungspolitischer Sündenfall, aber jetzt arbeitet EKO und bringt Gewinn -, befindet sich in akuter Gefahr. Weil sich der Aufbau Ost in Gefahr befindet, gibt es heute diese Debatte. Es geht nicht um das Einklagen von Dauersubventionen - ich unterscheide zwischen Start- und Dauersubventionen; das ist nämlich ein riesengroßer Unterschied -, sondern es geht nach wie vor um Mittel für den Ausgleich von entwicklungsbedingten Nachteilen im Osten, um hier so schnell wie möglich den selbsttragenden Aufschwung zu erreichen. Noch ist er nicht erreicht, also müssen wir gemeinsam etwas dafür tun. Es war auch Unsinn, als gestern in der Aktuellen Stunde von der SPD behauptet wurde, daß wir jetzt in der Opposition gegen das Sparen seien. Das ist natürlich nicht so. Auch in der Opposition - jedenfalls kann ich das für die F.D.P. sagen - sind wir für einen sparsamen Einsatz der Mittel. Man darf aber nicht nur vom Sparen reden, man muß es tun. Man kann sich nicht mit Einsparungen in Höhe von 30 Milliarden DM schmücken - damit kann man wirklich Schlagzeilen machen - , wenn das gar nicht stimmt. Wenn man zunächst 22 Milliarden DM auf den Haushalt der alten Koalition draufpackt und dann 30 Milliarden DM einspart, sind das nur 8 Milliarden DM Unterschied. Diese 8 Milliarden DM sind auch nicht eingespart, sie sind zum großen Teil nur verschoben worden. So kommen wir mit Sicherheit nicht weiter, hier muß wirklich gespart werden. Das wollte ich nur zur Klarstellung sagen. Wahrscheinlich sind Sie sich nicht bewußt, daß Sie Investitionsruinen produzieren, wenn Sie schon vor der Fertigstellung eines Hauses die Mittel für das Dach streichen. Dann regnet es rein, und das Haus geht kaputt. Genau das machen Sie beim Aufbau Ost. Es ist angekündigt worden, daß die neue Koalition jetzt 10 Milliarden DM drauflegen will. Sie wollte es also besser machen, weil es Chefsache ist. Unterm Strich sind minus 3 Milliarden DM herausgekommen. Das muß man hier ganz einfach aufzeigen. Wir kommen auch nicht daran vorbei, daß das so nicht weitergehen kann. Vom Streichkonzert ist auch ein so wichtiges Verkehrsprojekt wie die ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt betroffen. Man kann das nicht oft genug sagen. Das ist in hohem Maße kontraproduktiv; denn es behindert den wirtschaftlichen Aufholprozeß und fördert die Krise im Bauhandwerk. Deshalb sollten Sie dem F.D.P.-Antrag zustimmen, in dem wir fordern, daß der Investitionsschwerpunkt für die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur nach wie vor in den neuen Bundesländern liegen sollte, daß der angekündigte Baustopp für die ICEStrecke Nürnberg-Erfurt zurückgenommen wird und daß alle Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zügig realisiert werden. ({2}) Lassen Sie mich noch etwas zu den geforderten Dekkungsvorschlägen sagen. Die Frage, wo soll das Geld herkommen, können Sie stellen. Überprüfen Sie zum Beispiel einmal, ob das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Havelausbau - wir sind jetzt in Brandenburg - im vorgesehenen Umfang nötig ist und ob die Verkehrsprognosen noch stimmen. Wenn wir dort Mittel freischaufeln könnten, bräuchten wir sie nicht aus den Mitteln für den Aufbau Ost zu streichen, sondern könnten sie für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen einsetzen, die unbedingt verwirklicht werden müssen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Türk, Sie haben uns soeben aufgefordert, Ihrem Antrag zuzustimmen. Darf ich Sie zu Ihrem Antragspunkt 14 fragen, ob Sie künftig einem PDS-Antrag auf Wiederauflegung einer kommunalen Investitionspauschale zustimmen würden? Wir stellen diesen Antrag seit Jahren. Zu Zeiten der Regierungsmitgliedschaft der F.D.P. haben Sie das immer abgelehnt. Darf ich jetzt davon ausgehen, daß wir künftig mit Ihrem Ja dazu rechnen dürfen? Ich möchte noch zu zwei weiteren Punkten Fragen stellen. In Punkt 7 sagen Sie, durch Investivlohnmodelle solle insbesondere in Ostdeutschland die Vermögensbildung verbessert werden. Ich nehme an, daß Sie ganz gut wissen, welche Durchschnittslöhne im Osten vor allem im verarbeitenden Gewerbe verdient werden. Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen, wer davon noch etwas für Investivlohnmodelle abknapsen könnte. Bisher habe ich von der F.D.P. immer gehört, die Löhne im Osten seien zu hoch, weshalb sich Unternehmer im Osten zurückhielten, den Standort mieden oder sich dort nicht ansiedelten. ({0}) Jetzt beklagen Sie, daß die Löhne im Osten zwischen 60 und 85 Prozent des westdeutschen Niveaus betragen, was bekanntlich ein Faktum ist. Ich frage Sie, was nun in Ihrer Argumentation gilt.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die erste Frage war, ob wir der Wiedereinführung einer Investitionspauschale zustimmen würden. Natürlich; anderenfalls hätten wir das ja nicht gefordert. ({0}) Was zweitens den Investivlohn angeht, so muß man zumindest darüber sprechen, wobei natürlich beachtet werden muß, ob sich die Arbeitnehmer so etwas leisten können. Aber man sollte das im Gespräch halten und es wenigstens prüfen. ({1}) - Daß die Löhne geringer sind, ist doch eine Tatsache. Ich wüßte nicht, daß wir schon einmal etwas anderes behauptet hätten. ({2}) - Ja, das muß man beklagen, um Druck zu machen, daß auch in dem Punkt eine Angleichung erfolgt. Lassen Sie mich zu unserem Antrag betreffend die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zurückkommen. Diese Projekte dürften nicht gestrichen, sondern müssen zügig realisiert werden. Nun möchte ich noch etwas zu den geforderten Dekkungsvorschlägen sagen. Daß der Havelausbau nicht im vorgesehenen Umfange kommen muß, habe ich bereits gesagt. Wir sehen im übrigen auch generell die Möglichkeit, daß man Projekte, Objekte und Maßnahmen daraufhin überprüft, ob sie im vorgesehenen Umfang realisiert werden müssen. Aber das heißt dann noch lange nicht, daß Mittel für den Aufbau Ost gestrichen werden, weil wir noch lange den Nachteilsausgleich brauchen. Die Schere zwischen Ost und West schließt sich ja nicht, sondern sie öffnet sich wieder. Deswegen sagen wir: Die Mittel müssen für sinnvolle andere Infrastrukturmaßnahmen eingesetzt werden. Die Streichung von Mitteln für den Aufbau Ost ist also schlichtweg falsch und kontraproduktiv. Ein weiterer Deckungsvorschlag: Wir betreiben in Ostdeutschland und in Westdeutschland - es ist also nicht ein Ost-West-Gegensatz - Verschwendung in erheblicher Größenordnung. Die geniale Lösung ist überhaupt, daß wir uns zusammensetzen - ich wiederhole den Vorschlag von gestern - und uns an einem Sparpakt beteiligen, bei dem wir aufzeigen, wo in Deutschland, und zwar in Ost- und Westdeutschland, Mittel verschwendet werden. Brächten wir diese Verschwendung weg, hätten wir genügend Geld, das der öffentlichen Hand heute auf allen Ebenen fehlt. Man sollte auf jeden Fall den Versuch machen. Dafür gibt es ja auch eine Grundlage: Wir haben den Bund der Steuerzahler und den Bundesrechnungshof. Sie weisen in jedem Jahr 70 Milliarden DM an Verschwendung aus. Ich frage mich, warum es den Bundesrechnungshof gibt, wenn wir nach seinen Feststellungen gleich wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir sollten uns also zusammensetzen und fragen, wo wir auf diese Art und Weise einsparen können. Ebenso sinnvoll wäre es, besser zwischen Straßenbau und Verlegung unterirdischer Vorsorgungsleitungen zu koordinieren. Heute geht es ja immer noch nach dem Prinzip „Straße auf, Straße zu“, was wahnsinnig viel Geld kostet. Warum setzen wir hier nicht zum Beispiel private Ingenieurbüros ein, die solche Baumaßnahmen koordinieren? Sie könnten ordentlich Geld verdienen, würden aber durch ihre Tätigkeit sehr viel mehr Geld einsparen. Das sind keine Illusionen; wir brauchen es nur einmal anzugehen. Ich denke, daß der F.D.P.-Gesetzentwurf zur Verlängerung und Erweiterung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auch ein Beitrag zur Verbesserung der ostdeutschen Infrastruktur sein kann. Das Gesetz läuft ja bekanntlich am 31. Dezember 1999 aus. Damit würden die Beschleunigungsmöglichkeiten in den neuen Ländern wegfallen. Es geht aber gerade um schnelle Planungen. Es darf nicht sein, daß dieses Gesetz Ende 1999 wegfällt: Erstens gibt es im Osten trotz großer Leistungen immer noch erhebliche Rückstände. Zweitens hat sich das Gesetz bewährt, was man von jeder Seite erfahren kann. Drittens sind ja bekanntlich die Planungsprozesse auch im Westen viel zu lang und stellen daher Investitionshemmnisse dar. Wir fordern daher in unserem Antrag, daß die Geltungsdauer des Gesetzes um 10 Jahre verlängert und der Geltungsbereich auf ganz Deutschland auszudehnen ist. Vielleicht kann man bei dieser Gelegenheit für diesen langen, schlecht auszusprechenden Namen des Gesetzes einen kürzeren Namen finden. Abschließend will ich noch ein paar Fragen stellen, die durch den Antrag der Regierungskoalition zum Aufbau Ost nur unzureichend beantwortet werden konnten. ({3}) Erste Frage: Wann ändern Sie das Gesetz zur Regelung der 630-Mark-Jobs ({4}) und das Gesetz zur Scheinselbständigkeit? Ich kann nicht verstehen, daß Sie zuerst dieses Gesetz machen und dann eine Studie zur Überprüfung seiner Wirksamkeit in Auftrag geben. Genau dasselbe gilt für das Gesetz zur Scheinselbständigkeit, mit dem sich eine Kommission befaßt. Damit zäumen Sie das Pferd von hinten auf und verunsichern die Menschen. Das ist ganz eindeutig. Wer weiß denn noch, was da gehauen und gestochen ist? Es müßte doch eigentlich umgekehrt ablaufen: erst eine Studie und dann ein vernünftiges Gesetz. Zweite Frage: Wann entlasten Sie endlich die kleinen und mittleren Betriebe des Ostens? Haben Sie wirklich vor, die zweite und dritte Stufe der „Ökosteuerreform“ durchzuführen, womit Sie die kapitalschwachen Betriebe - wenn auch in Stufen - weiter belasten? Dritte Frage: Wollen Sie den kapitalschwachen ostdeutschen Betrieben die Mehrwertsteuer erlassen, wenn sie ihre Rechnungen noch nicht bezahlt bekommen haben? Wir haben schon die Umsatzgrenze von 100 000 DM auf 1 Million DM heraufgesetzt, weil der vorherige Zustand für die Betriebe nicht auszuhalten war. ({5}) - Wenn wir in diesem Punkt übereinstimmen, ist das okay. - Trotz der Erhöhung dieser Grenze von 100 000 DM auf eine Million DM müssen wir feststellen, daß das Problem noch nicht gelöst ist. Die Grenze für den Jahresumsatz müßte auf mindestens 5 Millionen DM hochgesetzt werden. Diese Regelung wäre dann im Gesetz zur Zahlungsmoral zu berücksichtigen. Vierte Frage: Wann erhöhen Sie das Wohngeld in ganz Deutschland, und mit welchen Instrumenten wollen Sie den großen und immer größer werdenden Leerstand abbauen? ({6}) Fünfte Frage: Könnten Sie sich damit anfreunden, daß das von der F.D.P. geforderte Bürgergeldsystem im Osten getestet wird? Gerade im Osten wäre dieser Test wegen der geringeren Entlohnung sinnvoll. ({7}) Sechste Frage: Wann beginnen Sie endlich, Herr Schwanitz, mit der Entwicklung strukturschwacher Regionen, insbesondere an der östlichen EU-Außengrenze? Ganz konkret gefragt: Werden Sie mit einer Grenzlandförderung beginnen? ({8}) Wir hatten eigentlich erwartet, daß während Ihrer EURatspräsidentschaft die entsprechenden Weichen gestellt worden wären. Aber Ihre Politik dümpelt weiter vor sich hin. In der Zwischenzeit entvölkern sich diese Regionen. ({9}) - Ja, das war eine Gelegenheit, zum Beispiel für Brandenburg, zur Zusammenarbeit. Aber genau dort dümpelte die Politik vor sich hin. Siebente Frage: Wann wird in einer erneuten Vermögensauseinandersetzung sichergestellt, daß die für die Landwirtschaft nicht verwendbaren Wirtschaftsgüter aus der Bilanz herausgenommen werden? Bis jetzt sind sie immer noch in der Bilanz enthalten und belasten so die kleinen und mittelständischen Betriebe. Es ist jetzt nach 10 Jahren nicht nur eine Zwischenkontrolle, wie sie das Moratorium vorgesehen hat, sondern eine Korrektur falscher Bilanzwerte und damit eine Entschuldung vorzunehmen, um diesen kleinen und mittelständischen Betrieben Entwicklungsmöglichkeiten zu geben und sie nicht weiter zu hemmen. Außerdem wollen wir - das sagte Frau Luft schon die kommunale Investitionspauschale, natürlich eine zweckgebundene Pauschale, wieder haben, zum Beispiel, um das Abwassersystem in Ordnung zu bringen. Das ist ja überall in den neuen Bundesländern ein Problem. Wann wollen Sie und werden Sie diese Pauschale auflegen? Es wäre jedenfalls ein Beitrag, um den Kommunen und der Bauwirtschaft zu helfen. Letztlich stellt sich auch die Frage, Herr Staatsminister Schwanitz, ob schon ein Plan zur Vereinfachung des Förderkonzeptes vorliegt. Wir hatten das ja einmal in einer Fragestunde erörtert. Sie sagten, das kann man in Stufen machen. Ich frage heute nach, ob wenigstens die erste Stufe vorliegt und welche Schwerpunkte gesetzt wurden, falls sie vorliegt. Es ist auch denkbar, daß über die vereinfachte Investitionsförderung hinaus vielleicht eine neue Strategie vorgelegt wird. Wird sie vorgelegt, und wie wird sie aussehen? Schließlich will ich sagen: Den Aufbau Ost zur Chefsache zu erklären ist eine relativ einfache Sache, aber ihn dann wirklich auch zu machen, das ist natürlich eine andere, und genau das wollen wir hier erreichen. Wir wollen Druck machen, damit es vielleicht doch zur Chefsache wird, auf jeden Fall, daß der Aufbau Ost nicht in Vergessenheit gerät. - Vielen Dank. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die PDS-Fraktion hat der Kollege Dr. Gregor Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich weiß gar nicht, weshalb Sie sich aufregen. Bei uns war der Aufbau Ost immer Chefsache. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Werner Schulz, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, und ich habe festgestellt, Ihre Beiträge gleichen sich nun auch seit zehn Jahren. Sie sind immer geprägt erstens von tiefem Zynismus, zweitens erteilen Sie in alle Richtungen Ihre Zensuren, und es ist immer der notwendige Schuß Anti-PDS-Stimmung enthalten. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob das vielleicht auch etwas mit dem Grad der Akzeptanz der Grünen in den neuen Bundesländern zu tun hat. Vielleicht sollte man irgendwann den Stil auch einmal ändern. ({1}) - Ja, das sind Sie nie. Ich weiß. Wenn man schon meint, zum Beispiel ein Papier der Arbeitsgruppe des Parteivorstandes hier anführen zu können, dann sollte man es wenigstens gelesen haben. Wenn Sie es gelesen hätten, dann würden Sie feststellen, daß darin überwiegend Lob und zum Teil auch Kritik an Landeswahlprogrammen enthalten ist, was mit inneren Landesprojekten zu tun hat. ({2}) Mit unserem heutigen Antrag auf Gleichstellung der Lebensverhältnisse in Ost und West hat es überhaupt nichts zu tun. Deshalb geht Ihre Bemerkung völlig fehl. Herr Kollege Krüger, Sie haben am Anfang den Kanzler dafür kritisiert, daß er nicht da ist. Das finde ich nicht fair. Das will ich ehrlicherweise sagen. Sie wissen, daß ich mich auch sehr deutlich mit ihm auseinandersetze, aber das finde ich nicht fair. Wenn wir hier im Bundestag nicht in der Lage sind, einigermaßen eine Zeitdisziplin an den Tag zu legen, so daß die Debatte viel später beginnt, als sie vorgesehen war, können wir ja nicht im Ernst von ihm erwarten, daß er sich einen ganzen Tag in der Erwartung freinimmt, daß irgendwann einmal diese Debatte stattfindet. ({3}) Insofern wollte er daran teilnehmen. Er hat sich bei uns allen persönlich entschuldigt. Mehr kann man vielleicht in dieser Situation von ihm nicht erwarten. Aber - und das hätten Sie sagen können - daß so gut wie überhaupt kein Bundesminister hier auf der Bank sitzt, das ist allerdings wirklich Ausdruck von Desinteresse, ({4}) und das muß man auch ganz klar kritisieren. Beim Thema Steuern sind alle da; wenn es um den Osten geht, fehlen auch alle. Sie haben außerdem noch, Herr Abgeordneter Krüger, darauf hingewiesen, daß Sie schon zu DDR-Zeiten über Ihrem Schreibtisch den Spruch hatten, daß es das Ungerechteste sei, wenn man ungleiche Verhältnisse gleich behandele. Das wundert mich nicht; ich finde nur, Sie hätten dann schon der Vollständigkeit halber darauf hinweisen müssen, daß das ein Zitat von Karl Marx ist, aus der „Kritik am Gothaer Programm“. Das ist ja auch richtig, aber ich finde, man hätte es dann auch wenigstens erwähnen dürfen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, bitte.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, Herr Gysi, daß ich ausdrücklich gesagt habe, ich lasse dem Bundeskanzler nicht durchgehen, daß seine Fraktion bzw. die Koalition von Rotgrün vorher den Termin, der ursprünglich - zumindest in unserer Intention - auf den Vormittag angesetzt war, auf den Nachmittag verschiebt ({0}) und daß sich dann, wenn sich die Debatte etwas verzögert, der Bundeskanzler entschuldigt, daß er nicht dabeisein kann. Das ist nach meiner Einschätzung symptomatisch für diese Regierung, und genau das wollte ich zum Ausdruck bringen. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? ({1})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Erstens bin ich bereit, das zur Kenntnis zu nehmen; zweitens habe auch ich die Bundesregierung kritisiert. Allerdings war die Verzögerung nicht klein; sie war ziemlich erheblich. ({0}) Er wollte um 12.30 Uhr da sein. Zwei Stunden sind viel Zeit. Was die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte betrifft: Darin stimmen wir wieder völlig überein. Was glauben Sie, wie ich mich darüber schwarz ärgere, daß von uns beantragte Tagesordnungspunkte immer mitternachts an die Reihe kommen. Da hätten wir gern einmal eine Änderung. Aber das ist bisher nicht durchzusetzen gewesen. ({1}) Nur aus dem Grund, daß auch Sie einen entsprechenden Antrag gestellt haben, hatten wir einmal die Chance, daß ein Antrag von uns in der Nachmittagsstunde behandelt wird. Das schätzen wir ja auch an solchen Anträgen von Ihnen. ({2}) Wenn ich zu einem weiteren Punkt kommen darf: Sie haben hier etwas zu unserem Antrag zum Airbus A 3XX, der in Rostock-Laage montiert werden soll, und zu der entsprechenden Großinvestition gesagt. Sie, Herr Kollege Krüger, haben in dieser Beziehung nicht vollständig informiert. Im Haushaltsausschuß und im Wirtschaftsausschuß haben die Abgeordneten der CDU/CSU gegen diesen Antrag gestimmt; sie haben ihn abgelehnt. Nur im Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder muß noch über ihn entschieden werden; das ist wahr. ({3}) Sie sollten mit Ihren Kolleginnen und Kollegen, die im Haushalts- und im Wirtschaftsausschuß sind, über diese Frage noch einmal gründlich reden. ({4}) - Ja, sehen Sie, das ist eben nicht besonders klug. ({5}) Es kommt der Tag, an dem Sie das noch bereuen werden. ({6}) Ich will Ihnen auch noch folgendes sagen. Sie haben kein Wort zu Bayern gesagt. Das geht mir langsam auf die Nerven. Nach jeder Wahl und vor jeder Wahl meldet sich Bayern zu Wort, beklagt die Transferleistungen in die neuen Bundesländer und knüpft das Ganze noch an Wohlverhalten und an entsprechende Wahlergebnisse. Wissen Sie: Mir gefallen die Wahlergebnisse in Bayern auch nicht. Ich finde merkwürdig, was da seit 40 Jahren gewählt wird. Nur käme ich nie auf die Idee, entsprechende Wahlergebnisse zur Bedingung für die Bereitstellung der Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe und anderer Mittel, die vom Bund in das Land Bayern fließen, zu machen. Was von Bayern nie erwähnt wird - setzen Sie, Herr Krüger, sich doch wenigstens einmal damit auseinander! -, ist zum Beispiel, daß Bayern vom Bund nach wie vor sehr viel mehr Geld erhält als etwa Sachsen und Thüringen. Das ist übrigens wahrscheinlich auch berechtigt. Bayern hat ja sehr viel mehr Einwohnerinnen und Einwohner. ({7}) Es gibt allerdings keinen Grund dafür, daß ständig auf diese Art und Weise der Osten von Spitzenpolitikern der CSU gedemütigt und diskreditiert wird, ohne daß Sie, Herr Krüger, jemals ernsthaft dagegen aufgetreten wären. ({8}) Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu den beiden Ministerpräsidenten Vogel und Biedenkopf sagen. Wer das in den Zeitungen richtig liest, der bekommt doch jetzt schon mit - so habe ich übrigens auch Ministerpräsident Vogel bei „Sabine Christiansen“ verstanden -, daß wahrscheinlich beide dem Sparpaket zustimmen werden. ({9}) Die Kritik bezieht sich auf diese ICE-Strecke. Herr Vogel hat in der Sendung ausdrücklich gefragt: Wieso kriegen wir diese Mittel nicht? Wenn wir diese Mittel bekommen, dann kann man über alles reden. ({10}) Das heißt, sein Maßstab ist nicht die Kürzung beim Arbeitslosengeld, die Kürzung bei der Rente, die Kürzung bei den Unterhaltsleistungen, bei der Arbeitslosenhilfe. Das läßt er alles durchgehen. ({11}) Nur der ICE ist sein Maßstab. Wissen Sie, es ist mir ein bißchen wenig - das muß ich ehrlich sagen -, wenn man das zum Gegenstand der Auseinandersetzung beim Sparpaket macht. Ganz ähnlich verhält sich auch Biedenkopf. ({12}) Herr Kollege Schulz, Sie haben gesagt, es würde im Osten nicht gekürzt werden. Das ist wirklich schlicht falsch. Darf ich Ihnen ein paar Einzelbeträge nennen? Die Sachkostenzuschüsse an Träger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden um 800 Millionen DM reduziert, die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ werden um 67 Millionen reduziert, die Mittel für die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben werden um 915 Millionen DM gekürzt, bei Forschung und Entwicklung wird um 15 Millionen gekürzt, die Mittel für die Finanzhilfen für Pflegeeinrichtungen werden um 109 Millionen gekürzt. Angesichts dieser Zahlen können Sie doch nicht im Ernst behaupten, da würde nicht dramatisch gekürzt werden. Das hat alles Auswirkungen, was Sie im Sparpaket in dieser Beziehung vorsehen. Deshalb kann man nicht im Ernst davon sprechen, daß der Aufbau Ost auf hohem Niveau fortgesetzt wird. Nein, er wird auf niedrigerem Niveau fortgesetzt. Das ist die Wahrheit, und dazu sollte sich die Bundesregierung dann auch wenigstens ehrlich bekennen. Nun sind wir für unseren Antrag kritisiert worden, zum Beispiel in bezug auf das Pilotprojekt Ost. Worum geht es denn da? Wir wollen doch, daß der Osten endlich auch für die alten Bundesländer zu einer Chance wird. Man kann dort mehr ausprobieren, mehr machen, weil bestimmte Strukturen noch nicht so festgefahren sind. Wir möchten, daß das einfach einmal genutzt wird, damit gesagt werden kann: Da entwickelt sich etwas, was für die gesamte Bundesrepublik Deutschland von Vorteil sein könnte. Was wir unter anderem kritisiert haben, ist doch nicht, daß Sie dort marode Strukturen beseitigt haben. Ich bin ja auch bereit, meinen Teil der Verantwortung dafür zu übernehmen. Was wir immer kritisiert haben, ist, daß Sie nie genau hingeguckt haben. Wenn ich mir jetzt die Pläne der Gesundheitsministerin anschaue, stelle ich fest: Sie entdeckt die Polikliniken wieder, die Sie, meine Damen und Herren von der jetzigen Opposition, neun Jahre lang beseitigt haben. Sie haben damals nicht genau hingeschaut. ({13}) - Ja, ich meine die rechte Seite dieses Hauses. Dasselbe könnte ich Ihnen hinsichtlich der Sekundärrohstofferfassung und zu vielen anderen Sachverhalten sagen. Das ist es, was uns ärgert; hier wollen wir eine andere Weise des Herangehens. Wenn man das zum Teil im Westen übernommen hätte, dann hätten die Menschen in den alten Bundesländern gesagt: Durch die Vereinigung kommt auch etwas Vernünftiges auf uns zu. Dann hätte man die Einheit nicht nur unter Kostengesichtspunkten behandelt, wie das in den letzten Jahren der Fall gewesen ist. Ich könnte noch viele Themen ansprechen, zum Beispiel die Altschulden. Sie kennen das alles. Die Fehlentwicklungen, die es da gegeben hat, geschahen unter Ihrer Leitung; das können Sie nicht der heutigen Regierungskoalition vorwerfen. Der kann man nur vorwerfen, daß es kein Programm gibt. Was beantragen wir? Wir beantragen doch nicht die Angleichung der Verhältnisse zum 1. Oktober 1999. Das kann der Bundeskanzler nicht leisten. Das können auch die Regierungsfraktionen und die Bundesregierung nicht leisten. Was wir aber beantragen, ist, daß Sie wenigstens einen Fahrplan vorlegen, damit wir wissen, in welchen Schritten und innerhalb welcher Fristen dies vollzogen werden soll, damit wir eine Perspektive haben, mit der wir umgehen können. Und wenn hier immer das Finanzargument vorgebracht wird, dann kann ich das nicht akzeptieren. Wir kämen doch auch in keinem alten Bundesland auf die Idee, bei einem Ministerwechsel zu sagen: Dein Vorgänger hat zwar mehr verdient als du. Aber du weißt, unsere Kassen sind knapp. Du fängst jetzt einmal mit 80 Prozent des Gehalts an. - Einen solch absurden Gedanken hätte kein Mensch. Aber der Osten soll das immer akzeptieren. Vielleicht könnte man dies ja akzeptieren, aber nur unter der Bedingung, daß auch unsere Preise bei 70 bis 80 Prozent der Westpreise liegen. Wir aber haben Preise in Höhe von 100 bis 110 Prozent und Einnahmen zwischen 65 und 85 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar; das paßt einfach nicht zueinander. ({14}) Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Hier ist dem Westen etwas gelungen, was der DDR nie gelungen ist, wovon sie nur geträumt hat. Sie kennen den alten Spruch: Überholen, ohne einzuholen. Also, bei den Energiepreisen, bei den Wasser-, Abwasser- und Straßenbaubeteiligungsgebühren haben wir das geschafft. Da haben den Westen überholt, ohne ihn je einzuholen. Diese Preise sind bei uns inzwischen bei weit über 100 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar. ({15}) Deshalb sage ich: Hier muß sich etwas verändern. Neun Jahre nach der Herstellung der deutschen Einheit können Sie dies auch nicht mehr erklären. Was sagen Sie denn zu den beiden Polizisten in Greifswald? Trotz längerer Dienstzeit bekommen sie bei gleichem Dienstgrad und gleichen Dienstaufgaben nach BAT Ost anstatt nach BAT West ({16}) - nein, Sie wissen, daß das nichts mit dem Land zu tun hat; über den BAT wird hier entschieden ({17}) - 250 bis 300 DM weniger als die tausend Kollegen in Bayern, die ohne Erfolg durch den Wald streifen, während sie zu zweit, wie es sich gehört, den Mörder auf der Straße festnehmen. Das können Sie nicht mehr erklären. ({18}) Und kommen Sie mir bloß nicht mit der Produktivität! ({19}) - Ja, Berlin. Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Herr Nooke, wenn Sie etwas von mir wissen wollen. Dann werde ich es Ihnen erklären. In Berlin haben wir eine andere Situation. Weil dort die Konfrontation viel zu unmittelbar war, hat sich der Berliner Senat diesbezüglich vernünftig gehalten. Soweit es aber auch dort um den BAT geht, ist der Unterschied in allen Bereichen nach wie vor derselbe. Ich sage Ihnen: Es muß etwas passieren, und zwar nicht nur wegen der heutigen Preisstruktur, sondern auch wegen der Zukunft. Wenn heute ein 19- oder 20jähriger als, nur einmal angenommen, Angestellter im öffentlichen Dienst anfängt und dort seine Arbeit leistet, für die er etwa 80 Prozent dessen bezieht, was er in den alten Bundesländern dafür bekäme, dann bekommt er noch in 45 Jahren, wenn er in Rente geht, per Rentenbescheid schriftlich bestätigt, daß er Ossi war bzw. ist, weil von ihm jetzt geringere Beiträge abgeführt werden, so daß er bei gleicher Lebensleistung eine geringere Rente bekommt. Und da er nicht nur ein Jahr Rentner sein wird, sondern wahrscheinlich 20 Jahre, bekommt er dies 20 Jahre lang bestätigt. Wir fragen: Wann kommt der erste Jahrgang ins Berufsleben, der weder beim Arbeitslosengeld noch bei der Arbeitslosenhilfe - sollten diese traurigen Fälle eintreten -, noch bei der Rente spürt, daß er in Ostdeutschland geboren ist, weil er unter gleichen Bedingungen gestartet ist? Welcher Jahrgang wird das sein? Wenn nicht bald etwas geschieht, werden wir dieses Problem noch in 100 Jahren haben. Schon jetzt steht fest, daß wir die Unterschiede in den Rentenbescheiden noch in 65 Jahren haben werden. Jedes Jahr, das tatenlos verstreicht, verlängert auch diesen Prozeß. ({20}) Dies kann nicht einfach mit dem Vorwand der Finanzschwierigkeiten abgetan werden. Wir brauchen vielmehr einen klaren Fahrplan, in dem festgelegt ist, innerhalb welcher Fristen und mit welchen Schritten die Verhältnisse angeglichen werden sollen. Alles andere ist nicht akzeptabel. Es kommen noch nichtmaterielle Dinge wie Berufsabschlüsse etc. hinzu. Um darauf einzugehen, habe ich aber keine Zeit mehr. Sie wissen, da könnte man vieles machen, was nicht einmal Geld kostet. Aber auch diesbezüglich passiert nichts. ({21})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Dr. Mathias Schubert. ({0})

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte frage ich mich, warum die Opposition - damit meine ich hauptsächlich Sie von der CDU/CSU - mit polemischen Attacken zur Erklärung der eigenen Verantwortungslosigkeit für ehemaliges Tun ein Thema behandelt, das früher dankenswerterweise eher zu den gemeinsamen Anliegen des Hauses gehörte. Ich will Ihnen sagen, was ich vermute: Offenkundig drückt das Ihre Angst vor der Aussicht aus, daß sich wirklich etwas zum Besseren wendet, wenn wir unser Haushaltskonsolidierungsprogramm realisieren und damit dem Staat auch in den neuen Bundesländern wieder mehr Handlungsspielräume verschaffen. ({1}) Diese Handlungsspielräume sind dringend nötig, um zwei der wichtigsten Ziele des Aufbaus Osts, nämlich neue Arbeitsplätze durch zukunftsfähige Investitionen, umzusetzen. Dazu taugt die plakative Formel der PDS von der sozialen Gerechtigkeit nicht. Sie bleibt nämlich schlicht die Antwort schuldig, wie das soziale Netz auch in den neuen Ländern dauerhaft belastbar bleiben kann. Das Wort von der „Wünsch-dir-was-PDS“ ist ja nicht zufällig im Liebknecht-Haus geprägt worden. Es taugt auch nicht die summarische Forderung der CDU/CSU nach eindeutigen inhaltlichen Prioritäten beim Aufbau Ost, wenn Sie der Kritik in Ihrem Antrag nicht einen konkreten Vorschlag beifügen. ({2}) - Das ist so; das können Sie nachlesen. Sie schließen mit einem Fünfzeiler, der nichts aussagt. Während ich bei der PDS wenigstens noch ein Zipfelchen an Bemühungen um Konstruktivität entdecke, verharren Sie im alten Denken und sind offensichtlich unfähig, eine umsetzbare politische Konzeption zur Neuorientierung des Aufbaus Ost zu entwickeln. Denn wenn Sie hier von Rotrot sprechen, dann bescheinigen Sie sich bloß, daß Sie nicht mehr fachlich, sondern nur noch in Ideologien denken können. ({3}) Wir dagegen haben in einer ersten Etappe der Neuorientierung wesentliche und dringend notwendige Korrekturen vorgenommen. Der vor allem im Osten dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit begegnen wir wirksam mit unserem Sofortprogramm, das, wie auch Sie sicherlich schon wissen, fortgesetzt werden wird. Wir haben mit der Forschungsförderung nach vielen Jahren den finanziellen Kahlschlag endlich beendet und die längst überfällige Voraussetzung für zukunftsfähige Investitionen in den neuen Ländern geschaffen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Schubert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Christa Luft?

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Schubert, ich freue mich, daß Sie uns eine gewisse Konstruktivität unterstellen. - Ich möchte Sie folgendes fragen: Was halten Sie denn davon, daß die Kollegin Röstel, die Parteisprecherin der Bündnisgrünen, vorgestern - so habe ich das am 8. September in der Zeitung gelesen - eine Initiative der ÖTV zur Angleichung der Ostlöhne an die Westlöhne unterstützt hat. Dort heißt es, daß es nicht mehr länger hinnehmbar sei, daß eine Krankenschwester im Osten über 13 Prozent weniger verdiene als im Westen. Besteht in diesem Zusammenhang ein Dissens in der Koalition, oder hat sie nur für sich gesprochen? Hat sich die Parteisprecherin der Grünen nicht mit ihrer Fraktion abgestimmt? Ich möchte gerne wissen, wie Sie das sehen.

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich versuche, Ihnen eine Antwort zu geben, aber nicht genau in diesem Punkt. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Dinge abgestimmt worden sind und welche nicht. Ich kann Ihnen nur meine Meinung zu diesem Thema sagen. Das Gerede über Rotrot lasse ich jetzt einmal außen vor. Wir werden nämlich nicht rotrot zusammenkommen. ({0}) Ich gebe Ihnen völlig recht, daß wir die Lohnangleichung hinbekommen müssen, wenn wir nicht weiterhin eine Zweiklassengesellschaft kultivieren wollen. Das Problem ist nicht - darüber sollten wir ernsthaft diskutieren -, daß wir das hinbekommen, sondern wie und in welchem Zeitraum wir das mit Blick auf die öffentlichen Kassen erreichen. Es gibt ein weiteres Problem - auch darüber müssen wir sprechen -: Nicht nur die öffentlichen Kassen sind von einer Lohnangleichung betroffen. Wir können nicht den öffentlichen Dienst auf allen Ebenen bevorzugen bzw. bevorteilen und die anderen Einkommensempfänger, die mehrheitlich außertariflich bezahlt werden - das wissen wir ja alle -, bei 60, 70 oder 80 Prozent der Westeinkommen hängen lassen. Wenn wir das Thema Lohnangleichung als Gerechtigkeitsprojekt in den neuen Bundesländern verstehen - den Fahrplan, von dem Ihr Fraktionsvorsitzender, Frau Luft, gesprochen hat, finde ich nicht uninteressant -, dann sollten wir uns nicht nur über einen solchen Fahrplan, sondern auch - um im Bild zu bleiben - über die einzelnen Haltestellen unterhalten. Denn dann ginge es nicht, daß der Beamte hie 100 Prozent erhält und der Gießer da 60 Prozent. Das funktioniert nicht.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie, Herr Kollege, eine weitere Zwischenfrage von Frau Kollegin Sonntag-Wolgast?

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bitte ganz herzlich.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Schubert, können Sie mir über das hinaus, was Sie eben schon erläuternd gesagt haben, bestätigen, daß die UnDr. Mathias Schubert terschiede bei den Tarifen zwischen Ost und West nur fünf Prozent betragen, wenn Sie die Nettoberechnung zugrunde legen? ({0})

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich bestätigen. Vielen Dank, Frau Kollegin. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kollegin, an einer knappen Auskunft ist nichts auszusetzen. ({0})

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Außerdem war das eine korrekte Antwort, wenn Sie einmal nachdenken. Das Inno-Regio-Programm hat in einer Reihe von Regionen schon jetzt zu wirtschaftlichen und strukturellen Synergieeffekten geführt wie kaum ein anderes Förderprogramm bisher. Bitte vergessen Sie eines nicht: Der Bund wird - später werden Sie hier wieder anderes behaupten - trotz Haushaltskonsolidierung im Jahr 2000 mehr Geld für die neuen Länder bereitstellen, als es im letzten Haushalt der schwarz-gelben Bundesregierung 1998 der Fall war. ({0}) Das ist erst der Anfang. Denn die Bilanz nach nunmehr neun Jahren Aufbau Ost zeigt ein Bild voller Kontraste. Wer wollte das leugnen? Absturz und Aufschwung, Wachstumszentren und Problemregionen! In einem beispiellosen solidarischen Kraftakt haben Ostdeutsche und Westdeutsche gemeinsam Hunderte Milliarden an Steuergeldern für die neuen Länder aufgebracht. Dennoch ist flächendeckend keine tragfähige Wirtschaftsstruktur entstanden. Die bedrückende Arbeitslosigkeit liegt durchweg und stabil bei über 17 Prozent, die Abwanderung von Ost nach West konnte nicht gestoppt werden, ganze Regionen drohen leerzulaufen. ({1}) - Wenn Sie mir zuhören würden, könnten Sie sich so etwas sparen. ({2}) Die immer wieder beschworene Angleichung der Lebensverhältnisse stagniert. Und da wundern wir uns, daß sich immer mehr Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse fühlen! Dennoch habe ich als Ostdeutscher nicht vor, die Leistungen der alten Bundesregierung für die neuen Länder pauschal zu disqualifizieren. Erstaunlicherweise machen das die Autoren des CDU/CSU-Antrags. Darin stehen im Zusammenhang mit Strompreisangleichung und Wohngeldreform folgende Sätze: Eine Verbesserung für Ostdeutschland gibt es nicht. Bestenfalls wird der Status quo gewahrt. Was heißt denn das? Damit diskreditieren Sie den Stand der deutschen Einheit, den Sie zu verantworten haben, ({3}) und bezeichnen damit natürlich auch Ihre bisherige Aufbau-Ost-Politik pauschal als schlecht. ({4}) - Dann lesen Sie doch noch einmal nach. Herr Krüger, wenn die Bankrotteure die Konkursverwalter für ihren Bankrott verantwortlich machen, dann zeugt das von der Unfähigkeit zur Realitätsbewältigung und damit letztlich von Ihrer Unfähigkeit, konstruktive Politik zu gestalten. ({5}) Ich sehe mich fast genötigt, Sie gegen sich selbst in Schutz zu nehmen. ({6}) Es geht jetzt um eine zweite Phase beim Aufbau Ost, und dieser ist als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Deshalb werden wir das Zerbrechen der gesamtdeutschen Solidarität nicht zulassen. Es muß unsere gemeinsame parlamentarische Aufgabe bleiben, im Rahmen der Möglichkeiten dieses Hauses den angestrebten Ausstieg etwa Bayerns oder Baden-Württembergs aus der Bund-Länder-Solidargemeinschaft mit Ostdeutschland zu verhindern - und zwar unabhängig davon, wie die notwendige Anschlußregelung des Solidarpakts nach 2004 im Detail gestaltet wird. ({7}) Wer den Aufbau Ost als Erfolg will, darf ihn nicht auf eine Finanzbeziehung zwischen Bund und neuen Ländern reduzieren. Denn das ist ein fahrlässiges Spiel mit der inneren Einheit. Wir werden ja sehen, wieviel Sie an solidarischer Kraft im eigenen Lager dazu aufbringen. Denn eines ist sicher: Die ererbte Finanzlage des Bundes ist derart desolat, daß der Aufbau Ost ohne Haushaltskonsolidierung in Zukunft nicht mehr in der notwendigen Form gesichert werden kann. Dieser Zusammenhang ist zwingend. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Schubert, die Kollegin Pieper möchte eine Frage an Sie stellen.

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich werde in der Tat dafür bezahlt, daß ich hier im Interesse des Aufbaus Ost die richtigen Fragen stelle. ({0}) Herr Kollege Schubert, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, was das Wirtschaftsinstitut in Halle unter Führung von Professor Pohl letztens veröffentlicht hat, nämlich daß auf Grund der im letzten Jahr von Ihrer Regierung beschlossenen Gesetze - ich meine jetzt nicht nur das Ökosteuer-Gesetz, sondern auch alle anderen Gesetze - eine unheimliche Belastung gerade des Mittelstandes in den neuen Bundesländern stattgefunden hat? Er hat nachgewiesen, daß allein durch die damit einhergehende Verunsicherung viele Firmen einen Auftragsverlust erlitten haben. Darüber hinaus ist in den neuen Bundesländern auf Grund der Unsicherheiten, die es gerade für kleine und mittelständische Unternehmen gibt, mit einem Beschäftigungsabbau zu rechnen. Sind Sie bereit, diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen und zuzugeben, daß die Politik, die von Ihnen betrieben worden ist, letztendlich nicht zum Aufbau Ost beiträgt? ({1})

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Kollegin, Sie werden von mir schlechterdings nicht erwarten können, daß ich dem letzten Teil Ihrer Frage zustimme. Ich kenne - das muß ich Ihnen ehrlicherweise zugestehen - diese Studie nicht. Was mich wundert, ist: Herr Pohl hat - wie übrigens andere Wirtschaftsinstitute auch - bislang immer einen ganz anderen Standpunkt vertreten. Er hat nämlich gesagt: 2004 brauchen wir im Osten keine Sonderförderung für die Wirtschaft mehr; und jetzt plötzlich dies. ({0}) - Verunsichert worden ist vielleicht Herr Pohl. Aber ich kenne zumindest aus meinem Umfeld - ich kenne Ihr Umfeld nicht - kein Unternehmen, das durch unsere steuerpolitischen Maßnahmen verunsichert worden wäre. ({1}) Man muß ein Wort zur hoffnungslosen Unterfinanzierung - jetzt wird es wieder ernsthaft - zum Beispiel des Bundesverkehrswegeplans sagen, eines Bundesverkehrswegeplans, den Sie, die Vorgängerregierung - dafür tragen Sie die Verantwortung -, als eine Art Märchenbuch geschrieben haben. Das zwingt zu einer realistischen Zurückführung auf das Machbare, und das Machbare ist in diesem Fall das Bezahlbare. ({2}) - Herr Türk, ich komme gleich zu Ihnen. - Meinen Sie etwa, es macht uns Spaß, das Verkehrsprojekt Nr. 8 zu canceln? ({3}) - Herr Kollege, haben Sie es noch nicht kapiert? Wenn wir sagen würden, wir machen das Projekt Nr. 8 und nicht das Projekt Nr. 17, garantiere ich Ihnen, daß Sie als Opposition bei der nächsten Debatte zum Aufbau Ost hier fragen: Warum macht ihr Nr. 17 und nicht Nr. 8? Das ist schwierig. Bei diesen Aufräumarbeiten sind leider auch als schmerzhaft empfundene Einschnitte nicht zu vermeiden. Es ist wohlfeil und pharisäerhaft zugleich, sich auch hier aus der eigenen Verantwortung zu stehlen. Auch als Opposition können Sie doch nicht übersehen, daß auf der Grundlage von Bund-LänderVereinbarungen - die Sie im übrigen so gut kennen wie ich - andere Verkehrsvorhaben wie die A 17, die A 38 und die A 71 sowie die B 247 einschließlich Ortsumgehungen gebaut werden. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, herzlichen Dank für diese am Montag vor einer Woche in Leinefelde erteilte Auskunft. Diese Projekte liegen alle im Osten der Republik. Ein letzter Punkt: Neuorientierung der Wirtschaftsförderung. Auch hier, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind einige unbequeme Wahrheiten zu diskutieren. Wie entwickelt man leistungs- und innovationsorientierte Standorte in Ostdeutschland? Weder Dauersubventionen noch konfliktvermeidende sogenannte Transferleistungen allein reichen zur Realitätsbewältigung aus. Zukunftsfähiges muß gefördert werden. Dazu müssen wir Bedingungen schaffen, die besser sind als anderswo, um nicht zuletzt historisch bedingte Nachteile auszugleichen. Dazu gehört zum Beispiel die Förderung von Vernetzungseffekten, von Marktzugang, von Managementkompetenz, von Kooperation zwischen Branchen und Regionen. Nachdem die Privatisierung der ostdeutschen Unternehmen abgeschlossen ist und die meisten industriellen Kerne - wenn auch auf sehr unterschiedlichem Niveau erhalten sind, geht es nun darum, den wirtschaftlichen Erfolg zu organisieren. Die Regeln westdeutscher Industriepolitik der 60er und 70er Jahre, nach denen sehr viele Wirtschaftsförderprogramme Ost immer noch gestrickt sind, sind offenbar nicht mehr zukunftsfähig. Ich weiß, daß solche Überlegungen zur Neuorientierung in Einzelfällen zu bitteren Konsequenzen führen und sich der Widerstand derer, die den Status quo als konservatives Politikinstrument bewahren wollen, regt. Aber an den Fakten kommt letztlich niemand vorbei. Das Ziel heißt: mehr Effizienz, mehr Arbeitsplätze, mehr Innovation, mehr Zukunftssicherheit - mit demselben finanziellen Einsatz. Da Frau Kollegin Hustedt vorhin das Thema Strompreisdiskussion dankenswerterweise genau in derselben Richtung diskutiert hat, die auch ich vertrete, will ich das nicht mehr ansprechen. Ich möchte noch auf den A3XX, Herr Krüger, zu sprechen kommen. Das Engagement des ehemaligen Bundeskanzlers Kohl für den A3XX in Rostock besteht nach Recherchen der Schweriner Staatskanzlei aus einem Brief an die Staatskanzlei und ein paar Wahlkampfreden. Es war also nichts als laue Luft, die hinten herauskam. ({4}) - Dafür hat sie nicht lange gebraucht. ({5}) Ich fasse zusammen und komme zum Ende: Meine Damen und Herren, soziale Gerechtigkeit ist nicht zuletzt durch Innovation, Investition und Schaffung von Arbeitsplätzen zu organisieren. Dazu braucht es Geld aber nicht nur. Dazu braucht es auch intelligente Ideen, gemeinsames politisches Engagement, risikobereite, pfiffige Unternehmer und qualifizierte sowie motivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Essentials werden unsere Arbeit am Aufbau Ost bestimmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nunmehr das Wort dem Finanzminister des Landes Thüringen, Andreas Trautvetter. Andreas Trautvetter, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({1}) Herr Schubert, Sie haben ein Bild von Ostdeutschland gezeichnet, das für Ihre Heimat Brandenburg zutreffen mag. Für Sachsen und für Thüringen ziehe ich mir - bei aller regionalen Differenzierung, die auch bei uns angebracht ist - diesen Schuh allerdings nicht an. ({2}) Sie haben sich über die Verantwortungslosigkeit, über ehemaliges Tun beschwert. Ich möchte ein Beispiel nennen - das bezieht sich mehr auf die letzte Debatte -: Über die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte reden wir nicht erst seit 1998, sondern schon viele Jahre. ({3}) 1997 gab es eine Finanzministerkonferenz in Merseburg. Bis am Vorabend dieser Finanzministerkonferenz von Merseburg waren sich alle SPD- und CDU-Finanzminister über ein Konsolidierungsprogramm in Höhe von 15 Milliarden DM einig. Das war der kleinste gemeinsame Nenner von Vorschlägen über insgesamt 35 Milliarden DM. Dann kam am Vormittag das Aus aus der Baracke, und der gemeinsame Beschluß kam nicht zustande. Das ist verantwortungsloses Tun Ihres ehemaligen Bundesvorsitzenden Lafontaine. ({4}) Auch dazu sollte man stehen. ({5}) Es gibt eine weitere verantwortungslose Aussage aus den letzten Tagen. ({6}) - Hören Sie mir doch einmal zu! ({7}) Es gibt ein Zitat von Herrn Bundesfinanzminister Eichel am 30. August in der „Leipziger Volkszeitung“: Ich erwarte auch von den neuen Ländern, daß sie begreifen, daß die Konsolidierung des Bundeshaushaltes jetzt die Voraussetzung dafür ist ({8}) - Sehr geehrter Herr Abgeordneter, dürfen Bundesratsmitglieder hier im Bundestag reden, ist das nicht parlamentarischer Brauch? Oder möchte der Deutsche Bundestag seine Geschäftsordnung diesbezüglich ändern? ({9}) Ich darf noch einmal Bundesfinanzminister Eichel zitieren: Ich erwarte auch von den neuen Ländern, daß sie begreifen, daß die Konsolidierung des Bundeshaushaltes jetzt die Voraussetzung dafür ist, daß der Bund auch in Zukunft weiter seinen Verpflichtungen für den Aufbau Ost nachkommen kann ({10}) und daß damit die ostdeutschen an die westdeutschen Länder herangeführt werden können. Auf die Frage, ob die Zustimmung zum Sparpaket die Voraussetzung für die Fortführung des Solidarpaktes sei, erklärte Eichel: „Ja, sicher.“ Darauf kann ich frei nach

Not found (Kanzler:in)

Wir haben verstanden. Nur dann, wenn wir uns im Osten mit kindlicher Seele dem Willen des guten, großen Onkels aus dem Westen anpassen, bekommen wir zur Belohnung unseren Solidarpakt. So kann ein Bundesfinanzminister nicht mit uns umspringen. ({0}) Diese Parolen mögen an einem Stammtisch in Kassel gut ankommen, aber sie haben nichts mit einer Politik zu tun, die sich am Allgemeinwohl orientiert. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben mittlerweile die verhängnisvolle Neigung entwickelt, Politik per Dekret zu verkünden. Aber das Wesen der parlamentarischen Demokratie besteht darin, Mehrheiten durch Überzeugungsarbeit und nicht durch Muskelspiele und böse Blicke zu gewinnen. ({1}) Vorhin ist gesagt worden, uns interessiere nur der ICE. Nein, meine Damen und Herren! Thüringen wird dem Bundesfinanzminister keine Knüppel zwischen die Beine werfen, jedenfalls nicht dort, wo echte Einsparungen zu erwarten sind. Aber wir erlauben uns, immer dann nachzufragen, wenn elementare Interessen der Ostländer tangiert sind. Wir werden uns auch querlegen, wenn zentrale Punkte beeinträchtigt werden. Zu diesen gehören der Ausbau der Infrastruktur und die Wirtschaftsförderung. Wenn Herr Schulz uns die Mitte-DeutschlandVerbindung für den ICE verkaufen möchte, dann kann ich nur darauf sagen: Diese Mogelpackung nehmen wir nicht an; denn für die Mitte-Deutschland-Verbindung ist keine Mark mehr als vorgesehen in den Haushalt eingestellt worden. Es gibt keine überregionale Strecke, wenn die Züge in Weimar das elektrifizierte Gleis verlassen und in Glauchau wieder auf dieses zurückkehren. Die Elektrifizierung der Mitte-Deutschland-Verbindung haben Sie einfach vergessen. Damit ist Ihr Angebot eine Mogelpackung. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Minister Trautvetter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Andreas Trautvetter, Minister ({0}): Bitte.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hatte in den letzten Wochen Gelegenheit, sehr viel mit Minister Schuster über den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern zu sprechen. Gestehen Sie mir zu, daß die Bundesregierung zur Sicherung der Infrastruktur immer wieder dafür gesorgt hat, daß die neuen Bundesländer, insbesondere Thüringen und Sachsen, bei den Hauptbautiteln an vorderster Stelle stehen? Räumen Sie auch ein, daß die Bundesregierung mit besonderer Priorität die A 71 und A 73 sowie im Rahmen ihres Ortsumgehungsprogramms auch die Infrastruktur in Thüringen - wie übrigens auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt - im Vergleich zu den alten Bundesländern auf höchstem Niveau gefördert hat und die Mittel dafür gegenüber 1998 sogar noch erhöht hat? Ist Ihnen bekannt, daß die alte Bundesregierung unter Kohl keine Finanzierungsvereinbarung für die 8.1 und für die 8.3 getroffen hatte? Andreas Trautvetter, Minister ({0}): Ich gestehe Ihnen zu, daß Sie in der letzten Woche sehr häufig in Thüringen waren, um Investitionen in Gang zu bringen, die alle die letzte Bundesregierung auf den Weg gebracht hat. ({1}) Ich möchte Sie bitten, sich einmal einen Autoatlas von 1952 anzuschauen. Wenn Sie das tun, merken Sie, worum es geht. 1952 gab es das dichteste Autobahnnetz von Deutschland in Sachsen und in Thüringen. Wir klagen nicht irgendwelche großen Vorhaben vom Staat ein, weil dieser zuviel Geld hat; vielmehr klagen wir den Aufbau einer Infrastruktur ein, und zwar so, wie wir sie längst hätten, wenn es keine deutsche Teilung gegeben hätte. Das sind keine Geschenke, sondern politische Notwendigkeiten. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Minister Trautvetter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Scheffler? Andreas Trautvetter, Minister ({0}): Bitte.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Regierung Kohl hat zwar viele Spatenstiche gemacht, aber die Finanzierung war nicht gesichert. Meine Frage zur Finanzierung der 8.1, der 8.3, der A 71 und der A 73 haben Sie nicht beantwortet. Sie hatten die Finanzierung nicht unter Dach und Fach. Wir haben im Bundeshaushalt 1999, im Bundeshaushalt 2000 und darüber hinaus die Finanzierung gesichert. Das gilt im übrigen auch für die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit. Man kann zwar vollmundig viel auf den Weg bringen, aber man muß die Finanzierung sichern. Darin besteht der Unterschied zwischen der alten und der neuen Bundesregierung. Die neue Bundesregierung hat angefangen, mit dem Haushalt 1999 und auch mit dem Haushalt für das nächste Jahr, die jetzt begonnene Verkehrsinfrastruktur finanziell abzusichern. ({0}) Andreas Trautvetter, Minister ({1}): Sie haben keine Frage gestellt. Ich bitte um Entschuldigung, ich kann keine Antwort geben, weil Sie keine Frage gestellt haben. ({2}) - Sie haben eine Feststellung getroffen. Zu den Finanzierungsfragen komme ich noch. Warten Sie einen Moment! Erst möchte ich über ein paar andere Punkte sprechen. Minister Andreas Trautvetter ({3}) Schauen wir uns die Neuregelung zum Wohngeld an. Sie verkaufen hier die nächste Mogelpackung. Sie brüsten sich damit, daß die Wohngeldbeträge in den neuen Ländern um durchschnittlich 35 DM pro Monat erhöht werden, gleichzeitig verschweigen Sie aber, daß alle Vorschriften, von denen ein zu abrupter Übergang zum Vergleichsmietensystem abgefedert werden soll, auf einmal abgeschafft werden. Das ist die Realität. ({4}) Gerade die sozial schwächeren Gruppen wie Arbeitslose, Rentner und Alleinerziehende werden durch diese Regelung mit Mehrbelastungen zu rechnen haben. Ein Weiteres kommt hinzu. Wenn man das ganze Sparpaket durchgearbeitet hat, dann erkennt man, daß sich der Bund um Milliardenbeträge entlastet, während Länder und Kommunen sehen müssen, wo sie ihr Geld herbekommen. ({5}) Ich frage mich manchmal, ob sich der Bundesfinanzminister noch in seine Zeit als Oberbürgermeister von Kassel zurückversetzen kann. ({6}) - Ja, das hat er alles vergessen. Bei der Einhaltung der Maastricht-Kriterien kommt es nicht darauf an, welche Schulden durch den Bundeshaushalt gemacht werden; vielmehr kommt es auf die gesamtstaatliche Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden an. Das wird vergessen. Wenn das so weitergeht, dann garantiere ich Ihnen, daß wir nicht nur einen Solidarpakt II benötigen; vielmehr können Sie gleich einen dritten Solidarpakt planen. Wir haben - nicht nur aus reinem Länderinteresse gar keine andere Möglichkeit, als gegen ein solches Sparpaket zu stimmen. Man muß unser Abstimmungsverhalten bald wirklich Notwehr nennen. Wie sollen wir unseren Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung im Osten leisten, wenn die Finanzausstattung von Ländern und Kommunen deutlich reduziert wird? ({7}) Wenn der Aufbau Ost zur Chefsache gemacht wird, dann ist das gut und richtig. Aber der Bundeskanzler hält sich nicht daran, und mittlerweile ist dieser Gedanke auch in Thüringen eher als Drohung denn als Zusage zu verstehen. Bis 1998 gab es unter den Länderfinanzministern und zwischen den Länderfinanzministern und dem Bundesfinanzminister einen anderen Umgang. Es gab kaum etwas Schwieriges, was vorher nicht auch mit den SPD-Finanzministern aus den Ländern besprochen worden ist. Das wird heute nicht mehr gemacht. Man tagt jetzt in parteiinternen Zirkeln, wie letztens in Wismar. Diese Hinwendung zu einem Parteienstaat, der nur eine Sicht der Dinge zuläßt, betrachten vor allem wir in den neuen Ländern mit Skepsis, denn wir haben damit schon vor 1989 entsprechende Erfahrungen gemacht. ({8}) Meine Damen und Herren, noch einmal zurück zu den Verkehrswegen: Ich hoffe ja, daß sich bezüglich des Weiterbaus der ICE-Trasse etwas ändert, wenn demnächst ein neuer Verkehrsminister sein Amt aufnimmt. Ich habe das SPD-Wahlprogramm für das Saarland sehr aufmerksam studiert: In ihm wurde die transeuropäische ICE-Strecke von Paris über Saarbrücken nach Frankfurt als ein notwendiges Projekt für die Entwicklung von Wirtschaftsstrukturen bezeichnet. Vielleicht wird man ja, wenn der neue Bundesverkehrsminister im Amt ist, noch einmal über die ICE-Strecke reden können, da er offensichtlich die Bedeutung eines solchen Projektes richtig einschätzt. ({9}) Dann bekommen wir es vielleicht vor Ablauf der nächsten fünf Jahre auf die Reihe. Es war ja auch eine Mogelpackung, als man davon sprach, die Finanzierungszusage auf zehn Jahre auszudehnen. Sie wissen ganz genau, daß man laut Gesetz das Baurecht nur einmal für fünf Jahre verlängern kann. Wenn Sie dieses Projekt erst in zehn Jahren finanzieren wollen, dann müssen Sie öffentlich sagen, daß Sie den Bau aufgeben wollen, weil das Baurecht es nicht mehr zuläßt. ({10}) Sie haben nach der Finanzierung gefragt: Wenn der Staat kein Geld hat, muß er intelligente Lösungen anstreben. Man sollte sich dabei vom volkswirtschaftlichen Sachverstand und nicht vom Bleistift eines Buchhalters leiten lassen. Wenn man nämlich 1 Millionen DM investiert, dann fließen 400 000 DM direkt in Form von Steuern und Sozialabgaben in die öffentlichen Kassen zurück. Wenn ich noch den Beschäftigungsaspekt hinzunehme, ergibt sich bei der Bundesanstalt für Arbeit eine Entlastung um weitere 300 000 DM. Das heißt, 70 Prozent der öffentlichen Investitionen fließen direkt in die Kassen des Staates zurück bzw. entlasten ihn auf der Ausgabenseite. Ausgehend von dieser Basis sollte man sich darüber unterhalten. Herr Staatssekretär, es stimmt ja nicht, daß Sie nur die ICE-Strecke zur Disposition stellen. Es gibt Finanzierungsvorbehalte für Bauabschnitte der A 4: Die Finanzierung für das Projekt im Leutratal und für die Nordumfahrung Hörselberge ist nicht gesichert. Ich stelle jetzt einmal eine volkswirtschaftliche Rechnung für das Leutratal auf: Wenn die A 4 dort nicht ausgebaut wird, dann verursachen die entstehenden Staus täglich einen volkswirtschaftlichen Schaden zwischen 500 000 und 1 Millionen DM. Wenn Sie das auf ein Jahr hochrechnen und die jetzige Steuerbelastung von Unternehmen zugrunde legen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß der Nichtausbau dieses Abschnittes der A 4 Steuermindereinnahmen von mindestens 80 bis 100 Millionen DM im Jahr verursacht. Insgesamt geht es dabei um eine Investition in Höhe von 300 Millionen DM, die Minister Andreas Trautvetter ({11}) hinausgeschoben wird. Wenn ich den Aspekt der Rückflüsse der Gelder und der Mehreinnahmen durch Verhinderung eines solchen Nadelöhrs zusammenrechne, refinanziert sich diese Investition in spätestens zwei Jahren. Jeder Unternehmer würde sich eine solche Amortisation von Investitionen wünschen. Deswegen gehört es auf die Tagesordnung, daß man sich neue Modelle überlegt und volkswirtschaftliche statt rein fiskalische und buchhalterische Erwägungen bei Investitionsentscheidungen ins Feld führt. ({12}) Wir haben damit gute Erfahrungen insbesondere im Bereich des Hochschul- und Hochschulklinikbaus gemacht. Damit haben wir strukturelle Nachteile schneller abbauen, Arbeitsplätze schaffen und trotz schwieriger Kassenlage hohe Investitionen beibehalten können. Man könnte noch viele Punkte ansprechen; doch davon sehe ich jetzt einmal ab. Nur soviel noch: Vorhin wurden Zahlenangaben bezweifelt. Ich möchte Ihnen einmal die konkreten Zahlen der Energiesteuer für Thüringen nennen. Im privaten Bereich gibt es in Thüringen eine Mehrbelastung von 60 Millionen DM im Jahr. Das ist ein Finanztransfer von Ost nach West. Diese Mehrbelastung entsteht durch die unterschiedlichen Löhne in West und Ost, weil die Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen geringer, aber die Kostenbelastung die gleiche ist. Das erste Gesetz, das die neue Bundesregierung beschlossen hat, ist ein Gesetz, das einen Finanztransfer von Ost nach West erzeugt. Dazu kann man Ihnen gratulieren. Machen Sie in dieser Sache ruhig so weiter. Wir werden uns niemals gesamtstaatlichen Konsolidierungsbemühungen widersetzen. Ganz im Gegenteil, wir werden alle echten Sparbemühungen unterstützen. Aber etwas darf nicht passieren - dort werden wir uns widersetzen -, nämlich erstens, daß der Osten überproportional belastet wird - und das ist der Fall -, ({13}) und zweitens, daß eine soziale Unausgewogenheit verankert wird; auch das ist in Ihrem Sparprogramm der Fall. Deswegen werden wir ihm in der jetzigen Form nicht zustimmen können. ({14}) Machen Sie den Aufbau Ost endlich wieder zu dem, was er einmal war, nämlich zur Chefsache. Vielen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es spricht nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Albert Schmidt.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorweg zu dem, was es für mich schwer erträglich macht, dieser Debatte gelassen zu folgen: Wer selbst einen derart gigantischen Schuldenberg hinterlassen hat, ({0}) in einer Größenordnung, welche die Handlungsfähigkeit und Gestaltungsfähigkeit des Staates in Frage stellt, und jetzt hier eine scheinheilige Empörung darüber zelebriert, daß wir nicht alle Ihre haltlosen Versprechungen von gestern erfüllen können, der ist für mich völlig unglaubwürdig. ({1}) Dieses Haushaltskonsolidierungsprogramm veranstalten wir doch nicht aus Jux und Tollerei, um mitten in schwierigen Landtagswahlkämpfen möglichst viele Wählerinnen und Wähler zu verschrecken, sondern das veranstalten wir, weil es bitter notwendig ist, um die Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeit des Staates wieder zurückzugewinnen und nachhaltig zu sichern. ({2}) Denn wenn ich jede vierte Mark aus Steuereinnahmen sofort an die Banken weiterüberweisen muß - als Zinsen, nicht als Tilgung; in diesem Land wurden seit Jahren keine Schulden mehr getilgt -, kann ich nicht mehr handeln und gestalten. Das ist der Hintergrund, vor dem wir diskutieren. ({3}) - Da gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege. Ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, daß uns dies nicht der Verantwortung entbindet, sehr sorgfältig zu schauen, wo Sparen vernünftig und sinnvoll und wo es vielleicht geradezu falsch und kontraproduktiv ist. Damit komme ich zur Sache im Detail, zur jetzt mehrfach beklagten Planungskorrektur bei der ICEVerbindung Nürnberg-Erfurt. Was ist eigentlich passiert? Was sieht man, wenn man einmal hinter den ganzen Pulverdampf des Wahlkampfs und den Rauch der politischen Nebelkerzen schaut? ({4}) Die Planung einer Neubaustrecke durch den Thüringer Wald - das hat bereits die Anhörung in der letzten Legislaturperiode gezeigt - war von Anfang an eine unwirtschaftliche Planung. Sie ist dennoch aus politischen Gründen, einfach auf Grund der Mehrheitsverhältnisse, zunächst einmal weiter verfolgt worden. Es gab aber gleichwohl innerhalb des Bundesunternehmens Deutsche Bahn AG - das ist eine privatisierte Aktiengesellschaft; wir alle hier im Haus wollten das - schon immer intensive Überprüfungen, inwieweit diese Strecke überhaupt rentabel ist. Diese Überprüfungen wurden nicht Minister Andreas Trautvetter ({5}) nur an dieser Stelle durchgeführt, sondern im gesamten Netz sämtlicher Infrastrukturplanungen der Deutschen Bahn und damit auch des Bundes, der sie bezahlen muß. Das Ergebnis war - das wurde am 7. Juli dieses Jahres zu einem Beschluß im Aufsichtsrat -, daß sich diese Strecke in dieser Form derzeit nicht rechnet. Sie wurde aber nicht ersatzlos gestrichen. Vielmehr wurde statt dessen beschlossen - das unterschlagen Sie immer -, endlich die Finanzierung der Mitte-Deutschland-Bahn zu sichern und damit auf hohem Niveau prioritär voranzutreiben, ein von der alten Regierung vergessenes Projekt der deutschen Einheit, ({6}) in einer Region, in der sämtliche Städte Mitteldeutschlands wie auf einer Perlenschnur aufgereiht sind, in der Millionen von Pendlerinnen und Pendlern fahren, die zum Beispiel östlich von Erfurt jetzt noch Fahrgeschwindigkeiten von 50 km/h haben. Das ist völlig unhaltbar. Das mußte vorangetrieben werden. Gleiches gilt für die andere wichtige Achse, die Franken-SachsenMagistrale, die sich in Chemnitz mit der MitteDeutschland-Bahn vereint. Zur Mitte-Deutschland-Bahn gehört eben auch der Abschnitt Dresden-Görlitz. Denn die Welt hört nicht in Dresden auf. Diese Achse in Richtung Polen wollen wir ebenfalls ausbauen, und deshalb wird dort zusätzlich Geld investiert. ({7}) Des weiteren wurde beschlossen - im wesentlichen werden dafür Bundesmittel eingesetzt -, daß das gesamte Netz bundesweit mit 48 Milliarden DM modernisiert wird: mit moderner elektronischer Leit- und Sicherungstechnik, mit elektronischen Stellwerken. Diese Maßnahmen werden doch nicht um Thüringen herum durchgeführt, sondern kommen natürlich auch dem maroden Netz in Thüringen zugute. Denn es nützt uns nichts, wenn wir deutschlandweit zwei oder drei DeLuxe-Vorzeigeprojekte haben, während nebenan von Tag zu Tag das Netz verfällt, bis es buchstäblich nicht mehr befahrbar ist. ({8}) Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zu Thüringen, Herr Minister Trautvetter: Wissen Sie, daß das Nahverkehrsnetz in Thüringen schon heute zu 9 Prozent nicht mehr befahrbar ist, weil es technisch k.o. ist? Da hat nie eine Stillegung stattgefunden; es ist einfach marode und kaputt und darf aus Sicherheitsgründen nicht mehr befahren werden. Zudem häufen sich die Langsamfahrstellen. Auf diesen Strecken sind die Menschen jeden Tag unterwegs - nicht von Stockholm nach Verona, sondern im Nahverkehr. Dort muß investiert und modernisiert werden, und das werden wir tun. ({9}) Ich möchte noch einer anderen üblen Legendenbildung entgegenwirken, nämlich dem Latrinengerücht von gekürzten oder gestrichenen investiven Mitteln, das landauf, landab gestreut wird. Es war gerade die Leistung - eine sehr clevere, wie ich meine - des scheidenden Bundesverkehrsministers, Franz Müntefering, es hinbekommen zu haben, daß trotz des Konsolidierungspaketes die investiven Mittel für Straße und Schiene im Bundeshaushalt 1999/2000 faktisch auf gleichem Niveau geblieben sind. Schauen Sie in den Bundeshaushalt - Sie können das doch nachlesen; das sind Zahlenwerke, die Ihnen als Drucksache zur Verfügung stehen -: Straßenbau: einstmals 8,3 Milliarden DM, jetzt 8,2 Milliarden DM; Schienenbau: letztes Jahr 6,7 Milliarden DM, jetzt 6,8 Milliarden DM. Im Grunde wurde das Niveau gehalten. Von einer Streichorgie kann überhaupt keine Rede sein. Gerade die investiven Mittel haben wir im wesentlichen halten können; im Bereich Schiene wurden sie sogar erhöht. Also, lassen Sie diese üblen Gerüchte!

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Schmidt, eigentlich ist Ihre Redezeit vorbei; aber wenn Sie noch eine Frage des Kollegen Kolbe beantworten möchten, dann sollten Sie dazu Gelegenheit bekommen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn es denn um diese Zeit noch der Wahrheitsfindung dient, bitte, Herr Kollege. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ob es der Wahrheitsfindung dient, hängt von Ihnen ab. Herr Schmidt, Sie haben von zahlreichen Alternativprojekten gesprochen. Können Sie mir bitte erstens sagen, welche Beträge die Bundesregierung für diese alternativen Eisenbahnprojekte im mitteldeutschen Raum in die Haushalte einzustellen plant? Sind überhaupt Mittel eingeplant, und wenn ja, in welcher Höhe werden sie anstelle des gestrichenen ICE-Projektes eingestellt? ({0}) - Ja, zusätzliche Mittel; denn Sie haben ja von Ihren zahlreichen zusätzlichen Projekten gesprochen. Ich habe im Bundeshaushalt bis jetzt nichts gefunden. Aber vielleicht können Sie uns da weiterhelfen. Zweitens. Wann werden die mitteldeutschen Städte Erfurt, Leipzig und Dresden an das reguläre europäische und deutsche Schnellbahnnetz angebunden, erhalten also einen regulären ICE-Anschluß? Damit meine ich nicht das, was in Dresden derzeit passiert, daß ein Berliner ICE einmal über Nacht abgestellt wird. Wann erhalten Erfurt, Leipzig und Dresden einen regulären ICEAnschluß? Als Verkehrspolitiker wissen Sie da sicher Bescheid und können uns die Jahreszahl verraten.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, es waren eigentlich zwei Zwischenfragen. Ich will jedoch versuchen, kurz darauf einzugehen. Albert Schmidt ({0}) Zunächst haben Sie noch einmal nach den Alternativprojekten gefragt. In einem Punkt möchte ich Herrn Trautvetter übrigens ausdrücklich Recht geben: Die Elektrifizierung muß auch nach meiner Einschätzung durchgehend sein. Es macht keinen Sinn, sie zwischendurch zu unterbrechen. Ich versichere Ihnen: Wir werden koalitionsintern massiv dafür eintreten, daß dies tatsächlich geschieht. ({1}) Das aber nur als Randbemerkung. Sie finden - ich habe das angedeutet - zusätzliche Mittel für den Abschnitt Dresden-Görlitz. Das gehörte bisher offiziell nicht zur Planung. Darüber hinaus wurde bei der Europäischen Kommission Geld im Rahmen des Strukturfonds, des EFRE-Programms, für die MitteDeutschland-Bahn beantragt. ({2}) Bisher hat die Finanzierung des Konzeptes gefehlt. Das ist das Entscheidende. Die schönsten Pläne nützen nichts, wenn sie Wolkenkuckucksheim, wenn sie nicht bezahlbar sind. Damit ist die Finanzierung gesichert. Zu Ihrer zweiten Frage nach der Jahreszahl darf ich in Kürze sagen: Es wird Ihnen derzeit niemand, auch niemand in der Landesregierung, auf den Tag und auf das Jahr genau sagen können, welche Stadt in welchem Jahr mit welchem Anschluß bedient wird. Ich nehme diese Frage aber gern auf, sie behandelt das Bedienungskonzept. Sie betrifft eigentlich nicht die Bundesregierung, sondern die Deutsche Bahn AG. ICE und erst recht die ICE mit moderner Neigetechnik, die auch engere Kurvenradien verkraften, können prinzipiell auf jeder Strecke fahren. Ich werde das gern noch einmal nachrecherchieren. Wir treten nachdrücklich dafür ein, daß insbesondere die Landeshauptstadt Thüringens möglichst bald eine hochwertige Anbindung an das Schnellbahnnetz, und zwar nicht nur in der NordSüd-Achse, sondern auch in der West-Ost-Achse, bekommt. Ich versichere Ihnen: Das verfolgen wir nicht erst seit heute. Wer mich kennt, weiß, daß wir genau dafür seit vielen Jahren massiv Druck machen. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Manfred Heise, CDU/CSU.

Manfred Heise (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000852, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gern nimmt Bundeskanzler Schröder für sich in Anspruch, ein Mann der Wirtschaft zu sein, ein Mann also, der wirtschaftlich denkt und somit sein finanzielles Konzept und Engagement primär unter dem Aspekt der Investitionen betrachtet, um ein Projekt produktiv voranzubringen. Blicken wir vor diesem Hintergrund auf die aktuelle Verkehrspolitik der Bundesregierung in den neuen Bundesländern, so stellt sich ein völlig anderes Szenario dar: Der derzeitig noch zuständige Bundesminister Müntefering hat in den letzten zehn Monaten die Politik seines Vorgängers Matthias Wissmann deutlich umgekehrt. Von notwendigen Investitionen im Verkehrsbereich, so wie sie noch unter der alten Bundesregierung - ich sage: trotz vergleichbar schwieriger Haushaltslage - üblich waren, kann gegenwärtig nicht mehr gesprochen werden. Betrachtet man die Situation in Thüringen, so zeigen sich für alle deutlich sichtbar die Früchte einer sinnvollen Verkehrsplanung aus den vergangenen Jahren. Die wirtschaftlichen Daten des Freistaates Thüringen liegen im Vergleich der neuen Bundesländer auf einem Spitzenplatz, vielleicht sogar auf dem Spitzenplatz. Daß dieser wirtschaftliche Erfolg maßgeblich durch die konsequente Umsetzung der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit unterstützt wurde, ist für mich mehr als offensichtlich. Allerdings ist der weitere Aufschwung durch die Politik der Bundesregierung massiv gefährdet. Nachdem eine konkrete Aussage zur ICE-Strecke NürnbergErfurt-Berlin erst monatelang durch Herrn Müntefering verzögert wurde, bietet sich nun vor Ort ein trauriges Bild. Es sei nur am Rande erwähnt, daß man mit einer derartigen Vorgehensweise kein investitionsfreundliches Klima für zukünftige Industrieansiedlungen schafft. ({0}) Wie will Minister Müntefering den Menschen in Thüringen, aber auch in den anderen Bundesländern ein 650 Millionen DM teures Investitionsgrab plausibel erklären? Ich sage Ihnen: Über ein eindeutiges Wählervotum am 12. September in Thüringen darf sich die Bundesregierung nicht wundern. Allein die bis Herbst 1998 gut begründete Aussicht, daß in Erfurt ein ICE-Verkehrsknotenpunkt entstehen wird, war für viele private und öffentliche Investitionen in Thüringen maßgeblich. Beispielsweise wird der in diesem Jahr in Betrieb genommene Container-Terminal im Güterverkehrszentrum Erfurt auf Grund des Baustopps nur unzureichend ausgelastet bleiben. Welche fatalen Folgewirkungen sich aus einer solchen Abkoppelung aus dem überregionalen, ja europäischen Verkehrsnetz für eine Wirtschaftsregion und gleichzeitig auch für den Arbeitsmarkt ergeben, braucht wohl nicht weiter erläutert zu werden. Indem die Bundesregierung auf dringend notwendige Verkehrsinvestitionen verzichtet, werden de facto Arbeitsplätze vor Ort nicht geschaffen und bestehende sogar vernichtet. ({1}) Bei einem Verzicht auf jeweils 1 Milliarde DM an Investitionsvolumen schickt die Bundesregierung gleichzeitig etwa 15 000 Menschen aus dem Baugewerbe in die Arbeitslosigkeit - für den ostdeutschen Arbeitsmarkt eine geradezu beängstigende Vorstellung. ({2}) Albert Schmidt ({3}) Um Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Dramatik einmal am Beispiel der bereits erwähnten ICEStrecke Nürnberg-Erfurt-Leipzig-Berlin deutlich vor Augen zu führen, mache ich folgende konkrete Rechnung auf: Das VDE 8.1 Nürnberg-Erfurt hat ein Investitionsvolumen von 3,9 Milliarden DM. Hinzu kommt das VDE 8.2 Erfurt-Leipzig-Berlin mit 4,2 Milliarden DM. Selbst unter Berücksichtigung der bereits realisierten Bauvorhaben bleibt noch eine Restinvestitionssumme in Höhe von 7,45 Milliarden DM. Dies bedeutete mehr als 100 000 Arbeitsplätze vor Ort. Will sich die Bundesregierung diesen Erfolg wirklich entgehen lassen? Wo, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bleiben hier Ihre sichtbaren Taten zu Ihrem Wahlkampfslogan „Wir wollen Arbeit finanzieren, nicht Arbeitslosigkeit“? Auch ist es nur ein Bekenntnis des Kollegen Schmidt, wenn er davon spricht, man müsse in den SPNV, also in den Schienenpersonennahverkehr, investieren und ihn attraktiver machen. Ich meine, es fahren schon eine Reihe leerer Züge durch die Gegend. Das Schienennetz muß nicht ausgebaut werden; der Nahverkehr muß nur attraktiver werden. Die Realität ist leider eine völlig andere. Die Bundesregierung kaschiert mit dem am 19. Mai 1999 gegenüber der Presse angekündigten „Verkehrsprogramm Ost bis 2006“ ihre Streichlust bei den wichtigsten Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen in den neuen Ländern. Dieses groß angekündigte Programm mit einer Bausumme von insgesamt 7,9 Milliarden DM dient eigentlich nur der Entlastung des Bundes um 3 Milliarden DM, die aus EU-Strukturfondsmitteln stammen. Letztlich zeichnet sich ein Bild ab, das noch zahlreiche dramatische Einsparungen auf dem Investitionssektor der Verkehrsplanung erwarten läßt. So müssen die Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern wohl nachhaltig um ihre A 20 bangen. Welche Folgen dies für das ohnehin strukturschwache Bundesland hat, mag sich jeder selbst ausmalen. Die beabsichtigte Konzentration der Bauvorhaben der Deutschen Bahn auf den Ausbau der bestehenden Schienenwege verhindert gleichzeitig eine Anpassung der ostdeutschen Infrastruktur an das westdeutsche Niveau. Dies stellt durch eine veränderte Schwerpunktsetzung den langjährigen Konsens über den Vorrang für den Aufbau Ost in Frage. Der Osten unseres Vaterlandes wird somit aus der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und Europa abgekoppelt. So sieht die Wirklichkeit aus, wenn Herr Schröder von der „Chefsache Aufbau Ost“ spricht. ({4}) Unter der vormaligen Bundesregierung wurden Verkehrsprojekte in den neuen Ländern nicht zuletzt dank des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes zügig in Angriff genommen. Der entscheidende Unterschied zur jetzigen Regierung ist, daß ihr einfach der politische Wille fehlt, konsequent zu handeln und offensichtlich notwendige Bauvorhaben zu realisieren. ({5}) Stellt man nun die Gretchenfrage, wie es um den sogenannten Wirtschaftsmann Schröder steht, so reibt man sich verwundert die Augen. Von unternehmerischem Denken und zukunftsweisenden Investitionen in eine Verkehrspolitik für die neuen Länder fehlt hier jede Spur. Daß Herr Müntefering vor diesem Hintergrund den politischen Scherbenhaufen bereitwillig Herrn Klimmt überläßt und sogar das Kreuz der SPD-Zentrale auf sich nimmt, spricht Bände. Die Bilanz des Ministers Franz Müntefering fällt eindeutig negativ aus. ({6}) Weiterhin könnte man - leider verbietet es die Zeit noch auf die desaströse Wohngeldpolitik des Ministers hinweisen. Aber auch hier muß man ja gespannt sein, ob Eichel oder Müntefering Herr des Verfahrens ist. Die Unterlegenen in diesem unwürdigen Streit stehen ohnehin schon fest - Minister Trautvetter hat es gesagt -: Es sind die Länder und die Kommunen. ({7}) Noch ein letzter Nachtrag, der die verkehrte Welt in dieser Regierung verdeutlicht: Die ICE-Strecke über Erfurt ist an Rot-Grün unter Beifall der Thüringer Parteigenossen gescheitert, obwohl sie vorher etwas anderes gesagt haben, allen voran Herr Dewes. Dieser trommelt gleichzeitig für den Bau der A 71 und A 73, nun unter dem Beifall der Bündnisgrünen vor Ort. Ich muß feststellen, daß die angeblichen Vorreiter einer ökologischen Steuerreform konkret den Autobahnbau dem Ausbau der Schiene vorziehen. ({8}) So weit sind wir mittlerweile gekommen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es spricht nun Staatsminister Rolf Schwanitz.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zum Aufbau Ost atmet die Luft des momentan tobenden Wahlkampfes ({0}) in einer Intensität, die es in den Jahren zuvor nicht gegeben hat, was man auch bei einigen eingebrachten Anträgen, insbesondere bei dem Antrag der CDU/CSU, sofort erkennen kann. Ich will gar nicht auf das abstellen, was Kollege Schubert schon zu Recht angemerkt hat, nämlich daß kein einziger neuer Vorschlag in dem Antrag enthalten ist. Das wäre ja auch eine Premiere gewesen. ({1}) Ich will auf einen Punkt besonders eingehen, der mich sehr geärgert hat und der heute schon eine Rolle gespielt hat. In diesem Punkt steckt ein wenig Verdrängung, was ich nicht unkommentiert lassen will. Ihr Antrag hat die Überschrift „Aufbau Ost endlich wieder richtig machen“. Auf dem Wort „wieder“ liegt die Betonung. ({2}) Sie entwerfen damit ein Bild, das ausdrücken soll, daß Sie alles richtig gemacht haben und wir jetzt alles falsch machen. ({3}) In den zurückliegenden acht Jahren, in denen ich auf der Oppositionsbank saß, habe ich Ihnen nie unterstellt, daß Sie beim Aufbau Ost alles falsch machen. ({4}) Es gab sehr wohl richtige Entscheidungen. Sie müssen sich aber schon fragen lassen - ich will Sie gar nicht an die vergangenen Debatten erinnern -: Erinnern Sie sich wenigstens an die großen und schwerwiegenden Fehlentscheidungen, die mit Ihrer Mehrheit gefällt worden sind und die bis heute in der ostdeutschen Realität fortwirken? ({5}) Sie haben zum Beispiel die Zeiträume falsch eingeschätzt, indem Sie gesagt haben, in drei bis fünf Jahren werde alles in Ordnung sein. Dementsprechend sind Lohnabschlüsse getätigt worden. Heute klagen wir darüber, daß die Lohnentwicklung schneller war als der Zuwachs an Produktivität. Hier gibt es entsprechende Kausalitäten. ({6}) Haben Sie vergessen, daß die offene Vermögensfrage bis heute fortwirkt? Wir haben lang und breit über das Thema „Rückgabe vor Entschädigung“ geredet. Sie haben Ihre Entscheidung durchgesetzt und damit das Handeln der Verwaltungen der Kommunen im Osten in den letzten Jahren auf Grund der entstandenen Kosten beeinflußt. ({7}) Zum Thema Treuhandanstalt. Heute ist gesagt worden, daß viele Unternehmen weggebrochen sind. Das hat natürlich mit der Tatsache zu tun, daß Konzeptionen in der Schublade geblieben sind und daß gerade zu Beginn der 90er Jahre nicht saniert worden ist. ({8}) Zum Thema Staatsverschuldung: Ich weiß, daß Sie da schon wieder aufjaulen. Ich erinnere mich noch an die Zeitungsannoncen, in denen Steuererhöhungen wegen der Deutschen Einheit ausgeschlossen wurden. Sie haben statt dessen die Verschuldung nach oben getrieben, die Ausgaben den Versicherungssystemen per Gesetz aufgebürdet und dadurch die Einheit von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzieren lassen. Auch dies müssen wir nach dem Regierungswechsel als große Last mitschleppen. Die Situation einfach zu ignorieren und zu sagen, man habe alles richtig gemacht, ist schon der Gipfel der Frechheit. ({9}) Ich will noch auf den Vorwurf einer angeblichen Erpressung durch Hans Eichel eingehen. Natürlich ist die Handlungsfähigkeit des Bundes entscheidend dafür, wie lange und wie stark wir Ostdeutschland unterstützen können. Während wir diese Debatte abhalten, in diesen zwei Stunden gehen zirka 20 Millionen DM an Steuergeldern als Zinszahlungen an die Banken. Dieser Betrag ist so hoch wie der Betrag, den wir für die Absatzförderung in Ostdeutschland im gesamten Haushalt zur Verfügung stellen können. Das ist die Lage. Trotzdem stellen Sie sich hin und sagen, dies habe nichts miteinander zu tun. Das ist Politik nach Art eines Wolkenkuckucksheims. ({10}) Deswegen sage ich ganz klar: Es gibt zu der Konsolidierung auch aus ostdeutscher Sicht überhaupt keine Alternative; wir haben ein großes Interesse daran. Ähnlich wie die Tatsache, daß sich nur ein Reicher einen armen Staat leisten kann, gilt natürlich auch, daß nur eine prosperierende und ökonomisch potente Region, wie sie vielleicht im Fall von Bayern oder BadenWürttemberg, aber nicht für den Fall der ostdeutschen Länder gegeben ist, einen armen Bundesstaat verkraften kann. Wir brauchen einen Bundesstaat, der über viele Jahre hinweg helfen kann. Die Konsolidierung ist bei allen Schmerzen, die gar nicht wegdiskutiert werden, zutiefst im Interesse des Ostens, und das muß man den Leuten sagen. ({11}) Es werden auch nicht nur Lasten geschultert, sondern wir machen natürlich auch etwas, um Mißstände zu beseitigen, die letztlich durch Ihre Politik verursacht worden sind. Wir entlasten zum Beispiel die Familien. Wenn wir nach unserer Konzeption - der Familienlastenausgleich ist ein Element davon - einer typischen ostdeutschen vierköpfigen Familie, in der der Vater ein ostdeutsches Durchschnittseinkommen verdient, die Mutter arbeitslos ist und in der zwei schulpflichtige Kinder leben, in den nächsten vier Jahren insgesamt über 7 600 DM in Form geringerer Belastung zurückgeben können, dann ist das nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch vernünftig, auch für die Wirtschaft in den neuen Ländern. ({12}) Herr Krüger, das nur einmal so nebenbei: Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten niemand gefunden, der das CDU-Papier unterschrieben hat. Sie sagten, Sie kennen keinen. Ich will es Ihnen sagen. Das ist Frau Grehn. Das ist eine ehemalige Kollegin von Ihnen. Ich stelle Ihnen das gern zur Verfügung, wenn Sie das wollen. Ich habe das Papier, und ich habe es auch im Original unterschrieben. Ich rede nämlich im Gegensatz zu Ihnen mit den Leuten. Das unterscheidet uns. ({13}) Meine Damen und Herren, wir haben im Osten in den letzten Jahren unabhängig von großen politischen Debatten und auch Fehlentscheidungen, die getroffen worden sind - ich habe einiges angesprochen -, viel erreicht. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Obwohl das natürlich seine Voraussetzungen in der Solidarität der alten Bundesländer gegenüber Ostdeutschland hat, es ist vor allen Dingen der Leistungskraft, dem Engagement und dem Durchhaltewillen der Ostdeutschen zu danken, daß wir heute, zehn Jahren nach der friedlichen Revolution, an einer solchen Stelle sind. Aber ich finde, man darf auch in seiner Dramatik nicht verschweigen, daß die Probleme, vor denen wir stehen, noch riesig sind. Dazu gehört natürlich, daß wir seit 1997 ein langsameres gesamtgesellschaftliches Wachstum als in den alten Ländern haben. Auch das werden wir in diesem Jahr noch nicht kompensieren können. Seit zwei Jahren, jetzt im dritten Jahr haben wir diesen Pfad. Da haben wir noch nicht regiert, Herr Türk, da gab es noch andere, die die Mehrheit in diesem Parlament hatten. ({14}) Das ist eine schwere Last. Dazu gehört, daß der industrielle Bereich zu schmal ist. Dazu gehört, daß sich der Baubereich in einer massiven Krise befindet und daß die Arbeitsplatzgewinne - denn wir haben auch Gewinne in der ostdeutschen Industrie und im Dienstleistungsbereich - überkompensiert werden durch nach wie vor überproportional hohen Arbeitsplatzabbau in der Bauwirtschaft. Das ist die Situation. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, glaube ich, ist es wichtig, daß wir den Menschen deutlich sagen: So schwierig ist der Weg. Wir dürfen es uns auch nicht zu leicht machen, indem wir meinen, mit Planspielen oder mit ähnlichen anderen schnellen Lösungen könnten diese schwierigen Wegstrecken jetzt in drei bis vier Jahren geschultert werden. Ich glaube, wer das tut - da setzt auch meine Kritik an der PDS und ihrem Papier an -, der nimmt nicht das ureigenste Interesse der Ostdeutschen wahr - ich will nicht sagen, er vergeht sich an diesen Interessen -, denn wir haben noch eine längere Wegstrecke vor uns. Das darf man, so unbequem es auch ist, nicht verheimlichen. ({15}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung fängt nach acht Jahren Vereinigungspolitik natürlich nicht im luftleeren Raum an. Es sind im Prinzip drei Ebenen, die sich parallel durch die Politik der Bundesregierung für die neuen Länder in den letzten Monaten gezogen haben, und ich behaupte einmal, daß sie sich auch in den kommenden Jahren, bis zur nächsten Bundestagswahl immer bei ostdeutschen Angelegenheiten manifestieren werden. Erstens müssen wir Fehlentwicklungen, soweit wir das heute noch können, soweit wir auch politisch dafür noch zuständig sind, die Sie durch eine falsche Politik, bezogen auf den Aufbau Ost, eingeleitet haben, korrigieren. Das ist der erste Punkt. ({16}) - Ich sage Ihnen gleich, welche das sind. Der zweite Punkt, um den es geht, ist folgender: Wir müssen Dinge, die Sie richtig gemacht haben, die vernünftig sind, bei denen Sie aber nicht mehr die politische Kraft hatten, sie für Ostdeutschland bereitzustellen, verlängern und bewahren, denn wir müssen das Fahrrad nicht neu erfinden. Dann gibt es die dritte Ebene, auf der wir Zukunftsfelder definieren, deren Bearbeitung man verstärken muß, wo Sie das gar nicht getan haben. Dort, auf dieser Zukunftsebene, liegen die wichtigen Dinge, die verstärkt werden müssen, und genau das haben wir getan. Sie haben nach Beispielen gefragt, meine Damen und Herren, und diese will ich Ihnen nicht vorenthalten. Ich komme zu dem ersten Punkt, zu dem, welche Fehlentwicklungen da waren. Da erinnere ich Sie an etwas, womit Sie in Ostdeutschland durch den Wahlkampf getigert sind, nämlich das Investitionszulagengesetz. Das haben Sie damals übrigens gemeinsam mit uns verabschiedet. Wir haben ja 1994 zugestimmt. Sie haben jetzt verschwiegen - vielleicht wußten Sie es nicht; dann sage ich Ihnen, daß das Ihre damalige Regierung verschwiegen hat -, daß das Investitionszulagengesetz von der Europäischen Kommission gestoppt worden ist und nicht in Kraft treten konnte. ({17}) Sie haben 1998 in Ostdeutschland einfach Wahlkampf gemacht und haben sich nicht um diese Dinge gekümmert. Ihre Regierung hat das auch nicht getan. Wir mußten als erstes dieses zentrale, wichtige Investitionsinstrument für Ostdeutschland wieder frei bekommen und grünes Licht aus Brüssel bekommen. Das ist einer der Fehler, die wir korrigieren mußten. ({18}) Einen zweiten Fehler will ich ebenfalls ansprechen - darüber werden wir uns demnächst im Parlament streiten -: Das ist der Landerwerb durch ostdeutsche Bauern. Sie wissen, daß die Kommission das Ganze gestoppt hat. Wir werden im Geist der Vereinbarung von 1994 eine Veränderung der Flächenerwerbsregelung für Ostdeutschland hinbekommen, die die ostdeutschen Bauern nicht benachteiligt, die vielmehr Chancengleichheit gewährleistet. Das ist etwas anderes als das, was auch aus Ihren Reihen zum Teil gefordert wird. Auch in dieser Frage haben wir die Fehlentwicklung, die darin bestand, daß man ein Vorhaben nicht der Europäischen Kommission zur Genehmigung vorgelegt hat, korrigiert. Wenn Sie auch noch ein drittes Beispiel hören wollen, dann nenne ich Ihnen die Altschuldenregelung. ({19}) - Ich bin jetzt gerade so schön in Fahrt, Sie können mir hinterher gern eine Frage stellen, Herr Luther. Bei der Altschuldenregelung haben wir auf der untergesetzlichen Ebene, im sogenannten Lenkungsausschuß, Erleichterungen geschaffen. Herr Luther, Sie werden mir das bestätigen; Sie wissen, die Erleichterungen gibt es. Über 700 ostdeutsche Wohnungsgesellschaften sind seit dem Regierungswechsel durch unsere Erleichterungen vorfristig entschuldet worden. Das ist doch nicht nichts; vielmehr ist das für die Wohnungsunternehmen, die investieren können, für die ostdeutsche Bauwirtschaft und für viele andere wichtig. Das waren einige Beispiele aus der ersten Ebene, der Fehlerkorrektur. Beispiele aus der zweiten Ebene will ich ebenfalls nennen. Dabei geht es darum, richtige Dinge weiterzuführen, zu deren Weiterführung Sie nicht die Kraft hatten. Ich nenne ein Beispiel - wir waren gerade bei der Baubranche -, nämlich das KfW-Wohnraummodernisierungsprogramm. ({20}) Wir haben durch die mittelfristige Finanzplanung von Herrn Waigel einen objektiven Maßstab in der Hand; dort können wir nämlich genau nachlesen, wie das bei einer Regierung Kohl gelaufen wäre, wenn es den Regierungswechsel nicht gegeben hätte. Ich kann Ihnen nur sagen: Das KfW-Wohnraummodernisierungsprogramm wäre nicht verlängert worden; es wäre im April ausgelaufen. ({21}) - Ja, schütteln Sie nicht den Kopf; das ist so. Das steht so in der mittelfristigen Finanzplanung. Wir haben 1999 10 Milliarden DM daraufgelegt. ({22}) Daran hängen über 60 000 Arbeitsplätze in der ostdeutschen Bauwirtschaft, sagen mir Experten. Das, was wir gemacht haben, ist wichtig gewesen. Sie haben dazu nicht die politische Kraft gehabt; wir haben sie gehabt, und das ist in Ordnung. ({23}) Ich komme zu der dritten Ebene, dazu, wo wir neue Schwerpunkte und andere Schwerpunkte als Sie setzen. Da kann ich auch eine ganze Reihe von Dingen nennen. Das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist genannt worden. Wenn ich in ostdeutsche Regionen komme und mir die Leute zum Teil sagen: „Wir haben eine Jugendarbeitslosigkeit, die um 22 Prozent geringer als im Vorjahr ist“, dann sage ich Ihnen: Das ist eine tolle Leistung. Ich bin auch ein wenig stolz darauf, daß das gelungen ist und daß wir einen ordentlichen Schwerpunkt mit 40 Prozent der Mittel für Ostdeutschland zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gesetzt haben. Das war in Ordnung. Diesen Schwerpunkt haben Sie nicht gesetzt; wir setzen ihn, weil die Fragen der Jugend letztendlich Zukunftsfragen sind. ({24}) Es gehört auch der gesamte Bereich der Forschungsförderung dazu. Das Programm Inno-Regio ist genannt worden. Sie haben nichts, gar nichts, für benachteiligte Regionen gemacht. Wir haben einen Wettbewerb ausgeschrieben, um Innovationspotentiale in diesen Regionen freizusetzen. Wir wollen dabei erstmalig 25 Modellregionen fördern. Dafür werden wir 500 Millionen DM in die Hand nehmen. Ich höre jetzt, daß infolge der Ausschreibungen über 400 Anträge eingegangen sind. Das ist mehr als erfreulich. Ich weiß, da ist ein richtiger Ruck durch die Regionen gegangen. Wir werden sie nicht alle fördern können. Es sind Potentiale vorhanden, die nicht alle brachliegen werden. Wir werden über diese 25 Modellregionen hinaus dort vieles anstoßen können. Es wäre noch vieles weiter auszuführen. Wenn man hier sitzt und das alles mit anhört, könnte man versucht sein, die ganze Rede wegzuwerfen und die Redezeit mit Entgegnungen zu füllen. Ich will das alles nicht tun. Eine Sache tut richtig weh. Zum Bundesverkehrswegeplan ist viel gesagt worden; ich habe da nichts zu ergänzen. Es verhält sich genauso: Wir verstärken die Mittel. Wir werden im nächsten Jahr mehr für den Infrastrukturaufbau und für Wohnungen zur Verfügung haben, als Sie das in dem betreffenden Jahreshaushalt, mit dem Sie in den Bundestagswahlkampf 1998 gezogen sind, stehen hatten. Das ändert aber nichts daran, daß dennoch mittelfristig das Loch von 90 Milliarden DM bleibt. Das ist so. Das ist bitter. Wir kürzen dort nichts; im Vergleich mit dem Haushalt der Regierung Kohl von 1998 bauen wir auf, und trotzdem können wir die 90 Milliarden nicht finanzieren. Das ist die Lage. Und Sie setzen sich hier wohlfeil hin und tun so, als ob Finanzfragen mittelfristig nie eine Rolle gespielt hätten. Offensichtlich ist es so, meine Damen und Herren. ({25}) Ich will zum Schluß noch etwas zu Hans Eichel und dem abermaligen Vorwurf der Erpressung sagen. Herr Trautvetter ist nicht mehr da; ich möchte aber trotzdem darauf zurückkommen. ({26}) Das hat sehr viel mit Wahlkampf zu tun; das sehe ich genauso. Ich erinnere mich aber noch daran, als im Frühjahr 1996, als hier im Parlament die kommunalen Altschulden verhandelt wurden, der damalige BundesStaatsminister Rolf Schwanitz finanzminister Waigel dafür gesorgt hat, daß für die Eigenkapitalhilfe der Konsolidierungsfonds nicht aus dem Parteienvermögen aufgestockt worden ist. Ein Jahr lang gab es die Verknüpfung dieser beiden Themen. Damals sind die ostdeutschen Länder im wahrsten Sinne des Wortes erpreßt worden. Darüber habe ich von Herrn Trautvetter nichts gehört, auch nicht von einem CDUMinisterpräsidenten. Das ist eine Politik, die wir nicht betreiben werden. Diese Politik aber haben Sie in den letzten Jahren gepflegt. Schönen Dank, meine Damen und Herren. ({27})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat nunmehr der Kollege Dr. Joachim Schmidt.

Dr. - Ing. Joachim Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst eine Bemerkung zur Rede von Herrn Schwanitz: Herr Schwanitz, Sie haben ein Thema, das früher zu Ihren Lieblingsthemen gehörte, wenn Sie uns bei unseren Bemühungen für den Osten mit Kritik, häufig auch mit Häme bedacht haben, heute überhaupt nicht behandelt: den zweiten Arbeitsmarkt. Ich habe einmal mit Ihnen in Dresden bei den Gewerkschaften eine Podiumsdiskussion geführt. Damals haben Sie über nichts anderes geredet als über den zweiten Arbeitsmarkt. Dieses Thema gibt es offensichtlich nicht mehr. ({0}) Ich will Ihnen sagen: Sie haben das wichtigste Programm des zweiten Arbeitsmarktes im Osten, die Lohnkostenzuschüsse, kaputtgemacht, ({1}) ein Programm mit einer Umsetzungsquote von 60 Prozent. Dieses Programm ist durch Ihre Maßnahmen beerdigt worden. ({2}) - Reden Sie mit Handwerkern in den neuen Bundesländern! Die werden es Ihnen erzählen. Das war eine Ihrer Fehlleistungen in diesem Jahr. ({3}) Sie haben zuletzt über Innovationen geredet. Im Frühjahr waren Sie bei sächsischen Forschungs-GmbHs; denen Sie etwas vollmundig erzählt haben: Auch auf diesem Gebiet wird alles besser. Wollen wir einmal sehen, wie die Bilanz im Moment aussieht. Ich will mich zur Situation in der wirtschaftsnahen Forschung äußern. Offenbar besteht kein Zweifel, daß sich die auf lange Sicht klein- und mittelständisch geprägte Wirtschaft nur durch Innovationen auf nationalen und internationalen Märkten halten kann. Nur so ist es auf Dauer möglich, wettbewerbsfähige Produkte anzubieten. Innovationen aber - das weiß jeder - hängen mit gezielter Forschung und Entwicklung, hier vor allen Dingen wirtschaftsnaher Forschung zusammen. Wie sieht die Situation aus? Nach 1990 gab es in Folge des totalen Wirtschaftsumbruchs einen starken Rückgang der Mitarbeiterzahlen. Seit 1995 ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen, der sicherlich steigerungsfähig ist. Im Moment haben wir in der wirtschaftsnahen Forschung im Osten 21 000 Beschäftigte. Das ist erfreulich, entspricht aber erst 6 Prozent des gesamtdeutschen Industrieforschungspotentials. Das heißt: Auf niedrigem Niveau hat eine Stabilisierung stattgefunden. Deshalb ist es unbedingt notwendig, die wirtschaftsnahe Forschung weiterhin gezielt und intensiv zu unterstützen. ({4}) Dies ist eine der Hauptaufgaben im Hinblick auf die Entwicklung der ostdeutschen Forschungslandschaft. Im vergangenen Jahr haben etwa 2 700 Betriebe Forschung und Entwicklung betrieben. Das entspricht einer Steigerungsrate von zirka 10 Prozent; das ist sehr erfreulich. Nach einem Gutachten der Forschungsagentur Berlin sind die Unternehmen, die Forschung und Entwicklung betreiben - das ist nicht überraschend -, anderen in allen betriebswirtschaftlichen Daten überlegen. Dies betrifft den Umsatz, aber auch die Exportrate. In diesem Zusammenhang ist ganz besonders interessant, daß die meßbaren Fortschritte - es hat sich gelohnt, die Forschungslandschaft zu unterstützen - in erster Linie auf die Förderung durch den Bund und die ostdeutschen Bundesländer zurückzuführen sind; denn weit über 90 Prozent der FuE betreibenden Unternehmen haben Fördermittel beantragt und auch erhalten. Das heißt: Wir haben wirklich etwas für sie getan. Und die Leute sind auch dankbar dafür. Rückblickend ist es daher erfreulich, daß sechs von zehn Firmen innerhalb der letzten drei Jahre im Zusammenhang mit Förderprojekten Personal eingestellt haben. Dadurch sind einige Tausend Arbeitsplätze geschaffen worden. Besonders wichtig ist, daß - das konnte nachgewiesen werden - durch die FuEFörderung neue Geschäftsfelder erschlossen worden sind. Das ist das entscheidende, um sich überhaupt auf den Märkten zu behaupten. Zur weiteren Konsolidierung der wirtschaftsnahen Forschungslandschaft, die unabdingbar ist, ergeben sich nach wie vor drei Aufgaben: Erstens. Die verstärkte Wiederansiedlung von Personal für Forschung und Entwicklung in kleinen und mittelständischen Unternehmen, vor allem, um eine erheblich intensivere Kooperation zwischen den kleinen und mittelständischen Betrieben und der aus außeruniversitärer Forschung, Hochschulforschung und externer Industrieforschung bestehenden Forschungslandschaft zu erreichen. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß die Beiträge der gesamten ostdeutschen Forschungslandschaft zur Wertschöpfung in den neuen Bundesländern was notwendig ist - deutlich erhöht werden. Darüber hinaus ist die gezielte Kooperation aller beteiligten UnStaatsminister Rolf Schwanitz ternehmen und Institutionen ein entscheidender Faktor für die schnelle und effiziente Umsetzung von Ideen in wettbewerbsfähige Produkte. Zweitens. Die weitere angemessene finanzielle Unterstützung der Einrichtungen der externen Industrieforschung - die Sie, Herr Schwanitz, besucht haben -, die zur Zeit die wesentlichsten Träger der wirtschaftsnahen Forschung sind. Drittens - dies ist besonders wichtig -: die bevorzugte Förderung von technologieorientierten, innovativen Existenzgründungen. Diese Aufgaben sind unumstritten. Ihre Erfüllung muß vor allem mittelfristig gesichert werden. Aus diesem Grunde darf es zukünftig keine Degressionen bei der Forschungsförderung geben. ({5}) Bis zum Auslaufen des Solidarpaktes, das heißt bis 2004, sollte die Förderung der wirtschaftsnahen Forschung auf gleichem Niveau gehalten werden. Es gibt kein - auch kein ordnungspolitisch überzeugendes - Argument, die Förderung früher abzusenken. Das gilt insbesondere für die Personalförderung. Der noch vorhandene 30prozentige Produktivitätsunterschied zwischen Ost und West ist nur auf diese Art und Weise spürbar und in einem überschaubaren Zeitraum zu reduzieren. Die neue rotgrüne Bundesregierung hat im Wahlkampf auch verkündet, die wirtschaftsnahe Forschung in den neuen Ländern noch stärker als bisher zu unterstützen. Herr Schwanitz hat dies den sächsischen Landsleuten gesagt. Auch hier sollte alles besser werden. Wie sieht die Situation heute, nach einem Jahr, aus? Die neue Regierung hat im Sommer heimlich, still und leise eine Haushaltssperre verfügt, die alle der ostdeutschen Industrieforschung gewidmeten Programme lahmlegt. ({6}) Sie hat diese Haushaltssperre, nachdem ein Sturm der Entrüstung durch das Land gegangen war, vor wenigen Tagen partiell von 12 auf 6 Prozent zurückgenommen. Immer noch gilt, daß in diesem Jahr für diese Program- me praktisch keine Neuanträge gestellt werden können. Dies gilt ebenso für das Jahr 2000, da auch die Ver- pflichtungsermächtigungen für das Jahr 2000 zurückge- fahren werden. Weiterhin führt die Sperre dazu, daß in diesem Jahr nach unseren Recherchen 20 Millionen DM, nach Re- cherchen der AiF 40 Millionen DM nicht verfügbar sind. Wie wir weiter erfahren haben, beabsichtigt die Regierung, das der Unterstützung von technologie- orientierten innovativen Existenzgründungen - ich be- ziehe mich auf die dritte von mir genannte Aufgabe - gewidmete Programm FUTOUR zum Jahresende gänzlich einzustellen. [Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Das ist das schlimmste!) Auf diese Weise wird eine der innovationspolitisch herausragenden Aufgaben in den neuen Bundesländern de facto ad absurdum geführt. ({7}) Weiterhin sehen die Planungen der neuen Regierung vor, das Programm „Forschung und Entwicklung in den neuen Bundesländern“ bis zum Jahre 2003 drastisch von 270 auf 180 Millionen DM, das heißt um ein Drittel, zu reduzieren. Die Regierung beweist damit, daß sie noch immer nicht begriffen hat, wo und auf welche Weise dem Osten wirklich wirkungsvoll geholfen werden kann. ({8}) Bezeichnend für den Geist der Regierung bei der Kürzung der Ostförderung ist, daß aus der berühmten Zukunftsmilliarde für den Aufwuchs von Forschung und Entwicklung nicht eine einzige Mark in das der ostdeutschen Industrieforschung gewidmete Programm „Forschung und Entwicklung in den neuen Bundesländern“ fließt. ({9}) Im Gegenteil: Dieses Programm wird gerade um ein Drittel gekürzt. Ich gebrauche dieses Wort nicht allzu gerne; aber ich muß Ihnen sagen: Das wird dann Chefsache Ost in Sachen Industrieforschung genannt. In den letzten Wochen bin ich von vielen Menschen in dieser Angelegenheit angesprochen worden. Die Betroffenen empfinden dies als Betrug - es gibt kein anderes Wort dafür ({10}) an ihren Interessen und an ihrer Entwicklung. ({11}) Jedenfalls sieht man, welch unglaublich große Schere hier zwischen Anspruch und Realität besteht. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, unverzüglich die Haushaltssperre für die ostdeutschen Forschungsprogramme aufzuheben. ({12}) - Im Interesse der Sache, Herr Schmidt, und im Interesse des ostdeutschen Vorwärtskommens. ({13}) - Ich habe immer so geredet. ({14}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({15}) r h z d e m D f w A g f s w r A t A r i v m z S g n d i d n D I g a H u i f s s d m D r.-Ing. Joachim Schmidt ({16}) Ja, sicher. Ich will Ihnen sagen: Ich habe genug Erfahung, wie es ist, wenn man gegen den Stachel löckt. Ich abe von keinem einzigen in diesem Raum, von Ihnen uletzt, Nachhilfeunterricht nötig in der Vertretung osteutscher Interessen oder ostdeutscher Forschungsinterssen. ({17}) Wir fordern weiterhin, daß die Verpflichtungserächtigungen zurückgenommen werden, und vor allen ingen, daß das Programm FUTOUR ohne Kürzungen ortgesetzt wird. Ich füge hinzu, daß die Förderung der irtschaftsnahen Forschung nach 2004 ohne Wenn und ber integraler Bestandteil eines Fortsetzungsproramms Aufbau Ost sein muß, das sich an den auslauenden Solidarpakt anschließt. Ich komme zum Schluß. Wir rufen auch die ostdeutchen Bundesländer auf - über die Parteigrenzen hineg, denn sie sind alle betroffen -, sich unseren Fordeungen anzuschließen. Das gilt auch für die ostdeutschen bgeordneten der Koalition. Sie können auf unsere Unerstützung bauen, denn für uns gilt nach wie vor ohne bstriche: Der Aufschwung Ost war, ist und bleibt unsee wichtigste politische Aufgabe. Vielen Dank. ({18})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzte Rednerin n dieser Debatte hat nun die Kollegin Barbara Wittig on der SPD-Fraktion das Wort.

Barbara Wittig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Daen und Herren! Gestatten Sie mir bitte, daß ich mich unächst einmal an Herrn Dr. Schmidt wende. Wenn ie, Herr Dr. Schmidt, behaupten, wir hätten ein wichties Förderinstrument kaputtgemacht, dann muß ich Ihen sagen, wir haben zum 1. August die Zielgenauigkeit ieses Instrumentes hergestellt, ({0}) ndem wir beispielsweise für junge Menschen unter 25 ie Förderungsmöglichkeiten herstellen und - das hat es och nie gegeben - für ältere Menschen ab 50 ebenso. ({1}) as möchte ich Ihnen einfach einmal mitteilen, weil hnen das anscheinend entfallen ist. Aufbau Ost richtig machen! Aufbau Ost muß weiterehen! Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit noch einmal uf die ostdeutsche Arbeitsmarktpolitik lenken, die err Dr. Schmidt ebenfalls vermißt hat. Meine Damen nd Herren, wir arbeiten arbeitsteilig, deshalb spreche ch speziell dazu. Diesbezüglich bedeutet Aufbau Ost ür uns, arbeitsmarkpolitische Instrumentarien und Antrengungen zu verstetigen. Das heißt: Arbeitnehmerchaft, Betriebe und Verwaltungen müssen den Einsatz er Mittel längerfristig kalkulieren können. Ich weiß, eine Damen und Herren von der Opposition, daß das für Sie ein wunder Punkt ist. Denn Sie haben der Regierung Schröder eine arbeitsmarktpolitische Achterbahn hinterlassen: mal rauf, mal runter, mal kürzen, mal klotzen - weil gerade Wahlen vor der Tür standen. ({2}) Das war Ihre Politik. Alle Fachleute waren sich einig, daß das der falsche Weg ist. Die Wahlkampf-ABM der alten Bundesregierung sind ausgelaufen bzw. laufen aus. Deshalb hat die Regierung Schröder Stetigkeit in die Arbeitsmarktpolitik Ost gebracht. Sie hat das Finanzvolumen für die aktive Arbeitsmarktpolitik ({3}) - hören Sie sich doch zuerst einmal die Zahlen an - von 39 Milliarden DM auf 45,3 Milliarden DM im Jahre 1999 aufgestockt. ({4}) Auf die neuen Länder entfallen davon 22,8 Milliarden DM oder 50,3 Prozent. Dadurch haben wir die Arbeitsämter wieder handlungsfähig gemacht. Dieser hohe Mitteleinsatz zeigt übrigens Wirkung: 1999 war die Zahl der in ABM Beschäftigten in den neuen Ländern mit rund 163 000 im Jahresdurchschnitt um zirka 10,7 Prozent über dem Vergleichswert von 1998.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Wittig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klinkert?

Barbara Wittig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, Herr Klinkert, gerne. ({0}) - Er will bestimmt nach dem Bergbau fragen.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man sollte Ihnen hellseherische Fähigkeiten zusprechen, ob es auch zu logistischen reicht, werden wir sehen. - Frau Kollegin Wittig, Sie haben eben über die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik gesprochen.

Barbara Wittig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genau.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie bewerten Sie die vertragsbrüchige Kürzung der Mittel für die Braunkohlesanierung? Sie wissen, daß es ein zwischen der Bundesregierung und den Ländern abgeschlossenes Bund-Länder-Verwaltungsabkommen gibt, das bis zum Jahre 2002 gilt. Dieses Abkommen will die rotgrüne Bundesregierung brechen, indem sie in den Jahren 2001 und 2002 je 50 Millionen DM streicht. Ist das Ihre Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik?

Barbara Wittig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Klinkert, ich antworte Ihnen gerne, denn gerade mit diesem Argument sind Sie schon landauf, landab durch Brandenburg und Sachsen gezogen. Ich möchte zunächst einmal vermerken: In der Zeit, als Sie noch als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium Verantwortung trugen, hätten Sie die Möglichkeit gehabt, die Mittel in dem ersten Verwaltungsabkommen zu erhöhen. Sie haben sich damals dafür ausgesprochen, sie zu senken, weil ein Großteil der Sanierungsaufgaben bereits erledigt ist. ({0}) Wenn Sie mit Herrn Dr. Fritz von der LMBV sprechen, wird er Ihnen sagen, daß die Hälfte der Sanierungsarbeiten erledigt ist. ({1}) - Ich habe gar nicht bestritten, daß das eine gute Leistung war. ({2}) - Jetzt halt doch einmal den Mund, dort drüben, jetzt rede ich. ({3}) Aber man muß in diesem Zusammenhang auch berücksichtigen, daß die Beschäftigungswirkung gerade während der ersten Jahre unwahrscheinlich hoch war. All das, was jetzt noch kommen wird, wird wesentlich weniger beschäftigungsintensiv sein, weil die jetzt noch zu erfüllenden Aufgaben der Grundwasserhebung und all diese Dinge - das wissen Sie besser, als ich das jetzt in der Kürze darstellen kann - einfach nicht mehr so beschäftigungsintensiv sind. Ich habe auch bei der LMBV nachgefragt, wie die LMBV als Projektträger dazu steht. Man hat mir gesagt: Okay, das können wir verschmerzen. - Reicht das? ({4}) Ich fahre mit den Ausführungen zu den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen fort und möchte in diesem Zusammenhang ergänzen, daß auch bei den Strukturanpassungsmaßnahmen der Beschäftigungsstand in den neuen Ländern im Juni 1999 deutlich über dem Niveau des Vorjahresmonats lag. 1999 werden hier voraussichtlich 240 000 Arbeitnehmer beschäftigt werden. Zum Vergleich: 1998 waren es nur 174 000. Insgesamt stehen für die Strukturanpassungsmaßnahmen 1999 rund 6,3 Milliarden DM bzw. 37 Prozent mehr als 1998 zur Verfügung. 90 Prozent davon - das muß natürlich auch gesagt werden - fließen in die neuen Länder. Ich weiß nicht, wo Sie immer hernehmen: Der Aufbau Ost sei ein Abschwung Ost. Was bedeuten nun diese Zahlen für die Entlastung des Arbeitsmarktes? Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lag die Entlastung der Arbeitslosenzahl durch die wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien wie ABM, SAM und die Förderung der beruflichen Weiterbildung 1998 bei nur 654 000 Personen im gesamten Bundesgebiet, davon 395 000 in den neuen Ländern. Für das Jahr 1999 wird der Entlastungseffekt auf 727 000 Personen geschätzt, davon 427 000 in den neuen Ländern. Dies ist wiederum ein Anstieg von 11,2 bzw. 8,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Werfen wir bitte auch noch einen Blick auf die Auguststatistik bezüglich des Abbaus der Jugendarbeitslosigkeit: 100 000 arbeitslosen und noch ausbildungssuchenden Jugendlichen wollten wir eine Ausbildung, Qualifizierung oder Beschäftigung anbieten. Dieses Ziel haben wir bereits im Mai erreicht. Bis Ende August sind rund 178 000 Jugendliche in Maßnahmen des Sofortprogramms eingetreten, davon entfallen auf die neuen Länder wiederum 37 Prozent. Insgesamt befanden sich im August 107 000 Jugendliche in Maßnahmen, davon 38,5 Prozent im Osten. Ihnen wird auch nicht ganz unbekannt sein, daß in den neuen Bundesländern die Maßnahmen der Nachund Zusatzqualifizierung, ABM mit integrierter beruflicher Qualifizierung und schließlich außerbetriebliche Ausbildung bzw. Begründung von Arbeitsverhältnissen mit Lohnkostenzuschüssen am häufigsten genutzt wurden. Da kann ich nur sagen: Aufschwung Ost! Die Jugendarbeitslosigkeit konnte mit diesen Maßnahmen reduziert werden. Deshalb - wie bereits gesagt wurde - hat die Bundesregierung bereits am 29. Juni beschlossen, dieses Programm fortzusetzen. Die Arbeitsmarktpolitik ist natürlich nur ein Bereich, mit dem die Bundesregierung ihr Ziel der Schaffung zusätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten verfolgt. Die Ausweitung neuer Beschäftigungsfelder, der Einsatz neuer Instrumente zur Schaffung von Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt und die zielgerichtete Förderung von Arbeitsplätzen durch eine beschäftigungsfreundliche Wirtschafts- und Haushaltspolitik gehören ebenso dazu. Die jüngsten positiven Wirtschaftsprognosen führender Wirtschafts- und Forschungsinstitute hinsichtlich einer wieder anziehenden Konjunktur lassen hoffen. In einem trifft der CDU/CSU-Antrag meiner Meinung nach übrigens ins Schwarze: Die Weichen wurden in der Vergangenheit falsch gestellt; das ist Ihrem Antrag zu entnehmen. Um auf einen der vorhergehenden Redner einzugehen: Wir haben schließlich die Suppe auszulöffeln. Im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost muß über die Verantwortung der Länder unbedingt noch ein Wort gesagt werden. Herr Trautvetter aus Thüringen hat hier für Sachsen und Brandenburg gesprochen. Er hat sehr polarisiert, indem er Sachsen und Brandenburg gegenübergestellt hat. Deshalb gestatten Sie mir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs in meine Heimat, Sachsen. Die Arbeitslosenquote im Freistaat Sachsen - das sind die neuen Zahlen - liegt wie in Brandenburg und wie in Mecklenburg-Vorpommern bei über 17 Prozent. Das heißt, es gibt einen Gleichstand. Deshalb kann man das nicht so ausspielen, wie er das gemacht hat. Das Wirtschaftswachstum des Freistaates Sachsen bleibt hinter den ostdeutschen Konkurrenten zurück - leider! Was mich als Kommunalpolitikerin, die ich gleichzeitig bin, natürlich besonders bedrückt: Nirgendwo in Ostdeutschland sind die Kommunen so hoch verschuldet wie gerade im Freistaat Sachsen. Wenn die Regierung des Freistaates Sachsen nur Leuchtturmpolitik macht und strukturschwache Regionen, zum Beispiel meine Heimat, die Lausitz, vernachlässigt, wird sich nichts ändern lassen. Für die Lausitz gab es bisher leider nur populistische Ankündigungspolitik von seiten der Landesregierung. Als Beispiel möchte ich nennen, daß 1992 eine Arbeitsgruppe mit dem pompösen Namen „Zukunft Laubusch“ ins Leben gerufen wurde. Null Ergebnis mangels der von der Landesregierung eingebrachten Masse. Der Gipfel war jedoch die erneute Ankündigung einer Lausitzinitiative von Biedenkopf und Schönbohm Ende August in Brandenburg, obwohl Ende Juni dieses Jahres eine länderübergreifende Lausitzinitiative von beiden Landesregierungen unterzeichnet wurde. Ein Lenkungsausschuß sollte sich treffen, mit Hilfe der Lausitzer Sparkassen sollten Risikofonds aufgelegt werden, die LMBV sollte die Projektsteuerung übernehmen und vieles mehr. Das heißt, diese Lausitzinitiative war längst gegründet, wurde aber noch einmal als eine Superidee verkauft. Nun müssen insbesondere im sächsischen Teil der Lausitz Taten folgen. Angekündigt wurden sie schon über viele Jahre. In dem Beitrag vorhin klang es so an: Brandenburg trägt da die Schuld. Das ist aber nicht so. Für den brandenburgischen Teil der Lausitz möchte ich für denjenigen, der das noch nicht weiß, nur sagen: In Brandenburg wurde der Lausitzring gebaut, in Brandenburg wird die Internationale Bauausstellung vorbereitet, und das alles in der Lausitz. Das schafft Arbeit, das schafft Arbeitsplätze und damit ein Stückchen Aufschwung Ost. Kommen wir zurück zur Bundespolitik; ich will zur Landespolitik keine weiteren Ausführungen machen. Zum Schluß möchte ich noch auf das eingehen, was ich für den Aufschwung Ost für ganz wichtig halte, nämlich das Inno-Regio-Programm, das von der Bundesregierung initiiert wurde. Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Die Menschen in der Lausitz haben verstanden. Eine wirkliche Lausitzinitiative für Unternehmensentwicklung, Transfer, Kommunikation und Innovation hat ihren Antrag abgegeben. Aus den Anfangsbuchstaben leitet sich übrigens der nette Name LUTKI her; das paßt so richtig schön in die Lausitz. Das sind Projekte, die wir brauchen. Das bringt den Aufschwung Ost voran. Fazit: Der Kurs der Bundesregierung beim Aufbau Ost ist richtig. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/1210, 14/1314, 14/1277, 14/1551, 14/1540, 14/1542 und 14/1543 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zusatzpunkt 7 auf: 16. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung insolvenzrechtlicher und kreditwesenrechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/1539 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({0}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lilo Friedrich, Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Cem Özdemir, Marieluise Beck ({1}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Migrationsbericht - Drucksache 14/1550 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 a auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({3}) zu dem Antrag der Präsidentin des Bundesrechnunghofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1998 - Einzelplan 20 - Drucksachen 14/498, 14/1256 Berichterstattung: Abgeordnete Ewald Schurer Josef Hollerith Oswald Metzger Jürgen Koppelin Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der PDS bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P. angenommen. ({4}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 b auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Klaus Grehn, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Sofortige Bauunterbrechung an der Bundesautobahn A 17 - Drucksachen 14/128, 14/1272 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Letzgus Hierzu möchte die Kollegin Ostrowski eine Erklärung zur Abstimmung abgeben. Bitte schön.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! In aller Kürze: Ich werde dieser Beschlußempfehlung nicht zustimmen. Meine Gründe dafür sind: Seit zwei Tagen hauen wir uns gegenseitig Zahlen um die Ohren. Seit zwei Tagen wird behauptet, daß der Staat angeblich arm wie eine Kirchenmaus sei. Wer dann in einer solchen Situation 1,3 Milliarden DM für eine Autobahn ausgeben will, obwohl am Grenzübergang zu Tschechien das Verkehrsaufkommen auf schlappe 20 000 Kfzs prognostiziert wird, der ist nicht von dieser Welt. Wer in einer solchen Zeit 1,3 Milliarden DM für eine Autobahn ausgeben will, durch die die Landschaft zerschnitten wird, die durch Landschaftsschutzgebiete führt, für die teure Umweltmaßnahmen notwendig sind, die die Umwelt dennoch belasten wird und die Folgekosten mit sich bringt, der hat vom sinnvollen Sparen keine Ahnung. Sachsen hat eines der dichtesten Verkehrsnetze Deutschlands. Wer 1,3 Milliarden DM für eine Autobahn ausgeben will und gleichzeitig die wesentlich billigere Alternative ausschlägt, die vorhandenen Fernverkehrsstraßen auszubauen, um eine Verbindung nach Tschechien zu schaffen, der hat vom Sparen keine Ahnung, der ist falsch an diesem Platz. Rotgrün hatte eine Wende in der Verkehrspolitik versprochen. Der Kollege von der CDU/CSU-Fraktion - seinen Namen habe ich vergessen - behauptete während seiner etwas langatmigen Rede über die ICEStrecke, Müntefering hätte die Politik der alten KohlRegierung nicht fortgesetzt. Ich behaupte das Gegenteil: Müntefering war kaum Minister, als er nichts Besseres zu tun hatte, als anzukündigen: Alle während der Kohl-Regierung begonnenen Projekte werden fortgesetzt. Einzig die Planung für die Trasse durch Thüringen hat man verändert, indem man zwei Alternativen unter anderem mit der Deutschlandbahn geschaffen hat. Bei den Autobahnprojekten bleibt alles beim alten. ({0}) Hier steht Müntefering noch im Wort. So steht es auch in der Koalitionsvereinbarung. Nun ist Müntefering Generalsekretär der SPD geworden. Wie ich gehört habe, wird Klimmt der neue Verkehrs- und Bauminister. Vielleicht wird er eine Wende in der Verkehrspolitik einleiten. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Ostrowski, ich muß Sie jetzt unterbrechen, weil der Sinn einer Erklärung zur Abstimmung im Regelfall darin besteht, eine Erklärung zum abweichenden Stimmverhalten zur eigenen Fraktion abzugeben. Aber die Erklärung zur Abstimmung darf nicht für eine Aussprache zu einem Punkt genutzt werden, obwohl keine Aussprache vereinbart worden ist. Ich möchte Sie daher bitten, zum Schluß zu kommen. ({0})

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte noch meinen dritten Grund für die Ablehnung nennen, nämlich meine Enttäuschung über die Kollegen von der Fraktion der Grünen, insbesondere über die Kollegen aus Sachsen. ({0}) Sie gehörten zu den heftigsten Gegnern dieses Autobahnbaus. Sie, Frau Hermenau, und Ihre Parteikollegen aus Sachsen hatten noch kurz nach dem Regierungsantritt einen Beschluß gegen die Autobahn gefaßt. Es tut mir leid, wie Sie sich verhalten; denn Ihr Verhalten ist auch ein Zeichen für das Absinken in der Wählergunst.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, ich muß Ihnen jetzt das Wort entziehen. Bitte verlassen Sie das Rednerpult! Ich möchte darauf hinweisen, daß wir, was Erklärungen zur Abstimmung angeht, großzügig verfahren. Das sage ich an die Adresse aller Fraktionen. Aber bei diesem Verhalten müssen wir uns seitens des Präsidiums überlegen, ob wir solche Erklärungen zur Abstimmung künftig zulassen; denn dieses Verhalten ist ein Mißbrauch der Geschäftsordnung. Darauf wollte ich hinweisen. ({0}) Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/128 abzulehnen. Wer stimmt für diese BeschlußempVizepräsident Rudolf Seiters fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 c auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Sechsundvierzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 14/1068, 14/1187 Nr. 2.1, 14/1552 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 9 auf: Aktuelle Stunde Haltung der Bundesregierung zur Finanzierung des Sparpaketes zu Lasten der Pflegeversicherung Die Aktuelle Stunde findet auf Verlangen der CDU/CSU-Fraktion statt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ulf Fink.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt, weil der Pflegeversicherung ernste Gefahren durch das Eichelsche Sparpaket drohen, in dem die Senkung der Beiträge für Empfänger von Arbeitslosenhilfe vorgesehen ist. Dadurch entgehen den Pflegekassen erhebliche Einnahmen. Es muß mit Einnahmenminderungen der Pflegeversicherung in Höhe von jährlich mindestens rund 400 Millionen DM gerechnet werden für den Fall, daß die Bundesanstalt für Arbeit, wie im Sparpaket beabsichtigt, die Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitslose nur an der Höhe der tatsächlich bezogenen Unterstützungsleistung bemißt das sind im ungünstigsten Fall 53 Prozent des pauschalierten Nettoentgeltes - und nicht mehr 80 Prozent des Bruttoverdienstes berechnet. Dies ist inakzeptabel, weil dadurch die ohnehin schon absehbare defizitäre Finanzentwicklung der Pflegeversicherung noch einmal deutlich verschärft würde. Ich glaube, ein Teil Ihrer Beschlüsse ist darauf zurückzuführen ist, daß Sie der Ansicht sind, die Pflegeversicherung habe viel Geld. In der Tat verfügt die Pflegeversicherung über ein solides Finanzpolster von rund 9,5 Milliarden DM. Aber diese 9,5 Milliarden DM sind im wesentlichen in den ersten zwei Jahren der Pflegeversicherung entstanden. Bereits 1997 war der Überschuß auf 1,6 Milliarden DM und 1998 auf 250 Millionen DM pro Jahr gesunken. Nach den Berechnungen des Bundesversicherungsamtes ist in diesem Jahr mit keiner positiven Entwicklung mehr zu rechnen; vielmehr muß man sogar von einer kleinen defizitären Entwicklung von 20 Millionen DM ausgehen. Das ist eine Folge der zunehmenden Inanspruchnahme von teureren Sachleistungen und von mehr stationären Leistungen. Durch das Sparpaket der Bundesregierung kann dieses Defizit nach den Berechnungen des Bundesversicherungsamtes bis zum Jahre 2000 auf 850 Millionen DM pro Jahr und bis Ende des Jahres 2002 auf jährlich 1,35 Milliarden DM anwachsen. Diese Entwicklung ist um so kritischer zu werten, als bei allen Finanzberechnungen des Bundesversicherungsamtes keine Anpassung der Versicherungsleistung unterstellt worden ist. Das ist aber eine schlicht undenkbare Prognose. Bei der Rentenversicherung streiten wir uns zu Recht darum, ob man die Leistungen der Nettolohnentwicklung oder der Inflationsrate anpaßt. Bei allen Finanzberechnungen des Bundesversicherungsamtes ist aber überhaupt keine Anpassung der Leistung unterstellt. Wenn man unterstellen würde, daß die Leistungen jährlich um 1 Prozent angepaßt werden müßten, dann ergäbe sich allein für das Jahr 2002 die Notwendigkeit, bei den Leistungen eine Anpassung in Höhe von 1,5 Milliarden DM vorzunehmen. Nach den Berechnungen des Bundesversicherungsamtes, die das nicht unterstellen, und ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß wir eine Mindestrücklage aufrechterhalten müssen, würden spätestens im Jahre 2005 die Beitragssätze erhöht oder die Leistungen gekürzt werden müssen. Es ist aber laut Gesetz ausgeschlossen, daß der Beitragssatz zur Pflegeversicherung in Höhe von 1,7 Prozent erhöht wird. Leistungskürzungen sind auch nicht hinnehmbar. Im Gegenteil: Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung angekündigt, etwas zugunsten der altersverwirrten Patienten tun zu wollen. Das ist ja auch richtig. Sie, meine Damen und Herren, bringen die Pflegeversicherung durch Ihre Beschlüsse in eine ausweglose Situation. Außerdem ist der vorgesehene Eingriff nicht systemkonform. Schließlich gilt der Grundsatz, daß die Pflegeversicherung der Krankenversicherung folgt. Die ursprünglich beabsichtige Senkung der Beiträge zur Krankenversicherung für Empfänger von Arbeitslosenhilfe hat man nun aber nicht realisiert. Kann es denn wirklich richtig sein, daß Sie in den Bereichen, wo es eine starke Lobby gibt, nicht kürzen, bei der Pflegeversicherung aber, deren Lobby, wie Sie meinen, nicht so stark ist, zuschlagen? ({0}) Was Sie da machen, hat nichts mit Sparen zu tun. Die Staatsausgaben und das Staatsdefizit werden dadurch nicht gesenkt. Es gibt zwar ein geringeres Defizit beim Bund, aber dafür ein höheres Defizit bei der Pflegeversicherung. ({1}) Vizepräsident Rudolf Seiters Nein, meine Damen und Herren, dieser Teil des Eichelschen Sparpakets darf auf gar keinen Fall Wirklichkeit werden. Wir dürfen nicht zu Lasten der Allerärmsten sparen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Georg Wagner. ({0})

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Haben Sie da mal keine Bange, ich werde es Ihnen gleich sagen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rede von Herrn Fink kann noch so sachlich vorgetragen worden sein, es bleibt die Tatsache, daß er damit die Lügenserien fortgesetzt hat, mit der Sie die jetzige Bundesregierung und Koalition seit Monaten überziehen. ({0}) Sie wissen doch ganz genau, daß die Pflegeversicherung einen Überschuß von 9,7 Milliarden DM hat, ({1}) während die Mindestsumme 4 Milliarden DM beträgt. Nach Abzug der von Ihnen genannten Möglichkeiten sind immer noch 8 Milliarden DM in der Kasse, so daß überhaupt keine Gefährdung der Pflegeversicherung besteht. ({2}) Erinnern Sie sich, Herr Kollege Fink, an das Jahr 1997? Da waren Sie ja auch Mitglied des Bundestages. Damals hat die damalige Koalition den Versuch unternommen, der Pflegeversicherung ganze 4,5 Milliarden DM zu entziehen. Sie hätte ihr damals beinahe den Todesstoß versetzt. Das ist Gott sei Dank verhindert worden. Jetzt geht es um maximal 400 Millionen DM, die ihr durch die Veränderung der Bemessungsgrundlage genommen werden. ({3}) Abgesehen von Ihrem Gerede besteht sonst keine Gefahr. Sie verbreiten Angst und Panik; das ist ja auch die Absicht dieser Debatte. Aber es steht absolut nichts dahinter. Wer für ein Defizit von 30 Milliarden DM und für eine Zinslast von 80 Milliarden DM verantwortlich ist, weil er 1,5 Billionen DM Schulden gemacht hat, sollte endlich einmal zu einer sachlichen Auseinandersetzung zurückkehren und konstruktive Vorschläge machen; aber Sie sind dazu nicht in der Lage. ({4}) - Ich würde Ihnen als christliche Parteien empfehlen, endlich einmal das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten!“ einzuhalten. Halten Sie sich einmal daran, zumal Sie sich ja christlich nennen. ({5}) Die Angstmache von seiten der Union um die Pflegeversicherung soll von der Verantwortung für die 1,5 Billionen DM Schulden ablenken, von denen Sie und sonst niemand 1,2 Billionen selber verursacht haben. Sie haben ein Finanzloch von 30 Milliarden DM hinterlassen. Nun habe ich heute morgen gehört, wie jemand sagte, Herr Eichel sammle nur das ein, was Herr Lafontaine vorher verbraten habe. Das ist falsch. Sie kennen Ihre eigenen Haushalte nicht. Herr Kolb, Sie reden ja nachher und müßten eigentlich wissen, welche falschen Beschlüsse die alte Bundesregierung gefaßt hat. Ein falscher und zu niedrig veranschlagter Ansatz im Haushalt von Waigel führte dazu, daß 10 Milliarden DM finanziert werden mußten. ({6}) - Nein, diese 10 Milliarden DM Defizit im Haushalt des ehemaligen Bundesfinanzministers, sind echte WaigelSchulden. Von uns wurde der Ansatz „Postunterstützungskasse“ in den Haushalt aufgenommen. Das ist, wie Sie wissen, aufkommensneutral; 8 Milliarden DM Einnahmen und 8 Milliarden DM Ausgaben. 1999 haben wir zur Absenkung der Beiträge 15 Milliarden DM mehr Zuschüsse an die Rentenversicherung gezahlt. Wahrscheinlich sind Sie dagegen gewesen. Auch das ist aufkommensneutral; wir werden das über die Ökosteuer und die Mehrwertsteuer finanzieren. Die Gründe dafür sind die 30 Milliarden DM strukturelles Defizit, das wir bei der Regierungsübernahme vorgefunden haben. Sie können das, was ich sage, kontrollieren, indem Sie einmal in den Haushaltsentwurf schauen. Die Nettokreditaufnahme ist in diesem Haushaltsjahr um 3 Milliarden DM geringer als vorher. Also kann das, was Sie hier über die 30 Milliarden DM sagen, absolut nicht stimmen. Auch das ist ein Satz in Ihrer Lügenserie. Ich muß Sie auch daran erinnern, daß Sie gegen die Kindergelderhöhung waren. Wir haben es geschafft, das Kindergeld für das erste und zweite Kind innerhalb von 13 Monaten um 50 DM zu erhöhen. Sie waren dagegen. Sie haben diese familienfreundlichen Beschlüsse abgelehnt. Wir haben auch den Eingangssteuersatz gesenkt. Sie waren dagegen. Wir haben das Existenzminimum angehoben. Sie waren dagegen. ({7}) Heute werden wir beim Schlechtwettergeld die alte Regelung wiederherstellen, die den Bauarbeitern die Sicherheit gibt, ganzjährig verdienen zu können und nicht in die Arbeitslosigkeit zu fallen, was Sie wollten und beschlossen haben. Wir haben auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wiedereingeführt und den KündiUlf Fink gungsschutz verbessert. Alle sozialen Tiefschläge, die Sie in den letzten Jahren losgelassen haben, haben wir zurückgenommen, und es ist eine gute Sache, daß das gemacht worden ist. Was bei Ihnen fehlt, sind die konstruktiven Alternativen; sie sind nicht sichtbar. Sie sind Meister in Anträgen und Debatten zur Geschäftsordnung und im Beantragen Aktueller Stunden. Sie werden beim nächsten Punkt vermutlich Jubiläum feiern, weil das die 25. aktuelle Aussprache über irgendein Thema ist - nur um die Bevölkerung zu verunsichern. Ich bin der Auffassung, Sie sollten damit aufhören. Kommen Sie zu einer konstruktiven Politik, und machen Sie das, was Ihr Vorsitzender lauthals verkündet hat, nämlich daß die Union auf verschiedenen Politikfeldern zur Zusammenarbeit mit der Koalition bereit sei. Bitte machen Sie das, und lügen Sie nicht ins Bodenlose. Schönen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Bundesregierung mit der Pflegekasse vorhat, ist genau das, was wir immer befürchtet haben und wovor wir auch immer gewarnt haben. Denn wo Gelder im Zugriffsbereich des Staates angehäuft werden, entstehen Begehrlichkeiten, die in Zeiten knapper Kassen dann die Hemmschwelle auf ein solch niedriges Maß senken, daß man wirklich davon sprechen muß - ich will nicht so weit gehen, Herr Kollege Wagner, hier das vierte Gebot zu strapazieren -, daß Sie hier schamlos in die Kassen der Pflegeversicherung greifen. ({0}) Damit tun Sie genau das, was Sie in allen früheren Diskussionen um die Pflegeversicherung immer weit von sich gewiesen haben. Es ist traurig, aber es ist beileibe nicht das erste Mal, daß sich das grundsätzliche Mißtrauen der F.D.P. gegenüber dem Aufbau von Kapitalstöcken in den sozialen Sicherungssystemen wieder einmal bewahrheitet hat. Um der Gefahr des Mißbrauchs von Finanzsystemen entgegenzutreten und gleichzeitig dem von uns allen als absolut vorrangig anerkannten Ziel der Senkung der Lohnnebenkosten ein Stück näher zu kommen, fordern wir seit zweieinhalb Jahren die Senkung der Beitragssätze - leider, so muß ich sagen, ohne Erfolg. Auch die Überlegung, Beiträge zurückzuerstatten, hat keine ausreichende Unterstützung gefunden. Das ist bedauerlich für die Beitragszahler, denn es ist deren Geld, über das wir hier reden. ({1}) Inzwischen zeichnet sich das Abschmelzen des Überschusses der Pflegekasse bereits ab, und in nicht allzu ferner Zukunft - das steht bereits jetzt fest - droht wieder eine Diskussion über Beitragssatzanhebungen. Die Berechnungen des Bundesversicherungsamtes zeigen, daß die Rücklagen viel schneller aufgebraucht sein werden, als viele von uns gehofft hatten. Diese Entwicklung wird durch die heute hier zur Diskussion stehenden Pläne der Bundesregierung natürlich weiter beschleunigt werden. Es ist deswegen nicht falsch, anzunehmen, daß wir bereits ab 2005 wieder an die Grenze, an den Deckel stoßen werden. Ich will heute auch folgendes anmerken. Bereits jetzt schlägt sich die demographische Entwicklung in den Leistungssteigerungen der Pflegeversicherung nieder. Der Kreis der Pflegebedürftigen wird von Jahr zu Jahr größer. 1996 gab es 1,55 Millionen berechtigte Antragsteller, 1997 bereits 1,66 Millionen und 1998 1,72 Millionen. Ich denke, auch diese Entwicklung müssen wir berücksichtigen. Weil wir, die F.D.P.-Bundestagsfraktion, uns ein Bild über die aktuelle Situation der Pflegeversicherung machen wollten und weil wir fünf Jahre nach der Einführung eine Zwischenbilanz ziehen wollten, haben wir im Juni ein Gespräch mit zahlreichen Experten geführt. Daraus ergab sich insgesamt ein durchaus positives Gesamtbild. Aber natürlich wurden auch Probleme aufgezeigt. Eines der großen Zukunftsprobleme ist - wie bei der Rente - der demographische Faktor. Die langfristigen Berechnungen lassen uns eher sorgenvoll dreinblikken. Deswegen steht, Frau Ministerin Fischer, für die F.D.P. eines fest: Die Spendierhosen kann man jedenfalls nicht anhaben. Eher schon sollte man daran denken, der Pflegeversicherung schnellstens die Taschen zuzunähen, damit wir auch zukünftig noch in der Lage sind, auf neu entstehende Belastungen einzugehen und diese abzufedern. ({2}) Ich will in dieser Debatte auch noch ein Wort zur Frage möglicher Leistungsausweitungen sagen. Vor der Sommerpause haben wir ja einige - auch aus unserer Sicht notwendige - Verbesserungen beschlossen, die für die Betroffenen im Einzelfall eine große Hilfe sein können. Wir haben damals zugestimmt, weil es bei Anwendung des Gesetzes offensichtliche Schwächen gab. Natürlich gibt es auch weiterhin Probleme und Bereiche, in denen wir noch bessere Lösungen suchen müssen. Ich denke da vor allem an die Demenzkranken und deren Angehörige. Demenzkranke zu Hause zu betreuen ist eine enorm schwierige Aufgabe. Man erkennt schnell, welche Tragweite diese Krankheit für die Betroffenen und ihr Umfeld hat, wenn man sich einmal damit befaßt. Ich sehe hier und in anderen Bereichen entsprechenden Handlungsbedarf. Ich meine, es ist insgesamt ein Gebot der politischen Redlichkeit, den Menschen klar zu sagen, daß der Staat nicht in der Lage ist, jedwedes Lebensrisiko für sie zu übernehmen. Zu verschenken hat die Pflegekasse jedenfalls nichts, schon gar nicht, um damit an anderer Stelle Löcher zu stopfen. Frau Ministerin Fischer, zum Schluß möchte ich doch noch ein Wort zur Art und Weise sagen, wie diese einseitige Belastung der Pflegeversicherung durch das Sparpaket zustande gekommen ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Aber bitte nur ganz kurz; Ihre Redezeit ist nämlich vorbei.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie läßt nämlich Rückschlüsse auf den Stellenwert zu, die die Pflegeversicherung bei Ihnen offenbar hat. Als der Finanzminister nämlich genau dasselbe, was er nun bei der Pflege macht, mit den Krankenversicherten vorhatte, sind Sie zugegebenermaßen mit Erfolg - auf die Barrikaden gegangen. Seltsam ist nur, daß Ihnen die Pflegebedürftigen jetzt ein solches Engagement nicht wert waren. Deshalb muß ich Sie fragen: Sind die Versicherten der Pflegeversicherung in Ihren Augen etwa Versicherte zweiter Klasse? Anscheinend erbringen Sie ein Bauernopfer für den Bundesfinanzminister, das zur Rettung Ihrer waghalsigen Ausgabenpolitik im Gesundheitswesen nötig wurde. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, ich glaube, Sie haben gesagt, was Sie sagen wollten. Sie müssen jetzt Schluß machen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich hätte noch viel zu sagen. Aber ich nehme natürlich Ihren Hinweis ernst. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kolb, ich bin ganz überrascht. Ich kann mich gar nicht erinnern, daß Sie schon bislang so engagiert für die Pflegeversicherung gekämpft haben, und bezweifle, daß Sie sich qualifiziert darüber äußern können, was mein Engagement in diesem Bereich angeht. ({0}) Ich glaube, diese Art von kasuistischer Beweisführung - wem mein Engagement gilt - ist wenig überzeugend. Ganz grundsätzlich gilt: Wir unternehmen mit dem Sparpaket eine große Anstrengung zur Konsolidierung des Haushalts. Das Ziel ist, wenn Sie ehrlich sind, auch bei Ihnen unumstritten: Es geht nicht, daß wir uns - sozusagen mittels einer Hypothek auf die Zukunft - ständig weiter verschulden. Wir brauchen hier eine Kehrtwende in der staatlichen Haushaltspolitik. ({1}) - Ich verstehe das ja; so macht man das halt in der Opposition. Da braucht man sich um das Ganze nicht so sehr zu kümmern. Ihre Haltung ist die: Sparen? - Ja, unbedingt, aber nicht hier! ({2}) Das kann natürlich jeder sagen. Genau deshalb führen wir zur Zeit diese Debatten. ({3}) Vor diesem Hintergrund haben wir ein Paket geschnürt. Und, es ist richtig, daß auch die Pflegeversicherung davon betroffen ist. ({4}) Es ist hier vorhin gesagt worden - zum Glück hat der Kollege Fink die inzwischen korrigierten Zahlen genommen -: Es geht um einen Einnahmeausfall von 400 Millionen DM pro Jahr. Herr Kollege Fink, glauben Sie nicht - was Sie in Ihrer Rede unterstellt haben -, wir hätten das nach dem Motto „Die Pflegeversicherung hat's ja!“ gemacht. Das ist nicht richtig. Es ist einfach so - ich habe das schon neulich, nicht in diesem Haus, sondern woanders gesagt -: Auch mich schmerzen die Eingriffe; auch ich hätte das lieber vermieden. ({5}) So geht es auch in anderen Bereichen. Jetzt stellt sich die Frage: Wie groß ist das Problem, das wir damit anrichten? Das ist der interessante Punkt. Daß man es lieber anders und bequemer hätte, ist klar, aber wenn man es tun muß, dann lautet die interessante Frage: Ist das Problem so groß, wie hier behaupet wird? Ich sage: Nein. Sie haben gesagt, es sei unsystematisch. ({6}) Das stimmt nicht. Wir stellen die Beiträge, ({7}) die der Bund zahlt, um. Deswegen stimmt es auch nicht, daß wir dem Beitragszahler schaden, wie Sie es behaupten. Hier geht es um Beiträge, die nicht von den Arbeitnehmern entrichtet werden, sondern vom Bundeshaushalt. Sie werden auf eine andere Bemessungsgrundlage, nämlich auf den Zahlbetrag der Arbeitslosenhilfe, umgestellt. ({8}) - Zumindest ist es nicht unsystematisch, weil wir auch sonst das tatsächliche Einkommen als Bemessungsgrundlage für die Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung heranziehen. Jetzt möchte ich noch einmal auf die Frage, ob das Problem so groß ist, wie Sie behaupten, eingehen. Wenn wir das bei einer veränderten Finanzentwicklung machen, die zu erwarten ist - Sie haben andere Zahlen verwendet; die Bundesregierung teilt die Einschätzung des Bundesversicherungsamtes nicht ganz, weil die mittelfristige Finanzplanung eine andere Einkommensentwicklung voraussagt -, wird diese Maßnahme dazu führen, daß sich die Rücklagen in den nächsten Jahren zwar geringfügig vermindern, daß aber die gesamten Rücklagen der Pflegeversicherung immer noch drastisch über der vorgesehenen Schwankungsreserve von rund 4 Milliarden DM liegen werden. Das soll heißen: Es besteht nicht die Gefahr, daß die Pflegeversicherung in dem Sinne ins Defizit gerät, daß man befürchten muß, wir müssen entweder sofort die Beiträge anheben oder die Leistungen kürzen. ({9}) Diese Gefahr besteht nicht. ({10}) Die Veränderung der Bemessungsgrundlage macht die Einkommenslage der Pflegeversicherung nicht besser, aber wir müssen deswegen nicht so tun, als wäre die Pflegeversicherung akut gefährdet, ({11}) als müßten die Versicherten die Sorge haben, daß ihre Leistungen nicht mehr gewährleistet sind. Völlig unabhängig von der Frage der 400 Millionen DM, die hier Gegenstand der Debatte sind, werden wir die großen Probleme, die in der Pflegepolitik anstehen, zu lösen haben. Diese Probleme betreffen die Qualitätssicherung. Der Gesetzentwurf dazu wird in Kürze an die Fachleute zur ersten Beratung weitergegeben. Wir werden die große Aufgabe, die Sie uns hinterlassen haben, angehen - wir haben schon in der vergangenen Legislaturperiode viel darüber geredet -, nämlich die Abgrenzung der verschiedenen Versicherungssysteme und Leistungsträger zueinander. Tun Sie jetzt nicht so, als wäre unser Vorgehen ein Ausdruck dafür, daß ich mich nicht für die Pflegeversicherung interessieren würde. Dieses Problem ist uns schon seit mehreren Jahren bekannt. Sie haben es uns hinterlassen, ({12}) und nur weil wir es nicht sofort im ersten Jahr lösen können, müssen Sie sich nicht mit fremden Federn schmücken. Wir werden diese Fragen angehen, und wir werden auch über die Demenzkranken zu reden haben. Das sind aber Probleme, die auf der Tagesordnung stehen und deren Lösung nicht durch die 400 Millionen DM, die der Staat vorher an Beiträgen in die Pflegeversicherung entrichtet hat, leichter geworden wäre. Das, was Sie sagen, ist nicht wahr; denn Sie tun einfach so, als hätte das Problem nur die Dimension von 400 Millionen DM. Die langfristige demographische Entwicklung hat aber eine ganz andere Dimension. Es hätte uns die Dinge sicherlich leichter gemacht. Aber es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, als würde es mit dieser Maßnahme unmöglich gemacht, die anstehenden Probleme zu lösen. Die Lösung dieser Probleme liegt ganz woanders. Sie liegt auch in der sozialpolitischen Phantasie. Wir müssen uns mit den verschiedenen Trägern, die für die Pflege zuständig sind, einigen. Die Lösung liegt zum Beispiel im Bereich der Qualität. Da geht es gar nicht ums Geld, sondern darum, daß man sich über Standards verständigt und sie einhält. Über diese Fragen werden wir zu diskutieren haben. Das, was Sie heute machen, ist ein Scheingefecht. Vor allem ist es Kirchturmpolitik nach dem Motto: Ja, ihr müßt sparen, aber wenn ihr irgendwo anfangt, ({13}) sind wir grundsätzlich dagegen. Sie werden wahrscheinlich in den nächsten Jahren noch viele solcher kirchturmpolitischer Debatten anregen. Das macht es aber nicht besser und verantwortungsbewußt im Blick auf das Gemeinwesen ist es auch nicht. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf die sozialpolitische Phantasie der Frau Ministerin, insbesondere im Bereich der Absicherung des Pflegefalles, bin ich sehr gespannt. Ich hoffe, daß sie zu einer Ausweitung und nicht zu Kürzungen führt. So bequem, wie Sie, Herr Wagner, es sich machen, geht es natürlich wirklich nicht. Sie tun hier so, als gäbe es das Problem gar nicht. Die 400 Millionen DM gibt sogar die Ministerin zu. ({0}) Nach Schätzungen beispielsweise des Sozialverbandes VdK - der mir politisch nicht so nahesteht, wie Sie vielleicht vermuten - kann man auch mit 1,5 Milliarden DM rechnen - oder eine solche Summe zumindest befürchten. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß schon vor Ihrem Sparpaket und vor Ihren Rentenplänen bekannt war, daß die Pflegeversicherung ihre bisherigen Überschüsse in Zukunft nicht mehr erwirtschaften wird. Eigentlich hatte ich angenommen Bundesministerin Andrea Fischer das wurde mir zumindest eingeredet -, daß die Pflegeversicherung Menschen helfen soll, die auf fremde Hilfe angewiesen sind. Jetzt habe ich den Eindruck, daß die Sparpläne der Koalition einer Regierung helfen sollen, die auf helfende Fremde angewiesen ist. In diesem Fall ist die Pflegeversicherung der Fremde, der helfen soll. Das kann nicht sein. Unmittelbar vor der Sommerpause ist - nicht in diesem Gebäude, aber in diesem Haus - sehr ausführlich darüber debattiert worden, daß wir etwas für Demenzkranke tun müssen. Stets wurde gesagt, dies müsse im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung geschehen. Ich habe damals erklärt, daß ich es für unmöglich halte, im Rahmen der Pflegeversicherung demenzkranken Menschen und ihren Angehörigen wirklich zu helfen; denn Demenzkranken kann man nur durch Anwesenheit helfen. Das heißt, 24 Stunden täglich muß jemand dasein. Das ist aus den Mitteln der Pflegeversicherung nicht zu bezahlen. Deshalb komme ich gerne auf den Vorschlag zurück, sozialpolitische Phantasie einzusetzen, und erinnere daran, daß gerade in der vergangenen Woche eine Delegation des Gesundheitsausschusses in Österreich war und sich dort über die Pflegevorsorge informierte. Die Pflegevorsorge ist in Österreich eine staatliche, steuerfinanzierte Leistung. Auch dort gibt es Probleme mit der Versorgung von demenzkranken Menschen. Aber immerhin haben sie das Problem, über das wir heute reden müssen, nicht. Wenn Sie, Frau Ministerin, davon reden, daß wir sozialpolitische Phantasie brauchen, dann bitte ich darum, nicht immer nur darüber zu reden, wo man angeblich etwas einsparen kann, um den Haushalt zu sanieren. Dagegen bin ich ja nicht; aber das darf nicht auf Kosten derjenigen gehen, die sich wirklich nicht wehren können. Ein Land und sogar eine Kommune - grundsätzlich bin ich der Meinung, daß die Kommunen von Ihnen viel zu schlecht bedacht werden - können sich leichter als ein Mensch wehren, der morgens nicht weiß, wie er alleine auf die Toilette kommt. Das ist ja eine der Aufgaben der Pflegeversicherung. Angesichts dessen kann man nicht so tun, als wäre ein Minus bei den Einnahmen in Höhe von 400 Millionen DM nur ein Klacks. Ich hatte mich zunächst gewundert, weshalb die CDU/CSU diese Aktuelle Stunde verlangte. Inzwischen ist mir klar, daß es darum geht, Herrn Fink die Möglichkeit zu geben, sich als zukünftiger Sozialminister in Brandenburg zu empfehlen. Das können Sie auch gerne tun; Wahlkampf ist schließlich immer wieder. ({1}) - Das bezweifle ich nun ernsthaft; aber das ist ein anderes Thema. Ich mache hier keinen Wahlkampf, sondern rede für Menschen, die keine andere Möglichkeit haben, als über die mäßigen Leistungen der Pflegeversicherung ihre Lebensbedingungen wenigstens ein bißchen zu verbessern. Wenn wir in diesem Bereich Phantasie aufbringen und die Leistungen tatsächlich so ausweiten, daß die Menschen das bekommen, was sie benötigen, dann wäre dies ein Fortschritt. Der Fortschritt liegt aber nicht in einer Haushaltssanierung, die in vielen Bereichen unsozial, in manchen Bereichen ökologisch schädlich und in diesem Falle unverantwortlich ist. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Eva-Maria Kors.

Eva Maria Kors (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierung betreibt Sozialpolitik mit der Überzeugung, die Zukunftsprobleme ließen sich nur über den Aufbau eines Kapitalstocks bewältigen. Mit ihrer Pflegepolitik macht sie aber genau das Gegenteil. ({0}) Den Kapitalstock, den es in der Pflegeversicherung bereits gibt, zerstört sie wieder. So schafft sie es, viel zu tun und trotzdem stehenzubleiben, Vollgas zu geben im Leerlauf. So kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ die Stellungnahme von Ministerin Fischer zu den Auswirkungen des Sparpakets auf die Pflegeversicherung. Treffender und besser läßt sich die Konzeptionslosigkeit der rotgrünen Bundesregierung im Bereich der Pflegeversicherung kaum beschreiben. Das gilt für die gesamte Sozialpolitik. ({1}) Es ist jetzt knapp drei Monate her, da beschloß der Deutsche Bundestag Änderungen des Pflegeversicherungsgesetzes. Frau Fischer, das waren Änderungen, die unbestritten sinnvolle und notwendige Verbesserungen brachten und deshalb unsere Unterstützung erhielten. Was wir aber bereits damals vermißt haben und bis zum heutigen Tag vermissen, sind Vorschläge der Bundesregierung, die das drängende Problem der Einbeziehung demenzkranker Menschen in das System der Pflegeversicherung lösen, und Regelungen, die eine längerfristige Stabilisierung und Sicherung der Pflegeversicherung beinhalten. Denn im Gegensatz hierzu drohen der gesetzlichen Pflegeversicherung durch die verfehlte Finanzpolitik dieser Bundesregierung nunmehr Einnahmeverluste in dreistelliger Millionenhöhe. Eines ist sicher: Diese beabsichtigten Maßnahmen der Bundesregierung verschärfen die ohnehin schwierige Situation der Pflegeversicherung. Sie haben nichts, aber auch rein gar nichts mit einer sachorientierten und vorausschauenden Politik zu tun, geschweige denn mit der von Ihnen so oft zitierten sozialen Gerechtigkeit. ({2}) Denn soziale Gerechtigkeit beinhaltet auch den fairen und verantwortungsvollen Umgang mit erworbenen und berechtigten Ansprüchen von Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern. Im übrigen ignoriert die Bundesregierung - auch dieser Punkt ist schon angeklungen - die Einschätzung von Experten des Bundesversicherungsamtes. Sie berückDr. Ilja Seifert sichtigt in keiner Weise den in den kommenden Jahren anstehenden erhöhten Finanzbedarf der Pflegeversicherung etwa durch die demographische Komponente sowie durch Preissteigerungen oder auch durch Lohnerhöhungen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung benutzt nun schon die Pflegeversicherung zum Stopfen von selbst geschaffenen Haushaltslöchern ({3}) und zerstört damit mehr und mehr das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere sozialen Sicherungssysteme. ({4}) Wir fordern die Bundesgesundheitsministerin daher auf, sich ihrer politischen Verantwortung für eine vernünftige, sachgerechte und zukunftsfähige Politik im Bereich der Pflegeversicherung zu stellen und sich gegenüber den Finanz- und Haushaltspolitikern, die heute für die SPD-Regierungsfraktion hier geredet haben, endlich durchzusetzen. Die Union hat als Opposition bereits im Frühjahr dieses Jahres zur Frage der langfristigen Sicherung der finanziellen Grundlage und zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Pflegeversicherung ihr Konzept auf den Tisch gelegt. Dieses Konzept lehnten Sie, Frau Fischer, und die die Regierung tragenden Bundestagsfraktionen im Mai schlichtweg ab. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, beenden Sie nach einem Jahr nun endlich Ihre Jammerei über die frühere Regierung! Diese Jammerei nimmt Ihnen ohnehin keiner mehr ab. Nehmen Sie endlich Ihre politische Verantwortung wahr! ({5}) Beenden Sie eine Rentenpolitik, die auf Kosten der Rentnerinnen und Rentner geht! Beenden Sie eine Gesundheitspolitik zu Lasten der Patientinnen und Patienten! Verhindern Sie Maßnahmen, die das System der gesetzlichen Pflegeversicherung in absehbarer Zeit aushöhlen werden und allein wieder auf Kosten der Pflegebedürftigen gehen! ({6}) Lassen Sie mich am Ende noch eines sagen: Wenn Bundeskanzler Schröder jedesmal behauptet, er habe verstanden und Sie hätten verstanden, so wage ich dies zu bezweifeln. Wer verstanden hat, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, das sind die Wählerinnen und Wähler - Gott sei Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Walter Schöler. ({0})

Walter Schöler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Kors, wenn einer die Haushaltslöcher geschaffen hat, dann war das die von Ihnen gestützte ehemalige Regierung. Wir haben diese Haushaltslöcher leider vorgefunden, und Sie müßten an und für sich vor Scham rot werden, denn jahrelang hat die von Ihnen gestellte Regierung den Menschen in die Tasche gegriffen. Das ist die Tasche, die Herr Kolb jetzt zunähen möchte. Man hat denen genommen, die sich am wenigsten wehren können, und heute bauen Sie auf die Vergeßlichkeit dieser Menschen. ({0}) Sie zeigen mit dem Finger auf uns, und Sie wollen sich zum Sozialwächter der Nation erklären. Das wird Ihnen nicht gelingen. Sie wollen hier heute ein Horrorszenario eröffnen, wenn Sie behaupten, die Pflegekassen würden um lebenswichtige Einnahmen gebracht und zerstört. ({1}) Sie wissen, Ihre Schwarzmalerei dient nicht der Klarheit, dient nicht der Wahrheit. Sie soll vielmehr die Betroffenen verunsichern, weiter Ängste schüren, wie Sie das in anderen Politikfeldern auch machen. Es wird Ihnen, meine Damen und Herren der ehemaligen Regierungskoalition, nicht gelingen, davon abzulenken, daß Sie die unsoliden Staatsfinanzen zu verantworten haben, daß die Verschuldung ein unverantwortliches Maß erreicht hat, daß die Arbeitslosigkeit, die ja Auswirkungen auf die Sozialsysteme und die Kassen hat, nicht wirkungsvoll genug bekämpft worden ist ({2}) und daß dennoch all die Menschen, auch die alten Menschen, die Sie jetzt hier als Ihre Zeugen anführen, mit unerträglich hohen Belastungen von Ihnen belegt worden sind. Das, was die alte Regierung jahrelang versäumt hat, muß jetzt die Gesellschaft - nicht wir - in einem Kraftakt schultern, ({3}) um von den Folgen Ihrer unsozialen und einseitigen Politik wegzukommen. Wir werden dafür sorgen, daß der Staat handlungsfähig bleibt. Dazu dient auch unser Zukunftsprogramm. Dem dient auch das Haushaltssanierungsgesetz, über das wir demnächst hier beraten werden, und dem dienen auch die Reformen der sozialen Sicherungssysteme. Wir werden den Menschen langfristig Sicherheit geben, denn jahrelang haben wir von Ihnen und auch von Ihren Sprachrohren immer vernommen: So kann es nicht weitergehen; es muß gespart werden, wir alle müssen den Gürtel enger schnallen, der Sozialstaat blutet aus usw. usf. Aber was haben Sie in den Jahren dagegen getan? Das müssen Sie sich jetzt fragen lassen. ({4}) - Das war im übrigen ein gemeinsames Werk, falls Sie das vergessen, sogar mit Zustimmung der F.D.P. ({5}) Vor einem Jahr haben Sie uns zum Beispiel massiv kritisiert, wir hätten in unserem Regierungsprogramm einen Finanzierungsvorbehalt. Ja, den haben wir aus guten Gründen aufgenommen. Daß er notwendig war, haben wir selber mit großem Bedauern erkannt, als nach der Regierungsübernahme der Kassensturz kam, und unsere Befürchtungen sind bei diesem Kassensturz noch weit übertroffen worden. Das Sparpaket sieht eine gerechte Verteilung der Sparmaßnahmen vor, und wir hätten uns gewünscht, auf Einsparungen im Sozialbereich verzichten zu können. Aber Einschnitte sind hier in vertretbarem Maß leider notwendig, um das Ziel zu erreichen, auch angesichts des Umfangs des Sozialhaushalts, gemessen am Gesamtetat. Sie wissen selbst, daß diese Einsparungen angesichts einer Rücklage von 9,7 Milliarden DM vertretbar sind, daß sich eine Unterdeckung der Höhe nach in Grenzen hält und ab Mitte des nächsten Jahrzehnts wieder Überschüsse zu verzeichnen sein werden. Die Beitragssenkung ist auch für uns sicherlich nicht wünschenswert, aber haushaltspolitisch notwendig und aus Sicht der Pflegekasse vertretbar. Wenn Sie heute von Plünderung dieser Pflegekasse reden, dann überziehen Sie damit maßlos, denn Sie müssen sich fragen lassen: Wer war es denn, der im Rahmen der EU-Kriterien, im Rahmen der Sicherung von Rentenbeitragshöhen an die Rücklagen der Pflegekasse heranwollte? Wer ist es denn, der, wie eben Herr Kolb, von einer Senkung des Beitrages um 0,2 Prozentpunkte redet ({6}) und dabei vergißt, daß dieser Beitrag im Grunde genommen von den Arbeitnehmern kompensiert wird? ({7}) Er ist doch überkompensiert worden. Das vergessen Sie. Ich weiß gar nicht, wie Sie, Herr Kolb, demnächst zwei Stunden des Buß- und Bettages wieder arbeitsfrei machen wollen. ({8}) Wer hat zum Beispiel die Investitionsleistungen für die Pflege Ost, jährlich 800 Millionen DM, im Jahre 1997 ausgesetzt? Ihr Finanzminister Theo Waigel war es. Wir dürfen diese Beträge in den nächsten zwei, drei Jahren zusätzlich veranschlagen. Meine Damen und Herren von der Opposition, deshalb haben Sie das Recht verwirkt, heute mahnend den Finger zu heben. Zu Ihren eigenen Vorschlägen zur Haushaltskonsolidierung: Fehlanzeige - das haben wir bei den Debatten gestern und heute wieder festgestellt. Meine Damen und Herren, die Finanzlage der sozialen Pflegeversicherung ist und bleibt stabil. Das gilt auch für den Beitragssatz, und das gilt vor allen Dingen für die Leistungen an die Versicherten, Leistungen, die nicht gekürzt werden. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, jetzt nur von Einnahmeausfällen sprechen, dann sind Sie - so muß ich Ihnen sagen - auf einem Auge blind. Denn Sie verschweigen, daß diesen vorübergehenden Mindereinnahmen der Pflegekasse nachhaltige Mehreinnahmen gegenüberstehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, die Zeit!

Walter Schöler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Wagner wollte mir seine 47 Sekunden zur Verfügung stellen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das ist leider nicht möglich.

Walter Schöler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß, nur fünf Minuten Rede. ({0}) Es sei mir noch gestattet, auf diese Mehreinnahmen hinzuweisen, die aus unserem Zukunftsprogramm und mittelbar auch aus dem Familienleistungsausgleich entstehen werden. Sie entstehen aus dem Steuerentlastungspaket, ein Paket, das wir aufgelegt haben und das Sie nie zustande gebracht haben. Meine Damen und Herren, Ihre Vorwürfe gehen ins Leere. Wir werden in den nächsten Monaten die Debatte führen. Sie werden sehen: Die Sozialsysteme werden durch uns nachhaltig gesichert werden. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nur zur Klarstellung: In der Aktuellen Stunde sind wir immer gehalten, die fünf Minuten Redezeit präzise einzuhalten. Man darf sich auch keine Zeit von anderen leihen, sondern muß seine eigene Zeit einhalten. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Aribert Wolf.

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn in Versammlungen draußen Politiker von SPD und Grünen über die Pflegeversicherung und die ohne Zweifel immer schwierige Situation von Pflegebedürftigen sprechen, dann ist viel von sozialer Verantwortung, von Mitgefühl und von Einsatzbereitschaft für die Schwachen die Rede. Aber was erleben wir hier? ({0}) Welch andere Welt im Bundestag! Hier ist der Ort, an dem wir unseren Worten und Versprechungen Taten folgen lassen müssen. ({1}) Aber wie sieht die Wirklichkeit hier aus? Wo Verbesserungen für die Pflege gefragt sind, werden wir traurige Augenzeugen, wie Schröder, Eichel und Riester die Pflegeversicherung schamlos für ihr Sparpaket ausplündern. ({2}) Gelder, die für Leistungsverbesserungen in der Pflege dringend gebraucht werden, verschwinden mit einem Trick auf Nimmerwiedersehen im Bundeshaushalt. Meine Damen und Herren, die Beitragszahler der Pflegeversicherung haben mühsam in vier Jahren 10 Milliarden DM angespart. Dieses Geld sollte als Rücklage zur Absicherung demographischer Risiken dienen und Leistungsanpassungen möglich machen. Doch statt das Geld für die zu verwenden, für die es eingezahlt wurde, beispielsweise für eine Verbesserung der Situation der Demenzkranken, wie es Bayern und Baden-Württemberg in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen haben, schallt und tönt es aus dem Kanzleramt: Geld her! Sparpaket! Meine Damen und Herren, ich finde es beschämend, mit welcher Gefühlskälte dieser Kaschmirkanzler den Schwächsten in unserer Gesellschaft die ersparten Notgroschen abknöpft. ({3}) Da mag er sein Falschspiel noch so geschickt tarnen: Wir haben den Riester-Rüssel längst erkannt. Über den Umweg der Absenkung der Bemessungsgrundlage bei der Arbeitslosenhilfe saugt Riester gierig die Rücklagen der Pflegeversicherung auf. ({4}) Jahr für Jahr dirigiert er 400 Millionen DM in den Bundeshaushalt um ({5}) Geld, das für eine menschliche Pflege dringend benötigt wird. Meine Damen und Herren von Rotgrün, woher haben Sie den Wählerauftrag für diesen Sozialraub? ({6}) Aber das paßt nur zu gut zum Bild der Neuen Mitte: dicke Zigarren und Brioni-Anzüge. All das ist wichtiger, als den Pflegebedürftigen die bitter nötigen Spargroschen zu erhalten. ({7}) Dabei hat die Pflegeversicherung nichts zu verschenken. Mein Kollege Ulf Fink hat schon auf die Berechnungsgrundlagen des Bundesversicherungsamtes hingewiesen. Ich erinnere noch einmal daran: Für 1999 ist allein in der Pflegeversicherung eine negative Bilanz zu erwarten; es ist mit einem Defizit von 20 Millionen DM zu rechnen. Angesichts solch alarmierender Zahlen sollte eigentlich ein Aufschrei des Entsetzens von der Gesundheitsministerin durchs Land hallen; denn ihr obliegt es, auf das Geld der Pflegebedürftigen aufzupassen. ({8}) Frau Fischer, was sagen Sie eigentlich einer alten Frau, die ein Leben lang schwer gearbeitet hat und keine Kraft mehr hat, ihren an Alzheimer erkrankten Mann rund um die Uhr zu Hause zu beaufsichtigen, sondern dazu fremder Hilfe bedarf und auf die Pflegeversicherung hoffte? Dieser armen Frau stellen Sie jetzt den Stuhl vor die Tür. ({9}) Ohne Moos nichts los; so ist es doch. Auch in den Pflegeheimen ist es nicht anders. Wie wollen Sie denn dort den Pflegeschlüssel wirksam verbessern, wenn Sie das dafür notwendige Geld Herrn Riester und Herrn Eichel kampflos überlassen, meine Damen und Herren? ({10}) Wie steht es denn mit Ihren Versprechungen in der Koalitionsvereinbarung? Dort steht schwarz auf weiß: Die Rücklage der Pflegeversicherung wird vorrangig für die dauerhafte Stabilisierung des Beitragssatzes verwendet. Die Bildung eines Teilkapitalstocks wird angestrebt. Aber jetzt ist das Geld futsch, und Sie mucken nicht einmal auf, Frau Fischer. Das ist bedauerlich. Das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen. ({11}) Offensichtlich hat man sich bei Rotgrün damit abgefunden, daß es bei dieser Bundesregierung und diesem Bundeskanzler auf einen Wortbruch mehr oder weniger gar nicht mehr ankommt. ({12}) Ich muß Ihnen wirklich sagen: Haben Sie von der SPD und den Grünen etwas Mumm! Lassen Sie sich nicht zum bloßen Stimmvieh von Schröder und Eichel degradieren! Zeigen Sie ein wenig Rückgrat! Kippen Sie das Sparpaket zumindest an diesem Punkt, und halten Sie wenigstens gegenüber den Pflegebedürftigen, was Sie den Menschen vor der Wahl versprochen haben. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Berninger.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wolf, man kann als Oppositionspolitiker Fundamentalopposition gegen ein Sparpaket betreiben. Das ist ja die Linie, die die CDU/CSU jetzt fährt. Erst hat sie uns den Schuldenberg hinterlassen, dann hat sie sich nicht mehr darum geschert, und nun betreibt sie Fundamentalopposition. Aber bei den Menschen den Eindruck zu erwecken, wir würden mit diesen Maßnahmen die Pflegeversicherung abschaffen - Herr Kollege Wolf, hören Sie einen Moment zu; wir haben Ihnen auch ruhig zugehört -, halte ich persönlich für eine bodenlose Unverschämtheit. ({0}) Herr Kollege Wolf, man kann Fundamentalopposition gegen ein Sparpaket betreiben, auch wenn man selbst für den Schuldenberg verantwortlich ist. Sich aber hier hinzustellen und so zu tun, als würden sich durch diese Maßnahmen die Leistungen für die Pflegebedürftigen in irgendeiner Form ändern, finde ich persönlich bodenlos unverschämt. ({1}) Und, Herr Kollege Wolf: Man kann sich hier hinstellen und Leistungsausweitungen in der Pflegeversicherung fordern. Sie aber in der eigenen Regierungszeit nicht durchgesetzt zu haben finde ich mindestens genauso unverschämt. ({2}) Mich regen einige Krokodilstränen, die in dieser Debatte geflossen sind, ungeheuer auf. Die F.D.P. ist die Partei, die Leistungsausweitungen in der Pflegeversicherung verhindert hat. ({3}) Wenn es nach denen gegangen wäre, hätte es keine Pflegeversicherung gegeben. Dann würden wir eine völlig andere Debatte führen. ({4}) - Den Streit zwischen Ihnen beiden habe ich schon mitbekommen. Meine Damen und Herren, wenn wir Ihren Weg weiterverfolgen und entsprechend weiterdiskutieren, dann werden wir ein Ziel nicht erreichen: Wir werden diesen Haushalt nicht ins Gleichgewicht bringen. Das Ziel dieser Bundesregierung ist es, die hohe Verschuldung und die dadurch hohe Zinsbelastung des Bundes zurückzufahren. 83 Milliarden DM gehen Jahr für Jahr nur für die Bedienung der Schulden drauf. Ein Viertel aller Steuereinnahmen geht verloren, nur um die Schulden, die Sie uns hinterlassen haben, zu zahlen. Unser Ziel ist es, den Haushalt ins Gleichgewicht zu bringen, die Nettoneuverschuldung auf Null zu fahren. Dazu - das räume ich gerne ein - sind auch Maßnahmen nötig, die nicht der reinen Lehre entsprechen und über die wir uns nicht freuen. Die Ministerin, aber auch alle anderen Rednerinnen und Redner der Regierungsfraktionen haben deutlich gemacht, daß wir selbstverständlich sehen, daß 400 Millionen DM weniger Rücklagen in der Pflegeversicherung vorhanden sind. Aber - ich komme zu dem zurück, was am Anfang der Debatte gesagt wurde, Herr Kollege Fink - es stimmt nicht, daß Pflegebedürftige in uns keine Lobby haben. Sie können uns trotz aller Polemik abnehmen: Sie haben in uns eine große Lobby. Ministerin Fischer wird kreativ daran arbeiten, Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung für diejenigen Menschen, die es nötig haben, durchzusetzen. Die Koalition wird unsere Ministerin darin unterstützen. ({5}) Es geht um etwas anderes: In uns haben die Beitragszahler insgesamt endlich eine Lobby. In den letzten acht Jahren haben Sie den Beitragszahlern im Rahmen der Sozialversicherung Mehrbelastungen von insgesamt 10 Prozent zugemutet. Das Ziel dieser Bundesregierung ist es, die Beiträge stabil zu halten bzw. sie sogar zu senken, damit Arbeit wieder billiger wird und ein weiteres wichtiges Ziel erreicht wird, nämlich die Arbeitslosigkeit in diesem Lande zu bekämpfen. Das gibt mir Anlaß, auf eines hinzuweisen: Ich halte es für ein gutes Zeichen, wenn die Beiträge für die Krankenversicherung in diesem Jahr nicht weiter steigen. ({6}) Ich finde, das ist eine Leistung, was Ministerin Fischer vollbracht hat. Sie wissen aus Ihrer Amtszeit, wie schwer es ist, Beitragsstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erreichen. ({7}) Ich halte es für eine gute Leistung, daß es der Bundesregierung mit Hilfe der Ökosteuer gelungen ist, die Beiträge zur Rentenversicherung abzusenken. Das sind Dinge, die in Ihrer Regierungszeit überhaupt nicht denkbar und möglich gewesen wären. Ich freue mich darüber, daß das geklappt hat. Bei uns haben also die Beitragszahler insgesamt eine Lobby, und unser Ziel ist die Beitragssatzstabilität. Vorhin wurde gesagt, Ministerin Fischer habe nicht für die Pflegeversicherung gekämpft. Herr Kollege Wolf, ich kenne Andrea Fischer ganz gut. Ich kann Ihnen versichern: Sie hat ziemlich gekämpft. Nur, sie hat sich nicht ganz durchsetzen können, weil wir vor einem riesigen Problem stehen: Wir müssen die Staatsausgaben in diesem Lande zurückfahren, um Schulden abzubauen. ({8}) Wir in der Koalition müssen unangenehme Entscheidungen treffen. Sie können dagegen opponieren. Aber ich garantiere Ihnen: Die Menschen werden es uns danken, wenn wir den Haushalt wieder ins Gleichgewicht bringen. ({9}) - „Das sehen wir bei den Wahlen“, sagt er. Er ist zum erstenmal in diesem Parlament. Ich kann mich an viele Wahlen erinnern, die wir gewonnen haben, Herr Kollege. Dann haben wir uns zurückgelehnt, ({10}) die Realitäten weiter verleugnet und haben gedacht: Kohl ist übernächste Woche nicht mehr da. Das hat so nicht geklappt. Ich weiß wohl, daß die Menschen im Moment einige Probleme mit uns haben. ({11}) Aber ich weiß eines auch: Die Menschen sind mehrheitlich dafür, daß wir die Ausweitung der Staatsausgaben so nicht weiterführen, daß wir den Haushalt konsolidieren. Ich bin ganz sicher, daß uns die Menschen dies danken werden. Ich bin auch sicher, daß die finanzielle Basis der Pflegeversicherung nach wie vor auf einem derart hohen Niveau ist, daß wir eine dauerhafte Sicherung der Pflege in Deutschland garantieren können, ({12}) wenngleich wir alle gemeinsam wissen, Frau SchnieberJastram, daß in der langfristigen Perspektive auf Grund der demographischen Entwicklung - die geringere Rücklage in Höhe von 400 Millionen DM ist da keine maßgebliche Stellgröße - Probleme sowohl auf die Pflegeversicherung als auch auf die Rentenversicherung zukommen. Das gibt mir Anlaß, Sie um eines herzlich zu bitten, und zwar darum, wieder zu der Politik zurückzukehren, die Sie in der letzten Wahlperiode gemacht haben. Da haben Sie die Realitäten der Rentenversicherung, den demographischen Wandel und die Belastungen, die auf die Rentenversicherung zukommen, anerkannt. ({13}) Sie sollten jetzt nicht den Fehler machen, weiterhin Fundamentalopposition zu betreiben. Wenn Sie die demographische Entwicklung als Problem ernst nehmen, dann sollten Sie sowohl in der Rentenpolitik als auch in der übrigen Politik zu einem konstruktiven Dialog zurückkehren. ({14}) Sie sollten nicht den Fehler machen, weiterhin billigem Populismus das Wort zu reden. Vielen Dank. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Berninger, wenn man Sie so reden hört, dann ist festzustellen: Das Ziel, das Sie haben, ist richtig. Auch wir haben dieses Ziel. ({0}) Nur, das Werkzeug, das Sie in die Hand nehmen, um dieses Ziel zu erreichen, ist für jeden Handwerker eine Beleidigung. Das ist das Problem, das Sie haben. ({1}) Auch bei diesem Thema wird das verkehrte Werkzeug in die Hand genommen. Ich gehöre dem Bundestag seit 1990 an. Ich habe damals in der entsprechenden Kommission meiner Fraktion mitgearbeitet, in der wir die Pflegeversicherung durchgesetzt haben. Die Pflegeversicherung war in ihren Inhalten nie umstritten. Heiß umstritten war, wie man sie finanziert. Deswegen haben Norbert Blüm und viele andere in der CDU, liebe Kollegin Fischer, immer darauf geachtet, daß wir die Finanzen bei der Pflegeversicherung solide voreinander haben. Es hat ja genug gegeben, die uns gewünscht haben, daß die Pflegeversicherung schon nach einem Jahr vor die Wand gefahren wäre. Ich kann mich daran erinnern, daß von manchen im Parlament gesagt worden ist, wie unfinanzierbar eine soziale Pflegeversicherung ist. Ich war immer ein leidenschaftlicher Anhänger der sozialen Pflegeversicherung. Wir werden sie aber nur behalten, wenn wir gerade in diesem System sehr auf die Finanzen achten. Dadurch, daß wir drei Monate eher Beiträge erhoben haben, als Leistungen erbracht worden sind, und daß in den letzten Jahren immer ein bißchen weniger ausgegeben worden ist, als man eingenommen hat, haben wir erreicht, daß eine Rücklage da ist. Sie wissen alle, daß das auf Grund von verschiedenen Entwicklungen kippt. Die stationäre Pflege wird häufiger in Anspruch genommen als die ambulante; da steigen die Kosten. Das hat direkt mit den Ausgaben der Pflegeversicherung zu tun. Daß man den Beitrag des Staates, den er für Arbeitslosenhilfebezieher zahlt, für die Krankenkasse bei 80 Prozent beläßt, wie es immer war, und bei der Pflegeversicherung auf den tatsächlichen Zahlbetrag bringt, ist nun wirklich unmöglich. ({2}) Ich sage Ihnen: Wenn Norbert Blüm noch für die Pflegekasse zuständig wäre, wäre das nicht passiert. ({3}) Die Sozialpolitiker bei SPD und Grünen sollten, damit das System soziale Pflegeversicherung nicht beschädigt wird, bei den Beratungen in der Fraktion alles daransetzen, einen anderen Hebel zu finden. Ich weiß doch, wie das ist, wenn eine Regierung ein Sparpaket macht: Die Gesamtvolumina müssen erbracht werden. Ich habe ja auch Sparpakete mitgemacht. ({4}) Ich denke, man sollte bei dieser Frage noch einmal nachdenken. Wir sollten das Image der Sozialversicherung - da geht es nämlich um mehr - nicht verletzen. Wir müssen einen weiteren Punkt im Auge haben. Irgendwann werden wir bei der Pflegeversicherung einmal die Leistungen erhöhen müssen. Durch Preissteigerungen bei den Pflegestunden bekommen die Leute für das Geld, das sie konstant seit einigen Jahren zahlen wir haben die Beiträge nie erhöht -, immer weniger Pflegeleistungen. Wir müssen aufpassen, daß die Leistungen in der Pflegeversicherung und die Leistungen, die wir in der Beihilfe für Pflege haben, nicht zu weit auseinandergehen. Bei der Beihilfe ist das wie folgt geregelt: In der Pflegestufe I sind es 30 ambulante Pflegeeinsätze, in der Pflegestufe II sind es 60 und in der Pflegestufe III dann 90. Dort bekommt man also nach wie vor 90 Pflegesätze, auch wenn die Preise steigen. Derjenige aber, der in der gesetzlichen Pflegeversicherung ist, bekommt heute keine 90 Pflegesätze, sondern kann sich allenfalls noch 78 kaufen. Wenn Sie jetzt das Geld für den Staatshaushalt verfrühstücken, ({5}) dann machen Sie diesen Unterschied immer größer. ({6}) Darauf müssen Sie achten! Sie sind wirklich auf dem Weg - das muß man ganz klar sagen -, beitragsfinanzierte Leistungen stärker zu belasten, damit Sie steuerfinanziert etwas in den Griff bekommen. Ich sage Ihnen: Es ist nicht mehr als recht und billig, daß auch diejenigen, die über die Beihilfe eine verdammt gute Absicherung in der Pflege haben als Beamte über die Steuergelder zumindest für die Arbeitslosen einen reelen Beitrag in die Pflegeversicherung entrichten. ({7}) Das wird aber durch Sie und Ihre Mehrheit zerstört. Kehren Sie auf diesem schlimmen Weg, den Sie eingeschlagen haben, um! Danke schön. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Kann ich dem nächsten Redner das Wort geben? ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulf Fink.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte doch gerne auf zwei, drei Punkte eingehen. Das eine Argument, das Sie, Frau Fischer, verwendet haben, war, der Vorwurf der Unsystematik treffe nicht zu. Dann frage ich Sie aber: Wie können Sie es denn vertreten, daß die Arbeitslosenhilfe die Beiträge für die Krankenversicherung der Arbeitslosenhilfeempfänger auf der Basis von 80 Prozent des früheren Bruttolohns zahlt, daß aber die Beiträge für die Pflegeversicherung der Arbeitslosenhilfeempfänger nur auf Grund von 53 Prozent des Nettoentgelts gezahlt werden? Können Sie mir irgendeine sachliche Begründung dafür nennen, warum das in dem einen Fall so und in dem anderen Fall anders geregelt wird? Dies ist doch erkennbar lediglich dem Umstand zu verdanken, daß das eine Mal, nämlich bei der Gesundheitsreform, für Sie die Notwendigkeit bestand, die Leute einigermaßen beieinanderzuhalten, die es Ihnen nicht verziehen hätten, wenn Sie ihnen einen Milliardenausfall oktroyiert hätten, während Sie das andere Mal gedacht haben: Na, da sind ja noch 9,5 Milliarden DM! Die Haushaltspolitiker der SPD haben auch gerade zugegeben, daß das nach dem Motto „Da kann man es schon einmal machen“ ging. Das hat mit Ordnungspolitik, mit Sozialpolitik überhaupt nichts zu tun. Das steht damit in keinem sachlichen Zusammenhang. ({0}) Das ist auch der Grund dafür, weshalb hierzu kein einziger Sozialpolitiker der SPD geredet hat. ({1}) Dies waren vielmehr zwei Haushaltspolitiker, weil sich auch bei Ihnen die Sozialpolitiker ganz offensichtlich dafür schämen, daß so etwas gemacht wird. ({2}) - Lieber Herr Andres, warum hat keiner von Ihnen dazu geredet? Keiner von Ihnen hat dies verteidigt, denn es ist nicht zu verteidigen. Zweiter Punkt. Das sage ich jetzt zu Ihren Wirtschafts- und Finanzpolitikern: Es wäre noch eine einsichtige Argumentation zu sagen: Es muß auch bei der Pflegeversicherung etwas getan werden, damit die Haushaltszahlen zu einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Das wäre eine mögliche Argumentation. Herr Berninger hat es probiert. Aber diese Argumentation wäre nur dann schlüssig, wenn sich dadurch irgend etwas bei den Staatsausgaben oder dem Staatsdefizit insgesamt ändern würde. Aber genau das tritt nicht ein. Durch Ihre Operation erreichen Sie nur, daß der Bund um 400 Millionen DM pro Jahr entlastet wird. Sein Ausgabengebaren wird dadurch überhaupt nicht verändert. Dagegen fällt bei der Pflegeversicherung das Defizit um 400 Millionen DM höher aus, als wenn Sie es nicht gemacht hätten. An den Ausgaben der Pflegeversicherung ändert sich auch nichts. Das heißt, daß lediglich eine Umschichtung des Gesamtstaatsdefizits vom Bund auf die Pflegeversicherung stattfindet. Das ist volkswirtschaftlich in keiner Weise von Belang. Das Ergebnis ist dasselbe wie vorher. Sie haben nicht einmal die geringste Aussicht, daß sich durch diese Operation an der wirtschaftlichen Entwicklung irgend etwas ändert. Das einzige, was bei dieser Operation geschieht deshalb können Sie auch nicht die Argumente des Sparens oder der Konsolidierung für sich in Anspruch nehmen -, ist, daß Sie ein grundlegendes Prinzip verletzen, nämlich daß man nicht in anderer Leute Kasse greifen sollte. ({3}) Das ist - um es einmal ganz klar zu sagen - ein reiner Diebstahl an den Pflegeversicherten und den Pflegebedürftigen, der jetzt stattfindet. Das ist nichts anderes. ({4}) Der Diebstahl ist durch nichts anderes als durch die Tatsache zu begründen, daß Sie sagen: Es fällt uns leichter, bei den Pflegebedürftigen zuzugreifen, da diese keine so starke Lobby haben, während die andere Seite, nämlich Bund und Krankenversicherungen, eine starke Lobby haben, so daß Sie sagen: Hier können wir es uns nicht so leisten. ({5}) Nein, meine Damen und Herren, dies ist ein ganz schlimmer Verstoß. Wir müssen alles daran setzen, daß Sie daran gehindert werden, eine solche Politik, die sowohl auf wirtschaftlichem wie auch auf sozialem Gebiet versagt, weiter durchzusetzen. ({6}) Wir müssen Sie daran hindern, daß Sie solch eine schlechte Weichenstellung in der sozialen Entwicklung vornehmen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft - Schlechtwettergeldgesetz ({0}) - Drucksache 14/1516 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Verkehr, Bau und Wohnungswesen Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus Wiesehügel.

Klaus Wiesehügel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003263, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 30. Juni dieses Jahres haben wir noch in Bonn beschlossen, ein Gesetz zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft, besser bekannt unter dem Namen Schlechtwettergeldgesetz, einzubringen. Grundlage dieses Gesetzes ist ein Zehnpunkteprogramm, auf das sich die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes und die Bundesregierung geeinigt haben. Das liegt uns heute in erster Lesung vor. Ich will hier die Gelegenheit nutzen, auf die Eckpunkte, die diesem Gesetzentwurf zugrunde liegen, einzugehen, und möchte in diesem Redebeitrag auch auf die zahlreichen Kritikpunkte eingehen, die mir in der Zwischenzeit bekannt geworden sind. Ich will versuchen, sie hier abschließend zu widerlegen. Meine Damen und Herren, beim ersten Punkt handelt es sich um die Beibehaltung des sogenannten Dreisäulenmodells. Das heißt, es geht um die gemeinsame Finanzierung durch die Tarifvertragsparteien. Arbeitsmarktpolitisch ist dies immer schon notwendig gewesen und hat in der Vergangenheit bis zum Jahre 1995 hervorragende Früchte für die durchgängige Beschäftigung der Arbeitnehmer im Baugewerbe erbracht. Ich habe vor kurzem anläßlich einer Veranstaltung mit dem ehemaligen Minister Georg Leber sprechen können und habe mit ihm die Beweggründe, die ihn und die damalige Bundesregierung unter Führung von Konrad Adenauer dazu veranlaßt haben, ein Schlechtwettergeldgesetz zu verabschieden, erörtert. Er hat mir ganz deutlich gesagt, daß es damals allen Beteiligten darum ging, zu verhindern, daß es zur Winterarbeitslosigkeit kommt. Jeder, der an dieser Schlechtwettergeldregelung kratzt, der vom Dreisäulenmodell abweicht und versucht, eine der Säulen zum Absturz zu bringen, muß Arbeitslosigkeit in dem Maße produzieren, wie es vor dem Gesetz der Fall gewesen ist. Dies ist dann auch passiert. Als dieses Gesetz 1995 durch Sie, die damals an der Regierung waren, beseitigt wurde, stieg die Arbeitslosigkeit im Baugewerbe sprunghaft an. Das Schlimme war nicht nur, daß eine große Arbeitslosigkeit entstand, sondern auch, daß diese Änderung wider besseren Wissens geschah. Wir hatten Ihnen das damals klar und deutlich gesagt. Dennoch haben Sie das getan, weil Sie damals in Zwängen gesteckt haben, aus denen Sie nicht herauskamen. Zum Schluß haben sich unsere Prognosen bewahrheitet: Das Ganze hat erheblich mehr Geld gekostet, als Sie tatsächlich einsparen konnten. Pro Winter sind insgesamt 2 Milliarden DM ausgegeben worden; 700 Millionen DM wollten Sie eigentlich einsparen. ({0}) Die Flexibilisierung - das ist der zweite Punkt bleibt im Grundsatz erhalten. Während der ganzen Debatte dieses Jahres haben Sie hier Ihre wesentliche Kritik angesetzt. Überall war zu hören: Die Flexibilisierung im Baugewerbe wird durch eine neue Schlechtwettergeldregelung abgeschafft. Dies war völliger Blödsinn und zeigte, wie wenig Sie sich damals wie heute mit der Materie beschäftigt haben. Diese Flexibilisierung bleibt vollumfänglich erhalten - ich komme darauf gleich noch einmal zurück -; sie wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf sogar noch stabilisiert und verbessert. Es war Wunsch beider Tarifvertragsparteien, diese Flexibilisierung beizubehalten, weil auch das Baugewerbe eine moderne, flexibilisierte Arbeitszeit braucht, weil nur so die Chance besteht, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein ganzjähriges Einkommen zu sichern. Der nächste Punkt, auf den ich eingehen will, betrifft den Eigenbeitrag der Arbeitnehmer, der von 50 auf 30 Stunden reduziert wurde. Auch das wurde kritisiert. Ich will hier noch einmal sehr deutlich machen, warum das nötig ist: Unternehmen, die geglaubt haben, ihre Auftragslage hänge überwiegend von dem Bereich ab, den man den geschützten Bau nennt, also vom Innenbau, und die deswegen keine Vorsorge geleistet haben, aber plötzlich noch einen Rohbauauftrag bekommen, wodurch sie von dieser Regelung betroffen sind, können bei einem Anteil von 30 Stunden erheblich schneller und flexibler in diese Regelung einsteigen, als es bei 50 Stunden möglich ist. Von daher ist auch diesen Betrieben die Möglichkeit gegeben, von dem Gesetz in vollem Umfang zu partizipieren. Meine Damen und Herren, zukünftig wird von der 31. bis zur 100. Stunde ein Winterausfallgeld aus der Winterbauumlage gezahlt. Aus dieser Umlage - das ist das Bedeutende und ganz Entscheidende an diesem Gesetz - werden auch die Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung gezahlt. Dies ist besonders wichtig, weil auch durch den Reparaturversuch, den die alte Bundesregierung unternommen hat, als sie gemerkt hatte, welchen Schaden sie angerichtet hat - sie hat deshalb einen neuen, ergänzenden Tarifvertrag gefordert -, Arbeitslosigkeit nicht auf Dauer verhindert werden konnte; denn die Unternehmen kamen in die Situation, daß sie dann, wenn sie die Menschen nicht entlassen haben - vor allem in der liquiditätsschwachen Zeit im Winter -, für jede Stunde, in der Schlechtwettergeld gezahlt wurde, auch Sozialversicherungsbeiträge aufbringen mußten, die sich zum Schluß in einer Größenordnung von fast 8 DM pro Stunde bewegten. Bei einem kleinen Handwerker ist es meistens so, daß er von der Hand in den Mund lebt. Es ist bekannt, daß die Unternehmen aus dem Baugewerbe keine große Eigenkapitaldecke haben oder Vorsorge für die liquiditätsschwache Zeit im Winter treffen können. Entlassungen sind dann notwendig, weil den zu zahlenden Sozialversicherungsbeiträgen keine Leistungen gegenüberstehen. Dies wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf repariert. Dort ist vorgesehen, daß die Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang erstattet werden. Es gibt noch einen anderen wesentlichen Vorteil unseres Gesetzentwurfs: Die zu erstattenden Sozialversicherungsbeiträge werden nicht aus den öffentlichen Kassen, sondern aus der Umlage finanziert. Diese Beiträge fließen tatsächlich in die Renten- und Krankenversicherung. Damit erhalten die Sozialversicherungsträger bares Geld. Das ist ein wesentlicher Vorteil, auf den ich hier deutlich hinweisen möchte. Die Winterbauumlage beträgt unverändert 1,7 Prozent der Bruttolohnsumme. In der Vorbereitung zu unserem Gesetzentwurf gab es eine Diskussion, die mich an manchen Stellen sehr verwundert hat. Ich habe immer gesagt, daß die Auswirkungen des neuen Gesetzes nicht erheblich teurer werden als die der bisherigen Regelungen. Vielleicht kann man es sogar schaffen, daß die Kosten, die das neue Gesetz verursacht, genauso hoch sind wie die, die ursprünglich festgelegt worden waren. So ist es jetzt auch eingetreten: Auch nach dem neuen Gesetz beträgt die Winterbauumlage 1,7 Prozent der Bruttolohnsumme. Es wird damit noch mehr bewegt. Ich habe ja Verständnis dafür gehabt, daß manche Arbeitgeber dagegen waren. Sie sprachen sogar davon, daß die Winterbauumlage 3,5 Prozent der Bruttolohnsumme betragen müsse. Dies sei noch der unterste Rand. Ich habe sogar gelesen, daß sie bei 10 Prozent liegen sollte. Sie haben diese Zahlen nur nachgeplappert, nachdem Sie Post von Ihren Arbeitgeberfreunden erhalten hatten. Sie haben weder damals noch heute selber gerechnet. ({1}) Das ist das Problem, wenn Sie an solche Dinge herangehen. Ab der 101. Ausfallstunde wird das Winterausfallgeld von der Bundesanstalt für Arbeit finanziert. Dadurch werden die Belastungen für die Baubranche reduziert. Die Bundesanstalt hat dadurch einen Mehrbedarf von 55 Millionen DM. Das sind die Kosten, die durch das neue Gesetz entstehen. In diesem Haus und an anderen Stellen ist schon mehrfach behauptet worden, daß für diese Neuregelung tief in die Tasche der öffentlichen Hand gegriffen werden muß. Dies ist völliger Unsinn. Die 55 Millionen DM decken sich automatisch, wenn man bedenkt, daß für einen Bauarbeiter, der drei Monate arbeitslos gewesen ist, 7 300 DM aufgebracht werden müssen. Dies ist ein Erfahrungswert, den wir aus den vergangenen Wintern abgeleitet haben. Wenn Sie die Zahl von 7 300 DM nur mit der Zahl von 8 000 arbeitslosen Arbeitnehmer multiplizieren, dann liegt die Summe schon deutlich über den 55 Millionen DM. Ich rechne damit, daß von den 160 000 Bauarbeitern, die im letzten Jahr arbeitslos waren, mindestens die Hälfte wenn die Regelung vernünftig und mit gutem Willen umgesetzt wird - nicht mehr arbeitslos sein wird. Das bedeutet also sogar einen erheblichen Gewinn für die Bundesanstalt für Arbeit. Die Neuregelung ist auch arbeitsmarktpolitisch richtig. Die 55 Millionen DM an Mehrbedarf werden in vollem Umfang gedeckt. Darauf möchte ich hier hinweisen. Ich hoffe, daß Sie zumindest diesmal in der Lage sind, richtig zu rechnen. Damals haben Sie falsch gerechnet. Mit unserem Gesetzentwurf wird eine weitere Neuerung eingeführt, die in den alten Gesetzen nicht enthalten war, aber notwendig ist, nämlich das Verbot der witterungsbedingten Kündigung. Sie kann erst jetzt eingeführt werden, nachdem schon sehr viel in der Branche kaputtgeschlagen wurde. Die Tarifvertragsparteien haben schon immer das Verbot der witterungsbedingten Kündigung im allgemeinverbindlichen Tarifvertrag festgelegt. Nur, heutzutage halten sich leider nicht mehr allzuviele Arbeitgeber an den Tarifvertrag. Sie werden dazu auch immer wieder aufgefordert: Wenn man wie der Wirtschaftsminister von Sachsen, Herr Schommer, täglich zum Tarifbruch auffordert, dann darf man sich nicht wundern, daß die Tarifverträge nicht mehr die Kraft entfalten, die ihnen ursprünglich innewohnte. Jetzt wird dieser Tarifvertrag durch eine entsprechende arbeitsmarktpolitische Maßnahme, die äußerst sinnvoll ist, ergänzt. Wer nun den Tarifvertrag bricht und dennoch kündigt, der kündigt in einer Zeit, in der die Kündigung eigentlich verboten ist, und er muß der Bundesanstalt für Arbeit und damit der Allgemeinheit den Schaden erstatten. Das ist das Neue und auch das Gute in dem Gesetzentwurf. Ich bin mir sicher, daß das Gesetz in diesem Punkt tatsächlich wirkt. Daß eine solche Regelung Teil des Gesetzes werden muß, hat noch einen anderen Grund. Daß die Arbeitgeber, aufgehetzt von vielen Ihrer politischen Freunde, die Arbeitgeberverbände verlassen, hat noch einen anderen, sehr großen Nachteil. Es geht nicht nur darum, daß man sich den Tarifverträgen entziehen kann. Arbeitgeberverbände haben nicht nur die Funktion, Verhandlungen über Tarifverträge zu führen und für die Tarifverträge verantwortlich zu sein; Arbeitgeberverbände haben auch die Funktion, ihre Mitglieder zu informieren. Indem Teile der CDU mit unverantwortlichen Reden die Menschen dazu bringen, die Arbeitgeberverbände zu verlassen, haben wir es mit großen uninformierten Arbeitgebergruppen zu tun, besonders in den neuen Bundesländern. Kein Mensch sagt diesen Arbeitgebergruppen, wie neue Gesetze funktionieren, was hinter neuen Gesetzen steht und wie sie sich darauf einzurichten haben. Deswegen kommen wir gar nicht darum herum, jetzt entsprechende Maßnahmen durchzuführen. Durch Ihre damalige Streichung des Schlechtwettergeldes ist so viel Schaden entstanden, daß dieses Gesetz hoffentlich schon im nächsten Winter erheblich wirkt. Ich hoffe, daß wir in der Lage sind, diejenigen Informationen, die jetzt nicht über die Verbände fließen, dann über die Bundesanstalt für Arbeit zu vermitteln. Die Winterbauausschüsse waren immer ein Instrument, die Zahlung von Schlechtwettergeld, ganzjährige Beschäftigung und ganzjähriges Einkommen umzusetzen und arbeitsmarktpolitisch in diesem Sinne zu wirken. Sie haben auch diese Winterbauausschüsse abgeschafft. Ich habe bis heute nicht begriffen, warum Sie das getan haben und was Sie daran gestört hat, daß sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam mit der Bundesanstalt für Arbeit in Drittelparität zusammengesetzt und überlegt haben, wie die schwierige Zeit des Winters zu überbrücken ist und welche Maßnahmen man ergreifen kann, um die Arbeitnehmer in Arbeit zu halten. Wir reparieren das, was dadurch kaputtgegangen ist, daß die Winterbauausschüsse abgeschafft worden sind. Die Winterbauausschüsse werden wieder eingerichtet, und sie sind als arbeitsmarktpolitisches Instrument diesem Gesetzentwurf hinzugefügt, damit die Menschen vor Ort, die sich mit der Situation am besten auskennen, die die jeweilige Witterungssituation kennen, die wissen, welche Sorgen die Betriebe haben, die wissen, wie die Situation der Arbeitnehmer aussieht, zusammen mit den Winterbauausschüssen tatsächlich in der Lage sind, die Dinge so zu regeln, daß möglichst wenig Menschen arbeitslos werden. Ein anderer Punkt - ich habe schon vorhin einmal auf ihn hingewiesen - ist die Flexibilisierung. Wir haben sie ausgedehnt. Mit der Summe der 1,7 Prozent der Umlage, die ursprünglich überhaupt nicht ausreichen sollte, schaffen wir ein zusätzliches Instrument zur Flexibilisierung. Zukünftig wird es so sein, daß jedem, der im Sommer Überstunden gemacht hat, im Rahmen einer großen Flexibilisierung 2 DM im Winter, wenn die Überstunden zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und zur Inanspruchnahme dieser Regelung genommen werden, zusätzlich vergütet werden. Für diese Flexibilisierung habe ich mich immer klar und deutlich ausgesprochen. Diejenigen Unternehmen, die das begriffen haben - es sind einige -, machen schon jetzt in den Betrieben Werbung und vereinbaren mit den Betriebsräten wesentlich mehr Flexibilisierungsmodelle als früher, weil die entsprechenden Anreize vorhanden sind. So ist es gedacht: Gesetze müssen Anreize schaffen. Diese Anreize sind von den Tarifvertragsparteien eingebracht worden, und diese Anreize werden hoffentlich so wirKlaus Wiesehügel ken, daß wir uns zukünftig über Winterarbeitslosigkeit nicht mehr unterhalten müssen. Dieser Gesetzentwurf soll die Dinge entsprechend regeln. ({2}) Es ist immer wieder der Gedanke in die Diskussion eingebracht worden, tarifvertragliche Regelungen gingen vor und als Gesetzgeber dürfe man nicht eingreifen, man solle die Tarifpartner die Probleme alleine klären lassen. Dieser Gesetzentwurf ist so konzipiert, daß er nicht in die Tarifverträge eingreift. Kenner der Materie wissen, daß wir in unterschiedlichen Branchen, die von schlechtem Wetter betroffen sind, verschiedene Tarifverträge haben. Es handelt sich nicht nur um das Baugewerbe, sondern auch um das Gerüstbaugewerbe, um das Dachdeckergewerbe und um den Garten- und Landschaftsbau. Alle diese Tarifverträge können in ihrer Verschiedenheit in vollem Umfang funktionieren, und trotzdem kann die Ihnen heute vorliegende Regelung dort angewandt werden. Damit ist in diesem Bereich der Beweis gelungen, daß die Arbeit der Tarifvertragsparteien mit der Gesetzgebung gekoppelt werden kann, so daß arbeitsmarktpolitisch Erfolg erzielt werden kann. Ich zumindest, meine Damen und Herren, bin davon überzeugt, daß dieses neue Gesetz seinen arbeitsmarktpolitischen Aufgaben nachkommen wird und damit erneut beschäftigungspolitischer Schaden, den die alte Bundesregierung ja in großem Umfang verursacht hat, behoben wird. Darüber bin ich froh, denn ich habe ziemlich lange darauf gewartet, daß das kommt. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Hans-Peter Friedrich.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Durch die Vorlage dieses Gesetzentwurfes, den Sie wahrheitswidrig Gesetzentwurf zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft nennen, wird einmal mehr deutlich, in welch unglaublichem Maße Sie die Menschen vor der Wahl in die Irre geführt haben. Jetzt, ein Jahr nach der Wahl, backen Sie ganz kleine, aber leider ungenießbare Brötchen. Deswegen brauchen Sie sich überhaupt nicht zu wundern, wenn Ihnen die Menschen von einer Wahl zur anderen die Quittung für Ihre Unwahrhaftigkeit erteilen. ({0}) Herr Kollege Wiesehügel, ich wundere mich schon über Ihre Rede. Sie waren, wenn ich mich richtig erinnere, einer von denjenigen, die sich im April, also sieben Monate nach der Wahl, noch an die Parolen erinnert haben, die man vor der Wahl ausgegeben hatte. Sie wollten, wenn ich es richtig in Erinnerung habe - vielleicht haben die Zeitungen da ja etwas völlig Falsches geschrieben ({1}) wieder ein Winterausfallgeld ab der ersten Arbeitsstunde einführen. Heute wissen Sie davon offensichtlich nichts mehr. Gegen Ihre Versprechen, Herr Wiesehügel, an die Sie offensichtlich geglaubt haben, hat aber auch schon im April gesprochen, daß sie weit von der Realität in der deutschen Bauwirtschaft, die von Konkurrenzdruck und Wettbewerb bestimmt ist, entfernt waren. ({2}) Durch ihren Gesetzentwurf bestätigt die Regierungskoalition im Grunde genommen - Sie haben das ja vorhin ausgeführt - das von der Kohl-Regierung reformierte und flexibilisierte Dreisäulenmodell. Dieses Modell steht gleichsam symbolisch für die Richtung, in die die Reformen unseres Sozialstaates und unserer sozialen Marktwirtschaft gehen müssen. Erste Säule: Jeder muß im Rahmen des ihm Möglichen und ihm Zumutbaren Arbeitslosigkeit und Verdienstausfall vermeiden. ({3}) Die Bauarbeiter haben dieses Prinzip begriffen und akzeptiert, weil damit der richtige Weg aus der Arbeitslosigkeit aufgezeigt wurde: während des Jahres Überstunden ansammeln, sie in der Schlechtwetterperiode einsetzen und dadurch Lohnausfall mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen vermeiden. Wenn ich es richtig einschätze, hat das ja auch funktioniert. Der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes gibt an, daß zwei Drittel der Baubetriebe Arbeitszeitkonten führen, was sie, wie Sie sagten, immer wollten. Beim Hauptverband der Deutschen Bauindustrie heißt es, sogar 88 Prozent der Unternehmen hätten solche Arbeitszeitkonten. Zweite Säule: Ab einer gewissen zumutbaren Eigenleistung muß die nächstgrößere Einheit, nämlich der Zusammenschluß der Unternehmen in einer Branche, einen Ausgleich finden, also zum Beispiel durch eine Winterbauumlage Solidarität der Branche beweisen. Für diese ersten beiden Stufen brauchen die Tarifpartner noch nicht einmal gesetzliche Regelungen. Das könnten sie eigentlich im Rahmen ihrer Tarifautonomie selber lösen. Deswegen wundere ich mich, daß Sie als Gewerkschafter mehr kleinlaut sagen, Sie griffen gar nicht in Tarifverträge ein. Sie sollten diese Möglichkeiten zur Flexibilisierung selber nutzen. Die dritte Säule greift dann, wenn es ganz schlimm kommt, wenn es harte Winter oder kaum Winterbautätigkeit in klimatisch schwierigen Bereichen gibt. Vor allem in den Mittelgebirgen, wo die Winter sehr hart und sehr lang sind, im Thüringer Wald oder im Bayrischen Wald, haben wir natürlich Schwierigkeiten. Hier ist die Solidarität aller gefordert, erst hier kommt das beitragsfinanzierte Winterausfallgeld zum Zuge. ({4}) Diese drei Stufen der Subsidiarität gilt es zu stärken, denn sie haben dazu beigetragen, daß die WinterarKlaus Wiesehügel beitslosigkeit am Bau im Januar und Februar 1999 im Vergleich zu den Vorjahresmonaten rückläufig war. ({5}) Ich dachte, Sie, Herr Wiesehügel, hätten bestätigt, daß sie im Februar immerhin um 9,4 Prozent zurückgegangen ist. ({6}) Das war, wie ich denke, eine gute Nachricht für die Bauarbeiter in Deutschland. Sie hätten sagen müssen: Dies war der richtige Weg, und wir gehen ihn weiter, weil dadurch die Bruttoarbeitseinkommen der Arbeitnehmer stabilisiert werden. Statt dessen machen Sie erst die Leute mit falschen Parolen verrückt, verunsichern dann die Bauwirtschaft und machen am Schluß eine Minireform, die Signale in die falsche Richtung gibt nach dem Motto: Die Selbstverantwortung der Tarifpartner war nicht so ernst gemeint. ({7}) Die Bauwirtschaft muß schon froh sein, daß die Lohnnebenkosten durch die Wintergeldumlage nicht noch steigen. Sie verpassen damit die Chance, die Umlage und die Lohnnebenkosten zu senken - auch dieses Ziel steht übrigens in Ihrer Koalitionsvereinbarung -, um damit Impulse für die Schaffung neuer und die Erhaltung bestehender Arbeitsplätze zu geben. Sie senden permanent Signale in die falsche Richtung, auch mit diesem Gesetzentwurf, obwohl gerade in diesen Tagen der Internationale Währungsfonds die Bundesregierung ermahnt, Reformen am Arbeitsmarkt anzugehen. In der gemeinsamen Erklärung von Arbeitgebern und DGB vom 6. Juli 1999 heißt es: Auf allen Ebenen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens ist eine auf mehrere Jahre angelegte Politik zur Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung notwendig. Die Bundesregierung macht genau das Gegenteil: Sie schränkt die neu geschaffenen Flexibilisierungsreserven der Bauwirtschaft wieder ein.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiesehügel?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Klaus Wiesehügel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003263, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt, daß wir es versäumt hätten, die entsprechende Umlage und die Lohnnebenkosten zu senken. Ist Ihnen denn bekannt, daß die Winterbauumlage zusammen mit den Beiträgen zur Sozialversicherung des Baugewerbes erhoben wird? Und ist Ihnen bekannt, daß die Tarifvertragsparteien diese justament vor dieser Regelung schon einmal gesenkt haben? Kennen Sie sich überhaupt in diesem System aus, über das Sie jetzt hier so hervorragend zu referieren versuchen?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege, das ist doch genau das, was ich sage. Die Chance durch die Flexibilisierung zwischen der ersten und der zweiten Säule, die Sie als Tarifpartner hätten nutzen können, haben Sie nicht wahrgenommen, sondern Sie haben dieses System zu Lasten der zweiten Stufe wieder aufgegeben. ({0}) Natürlich ist mir klar, daß das die Bauwirtschaft aufregt. Schließlich sind es Lohnnebenkosten, lieber Herr Kollege Wiesehügel. ({1}) Sie haben das Ziel, sie zu senken. Aber mit dieser Maßnahme senken Sie sie nicht. Ich hatte bisher eigentlich den Eindruck - mehr in der Realität draußen, vielleicht nicht in den oberen Gewerkschaftsetagen -, daß viele Tarifpartner in ihrem Denken schon viel weiter sind. Vielleicht trifft das auf den DGB nicht zu. Aber ich möchte noch einmal aus der Erklärung von BDA und DGB vom 6. Juli zitieren: Bei der Arbeitszeit stehen die tariflichen Vereinbarungen von Arbeitszeitkorridoren, Jahresarbeitszeiten, die Schaffung von Jahres-, Langzeit- und Lebensarbeitszeiten im Mittelpunkt. So heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Wir reden über Langzeitarbeitskonten, das heißt, es wird in Lebenszeitabschnitten gerechnet. Wir reden über Leistungen eines 35jährigen, die ihm zugute kommen, wenn er 55 ist. Und diese Bundesregierung hält es für unzumutbar, 30 oder 50 Überstunden vom Sommer in den Winter zu schieben! Ich denke, das zeigt, wie weit Sie von der Realität entfernt sind. ({2}) Sie fordern immer den Abbau von Überstunden. Genau das passiert hier: Im Sommer aufgebaute Überstunden werden im Winter beschäftigungswirksam abgebaut. Das war das Ziel der Reform vor drei Jahren. Sie sehen hier offensichtlich einen neoliberalen Exzeß. Jedenfalls greifen Sie mit Ihrem Gesetzgebungsaktionismus hier ein. Das erklärt auch, warum Sie mit den großen Problemen in unserer Wirtschaft nicht fertig werden. Hören Sie auf, in den Verantwortungsbereich der Tarifpolitik einzugreifen, wie Sie es schon beim Kündigungsschutz getan haben. Die wahren Bündnisse für Arbeit finden tausendfach in den Betrieben der Republik statt. Es ist der falsche Weg, den Tarifpartnern Verantwortung abzunehmen, in einer Phase, in der sie meiner Meinung nach Dr. Hans-Peter Friedrich ({3}) 4598 b W k n i b f e w W t a h c v f g s H l s T s v r t l z B g k M M s A w S s A W W k V m a d D r. Hans-Peter Friedrich ({4}) ewiesen haben, daß sie gemeinsam Verantwortung zum ohl der Arbeitnehmer und der Wirtschaft übernehmen önnen. ({5}) Das eigentliche Problem, auch im Baubereich, liegt icht darin, daß das Wetter so schlecht ist, sondern darn, daß die Auftragslage schlecht ist. Hier entsteht Areitslosigkeit. Eigentlich sind die Rahmenbedingungen ür den Baubereich derzeit günstig. Wir haben dank iner soliden Finanzpolitik des Finanzministers Waigel eiterhin günstige Finanzierungsbedingungen. ({6}) ir haben stabile Preise für Bauleistungen. Beides bieet die Chance einer Stabilisierung der Inlandsnachfrage uch im Bereich der deutschen Bauwirtschaft. Die Bundesbank sagt in ihrem jüngsten Bericht veralten optimistisch, daß insbesondere bei den öffentlihen Bauaufträgen eine positive Tendenz feststellbar ist, or allem im Hochbau. Auch hier zeigt die investitionsördernde Politik der Regierung Kohl Langfristwirkung. Jetzt bereiten Sie einen rotgrünen Doppelschlag geen die öffentliche Investitionstätigkeit vor: Erstens enken Sie die Investitionsausgaben des Bundes im aushalt 2000 nachhaltig, auf weniger als 58 Miliarden DM. 2003 sollen es sogar nur 53 Milliarden DM ein. Damit ist die Investitionsquote auf historischem iefstand. Zweitens nehmen Sie mit der geplanten Verchiebung von Belastungen auf Länder und Gemeinden or allem den Kommunen die notwendigen Finanzspieläume für Investitionen, die sie vor allem im Hochbau ätigen. Sie sind dabei, die positiven Ansätze im öffentichen Baubereich, die momentan feststellbar sind, zu erstören. Die Leidtragenden werden in erster Linie die auarbeiter und ihre Familien sein. ({7}) Das ist einer von vielen Gründen dafür, daß die Reierung Schröder Monat für Monat mehr Arbeitslosigeit produziert - 40 000 alleine in den letzten sechs onaten. Der Bundeskanzler, der angetreten ist, die assenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, schaut zu, wie ich seine Minister und, wie ich jetzt feststelle, auch die usschußmitglieder seiner Fraktion Sandkastenspielen idmen und kleinkarierte Ideologie betreiben. Das 630-Mark-Chaos und die Regelungen zur cheinselbständigkeit waren schon politische Kurzchlußhandlungen mit verheerenden Auswirkungen. ber es reicht der SPD offensichtlich immer noch nicht. eitere Steuererhöhungen, die die Bürger und die irtschaft strangulieren, werden derzeit permanent disutiert: Stromsteuer, Mineralölsteuererhöhung, neue ermögensteuer, Erbschaftsteuererhöhung, Vernichtung ittelständischer Existenzen in der Landwirtschaft - das lles zerstört Vertrauen und schafft Unsicherheit. Im Ergebnis ist die rotgrüne Politik eine Politik auf em Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Kehren Sie auf diesem falschen Weg um! Wir sind zu einem zukunftsorientierten Dialog bereit. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Herr Kollege Friedrich, ich muß mich schon sehr wundern, daß Sie hier plötzlich das Bündnis für Arbeit reklamieren, welches auf einzelbetrieblicher Ebene an vielen Stellen stattfindet. Sie gehören doch zu der Partei, die unter ihrem Bundeskanzler alles darangesetzt hat, das Zustandekommen eines Bündnisses für Arbeit zu verhindern. ({0}) - Ja, Herr Hirche, natürlich ist es auf Betriebsebene vernünftig. Aber wir sind doch diejenigen, die in diesem Land Bündnisse für Arbeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen voranbringen wollen. Wir können mit Zahlen belegen, daß das bei Ihnen eben nicht funktioniert hat, gerade im Bereich Bau. ({1}) Durch die Abschaffung des Schlechtwettergeldes haben Sie doch die Entwicklung losgetreten, daß trotz einzelbetrieblicher Lösungen im Zusammenhang eines Bündnisses für Arbeit die Winterarbeitslosigkeit in den letzten Jahren extrem in die Höhe gegangen ist. Die Arbeitgeber hätten doch die Chance gehabt, das zu beweisen, was Sie immer behaupten, nämlich daß diese Branche, die unter extrem schwierigen Bedingungen - man denke nur an die Witterungsabhängigkeit - arbeiten muß, in der Lage ist, diese Regelungen alleine zu treffen. Das war nicht der Fall. Deswegen sind die Regelungen des Kompromisses, der erzielt worden ist, gesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich notwendig und helfen sowohl den kleinen und mittleren Betrieben in der Bauwirtschaft als auch den Beschäftigten. Meine Damen und Herren, Ziel der rotgrünen Politik ist es, die Arbeitslosigkeit zu senken. Die Regelung zum Schlechtwettergeld in der Bauwirtschaft ist ein Baustein im Zusammenhang mit diesem Projekt. ({2}) Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht einfach nur ein guter Kompromiß, der zwischen den Handelnden zustande gekommen ist, sondern er ist auch in der Substanz eine gute Lösung, weil er die Winterarbeitslosigkeit tatsächlich reduzieren wird und auf der anderen Seite die Einkommen der Beschäftigten verstetigen kann. Gegenüber dem jetzigen Zustand, den Sie hergestellt haben und der tatsächlich zu einer Verschärfung geführt hat, ist hier für alle Seiten, für die Arbeitgeber, und zwar gerade für diejenigen in den kleinen und mittleren Betrieben, für die Beschäftigten, aber auch für die Bundesanstalt für Arbeit eine vernünftige Lösung gefunden worden, die für alle Seiten vorteilhaft ist. Deswegen kommt das Lob von allen Seiten. ({3}) Die Winterarbeitslosigkeit ist nicht einfach nur ein Problem der Baubranche. Die Winterarbeitslosigkeit ist ein gesamtvolkswirtschaftliches Problem. Sie bedeutet nicht nur eine soziale Härte für die Beschäftigten, sondern sie bedeutet insbesondere ökonomische Probleme für die kleinen Betriebe im Baugewerbe, die durch die Winterarbeitslosigkeit in eine Situation geraten, in der es immer schwieriger wird, die notwendigen Fachkräfte überhaupt halten zu können. Wir haben hier eine hohe Fluktuation, die die Situation in spezifischer Weise verschärft. Mit diesem Gesetz wird es uns gelingen - das glaube ich jedenfalls -, eine gute Hilfe für die kleineren und mittleren Betriebe zu bieten, damit sie ihre notwendigen Fachkräfte über den Winter hinweg beschäftigen können. Wir können uns gern darüber streiten, Herr Friedrich, in welchem Ausmaß die nachweislich verschärfte Winterarbeitslosigkeit durch die Abschaffung des Schlechtwettergeldgesetzes erzeugt worden ist und welche anderen Einflüsse, beispielsweise konjunkturelle, es gegeben hat. Wir können uns darüber streiten, wie stark die einzelnen Einflüsse waren. Aber das Hochschnellen der Winterarbeitslosigkeit um bis zu 80 Prozent läßt auf alle Fälle ganz deutlich sichtbar werden, daß die Abschaffung des Schlechtwettergelds wirklich zu einer signifikanten Verschlechterung in diesem Bereich geführt hat. ({4}) Deswegen bin ich sehr froh, daß es gelungen ist, bei einer sehr schwierigen Ausgangsposition diesen fairen Interessenausgleich herzustellen und das Drei-SäulenModell - Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit tun gemeinsam etwas gegen die Winterarbeitslosigkeit - durchzusetzen. Wenn Sie behaupten, das ginge zu Lasten der Steuerzahler, hier entstünden zusätzliche Kosten in Millionenhöhe, dann hat Ihnen Herr Wiesehügel soeben in guter Weise vorgerechnet, daß es eine Milchjungenrechnung war, die Sie aufgemacht haben. Kosten in Höhe von ungefähr 55 Millionen DM werden der Bundesanstalt für Arbeit durch diese Regelung entstehen. Aber sicher ist auch, daß etwa 7 500 bis 8 000 Arbeitslose weniger im Winter genau dieses Geld einspielen werden. ({5}) Bedenken Sie, daß wir in den letzten Jahren zu Silvester ungefähr 160 000 Arbeitslose im Baubereich hatten. Es liegt doch auf der Hand, daß es gelingen wird, mindestens 8 000 Arbeitsplätze mehr über den Winter sichern zu können. ({6}) Mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir durch dieses Gesetz sehr viel mehr Winterarbeitslosigkeit verhindern. Dann wird sogar eine positive Rechnung für die Bundesanstalt für Arbeit herauskommen. Ein anderer Aspekt dieses Kompromisses, der erstritten worden ist, wurde bereits angesprochen: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bringen etwas in diese Regelung ein, sie bringen Arbeitsstunden als Kapital ein. Ich finde es ausgesprochen gut, daß infolge der Entwicklung der letzten Jahre die Förderung von Arbeitszeitkonten in der Bauwirtschaft auch mit diesem Gesetz noch einmal befördert wird. Natürlich brauchen wir diese Flexibilität auch und gerade in der Bauwirtschaft. Durch das Angebot eines Wintergeldes in Höhe von 2 DM pro Stunde für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mehr als 30 Überstunden einbringen, besteht auch ein großer Anreiz, zusätzliche Arbeitszeitkonten zu befördern. Die Beschränkung auf 30 anstatt 50 Stunden ist zugleich eine Regelung, die kleine Betriebe nicht überfordert. Meine Damen und Herren, dieses Gesetz bringt nicht nur Vorteile im Sinne der Verhinderung von Winterarbeitslosigkeit, sondern es bringt auch den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern Vorteile, weil es ihnen das Schlechtwetterrisiko nimmt, ohne daß dies mit einer Erhöhung der Lohnnebenkosten verbunden wäre, wie Sie immer wieder fälschlich behaupten. Der Beitrag für die Winterbauumlage bleibt bei 1,7 Prozent. Das Gesetz bringt ihnen auch deshalb Vorteile, weil die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber - in den kleineren und mittleren Betrieben haben sie es besonders nötig - von den zusätzlichen Sozialabgaben beim Schlechtwettergeld nun vollständig befreit werden. Sie alle wissen, daß Betriebe sich im Winter immer wieder gezwungen sahen, zur Einsparung von Sozialabgaben Arbeitskräfte in die Arbeitslosigkeit zu schicken, und zwar auch solche Betriebe, die das gerne verhindert hätten. Diese Regelung wird es ihnen ermöglichen, ihre Arbeitskräfte zu halten. Wenn Sie behaupten, wir träfen eine Überregelung für einen Bereich, der sich selbst regulieren könnte, dann mache ich Sie darauf aufmerksam, daß die Entwicklung der Winterarbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren gezeigt hat, daß sich dieser Bereich nicht selber regulieren kann. Im Ausland gibt es vergleichbare Regelungen. Deswegen ist das, was hier als Kompromiß vorgelegt wird, keine Überregelung zu Lasten Dritter, sondern eine gemeinsame Anstrengung der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und Gewerkschaften sowie der Bundesanstalt für Arbeit, um eine sehr mißliche Entwicklung in dieser Volkswirtschaft, nämlich die Winterarbeitslosigkeit, zu stoppen. Meine Damen und Herren von der Opposition, es ist einfach eine falsche, eine populistische Argumentation, wenn Sie sagen, diese Regelung gehe zu Lasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Verstetigung der Arbeit und die Verhinderung von Winterarbeitslosigkeit nützen der gesamten Volkswirtschaft. Die Lohnnebenkosten werden nicht steigen. Die zusätzlichen Kosten der Bundesanstalt für Arbeit werden über eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit wieder eingespielt werden. Nicht zuletzt können die spezifischen Härten für die Beschäftigten im Baugewerbe abgebaut werden. Deswegen lautet meine abschließende Bewertung: Das war in der Tat ein Ergebnis eines kleinen Bündnisses für Arbeit, das allen Vorteile gebracht hat. Es bringt den Arbeitgebern, aber auch den Arbeitnehmern Vorteile. ({7}) Hier ist also ein guter Kompromiß erarbeitet worden. Insoweit hoffe ich, daß Sie alle, meine Damen und Herren - auch die F.D.P., auch Herr Hirche -, diesem Gesetzentwurf zustimmen können. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich vorhin dem Kollegen Wiesehügel zuhörte, ging ich davon aus, daß es sinnvoll wäre, meine Rede vom 30. Juni zu zitieren, weil sich seine Argumente seitdem überhaupt nicht verbessert haben. ({1}) Aber die Rede von Frau Kollegin Dückert hat mich dazu gebracht, das doch lieber zu lassen. Frau Dückert, es ist mir einfach unbegreiflich, daß Sie hier allen Ernstes so tun, als sei das Drei-Säulen-Modell die Erfindung der rotgrünen Bundesregierung. ({2}) - Sie haben so getan, als hätten Sie erfunden, daß sich Arbeitnehmer, Arbeitgeber und die Bundesanstalt für Arbeit ganz toll in dieses Problem hineinteilen. Ich möchte Ihnen sagen, was los ist: Der Kollege Wiesehügel ist noch im April durch die Reihen gegangen und hat Unterschriften für eine Bezahlung ab der ersten Ausfallstunde gesammelt. ({3}) Er ist dann von Ihrem Fraktionsvorsitzenden, Frau Rennebach, zurückgepfiffen worden, weil diese Regelung dann doch übertrieben gewesen wäre. ({4}) Sie hätten sich im Rahmen dieser Regelung das große Ziel für die Zukunft vornehmen sollen, die Arbeitszeitflexibilisierung weiter voranzutreiben, Jahresarbeitszeitkonten und Lebensarbeitszeitkonten zu schaffen. Das haben Sie versäumt. Wie sieht die Situation jetzt aus? Sie haben eine Vorarbeitszeit von 30 Stunden statt bisher 50 Stunden - also deutlich weniger als bisher eingeführt. Sie haben die Umlage für den Zeitraum von der 31. bis zur 100. Stunde eingeführt. Die Bundesanstalt für Arbeit greift ab der 101. statt ab der 120. Arbeitsstunde ein. Welchen Sinn sollte es angesichts dieser Regelung für einen Bauarbeiter machen, auch nur eine Minute länger als diese 30 Stunden vorzuarbeiten? ({5}) - Frau Kollegin Rennebach, wenn Sie mir zuhören würden, müßten Sie bemerken, daß ich das weiß. ({6}) Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie hat festgestellt, daß durch die Vorarbeit die Zahl der Entlassungen trotz des harten und kalten Winters im letzten Jahr dramatisch zurückgegangen ist. Über 80 Prozent der Betriebe mit mehr als 20 Arbeitnehmern nutzten diese Möglichkeit der Vorarbeit, um mehr Flexibilität zu schaffen und um den Arbeitnehmern am Bau die Möglichkeit zu geben, auch ein Stück Eigenleistung für ihre Arbeitsplatzsicherheit zu erbringen. Das Ifo-Institut hat im Oktober 1998 in einer Umfrage festgestellt, daß Gutzeiten von durchschnittlich 64 Stunden erarbeitet worden sind, die mit der Betriebsgröße ansteigen. 98 Prozent aller erarbeiteten Gutzeiten sind tatsächlich für Schlechtwettertage eingesetzt worden. Herr Kollege Wiesehügel, ich möchte auf Ihr Kampfblatt „SWG-Express“ eingehen und wiederholen, was ich schon am 30. Juni gesagt habe, weil dies bezeichnend ist. Sie schreiben im „SWG-Express“: Beharrlichkeit bei der eigenen Interessenvertretung zahlt sich aus. - Ich möchte Ihnen heute zustimmen; denn es handelt sich tatsächlich um die Vertretung der Partikularinteressen der Mitglieder der Gewerkschaft BAU. Sie haben die Interessen der Allgemeinheit überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Sie sichern mit diesem Kompromiß keinen einzigen Arbeitsplatz am Bau, und Sie verhindern damit überhaupt nicht, daß die Lohnzusatzkosten weiter steigen. 55 Millionen DM Mehrbelastung bei der Bundesanstalt für Arbeit rechnen Sie mit zweifelhaften Zahlen gegen, wie auch in der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf - ich zitiere aus dem Teil C auf Seite 18 -: Allein schon wegen urlaubs- und krankheitsbedingter Abwesenheit vieler Bauarbeiter in der Schlechtwetterzeit wird sich das vermindern. - Man kann doch beim besten Willen nicht das Einsparen von Schlechtwettergeld auf Grund von Krankheit gegen die 55 Millionen DM aufrechnen. Diese Rechnung ist ziemlich gewagt. Ich kann Ihnen versichern, daß diese Regelung mit Sicherheit nicht sozial gerecht ist. Ihre Politik ist nämlich Politik für Arbeitsplatzbesitzer. Diejenigen aber, die vor der Tür stehen und in die Arbeitswelt wollen, stehen auf Grund der durch Ihre Regelung bewirkten Erhöhung der Lohnnebenkosten vor einer zusätzlichen Hürde und werden so von Ihnen draußen gehalten. ({7}) Herr Kollege Wiesehügel, im „SWG-Express“ ist ebenfalls zu lesen, daß Sie, als Sie das Programm zusammen mit dem Herrn Bundeskanzler vorgestellt haben, gesagt haben, ein kleines Bündnis für Arbeit sei dabei herausgekommen. ({8}) - Mir ist völlig klar, daß Sie diese Zeitschrift gerne sehen. ({9}) Es ist wieder einmal deutlich festzustellen, daß 244 von 298 Abgeordneten der SPD-Fraktion Mitglieder einer Gewerkschaft sind und daß sie die Partikularinteressen der Gewerkschaften vertreten. ({10}) Es gibt eine zwingende Notwendigkeit für Gewerkschaften in diesem Land, um Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt zu verhindern. Aber das ist noch lange kein Grund, daß die Gewerkschaften in diesem Land die Richtlinien der Politik bestimmen. ({11}) Sie bewirken mit diesem Gesetzentwurf eine Verlagerung der Kosten und Verantwortung auf die Allgemeinheit. ({12}) Sie machen genau das, was der Kollege Friedrich gesagt hat: Sie entmündigen die an der Tarifpolitik Beteiligten. Es ist mir unbegreiflich, wie Sie als Gewerkschaftsführer es zulassen können, daß nicht die Tarifpartner eine Regelung finden müssen, sondern daß der Gesetzgeber eingreifen muß. Sie entmündigen sich selbst als Gewerkschaftsfunktionär, frei nach dem Motto „Vater Staat nimmt den deutschen Michel an die Hand und führt ihn mit seiner Schlafmütze durchs ganze Leben“. Lassen Sie den Menschen in diesem Land ein bißchen mehr Eigenverantwortung! ({13}) Lassen Sie den Menschen doch die Möglichkeit, das Ziel zu erreichen, an dem Sie sich selbst messen lassen wollen, nämlich an dem Abbau der Arbeitslosigkeit! Auf diese Art und Weise werden Sie das mit Sicherheit nicht schaffen, und das finde ich sehr bedauerlich. ({14}) Herr Kollege Wiesehügel, diese Regelung wird natürlich auch, weil die Lohnnebenkosten steigen werden, wieder mehr Anreiz für Schwarzarbeit bringen. Und was ist Ihre Lösung dafür? Sie wollen eine neue Behörde schaffen, eine neue Behörde, die am besten wieder mit Gewerkschaftsvertretern in der Selbstverwaltung besetzt ist und die Schwarzarbeit durch Überwachung vermeiden soll. Sie können mir nicht erzählen, daß Sie die Planstellen von Behörden, die bisher damit zu tun haben, dazu hernehmen werden, um diese Behörde aufzubauen. Das ist wieder die typische Selbstbedienungsmentalität, die uns Sozialdemokraten und Gewerkschafter über Jahrzehnte in dieser Republik vorgemacht haben. ({15}) Ihre Regelung führt dazu, daß der technische Fortschritt im Winterbau an der deutschen Bauwirtschaft vorbeigehen wird. ({16}) Der technische Fortschritt im Winterbau wird an der deutschen Bauwirtschaft vorbeigehen, wird die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Bereich dramatisch verschlechtern und wird im Endeffekt dazu führen, daß auch hier wieder Arbeitsplätze verlorengehen. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiesehügel?

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich. ({0})

Klaus Wiesehügel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003263, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege, da Sie gerade sagen, wir verhindern die technische Entwicklung im Winterbau, frage ich Sie, ob Ihnen die Abkürzungen MKZ und IKZ etwas sagen.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich, Herr Kollege.

Klaus Wiesehügel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003263, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Warum haben Sie das dann abgeschafft? - Das waren nämlich genau die Möglichkeiten, die von der sozialliberalen Koalition geschaffen worden sind, Winterbau in Deutschland technisch zu fördern. Genau diejenigen Instrumente, die zur Verfügung gestellt worden sind und die die ersten zarten Ansätze von geschütztem Winterbau hervorgebracht hatten, haben Sie wieder abgeschafft. Warum werfen Sie das eigentlich uns vor, wo Sie selbst verhindert haben, daß qualifizierter Winterbau wie in Skandinavien und in anderen Ländern um uns herum tatsächlich passiert? Warum werfen Sie uns das vor, was Sie selbst abschaffen, oder ist Ihnen das entfallen? ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Wiesehügel, MKZ und auch IKZ, als Investitionskostenzuschuß ({0}) - ja, ja, ich habe das einmal gelernt, Entschuldigung -, sind natürlich Mittel gewesen, die den Winterbau gefördert haben. Das ist unbestreitbar. Sie haben aber in der Vergangenheit feststellen können, daß es wesentlich sinnvoller ist, wenn die Industrie aus eigenen Stücken heraus auf Grund der Notwendigkeit, daß sie in dieser Situation lebt und arbeitet, solche Entwicklungen vorantreibt, anstatt daß sie auf Grund staatlicher Förderprogramme dazu gezwungen wird. ({1}) Ich finde übrigens, das war ein Fehler. Da haben wir regiert. Das gleiche haben Sie im Bereich der Katalysatortechnik gesehen. Hier wurde eine Technologie vorgeschrieben, statt ein Ziel vorzuschreiben. Hätte man ein Ziel vorgeschrieben, wäre vielleicht etwas ganz anderes dabei herausgekommen. Genauso ist das bei der Abschaffung von IKZ und MKZ. Es war viel zu eng gefaßt; die Industrie hatte viel zu wenig Anreize, tatsächlich Wege zu suchen, in ihrer speziellen Situation den Winterbau voranzutreiben. Der technische Fortschritt im Winterbau wird also an der deutschen Bauindustrie vorbeigehen und wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern. Wir haben wieder einmal die Situation, daß die rotgrüne Regierung zwar vollmundig verkündet, Arbeitslosigkeit abbauen zu wollen, aber genau wie bei der sogenannten Scheinselbständigkeit oder bei den 630-DM-Jobs die Weichen exakt in die falsche Richtung stellt. Mit Ihren gesetzlichen Regelungen werden Sie genau das Gegenteil dessen bewirken, was Sie sich vorgenommen haben, was Sie in der Öffentlichkeit vertreten haben. Kollege Wiesehügel, daß Sie hier so vehement und so glorifizierend diesen sogenannten Kompromiß vorgetragen haben, verwundert mich tatsächlich. Ich hätte Ihnen da ein wenig mehr Redlichkeit gegenüber Ihren Mitgliedern in der Gewerkschaft zugetraut. Im Wahlkampf sind Sie noch durch die Gegend gerannt und haben gesagt, das Drei-Säulen-Modell ist schlecht, wir brauchen die Bundesanstalt ab der ersten Ausfallstunde, und jetzt ist das Drei-Säulen-Modell das Tollste, was Sie haben wollten. Sie machen die Rolle rückwärts, und das ist ziemlich unglaubwürdig. - Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Knake-Werner.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ach, Herr Niebel, wenn Sie bei Ihrer zugegebenermaßen immer kleiner werdenden Klientel die Selbstbedienungsmentalität anprangern, dann ist das schon ziemlich witzig. ({0}) Aber na gut. Der Regierungsentwurf zum Schlechtwettergeld, über den wir hier debattieren - das hat der Kollege Wiesehügel heute noch einmal sehr deutlich ausgeführt -, ist natürlich keine Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes. Daß ich das bedauere, wissen Sie ja bereits. Was hier heute auf dem Tisch liegt, ist ein mit den Arbeitgebern ausgehandelter Kompromiß zur Neuregelung der ganzjährigen Beschäftigung am Bau. ({1}) Ob er wirklich dafür tragfähig sein wird, das muß in der Tat erst einmal der Winter zeigen. Die PDS wollte die Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes. Wir waren uns sehr wohl dessen bewußt, daß dazu kompatible Tarifverträge gehören und natürlich auch Mehrausgaben bei der Bundesanstalt für Arbeit entstehen würden. Ich halte das für vertretbar, und zwar deshalb, weil wir Jahr für Jahr Unsummen für Arbeitslosigkeit - auch für Winterarbeitslosigkeit - ausgeben. Ich denke, es wäre durchaus ein vernünftiger Weg, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Etwa 400 000 arbeitslose Bauarbeiter mehr seit Abschaffung des Schlechtwettergeldes - das ist in der Tat eine schlimme Hypothek, die Ihnen die Vorgängerregierung hinterlassen hat. Um den Bauarbeitern mehr soziale Sicherheit und endlich wieder eine Chance auf eine ganzjährige Beschäftigung zu geben, muß gehandelt werden. Ihr Gesetzentwurf ist ein Instrument dazu. Ob es das entscheidende und richtige ist, wird sich zeigen müssen. Bei der ganzjährigen Arbeit am Bau geht es nicht nur um die völlig berechtigten Interessen der Bauarbeiter an kontinuierlicher Beschäftigung und sicherem Einkommen, sondern auch um eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit. Stilliegende Kräne und Bagger sowie längere Bauzeiten verteuern das Bauen. Das hat Auswirkungen auf Mieten und die Auftragslage. Das geht weit über die Interessen von Bauwirtschaft und Bauarbeitern hinaus. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß es in der Bundesrepublik im europäischen Vergleich immer noch erhebliche technologische Defizite im Winterbau gibt. Auch das ist eine Belastung der Volkswirtschaft insgesamt. Trotzdem glaube ich, daß es nicht richtig ist, das Witterungsproblem dieser Branche allein zu überlassen, weil das auch den Interessen insbesondere der kleinen Unternehmen zuwiderläuft. Aus diesen Gründen finde ich es nach wie vor richtig, daß die Bundesanstalt möglichst weitgehend in die soziale Flankierung der Winterarbeit einsteigt. Nun noch kurz zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Regelungen, die Sie vorschlagen, sind - das räume ich gerne ein - besser als das, was die alte Regierung hinterlassen hat. Wenn es gelingt, mehreren zehntausend Arbeitern die Winterarbeitslosigkeit zu ersparen - die IG Bau rechnet das vor -, so ist viel für die Beschäftigten und auch für deren Familien erreicht. ({2}) Ich will trotzdem auf ein paar Probleme hinweisen. Die Flexibilisierung ist - zwar in reduziertem Umfang - geblieben. Sie geht eindeutig allein zu Lasten der Bauarbeiter und nutzt nur den Unternehmen, die keine Zuschläge zu zahlen haben. Ich sehe diese Flexiregelung, die Sie so positiv bewertet haben, sehr kritisch. Sie zwingt die Bauarbeiter, in der Sommerhitze Stunden für die kalte Zeit zu hamstern. ({3}) Es passiert jetzt schon, daß sie zwölf und mehr Stunden arbeiten, auch samstags. Das ist weder aus gesundheitlichen Gründen noch für die Familien akzeptabel. ({4}) Wenn diese Tendenz durch das Wintergeld auch noch gefördert wird, dann halte ich das für eine ausgesprochen problematische Entwicklung. Es bleibt die Frage offen, was mit den angesammelten Stunden passiert, wenn ein Betrieb pleite geht. Daß das gerade in der Bauwirtschaft nicht selten ist, wissen Sie so gut wie ich. ({5}) Auch ist mir nicht klar, ob es gelingen kann, trotz Kündigungsverbot Mißbrauch der Unternehmer zu verhindern, wenn aus anderen als Witterungsgründen gekündigt wird. Ich weiß nicht, wie das kontrolliert werden soll. Das wird wahrscheinlich auch erst die Erfahrung zeigen. Zum Schluß: Ich finde es - wie ganz sicher auch Sie - besonders dreist, daß die Unternehmer jetzt nach den Verhandlungen den Tarifvertrag zum Lohnausgleich für die Weihnachts- und Neujahrstage gekündigt haben. ({6}) Das lehrt uns zumindest eines: Gibt man ihnen den kleinen Finger, wollen sie immer gleich die ganze Hand. ({7}) Sie werden viel Kraft brauchen, um diese Unternehmer zu zügeln. Das ich Ihnen diese Kraft von Herzen wünsche, nehmen Sie mir hoffentlich ab. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Meister.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle politischen Entscheidungen, die die deutsche Bauwirtschaft betreffen und damit insbesondere die Arbeitnehmer, die dort tätig sind, müssen sich daraufhin prüfen lassen, ob sie den Rahmenbedingungen gerecht werden. Als Rahmenbedingungen sehe ich zum einen die Baukonjunktur, zum anderen die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitnehmer und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen auf diesem Feld. ({0}) Die Baukonjunktur verzeichnete im Zuge der deutschen Einheit einen riesigen Boom, der sich anschließend wieder abgekühlt hat. Wir haben damals alles getan, auch mit Hilfe niedriger Zinsen, um diese Abkühlung aufzufangen und die Situation wieder zu stabilisieren. Sie aber fahren die öffentlichen Investitionshaushalte massiv zurück. Mit der Kürzung des Verkehrshaushalts um 1 Milliarde DM gefährden Sie rund 10 000 Arbeitsplätze im Baubereich. Deshalb können wir die heutige Diskussion nicht isoliert betrachten. Wir müssen sie vielmehr vor dem Hintergrund der Kürzungen im Verkehrsressort - es handelt sich um Einsparungen im Investitionsbereich in Milliardenhöhe -, der Verschiebung der Lasten zu den Kommunen - diese kürzen dann ebenfalls die Investitionshaushalte - und der Kürzungen im Wohnungsbausektor sehen. Hier nenne ich nur die Stichworte Eigenheimzulage und sozialer Wohnungsbau. Gleichzeitig stehen die deutschen Bauarbeitnehmer und die Bauwirtschaft unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs. Deswegen, Frau Kollegin Dr. Dückert, ist es eine Milchmädchenrechnung, wenn Sie das Winterausfallgeld - Sie haben eine positive Bewertung hinsichtlich der Bundesanstalt für Arbeit abgegeben - für sich allein betrachten und so tun, als sei Deutschland eine Insel. Das aber ist nicht der Fall. Wir müssen bei allen Maßnahmen, die sich auf die Arbeitskosten auswirken, die internationale Konkurrenz im Auge haben. Ob es uns gefällt oder nicht, müssen wir feststellen, daß viele internationale Konkurrenten mit deutlich geringeren Sozialstandards arbeiten, zum Teil sogar - auch das ist uns bekannt - mit illegalen Methoden. Dagegen muß ein deutscher, regulär beschäftigter Bauarbeitnehmer antreten. Das wird durch diese Maßnahme wesentlich erschwert. Sie selbst haben in Ihrer Regierungserklärung gesagt, Sie wollten etwas tun, um die Lohnnebenkosten zu senken und damit die Beschäftigung in Deutschland zu sichern. Ich sage Ihnen: Durch diese Maßnahme senken Sie die Lohnnebenkosten nicht. Sie tun das schiere Gegenteil dessen, was in Ihrer Koalitionsvereinbarung steht: Sie erhöhen die Lohnnebenkosten. Damit regen Sie an zu weiterem Mißbrauch und zu weiterer Schwarzarbeit und fördern die Arbeitslosigkeit von deutschen, regulär beschäftigten Bauarbeitern. Die Bundesregierung hat die Fragen der Baukonjunktur, der Wettbewerbsfähigkeit und das Problem des Anreizes zur Schwarzarbeit überhaupt nicht angesprochen. Sie sind darauf mit keinem Wort eingegangen. Das, was Sie in der Begründung des Gesetzentwurfes angeführt haben, ist meines Erachtens typisch für einen alten Verteilungsstaat, der es zuläßt, daß sich Tarifpartner an einen runden Tisch setzen, sich dort zu Lasten Dritter einigen und dies dann als „Bündnis für Arbeit“ ausgeben. Dadurch wird nicht nur, wie es in dieser DeDr. Heidi Knake-Werner batte schon angeführt worden ist, eine Vereinbarung zu Lasten Dritter getroffen. Nein, es wird auch der Grundgedanke eines „Bündnisses für Arbeit“ diskreditiert. In diesem Fall muß die Arbeitslosenversicherung die Lasten tragen. In dieser Debatte haben Sie eine schöne Verschleierung vorgenommen: Sie haben immer von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern gesprochen Man muß aber aufpassen, über welche Arbeitgeber und Arbeitnehmer man redet. Es geht eben nicht nur um die Bauarbeitgeber und Bauarbeitnehmer; es geht um alle. Diese aber saßen nicht mit am Tisch, obwohl sie von diesem Unsinn, den Sie machen, genauso betroffen sind. ({1}) - Nein, das ist eben nicht positiv, Herr Kollege Wiesehügel, weil Sie schlicht und ergreifend vergessen, daß wir uns auf einem internationalen Markt befinden und im EU-Binnenmarkt Konkurrenz aus Osteuropa haben. ({2}) - Sie haben hier die Möglichkeit gehabt, in aller Ruhe vorzutragen. Ich habe Ihnen auch in aller Ruhe zugehört. Vielleicht können Sie Ihre Emotionen etwas zurückfahren und rational diskutieren. Wenn ich an dieser Stelle einmal darauf hinweisen darf: Der Bundeskanzler ist in den letzten Wochen vor das deutsche Volk getreten und hat gesagt, er müsse dieses Land konsequent modernisieren. Wenn man sich aber einmal ansieht, was im Bereich des Schlechtwettergeldes und der Nachfolgeregelung geschieht, so tut er genau das Gegenteil von dem, was er draußen in seinen Reden verkündet. Es wird nichts modernisiert; es werden alte Besitzstände konserviert. Das Allerschlimmste aber ist: Das alles geschieht unter seinem Vorsitz. - So deutlich ist Reden und Handeln selten auseinandergefallen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben mit Sicherheit das gebe ich gerne zu - nicht im ersten Anlauf eine gute Regelung zustande gebracht. Wir haben 1995 eine Regelung gehabt, die wir 1997 nachgebessert haben. ({4}) In dieser Debatte ist mir, wenn es um die Zahl der Arbeitslosen im Winter ging, aufgefallen, daß Sie sich auf die Daten beziehen, die aus dem Jahre 1995 stammen. ({5}) Ich gebe zu, daß wir mit unserem ersten „Schuß“ auch nicht absolut richtig gelegen haben. Das war ein Stück weit zu komplex, nicht flexibel genug und mißbrauchsanfällig. Deshalb haben wir 1997 nachgebessert. Wenn Sie sich die 1997 nachgebesserte Regelung anschauen, dann müssen Sie feststellen, daß sie eben nicht dazu geführt hat, daß die Arbeitslosigkeit im Winter gestiegen ist. Wenn Sie die aktuellsten Zahlen, etwa die vom Januar bis zum März dieses Jahres, betrachten, dann können Sie erkennen, daß diese Regelung, was den Winterbetrieb im Baubereich betrifft, zu einer Absenkung der Arbeitslosenzahlen um mehr als 20 Prozent geführt hat. Ich bitte Sie, während der Diskussionen, die wir sowohl im Ausschuß als auch in der zweiten und dritten Lesung führen werden, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, daß wir nicht mehr über die Regelung aus dem Jahre 1995 diskutieren, sondern über die von 1997, die nach meiner Meinung sehr ausgewogen ist und in der darauf geachtet wird, daß hier tatsächlich ein DreiSäulen-Modell entsteht. Meine Damen und Herren, die Arbeitnehmer verfügen - auch das ist angesprochen und als tolle Errungenschaft dieser Neuregelung verkündet worden - seit der Regelung von 1997 über ein stetiges, abgesichertes Ganzjahreseinkommen. Sie sind ganzjährig beschäftigt, und sie haben auf betrieblicher Ebene auch in bezug auf die Vereinbarung über Mehrarbeit Mitspracherechte bekommen. Die Unternehmen können sich auf der anderen Seite sehr flexibel auf die Auftragseingänge einstellen. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund - wenn hier im Deutschen Bundestag nicht einige Lobbyisten sitzen würden -, diese funktionierende Regelung jetzt wieder zu kritisieren. ({6}) - Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, warum Sie sich aufregen. Aber eines können Sie mir mit Sicherheit nicht unterstellen, nämlich daß ich in diesem Punkt für irgendeine Lobby spreche. Ich versuche einfach, den Sachverhalt zu analysieren. Wenn Sie betrachten, daß mittlerweile etwa 80 Prozent der deutschen Betriebe im Bereich des Bauwesens sehr flexible Regelungen auf der Grundlage der gültigen Rechtslage abgeschlossen haben, dann zeugt dies davon, daß dies hervorragend funktioniert und von den Mitarbeitern und Betrieben hervorragend angenommen wird. ({7}) - Das ist so, Herr Wiesehügel. Die nun vorgelegte Gesetzesnovelle schließt leider zwischendurch mit einer Diskontinuität - lückenlos an das an, was Sie bis zum Dezember 1998 getan haben: verteilen. Dahin sind Sie wieder zurückgekehrt. Der Sache wäre es viel dienlicher, wenn Sie weniger auf Lobbyisten hören und sich ein bißchen mehr mit den Realitäten auseinandersetzen würden. Das, was Sie, Herr Wiesehügel, vorhaben und was Sie vorhin in Ihrer Rede ausführlich vorgetragen haben, wird zwei wesentliche Effekte haben: Die Arbeitslosenversicherung muß künftig schon ab der 101. Stunde eintreten statt, wie bisher, ab der 121. Das führt natürlich dazu, daß die Kosten der Arbeitslosenversicherung steigen werden. Diese 55 Millionen DM können Sie eben nicht, wie Sie es getan haben, durch Kosteneinsparung, die dadurch entsteht, daß es angeblich zu 8 000 Arbeitslosen weniger kommt, ausgleichen. Da wir bei den Lohnnebenkosten insgesamt höhere Lasten haben, ({8}) wird dies angesichts des internationalen Konkurrenzdrucks vielmehr dazu führen, daß diese Arbeitslosen nach wie vor arbeitslos sein werden. ({9}) Ein zweiter Punkt: Sie haben im Rahmen der Ökosteuer davon gesprochen, daß Sie die Ökosteuer einführen, um die Lohnnebenkosten zu senken. ({10}) Wenn Sie sich einmal den Effekt klarmachen, den die Ökosteuer bringt, und diesen mit den Zusatzlasten vergleichen, die vor allem für den mittelständischen Baubereich entstehen - Sie müssen sich ansehen, was Sie speziell für die Unternehmen tun, über die wir hier reden -, dann stellen Sie fest: Die führt nicht zu einer Reduzierung der Lohnnebenkosten, wie Sie dies aller Welt verkünden, sondern zum krassen Gegenteil. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, die Winterbauumlage. Es wird behauptet, es bleibe bei der Winterbauumlage in Höhe von 1,7 Prozent der Bruttolohnsumme. Dies kann man natürlich zunächst einmal beschließen. Aber in unserem Lande ist es ja leider nicht so, daß Geld wie Manna vom Himmel regnet. ({11}) Wenn irgendwann die Winterbauumlage durch die Mehrbelastung, die Sie hier einführen, entsprechend strapaziert worden ist, werden Sie beschließen müssen, daß Sie diesen Prozentsatz anheben, wenn die Rücklage aufgebraucht ist. Dann nützt es nichts, sich hier hinzustellen und zu sagen: Wir beschließen das jetzt nicht, sondern wir werden es dann tun, wenn die Rücklage aufgebraucht worden ist. Dann aber heißt es wieder: Wir sind in Handlungszwängen; wir haben keine andere Möglichkeit. ({12}) Fazit des Ganzen: Die Schlechtwettergeldregelung, die Sie vorsehen, ist nichts anderes als eine Restauration bzw. Konservierung von unwirtschaftlichen, unsozialen Verhältnissen. Leider - so muß ich sagen - machen diejenigen in der Bundesregierung, die diesen Staat modernisieren wollen, einen Kniefall vor den Lobbyisten. Sie verändern ohne Not eine Regelung, die sich bewährt hat, und sie verschlechtern damit auch die Lage der deutschen Bauwirtschaft. Was Sie vorlegen, ist ein Anti-BaukonjunkturProgramm. Das einzige, was Sie, Herr Wiesehügel, dabei machen, ist, Ihre eigene Klientel zu befriedigen. ({13}) Ich möchte deshalb abschließend an Sie appellieren wir stehen heute ja in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes -, Einsicht in die Realtitäten zu gewinnen, ({14}) diesen Schaden zu erkennen und nach Anhörungen und Diskussionen im Ausschuß nicht den Lobbyisten, sondern den Realitäten näher zu kommen. Wenn Sie das getan haben, sollten Sie, anstatt Arbeitsplätze in Deutschland zu vernichten, sagen, daß Sie diesen Gesetzentwurf schlicht und ergreifend zurücknehmen. Dann könnten wir zusammenkommen und gemeinsam Entscheidungen im Sinne der deutschen Bauunternehmen und der deutschen Bauarbeitnehmer treffen. Vielen Dank. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe jetzt die ganze Debatte verfolgt und sage - trotz vieler falscher Argumente und trotz heftigen Gejammers durch Vertreter der Opposition -: Ich finde, heute ist eine guter Tag für die Kollegen auf dem Bau. ({0}) Heute bringen wir ein dringend notwendiges Gesetz auf den parlamentarischen Weg, das die besonderen Interessen der Beschäftigten in der Bauwirtschaft berücksichtigt. Damit setzt diese Bundesregierung ihre Politik der sozialen Gerechtigkeit fort, mit der wir direkt nach der Wahl, vor knapp einem Jahr, begonnen haben. Das heißt: Wir räumen den Schutt in den Bereichen weg, in denen Sie den Sozialstaat in Trümmer gelegt haben. ({1}) In der Koalitionsvereinbarung haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen das so festgelegt, und das halten wir auch. Ich erinnere nur an die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, den Kündigungsschutz und unsere Maßnahmen gegen Lohndumping auf dem Bau. Mit diesem Gesetzentwurf bekämpfen wir die Winterarbeitslosigkeit bei den Bauarbeitern. Auch im letzten Winter waren sie - was nicht weiter hinnehmbar ist - erneut in einem erschreckend hohen Ausmaß von Arbeitslosigkeit betroffen. Das hat seinen Grund: Der Anstieg der Winterarbeitslosigkeit auf dem Bau begann mit der Streichung des Schlechtwettergeldes zum 1. Januar 1996. Das haben Sie zu verantworten, meine Damen und Herren von der Opposition. Denn damals haben Sie in der Regierung die falschen und zu teuren Ersatzregelungen durchgesetzt. Ich sage: Das war damals Pfusch am Bau. Denn im folgenden haben sich die Bauunternehmer für die kostengünstigere Alternative entschieden, massenhaft wurden Bauarbeiter in den Wintermonaten entlassen. Daran haben auch die Korrekturen 1997 nichts grundlegend geändert. ({2}) Deshalb verstehe ich nicht, daß Sie immer noch weitere Korrekturen des Gesetzes ablehnen. Ich empfehle Ihnen einen Blick in die amtliche Statistik: ({3}) Im vergangenen Februar lag die Arbeitslosenquote in den Bauberufen mit 25,7 Prozent erneut doppelt so hoch wie im Durchschnitt aller Berufe. In den neuen Bundesländern waren sogar 29,8 Prozent der Bauarbeiter arbeitslos. Wie wollen Sie den Bauarbeitern erklären, daß da kein Handlungsbedarf besteht, meine sehr verehrten Damen und Herren? Für uns sind 30 Prozent Arbeitslose in einem Wirtschaftsbereich jedenfalls keine Größe, die wir vernachlässigen dürfen; deshalb handeln wir. Der Gesetzentwurf zeigt: Die Regierungskoalition reagiert auf drängende soziale Probleme auch unter schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zügig und konsequent. Zur kommenden Schlechtwetterzeit, ab 1. November, sollen die gesetzlichen Regelungen wirksam werden. Wir haben ganz bewußt darauf gesetzt, einen breiten Konsens aller Beteiligten zu erreichen, auch wenn Sie das als falschen Lobbyismus oder dergleichen kritisieren. Ich finde, daß es sehr vernünftig war, die Beteiligten an einen Tisch zu bekommen und mit Bauwirtschaft, mit Bauhandwerk, mit der Gewerkschaft und mit der Bundesregierung zu einer einvernehmlichen Lösung zu gelangen. ({4}) Ich füge hinzu: Dieser Konsens war nicht einfach. Viele Verhandlungen waren notwendig, aber es hat sich gelohnt. Unter Leitung des Bundeskanzlers sind die Eckwerte für die neue Regelung zustande gekommen. Das zeigt die gemeinsame Bereitschaft, die Winterarbeitslosigkeit von Bauarbeitern effektiv zu bekämpfen. Die Regierungskoalition hat dem Deutschen Bundestag diese Eckwerte bereits im Juni vorgestellt. Sie umfassen gesetzliche und tarifvertragliche Regelungen; Gesetz und Tarifvertrag greifen eng ineinander. Die Interessen der drei beteiligten Seiten sind ausgewogen berücksichtigt. Bauarbeiter und Baubetriebe werden nicht aus ihrer Verpflichtung zur eigenständigen Vorsorge entlassen. Die Arbeitslosenversicherung wird durch die Pflicht zur Übernahme von weitergehenden Risiken nicht überfordert. Dieser Kompromiß wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf umgesetzt. Es bleibt bei dem Drei-Säulen-Modell: Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit sind gemeinsam dafür verantwortlich, die Bauarbeiter bei witterungsbedingtem Arbeitsausfall im Winter sozial abzusichern. Die Verteilung der Mindestbeiträge unterhalb den drei Kostenträgern wird korrigiert. Das Interesse der Unternehmen, Bauarbeiter zu entlassen, wird verringert. Ergänzende Maßnahmen wirken Entlassungen zusätzlich entgegen. Die wesentlichen Inhalte des Gesetzentwurfes sind mit den zuständigen Tarifpartnern abgestimmt. Ich will sie noch einmal kurz darstellen: Bauarbeiter und Baubetriebe werden in den ersten 100 witterungsbedingten Ausfallstunden entlastet. Das ist das Markenzeichen dieses Gesetzentwurfes. Mit der Übernahme der vollen Sozialversicherungsbeiträge bis zur 100. Ausfallstunde durch die Umlage wird das Risiko der Bauarbeiter, aus witterungsbedingten Gründen entlassen zu werden, weil der Arbeitgeber die Beiträge nicht tragen kann oder es nicht will, deutlich reduziert. Die Vorredner haben bereits darauf verwiesen: Eines der zentralen Elemente, warum es reihenweise zu Kündigungen gekommen ist, ist, daß die Betriebe die Sozialversicherungsbeiträge einsparen wollten oder mußten, weil die wirtschaftlichen Bedingungen entsprechend waren. Dies ist abgestellt und eines der Schlüsselelemente der Vereinbarung. Wir haben vereinbart, daß der Arbeitgeber, wenn er dennoch tarifwidrig kündigt, dem Arbeitsamt künftig die Kosten in Höhe des Arbeitslosengeldes erstatten muß. Das ist übrigens eine Regelung, die wir auch aus anderen Bereichen kennen. Auch dem Anliegen der Beschäftigten wird Rechnung getragen. Der Eigenbeitrag der Bauarbeiter wird mit 30 Stunden neu und angemessen festgelegt. Die von den Arbeitgebern der Bauwirtschaft aufzubringende Winterbauumlage bleibt mit 1,7 Prozentpunkten der Bruttolohnsumme konstant. Zu dem Hinweis, der hier in der Diskussion kam, es sei bereits absehbar, daß das alles hinten und vorne nicht mehr reiche, will ich Ihnen sagen: Wir sind mit der Position angetreten, die Lohnnebenkosten abzusenken. Wir haben dies - im Gegensatz zu der vorherigen Regierung, die das jedes Jahr wieder in Sonntagsreden beschworen hat - gemacht. Allein den Rentenversicherungsbeitrag haben wir um 0,8 Prozentpunkte gesenkt. ({5}) Die Bundesanstalt für Arbeit hat höhere Kosten für das beitragsfinanzierte Winterausfallgeld. Diese Kosten werden jedoch durch geringere Ausgaben beim Arbeitslosengeld wieder ausgeglichen. Zweitens ist ganz wichtig: Mit der geplanten Neuregelung wird nicht in tarifliche Regelungen über das Schlechtwettergeld eingegriffen. Sie haben weiter Vorrang. Auch tarifvertraglich vereinbarte Arbeitszeitflexibilisierungen behalten ihren Nutzen. Allerdings muß ich sagen, daß ich in der heutigen Debatte sehr viel Unsinn zu der Frage gehört habe, daß man nicht flexibel reagieren könne. Es gibt die „kleine Flexi-Lösung“ und die „große Flexi-Lösung“. Alle, die hier darüber reden, daß wir mit gesetzlichen Maßnahmen die notwendige Flexibilität abbremsen oder verhindern, sollten sich einmal die Realitäten im Baubereich anschauen, auch die tarifvertraglichen Vereinbarungen, die es dort gibt, die Klaus Wiesehügel und seine Gewerkschaft schon vor langer Zeit abgeschlossen haben. ({6}) Die Einführung eines besonderen Wintergeldes fördert die Anreize für die Beschäftigten, mit Arbeitszeitguthaben aus dem Sommer Ausfallzeiten im Winter auszugleichen, und zwar auch über die 30 Stunden hinaus, die sie nach der tariflichen Regelung leisten sollen. Dies fördert nicht nur die flexible Arbeitszeitgestaltung, sondern das verbessert auch die soziale Absicherung der Bauarbeiter im Winter. Dies hat aber noch einen weiteren wünschenswerten Effekt. Die Winterbauumlage der Arbeitgeber und der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit werden, wenn dies entsprechend greift, entlastet. Drittens. Es werden bei den Arbeitsämtern wieder Winterbauausschüsse eingerichtet. Dies ist ein weiterer Schritt, um die Arbeitslosigkeit von Bauarbeitern in den Wintermonaten zu bekämpfen. Ein wichtiges Ziel ist dabei, die Auftragslage im Winter zu verstetigen. In diesem Zusammenhang, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, appelliere ich ganz herzlich an Sie: Wenn es Ihnen ernst damit ist, mit der Winterarbeitslosigkeit auf dem Bau Schluß zu machen und sie zu bekämpfen, dann helfen Sie mit. Sorgen Sie dort, wo Sie Verantwortung tragen, dafür, daß auch für die Winterzeit Aufträge vergeben und ausgeführt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin sicher, daß dieser Gesetzentwurf die notwendige Mehrheit im Deutschen Bundestag findet. Auf dem Tisch liegt ein wichtiger Baustein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Er ist das Ergebnis eines breiten Konsenses, ein Bündnis für Arbeit in einer Branche. Ich danke ganz besonders den Sozialpartnern für ihr Engagement und für ihre Kompromißbereitschaft. Vor diesem Hintergrund gehe ich aber noch einen Schritt weiter und appelliere an die Kolleginnen und Kollegen der Opposition: Schließen Sie sich diesem Kompromiß an! Kommen Sie mit in das Boot! Im Interesse von Bauarbeitern und Baubetrieben fordere ich alle Abgeordneten auf, unseren Gesetzentwurf zu unterstützen und ihn vor allen Dingen reibungslos zu verabschieden. Ich denke, daß das eine wichtige und sinnvolle Maßnahme ist, mit der einerseits den Beschäftigen im Baubereich geholfen wird und wir andererseits die Grundlagen dafür legen, entschiedener gegen die Winterarbeitslosigkeit am Bau vorzugehen. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1516 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, daß, wie üblich, in der kommenden Haushaltswoche keine Regierungsbefragung, keine Fragestunden und keine Aktuellen Stunden stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Berichts des Innenausschusses ({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Hildebrecht Braun ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes ({2}) - Drucksachen 14/48, 14/1541 ({3}) Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Cem Özdemir Dr. Guido Westerwelle Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die Fraktion der F.D.P. der Kollege Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung kann eine Fraktion eine Beratung hier im Plenum beantragen, wenn seit der Einbringung zum Beispiel eines Gesetzentwurfes zehn Sitzungswochen vergangen sind. Ich glaube, daß wir alle guten Grund haben, heute über den von uns eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes zu debattieren. Es ist in diesem Jahr zwar gelungen, mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht einen vernünftigen Weg zu einer besseren Integration der bei uns lebenden - insbesondere jungen - Ausländer zu beschreiten. Das ist in einer Anstrengung gelungen, an der die beiden Koalitionsfraktionen, aber auch meine Fraktion beteiligt waren. Daß man sich als Oppositionsfraktion natürlich besonders freut, wenn praktisch der eigene Vorschlag im Gesetzentwurf steht, das werden Sie mir nachsehen können. Es ist ja auch ein vernünftiger Vorschlag gewesen. ({0}) Deshalb freut es mich sehr, daß wir die beiden Koalitionsfraktionen in diesem Zusammenhang überzeugen konnten. Die Überzeugungsarbeit wollen wir aber fortsetzen, weil wir der Auffassung sind, daß es nicht reicht, lediglich eine Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts vorzunehmen. Vielmehr müssen wir uns auch über das Thema Zuwanderung unterhalten. ({1}) Daß es hier ganz offensichtlich Diskussionsbedarf gibt und daß es hier ganz offensichtlich Fragen gibt, über die sich zu debattieren lohnt, das hat die letzte Legislaturperiode gezeigt. Diejenigen, die heute in der Regierung sind, haben damals genau das von uns verlangt und haben uns immer wieder Vorwürfe gemacht, daß wir im Bereich der Zuwanderung nicht zu Lösungen gekommen sind. Wir haben das als F.D.P. bedauert. Wie Sie wissen, hat gerade Cornelia Schmalz-Jacobsen, die Vorgängerin von Ihnen, Frau Beck, in dieser Richtung immer wieder Initiativen ergriffen. Sie hat auch einen entsprechenden Gesetzentwurf erarbeitet, den wir nach der letzten Bundestagswahl eingebracht haben. Warum ist das ein Thema? Wer sich einmal die Zuwanderungszahlen für die Bundesrepublik Deutschland anschaut, der wird feststellen: Wir sind faktisch ein Einwanderungsland. Wir sind das nicht erklärtermaßen, wie zum Beispiel Australien. Aber wer sich die Zahlen anschaut, sieht, daß wir einen erheblichen Zuwanderungsdruck haben. Wir haben durch geeignete Maßnahmen, zum Beispiel durch den Asylkompromiß - einige, die hier sitzen, waren daran beteiligt; ich war damals der Verhandlungsführer der F.D.P. -, erreichen können, daß das eine oder andere geschehen ist, um diesen Druck zu reduzieren. Das hat unserem Land in doppelter Hinsicht gutgetan: Ein Ergebnis war, daß die politische Rechte, die damals an Boden gewann und erhebliche Wahlerfolge erzielte, diese nicht fortsetzen konnte. Ich glaube, alle demokratischen Kräfte in diesem Land freuen sich darüber. ({2}) Aber viel wichtiger war: Die wirklich politisch Verfolgten haben von diesem Asylkompromiß profitiert. Die Zahl der Anerkennungen von Asylberechtigten ist von 5 000 im Jahr vor der Reform auf 50 000 angestiegen. Das ist zehnmal so viel! Es ist klar, daß dann, wenn im einzelnen Verfahren besser geprüft werden kann, der einzelne größere Chancen auf Anerkennung hat. Im Bereich der Zuwanderung - auch das muß klar und deutlich gesagt werden - gibt es bisher in Deutschland keine Steuerungsinstrumente. Aber Deutschland braucht Kontrolle über die Zahl der Einwanderer. Wer behauptet, Deutschland sei faktisch ein Einwanderungsland, muß zu der Einsicht gelangen, daß dann selbstverständlich auch die Instrumente angewendet werden wie in allen anderen Einwanderungsländern; ({3}) so bestimmen die anderen Einwanderungsländer nach ihren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, wie hoch die Einwanderungsquoten sind und wer einwandern darf. Genau das schlagen auch wir in unserem Gesetzentwurf vor. Wir halten eine Debatte darüber für notwendig, weil nach unserer Auffassung in einer solchen Debatte am besten den dumpfen Vorurteilen, die wir in der Politik immer wieder hören, begegnet werden kann. Es muß darüber diskutiert werden, wie hoch die Zuwanderungsquote sein soll, wer zu uns kommen darf, wen wir wollen und brauchen. Auch das muß in diesem Zusammenhang gesagt werden: daß wir Menschen brauchen. ({4}) - Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Wiefelspütz, bin ich nicht Vorsitzender eines Fußballvereins. Deshalb fehlt mir in diesem Bereich der Sachverstand. Ihnen sieht man ja an, daß Sie der typische Fußballfan sind. Ich bin es nicht. Deswegen kann ich die Lage im Fußball nicht so gut beurteilen wie Sie. Aber ich hoffe, daß die Schwerpunkte der Zuwanderung in einem anderen Bereich liegen als in dem, den Sie gerade angesprochen haben. Jedenfalls brauchen wir auch Zuwanderer. Die F.D.P. möchte nur, daß diese Zuwanderung gesteuert wird. Deshalb haben wir einen Entwurf eingebracht. Wir erwarten, daß es endlich eine rationale Debatte darüber geben wird. Ich bin gespannt, wie die Koalitionsfraktionen, die eine solche Debatte immer wieder gefordert haben, unser Begehren beurteilen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Michael Bürsch.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um einen Bericht über den Stand der Beratungen zum F.D.P.Entwurf, um nicht mehr. Das hat eine formale und eine - heute nicht so stark interessierende - inhaltliche Seite. Zur formalen Seite: Vor rund neun Monaten, Anfang Dezember 1998, haben wir über dieses Gesetz in erster Lesung beraten. Einvernehmlich - auch mit Zustimmung der F.D.P. - haben wir dann im Innenausschuß am 20. Januar dieses Jahres die Beratung des Entwurfs von der Tagesordnung genommen. Der Grund dafür war der Beginn der monatelangen, intensiven Beratungen und öffentlichen Auseinandersetzungen um das neue Staatsangehörigkeitsrecht. Bis in den Sommer hinein waren wir Innenpolitiker mit dieser wichtigen Reform ausgiebig und erschöpfend beschäftigt. Anschließend, im Juni dieses Jahres, hat die Mehrheit im Innenausschuß beschlossen, den Gesetzentwurf nicht mehr vor der Sommerpause in Bonn abschließend zu beraten. Diese Vorgeschichte erklärt, warum wir heute über einen Sachstandsbericht reden. Nachdem sich nun auch der Innenausschuß in Berlin etabliert hat, sind die Regierungsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen sehr gerne bereit, über den F.D.P.-Vorschlag in der nächsten Sitzung des Innenausschusses abschließend zu entscheiden. Bei dieser Sach- und Rechtslage, Herr Kollege van Essen, kann nicht die Rede davon sein, daß die Regierungsfraktionen die Beschlußfassung über den F.D.P.Jörg van Essen Entwurf auf die lange Bank geschoben oder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben hätten. Nun ein paar inhaltliche Bemerkungen zur F.D.P.Initiative: Nach wie vor begrüßt die SPD-Fraktion das Ziel einer transparenteren gesetzlichen Steuerung der Einwanderung. Doch wird dies nach unserer Einschätzung nur mittelfristig zu erreichen sein. Gerade nach den jüngsten emotionalen Debatten um das Staatsangehörigkeitsrecht ist es eher schwieriger geworden, vorurteilsfrei und besonnen über unser nationales Selbstverständnis und die Vor- und Nachteile von Zuwanderung zu diskutieren. Mit den Ängsten, die mit dem Thema „Integration und Zuwanderung“ verbunden sind, muß - erkennbar - behutsam umgegangen werden. Auch das braucht seine Zeit. Vor allem aber dürfen keine unerfüllbaren Erwartungen geweckt werden. Schon der Titel des vorliegenden F.D.P.-Entwurfs „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ weckt die falsche Erwartung, mit dem Gesetz könnten die bestehenden zwingenden Zuzugsmöglichkeiten zum Beispiel für anerkannte Asylbewerber, für Spätaussiedler und für Familienangehörige im Rahmen der Familienzusammenführung ersetzt und auf diese Weise die Zuwanderung deutlich reduziert werden. Das wird nicht möglich sein, weil es gesetzliche Vorgaben sind. Der Entwurf suggeriert zudem, daß es gegenwärtig eine hohe Zuwanderung gebe. Auch Sie, Herr van Essen, haben das eben angedeutet. Es ist tatsächlich aber so, daß sich seit einigen Jahren die Zahl der Menschen, die nach Deutschland zuwandern, verringert, während gleichzeitig die Zahl derjenigen wächst, die unser Land verlassen. 1997 hatten wir mehr Abwanderung als Zuwanderung. Überdies: Der wirkliche Schlüssel zu einer rationalen, berechenbaren Zuwanderungspolitik liegt in Europa. Das ist auch Ihnen klar, Herr van Essen. Die Freizügigkeit der EU-Bürger und die fortschreitende europäische Integration rücken auch das Erfordernis einer gemeinsamen Einwanderungspolitik in den Vordergrund. Zuwanderung ist deshalb immer weniger eine nationale Aufgabe. Sie muß europaweit harmonisiert werden. Das ist aus unserer Sicht viel erfolgversprechender als Lösungen im nationalen Rahmen. ({0}) Fazit: Wir - auch die F.D.P. - sollten im gemeinsamen Interesse die jüngste Empfehlung der baden-württembergischen Zukunftskommission beherzigen und - Zitat viel mehr Energie, Nachdenken und Ausdauer auf eine systematische Integrationspolitik verwenden als bisher. ({1}) Wir Sozialdemokraten verschließen uns sicher nicht sinnvollen Vorschlägen, die uns auf den Feldern Zuwanderung und Integration voranbringen. Aber diese Vorschläge müssen in einem Gesamtkonzept sorgfältig abgewogen und erörtert werden, ehe es zu entsprechenden politischen Beschlüssen kommt. ({2}) Das heißt, auch für dieses Vorhaben gilt der neue sozialdemokratische Gesetzgebungsgrundsatz: Sorgfalt statt Schnelligkeit. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte lassen Sie mich zu Beginn zu einer Frage Stellung nehmen, die bei migrationspolitischen Debatten immer wieder auftaucht, ohne daß jedoch bis heute erkennbar gewesen wäre, welche Bedeutung die Beantwortung der Frage für die Entscheidungsfindung haben kann. Der Kollege van Essen hat das Thema angesprochen. Die Frage lautet: Ist unser Land ein Einwanderungsland? Oder: Sollten wir uns nicht klar dazu bekennen, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist? ({0}) Das ist eine reine Frage der Definition. Wenn man sagt, ein Land ist schon dann ein Einwanderungsland, wenn regelmäßig Zuwanderung stattfindet, dann ist Deutschland in der Tat ein Einwanderungsland. Das kann keiner bestreiten. In diesem Sinne ist Deutschland, wie vermutlich auch alle anderen Länder dieser Erde, ein Einwanderungsland. Worin aber soll bei der Bejahung der Frage der Erkenntnisfortschritt liegen? Richtigerweise muß man wohl sagen: Einwanderungsländer sind nur solche, die sich, aus welchen Gründen auch immer, gezielt um Zuwanderung bemühen. Davon kann bei uns spätestens seit November 1973 keine Rede mehr sein. Trotzdem nimmt die Bundesrepublik nach wie vor wie kaum ein anderes Land, insbesondere aus humanitären Gründen, Menschen auf. Dies geschieht auf Dauer oder auf Zeit, bis die Verhältnisse in den Herkunftsländern eine Rückkehr erlauben. Unser Land ist ausländerfreundlich, und das soll auch so bleiben. ({1}) Ich füge ausdrücklich hinzu: Dennoch muß auch und gerade im Interesse der rechtmäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer die Frage erlaubt sein, ob die nach wie vor beachtliche Zuwanderung unsere Integrationskraft nicht übersteigt. Dies gilt insbesondere für den Zuzug aus Nicht-EU-Ländern. Auch der Bundesinnenminister muß, zumindest verbal, dieser Auffassung sein. Er ist nicht persönlich hier, er hat seine First Lady geschickt; aber Sie werden es ihm berichten. Er hat vor wenigen Monaten in einem Interview gesagt, daß die Grenze der Belastbarkeit durch Zuwanderung nicht nur erreicht, sondern, so wörtlich, überschritten sei. Im Klartext: Einen so großen Zuzug wie in den vergangenen Jahren könnten wir uns in Zukunft nicht mehr erlauben. Wenn ein sozialdemokratischer Innenminister das sagt, dann ist das politisch korrekt. Hätte sein Vorgänger Manfred Kanther exakt den gleichen Satz gesagt, dann wäre ein Sturm der Entrüstung durch unser Land gegangen. ({2}) Er wäre als ausländerfeindlich gegeißelt worden. Wir vermissen bei diesem Innenminister, daß der richtigen Diagnose nunmehr die richtigen politischen Entscheidungen folgen. Im Zusammenhang mit der Debatte über die Einführung einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit haben wir zwei Anträge zur Abstimmung gestellt. In ihnen haben wir einerseits unserer Ansicht nach dringende Vorschläge für die Begrenzung weiterer Zuwanderung vorgelegt und andererseits zahlreiche Maßnahmen vorgeschlagen, mit denen die Integration der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Ausländer spürbar verbessert werden könnte. ({3}) - Wissen Sie, was ein großes Glück ist, Herr Kollege Tauss? Daß Sie nicht Mitglied des Innenausschusses sind. Wenn Ihre Mutter erleben könnte, wie Sie sich hier im Parlament benehmen und wie flegelhaft Sie dazwischenrufen, würde sie heute noch über die völlig fehlgeschlagene Erziehung enttäuscht sein. ({4}) Ohne daß eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der Union stattgefunden hat, sind sie in Bausch und Bogen verworfen worden. Natürlich ist es von Interesse, was der Bundesinnenminister zu wichtigen politischen Fragen sagt. Viel wichtiger ist jedoch, für welche praktische Politik er steht und ob das, was er öffentlich sagt, mit dem übereinstimmt, was er politisch durchzusetzen versucht. Leider ist hier eine erhebliche Diskrepanz festzustellen. Die F.D.P. hat bereits im November 1998 den Entwurf für ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz mit der nicht unoriginellen Begründung vorgelegt, daß die absehbare demographische Entwicklung in Deutschland zu einer fortschreitenden Überalterung der Bevölkerung führe; es müßten verstärkt ausländische Erwerbstätige einwandern; nicht zuletzt würde das deutsche Sozialsystem auch in Zukunft ohne die Mitarbeit ausländischer Arbeitnehmer nicht bestehen können. ({5}) Ich lasse einmal dahingestellt, ob diese Diagnose angesichts von über vier Millionen Arbeitslosen und der erfolgreichen Bemühungen der rotgrünen Bundesregierung bei der Vernichtung vorhandener und der Verhinderung neuer Arbeitsplätze richtig ist. Jedenfalls erscheint es seltsam, einerseits Gründe für eine stärkere Zuwanderung anzuführen und andererseits durch den Begriff „Zuwanderungsbegrenzung“ den Eindruck zu erwecken, daß dieser Gesetzentwurf geeignet sei, den Zuwanderungsdruck zu verringern. ({6}) Ich will der F.D.P. nicht absprechen, daß sie sich ernsthaft darum bemüht, für ein wichtiges Feld der Innenpolitik ein neues Lösungsmodell anzubieten. Es gibt allerdings erhebliche Zweifel daran, daß der vorliegende Gesetzentwurf geeignet ist, irgendein Problem zu lösen. ({7}) Kernpunkt ist die Lenkung der Einwanderung durch die Bildung von Gesamthöchstzahlen und Teilquoten sowie deren Nachsteuerung. ({8}) Es ist die feste Überzeugung unserer Fraktion, daß sich so die migrationspolitischen Probleme bei ansonsten unveränderter Rechtslage nicht lösen lassen. Wir wären außerordentlich dankbar gewesen, wenn uns die F.D.P. in den vergangenen Monaten einmal ganz präzise mitgeteilt hätte, welche praktischen Auswirkungen dieser Gesetzentwurf bei Realisierung eigentlich gehabt hätte. ({9}) Sollte es nach dem Willen der F.D.P. in diesem Jahr mehr oder weniger Zuwanderung geben? Wenn mehr, was soll dann die Teilüberschrift „Begrenzung“? Wenn weniger, wer oder welche Personengruppen hätten nach Ansicht der F.D.P. nicht mehr einreisen dürfen, die nach geltendem Recht einreisen können? Wie groß wären nach Ansicht der F.D.P. die Gesamthöchstzahl in diesem Jahr und wie hoch die einzelnen Teilquoten gewesen? Uns würde auch interessieren, wie die Liberalen den Zuzug auf Grund von Art. 16 a des Grundgesetzes einschränken wollen und ob sie der Ansicht sind, daß Art. 116 eine beliebige Begrenzung des Zuzuges erlaube. Gerne würden wir auch erfahren, ob die F.D.P. eine Begrenzung des Familiennachzuges anstrebt oder ob sie ernsthaft plant, die durch EU-Recht garantierte Freizügigkeit einzuschränken. ({10}) Wenn nein, würde es nach Verabschiedung des Gesetzes mehr oder weniger Zuwanderung geben? Wie soll zahlen- oder quotenmäßig mit jenen Asylbewerbern verfahren werden, denen zwar rechtskräftig mitgeteilt wurde, daß sie keinen Anspruch auf Asyl und damit keinen Anspruch auf einen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik haben, die sich aber zum Teil jahrelang und mit allen Tricks darum bemühen, der drohenden Abschiebung zu entgehen? In diesem Zusammenhang eine Zwischenbemerkung: Die Begrenzung weiteren Zuzugs einerseits und die von den Koalitionsfraktionen verabredete neue Altfallregelung andererseits schließen sich gegenseitig aus. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle kennen Einzelfälle, bei denen wir vermutlich alle der Überzeugung sind, daß es das Lebensschicksal des Betroffenen jenWolfgang Bosbach seits einer rechtlichen Würdigung gebietet, einen weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik zu gewähren. Humanität und Großzügigkeit dürfen auch im Ausländerrecht keine Fremdwörter sein. Aber eine erneute großzügige Altfallregelung wäre zum einen eine Prämie für jene, die sich zum Teil seit vielen Jahren mit allen Finessen darum bemühen, ihrer Ausreisepflicht nicht nachzukommen, und zum anderen wäre sie ein weiterer Anreiz zur Einreise in die Bundesrepublik. Statt dessen benötigt unser Land dringend eine gerechte Lastenverteilung innerhalb der Europäischen Union, insbesondere bei der Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen. Wir haben während des Krieges in Bosnien-Herzegowina über 350 000 Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen, mehr als alle anderen Staaten der Europäischen Union zusammen. Das kritisiere ich nicht. Aber alleine und auf Dauer können wir keine Lasten tragen, die größer sind als die Lasten aller anderen Staaten in Europa zusammen. ({12}) Die Kombination von weltweit einzigartigen Rechtsschutzgarantien und außerordentlich großzügigen sozialen Leistungen machen die Bundesrepublik für Migranten aus aller Welt zu einem begehrten Ziel. ({13}) Vor diesem Hintergrund muß die Frage erlaubt sein, ob nicht unter bestimmten Voraussetzungen die Aufenthaltsbedingungen in der EU zumindest ähnlich ausgestaltet sein müssen. Dies alles sage ich ausdrücklich ohne Vorwurf an irgend jemanden, auch nicht an die Adresse des Bundesinnenministers. Wir alle wissen aus der Vergangenheit, wie schwierig es ist, derartige Vereinbarungen zu erreichen. Hier müssen nicht nur einzelne, sondern ganze Berge dicker Bretter gebohrt werden. Trotzdem dürfen wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Die Union ist gern bereit, die Bundesregierung bei diesen Bemühungen zu unterstützen. Daneben brauchen wir auf allen staatlichen Ebenen verstärkte Bemühungen um eine bessere Integration der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer. Das ist das Gebot der Stunde, sowohl im Interesse unseres Landes als auch und gerade im Interesse der betroffenen Menschen, deren Lebenschancen in unserem Land mit einer gelungenen Integration untrennbar verbunden sind. Wenn der Anteil von Ausländern bei der Erwerbslosigkeit doppelt so hoch ist wie ihr Anteil an der Bevölkerung und wenn ihr Anteil an den Empfängern von Sozialhilfe dreimal so hoch ist, dann sind das alarmierende Daten. Gleichzeitig bedeuten sie eine Herausforderung an alle, die hier Verantwortung tragen. Ein schlichtes Nein zu den Vorschlägen der Union kann daher nicht genügen. Ich würde das folgende normalerweise nicht sagen; unnötige Schärfe muß nicht sein. Aber nachdem gestern die Kollegin Wieczorek-Zeul die Katze aus dem Sack gelassen hat und im „Kölner Stadt-Anzeiger“ entsprechend zitiert worden ist, muß ich es sagen: Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen, geht es im Zusammenhang mit Einbürgerung und Wahlrecht um die Macht. Uns geht es um Hilfe für die betroffenen Menschen. Das ist der politische Unterschied. Danke für Ihr Zuhören. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion um Zu- und Einwanderung wird in unserem Land oft sehr aufgeregt geführt. Wir alle tun uns sehr schwer, bei diesem Thema zur Sachlichkeit zu finden. Auch die Diktion ist oft sehr verräterisch. Es wird im Zusammenhang mit Migration sehr schnell von Überschwemmung, von Migrations- und Fluchtwellen oder von vollen Booten geredet. Das ist eine Diktion, die Urgewalten bemüht. Sie ist nicht dazu angetan, die Behandlung dieses prekären Themas auf eine sachliche Basis zu stellen. Insofern ist es gut, wenn wir uns hier als erstes darauf verständigen, die Debatte um Migration in sehr nüchternem Ton zu führen. Wir haben auch eine Verpflichtung angesichts der Debatte in der Gesellschaft, die oft sehr problematisch ist. Ein erster Schritt zur Versachlichung ist in der Tat, die Fakten zu beleuchten, die mit Migration zu tun haben. Richtig ist, daß in den letzten acht Jahren, also von 1991 bis 1998, etwa 8,8 Millionen Menschen vorübergehend oder dauerhaft - die Statistiken geben eine Differenzierung zum Teil gar nicht genau genug her - nach Deutschland zugezogen sind. Der Anteil der Ausländer daran betrug etwa 80 Prozent. Richtig ist aber auch, daß im gleichen Zeitraum etwa 5,8 Millionen Menschen ebenfalls überwiegend ausländische Staatsangehörige Deutschland verlassen haben. Diese zweite Zahl wird in der aufgeregten Debatte sehr oft unterschlagen, wodurch sich ein schiefes Bild ergibt. Immerhin beträgt der Wanderungsüberschuß etwa 3 Millionen Menschen Deutsche wie Ausländer. Allerdings hat sich in den letzten beiden Jahren - das ist spannend - der Wanderungssaldo bei den Ausländern umgekehrt: 1997 und 1998 zogen mehr Ausländer aus Deutschland weg als nach Deutschland zu. Im letzten Jahr haben wir 606 000 Zuzüge gehabt, aber 639 000 Wegzüge, also ein Minussaldo von 33 000 Menschen. Es ist sehr wichtig, dies in der Gesellschaft zu vermitteln, damit wir endlich von der Aufregung und von solchen Sätzen wie „Das Boot ist voll“ wegkommen. ({0}) Der Ausländeranteil in diesem Land ist 1998 um 0,6 Prozent gesunken. Diese Zahlen belegen nun zweierlei: Wir haben es mit einer relevanten Einwanderung zu tun. Wir haben es aber auch mit einer sehr hohen Mobilität von Ausländern und Deutschen zu tun, die auch nationale Grenzen überschreitet. Hierauf muß sich Politik einstellen. Mit der Weigerung, die Tatsache dieser Einwanderung anzuerkennen, hat die alte Regierung Gestaltungsmöglichkeiten unnötig aus der Hand gegeben. ({1}) Es gilt nun, diese Versäumnisse wettzumachen. ({2}) Denn in der Regelung der zukünftigen Zuwanderung und der Integration der Einwanderer liegt - darin sind wir uns einig - in der Tat eine zentrale Gestaltungsaufgabe für die kommenden Jahre. Zu dem Integrationsansatz der Union möchte ich noch ganz kurz sagen: Es war ja kein Modell. Es war ein Sammelsurium von unterschiedlichen Vorschlägen, deren Auswirkungen in keiner Weise finanziell beziffert wurden. Zudem war nicht klar, auf welcher Ebene überhaupt Handlungsmöglichkeiten bestanden. Was Sie dem Parlament angeboten haben, war doch sehr zusammengesucht und eigentlich untauglich. ({3}) Eine Industrienation in der Mitte Europas wird auch weiterhin mit Zuwanderung und Abwanderung von Arbeitskräften, Familienangehörigen, Unionsbürgern und Flüchtlingen leben müssen. Wenn wir auf der einen Seite darauf hinweisen, daß Informations- und Kommunikationstechnologien unseren Globus in ein Wohnzimmer verwandeln, dann können wir nicht auf der anderen Seite eine Politik nationaler Abschottung wie im vergangenen Jahrhundert machen. ({4}) Wir sind in einer sich globalisierenden Welt auf Migration angewiesen, sowohl aus wirtschaftlichen und demographischen als auch aus sozialen und kulturellen Gründen. Wir stehen allerdings erst am Beginn der Diskussion um eine moderne Einwanderungs- und Integrationspolitik, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik. Daß wir diese gelassen führen sollten, darüber sind wir uns in diesem Hause sicherlich einig, ebenso darüber, daß wir sie auf der Grundlage gesicherter Zahlen führen sollten. Diese fehlen zur Zeit. Ich habe das schon eben gesagt: Die erste Aufgabe wird sein, sich das Zahlenund Datenmaterial etwas genauer anzuschauen. Das wird die Bundesregierung in der kommenden Zeit auch tun. Ich möchte nur daran erinnern, daß zum Beispiel der Anwerbestopp 1973 nicht, wie beabsichtigt, zu einer Senkung, sondern zu einem Anstieg der Zuwanderung geführt hat, weil dieser Anwerbestopp den Familiennachzug in Gang gesetzt hat. Hier ist man nach dem Motto „trial and error“ vorgegangen und hat eine Migrationspolitik gestaltet, wie sie eigentlich nicht beabsichtigt war. Eines scheint mir allerdings sicher: Die hier von der F.D.P. vorgeschlagenen Maßnahmen - wir werden sie noch diskutieren - im Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes signalisieren schon im Titel: Das Boot ist voll. ({5}) Das finde ich nicht in Ordnung. Der Ansatz von Quotierung und flexibler Steuerung, so wie Sie das vorschlagen, führt zu einem undurchschaubaren und hoch bürokratischen System von Teil- und Gesamtquoten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt?

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte, Herr Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, würden Sie die sehr interessanten Zahlen, die Sie uns vorgetragen haben, vielleicht noch durch den Hinweis ergänzen, daß alle diese Zahlen vor dem Hintergrund des natürlichen - das heißt des deutschen - Bevölkerungswachstums von minus 70 000 im letzten Jahr zu sehen sind, so daß wir sagen müssen, daß unsere Bevölkerung, wenn ich das recht sehe, im letzten Jahr geschrumpft ist? ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deswegen ist es ja so wichtig, darüber zu diskutieren, ohne parteipolitisches Kapital aus der Migrationsdebatte schlagen zu wollen, auch wenn, wie wir in den vergangenen Monaten lernen mußten, die Versuchung sehr nahe liegt. ({0}) Wir müssen uns darüber unterhalten, in welche demographischen Schwierigkeiten diese Gesellschaft gerät. Der „Spiegel“-Titel der vergangenen Woche hat das aufbereitet. Insofern haben wir ganz andere Debatten in der Bevölkerung zu führen: nicht hinsichtlich Abschottung, sondern hinsichtlich Zuwanderung und gewollter Migration. ({1}) - Auch nach eigenen Interessen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß. Marieluise Beck ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gut. - Wir werden sicherlich noch weiter diskutieren; wir haben im Ausschuß noch Zeit dazu. Klar ist, daß ein hoch bürokratisiertes Modell, wie Sie es vorschlagen, nicht tauglich sein kann und daß auch ein Ansatz, der ausschließlich die nationalen Interessen formuliert, nicht aber den sozialen und humanitären Aspekt beinhaltet, von uns nicht mitgetragen wird. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich fand es schon einigermaßen irritierend, Herr van Essen, daß Ihr Gesetzentwurf ausgerechnet wenige Tage, nachdem die DVU in Brandenburg mit einem Wahlerfolg ins Landesparlament einziehen konnte, noch einmal eingebracht wird. ({0}) - Ja gut, er wird auf die Tagesordnung gesetzt, damit er diskutiert wird. Das ist mir schon klar, Herr van Essen. Fakt ist aber doch, daß die DVU nur mit ausländerfeindlichen Parolen ins Parlament gekommen ist und daß Sie mit Ihrem Gesetzentwurf nicht über die Frage der Einwanderung oder darüber, wie eine mögliche Zuwanderung geregelt werden kann, debattieren wollen, sondern daß es Ihnen - wer den Gesetzentwurf genau liest, weiß das auch - einzig und allein um die weiterhin unkontrollierte Zuwanderung geht, wie Sie es selbst sagen. Auch der Name des Gesetzes - „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ - belegt, daß Sie Zuwanderung verhindern wollen. Das ist der Inhalt Ihres Gesetzes. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, gern.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Jelpke, unabhängig davon, daß ich den Zusammenhang, den Sie zur DVU herstellen wollten, ganz entschieden zurückweisen muß, würde mich interessieren, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß in diesem Land - ob rational oder irrational, das sei dahingestellt - in weiten Teilen der Bevölkerung Ängste wegen der Zuwanderung bestehen, die wir so nicht teilen. Sind Sie weiterhin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Ängste vor allem darauf beruhen, daß Zuwanderung tatsächlich stattfindet, daß sie aber von den Menschen, die Angst davor haben, als etwas nicht Steuerbares, als etwas, was mit ihnen passiert, wahrgenommen wird und daß unser Gesetz dafür sorgen soll, daß Zuwanderung auf nachvollziehbare Weise stattfindet, damit die diffusen Ängste verschwinden können und die Zuwanderung auch größer werden kann? Begrenzung heißt schließlich nicht ausschließlich weniger Zuwanderung, sondern Begrenzung bedeutet auch Zuwanderung in einem notwendigen und von uns gewünschten Maß, das wir zu definieren haben. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sie haben im Grunde genommen den Punkt, den ich ansprechen wollte, vorweggenommen. Ich wollte ausführen, daß Ihr Gesetz, in dem Sie hauptsächlich über Zuwanderungsbegrenzung diskutieren, auf Zustimmung in der Bevölkerung stößt, und daß Sie die Stimmung und das rechtsextremistische Gedankengut befördern. ({0}) Sie sagen das auch selbst in Ihrem Gesetzentwurf. ({1}) - Darauf gehe ich gleich noch ein. - Ich möchte darauf hinweisen, daß Ihre Analyse, die Sie immer vortragen, falsch ist. Mehrere Kollegen haben vor mir berichtet, daß es gegenwärtig keine Zuwanderung gibt, sondern daß die Abwanderung eher höher ist, und das nicht erst seit 1998, sondern seit 1997. Ich kann Ihnen die Zahlen nennen. Die Zuzüge betrugen 1997 615298 und die Fortzüge 637066. Im Jahr 1998 sehen die Zahlen nicht wesentlich anders aus. Diese Fakten müssen Sie erst einmal zur Kenntnis nehmen. Wer in dieser Situation eine solche Debatte führt und nicht darüber diskutiert, wie beispielsweise Integrationsmaßnahmen verstärkt werden können, ({2}) wie die Probleme von Menschen ausländischer Herkunft, die hierher emigriert sind, gelöst werden können, der wird meiner Meinung nach solche Stimmungen befördern, wie sie beispielsweise von der DVU in Brandenburg und anderen Ländern zum Ausdruck gebracht werden. ({3}) Ich meine, daß Sie, wenn Sie in Ihrem Antrag eine falsche Analyse bringen, bereit sein müssen, Ihren Gesetzentwurf zurückzuziehen. Diese Analyse trifft ja gegenwärtig nicht mehr zu. Ich denke, diese Diskussion brauchen wir gegenwärtig zweifellos nicht. Unabhängig davon - das ist bereits vom Kollegen Bosbach und anderen angesprochen worden - kann es nicht sein, daß wir über ein Quotensystem diskutieren, das zu Lasten von Humanität und Menschenrechten geht. Familiennachzug darf beispielsweise nicht auf Kosten anerkannter Asylbewerber und Asylbewerberinnen gehen. Das ist ein grundlegender Verstoß; das habe ich auch damals schon in der Debatte, in der Sie das Gesetz eingebracht haben, gesagt. Politik für Migrantinnen und Migranten, für Menschen, die hier eingewandert sind - daß Deutschland ein Einwanderungsland ist, ist meiner Meinung nach völlig unumstritten; das müssen auch Sie langsam anerkennen -, muß Sprachförderung und wirkliche Integrationsmaßnahmen beinhalten. ({4}) In diesem Zusammenhang ist auch Jugendsozialarbeit zu finanzieren, damit der Rechtsextremismus zurückgewiesen werden kann und sich vor allen Dingen die Stimmung in der Bevölkerung verändert, was Migrantinnen und Migranten in diesem Land angeht. Danke. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Liebe Kollegen und Kolleginnen! Zunächst sollten wir uns den Anlaß der heutigen Debatte vor Augen führen: Eine Fraktion glaubte, ihr parlamentarisches Anliegen werde zu sehr verzögert, und meldete das Thema nach den Regularien an, weil es im Innenausschuß so lange nicht behandelt worden war. Daraufhin vermutete ich, daß Sie heute hier massenhaft und markig antreten, um Ihr Anliegen machtvoll zu vertreten. Aber was sehen wir? Zwei bis drei Teilnehmer der F.D.P.-Fraktion. ({0}) - Im Innenausschuß habe ich Sie, die Sie da sitzen, auch nicht so oft gesehen. Das wollen wir erst einmal festhalten; denn das illustriert doch die Ernsthaftigkeit des Anliegens der F.D.P.-Fraktion. ({1}) Eines ist sicherlich richtig: Es ist nur sehr bedingt möglich, die Migration nach Deutschland politisch zu steuern und zu gestalten. Zugang zu unserem Land haben politisch Verfolgte, nachziehende Familienangehörige und Menschen, die vor Bürgerkriegen Zuflucht suchen. Im Vergleich zu diesen Gruppen ist der Zuzug der Spätaussiedler vielleicht am ehesten zu steuern, und das tun wir ja auch. Daß darüber hinaus darüber nachgedacht wird, ob es noch einen anderen Weg für solche Menschen geben kann, die bei uns eine andere Lebensperspektive suchen, das empfinde ich als durchaus verständlich. Schließlich geht es trotz anhaltender Arbeitslosigkeit nicht ohne ausländische Arbeitskräfte; denn unsere Gesellschaft altert und die Sozialsysteme geraten in Probleme. Das sind die Wurzeln, aus denen seit Jahren die Auseinandersetzung um Chancen und Risiken eines Einwanderungsgesetzes mit Quoten erwächst. Es ist also durchaus denkbar, meine Damen und Herren, daß auch wir künftig eine Regelung brauchen, wie sie etwa in klassischen Einwanderungsländern besteht; aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt, nicht ohne Einbettung in gemeinsame Überlegungen mit unseren europäischen Partnern und schon gar nicht nach dem Muster, das uns die F.D.P.-Bundestagsfraktion hier feilbietet. Liebe Kollegen und Kolleginnen auf den Sesseln der F.D.P.-Fraktion, wenn Sie mit dem Schlachtruf „Der Umständlichkeit eine Gasse“ in den Kampf ziehen wollten, dann wäre Ihnen sicherlich ein bravouröser Sieg sicher; denn Sie präsentieren - die Kollegin Beck hat es schon gesagt - ein ungeheuer kompliziertes bürokratisches Gebilde mit Teilquoten, Gesamthöchstzahlen, sonstigen Höchstzahlen, Vor- und Nachsteuerung, und zur Durchführung des gesamten Verfahrens muß ein Bundesamt für die Regulierung der Zuwanderung herhalten. ({2}) Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei der Migrationspolitik handelt es sich um Menschen und nicht um eine Mathematikaufgabe. ({3}) Schwerer wiegt noch etwas anderes. Sie sagen ja selbst, daß das Gesetz keine zusätzliche Wanderung nach Deutschland ermöglichen oder auslösen soll. Also werden Bewegungen umgeschichtet, und zwar, wie ich meine, auf eine höchst bedenkliche Weise. Zwar stellen Sie den Familiennachzug nach geltendem Recht nicht grundsätzlich in Frage. Aber um die jährlichen Zuzugszahlen einhalten zu können, wollen Sie diesen Zuzug mit den sonstigen Quoten verrechnen. Wissen Sie, was das in der Praxis bedeutet? Dadurch kann sich die Einreise eines Angehörigen zu Familienmitgliedern, die hier schon leben, um Jahre verzögern. Das bedeutet eine ganz erhebliche Härte und verstößt wahrscheinlich gegen den grundgesetzlich verbrieften Schutz von Ehe und Familie. Sie glauben ja wohl nicht im Ernst, daß wir Ihnen dazu die Hand reichen. ({4}) Ich möchte dann auf die europäische Dimension zu sprechen kommen. Wir stehen vor der Osterweiterung der Europäischen Union. So wichtige Staaten wie Polen, die Tschechische Republik und Ungarn werden sich in absehbarer Zeit noch enger an Europa binden. Andere Länder werden folgen. Mitgliedschaft in der EU bedeutet zugleich Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft. Man mag sich ja darüber streiten, wie sich Migration unter veränderten Bedingungen entwickeln wird. Aber die Osterweiterung ist ja wohl den meisten von uns eine Herzensangelegenheit. Wir sollten uns daher nicht selber Knüppel zwischen die Beine werfen, indem wir für neue Mitglieder Freizügigkeit schaffen, die zugleich durch andere Zugangsmöglichkeiten aus anderen Staaten wieder ausgehöhlt werden könnte. Eine fortschrittliche Zuwanderungspolitik setzt voraus, daß man die Lebenswirklichkeit und das Empfinden vieler Menschen nicht völlig außer acht läßt. Wie wollen Sie denn eigentlich Ihr Modell in Regionen mit hoher Erwerbslosigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Menschen verständlich machen? Wollen Sie sagen „Es gibt ein neues Gesetz und viele Jobs. Nun bewerbt euch mal!“? Auch wenn die Tatsache zutrifft, daß Arbeitslosigkeit schon jetzt mit Fachkräftemangel einhergeht, können Sie dieses Gesetz vielen Menschen einfach nicht plausibel machen. Deshalb sage ich für die Bundesregierung sehr deutlich: Wir stoßen die Tür zu einem zukünftigen Gesetz mit quotierter Zuwanderung nicht zu; aber wir lassen sie bis auf weiteres angelehnt. Wir sind davon überzeugt, daß wir die Chancen, aber auch die Probleme der Migration nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern angehen können. Deswegen haben andere Ziele für uns zeitliche und inhaltliche Priorität, nämlich die Integration derer, die hier dauerhaft leben, und eine Asylund Flüchtlingspolitik, die die humanitären Spielräume stärker auslotet. Herr Bosbach, die Diskussion um eine Altfallregelung hat mit der jetzigen Diskussion nichts zu tun. Diese Regelung betrifft Menschen, die hier leben und die nicht etwa über eine Quotenregelung hier ins Land geholt werden sollen. Diese beiden Sachverhalte sollte man sauber auseinanderhalten. Es geht jetzt vor allen Dingen um die Integration. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht ist das deutliche Signal für den Wandel in der Integrationspolitik, den wir in den letzten 10 Monaten eingeleitet haben. Wir brauchen auch eine Kampagne gegen die alltägliche Diskriminierung und für gegenseitige Achtung und Partnerschaft im Zusammenleben von Menschen deutscher und ausländischer Herkunft. Wie dringlich dies ist - auch das muß ich sagen - haben die Wahlergebnisse des vergangenen Sonntags einmal mehr bewiesen. Die von dem Kollegen van Essen eben ausgedrückte Zuversicht über den Rückgang von Fremdenfeindlichkeit kann ich leider in dieser Form nicht teilen. Dazu ist eine Offensive, ein Bündnis für Demokratie und Toleranz nötig, die wir vorbereiten. Daran mitzuwirken sind Sie alle herzlich eingeladen. Danke schön. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache und rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zusatzpunkt 8 auf: 12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gunnar Uldall, Bernd Protzner, Karl-Heinz Scherhag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU „Jahr-2000-Problem“ in der Informationstechnik ernst nehmen - Drucksachen 14/1334 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({0}) Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Tourismus Ausschuß für Kultur und Medien ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Ulrike Flach, Horst Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Jahr 2000-Problem - Unterstützung zur Problemlösung - Drucksache 14/1544 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({1}) Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Tourismus Ausschuß für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Fraktion der F.D.P. der Kollege Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben am heutigen Nachmittag interfraktionell verabredet, daß eigentlich mit Ausnahme der beiden SPD-Kollegen, die heute ihre Jungfernreden halten, die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es hat sich herausgestellt, daß diese Absprache in den Fraktionen offensichtlich nicht, wie verabredet, weitergegeben worden ist. Deshalb erlaube ich mir, den Redebeitrag meiner Kollegin Homburger hier vorzutragen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, den Fortschrittsbericht zum Jahr-2000Problem zu konkretisieren. Der Fortschrittsbericht, den die Bundesregierung im April 1999 vorgelegt hat, läßt nämlich viele Fragen offen. Deshalb hatte die F.D.P.Fraktion eine Kleine Anfrage zum Jahr-2000-Problem an die Bundesregierung gerichtet. Die Bundesregierung sollte über nationale wie internationale Problemlösungen und über den Vorbereitungsstand Auskunft geben. Leider wurden die offenen Fragen auch in der Antwort der Bundesregierung nicht beantwortet. Daher bringt die F.D.P.-Bundestagsfraktion heute den Antrag „Jahr-2000-Problem - Unterstützung zur Problemlösung“ in den Bundestag ein. Die F.D.P.-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, den vorgesehenen zweiten Fortschrittsbericht bis zum 1. Oktober 1999 fristgerecht vorzulegen und ihn klar und konkret zu fassen. Wir verlangen, daß der zweite Fortschrittsbericht der Bundesregierung klar zeigt, wie weit die Vorbereitungen zum Jahr-2000-Problem sind und wo noch Probleme bestehen. Vor allem dort, wo es durch Computerfehler zu einer Gefährdung der Bevölkerung kommen könnte, ist Handeln statt Aktionismus angesagt. Das gilt unter anderem für den Bereich der Kernkraftwerke, die Trinkwasserversorgung und die Krankenhäuser. Wo keine direkte Zuständigkeit der Bundesregierung besteht, fordern wir klare Kompetenzabsprachen und entsprechende Unterstützung zum Beispiel der Kommunen. Wir verlangen von der Bundesregierung saubere Arbeit statt seitenweise Geschwafel und ein klares Informationskonzept für die Bevölkerung. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion hat jetzt der Kollege Rainer Brinkmann das Wort.

Rainer Brinkmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eines heute abend vorab feststellen: Erstens. Das Jahr-2000-Problem wird von vielen vollkommen überschätzt, von vielen aber auch unverantwortlich verharmlost. Zweitens. Das Problem als solches besteht schon lange, und die alte Bundesregierung hat sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Darum sind die vorliegenden Anträge von Union und F.D.P. auch als das zu bewerten, was sie nämlich in Wirklichkeit sind: Showanträge, die von den eigenen Fehlern der Vergangenheit ablenken sollen. ({0}) Was ursprünglich einmal als geniale Idee von Computerprogrammierern gefeiert worden war, nämlich die Jahreszahl zweistellig einzugeben und damit Geld und Speicherkapazität zu sparen, entpuppt sich nun als ernsthaftes Problem für Technik, Wissenschaft, Wirtschaft, Dienstleister und öffentliche Hand. Die pikante Anekdote am Rande: Der Chef der amerikanischen Notenbank, Alan Greenspan, der selbst erheblich mit den möglichen Auswirkungen dieses auch Y2K genannten Problems zu kämpfen hat, war selber als Programmierer in den 60er und 70er Jahren nicht unerheblich an der Ursache dieses Problems beteiligt. Die Herausforderung für alle Beteiligten ist groß und muß weltweit angepackt werden. Es gibt in der Informationstechnologie keine staatlichen Grenzen. Mit jedem Chip hat sich das Risiko vergrößert. Weltweit sind es zwischenzeitlich drei Milliarden Prozessoren, in denen ein Fehlerrisiko stecken kann. Die sogenannten embedded systems, die eingebetteten Prozessoren sind es, die noch heute das eigentliche Risiko in sich bergen. Das Problem besteht darin, daß niemand weiß, wie diese Prozessoren am 1. Januar 2000 um 0.00 Uhr reagieren. Die neue Bundesregierung hat sich dieser Problematik schnell angenommen und eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen, die der Komplexität dieser Herausforderung angemessen sind. Sowohl im Fortschrittsbericht aus dem April dieses Jahres als auch in der Beantwortung der Kleinen Anfrage der Koalitionsfraktionen in der Drucksache 14/1469 werden diese Anstrengungen ausführlich dargelegt. Schwerpunkte der Aktivitäten sind die Aufklärung der KMU, der Kommunen und Verbraucher sowie der Bereiche, in denen der Bund eine eigene Zuständigkeit besitzt. Im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland ist eine zentrale Lösung, so wie sie im Antrag der CDU/CSU gefordert wird, nun einmal nicht möglich, und eine dezentrale Lösung unter Beteiligung der Länder und anderer Einrichtungen und Institutionen angesagt. Durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit ist die notwendige Sensibilität bei allen Unternehmern und den Verantwortlichen in den Kommunen und Ländern sowie den öffentlichen Einrichtungen erreicht worden. Es kann nicht die Aufgabe der Bundesregierung sein, die notwendigen Arbeiten derjenigen zu erledigen, die dafür selbst die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung haben. Dennoch gibt es ein breites Informationsangebot, das für alle bereitsteht und auch hunderttausendfach genutzt und als wirksame Hilfestellung verstanden wird. Wenn wir, die Koalitionsfraktionen, im April dieses Jahres eine eigene Kleine Anfrage gestellt hatten, dann mit der Zielsetzung, die öffentliche Diskussion über diese Problematik zu beleben. Wer heute einen Blick in die entsprechenden Seiten des Internets wirft, stellt fest, daß dieses Ziel auch erreicht worden ist. Interessant hierbei ist aber auch die Tatsache, daß unter der Seite „zeitbombe-jahr2000.de“ die Urheber das Unionsantrages ausgemacht werden können. ({1}) Die Gestalter dieser sogenannten Webseite geben selber an, am Antrag der Union gearbeitet zu haben. Dies ist eigentlich überhaupt nicht verwerflich. Verwerflich ist aber die Stoßrichtung dieser Webseite und wie dort mit unseriösen Methoden Propaganda betrieben wird. Die Diktion der Webseite „zeitbombe-jahr2000.de“ ist auch im Antrag der Union enthalten. Dabei wird verschwiegen, welche großen internationalen Hilfen die Bundesregierung leistet und nicht etwa bekommt und welche Anstrengungen sie auch im Rahmen ihrer EUPräsidentschaft unternommen hat. Die Bundesregierung ist auch im internationalen Rahmen führend und hinkt nicht, wie von vielen behauptet, hinterher. Den Kolleginnen und Kollegen von der Opposition möchte ich heute abend einen schönen guten Morgen wünschen. ({2}) Denn ihre Anfrage zum Jahr 2000 zeigt vor allem eines: Sie haben das Thema verschlafen wie vieles andere auch. ({3}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein Anlaß zur Hysterie. Aber es könnte in der Tat zu einer ganzen Reihe von kleineren Vorfällen, von Schäden für Menschen und die Volkswirtschaft in unserem Lande kommen. Die Bundesregierung hat mehr als 5 Millionen DM aufgewandt, um das Jahr-2000-Problem darzustellen, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und ihr Informationen zu vermitteln. Zusammenfassend ist zu sagen: Die Bundesregierung hat auf nationaler und internationaler Ebene vielfältige Aktivitäten entwickelt, um die Funktionsfähigkeit von zentralen öffentlichen und privaten Einrichtungen der Infrastruktur zu erhalten. Die neue Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht, ganz im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin, die das Problem zwar erkannt, ihm aber keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die alte Bundesregierung hat sich, wie jeder weiß, nicht nur deshalb als nicht Jahr-2000-fest erwiesen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brinkmann, dies war ihre erste Rede hier im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Sie dazu beglückwünschen. Ähnlich wie meine Kollegin Anke Fuchs gestern kann ich Sie auch dazu beglückwünschen, daß Sie in Ihrer Jungfernrede die Redezeit wunderbar eingehalten haben. ({0}) Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Gunnar Uldall.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Brinkmann, dies war Ihre Jungfernrede. Es hat mich gefreut, daß ich dabei sein durfte. Sie sollten aus dem, was Sie vorgetragen haben, eines lernen: Man muß sich auf ein Thema immer so vorbereiten, daß man seine Informationen aus möglichst vielen Quellen sammelt. Wenn Sie sich auch aus unabhängigen Quellen Input für eine parlamentarische Initiative holen, dann machen Sie es genau richtig. So haben auch wir es gemacht. Deswegen können Sie vielleicht viele Webseiten zitieren, deren Autoren angeben, der CDU geholfen zu haben, und stolz darauf sind zu Recht. Wenn die Leute sagen, sie helfen der CDU und sind stolz darauf, dann freuen wir uns. Hier werden die Maßstäbe richtig gesetzt. ({0}) Wir haben vorhin überlegt, ob man die Reden zu Protokoll gibt. Aber wenn nur Herr Brinkmann und Herr Kollege Berg ihre Reden hier gehalten hätten und wir nicht hätten antworten dürfen, dann wäre das nicht so gut gewesen. Ich war ein bißchen hin und her gerissen, ob man nicht besser Unter den Linden spazierengegangen wäre. Auch das hätte seinen Reiz gehabt. Aber das wäre wieder ein bißchen typisch für den Umgang mit diesem Thema gewesen. Das Thema Jahr-2000-Problem ist im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zu einem Spezialistenthema geworden. Davon müssen wir weg; da sind wir uns sicherlich einig. Wir müssen dieses Thema breiteren Kreisen nahebringen. Wir Politiker sind dazu verpflichtet, dieses komplizierte und abstrakte Thema so vorzutragen, daß man die Expertenkreise übersteigt. Ich gebe Ihnen recht: Wir wollen das Thema in Ruhe diskutieren, ohne Hysterie zu erzeugen, müssen aber auf der anderen Seite auch dafür sorgen, daß diesem Thema die notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Wir müssen mit Ernst und Nachdruck darauf hinweisen, welche Folgen mit einer mangelhaft vorbereiteten Umstellung verbunden sein können. Jeder Bürger, jedes Unternehmen, jede staatliche Institution muß ein Interesse daran haben, daß im eigenen Bereich alles dafür gerüstet ist, das Problem der Jahr2000-Umstellung möglichst klein zu halten. Deshalb bereitet es schon einige Sorge, wenn, wie die Hermes Kreditversicherung bei einer Umfrage im Sommer dieses Jahres festgestellt hat, 48 Prozent der deutschen Unternehmen diesem Problem keine besondere Bedeutung beimessen und erst 30 Prozent die Notfallpläne für ihr Unternehmen ausgearbeitet haben. Die Hermes Kreditversicherung, die als Hauptgeschäft die Warenkreditversicherung betreibt, wird das sehr genau analysiert haben. Deswegen ist es gut, daß wir hier gemeinsam eine Debatte führen, um auf dieses Problem hinzuweisen. Lieber Kollege Brinkmann, in einem Punkt stimme ich Ihnen nicht zu: Die notwendige Sensibilität ist noch nicht vorhanden - zwar bei Ihnen, bei dem Kollegen Mosdorf und bei den Verantwortungsträgern in den Unternehmen, jedoch nicht bei der Mehrheit der mittelständischen Betriebe. Wir, die CDU/CSU-Fraktion haben Zweifel daran, ob die Bundesregierung diesem Problem die notwendige Aufmerksamkeit schenkt. ({1}) Ebenso geht es den Freien Demokraten - wir stehen also nicht alleine da -; denn sonst hätten sie diesen Antrag nicht gestellt. Ebenso geht es aber auch den Grünen und Ihnen, sonst hätten Sie nicht die entsprechenden Anfragen gestellt. Hätten Sie gesagt, alles sei wunderbar, dann Rainer Brinkmann ({2}) hätten Sie die Anfrage damals nicht so fleißig ausgearbeitet. Insofern ist es richtig, wenn Sie sagen: Wir, das Parlament, wollen dafür sorgen, daß die Bundesregierung diesem Problem die entsprechende Aufmerksamkeit zukommen läßt. Mir reichen die bisherigen Aktivitäten der Regierung nicht aus; das muß ich ganz klar sagen. ({3}) - Auch der jetzigen; ich werde gleich etwas dazu sagen. ({4}) Die Öffentlichkeitsarbeit ist zu unauffällig. Wenn ich mir die Anzeigenserie anschaue, für die Sie, wie Sie sagen, 5 Millionen DM ausgegeben haben, so kommt da nichts rüber. Sie haben gesagt: Im Internet haben wir tolle Webseiten installiert. Aber wer sich das im Internet ansieht, der ist doch sowieso gut vorbereitet; denn das tun gerade diejenigen, die sich mit diesem Problem beschäftigen. Das, was im Fortschrittsbericht vom April 1999 steht, ist ebenfalls nicht nur lobenswert. Vor allen Dingen ist auch das nur Insidern bekannt. Deswegen sage ich: Die Bundesregierung muß sich hier sehr viel energischer einschalten. Sie muß sich dieses Themas sehr viel intensiver annehmen. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Uldall, ist Ihnen bekannt, daß über das, was Sie angesprochen haben, hinaus beispielsweise das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik kurzfristig hervorragende Materialien nicht nur im Web abrufbar gemacht hat, sondern auch Programme, Software und ähnliches zur Verfügung gestellt hat, damit gerade kleine und mittlere Betriebe in der Lage sind, sich sehr schnell auf dieses Problem vorzubereiten? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß davon in großem Umfang Gebrauch gemacht worden ist, so daß die Bemühungen der Bundesregierung doch weit über das hinausgegangen sind, was Sie heute abend darzustellen versuchen? Daß das Problem auf der Hand liegt, das wissen wir. Aber so gering sollten Sie unsere Bemühungen doch nicht einschätzen. Dürfte ich Sie bitten, das Positive ein bißchen stärker zur Kenntnis zu nehmen und auch zu betonen, weil dies ein Unterschied zu der alten Bundesregierung darstellt.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Tauss, wenn es etwas objektiv zu loben gibt, bin ich immer dabei. ({0}) Wenn ich aber die Informationspolitik der Bundesregierung in Sachen Jahr-2000-Umstellung loben soll, dann habe ich doch einige Schwierigkeiten. Aber die Information, die Sie uns gegeben haben, war gut. Wir freuen uns, daß etwas getan wurde. Lassen Sie uns aber gemeinsam dafür sorgen, daß noch mehr getan wird. ({1}) Nun möchte ich einmal vorlesen, was die Bundesregierung auf ihrer Internetseite zum Jahr-2000-Problem sagt: Ein Jahr-2000-Projekt kann … nur erfolgreich verlaufen, wenn sich die Führungsebene darüber im klaren ist, wie wichtig diese Arbeiten für das gesamte Unternehmen sind. Darum: Ein Jahr-2000Projekt muß in einem Unternehmen immer Chefsache sein. ({2}) Ich will gar nicht so weit gehen, von der Bundesregierung zu fordern, das, was sie auf ihrer Internetseite fordert, selber zu tun. Gott bewahre uns davor, daß Schröder auch dies noch zu seiner Chefsache erklärt. Denn in den Bereichen, in denen er erklärt hat, sie seien Chefsache, ist meistens nichts passiert. Insofern kann ich nur darum bitten, daß Schröder nicht auch dies noch zur Chefsache macht. Dann wird das überhaupt nichts werden. Was wir aber mit allem Nachdruck fordern, ist, einen zentral Verantwortlichen zu schaffen und als Parlament ganz deutlich verstehen zu geben, daß es nicht angeht, daß heute das Innenministerium, morgen das Wirtschaftsministerium und übermorgen eine sonstige Stelle federführend mit diesem Thema beauftragt wird. ({3}) Die Aktivitäten laufen auf zu vielen verschiedenen Kanälen. Es wäre klug, diese zu bündeln. Wenn man mich fragen würde, wen in der Bundesregierung ich dafür vorsehen würde, würde mir ein entsprechender Vorschlag nicht allzu schwer fallen. ({4}) Wir sollten dieses Thema nicht zu leicht nehmen. Das Erstellen einer Antwort auf die vorliegenden Kleinen Anfragen ist ja sehr schwierig gewesen. Die Abstimmung und Koordination zwischen den Häusern war sehr vielschichtig. Das ist ein Zeichen dafür, daß es in diesem Punkte keinen zentral Verantwortlichen gibt. Dazu kann ich nur sagen: Dies ist ein Kernfehler, der jetzt noch behoben werden kann, um die Arbeiten effektiver zu machen. Aber es kommt nicht nur zu mangelhaften Bemühungen in der Informationspolitik, und es fehlt nicht nur ein zentral Verantwortlicher, sondern in dem Fortschrittsbericht selber sind Dinge aufgeführt worden, die einfach nicht ausreichend sind, da nicht auf das besonders Notwendige eingegangen wird. Ich nenne als erstes Beispiel das Gesundheitswesen. Die Funktionsfähigkeit von Krankenhäusern und mediGunnar Uldall zinischen Geräten muß uns nach Auffassung von vielen Experten große Sorgen machen. Unser Kollege Brinkmann hatte soeben die Bedeutung der embedded systems erklärt. Es ist richtig, wie Sie das dargestellt haben. Diese embedded systems befinden sich natürlich auch in medizinischen Geräten, und keiner weiß mehr, ob der Hersteller dieser Systeme noch existiert und ob es Unterlagen über das gibt, was hier installiert worden ist. Insofern ist es sehr schwer zu klären, ob diese Geräte zum Jahrtausendwechsel eventuell ihren Dienst einstellen werden. Man denke nur an die Auswirkungen für die mit diesen Geräten zu versorgenden Patienten. Deswegen könnte ich mir schon vorstellen, daß die erste Aufgabe eines solchen zentral Verantwortlichen wäre, dafür zu sorgen, daß auf der Ebene der Bundesländer eine sogenannte Deadline gesetzt wird, zu der die zuständigen Krankenhäuser eine entsprechende Meldung an die jeweilige Landesregierung zu geben haben, daß all diese Dinge überprüft worden sind. ({5}) Es wäre hier eine wunderbare Gelegenheit, in der Meinungsbildung der Länder eine entsprechende Führung zu übernehmen. Ein zweites Beispiel, zu dem die Darstellungen im Fortschrittsbericht wirklich nicht ausreichend sind und angesichts dessen man sich Sorgen machen muß, ist die Mineralöl- und die Gasversorgung. Es ist vorstellbar, daß irgendwo in den Schaltstationen östlich des Urals eine solche Funktionsuntüchtigkeit plötzlich auftreten kann. Das hat Bedeutung für die Versorgung hier bei uns in Deutschland. Deswegen kann ich nur sagen: Hier sollte die Regierung sehr viel energischer vorgehen. Ein drittes Beispiel, angesichts dessen ich meine, daß in dem vorliegenden Fortschrittsbericht etwas aufgedeckt wird, was so nicht hingenommen werden kann, ist, daß die Eventual- und die Notfallplanungen noch absolut unterentwickelt sind. Ich könnte mir vorstellen, daß die Bundesregierung diese Planungen mit Hilfe einer zentralen Stelle sehr viel energischer angehen könnte. Weitere neuralgische Punkte möchte ich nicht nennen. Wir haben sie in unserem Antrag im einzelnen aufgelistet. Negativ fällt an dem Fortschrittsbericht weiterhin auf, daß er häufig im Unverbindlichen steckenbleibt. Da heißt es dann zum Beispiel, es gebe zu vielen Betroffenen Kontakte, die jeweils zuständigen Stellen seien zuversichtlich, daß sie ihre Probleme doch noch lösen könnten, bzw. Probleme würden von den Verantwortlichen nicht erwartet. Mir ist das alles zu nebulös und zu schön, als daß man bei einem so ernsten Thema damit zufrieden sein könnte. ({6}) Ich erwarte deswegen von der Bundesregierung, daß sie nicht zu vertrauensselig nur die Berichte anderer referiert. Statt dessen muß sie viel stärker auf die Übermittlung klarer Fakten und Überprüfungsergebnisse drängen und diese kontrollieren. Sonst ist es nicht möglich, konkrete Defizitanalysen sowie Zeitpläne zur Problemlösung oder Notfallbekämpfung aufzustellen. Sorge macht mir dann auch die Tatsache, daß jetzt, also zu einem recht späten Zeitpunkt, noch Probleme zugegeben werden, die eigentlich schon längst gelöst sein müßten. So muß die Bundesregierung in der Beantwortung der Kleinen Anfrage der SPD und der Grünen einräumen: Erstens. Der Vorbereitungsstand in kleinen Kommunen ist vielerorts unklar. Zweitens. Bei der Schadens- und Unfallversicherung sind noch Anstrengungen nötig. Drittens. Es ist nicht hundertprozentig gewährleistet, daß alle medizinischen Geräte sicher arbeiten können. Viertens. Funktionsbeeinträchtigungen bei der Bundeswehr sind nicht auszuschließen. Fünftens. Die Atomaufsichtsbehörden wollen die erforderlichen Überprüfungen der deutschen Kraftwerke erst im Oktober/November abschließen. Sechstens. Die Sicherheitslage in osteuropäischen Kernkraftwerken bereitet den Berichterstattern Sorge. Diese Liste ist mir schlichtweg zu lang. Nun kommt natürlich immer der Zwischenruf: Die alte Regierung hätte längst damit anfangen müssen. ({7}) Doch dafür sind Sie alle viel zu sehr in der Geschichte drin. Sie sind Fachleute und wissen, daß viele Probleme in ihrer Auswirkung ({8}) erst im letzten Halbjahr des Jahres 1998 allgemein erkannt worden sind. ({9}) - Genauso ist es. Die Bundesregierung hat natürlich schon vor drei Jahren ihre Berichterstattung begonnen. Aber tun wir doch nicht so, als wenn dieses Problem in seiner Tragweite, in alle Dimensionen, von allen Beteiligten schon so früh erkannt worden ist! Das ist doch gerade das Verheerende, daß diese Probleme erst vor etwa einem Jahr richtig erkannt worden sind. ({10}) Andere, Wirtschaftsbereiche, haben Konsequenzen daraus gezogen. Ich denke an die Kreditwirtschaft, die sich über die Bedeutung des Ausfalls eines Zahlungssystems für die Weltwirtschaft und für die nationale Wirtschaft voll im klaren ist. Sie haben zur Mitte dieses Jahres eine Simulation gefahren. Dieser Test war, wie die Mediziner sagen, negativ; es ging also positiv aus. Ich frage mich, warum die Bundesregierung nicht etwas Ähnliches gemacht hat. Wir wissen, daß auf die Regierung auch große finanzielle Verbindlichkeiten zukommen können, wenn ein Ausfall allzu lange dauert. Der Rechnungshof schätzt maximal 40 Millionen DM Schaden pro Tag. Nun müssen nicht alle Schäden auf einmal eintreten. Wenn sich der Schaden über mehrere Tage hinzieht, können ganz schnell dreistellige Millionenbeträge erreicht werden Gunnar Uldall ganz abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen, die sich zunächst gar nicht in der Staatskasse niederschlagen. Wenn am 1. Januar zum Beispiel die Zollverwaltung nicht richtig funktioniert, dann gibt es weniger Zölle. Die gehen sowieso nach Brüssel, deswegen ist das nicht so wichtig. Falls aber ein wichtiges Ersatzteil nicht ausgeliefert werden kann, dann hat das Implikationen, die weit über diesen finanziellen Verlust hinausgehen. Wir wollen, daß die Bundesregierung eine Informationskampagne macht, die wirklich aufklärt. Wir wollen die Einsetzung eines zentral Verantwortlichen. Wir wollen eine verstärkte Bemühung in den genannten Problembereichen. Schließlich wollen wir bei aller diplomatischen Rücksichtnahme auf die anderen Länder ein energisches Auftreten unserer Regierung gegenüber den Ländern, deren Versäumnisse eine Gefahr für uns darstellen könnten. Lassen Sie mich abschließend kurz vorlesen, was die Bundesregierung unter „Allgemeine und praktische Hinweise“ im Internet - Sie sehen, ich lese auch dort sagt: Werden Sie aktiv! Ändern Sie Ihre Grundeinstellung! Sagen Sie sich und anderen: In meiner Umgebung, in meinem Verantwortungsbereich gibt es Jahr-2000-Probleme, zumindest so lange, bis ich mich vom Gegenteil überzeugt habe. Ich darf jetzt keine Zeit mehr verlieren, in meinem Verantwortungsbereich muß das Jahr-2000-Problem schnellstens gelöst werden. Ich wünsche mir, daß unsere Bundesregierung sich das, was sie anderen empfielt, selber zu Herzen nimmt und realisiert. Dann werden wir kein Problem haben. Vielen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege HansJosef Fell. ({0})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU, Herr Uldall, sagt, daß das Computerproblem 2000 ernst genommen werden muß. Damit haben Sie recht. Daß diese Einsicht um Jahre zu spät kommt, wissen Sie selbst am besten. Das Problem ist seit vielen Jahren bekannt. Parlamentarisch haben die Bündnisgrünen das Jahr2000-Problem als erste aufgegriffen, und zwar schon 1997. Damals hat die alte Bundesregierung Anfragen mit einem lockeren „Keine Panik“ beantwortet. ({0}) Alles sei unter Kontrolle, alle notwendigen Maßnahmen seien eingeleitet worden. Inzwischen wissen wir, daß diese Aussagen damals nicht der Wahrheit entsprachen. Ihr heutiger Antrag beweist es. ({1}) Mittlerweile haben sich die Verantwortlichkeiten geändert. Auch die neueren Oppositionsparteien lesen in den Regierungstexten: „Keine Panik, alles unter Kontrolle! Alle notwendigen Maßnahmen sind eingeleitet.“ Tatsächlich hat die neue Bundesregierung wesentlich weitreichender gehandelt als die alte. Es muß allerdings hinterfragt werden, ob diese weitgehenden, zusätzlichen Aktivitäten ausreichen. Ich bin ehrlich und sage Ihnen: Ich weiß es nicht. Fragen Sie die Fachleute, und Sie werden nicht schlauer. Die einen bauen sich einen Bunker mit Notstromaggregat, die anderen behaupten, daß von einigen fehlprogrammierten Videorecordern abgesehen, kaum etwas passieren wird. Manche erwarten eine wirtschaftliche Depression, andere erhoffen sich Tausende neue Arbeitsplätze in der Videorecorderindustrie. Das einzige, was Ihnen die Experten einhellig sagen, ist: Die bis Ende 1998 gemachten Versäumnisse sind nicht mehr wettzumachen. ({2}) Niemand könne nach Jahren der Versäumnisse das Jahr2000-Problem lösen. Allenfalls könnten die Folgen abgemildert werden. Daran arbeitet die neue Bundesregierung mit Hochdruck. Das Computerproblem 2000 ist sehr komplex. Es handelt sich nicht nur um unzuverlässige Computerprogramme - Sie haben es ausgeführt, Herr Uldall -, schlimmer noch: Etwa 2 Prozent aller Computerchips sind datumsrelevant. Diese Schwachstellen sind schwer aufzufinden. Falls man fündig geworden ist, ist es gut möglich, daß Fehlerquellen von außen zu Fehlfunktionen führen werden. Andere Staaten - vor allem im angelsächsischen Raum - haben dieses Thema daher zur Chefsache gemacht. Die deutschen Bundesregierungen haben darauf verzichtet. Unterschiedliche Kulturen haben verschiedene Risikowahrnehmungen und setzen daher auch abweichende Prioritäten. Warum das so ist, brauchen wir nicht zu vertiefen. Welche realitätstauglicher ist, wird sich eben erst zu Beginn des kommenden Jahres herausstellen. Maßnahmen, um dem Problem Herr zu werden, wurden von beiden Bundesregierungen durchgeführt; von der letzten weniger, von der neuen mehr. Da das Computerproblem 2000 zu komplex ist - wie das eine oder andere Problem der Informationstechnologie insgesamt auch -, kann nicht jede Gefahr völlig ausgeschlossen werden. Ein Risikoausschluß ist nur möglich, wenn von vornherein ungefährliche Technologien eingesetzt werden. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Computer-2000-Problem zeigt auch, wie abhängig unsere Gesellschaft inzwischen von der Informationstechnologie ist. Selbst vollkommene Banalitäten wie die Anzahl von Ziffern für Jahreszahlen können über die Zukunft von Gesellschaften entscheiden. Wer der Auffassung ist, diese Probleme ließen sich mit genügend Informatikern und Geldeinsatz automatisch lösen, hat entweder die Dimension nicht verstanden oder noch nie mit einer Software von Microsoft gearbeitet, einem zweifellos finanziell gut ausgestatteten Unternehmen mit sehr vielen Informatikern, aber auch Programmfehlern und Systemabstürzen. Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition ich möchte den einen oder anderen auf der Regierungsbank nicht ganz ausnehmen -: Ein „Weiter so“ in der Technologiepolitik würde lediglich aufzeigen, daß aus der Geschichte nur zu lernen ist, daß die Menschen nichts aus der Geschichte lernen. Aus meiner Sicht müssen folgende Schlüsse gezogen werden: Erstens. Die restlichen Wochen bis zum Jahreswechsel müssen dazu genutzt werden, die Anstrengungen nochmals zu verstärken. Ich gehe davon aus, daß dies auch geschieht. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Prävention als auch für die Notfallplanung. Die Bundesregierung sollte das Parlament in Anhörungen auf dem laufenden halten. Dies gilt vor allem für die Schwerpunktfelder, wie zum Beispiel Energieversorgung, Verkehr und Gesundheitswesen. Bei der Notfallplanung sind die Ministerien nicht um ihre Aufgabe zu beneiden. Es handelt sich hier um einen schwierigen Balanceakt. Einerseits muß die Bevölkerung auf die Gefahren aufmerksam gemacht werden, und zwar in weit umfangreicherem Maße, als dies bisher geschehen ist. Andererseits muß darauf geachtet werden, daß keine Panik entsteht. Deren Folgen könnten womöglich schlimmer sein als das eigentliche Computerproblem. Ich schlage vor, daß an alle Haushalte möglichst bald ein detailliertes Informationspaket geschickt wird, in dem auch Tips gegeben werden sollten, wie man sich vorbereiten kann. Es ist wohl selbstverständlich, daß dieses Schreiben in mehreren Sprachen verfaßt werden sollte. Darüber hinaus müssen vor Ort in den Kommunen möglichst umfangreiche Notfallplanungen entwickelt werden. Die USA, in denen eng mit der Bevölkerung kommuniziert wird, sind ein gutes Vorbild. Zweitens. Risikotechnologien mit ihren umfangreichen Gefährdungen müssen vermieden bzw. durch Technologien ersetzt werden, bei denen sich Fehlfunktionen auf die Anlage begrenzen lassen. Dort, wo wie bei den Atomkraftwerken Altlasten vorhanden sind, muß möglichst schnell ausgestiegen werden und bis zum Ausstieg eine Risikominimierung stattfinden. Schon alleine das Computer-2000-Problem zeigt die Notwendigkeit des Atomausstiegs. Sie von der CDU/CSU, die das Computerproblem 2000 seit einigen Wochen ernst nehmen, können wertvolle Arbeit leisten, indem Sie einen Antrag stellen, die Atomkraftwerke sicherheitshalber vom Netz zu nehmen. Für den Fall, das Sie dies nicht tun, bescheinigen Sie der Bundesregierung, gute Prävention geleistet zu haben. ({3}) Andernfalls setzen Sie sich dem Verdacht aus, daß Sie Ihren heutigen Antrag selbst nicht ernst nehmen. Die Bundesregierung - so unsere Forderung - muß lückenlos und objektiv prüfen, ob alle sicherheitsrelevanten Einrichtungen, wie Atomkraftwerke, Genlabors und Chemiefabriken, ihre Jahr-2000-Fähigkeit nachgewiesen haben. Im Falle von Defiziten ist eine Abschaltung ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Zukünftig müssen die Systeme so gebaut werden, daß Datenfehler durch Sicherungssysteme aufgefangen werden, die unabhängig von der Informationstechnologie funktionieren. Wir sollten aus diesem Problem lernen, es ernst nehmen und unsere Risikovorsorge insgesamt in Form von Technikfolgenabschätzung vorantreiben. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Angela Marquardt, PDS-Fraktion.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Uhrzeit paßt ein bißchen zu den vorliegenden Anträgen: Sie alle gucken schon ein bißchen verschlafen drein. ({0}) Ich glaube, hier ist wirklich sehr viel verschlafen worden. Dennoch habe ich mich natürlich gefragt, warum Sie diese Anträge gerade zu diesem Zeitpunkt stellen. Ich bin auf einen Satz in Ihren Anträgen gestoßen, der das alles offenlegt. Ich zitiere kurz. Sie schreiben: Das „Jahr-2000-Problem“ beschäftigt die Öffentlichkeit in zunehmendem Maße. Ich glaube, Sie haben hinter dem Vorhang Publikum vermutet, und haben sich gesagt: Wir führen jetzt ein Stück auf und bringen einen ziemlich verspäteten Antrag ein. Sie müssen einfach zugeben: Das ist in der vorhergehenden Legislaturperiode Ihr Ding gewesen. Sie hatten die Zeit, sich auf das Jahr-2000-Problem vorzubereiten. ({1}) Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte die rotgrüne Regierungskoalition das Jahr 2000 erfunden, als hätte es das vorher nicht gegeben. Diesen Vorwurf müssen Sie sich einfach gefallen lassen; daran kommt man nicht vorbei. ({2}) Dennoch ist Ihr Anliegen natürlich insofern zu unterstützen, als sich die Regierung umfassender als bisher mit dem Jahr-2000-Problem beschäftigen sollte. Aber ob das durch neue und ausführliche Berichte oder durch die Einberufung eines hochrangigen Verantwortlichen gewährleistet wird, das halte ich doch für sehr fraglich. Es gibt eine interministerielle Task Force und einen Sachverständigenkreis beim Bundeswirtschaftsministerium. Was es nutzen soll, wenn nun noch ein einzelner Verantwortlicher einen zentralen Koordinierungsstab bildet, leuchtet mir - ehrlich gesagt - nicht so richtig ein. Natürlich kann über das Ausmaß der technischen Schäden des „millennium bug“ nur spekuliert werden. Dennoch halte ich es für töricht und verantwortungslos, Panik zu verbreiten und so zu tun, als wären keine Vorbereitungen getroffen worden. Eines ist mir allerdings bei beiden Anträgen aufgefallen: Obwohl so wahnsinnig leidenschaftlich mit der Bundesregierung ins Gericht gegangen wird, findet sich in Ihren Anträgen - Sie haben zwar darüber gesprochen - nicht ein Satz zur Haftung im Schadensfall. Dies scheint mir doch eines der zentralen Themen im Zusammenhang mit dem Jahr-2000-Problem zu sein. Natürlich wird es rund um den Globus zu Ausfällen, zu Störungen und zu Schäden kommen, die dann aber immerhin berechtigte finanzielle Forderungen zur Folge haben. Nicht der zeitweise Ausfall von Technologie, sondern Regreßforderungen und Haftungsansprüche in Millionen- oder Milliardenhöhe sind die eigentliche Gefahr für die Wirtschaft. Dieses Problem taucht in Ihren Anträgen leider nicht auf. Mir ist auch klar warum: Das von Ihnen ausgesparte Thema spricht auch die Computerbranche nicht so gerne an. Es ist ein sehr heißes Eisen. Deshalb lenken Sie lieber den Blick auf die Bundesregierung. Aber eines muß man auch zugeben: Weder Kohl noch Schröder haben die Computer dieser Welt falsch programmiert. Nein, meine Damen und Herren, allein die vielen unterschiedlichen Computersysteme machen es nötig, daß sich Hersteller und Vertreiber von Hard- und Software dezentral um Schadensbegrenzung bzw. um Schadenersatz kümmern. Normalerweise sind doch gerade sie darauf bedacht, die freie Wirtschaft vor dem Zugriff der Politik zu schützen. Nun erklären Sie plötzlich hier den Staat bzw. die Bundesregierung zum Alleinverantwortlichen des Jahr-2000-Problems. ({3}) Diesem billigen Populismus - oder sollte ich lieber von Lobbyismus sprechen - kann sich die PDS wirklich nicht anschließen. Trotzdem müssen auch Sie sich die Frage gefallen lassen, ob Ihre Vorsorge ausreicht. Der Fortschrittsbericht vom April dieses Jahres genügt nicht. Hier haben CDU/CSU und F.D.P. natürlich recht. Der im Oktober erscheinende Bericht muß mehr Einblicke gewähren. Nötig sind genaue Auskünfte über die Art und Weise der Unterstützung von Behörden durch Bund und Länder. Ein detaillierter Überblick über die Notfallplanungen muß her. Eines ist auch klar: Für jeden einzelnen Jahr-2000Schaden wird im neuen Jahr nach einem Verantwortlichen gesucht werden. Wo immer der Bund haftbar gemacht werden kann, wird dies sicherlich auch geschehen. Ich glaube, daß wir den größten „millennium bug“ womöglich im nächsten Haushalt erleben werden. Danke. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Berg, SPD-Fraktion.

Dr. Axel Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003036, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein halbes Jahr vor dem Jahrtausendwechsel haben Sie von der Union Ihren Antrag mit dem Titel „Jahr-2000-Problem in der Informationstechnik ernst nehmen“ in den Bundestag eingebracht. Sie haben sich also entschieden, das Jahr2000-Problem ernst zu nehmen. Es ist schön, daß die Union aus ihrem Dornröschenschlaf aufgewacht ist. ({0}) Das gilt natürlich auch für Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P.-Fraktion. Sie haben letzten Dienstag Ihren Antrag „Jahr-2000-Problem - Unterstützung zur Problemlösung“ eingebracht. Ich bin froh, daß auch Sie sich entschieden haben, unsere neue Regierung bei der Bewältigung des Jahr-2000-Problems zu unterstützen. Immerhin bleiben Ihnen dafür noch gut 100 Tage Zeit. Ach, hätten Sie doch gemeinsam Ihre eigene alte Regierung schon vor drei, vor zwei oder wenigstens vor einem Jahr zum Jagen der Jahr-2000-Probleme getragen. Wenn Sie das geschafft hätten, dann wären wir mit der Überprüfung der Systeme in Deutschland wohl inzwischen fertig. ({1}) Sie haben das Problem Y2K, wie man es nennt, über Jahre hinweg in kaum nachvollziehbarer Weise vernachlässigt. Warnungen von SPD und Grünen - der Kollege Fell hat dies vorhin schon gesagt; auch die „Frankfurter Rundschau“ hat in ihrem heutigen Leitartikel darauf hingewiesen - wurden von Ihnen nach dem Prinzip Hoffnung ignoriert. So weit, so schlecht. Unser früherer Bundeskanzler dachte noch, die Datenautobahn habe vier Spuren und in der Mitte einen Grünstreifen. Dementsprechend wurde das Problem auf Referentenebene abgehandelt. Es sollte wohl wie so viele andere Probleme auch ausgesessen werden. Hierzu passen die Recherchen internationaler ConsultingUnternehmen, die Deutschland stets auf einem der hinteren Plätze im Ranking gesehen haben. Wenn die neue Bundesregierung nicht weit über den eigenen Bereich hinaus, also die Bundesverwaltung, gewaltig Gas gegeben hätte, dann müßten wir uns heute tatsächlich auf die Millenniumskrise einrichten. Staatssekretär Mosdorf hat sich ruck, zuck eingearbeitet und kann Ihnen nachher sicherlich ein ganzes Bündel erfolgreich durchgeführter Maßnahmen zur Beseitigung der „millennium bugs“ aufzeigen. Mosdorf ist übrigens, Herr Uldall, der zentral Verantwortliche, den Sie sich so sehr gewünscht haben. Auch international ist seit dem Regierungswechsel einiges geschehen. Natürlich sind nicht alle Länder gleichermaßen gut auf den Jahrtausendwechsel vorbereitet. Ich schlage daher zur Notfallversorgung die Bildung einer internationalen Y2K-Task-Force vor. Wir müssen einfach alles versuchen, um die Versäumnisse der KohlRegierung aufzuholen. ({2}) Wie sieht es mit der Wirtschaft aus, und wie sieht es mit den Privatleuten aus? Ich denke, daß es grundsätzlich nicht die Kernaufgabe einer Regierung ist, Versäumnisse von Herstellern eines Produkts auszubügeln. Wenn ein Bauteil in einem neuen Auto mißlungen ist, dann macht der Hersteller eine Rückrufaktion, nicht die Regierung. Wenn Computer- und Chiphersteller ihre Produkte mangelhaft konstruieren, um Geld und Speicherkapazität zu sparen, sollte das gleiche gelten. Hier scheint die Pflicht zum Risikomanagement nicht so großgeschrieben zu sein. Es ist Bundeskanzler Gerhard Schröder hoch anzurechnen, daß er gerade auf diesem Gebiet eben nicht wie in den USA ein Gesetz zur Haftungsbegrenzung wegen Y2K initiierte. Verursacher des Problems ist weder die alte noch die neue Regierung. Die Ursache liegt bei den Computerund Chipherstellern, die bis vor wenigen Jahren Produkte auf den Markt geworfen haben, die nicht millenniumstauglich waren. Gleichwohl sieht die neue Bundesregierung das Problem als übergreifende Herausforderung an und fungiert als eine Art Beschleuniger, auch wenn sie mit ihrem Informationsfeldzug nicht alle Arglosen erreichen kann. Die Bundesregierung hat die Wirtschaft mit Y2K nicht alleine gelassen. Sie kann aber nicht für die Betriebe, die das Problem - wie die alte Regierung auch verschlafen haben, in Haftung genommen werden. Die Bundesregierung muß in den verbleibenden Monaten verstärkt auf die neuralgischen Punkte der Wirtschaft achten. Leider haben einige mittlere und kleine Betriebe ebenso wie einige Kommunen in der Bundesrepublik ihre Programme und ihre betrieblichen Anlagen nicht ausreichend auf das neue Jahrtausend vorbereitet und das Thema ebenfalls zu spät angepackt. Auch die notwendige Information der Bevölkerung zur Sensibilisierung und zur Eigenvorsorge wurde ernsthaft erst unter der neuen Bundesregierung begonnen. Wir können davon ausgehen, daß es auf Grund der getroffenen Maßnahmen und der Aufklärungsarbeit zu keiner Y2K-Hysterie in Deutschland kommen wird. Es ist nicht notwendig, wie die Amerikaner extra Lagerhäuser mit frisch gedrucktem Geld zu füllen, um die Währung vor einem Zusammenbruch zu schützen, wenn kurz vor Jahresende alle Sparer ihr Geld vom Sparkonto abheben wollen. Banken sind wie Versicherer und die meisten Großunternehmen bei uns gut vorbereitet, so daß wir hier keine Ausfälle befürchten müssen. Die Gefahr von panischem Verhalten oder von Angstkäufen läßt sich nicht und niemals ausschließen. Hier tut die Bundesrepublik gut daran, die vertrauensbildenden Maßnahmen fortzusetzen. Gegen Panik in der Bevölkerung hilft nur eine umfassende, frühzeitige Aufklärung. Das betonen Sie, geschätzte Kollegen von der CDU/CSU, in Ihrem Antrag. Die frühzeitige Aufklärung, von der Sie sprechen, haben Sie aber selbst versiebt. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Die neue Bundesregierung ist dabei, die Informationsdefizite, die Sie zu verantworten haben, zu beseitigen und die Bevölkerung umfassend aufzuklären. ({3}) Der zweite Fortschrittsbericht der Bundesregierung kommt im Oktober sowieso. Dazu braucht die Bundesregierung Ihren Antrag also nicht. Mit diesem Bericht werden weitere noch bestehende Unklarheiten beseitigt. Wie wird es weitergehen? Die Spekulationen zum Jahr-2000-Problem variieren zwischen „null problemo“ und wild ausgemalten Katastrophen. Ich persönlich neige nicht zur apokalyptischen Weltsicht. Die internationalen Consultings sehen uns inzwischen als recht gut vorbereitet an. Vielleicht sind wir schon morgen ein bißchen schlauer; denn der heutige 9. September, der 9.9.1999, könnte einen kleinen Vorgeschmack auf den Jahrtausendwechsel geben. Liest der Rechner das heutige Datum als 9999, so kann er das als Befehl zur Beendigung des Programms deuten und abschalten. Ihr Antrag ist nicht schlecht, kommt aber viel zu spät. Ihr Antrag ist damit obsolet. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Berg, auch für Sie war das die erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen beglückwünsche ich Sie dazu. ({0}) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst muß man einmal sagen, daß viele die Sorge hatten, daß schon am 9. September 1999 Zusammenbrüche stattfinden. ({0}) - Auch ich wollte das gerade sagen. Wir sollten an diesem Abend zunächst einmal allen gratulieren, die an dem heutigen Tag geheiratet haben. ({1}) Das wird sicher Glück bringen. Ich hoffe, daß Zusammenbrüche vermieden werden. Aber das weiß man heute ja nie. Ein Zweites vorweg: 113 Tage sind es noch, lieber Kollege Uldall - der Countdown läuft -, bis zu diesem 31. Dezember 1999. Ich möchte gleich zu Beginn meiner Ausführungen sagen, daß es in unser aller Interesse ist, wenn wir noch einmal an alle appellieren, das Problem ernst zu nehmen und sich der Sache anzunehmen. Das gilt insbesondere für viele kleine mittelständische Unternehmen, die - das merke ich auch in der Praxis bei vielen Gesprächen - nicht täglich mit „embedded systems“ zu tun haben und nicht immer wissen, was das Jahr-2000-Problem ist. Handwerksmeister haben andere Sorgen und auch die Aufgabe, andere Probleme zu lösen. Das muß man verstehen. Wir schätzen, daß sich noch 45 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen damit schwertun. Wir appellieren auch an die Städte und Gemeinden, dem Problem ernsthaft nachzugehen. Es ist aber schon richtig - ohne dies hier parteipolitisch zu wenden -, was die Kollegen Brinkmann, Berg und Fell hier festgestellt haben. Als wir Ende Oktober 1998 vereidigt wurden und die Amtsgeschäfte übernommen haben, haben wir innerhalb von fünf Wochen, also noch im alten Jahr, eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Vom Wirtschaftsministerium aus haben wir Anfang Dezember ein Spitzengespräch mit allen Branchen organisiert und dabei festgestellt, daß es noch eine Reihe von Lücken gibt. Internationale Consultings hatten festgestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland Mitte und Ende letzten Jahres in bezug auf dieses Problem noch im letzten Drittel der sogenannten OECDVolkswirtschaften lag. Inzwischen liegen wir im vorderen Drittel. Das reicht natürlich noch nicht, wir müssen trotzdem Tempo machen. Wir haben aber eine ganze Menge gemacht. Wenn Sie sich in der Wirtschaft umhören, stellen Sie auch fest, daß das so ist. Es ist aber auch klar, daß nach wie vor der alte Satz gilt: Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. Die Bundesregierung ist nicht für jeden PC verantwortlich, sondern dafür ist die Wirtschaft verantwortlich. Wir können der Wirtschaft nur raten, die Systeme umzustellen, und ein systematisches Monitoring organisieren. Das haben wir getan, indem wir alle Branchen eingeladen und gefragt haben, wie es in der Energiewirtschaft, in der Telekommunikation, beim Flugverkehr, bei den Banken und Versicherungen und in anderen großen Branchen aussieht. Das haben wir nicht nur einmal im Dezember letzten Jahres getan, sondern wir haben das jedes Vierteljahr wiederholt. So konnten wir feststellen, daß bis jetzt erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Die Energiewirtschaft hat übrigens - ich weiß nicht, wer es vorhin angesprochen hat - schon Simulationen durchgeführt und uns zugesagt, daß die Sicherheit der Kernkraftwerke jetzt schon gewährleistet ist, die anderen Kraftwerke untersucht werden und uns bis zum 1. Oktober ein Schlußbericht vorgelegt wird. Auch die Banken und Versicherungen sind bei der Umstellung schon sehr weit vorangekommen. Das hat zum einen mit der Haftungsproblematik zu tun, aber auch damit, daß sie dieses Problem bei der Umstellung auf den Euro gleich mit erledigt haben. Deshalb ist diese Branche besonders weit. Man kann davon ausgehen, daß in der Telekommunikationsbranche viele mit neuen Systemen arbeiten; es ist heute gang und gäbe, daß man dies zum Anlaß nimmt, neue Systeme anzuschaffen, damit man sich nicht mit alten Systemen das Millennium-Problem einfängt. All das ist festzuhalten; klar ist aber auch, daß es insbesondere bei kleineren und mittleren Unternehmen noch Defizite gibt. Das ist übrigens der Grund für eine andere Initiative, die die Bundesregierung gestartet hat und bundesweit mit sogenannten 24 Kompetenzcentern intensiv fortsetzen wird, nämlich die Vorbereitung des Mittelstandes auf „electronic commerce“. Um den Mittelstand und das Handwerk auf das Millenniumproblem vorzubereiten, führen wir spezielle Trainingsprogramme durch. Bei diesen Veranstaltungen zeigt sich, daß eine ganze Menge an Informationen vermittelt werden und auch Aufmerksamkeit erzielt werden kann, so daß sich auch der Mittelstand jetzt auf diese Fragen vorbereiten kann. In der Bundesregierung gibt es eine klare Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium. Herr Tauss hat vorher schon auf das BSI und auf viele andere Institutionen hingewiesen, die hilfreich sind und das Projekt insgesamt unterstützen. Das Bundesinnenministerium kümmert sich intensiv darum. Wir machen das auch zusammen mit den anderen Bundesressorts und den nachgeordneten Behörden. Wir haben vor wenigen Tagen ein Spitzengespräch mit dem Landkreistag, dem Städtetag und dem Gemeindetag geführt und haben auch noch einmal darauf hingewiesen, welche Probleme es bei kleineren Gemeinden gibt. Aber eines ist völlig klar: Die Bundesregierung kann in dem Bereich, in dem sie nicht unmittelbare Verantwortung trägt, nur Tempo machen und versuchen, ein Monitoring-Verfahren so einzuleiten, daß wir genau wissen, wie der Stand in der jeweiligen Branche ist. Dieses Monitoring werden wir fortsetzen. Wir werden bereits Anfang Oktober wieder mit den Branchen zusammensitzen und entsprechend nachfragen, wie der Stand der Dinge ist, so daß ich davon ausgehe, daß das Tempo deutlich erhöht werden kann und wir mit dem Problem einigermaßen fertig werden. Es ist schon so - wie es auch angeklungen ist -, daß die alte Bundesregierung mit dem Problem etwas locker umgegangen ist. Das wissen auch Sie, Herr Uldall. Das, was Sie heute kritisch angemerkt haben, nehme ich gerne auf. Aber Sie hätten natürlich ein bißchen früher an diesen Themen arbeiten können. Denn es ist sehr wohl wahr, was eben auch Herr Berg gesagt hat: Das Problem, daß das Jahr 2000 kommt, war für jeden absehbar. Dafür muß er nicht besonders fortschrittlich sein. Der 31. Dezember 1999 war für jeden sichtbar. Andere Regierungen haben da sehr viel Tempo gemacht. Nun muß ich allerdings auch sagen - irgendeiner hat gesagt, wir sollten die USA als Vorbild nehmen -: Man sollte es auch nicht übertreiben. Vor wenigen Tagen haben wir gehört, daß auch das Weiße Haus noch nicht Jahr-2000-fähig ist, obwohl Bill Clinton der Beauftragte ist. Man muß also genau hinschauen. Es gibt sehr viele Dinge, die man sich genau ansehen muß. Da gibt es schon noch Probleme, die man bewältigen muß. Man kann nicht nur Beauftragte benennen, sondern muß sich auch intensiv mit der Sache beschäftigen. Aber eines ist mir aufgefallen, als ich neulich wieder einmal in der Downing Street war: Da, wo Tony Blair auf dem Schreibtisch seinen PC stehen hat, hatte Helmut Kohl früher das Aquarium stehen. Es ist schon so: Das Bewußtsein, daß es bei der Umstellung der Computer Probleme gibt, war nicht so ausgeprägt. Das wissen auch Sie. Wir kümmern uns jetzt sehr intensiv um die Lösung der Probleme. Wir kümmern uns sehr intensiv darum, daß das Land auf das Jahr 2000 vorbereitet ist. Im übrigen möchte ich alle Kolleginnen und Kollegen herzlich einladen, den 31. Dezember mit mir zusammen im Krisenstab zu verbringen, ganz nach der Devise: In Tokio beginnt das neue Jahr schon neun Stunden früher; wir wollen einmal sehen, was da los ist. ({2}) Entsprechend werden wir dann auch die Lösung der Probleme angehen. Spaß beiseite: Wir machen Tempo. Wir müssen noch viel Aufklärungsarbeit leisten. Wir bitten Sie, daran mitzuwirken. In diesem Sinne verstehe ich auch die Anträge der Fraktionen. Vielen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Die Vorlagen auf den Drucksachen 14/1334 und 14/1544 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung - Drucksache 14/980 ({0}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 14/1306 - Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Dr. Wolfgang Frhr. von Stetten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol- leginnen und Kollegen Alfred Hartenbach, Dr. Wolf- gang Freiherr von Stetten, Volker Beck, Rainer Funke, Dr. Evelyn Kenzler sowie die Bundesministerin Däub- ler-Gmelin geben ihre Reden zu Protokoll.*) ({2}) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall, mit einem geringen Bedauern aus den Reihen der SPD-Fraktion. Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung, Drucksachen 14/980 und 14/1306. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ({3}) - Drucksache 14/1515 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Hubertus Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Da- men und Herren! Jahre und Jahrzehnte dominierte ein Prinzip den gesellschaftlichen Umgang mit Drogen: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“, so hieß es immer wieder. Jahre und Jahrzehnte vergingen damit, daß - ohne daß das Problem kleiner wurde - weiter nach die- sem Prinzip verfahren wurde. Die Probleme sind nicht nur nicht kleiner, sie sind schwieriger geworden. Ich behaupte: Die ideologische Fixierung auf Strafverfolgung nicht nur von Drogen- händlern - diese finden wir richtig -, sondern auch von abhängigen Konsumenten hatte fatale Folgen. Ich will sogar sagen: Dieses Prinzip ist mitverantwortlich für den Tod vieler Menschen, weil es in ignoranter Verblendung mißachtete, daß Abhängigkeit eine Krankheit ist und ------ *) Anlage 2 somit in erster Linie in den Bereich der Gesundheitspolitik und erst in zweiter Linie in den Bereich der Innen- und Rechtspolitik gehört. Die einseitige Fixierung auf Repression hat abhängige Menschen kriminalisiert und so noch mehr an den Rand der Gesellschaft getrieben, mit, wie gesagt, zum Teil tödlichen Folgen. Der von uns heute vorgelegte Gesetzentwurf ist Teil einer neuen Drogenpolitik und trägt einem schon vor vielen Jahren begonnenen Prozeß des Umlernens Rechnung. Dieses Gesetz schafft vor allen Dingen eines: Rechtssicherheit für den Betrieb von Drogenkonsumräumen, die im allgemeinen Sprachgebrauch als sogenannte Fixerstuben bekannt sind. Diese Einrichtungen, die von mutigen Kommunen wie Frankfurt am Main und der Freien und Hansestadt Hamburg in der ersten Hälfte der 90er Jahre eingerichtet wurden, haben zunächst ein Ziel: Sie leisten Überlebenshilfe für Abhängige. Sie ermöglichen durch ein niedrigschwelliges Angebot den Zugang von Drogenabhängigen zu medizinischer Versorgung und eröffnen hygienisch einwandfreie Bedingungen. Die Alternativen zu solchen Einrichtungen sind durch die schockierenden Folgen auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Bilder von toten Junkies auf Bahnhofstoiletten, Infektionen mit Hepatitis B oder HIV und vieles andere mehr sind uns allen vor Augen. Daß Drogenkonsumräume hier ein wirksames Mittel der Überlebenshilfe sind, beweisen ganz einfach auch die Zahlen: 1991 starben in Frankfurt am Main 183 Menschen im Zusammenhang mit dem Konsum illegaler Substanzen. Nach der Einrichtung von Drogenkonsumräumen und dem verstärkten Einsatz von Substitutionsmöglichkeiten sank diese Zahl auf 44 Fälle im Jahr 1995. Wir schaffen mit unserem Gesetz vor allen Dingen Rechtssicherheit für die bestehenden Einrichtungen und die dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bisher oftmals zumindest in einer rechtlichen Grauzone gearbeitet haben. Wir eröffnen zudem durch eine bundeseinheitliche Rahmenvorschrift den Landesregierungen die Möglichkeit, über nähere Regelungen im Rahmen ihrer Kompetenz zusätzliche solcher Einrichtungen zu genehmigen. ({0}) - Das ist einfach eine Tatsache. So mitreißend war das noch nicht. Aber das kommt noch. Ich persönlich hätte mir - das sage ich sehr deutlich durchaus eine einfachere Regelung vorstellen können, nach der für Mitarbeiter der Drogenhilfe über eine rechtliche Klarstellung eine Entkriminalisierung ihrer praktischen Überlebenshilfe abgesichert worden wäre. Wenn wir allerdings einen anderen Weg wählen, der auch eine Reihe von Standards für den Betrieb von Drogenkonsumräumen regelt, dann auch deshalb, weil wir jenseits von Parteigrenzen - möglichst zusammen mit vielen Bundesländern - einen Konsens zum Betrieb von diesen Einrichtungen schaffen wollen. Weitere Regelungen des Gesetzes betreffen vor allem die Einrichtung eines Substitutionsregisters - eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Mit Beschluß vom 19. Dezember 1997 hat das der Bundesrat in einer Entschließung schon einstimmig gefordert. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich habe eingangs ausgeführt, daß wir mit diesem Gesetz eine grundsätzliche Wende in der Drogenpolitik einleiten werden. Das heißt nicht, daß wir von den schon bisher erfolgreich praktizierten Therapiemöglichkeiten Abstand nehmen werden. Es gibt unzählige Wege in die Drogenabhängigkeit, es muß daher auch möglichst viele Wege aus der Abhängigkeit geben. Dazu zählen wir nicht nur die Substitution und die neuen Wege wie den von uns initiierten Modellversuch zur Originalstoffabgabe an Schwerstabhängige, sondern selbstverständlich die gesamte Palette von niedrigschwelligen Hilfen bis hin zur abstinenzorientierten Langzeittherapie. Wir werden auch im Bereich der Polizei und Justiz weiterhin dafür kämpfen, daß diejenigen, die sich auf Kosten von Drogenabhängigen durch ein dreckiges Geschäft bereichern, mit aller Härte des Gesetzes verfolgt werden. Aber, meine Damen und Herren, das ist der Unterschied: Wir wollen nicht die Menschen, die krank sind, kriminalisieren, sondern diejenigen, die sich auf Kosten dieser Menschen bereichern. ({1}) Dabei wollen wir auch auf historische Erfahrungen bauen. Es wird immer wieder - ich finde, zu Recht - auf die Erfahrungen mit der Alkoholprohibition in den 20er Jahre in den USA verwiesen. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel, wenn man sich vor Augen hält, daß 1932 der damalige US-

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Der Kampf gegen den Alkohol ist mit der Prohibition zu gewinnen. Wir brauchen nur härtere Gesetze, mehr Polizei und mehr Gefängnisse. Ein Jahr später wurde das Alkoholverbot vom Nachfolgepräsidenten Franklin D. Roosevelt aufgehoben. Diese Entscheidung war mithin ein wichtiger Schlag gegen das organisierte Verbrechen und hat die fatalen Folgen des unkontrollierbaren, von den Bedingungen des Schwarzmarkts bestimmten Konsums von Alkohol stark reduziert. Jeder weiß, was damals passiert ist: Trotz des Verbotes, vielleicht sogar wegen des Verbots wurde gesoffen wie noch nie. Es gab Alkoholschmuggel und vor allen Dingen Schwarzbrennereien, was dazu geführt hat, daß Menschen erblindeten, weil sie Methylalkohol getrunken hatten, und vieles andere mehr. Das alles waren Folgen eines Schwarzmarktes, der bewußt geschaffen wurde. Ich will Alkohol nicht mit Opiaten gleichsetzen. Wir wissen, daß beides psychoaktive Substanzen sind. Wir wissen aber auch, daß es in der Wirkung Unterschiede gibt. Das Prinzip, meine Damen und Herren, ist aber dasselbe. ({0}) - Der Schwarzmarkt bleibt bestehen. Vielleicht helfen Sie uns, ihn zu reduzieren. Ich sage ja, wir unternehmen einen ersten Schritt. Die Erfahrungen sollten uns jedenfalls nachdenklich machen. Ich muß ganz deutlich sagen: Vor allen Dingen Äußerungen bayerischer CSU-Kollegen bringen mich zu der Überzeugung, daß sie bisher aus diesen Erfahrungen nichts gelernt haben. ({1}) Ich will Ihnen, meine Damen und Herren von der CSU ich weiß nicht, ob noch jemand von der CSU da ist -, nicht unterstellen, daß Sie ein Alkoholverbot durchsetzen wollen, das kann man Ihnen wirklich nicht nachsagen. Sie glauben aber offensichtlich immer noch, daß man mit repressiven Mitteln und bunten Werbekampagnen allein das Problem des illegalen Drogenkonsums in den Griff bekommen kann. Ich setze darauf, daß in allen Parteien die Vernunft in der Drogenpolitik die Oberhand gewinnt. Die Politik der Frankfurter CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth, Äußerungen des zukünftigen saarländischen CDUMinisterpräsidenten Müller und Forderungen unseres Abgeordnetenkollegen Hermann Kues deuten in diese Richtung. Wie gesagt: Die Hoffnung ist da, allein der Glaube fehlt mir im Moment noch. Mir ist egal, aus welcher Motivation heraus sich Vernunft in der Drogenpolitik durchsetzt: ob aus christlicher Nächstenliebe, humanitärer Gesinnung oder aus schlichter pragmatischer Einsicht in das Notwendige. Ich versuche, es einmal mit dem Altbundeskanzler Helmut Kohl zu beschreiben, der so treffend formulierte: „Wichtig ist, was hinten rauskommt.“ Ich sage, es ist nicht immer alles richtig, was hinten rauskommt. Aber im Ernst, meine Damen und Herren: Ich bin mir sicher, daß neue Wege in der Drogenpolitik konkrete Hilfe für die Betroffenen bieten werden. Ich appelliere deshalb an die Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen: Lassen Sie uns das Thema in Ruhe miteinander besprechen! Widerstehen Sie der Versuchung, mit der Drogenpolitik auf dem Rücken der Betroffenen einen billigen Wahlkampf zu führen, wie Sie das beispielsweise mit dem Staatsangehörigkeitsrecht vollbracht haben! Ich lade alle Vernunftbegabten in Sachen Drogenpolitik ganz herzlich zu Gesprächen über einen drogenpolitischen Grundkonsens ein. Ich halte diesen für wichtig, weil wir nur gemeinsam im Interesse der Abhängigen und Konsumenten vorankommen können. Ich denke schon, daß das Thema Drogenpolitik von der tagespolitischen Konjunktur getrennt werden muß. Ich bitte Sie deshalb, dem vorliegenden Gesetzentwurf zunächst die Möglichkeit der parlamentarischen Beratung zu eröffnen, ihn dann weiterhin mit uns in den parlamentarischen Beratungen zu qualifizieren und ihm anschließend zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Wir haben heute den Tag der Premieren. Herr Kollege Heil, auch für Sie war das die erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen spreche ich Ihnen den herzlichsten Glückwunsch aus! ({0}) Beinahe sprachlos hat mich gemacht, daß Sie sage und schreibe vier Minuten Redezeit nicht gebraucht haben. Leider kann ich sie Ihnen nicht für die kommenden Debatten gutschreiben. Aber ein Extrakompliment an Sie, daß Sie uns den Feierabend ein Stückchen nähergerückt haben! Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Hubert Hüppe.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bald ein Jahr ist nun die rotgrüne Bundesregierung im Amt. Seitdem werden uns in der Drogenpolitik immer wieder neue Wege versprochen; auch der Kollege Heil hat eben solche Versprechen gemacht. Dabei wurde und wird stets argumentiert, daß die unionsgeführte Regierung mit ihrer Drogenpolitik gescheitert sei. Das ist eine Behauptung, die ich nicht teilen kann und die eigentlich auch Frau Nickels nicht teilen kann; denn sie schrieb im März dieses Jahres in ihrem Drogenbericht, daß Deutschland nach Finnland die günstigsten Zahlen aufweist, was Heroinkonsum angeht. Wir sind also in Europa die zweitbesten derer, bei denen man die Zahlen vergleichen kann. Dann kann die Drogenpolitik der Vorgängerregierung nicht so schlecht gewesen sein. Wenn man sich angesichts dessen aber Länder, die wesentlich schlechtere Zahlen aufweisen, zum Vorbild für neue Projekte nimmt, verwundert mich dies. ({0}) - Nein, diese Zahlen stammen ja aus Ihrem Ministerium, und ich glaube nicht, Herr Kollege Heil, daß Sie Ihrer Staatssekretärin in dieser Frage nicht trauen. Zieht man heute nach fast einem Jahr eine drogenpolitische Bilanz, muß sie leider sehr mager ausfallen. Bisher rühmt sich die Regierung damit, daß die Position der Drogenbeauftragten nun zum Gesundheitsministerium und nicht mehr wie bisher zum Innenministerium gehört. Das ist übrigens eine Maßnahme, die ich immer befürwortet habe. ({1}) Aber ich muß auf der anderen Seite sagen, daß dies eher ein symbolischer Akt ist, der weder der Prävention noch dem Junkie auf der Straße hilft. Die erste konkrete Maßnahme, die wir erleben durften, war, daß man sich aus der Aktion „Keine Macht den Drogen“ zurückgezogen hat, um Geld zu sparen. ({2}) Darüber hinaus ist Ende Juli eine neue Broschüre mit über 70 Seiten erschienen, die neben einem Interview mit Frau Nickels, dem bereits vorher bekannten Drogenund Suchtbericht 1998, einigen leeren Seiten für Notizen und einigen Allgemeinplätzen nichts Neues enthält. Heute liegt uns nun der erste Gesetzentwurf der rotgrünen Bundesregierung zur Drogenpolitik vor, mit dem das Betäubungsmittelgesetz geändert werden soll. Dieses Änderungsgesetz soll einerseits die rechtliche Absicherung von sogenannten Drogenkonsumräumen und andererseits die Verbesserung der Substitutionspraxis bewirken. Meine Damen und Herren, ich begrüße an dieser Stelle ausdrücklich, daß die Bundesregierung offensichtlich den Willen hat, die Substitutionspraxis mehr in den Griff zu bekommen. Die dramatische Zunahme der Todesfälle im Zusammenhang mit Methadon - man muß sagen, daß die Zunahme der Gesamtzahl der Drogentoten im letzten Jahr fast ausschließlich auf diese Todesfälle zurückzuführen ist -, ({3}) der offensichtlich immer größer werdende Schwarzmarkt in diesem Bereich und vor allem die fehlende psychosoziale Begleitung der Patienten machen die Notwendigkeit neuer Regelungen deutlich. Daher sind wir bereit, die Einführung der Pflicht zur Meldung von Methadonpatienten zu unterstützen und somit Mehrfachverschreibungen zu verhindern. Dies gilt natürlich auch für Maßnahmen, die dazu führen, daß Substitutionsmittel nur noch von dafür besonders qualifizierten Ärzten verschrieben werden. Ich gebe zu, daß die Vorgängerregierung in diesem Bereich Fehler gemacht hat; auch das gehört zur Ehrlichkeit. Wenn man wirklich die Menschen im Blick hat, muß man solche Fehlentwicklungen analysieren und Änderungen auch dann zustimmen, wenn sie von einer anderen Regierung vorgenommen werden. ({4}) Schwieriger wird es beim Thema Legalisierung von sogenannten Drogenkonsumräumen. Ziel dieser Räume soll laut der oben erwähnten Drogenbroschüre sein, Kontakte zu Abhängigen zu bekommen, um damit Wege zu einer Therapie und einem drogenfreien Leben zu eröffnen. Ich bezweifle überhaupt nicht, daß die Antragsteller dieses Ziel haben, nur hat es mit der Realität wenig zu tun. Wer sich die bereits existierenden Räume - ich habe dies getan - zum Beispiel in Frankfurt und anderswo anschaut, der weiß, wie hektisch es dort zugeht. Diese Hektik wird noch dadurch erhöht, daß der Aufenthalt in Fixerstuben häufig zeitlich begrenzt ist. Eine Beratung der Abhängigen ist schon deswegen fast unmöglich, weil vor dem Druck - das ist ganz natürlich - die Gier nach der Droge im Vordergrund steht und weil nach dem Druck unter dem Einfluß der Droge kaum mehr Ansprechbarkeit besteht. Nicht zuletzt deswegen wird in Frankfurt ja auch kaum mehr der Ausstieg aus der Sucht als Ziel der Fixerstuben genannt. Vielmehr wird das ordnungspolitische Interesse, nämlich die Junkies von den Geschäften wegzuhalten, in den Vordergrund gestellt. Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Aber zur Ehrlichkeit gehört, daß man damit auch zugibt, daß dies wenig mit Gesundheitspolitik zu tun hat. Da ich gerade bei dem Punkt Ehrlichkeit bin, kann ich Frau Nickels nicht die Kritik ersparen, daß sie Drogentotenzahlen willkürlich für ihre Argumentation benutzt. Diese Zahlen sind gerade auch vom Kollegen Heil erwähnt worden. Sie sagt in einer Pressemitteilung vom 28. Juli 1999, daß aus der Erfahrung etwa der Stadt Frankfurt bekannt ist, daß erst die Substitution und die Einrichtung der Drogenkonsumräume die hohe Zahl der Drogentoten zu Beginn der 90er Jahre drastisch gesenkt hätten. Für Frankfurt wird die Zahl der Drogentoten für 1991 mit 183 - diese Zahl wurde ja schon genannt - und für 1995 mit 44 angegeben. Tatsache ist aber, daß bereits bis 1994 die Zahl auf 43 Todesfälle gesunken ist. Die erste Fixerstube ist aber erst im November 1994 eingerichtet worden. Wahr ist auch, daß der drastische Rückgang der Zahl der Todesfälle vom Jahr 1992 auf das Jahr 1993 zu verzeichnen war. Dieser Rückgang von 124 auf 63 Fälle kam zeitgleich mit den sogenannten Rückbildungsmaßnahmen der offenen Drogenszene im November 1992. Das heißt: Nicht die Fixerräume haben den Rückgang der Todeszahlen verursacht, sondern vor allem die repressive Vertreibungspolitik in Frankfurt. Wahr ist darüber hinaus auch, daß die Zahlen in Frankfurt im letzten Jahr wieder gestiegen sind. Auch in Hannover hat sich die Zahl der Todesfälle nach Einrichtung der Fixerstuben um ein Drittel erhöht. Ich behaupte nicht, daß diese Entwicklung etwas mit diesen Einrichtungen zu tun hat. Aber das Gegenteil zu behaupten, wie es in dieser Broschüre und gerade auch von Ihnen, Herr Heil, getan worden ist, halte ich für unseriös. Sieht man sich nun konkret den Gesetzentwurf an, der angeblich Rechtsklarheit schaffen soll, so stellt man sehr schnell fest, daß eher das Gegenteil erreicht wird. Die Bundesregierung will sich nicht nur aus der Finanzierung der Fixerstuben heraushalten - es sollen alleine die Länder und Kommunen zahlen -, sondern sie schafft mit ihren vagen Formulierungen eher Rechtschaos. Es wird noch nicht einmal definiert, welche Drogen zukünftig in diesen Räumen genommen werden dürfen. Alles ist möglich: von Cannabis bis Crack. Die Landesregierungen sollen zukünftig entscheiden, wer was und unter welchen Umständen konsumieren darf. Zwar werden sogenannte Mindeststandards aufgelistet, diese sind aber so dehnbar, daß selbst studentische Hilfskräfte nach einer Einweisung und zweiwöchiger Grundausbildung mit einem Telefonanschluß die Voraussetzungen erfüllen könnten, wenn die Länder keine höheren Anforderungen stellen. Nach diesen Standards bleibt es jedem Land von Hamburg bis Nordrhein-Westfalen selbst überlassen, ob zum Beispiel ein Methadonpatient oder ein Minderjähriger Zutritt hat. Es kann also sein, daß ein 17jähriger in Hamburg Zugang hat, in Niedersachsen jedoch nicht, oder daß ein 20jähriger in Niedersachsen Heroin und Kokain als Cocktail spritzen kann, in Hamburg aber leHubert Hüppe diglich Heroin. Das würde einen drogenpolitischen Flikkenteppich schaffen. Dies verwundert um so mehr, weil die Bundesregierung ja bundeseinheitliche Regelungen zum Beispiel bezüglich des Besitzes einer geringen Menge Cannabis schaffen möchte. Aber hier schafft man genau das Gegenteil. Bei der allgemeinen Kassenlage läßt sich leicht voraussagen, daß die Gemeinsamkeit der bundesdeutschen Fixerstuben das minimale Begleit- und Beratungsprogramm sein wird. Auch die Forderung des Gesetzentwurfes nach Dokumentation und Evaluation ist in keiner Weise ausgeführt. Eine reine Besucherstatistik würde diesem Kriterium bereits genügen. Alles in allem entsteht bei mir der Eindruck, daß es nur darum geht, die Szene zu überdachen, ganz nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Das ist meiner Meinung nach eher die Verabschiedung von einem drogenpolitischen Gesamtkonsens, den Sie ja gerade noch eingefordert haben. Es bleibt die Frage, wie und zu welchen Lasten demnächst diese Räume finanziert werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das spektakuläre Urteil von Halle, durch das im Juli eine drogensüchtige Frau von einer Haftstrafe verschont blieb mit der Begründung der Richterin, daß im Süden Sachsen-Anhalts in Gefängnissen wegen Geldmangels keine Betreuung von Drogenkranken mehr erfolgen kann. Wieso sollen unter hohem finanziellem Aufwand Fixerstuben eingerichtet werden, um angeblich anders nicht erreichbare Süchtige zu erreichen, wenn gleichzeitig rund um die Uhr erreichbaren Häftlingen die Betreuung gestrichen wird? ({5}) - Nein, nein, es gibt Hunderte und Aberhunderte Menschen, die in Gefängnissen sind, nicht weil sie wegen Drogenbesitzes dort hineingekommen sind, sondern weil sie Beschaffungskriminalität verübt haben. Ich denke, es wäre sehr gut, sie dann, wenn sie erreichbar sind, zumindest zu beraten, wenn man auf der anderen Seite Hunderttausende von Mark für solche Räume ausgeben will. Meine Damen und Herren, statt auf Drogenakzeptanz setzen wir weiter auf differenzierte Hilfe. Wir wollen Wege aus der Sucht ausbauen, die vom niedrigschwelligen Bereich bis zur qualifizierten Therapie und Anschlußrehabilitation reichen. Statt suchterhaltender Maßnahmen setzen wir auf Heilung, auch wenn dies schwieriger, teurer und nicht so medienwirksam ist. Wir streben ein klares Ziel an. Wir wollen niemanden aufgeben. Das ist wirklich humane Drogenpolitik. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Christa Nickels, Sie haben das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Herr Hüppe, ich traue meinen Ohren nicht. Ich bin schon in der vierten Legislaturperiode hier in diesem Parlament, und ich habe noch nie eine Rede von Ihnen zum Bereich Drogen- und Suchtpolitik gehört, die dermaßen moderat war. ({0}) Ich finde, das ist ein großer Erfolg, ich glaube auch von zehn, elf Monaten neuer Bundesregierung. Das freut mich sehr, und ich denke, daran kann man bei allem, was Sie einem da sonst noch unterjubeln wollen, anknüpfen. Wir haben an anderer Stelle, zum Beispiel im Ausschuß, Gelegenheit, das einmal geradezurücken. Ich habe jetzt nur sechs Minuten Redezeit. Hier geht es nicht darum, die gesamte Palette der Drogen- und Suchtpolitik zu betrachten, und es geht auch nicht um einen Rechenschaftsbericht über zehn Monate Drogen- und Suchtpolitik der Bundesregierung, den ich gern hier im Parlament an dieser Stelle geben würde, sondern es geht um einen einzigen Bereich. Seit Jahren besteht ein dringender Handlungsbedarf für die Gruppe von schwer beeinträchtigten Opiatabhängigen, die von den verschiedenen Therapie- und Hilfeangeboten und von niedrigschwelligen Hilfeangeboten nicht erreicht werden. Diese Menschen leben in einem Teufelskreis von Abhängigkeit, Beschaffungskriminalität und sozialer und gesundheitlicher Verelendung. So ist gerade diese Gruppe von den Begleiterkrankungen, wie zum Beispiel Hepatitis und HIV, schwer betroffen. Das Anliegen der Schadensminimierung wird dadurch noch dringlicher, daß die offizielle Zahl der Drogentoten in diesem Jahr vom 1. Januar 1999 bis zum 31. Juli 1999 auf 963 Fälle angestiegen ist. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 879 Fälle bekannt, und das war auch schon ein Anstieg. Die Zahl steht für unsägliches Leid und fordert uns auf, für diesen betroffenen Kreis die Prävention, die Hilfe, aber auch die Schadensminimierung stärker als bisher in den Vordergrund zu rücken. Herr Hüppe, hier redet keiner davon, daß dieser Gesetzentwurf und diese Maßnahme der Überlebenshilfe der Königsweg seien, sondern es handelt sich hier ganz einfach um einen bisher in der Drogenhilfe fehlenden, aber wichtigen Baustein, für den wir mit dem nunmehr vorliegenden Dritten Gesetz zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes die rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Aus Erfahrungen etwa der Stadt Frankfurt - das wurde hier auch schon gesagt - ist bekannt, daß erst mit Hilfe der Stubstitution und der Einrichtung von Drogenkonsumräumen - hier ist der Gesamtkontext zu sehen, Herr Hüppe - in den 90er Jahren eine deutliche Reduzierung der Zahl der Drogentoten zu erreichen ist. ({1}) Die Auswirkungen sind so überzeugend, daß die bislang vertretene These, die auch Sie bis Anfang dieses Jahres immer noch öffentlich verkündet haben, dieser schwer betroffenen Gruppe könne erst dann geholfen werden, wenn sie ganz am Boden liege, unterlassener Hilfeleistung gleichkommt. Diesen Menschen müssen wir helfen, auch mit diesem noch fehlenden Baustein, und dürfen ihr Schicksal nicht erst dann beklagen, wenn sie in der Drogentotenstatistik auftauchen. ({2}) Ich halte deshalb die rechtliche Absicherung der Drogenkonsumräume für eine unerläßliche Aufgabe, um die Gesundheitsgefahren bis hin zu Todesrisiken für diese Gruppe intravenös Drogenabhängiger zu verringern. Diese Gefahr erhöht sich aktuell durch den gestiegenen Mischkonsum. Das ist eine neu auftretende Problematik, die uns vor neue und sehr große Herausforderungen stellt. Außerdem muß endlich Schluß damit sein, Herr Hüppe, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Drogenhilfeeinrichtungen mit einem Bein im Gefängnis stehen, wenn sie Überlebenshilfe leisten. ({3}) In diesem hochsensiblen Bereich wurde bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfes ein intensiver Dialog mit den Fachverbänden, allen Bundesländern und Städten geführt. Deren Bedenken und Vorschläge wurden aufgenommen. Darum enthält der Gesetzentwurf zehn Mindestvoraussetzungen. Darum sind die notwendigen gesundheitlichen Voraussetzungen in den Gesetzentwurf geschrieben worden. Er ist aber etwas unkonkreter geworden, weil die Bundesländer, teilweise auch CDUgeführte Bundesländer, einen ausreichenden Spielraum haben wollten. Wir haben die Bedenken und Vorschläge aufgegriffen, weil uns daran gelegen ist, diesen Gesetzentwurf in einem möglichst breiten Konsens durchzubringen. Wir haben diesen grundsoliden Gesetzentwurf also gründlich vorbereitet. Zu den zehn Mindestanforderungen gehören unter anderem die zweckdienliche sachliche Ausstattung, die Gewährleistung medizinischer Notfallversorgung, Beratung zur Risikominderung, Vermittlung von weiterführenden Beratungs- und Therapieangeboten - alle Experten in Konsumräumen sagen, daß die Gelegenheit von Betroffenen genutzt wird und Weitervermittlung immer schon möglich war -, die Vorhaltung qualifizierten Personals ({4}) und verbindliche Formen der Zusammenarbeit mit der Polizei und den Behörden. Die Befürchtung, daß Einsteiger durch Drogenkonsumräume zu regelmäßigem Konsum verführt werden könnten, ist durch die Erfahrung klar widerlegt. Einsteiger oder Nichtkonsumenten lassen sich in Drogenkonsumräumen schon heute nicht blicken. Denn dort zeigt sich in aller Deutlichkeit das Elend der zur offenen Szene gehörenden opiatabhängigen Menschen. Das geht einem an die Nieren; das hält ein gesunder Mensch sehr schwer aus. Der Gesetzentwurf legt darüber hinaus fest, daß Erst- und Gelegenheitskonsumenten nachprüfbar keinen Zugang zu Drogenkonsumräumen haben dürfen. Die Zusammenarbeit von Polizei, kommunalen Behörden und den Vereinen der Drogen- und Aidshilfe hat bereits bei den bestehenden Drogenkonsumräumen zu mehr öffentlicher Sicherheit in den betroffenen Städten für Anwohner und Betroffene geführt. Der vorliegende Gesetzentwurf fördert diese Partnerschaft, weil verbindliche Mindestvoraussetzungen festgeschrieben werden. In den Regelungen der Landesregierungen kann dies konkretisiert werden. Der Gesetzentwurf stellt klar, daß der von einer Landesregierung genehmigte Betrieb eines Drogenkonsumraums und die damit zusammenhängenden Tätigkeiten des Personals keine Straftaten sind. Das steht voll im Einklang mit dem internationalen Suchtstoffrecht, was hier unter anderem von Frau Ministerin Stamm in Frage gestellt wurde. Dieses Suchtstoffrecht räumt den Staaten ausdrücklich ein, daß ihre nationalen Drogengesetze beim unbefugten Besitz für den persönlichen Verbrauch an Stelle der Bestrafung unter anderem Maßnahmen zur Behandlung, Aufklärung und Erziehung vorsehen können. Besonders möchte ich noch darauf hinweisen, daß der Gesetzentwurf keine Grundlage für einen Anspruch auf Eröffnung eines Drogenkonsumraums darstellt. Über die örtlich sinnvolle Eröffnung müssen vielmehr die Landesregierungen entscheiden. Der Gesetzentwurf enthält die hierfür notwendigen Rahmenvorschriften, die eine einheitliche und mit dem internationalen Suchtstoffrecht kompatible Gestaltung von Drogenkonsumräumen in Deutschland gewährleisten sollen. Die Befürchtung der Stadt München, daß die dort im Aufbau befindlichen Drogenkonsumräume nicht zustande kommen könnten, werden von mir geteilt. Es ist aber Sache der bayerischen Staatsregierung, entsprechende Schritte einzuleiten. Der Bund kann und will hier nicht in die Länderkompetenzen eingreifen. Es ist jedoch zu hoffen, daß sich auch dort die ausgewogenen gesundheitspolitischen und humanitären Gründe für eine solche Hilfeeinrichtung durchsetzen. Herr Hüppe, was die von Ihnen angesprochenen Maßnahmen zur Qualifizierung und zur Sicherung der Methadonsubstitution angeht, so handelt es sich um die Umsetzung eines einstimmig gefaßten Bundesratsbeschlusses von 1997. Wenn Sie immer noch mit spitzer Zunge, wenn auch gegenüber Ihren früheren Äußerungen deutlich abgeschwächt, sagen, das sei nötig, frage ich mich, warum die alte Bundesregierung das nicht umgesetzt hat. Wir tun das jetzt, weil es eine sinnvolle Hilfemöglichkeit, die jetzt schon seit zehn Jahren in Deutschland sehr viel Gutes geleistet hat, die Methadonsubstitution, weiter zu qualifizieren gilt. Wir setzen das in diesem Gesetzentwurf um. Das ist aber beileibe nicht die einzige Maßnahme in diesem Bereich. Ich glaube, Sie haben wirklich Bedarf, einmal bei mir einen Kaffee zu trinken, damit ich Ihnen genau erläutern kann, was wir alles außer Gesetzesnovellen machen, die erst nach gründlicher Erarbeitung eingebracht werden. Danke schön. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hubert Hüppe das Wort.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich weiß zwar, daß die Zeit schon sehr weit fortgeschritten ist, möchte aber noch darauf hinweisen, daß ich es nicht als gut empfinde - ich denke, ich bin Ihnen heute sehr weit entgegengekommen; ich habe Ihnen auch gesagt, daß ich die Methadon-Vereinbarung für richtig halte -, wenn mir unterstellt wird - ich bin mit Namen angesprochen worden -, daß ich ohne weiteres den Tod von Menschen durch Drogen hinnähme. Dies ist nicht der Fall. Ich habe mit sehr vielen Menschen über dieses Thema gesprochen. Ich weiß, was es nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Familien bedeutet, auch für die Familien derer, die nicht durch Drogen sterben. Ich möchte, daß zur Kenntnis genommen wird, daß es mir mit dieser Sache sehr ernst ist, weil ich weiß, welches Elend die Droge verursacht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Frau Kollegin Nickels, bitte.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hüppe, lesen Sie das doch bitte im Protokoll nach! Ich habe Ihnen dies nicht unterstellt; das würde mir auch gar nicht einfallen. Ich habe nur generell darauf hingewiesen, daß die Daten, Fakten und Erfahrungen mit den bestehenden Drogenkonsumräumen so eindeutig sind, daß es unterlassener Hilfeleistung gleichkäme, würde man nicht endlich diese rechtliche Grauzone aufheben. Ich glaube, wenn Sie das Protokoll lesen, werden Sie sehen, daß ich Ihnen persönlich das nicht unterstellt habe. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Jahr nach der Bundestagswahl 1998 legt die Bundesregierung - endlich - einen Gesetzentwurf zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes vor. Es ist kein ganz neues Thema - das ist von Ihnen, Frau Nickels und Herr Heil, bereits gesagt worden -, mit dem sich dieser Gesetzentwurf beschäftigt. Es geht um die rechtliche Absicherung der sogenannten Gesundheitsräume oder, wie Sie es nennen, der Drogenkonsumräume. Der ganz große Wurf ist dieser Gesetzentwurf meiner Meinung nach nicht. Ich hätte erwartet, daß auch das aufgenommen würde, was in den letzten Jahren bereits durch Bundesratsinitiativen in den Bundestag eingebracht worden ist: die rechtliche Ausgestaltung dessen, was in der Schweiz und in anderen Ländern erprobt worden ist, ({0}) nämlich die ärztlich kontrollierte Abgabe von Heroin mit wissenschaftlicher Begleitung und psychosozialer Betreuung. Ich denke, es wäre gut, wenn sich auch die Modellversuche, für deren Einführung die F.D.P. da, wo es geeignete Rahmenbedingungen und richtige Vorgaben gibt, eintritt, auf einer rechtlichen Grundlage im Betäubungsmittelgesetz wiederfänden. Ich bin der Meinung, daß es ein wirklich entscheidender Schritt ist, ärztlich kontrolliert Heroin abzugeben. Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode im Bundestag sehr intensiv mit den Schweizer Folgen und den Bewertungen der Ergebnisse auseinandergesetzt. Wenn man in diese Richtung gehen möchte - das gehört für die F.D.P. zur vierten Säule der Drogenpolitik, zur Überlebenshilfe -, dann ist es angesichts der schwierigen Akzeptanz in unserer Gesellschaft notwendig, dieses Thema im Parlament zu behandeln und gesetzlich ausformuliert im Betäubungsmittelgesetz zu verankern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, freilich.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ist Ihnen bekannt, daß wir nach vielen Verhandlungen in Koordinationsgruppen jetzt in der Situation sind, daß sich aus sechs Städten verschiedener Bundesländer - das geschieht mit Unterstützung der jeweiligen Landesregierung; das betrifft auch die neue Regierung in Hessen etwa 700 Probanden angemeldet haben und wir gerade dabei sind, den Ausschreibungstext für den Modellversuch „heroingestützte Behandlung“ zu formulieren, und daß eine Gesetzesänderung früher nicht notwendig war, weil schon der politische Wille fehlte? Das Projekt befindet sich bereits in der Umsetzungsphase.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es gab gerade von den SPD- und GrünenLandesregierungen entsprechende gesetzliche Formulierungen, die über den Bundesrat in den Bundestag gelangten. Ich denke, das war keine reine Beschäftigungstherapie der Kollegen und Kolleginnen in Bonn. Man hat damit auch eine gewisse Notwendigkeit verbunden. Ich teile nicht die Auffassung, daß es so eindeutig ist, daß man hier keine gesetzliche Grundlage braucht. In dem vorliegenden Gesetzentwurf machen Sie anhand von 10 Punkten eine sehr umfangreiche Vorgabe für den Erlaß von Rechtsverordnungen. Zudem führen Sie die kontrollierte Abgabe von Heroin ohne eine gesetzliche Regelung und ohne den Umstand, daß wenigstens einigermaßen vergleichbare Vorgaben festgelegt werden, ein. Ich halte das auch politisch für nicht richtig. Denn Sie hätten den vorliegenden Gesetzentwurf ohne jegliche Schwierigkeiten um die Absicherung dieses Versuches anreichern können.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, es gibt eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Nickels.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß es sich hier um zweierlei Sachverhalte handelt, zum einen um die rechtliche Klarstellung von Drogenkonsumräumen im BtMG, zum anderen um den Modellversuch einer heroingestützten Behandlung, und ist Ihnen bekannt, daß schon damals Ihrerseits unserem Haus mitgeteilt worden ist, daß man in diesem Bereich keine Gesetzesänderung braucht, und daß die Bundesländer damals eine solche für nötig erachteten, weil die damalige Bundesregierung nicht bereit war, hier koordinierend tätig zu werden? ({0})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Nickels, ich glaube, es ist bekannt - deshalb sage ich das hier -: Die F.D.P. hat in der damaligen Koalition eben nicht durchsetzen können, daß hier Veränderungen vorgenommen werden. Wir als damalige Regierungsfraktion haben im Bundestag unsere Auffassung dazu sie war anders als die des Koalitionspartners - sehr klar dargelegt. Sie selber haben ja in den letzten zehn Monaten erlebt, wie häufig das der Fall sein kann. Deshalb war es klar, daß wir in der Koalition keine irgendwie geartete Änderung im Betäubungsmittelgesetz würden durchsetzen können, und zwar weder eine Änderung zur rechtlichen Absicherung der Gesundheitsräume noch eine Änderung zu einer ärztlich kontrollierten Abgabe von Heroin. Ich weiß von vielen Stellungnahmen, die die Bundesregierung zu den Entwürfen des Bundesrates abgegeben hat - ich meine nicht die von 1996, sondern die von 1995 und 1994 -, in denen wir mit Hilfe vorsichtiger Formulierungen versucht haben, die Tür nicht so zuzuschlagen, daß es dann nicht wenigstens zu Beratungen kommen konnte. Dann hat ja Gott sei dank in der letzten Legislaturperiode, und zwar noch 1998, eine entsprechende Anhörung im Gesundheitsausschuß stattgefunden. Das, was dort zu den Drogenkonsumräumen gesagt worden ist, ist dann zu einem gewissen Teil in diesen Gesetzentwurf eingeflossen. Ich halte es für richtig, daß die Unsicherheit, die gerade für die Betreiber und für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Einrichtungen besteht, beseitigt wird. Denn zu Recht, Frau Nickels, haben Sie gesagt, daß die strafrechtliche Verfolgung bisher immer mit einem Bein vor der Tür stand, wenn hier eine andere Rechtsauffassung vertreten wurde als die, die noch in den meisten Bundesländern herrschend ist. Gerade weil die F.D.P. sagt: „Abhängigkeit ist eine Sucht, ist eine Erkrankung“, halte ich es für notwendig, diesen Weg als einen weiteren Schritt in der Drogenpolitik zu gehen. Ich halte es für wichtig, daß wir nicht nur mit den Mitteln des Strafrechts, das in diesem Bereich keine spezial- und generalpräventive Wirkung entfalten kann, in der Drogenpolitik agieren, sondern daß wir neben Repression, Therapie und Prävention auch eine sogenannte vierte Säule, nämlich die Überlebenshilfe, stellen. Schon vor vielen Jahren haben Polizeipräsidenten aus mehreren Großstädten gefordert, der sich entwickelnden offenen Drogenszene durch die Einrichtung solcher Gesundheits- oder Konsumräume - vergleichbar mit der Schweiz - zu begegnen. Denn damit wird nicht nur die Gesundheit der Bürger vor weggeworfenen Spritzen oder anderen für den Drogenkonsum gebrauchten Utensilien besser geschützt. Es wird auch die Möglichkeit eines risikoreduzierten und hygienisch optimierten Konsumes geschaffen. Außerdem wird der Zugang der Abhängigen zu anderen, niedrigschwelligen Angeboten erleichtert. Das war in meinen Augen eine sehr wichtige Information, die anläßlich der Anhörung im Jahre 1998 von vielen Fachleuten gegeben wurde. Das geltende Betäubungsmittelstrafrecht und die hierzu ergangene Rechtsprechung kriminalisiert das Verschaffen und Gewähren einer Gelegenheit zum Drogenkonsum. Gerade die intravenös Drogenabhängigen werden auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich Heroin zu injizieren, zu einem entwürdigenden Spießrutenlauf durch öffentliche Anlagen und Plätze gezwungen. Deshalb ist diese gesetzliche Regelung notwendig. Ob es wirklich ein so umfangreiches Paragraphenwerk sein muß, sollte, denke ich, noch in den fachlichen Beratungen in den Ausschüssen unter die Lupe genommen werden. Die F.D.P. wird - das können Sie meinen Worten und eigentlich auch den ganzen Debatten der letzten Legislaturperiode entnehmen - dieses Vorhaben grundsätzlich positiv begleiten. Da der Teufel im Detail steckt, werden wir im Interesse einer sachgerechten Änderung des Betäubungsmittelrechtes eigene Vorschläge in die Beratung einbringen. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir werden den Gesetzentwurf der Bundesregierung unterstützen. Er ist zweifellos ein Schritt nach vorne, wobei ich die Kritik von Frau Leutheusser-Schnarrenberger unterstreichen möchte: Es ist wirklich nur ein Schritt, und er fällt - da kann man sagen, was man will - hinter die Versprechungen, die SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Wahl gemacht haben, und auch hinter den Stand der Debatte, die wir bisher in diesem Haus gehabt haben, weit zurück. Dennoch, so denken ich und meine Fraktion, ist es wichtig, daß wir endlich von der Drogenpolitik, die von Strafrecht und Repression gezeichnet ist, wegkommen und daß wir das Thema als ein soziales und medizinisches Problem behandeln. Wir haben in der Vergangenheit bereits viele Debatten um die Legalisierung, um die Entkriminalisierung und vor allen Dingen um das Schlagwort „Therapie statt Strafe“ geführt. Nicht nur meine Fraktion, sondern auch Abgeordnete anderer Fraktionen haben immer wieder dafür gestritten, daß der repressiven Abschrekkungspolitik im Drogenbereich endlich ein Ende gemacht und für menschliche Verhältnisse gesorgt wird. Dafür müssen die gesetzlichen Bestimmungen angepaßt werden. Der Gesetzentwurf ist, wie gesagt, ein Schritt in die richtige Richtung. Auch ich war einigermaßen, Herr Hüppe, über Ihre moderaten Töne erstaunt. Von Ihnen habe ich bisher etwas anderes gehört. Ich wünschte, daß in der gesamten Republik ein Nachdenken einsetzt - gerade in den Ländern, in denen die CDU/CSU an der Regierung ist. In Großstädten wie Hamburg und Frankfurt gibt es heute bereits viele Fixerstuben. In Berlin ist gerade in den letzten Tagen von der Regierungspartei CDU erklärt worden, sie werde weiterhin den repressiven Kurs fahren. Ich kann das wirklich nicht verstehen. Es wird geschätzt, daß in Berlin über 8 000 Menschen schwer drogenabhängig sind. Ich meine, es wäre ein erster Schritt, es den Drogenabhängigen zu ermöglichen, mit ihrer Sucht in entsprechenden Räumen umzugehen. Wie ich eben schon gesagt habe, reicht das allein natürlich bei weitem nicht aus. Ich möchte darauf hinweisen - das ist heute schon gesagt worden -, daß wir keineswegs einen starken Rückgang der Zahl der Drogentoten haben. Ganz im Gegenteil: Erst im vergangenen Jahr ist die Zahl wieder um zehn Prozent angestiegen. Wir sind verpflichtet, eine Drogenpolitik zu entwickeln, mit der den Menschen, die schwerstabhängig sind, geholfen wird. Das bedeutet und das ist mein wesentlicher Kritikpunkt an dem Gesetzentwurf -, daß man nicht dabei stehenbleiben darf, nur die formalen Bedingungen zu verändern. Wir müssen dahin kommen, daß die Leute kein gepanschtes Zeug auf der Straße kaufen müssen und daß sie vernünftig aufgeklärt werden. Wir werden in den nächsten Wochen einen eigenen Antrag zur Drogenpolitik einbringen, der sich ganz besonders mit den Fragen der Entkriminalisierung in der Drogenpolitik und der Legalisierung von Cannabisprodukten beschäftigen und der weitere konkrete Vorschläge zu harten Drogen machen wird. Weil es so spät ist, soviel für heute. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Ge- setzentwurfes auf der Drucksache 14/1515 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuß vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offen- sichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Maritta Böttcher, Roland Claus, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Demokratisierung des Wahlrechts - Drucksache 14/1126 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuß b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid ({1}) - Drucksache 14/1129 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die PDS-Fraktion spricht die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Freude habe ich vernommen, daß der Kollege Rezzo Schlauch vor zwei Tagen in der Festveranstaltung „50 Jahre Bundestag“ die Passage zur Volksgesetzgebung in der Koalitionsvereinbarung nochmals dem Grunde nach bekräftigt hat. Er sagte: Wir wollen die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger stärken. Dazu wollen wir auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des Grundgesetzes einführen. So hoffe ich doch, daß Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsparteien, über unseren Gesetzentwurf zur Volksgesetzgebung gefreut haben, ({0}) zumal Ihre Partei, Herr Kollege Ströbele, in der letzten Wahlperiode selbst einen entsprechenden Vorschlag gemacht hat. Ich bin mir sicher, daß unsere beiden Entwürfe die Diskussion um Notwendigkeit und Inhalt einer bundesweiten Volksgesetzgebung, um ihre Verankerung im Grundgesetz, um den möglichen Mißbrauch zu antidemokratischen Zwecken, um die Erweiterung des Wahlrechts für ausländische Mitbürger und die Streichung der Fünfprozenthürde im Interesse einer Öffnung der Demokratie befördern werden. Aber - das betone ich ausdrücklich - genausowenig, wie es zur Demokratie als Regierungsform eine progressive Alternative gibt, genausowenig gibt es eine Alternative zu ihrer ständigen Fortentwicklung. Genauso wie parlamentarische Demokratie unerläßlich ist, ist ihre Ergänzung durch direkte Demokratie wie in Form der Volksgesetzgebung unverzichtbar. Die bisherige Quarantäne plebiszitärer Demokratie im Grundgesetz ist nach 50 Jahren an die Grenzen der Entwicklung von einer parlamentarischen Zuschauer- und Parteien- zu einer auch modernen Teilhabe- und Bürgerdemokratie gestoßen. Mangelndes politisches Interesse, drastisch sinkende Wahlbeteiligungen und eine in der Tendenz abnehmende Zahl von Parlamentsparteien sind deutliche Warnsignale nachlassender Bevölkerungsakzeptanz und demokratischer Ausdünnung, die wir nicht ignorieren dürfen. Dahinter verbergen sich nicht nur Glaubwürdigkeits- und Erscheinungsprobleme unserer Politik, sondern strukturelle Demokratiedefizite. Einige unserer Vorschläge zur Überwindung dieser Defizite liegen jetzt für die parlamentarische Diskussion auf dem Tisch. Ziel unseres Entwurfs zur Volksgesetzgebung ist - aufbauend auf den Ländererfahrungen - ein praktikables, unbürokratisches und zügiges dreistufiges Volksgesetzgebungsverfahren. Die von uns vorgeschlagenen Beteiligungs- bzw. Zustimmungsquoren sind für die Initiatoren erreichbar, sichern aber zugleich, daß nur ernsthafte Anliegen erfolgreich betrieben werden können. Die vorgesehene Stimmenverdopplung und die Einführung eines Beteiligungsquorums von 25 Prozent, gekoppelt mit einer qualifizierten Zweidrittelmehrheit, bieten die Gewähr für qualifizierte, nur von Mehrheiten getragene Grundgesetzänderungen. Wir halten es für wichtig, diese außerparlamentarische Gesetzgebungsform möglichst frühzeitig an den parlamentarischen Prozeß heranzuführen, indem die Träger der jeweiligen Volksinitiative in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestages ein Anhörungsrecht erhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen, mit der Unterstützung dieses Gesetzgebungsvorhabens würden Sie auch bei Ihren Wählerinnen und Wählern sowie darüber hinaus punkten. Denn laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage - das wissen Sie auch selbst - im Auftrag der Zeitung „Die Woche“ vom Januar dieses Jahres sprechen sich sage und schreibe 70 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger für Volksentscheide auf Bundesebene aus. Der von unserer Fraktion außerdem vorgelegte Entwurf zur Demokratisierung des Wahlrechts durch Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, die Einführung des Ausländerwahlrechts auf Bundesebene, die Streichung der Fünfprozenthürde, die Verrechnung der Überhangmandate mit Mandaten auf Landeslisten und durch die Bestimmung der Kandidatenreihenfolge mittels Präferenzstimmen dient dazu, unser Wahlrecht den tatsächlichen Wahlbedürfnissen der Bevölkerung anzupassen, ungerechtfertigte Bevorteilungen der großen Parteien, die bereits den Grundsatz der Wahlgleichheit in Frage stellen, zu beseitigen, und sie dient dazu, politische Pluralität zu befördern. Wir wissen alle: Zu den größten Feinden der Demokratie gehören Gleichgültigkeit, Desinteresse und das Gefühl der Ohnmacht gegenüber Politik. Demokratie kann nur durch aktive, politisch gut informierte Bürger auf breiter Basis leben und sich entwickeln. Für eine gegenseitige sachdienliche Ergänzung von parlamentarischen und außerparlamentarischen Demokratieformen müssen wir hier die Rahmenbedingungen schaffen. Ihre Unterstützung dafür würde ich mir sehr wünschen. Danke schön. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht der Kollege Harald Friese.

Harald Friese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Man muß sich schon fragen, ob es Beschäftigungstherapie oder mangelnde Kreativität ist, wenn die PDS-Fraktion in jeder Legislaturperiode die gleichen Anträge vorlegt; denn der Antrag, der heute vorliegt, ist ein guter alter Bekannter aus der 12. Legislaturperiode und aus der 13. Legislaturperiode. Wir haben schon fast Wetten abgeschlossen, wann Sie auch in der 14. Legislaturperiode diesen Antrag stellen. Nun liegt er auf dem Tisch. Aber ein bißchen politisches Kalkül ist, glaube ich, schon dahinter, wenn Sie diese Anträge stellen. Wenn ich die Debatten in der 12. und 13. Legislaturperiode lese, gewinne ich den Eindruck, Sie wollen eigentlich gar keine Zustimmung. Ihnen ist nämlich viel lieber, zu sagen, die etablierten Parteien - da meinen Sie wohl uns seien gegen eine Demokratisierung des Wahlrechts, sie seien gegen eine Herabsetzung des Wahlalters, sie seien gegen ein Wahlrecht unserer ausländischen Mitbürger, sie seien gegen die Streichung der Fünfprozentklausel und sie seien gegen die stärkere Einflußnahme des Bürgers bei der Auswahl der Bundestagsabgeordneten. Aber so einfach lasse ich Sie heute hier nicht heraus. Es wird Ihnen auch im dritten Anlauf nicht gelingen, sich sozusagen als der Gralshüter der parlamentarischen Demokratie, als der Gralshüter des demokratischen Wahlrechts und als der Gralshüter einer funktionierenden Parteiendemokratie darzustellen. Ich sage Ihnen auch, warum Ihnen das nicht gelingen wird. Sie haben ja Ihre Erfahrungen mit parlamentarischer Demokratie, mit einem demokratischen Wahlrecht und mit einer funktionierenden Parteiendemokratie. Sie sprechen von etablierten Parteien. Was mir daran nicht gefällt, ist die unterschwellige Reminiszenz an eine bestimmte Begrifflichkeit in der Weimarer Republik. Sie sprechen auch davon, daß Partei- und Politikverdrossenheit ihre Ursache in der Fünfprozentklausel hätten, weil dadurch die großen Parteien einen Vorteil hätten. Das klingt wieder so nach Machtkartell der großen Parteien, weil es eine Fünfprozentklausel gibt. Sie wollen, wie Sie in Ihrer Begründung schreiben - ich zitiere -, ein System wirklich konkurrierender Parteien fördern und alle Parteien zum Dialog mit den Wählerinnen und Wählern zwingen. Man sieht, Sie können sich aus Ihrer Vergangenheit nicht so ganz lösen. Ich mache Ihnen einen guten Vorschlag: Sie sollten es den Parteien selber überlassen, wie sie Politik machen, wie sie den Dialog mit den Wählerinnen und Wählern führen und wie sie den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern führen. Ich glaube, wir können dies gesetzlich nicht regeln. Wenn Sie Partei- und Politikverdrossenheit beklagen, habe ich außerdem den Eindruck: Dies ist ein typischer Antrag, der die Grundlage für Politik- und Parteiverdrossenheit ist: Man stellt populistische Forderungen auf einem Politikfeld, wo es eigentlich sinnvoller und besser wäre, weil es beim Wahlrecht um Grundsatzfragen der parlamentarischen Demokratie geht, den Konsens zwischen den Fraktionen in diesem Haus herbeizuführen. Deshalb sage ich Ihnen: Wahlrecht hat den Rang von Verfassungsrecht. Die SPD-Fraktion wird in dieser Diskussion einen anderen Weg gehen: Wir wollen danach an die alte parlamentarische Tradition wieder anknüpfen, die leider in der letzten Legislaturperiode bei der Frage der Überhangmandate und der Wahlkreiseinteilung nicht fortgesetzt wurde, diese grundsätzlichen Fragen zwischen den Fraktionen in diesem Hause einvernehmlich zu regeln. Da wir das Bundeswahlgesetz wegen des letzten Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zur Frage der Nachfolgeproblematik bei Überhangmandaten sowieso ändern müssen, werden wir unsere eigenen Vorschläge einbringen und im Rahmen dieser Diskussion überlegen, welche Änderungen wir am Wahlrecht noch vornehmen können. In diesem Zusammenhang können wir über alles reden. Aber eins sage ich jetzt schon: Wir können nicht allem zustimmen. Ein Beispiel ist die Fünfprozentklausel. Sie ist für uns die Kehrseite des Verhältniswahlrechtes - eine der Grundlagen für die politische Stabilität in diesem Lande. Sie ist für die SPD-Fraktion nicht disponibel. Das Wahlrecht für ausländische Mitbürger zu fordern ist leicht. Bevor Sie so etwas fordern, sollten Sie sich wirklich einmal zuerst Art. 38 des Grundgesetzes und danach Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes anschauen. Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen, daß eine Änderung des Wahlrechts gar nicht so einfach möglich ist, wie Sie sich das vorstellen. Deshalb scheint mir Ihre Forderung etwas populistisch zu sein. Mit der Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre hat die SPD-Fraktion - das sage ich ganz offen - ihre Probleme, einmal deshalb, weil es dann unterschiedliche Altersstufen für das aktive und passive Wahlrecht gibt. Zum anderen stellen wir uns die Frage: Ist es eigentlich sinnvoll, die Phase des jungen Menschen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden so stark zu verkürzen? Soll nicht der Jugendliche die Chance haben, sich zuerst politisch zu orientieren, seine Meinung zu bilden und auch das Recht auf Irrtum in Anspruch zu nehmen? Wir sollten deshalb die Erfahrungen in den Bundesländern gründlich prüfen, ob die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre tatsächlich das bewirkt hat, was man sich davon versprochen hat, nämlich die Vergrößerung der politischen Partizipation von jungen Menschen. Bei der Einführung von Präferenzstimmen liegt das Problem auf der Hand. Wenn sie eingeführt werden, wird das Wahlrecht komplizierter, mit der Folge einer erhöhten Zahl von ungültigen Stimmen. Dies kann nicht das Ziel sein. Aber wir können über die Einführung von Präferenzstimmen diskutieren. Eine letzte Anmerkung zu diesem Komplex. Die Frage der Überhangmandate hängt mit der Einteilung der Wahlkreise zusammen. Noch der alte Bundestag hat beschlossen, daß bei der nächsten Bundestagswahl eine neue Wahlkreiseinteilung gilt. Dadurch wird sich das Problem etwas reduzieren. Aber wir werden die Frage des Ausgleichs und mögliche Lösungen diskutieren müssen. Wir werden zur Änderung des Bundeswahlgesetzes auch eigene Vorschläge einbringen. Ich wiederhole: Wir werden die Vorschläge von allen Fraktionen unvoreingenommen in der festen Absicht prüfen, ob nicht ein Konsens zwischen den Fraktionen in diesem politisch sensiblen Bereich herbeigeführt werden kann. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Erwin Marschewski.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Häufig wird als Argument für die Aufnahme zusätzlicher plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz - so war es auch in der heutigen Debatte angeführt, man könne damit der Politikverdrossenheit entgegenwirken. Dabei wird eigentlich übersehen: Die Möglichkeiten, über Wahlen und andere Beteiligungsrechte politisch Einfluß zu nehmen, sind heute so stark ausgeprägt wie nie zuvor. Politikverdrossenheit entsteht nach meiner Meinung dadurch, daß Regierungshandeln und -versprechungen Hoffnungen enttäuschen, zum Beispiel dadurch, daß jemand wie der Herr Bundeskanzler - ohne mit der Wimper zu zucken - von seinem Versprechen abrückt, auch in Zukunft die Rentnerinnen und Rentner nettolohnbezogen an der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung teilhaben zu lassen. Politikverdrossenheit entsteht auch, wenn ausgerechnet die PDS, die sich einen Wahlfälscher zum Ehrenvorsitzenden erkoren hat, nun in aller Breite von der Entwicklung einer Teilhabedemokratie fabuliert. ({0}) - Nein, das ist doch so. Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist nie billig, sondern wahr und richtig. Um die richtige Entscheidung zu treffen, ist ein Blick nach Weimar vonnöten. In der Zeit der Weimarer Republik wurde zwar nur relativ selten von der Möglichkeit plebiszitärer Entscheidungen Gebrauch gemacht. Aber der permanente Druck plebiszitärer Entscheidungsmöglichkeiten, der von Nazis und Kommunisten genutzt wurde und zu Gewalttaten auf den Straßen Deutschlands führte, hat die Entwicklung einer stabilen Demokratie verhindert. Aus eben diesen fürchterlichen Entwicklungen in Deutschland hat der Parlamentarische Rat mit seinem strikten Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie die entscheidenden Konsequenzen gezogen. Er hat im Grundgesetz bewußt auf Formen unmittelbarer Demokratie verzichtet, von den Ausnahmen, Herr Kollege Friese, in Art. 28 und 29 des Grundgesetzes einmal abgesehen. Über 40 Jahre später - nach der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes - hat die Gemeinsame Verfassungskommission von Bund und Ländern die Frage der Aufnahme von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz wieder diskutiert und überprüft. Wir haben vor ein paar Jahren gesagt, aus verfassungsrechtlichen und aus verfassungspolitischen Gründen wollen wir auf solche Regelungen verzichten. Die Gründe für diese Entscheidung sind stichhaltig. Erstens. Plebiszite verengen die Entscheidung selbst über schwierige Probleme meist auf ein schlichtes Ja oder Nein. Damit aber kann man den Herausforderungen einer modernen Gesellschaft mit ihren sehr komplexen Problemen nicht gerecht werden. Zweitens. Plebiszite trennen, was nicht getrennt werden darf. Die Befugnis zur Entscheidung und die Verantwortung für die Umsetzung werden auseinandergerissen. Diese Trennung der Zuständigkeiten ermöglicht den parlamentarischen Entscheidungsträgern die Flucht aus der Verantwortung. Ich denke, die Politikverdrossenheit wird daher eher zunehmen. Drittens. Plebiszite blenden auch allzuleicht die Allgemeinwohlorientierung aus: Oftmals geht es nämlich lediglich um die Durchsetzung egoistischer Interessen Einzelner. Mittels Volksbegehren sollen manchmal Nachteile bestimmter Entscheidungen auf weniger gut organisierte andere abgewälzt werden. Viertens. Plebiszite führen überdies auch zum Verzicht auf die sachorientierte und rationale Problemlösungsfindung. Die in parlamentarischen Ausschüssen mögliche differenzierte und komplexe

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich führe den Satz noch zu Ende, dann sehr gern - Problemlösung wird abgelöst durch oftmals emotionsüberlagerte und damit meist eindimensionale Entscheidungen. Bitte schön.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Marschewski, zu dieser späten Stunde möchte ich hier eigentlich keine langen Reden halten; aber mir liegt doch ein Problem auf der Zunge. Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie uns mit Ihren Unterschriftenaktionen, sei es in der Rentenpolitik, sei es in der Ausländerpolitik, nahebringen wollten, daß Volkes Wille etwas anderes ist als das, was wir hier wollten? ({0}) Sehe ich es richtig, daß Sie uns damit eigentlich zeigen wollten, daß die Teilnehmer der Unterschriftenaktion die wahre Meinung des Volkes ausdrückten? Gleichzeitig versuchen Sie, uns zu erklären, daß das Volk auf Grund der Komplexität der Materie gar nicht in der Lage ist, so eine Entscheidung zu fällen, weil die Menschen darin überhaupt nicht bewandert sind? Ist das nicht ein Widerspruch? Wie erklären Sie mir diesen Widerspruch? ({1})

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich bin für diese Frage sehr dankbar. Wir wollten durch diese Befragung der Bundesregierung aufzeigen, daß sie am Volk völlig vorbeiregiert und eine Auffassung vertritt, die von niemandem oder höchstens von einem ganz kleinen Prozentsatz in der Bevölkerung geteilt wird. Wir wollten auf keinen Fall die parlamentarische Verantwortung ausschalten. Wir wollten ein zusätzliches Element einführen. Dies leistet die Volksbefragung nicht, wohl aber die Unterschriftenaktion. Wir haben ganz bewußt keine Volksbefragung angestoßen. Das Parlament soll sich weiterhin nicht vor der Verantwortung drücken können; es soll Verantwortung tragen. Der Hauptsinn unserer Unterschriftenaktion bestand darin, eine völlig irrige Vorlage der Bundesregierung, die man am Ende vier- oder fünfmal verändert hat, dem deutschen Volk nahezubringen und das deutsche Volk zu fragen: Seid ihr damit einverstanden? Das haben wir bewirkt. Was wir getan haben, ist letzten Endes richtig gewesen. Ich schlage vor, diesen Weg in Zukunft zu gehen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In den fünf Minuten - mehr Zeit habe ich nicht - bitte ich, das, was ich sagen wollte, zu Ende sagen zu dürfen. Wir können uns über die restlichen Fragen im Innenausschuß, nachher draußen, beim ZDF-Fest oder wo auch immer unterhalten. Fünftens. Plebiszite sind oft nicht flexibel genug. Denn aktuelle Entwicklungen lassen sich im Laufe parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen. Plebiszite dagegen können diese unmittelbare Dynamik niemals entfalten. Wir sind gern bereit, erneut über Volksbegehren, auch auf Bundesebene, zu beraten und alle Vorschläge zu prüfen, bei denen sich die genannten Probleme vermeiden lassen. Übrigens, was die Gemeinsame Kommission des Parlaments anbetrifft: Da haben Sozialdemokraten in vielen Fragen, natürlich auch in Fragen der Wahlkreise, zugestimmt. Wir sind gern bereit, darüber zu reden. Die Diskussion darf allerdings nicht das Niveau der beiden PDS-Anträge haben. Wer die Mehrkosten durch Streichungen beim Bundesnachrichtendienst - selbst Herr Ströbele wird das heute nicht mehr fordern - oder, viel schlimmer, bei der Aufarbeitung von SED-Verbrechen finanzieren will, der macht eines klar: Es geht ihm in Wahrheit nicht um eine Stärkung, sondern um eine Schwächung der Demokratie. Das wird es mit uns auf keinen Fall geben! Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Ekin Deligöz.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie zu dieser späten Stunde noch das Vergnügen haben, an dieser Debatte teilzunehmen! Schreibfaulheit können wir unseren Kolleginnen und Kollegen von der PDS wahrhaftig nicht vorwerfen. ({0}) Sie sind immer dabei, wenn es darum geht, neue Anträge zu stellen. Aber ein Urheberrecht auf das Thema Demokratie haben sie nicht, ({1}) schon allein deshalb nicht, weil sich meine Partei seit 1983 um dieses Thema gekümmert hat und immer wieder daran arbeitet. Sie sind aber sicherlich ein Meister darin, den besseren Teil mancher unserer Entwürfe abzuschreiben. Immerhin geben uns ihre Vorschläge einen sehr guten Anlaß, einmal über mehr Demokratie zu sprechen. Die erste Parlamentswoche hier in Berlin und die 50-JahrFeier des Bundestages sind eine gute Gelegenheit, uns darüber auszutauschen. Wenn es um Volksbegehren, Volksentscheide und direkte Demokratie geht, denke ich sehr oft an die vielen Aktionen, die meine Partei gestartet hat, vor allem auch für Volksentscheide gegen Atomanlagen. Wir haben schon zu Zeiten dafür gestritten und sind dafür eingestanden, als es bei Ihnen noch hieß: Die Partei hat immer recht. ({2}) Sie waren damals, das ist schon eine Weile her, eine reine Atompartei - neben vielen anderen unappetitlichen Sachen, die Sie vertreten haben. Die Grünen waren es, soweit ich mich erinnern kann, die nach der Einheit gemeinsam mit den Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR und den Initiativen aus dem Westen das Thema direkte Demokratie wieder in die Debatte gebracht haben. Ich erinnere an den Entwurf der ersten gesamtdeutschen Bürgerinitiative, das Verfassungskuratorium. ({3}) Über Ihren konkreten Gesetzesvorschlag bin ich ein wenig enttäuscht, weil ich den fachlichen Zustand für dürftig halte. So ganz scheint direkte Demokratie doch nicht Ihr Thema zu sein. Seit über zehn Jahren diskutieren wir darüber und wissen mittlerweile, daß ein einfaches Bundesgesetz für diese Materie in Anlehnung an Art. 20 des Grundgesetzes verfassungsmäßig nicht in Frage kommt. Die grundlegenden Verfahrensschritte, die Rechte der Initiativen und das Zustandekommen der Gesetze müssen im Grundgesetz selbst geregelt werden. Das geht nicht ohne eine Grundgesetzänderung, sprich: ohne eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments. Von daher können wir leider mit Ihrem Entwurf nicht weiterarbeiten und ihn nicht einmal als Diskussionsgrundlage nehmen. Er ist für uns unbrauchbar, da er Dinge durcheinanderwirft und lückenhaft ist. Es fehlen unter anderem auch praktikable Regelungen über die rechtliche Stellung der Initiativen, über die Bekanntgabe der Entwürfe und auch ein Ansatz zur Lösung der schwierigen Aufgabe, wie man mit Mißbrauchsmöglichkeiten von direkter Demokratie umgeht, die ja vorkommen können. Ich erinnere nur an Figuren wie einen gewissen Herrn Frey. Wir müssen diesen Risiken wirksam begegnen, ohne die direkte Demokratie gleich mit auszuhebeln. Dieser Aufgabe dürfen auch Sie sich nicht entziehen. Nein, meine Damen und Herren, wir können die PDS-Vorlage leider nicht zur Grundlage unserer Reformdiskussion machen. Nichtsdestotrotz gebe ich Ihnen in einer Sache recht: Die Zeit drängt. Wir haben die Einführung von Elementen direkter Demokratie wie Volksbegehren und Volksentscheide in unseren Koalitionsvertrag aufgenommen und möchten auch bei dieser Thematik endlich einmal vorankommen. Dazu brauchen wir aber, wie gesagt, eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und auch im Bundesrat. Hier ergeht die Aufforderung an Sie von der Union, sich endlich einmal zu bewegen, Ihre Blockadehaltung aufzugeben, einen Schritt auf uns zu zu tun und mit uns über Konzepte nachzudenken. Ich war sehr überrascht, daß Sie, Herr Marschewski, das hier schon so wunderbar angedeutet hatten. Ich fände es aber sehr gut, wenn Sie tatsächlich diese Blockadehaltung aufgeben würden. Ich fände es natürlich auch sehr schön, Sie nachher zum ZDF-Fest zu begleiten, aber noch besser fände ich es, mich mit Ihnen wirklich fachlich über direkte Demokratie zu unterhalten. Es genügt tatsächlich nicht - das war ein Widerspruch, den Sie uns hier präsentiert haben -, Unterschriftenlisten auszulegen und diese dann als Volkes Stimme hier einzubringen. Das Volk weiß genau, was es will, und kann es selber sagen. Aber dazu brauchen wir geregelte Verfahren. Dazu brauchen wir Volksbegehren und Volksinitiative. Aber wir brauchen keine Politiker, die glauben, sie könnten mit 100 Unterschriften hier die Volksmeinung präsentieren. ({4}) Lassen Sie mich zu dem zweiten Gesetzentwurf, dem Entwurf zur Reform des Wahlrechts nur soviel sagen, daß auch wir sehr viel davon in unserem Programm aufgenommen haben, zum Beispiel die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre und das kommunale Wahlrecht für ausländische Bürgerinnen und Bürger. Leider brauchen wir auch hier in sehr vielen Fällen eine Grundgesetzänderung. Wir müssen auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit einbeziehen; das dürfen wir nicht einfach links liegenlassen. Ich denke, sehr vieles von dem, was Sie aufgenommen haben, sind gute Ideen, die aber leider nicht realisierbar und schon gar nicht von den Koalitionsfraktionen alleine umzusetzen sind. In diesem Sinne kann ich zum Schluß - meine Zeit ist leider abgelaufen - nur an die Fraktionen im Bundestag appellieren, sich mit uns gemeinsam an einen Tisch zu begeben und tatsächlich über die Reformmaßnahmen zu debattieren. Danke schön. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Rainer Funke, Sie haben das Wort für die F.D.P.-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gesetzentwürfe der PDS, die hier so kritisiert werden, beinhalten grundlegende Fragen unseres Wahlrechts und Fragen hinsichtlich der Möglichkeiten für mehr direkte Demokratie. Ob es allerdings weise ist, solche grundlegenden Fragen zu später Stunde und in einer halbstündigen Debatte abzuhandeln, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube, es geht Ihnen genauso. ({0}) - Nein, das ist eine nicht sehr weise Entscheidung unserer Geschäftsführer. Ich glaube, daß solche wichtigen Fragen in einem größeren Kreis diskutiert werden müssen. Mir bleibt jetzt die Hoffnung, daß zumindest in den Ausschußberatungen mehr Zeit für eine angemessene Debatte verbleibt. In der Tat ist unser Wahlrecht verbesserungsfähig und -bedürftig. Die F.D.P. hat sich stets für ein Präferenzstimmrecht in der Form des Kumulierens und Panaschierens eingesetzt, um auf diese Weise dem Wähler zu ermöglichen, die Reihenfolge der Kandidatinnen und Kandidaten beeinflussen zu können. Das wird auch in einzelnen Ländern praktiziert. In Hessen steht im Koalitionsvertrag, daß dieses Verfahren wiederaufgenommen werden soll. Es kann auch keinem Zweifel unterliegen, daß Überhangmandate nur die beiden großen Volksparteien bevorzugen und demgemäß die kleineren Parteien benachteiligen. Über die Fünfprozentklausel kann, zumindest bei der Europawahl, diskutiert werden. Schließlich ist das Argument, daß die Fünfprozentklausel dazu beitragen soll, die Regierungsfähigkeit sicherzustellen, zumindest für das Europäi sche Parlament nicht durchgreifend, denn hier sind die Kontrollinstanzen andere. Ob Jugendliche heute tatsächlich reifer sind, wie Sie das formuliert haben, und schon mit 16 Jahren wählen sollten, muß sicherlich auch an Hand der bislang gemachten Erfahrungen in den Ländern und Kommunen diskutiert werden. Bereits in der letzten Legislaturperiode, am 29. Mai 1998, hat sich der Bundestag ausführlich über mit weiteren Möglichkeiten der direkten Demokratie auseinandergesetzt. Die vorgeschlagenen Institute Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid sind keineswegs neu, und sie sind auch dem deutschen Staatsrecht - siehe Weimarer Republik - nicht fremd. Ob sie im einzelnen zweckmäßig sind, muß miteinander diskutiert werden. In der Kommission zur Verfassungsreform - Sie haben es erwähnt, Herr Marschewski; wir haben dort gemeinsam gesessen - haben diese Institute keine hinreichende Mehrheit gefunden. Zum Teil waren es knappe Verhältnisse, es wurde aber keine Mehrheit gefunden. Man muß dennoch erneut darüber diskutieren können; schließlich wandeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse. Meine Fraktion würde zumindest eine Volksinitiative und deren nähere rechtliche Ausgestaltung unterstützen. Damit könnte der Bürger mehr Einfluß auf die Behandlung von wichtigen Themen im Bundestag gewinnen. Mein Kollege Dr. Stadler hat mit Unterstützung der F.D.P.-Fraktion in der letzten Legislaturperiode auch die Möglichkeit der Einführung eines Referendums, bei dem man mit Ja oder mit Nein stimmen kann - also ein relativ einfaches Verfahren -, angeregt. Bei dieser Form der Volksabstimmung würde das Parlament das Recht erhalten, der Bevölkerung grundlegende Fragen von entscheidender politischer Bedeutung zur Entscheidung vorzulegen. Auch hierzu muß im Ausschuß eine intensive Diskussion erfolgen. Wir sind dazu bereit. Wir sollten diese Fragen auch mit den Ländern und auf der Grundlage der von ihnen gemachten Erfahrungen diskutieren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Peter Enders, SPD-Fraktion.

Peter Enders (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002647, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so, daß die SPD schon seit Jahren - da sind wir nicht weit von den Grünen entfernt - die Einführung von Volksentscheiden für wichtige Themen fordert; ich erinnere auch an die Gemeinsame Kommission. 1993 haben wir das noch einmal zur Abstimmung gestellt und haben dabei verloren. Im Wahlprogramm der SPD für diese Bundestagswahl war es wieder aufgeführt. Es steht auch in der Koalitionsvereinbarung. Wir sind im Prinzip dafür, weil das Bedürfnis nach Teilhabe an der Gesetzgebung in der Bevölkerung stark gestiegen ist. Ich beantworte die Frage danach, wie diese Teilhabe ausgestaltet werden soll, anders als Herr Marschewski, weil für mich auch eine Rolle spielt, was in den 20er Jahren gewesen ist. Ich meine schon, daß die in diesem Zusammenhang zu stellende Frage nach dem nötigen Sachverstand der Bevölkerung heute anders zu beantworten ist: Der Sachverstand ist gegeben. Von daher gehe ich sehr offen und sehr positiv an das Thema heran. Ich persönlich habe noch einen anderen Grund, dafür zu sein: Es gibt ja das Phänomen, daß eigentlich kein Wähler immer hundertprozentig mit dem Programm der von ihm gewählten Partei einverstanden ist dies ist im übrigen auch bei keinem Mitglied dieser Partei der Fall - und es insoweit zu Differenzierungen kommt. Jetzt kommen die Einwände. Erster Einwand: Nach unserer Meinung sollte die Einführung plebiszitärer Elemente als Ergänzung der repräsentativen Demokratie verstanden werden. Volksentscheide sollen nicht die Möglichkeit zur Aushöhlung des parlamentarischen Systems eröffnen. Den Eindruck macht jedoch dieser Entwurf. Wenn man den PDS-Antrag liest, merkt man sofort, daß die Verfasser nicht davon ausgehen, in der nächsten Zeit - zumindest in der Bundespolitik - irgendwie Mehrheiten zu finden. Da wir alle wissen, daß Volksbegehren und Volksentscheide im Normalfall nicht ohne Parteien laufen, ist offenkundig, daß die PDS mit diesen Gesetzentwürfen in der Tat zusätzlichen Einfluß erreichen will. Nun kann man darüber streiten, ob der Gesetzentwurf und die Begründung voller handwerklicher Mängel ist oder ob dies Bösartigkeiten sind. Ich will das an einigen Beispielen erläutern. Erstens. In der Begründung ist von mangelnder Repräsentanz der Bürgerinnen und Bürger durch ihre Abgeordneten die Rede. Ich finde, diese Aussage ist eine bodenlose Frechheit. Da kann ich mich in NordrheinWestfalen genauso wie in den neuen Bundesländern umschauen: Dies stimmt so einfach nicht. Ich meine, da haben Sie eine sehr schlechte Beobachtung gemacht. Ein zweiter Punkt. Nach dem Entwurf der PDS können Volksinitiativen zu jedem möglichen Thema gestartet werden - sei es nun über Steuertarife, Beamtenbesoldung oder sogar die Ratifizierung von völkerrechtlichen Verträgen, wenn es also um Doppelbesteuerungsabkommen oder dergleichen geht. Sie hätten wenigstens fordern sollen, zu haushaltswirksamen Gesetzen einen Finanzierungsvorschlag zu erlangen; denn erfahrungsgemäß ist es so, daß ausgabewirksame Gesetze eher eine Zustimmung als eine Ablehnung finden. Wozu führt das? Letztendlich könnte eine Regierung ihren Haushalt niemals konkret durchziehen. Die Verantwortlichkeit würde verlorengehen. Zumindest in diesem Punkt sind wir uns in der Ablehnung einig. Aus diesem Grund muß man sehr genau hinschauen, was man regeln kann, welche Inhalte überhaupt zur Abstimmung gestellt werden können. ({0}) - Sie können eine Frage stellen. Drittens. Was mir an diesem Gesetzentwurf der PDS am meisten mißfällt, sind die fehlenden Regelungen zu Quoren. Höhere Quoren verhindern, daß sich Sonderinteressen von Minderheiten oder nur regional begrenzte Interessen durchsetzen können. Deshalb ist es völlig inakzeptabel, wenn bei einem Volksbegehren eine Million Wahlberechtigte ausreichend sind - ich rede jetzt nicht von verfassungsändernden Initiativen -, wenn also beispielsweise die Zustimmung aus dem Bereich der PDSWähler vollkommen ausreichen würde. Für den Fall eines anschließenden Volksentscheides zu einem nicht verfassungsändernden Gesetz ist ein Quorum nicht einmal erwähnt. Das heißt, daß die Mehrheit bei einer noch so geringen Beteiligung ausreichen würde. Wo bleibt da die demokratische Entscheidung im Sinne einer Mehrheit der Bevölkerung? Ich erinnere mich im übrigen an NordrheinWestfalen. Dort gab es Mitte der 70er Jahre kommunale Neuordnungen. Wenn es in Wattenscheid und anderen Städten ausgereicht hätte, die Mehrheit aus diesem Bereich zu erlangen, während sich die anderen zurücklehnten, hätten wir alle Entscheidungen des Landtags über den Haufen werfen können. ({1}) - Gerade im Ruhrgebiet gab es ähnliche Dinge. Aber, Herr Kollege Marschewski, Sie wären weder Fürst noch König geworden. ({2}) Ich möche jetzt das Thema Geld ansprechen. Selbstverständlich sollen die Verbesserungen und Ergänzungen unserer Demokratie nicht an finanziellen Mitteln scheitern. Trotzdem muß ich hier auf einige Punkte hinweisen. Die Zahlung einer pauschalen Kostenvergütung an den Trägerverein der Volksinitiative soll zwar insbesondere für die Abgeltung der finanziellen Aufwendungen zur Information der Bürgerinnen und Bürger geleistet werden, jedoch enthält der Gesetzentwurf keine Pflicht zum Nachweis der Informierung der Bevölkerung über das Thema, über das informiert werden soll. Das heißt, es soll ohne Nachweis gezahlt werden. Das ist eigentlich unglaublich, und ich frage mich: Wollen Sie die anderen Parteien über den Tisch ziehen? Zu dem Thema, wie das Geld aufzubringen ist, hat bereits Herr Marschweski etwas gesagt. Es ist unglaublich: Einsparungen bei der Gauck-Behörde und dem Verfassungsschutz vorzunehmen, um dies zu finanzieren, könnte Ihnen so passen. Ich habe in diesem Haus bereits zum Thema Parteienfinanzierung gesprochen. Bei der damaligen Diskussion um die Erhöhung der finanziellen Zuwendungen für die Parteien - sie war in der Öffentlichkeit nicht unumstritten - haben Sie sich von der PDS vornehm zurückgehalten, während die demokratischen Parteien des Hauses diese Entscheidung mitgetragen haben. Ich komme zum Schluß und möchte zusammenfassen. Alles in allem handelt es sich bei den beiden Gesetzentwürfen um typische PDS-Entwürfe: Sie werden dem Parlament aus rein populistischen Gründen zur Entscheidung vorgelegt. Sie wollen sich wieder einmal medien- und publikumswirksam als Hüter des Volkes aufspielen. Da Sie sich selbst als Nachfolgepartei der SED aufspielen, erinnere ich Sie an die Zustände, die es dort früher gegeben hat. Im Auskundschaften des Volkswillens waren einige von Ihnen wirklich Weltmeister; aber die Zeiten haben sich geändert. ({3}) - Sie können Fragen stellen; Sie können sich bei der Präsidentin melden. Ich kann nur eines sagen: Eine so komplizierte Frage kann man nur konsensual lösen. ({4}) - Bei Herrn Gysi oder wem?

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Enders, ich muß Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Peter Enders (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002647, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe noch 10 Sekunden. Ich darf zum Schluß noch einmal sagen: Es gibt nur eine Chance in dieser Angelegenheit, weil es in der Tat eine Verfassungsänderung erfordert: Dies muß im Konsens der Parteien hier im Haus durchgeführt werden. Es muß gemeinsame Entwürfe geben, nicht aber solche Alleinritte, wie sie uns vorgelegt wurden. Aber wir werden in den Ausschußberatungen noch darüber zu sprechen haben. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSU.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer Plebiszite fordert und sich für sie stark macht, erweckt den Schein, er träte für mehr Demokratie - Sie haben das auch gesagt -, für die fortschrittlichere Demokratie ein. Es ist sicherlich auch nicht falsch, das Ziel, sich in diesem Schein zu sonnen, als ein parteitaktisches Motiv zu bezeichnen, wenn man für Plebiszite öffentlich eintritt. Ich bin allerdings davon überzeugt - wir führen heute abend darüber eine vernünftige Diskussion, wenn sie auch ein bißchen kurz und ein bißchen spät ist -, daß dieser Schein trügt. Er ist übrigens auch schon demokratiegeschichtlich widerlegt. Die plebiszitäre Demokratie ist nicht die spätere, die fortentwickelte. Es gab immer beide Elemente. Es gab zunächst auch plebiszitäre Elemente, die dann durch die repräsentative Demokratie überholt wurden. Aber wenn wir wirklich - Herr Enders, Sie haben es ja angesprochen - einen Konsens erzielen wollen, wenn wir jedenfalls über diese Frage vernünftig diskutieren wollen, dann müssen diejenigen, die plebiszitäre Elemente befürworten, die Frage wirklich beantworten, wie sie es schaffen wollen, daß unter den heutigen Bedingungen, also unter den Bedingungen einer hochkomplexen, international verflochtenen Gesellschaft von 80 Millionen Menschen ein vernünftiger, rationaler öffentlicher Diskurs, eine vernünftige politische Entscheidungsfindung möglich sein soll. Diese Frage müssen Sie ernsthaft beantworten. Sie dürfen auch nicht gedanklich etwas konstruieren, sondern müssen es mit der Realität konfrontieren. Daran hat es auch in der heutigen Debatte, wie ich meine, gemangelt. Unter den Bedingungen, die ich eben genannt habe, also denen der komplexen, international verflochtenen Gesellschaft, wären plebiszitäre Elemente ein demokratischer Rückschritt unter den Gesichtspunkten der Rationalität der langfristigen Orientierung der politischen Entscheidungsfindung. Damit sage ich natürlich nicht, daß wir die perfekte Demokratie hätten. Gerade diejenigen, die darauf verweisen, daß Plebiszite auf große Sympathie in der Bevölkerung stoßen, müssen ehrlich zugeben, daß diese Sympathie bei vielen eine Kritik an unserer gegenwärtigen Parlamentspraxis ausdrückt. Das ist doch völlig klar. Aber die Konsequenz kann eigentlich nicht systematischer Rückschritt sein, sondern die, daß wir unsere repräsentative Demokratie verbessern müssen. Diese Konsequenz müssen wir daraus ziehen. ({0}) Darum möchte ich auf die Kritikpunkte, die auch der Kollege Marschewski hier vorgetragen hat, noch einmal eingehen und an Sie appellieren, sie ernst zu nehmen, wenn wir einen vernünftigen Dialog führen und nicht populäre Forderungen in die Öffentlichkeit werfen wollen. Sie müssen die Frage nach der Gefahr der Entrationalisierung der Politik beantworten. Wie wollen Sie das rationalitätsstiftende Verfahren der parlamentarischen Beratung - mit Expertenanhörung, mit dem Versuch der Folgenabschätzung, mit Auseinandersetzung, mit Kompromißsuche - durch eine Kommunikation zwischen 80 Millionen Menschen ersetzen? Ich glaube, daß das eine Illusion ist. Man kann das zwar gedanklich konstruieren, aber nicht in der Wirklichkeit praktizieren. Jedenfalls müssen Sie sagen, wie Sie es machen wollen, wenn Sie es ernst meinen, damit das Plebiszit nicht zum Instrument der großen Vereinfacher wird, die nur ja oder nein kennen. Sie müssen sich mit der grundlegenden Frage beschäftigen - Herr Marschewski hat es auch erPeter Enders wähnt -, ob Sie die Anonymisierung von Verantwortung wollen, die mit Plebisziten einhergeht? Denn wenn alle entscheiden, entscheidet niemand mehr. Wer kritisiert eigentlich den Volksentscheider? Noch wichtiger: Wer korrigiert den Volksentscheider? ({1}) - Das Volk natürlich, in einem neuen Volksentscheid; wer soll das auch sonst tun. Aber in welchen Zeitläuften soll das geschehen? In fünf, zehn, 15 Jahren? Sie betonieren im Grunde durch Volksentscheide die politische Entwicklung in einer Zeit, in der sich die Wirklichkeit rasend schnell verändert.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Röttgen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, wie paßt es dann in Ihre Kritik - es ist ja auch eine Kritik der Entwürfe, die wir vorgestellt haben -, daß auch in der parlamentarischen Demokratie selbst wichtige Entscheidungen von wenigen getroffen und nur von wenigen durchschaut werden? Es sind allenfalls jene, die in einem Ausschuß sitzen und tatsächlich an Anhörungen teilnehmen; das sind meistens weniger als 10 Prozent. Hingegen verlassen sich die anderen 90 Prozent in der Regel auf die Entscheidungen oder den Rat der Kollegen und heben dann die Hand oder werfen die Karte ein. Es treffen also nicht die 660 Volksvertreter eine inhaltliche Entscheidung nach guter Vorberatung, Anhörung usw., sondern eine Minderheit trifft die Entscheidung und die anderen folgen ihr nur. Ähnlich wäre es bei einem Plebiszit doch auch.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das bestätigt nur meine Grundthese, daß wir es in vielen Fällen mit Sachverständigenthemen zu tun haben, bei denen selbst unter denjenigen, die Politik als Beruf betreiben, also von morgens bis abends dafür bezahlt werden - das können wir von einem normalen Bürger nicht erwarten; es wäre illusionär, dies zu erwarten -, wiederum die Experten gefragt sind. Dies bestätigt im Grunde meine These, daß es illusionär ist, solche Fragen etwa einem 80-Millionen-Volk vorzulegen. Nun könnte man einwenden, es gehe ja nicht um das Urheberrecht, das plebiszitär entschieden werden soll, sondern es gehe um die großen Fragen, die in einer Volksabstimmung entschieden werden sollen. Dies muß aber nicht sein; es können auch, wie Herr Marschewski gesagt hat, die lautstark vertretenen partiellen Interessen sein. Aber in der Regel sind es sicher die großen Fragen die in Volksabstimmungen entschieden werden. Bei diesen Fragen handelt es sich nicht um Expertenthemen, sondern um Fragen, die in einer breiten Diskussion im Parlament behandelt werden. Ich sehe mich durch Ihre Kritik also eher bestätigt, als in meiner Auffassung erschüttert. Ich will noch einen Punkt, den ich eben angesprochen habe, vertiefen, indem ich auf die Entwicklungslinien, die mit dieser Fragestellung verbunden sind, hinweise. Dabei geht es auch um die Veränderung der ideellen Grundlage der Demokratie bei Plebisziten. Jeder Abgeordnete ist dem Allgemeinwohl verpflichtet. Es wäre neben der kommunalen auch eine bundespolitische Realität, daß mit Plebisziten partielle Interessen vertreten werden. Sie werden häufig von lautstarken Minderheiten artikuliert. Man braucht Geld, um so etwas erfolgreich zu machen. Darin liegt eine große Gefahr. Ich glaube, daß der Interessenlobbyismus in unserem Land stark ist und daß die Allgemeinwohlorientierung eher unterstützt werden muß. Plebiszite fördern eher die Vertretung partieller Interessen und drängen das Allgemeinwohl zurück. Um es in dieser kleinen Runde am späten Abend noch einmal zu sagen: Ich bin sehr dafür, daß wir vernünftig und nicht populistisch über diese Frage reden. Wir müssen aber in diesem Zusammenhang auch über die ernsthaften Schwierigkeiten diskutieren, die mit Plebisziten verbunden sind. Ansonsten ist diese Diskussion nichts anderes als eine PR-Kampagne, was diejenigen, die heute hier anwesend sind - so habe ich die Debattenbeiträge verstanden -, nicht wollen. Also muß schon ein bißchen mehr Substanz geliefert werden. Unsere Fraktion ist von der repräsentativen Demokratie, die verbesserungsbedürftig ist, sehr überzeugt. Wir verschließen uns der Diskussion nicht, weisen jedoch auf fundamentale Gefahren hin, die durch die Einführung von plebiszitären Elementen entstehen können. Die Diskussion darüber wollen wir aber gerne führen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf Drucksachen 14/1126 und 14/1129 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich möchte mich ausdrücklich bei all denjenigen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die bis zur letzten Minute ausgeharrt haben. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. September 1999, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.