Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich
bitte Sie, sich zu erheben.
Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und
Bürger der Bundesrepublik Deutschland trauern in die-
sen Wochen mit der türkischen Nation um die Opfer des
katastrophalen Erdbebens, das in den frühen Morgen-
stunden des 17. August weite Teile der Westtürkei zer-
stört hat. Heute scheint sicher zu sein, daß das Erdbeben
mehr als 20 000 Menschen das Leben gekostet hat.
Hunderttausende, die diese Katastrophe überlebt haben,
sind weiterhin ohne Obdach. Unvorstellbar ist das Leid,
das die Menschen im Erdbebengebiet erfahren haben.
Als Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität mit ih-
nen und den Angehörigen, die hier in Deutschland nach
langem Bangen um ihre Familien in der Türkei trauern,
rufen wir zu weiteren Spenden auf.
Spontan haben bereits in der ersten Zeit nach dem
verheerenden Beben zahlreiche private Initiativen mit
Geld- und Sachspenden geholfen. Auch im Katastro-
phengebiet selbst wurde aktive Hilfe geleistet. Den
deutschen Hilfstrupps, die Seite an Seite mit Hilfs-
trupps aus anderen Ländern noch nach Tagen Ver-
schüttete lebend aus den Trümmern bargen, gilt unser
Dank.
Während die Menschen in der Türkei noch dabei
sind, die tragischen Ausmaße und Konsequenzen des
Geschehens zu begreifen, erreichten uns vor zwei Tagen
aus dem Nachbarland Griechenland neue Unglücks-
nachrichten. Auch dort hat ein Erdbeben viele Tote ge-
fordert und erhebliche Schäden angerichtet. Unsere auf-
richtige Anteilnahme in diesen schwierigen Tagen gilt
auch der griechischen Nation.
Wir bitten alle Bürgerinnen und Bürger, in ihrem
Mitgefühl und ihrer Hilfsbereitschaft nicht nachzulas-
sen; denn unsere türkischen und griechischen Nachbarn
hier in Deutschland werden noch sehr viel Trost und die
Menschen in der Westtürkei darüber hinaus noch sehr
viel tatkräftige Hilfe benötigen, um mit den Folgen die-
ser Naturkatastrophen fertigzuwerden. - Ich danke Ih-
nen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8a bis 8c sowie
den Zusatzpunkt 3 auf:
8a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Familienförderung
- Drucksache 14/1513 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOBT
b) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der
ökologischen Steuerreform
- Drucksache 14/1524 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({1})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOBT
c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von
steuerlichen Vorschriften ({2})
- Drucksache 14/1514 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({3})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOBT
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Hermann Otto Solms, Hildeberecht Braun
({4}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Ordnungspolitisch vernünftige Steuergesetze
verabschieden
- Drucksache 14/1546 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({5})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Unser Land braucht Aufbruch und Erneuerung, braucht eine Politik für Arbeit,
Innovation und Gerechtigkeit,
({0})
braucht Mut zur Wahrheit und Mut zum Handeln.
({1})
Mit dem Zukunftsprogramm 2000, über dessen steuerpolitischen Teil wir heute debattieren, stellen sich Bundesregierung und die sie tragende Koalition von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen dieser Herausforderung. Handeln
und Mut zur Wahrheit sind um so notwendiger,
({2})
als die letzte Regierung, die Regierung Kohl, nicht nur
einen Schuldenberg in Höhe von 1 450 Milliarden DM
hinterlassen hat,
({3})
sondern auch ein verwüstetes Steuerrecht,
({4})
das soziale Schieflagen produziert hat
({5})
und darüber hinaus einen Mangel an Dynamik in unserer
Wirtschaft. Diese Lähmung muß endlich durchbrochen
werden.
({6})
Mit dem Antritt der neuen Bundesregierung im
Herbst 1998 sind die Weichen zu mehr Gerechtigkeit, zu
mehr Nüchternheit und zu mehr Wahrheit in der deutschen Politik gestellt worden.
({7})
Die Schieflage bei der sozialen Belastung im Steuerrecht
war nicht mehr zu ertragen.
({8})
Sie haben das nicht mehr wahrhaben wollen. Aber Sie
haben diese Debatten doch selbst geführt.
({9})
- Herr Glos, es ist schön, daß Sie so fröhlich sind.
({10})
Aber Sie haben offenbar die Hinterlassenschaft der Regierung Kohl/Waigel nicht wahrgenommen.
({11})
Wir befanden uns in einer Situation, in der das Prinzip
„Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“ geradezu auf
den Kopf gestellt wurde, weil es im damaligen Steuerrecht eine Fülle von Schlupflöchern gab, die es denjenigen, die ein hohes Einkommen hatten, ermöglichten,
sich vor dem Finanzamt arm zu rechnen.
({12})
Das haben wir mit dem Steuerentlastungsgesetz beseitigt. Wir sind zu dem Prinzip „Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit“ zurückgekehrt.
({13})
Es kommt Schritt für Schritt zu einer Entlastung in
breiten Kreisen der Bevölkerung in diesem Lande. Eine
von uns durchgeführte Entlastung der Familien mit Kindern ist bereits in diesem Jahr in Kraft getreten: ein zusätzliches Kindergeld in Höhe von 30 DM für jedes erste
und zweite Kind. Wir haben das Kindergeld bereits von
220 auf 250 DM im Monat angehoben. Mit der heutigen
Vorlage werden wir eine weitere Anhebung des Kindergeldes auf 270 DM durchsetzen.
({14})
Sie tun so, als wäre das nichts. Denn Sie haben vergessen, was es für eine Familie bedeutet, ob 250 oder 270
DM in der Kasse sind. Das wissen Sie gar nicht mehr!
({15})
Präsident Wolfgang Thierse
Wir werden in den Jahren 2000 und 2002 - das ist bereits geltendes Recht - für alle Bürgerinnen und Bürger
mit einem normalen Einkommen - auch für die ohne
Kinder - eine spürbare Entlastung durchführen. Wir
werden auch endlich wieder zu der Situation kommen auch das ist nicht geringzuschätzen -, daß Menschen mit
einem hohen Einkommen einen angemessenen Beitrag
zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben leisten.
({16})
Wir werden mit der zweiten Stufe der ökologischen
Steuerreform die Zukunft auch in anderer Hinsicht sichern.
({17})
Wir werden sicherstellen, daß der Energieverbrauch
nicht unbegrenzt steigt, daß wir faire Bedingungen bzw.
Kostenrelationen in bezug auf den Faktor Arbeit und den
Faktor Energieverbrauch haben. Unerträglich war ja, wie
es Ihre Regierung damals hingenommen hat, daß der
Faktor Arbeit durch eine unzumutbare Erhöhung der Sozialabgaben, der Lohnnebenkosten, immer teurer wurde.
({18})
Sie haben in Feiertagsreden immer das Gegenteil von
dem behauptet, was Sie in Wirklichkeit getan haben.
Das war bei der Familienpolitik so, und bei der Wirtschaftspolitik war es ganz ähnlich.
Wir haben zu beklagen - deswegen ist es eine besondere Dreistigkeit, daß die F.D.P. heute einen Antrag einbringt, in dem sie an die ordnungspolitische Orientierung im Steuerrecht erinnert -,
({19})
daß bei Ihnen die ökonomische Wirkung von Steuern offenbar überhaupt keine Rolle gespielt hat. Diesen Wust
von Sonderabschreibungen und Verlustzuweisungen, der
geradezu eine Umkehrung des gesunden marktwirtschaftlichen Prinzips, daß sich Investitionen an Gewinnerwartungen und nicht an Verlustzuweisungen zu orientieren haben, gebracht hat,
({20})
haben Sie, Herr Gerhardt, doch für Ihre Klientel herbeigeführt.
({21})
Es hat Sie auch gar nicht gestört, daß die Schiffe, die irgendwo in Korea gebaut wurden - ({22})
- Herr Kollege Gerhardt, es scheint Sie irgendwie zu
treffen.
Herr Kollege Gerhardt, Sie haben Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu
stellen; dann brauchen Sie sich nicht so anzustrengen.
({0})
- Dann melden Sie sich bitte.
({1})
Kollege Spiller, gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Kollegen Solms? Er hatte sich ordnungsgemäß erhoben und seine Zwischenfrage angemeldet.
({2})
Ich will die Hierarchie in
der F.D.P. nicht durcheinanderbringen; das ist nicht
meine Sache.
({0})
Herr Kollege Solms.
Herr Kollege
Spiller, könnten Sie mir eine einzige Ausnahmeregelung
im Steuerrecht nennen, der die SPD-Fraktion nicht zugestimmt hat? Insbesondere im Hinblick auf den Schiffbau
({0})
kann ich mich gut daran erinnern, wie Ihr Kollege Kröning um jeden Millimeter Schiffbauförderung gekämpft
hat. Das will ich gar nicht kritisieren. Ich will nur sagen,
daß es die gemeinsame Verantwortung von Ihnen und
uns war, denn spätestens im Bundesrat haben Sie jeweils
zustimmen müssen.
Herr Kollege Solms, das,
was die SPD-Fraktion in der vorigen Wahlperiode gemacht hat, war, vernünftige Übergangsregelungen zu
verlangen.
({0})
Das ist auch zu rechtfertigen. Übergangsregelungen ja,
aber nicht auf Dauer, wie Sie es gemacht haben, Herr
Kollege Solms.
({1})
Sie haben diese ganzen Vergünstigungen doch nicht
gemacht, weil Sie damit eine wirtschaftspolitische Konzeption verfolgt haben, sondern nur weil Sie in völliger
Orientierungslosigkeit eine Klientel bedienen wollten.
Herr Kollege Solms, besonders schön finde ich, daß
Sie sich zu der Behandlung von Lebensversicherungen
äußern; Sie haben das neulich auch gegenüber der Presse gemacht. Ich darf einmal an folgendes erinnern: Ihre
damalige Koalition hat in den Petersberger Beschlüssen
vorgeschlagen, daß in die Bedingungen bestehender Lebensversicherungsverträge eingegriffen wird.
({2})
In dem Gesetzentwurf, den Sie damals in den Deutschen
Bundestag eingebracht haben, wollten Sie Kapitallebensversicherungen besteuern, und zwar alle - egal,
wann die Verträge abgeschlossen worden sind.
({3})
Das war Ihre Position.
({4})
- Unsere Position war immer - und sie ist überhaupt
nicht verändert -: Wir wollen eine faire und, Herr Kollege Solms, ordnungspolitisch neutrale Behandlung von
unterschiedlichen Anlageformen und von unterschiedlichen Arten der Vorsorge, greifen aber nicht in bestehende Verträge ein.
({5})
Für die Öffentlichkeit muß ich noch einmal betonen:
Niemand, der heute bereits eine Kapitallebensversicherung hat, wird die Sorge haben müssen, daß die Bedingungen dafür im nachhinein staatlicherseits verschlechtert werden.
({6})
Das ist ganz anders als das, was Sie damals gemacht haben. Jetzt plustern Sie sich auf. Das ist unehrlich, Herr
Solms.
({7})
Ich weiß nicht, ob sich vorhin noch jemand zu einer
Zwischenfrage gemeldet hatte.
Es ist ungewöhnlich,
daß der Redner zu einer Zwischenfrage auffordert, aber
sie war vorhin avisiert. Herr Kollege Gerhardt, wenn Sie
noch wollen, können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.
Vielen Dank, Herr
Präsident. Es geht etwas gemischt zu, aber das ist parlamentarisch durchaus nicht ungewöhnlich.
Herr Kollege Spiller, ich möchte Ihnen die Frage
stellen - wobei es durchaus unterschiedliche Beweggründe gibt, über Ausnahmebestimmungen so oder so zu
rechten -, weshalb Ihre Partei in der letzten Legislaturperiode die gesamte Steuerreform, die der Deutsche
Bundestag mit der Mehrheit von CDU/CSU und F.D.P.
beschlossen hatte und die unter Aufhebung von Ausnahmebestimmungen eine deutliche Steuersenkung in
Deutschland bedeutet hätte, zwei Jahre lang blockiert
hat, ohne sich auf einen ernsthaften Dialog einzulassen.
({0})
Herr Kollege Gerhardt, das
will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: weil die Re-
form, die Sie vorgeschlagen haben, absolut unseriös
war.
[Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Klaus
Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Mehrwertsteuer!)
Denn Sie haben Mindereinnahmen von Bund, Ländern
und Gemeinden in Höhe von 45 Milliarden DM pro Jahr
angekündigt. Dann gab es aber noch eine Fußnote, in der
stand, daß das vielleicht noch durch eine Anhebung indirekter Steuern geregelt werden könnte. Gemeint war die
Mehrwertsteuer. Als die arme Frau Nolte in einem Anflug von Ehrlichkeit
({0})
darauf hingewiesen hat, ist die gesamte Union über sie
hergefallen, weil die Union und auch die F.D.P. meinten,
es schicke sich nicht, den Leuten die Wahrheit zu sagen.
({1})
Herr Kollege Spiller,
gestatten Sie noch eine Nachfrage des Kollegen Gerhardt?
Sehr gerne.
Darf ich Sie, Herr
Kollege Spiller, dann fragen, weshalb Ihr Fraktionsvorsitzender in dieser Sommerpause sogar noch eine weitergehende Vorstellung der F.D.P. als Weg zu mehr
Gerechtigkeit im Steuerwesen bezeichnet hat?
Mir ist dabei bloß aufgefallen, Herr Kollege Gerhardt, daß die F.D.P. gar nicht
weiß, was sie will. Sie haben sich in der vorigen Wahlperiode mit Ihrem damaligen Koalitionspartner für die
Petersberger Beschlüsse eingesetzt. Die hatten mit dem
Modell, das Sie neuerdings vertreten, gar nichts zu tun.
Daher ist es natürlich sehr spannend zu sehen, wie bei
Ihnen die Debatten laufen.
Ein Punkt gilt für alle hier im Hause gemeinsam: Die
Debatte über Steuerpolitik wird mit dem Abschluß dieser Wahlperiode nicht zu Ende sein.
({0})
Wir werden auch in der neuen Wahlperiode darüber
nachzudenken haben, wie das Steuersystem vereinfacht
werden kann. Ich sage Ihnen allerdings auch: Das Modell, das Ihnen vorschwebt, überzeugt mich überhaupt
nicht.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei einem
so anspruchsvollen Programm sind auch schmerzhafte
Entscheidungen zu treffen. Es geht um die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, um das Ausbrechen aus
der Schuldenfalle, die die Regierung Kohl/Waigel hinterlassen hat. Das bedeutet, wir müssen wegkommen
von der Verpflichtung, 80 Milliarden DM im Jahr an
Zinsen zu zahlen. Das sind pro Kopf der Bevölkerung
1 000 DM, also für eine vierköpfige Familie 4 000 DM
im Jahr lediglich als Zinsendienst, ohne daß eine müde
Mark von der öffentlichen Verschuldung getilgt würde.
Es ist doch wohl normal, daß über eine konsequente,
mutige Politik, die Bundeskanzler Schröder und Bundesfinanzminister Eichel eingeleitet haben, auch debattiert
wird. Wir haben in den beiden hinter uns liegenden Tagen hier im Hause, aber natürlich auch innerhalb der
Fraktionen und innerhalb der Parteien über die Tradition
der öffentlichen Debatte gesprochen. Das muß auch so
bleiben. Ich sage Ihnen einmal, wie es bei der SPD sein
wird, nämlich so, wie es unsere Tradition ist: eine offene
Debatte und geschlossenes Handeln.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat nun
Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! In der 247. Sitzung des Deutschen Bundestages in der 13. Wahlperiode
- das ist gerade ein Jahr her - hat der Abgeordnete
Joseph Fischer ({0}) gesagt:
Die hohe Arbeitslosigkeit ist das Krebsgeschwür,
mit dem wir uns herumzuplagen haben. Wenn wir
in diesem Bereich im ersten halben Jahr mit einer
neuen Regierung keine Trendwende erreichen,
dann wird diese Regierung scheitern.
({1})
Ich kann nur sagen: Wo der Vizekanzler recht hat, hat
er recht. Ich habe mir noch einmal die Liste der Propheten angeschaut. Es gibt unter anderem den Propheten
Josua. Aber ich glaube, Herr Fischer ist näher am Propheten Hiob, der Unheil richtig vorausgesagt hat.
({2})
Wenn wir uns einmal umschauen, erkennen wir, daß
die Arbeitslosenzahlen steigen. Das ist sehr gefährlich.
Sie steigen auch saisonbereinigt: März plus 1 000, April
plus 12 000, Mai plus 13 000, Juni plus 13 000, August
plus 4 000.
Herr Bundeskanzler, der einzige wirksame Beitrag,
den Sie bis jetzt zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit
geleistet haben, war die Tatsache, daß Sie den arbeitslosen Ministerpräsidenten Eichel zum Finanzminister
gemacht haben.
({3})
Jetzt wollen Sie den arbeitslosen Ministerpräsidenten
Klimmt zum Verkehrsminister machen. Ich frage mich:
Wie lange dauert es, bis Heide Simonis und Wolfgang
Clement hier herkommen?
({4})
Wir werden dafür sorgen, daß sie bald hier sind. Ich
kann Sie ja gut verstehen, daß Sie die Leute nicht aus
der Fraktion holen. Das zeigt auch Ihre ganze Verachtung für diese Fraktion.
({5})
Ich meine, ein Stück weit hat sie es verdient; aber ganz
so schlimm, wie Sie sie behandeln, Herr Bundeskanzler,
hat sie es nicht verdient.
({6})
Für Schreiner hat man noch nichts gefunden; er stand
Oskar zu nahe.
({7})
- Das hat mit den Steuern sehr viel zu tun, weil der Anstieg der Arbeitslosigkeit mit Ihrer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik zu tun hat - wenn Sie das genau wissen wollen, Frau Kastner.
({8})
Ich zitiere noch einmal den Vizekanzler - das wird
man doch noch tun dürfen. Er sagte weiter:
Ich sage Ihnen: Dieser Aufschwung hält genau bis
zum 27. September 1998. Danach werden wir eine
ganz andere Situation haben.
Recht hatte der Herr Fischer. Diese Weitsicht läßt sich
auch an Zahlen belegen: 2,8 Prozent Wachstum brachte
die Regierung Kohl in 1998 auf die Waage. Sie, Herr
Bundeskanzler Schröder, sind auch in dieser Hinsicht
ein Leichtgewicht gegenüber Helmut Kohl.
({9})
Sie haben in 1999 nicht einmal die Hälfte des Wachstums
vorzuweisen. Das DIW schätzt das Wachstum für das erste Halbjahr 1999 auf 0,8 Prozent. In vergleichbaren Ländern dagegen - ich nenne einmal die USA; sie können vor
Kraft nicht laufen - haben wir ganz andere Wachstumszahlen. Wir in Deutschland haben das schlechteste
Wachstum innerhalb der Europäischen Union.
({10})
Das muß doch hausgemachte Ursachen haben, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({11})
Ich komme noch einmal zu der Frage nach den Ursachen, die von Frau Kastner gestellt worden ist. Es ist ganz
klar: Die Politik der Regierung Schröder hat Menschen und
Betriebe in Deutschland verunsichert. Die Leute haben kein
Vertrauen in die Bundesregierung. Wo kein Vertrauen
herrscht, wird weder investiert noch konsumiert.
Wir kennen eine lange Kette von Fehlleistungen, die
gemacht worden sind. Wir haben es heute ja mit sogenannten Korrekturgesetzen zu tun. Sie geben selber zu,
daß Sie die Hausaufgaben schlecht gemacht haben; denn
Sie müssen sie wieder korrigieren. Das zeigt alleine der
Name der Gesetze.
({12})
Ich darf nur ein paar Beispiele - wenn Sie es nicht
mehr wissen - in Erinnerung rufen: Die Neuregelung
des 630-DM-Gesetzes ist ein Flop. Die SPD-Zentrale,
so habe ich gelesen, hat fast zwei Drittel ihrer Mitarbeiter verloren. Dort müssen über 70 630-DM-Kräfte beschäftigt gewesen sein. Das ist schon abenteuerlich,
wenn man bedenkt, wie gegen die Existenz der 630DM-Jobs polemisiert worden ist - wie schlimm das
doch sei -, während man gleichzeitig diese Art der Beschäftigung selber weitlich genutzt hat. Auch das gehört
zur Doppelbödigkeit der SPD.
({13})
Weitere Beispiele sind das Gesetz gegen die sogenannte Scheinselbständigkeit, der Rentenbetrug und die
steuerliche Mehrbelastung von Bürgern und Betrieben,
die als Steuerentlastungsgesetz getarnt wurde. Das war
eine böse Täuschung; denn in Wirklichkeit war die
Nettobelastung danach höher.
Beispiel Ökosteuer. Sie, Herr Bundeskanzler Schröder,
haben eine Erhöhung der Mineralölsteuer um sechs Pfennig angekündigt, nachdem es vorher ein martialisches öffentliches Ringen darum gegeben hatte, das Ihnen wahrscheinlich Ihre Spindoctors empfohlen hatten, um sich
besser in Szene setzen zu können. Wenn Sie das durchgehalten hätten, dann hätte ich Sie gewisserweise sogar
noch bewundert. Tatsächlich herausgekommen sind fünf
Steuererhöhungen à sechs Pfennig. Das macht insgesamt
30 Pfennig. Die Bürger werden auch bei Strom, Heizöl
und Erdgas mehr belastet. Davon war vor der Wahl in
dieser Art und Weise nicht die Rede.
({14})
Herr Eichel, wenn Sie den Verkehrsinfarkt in
Deutschland vermeiden wollen - auch auf den Autobahnen rund um Frankfurt herum sieht es schlimm aus -,
dann kann ich Ihnen nur empfehlen: Verwenden Sie einen Teil der Mehreinnahmen, die Sie erzielen werden,
wenn Sie Ihr Sparpaket in der jetzigen Form durchsetzen
können - wir können es nicht verhindern, weil Mineralöl- und Energiesteuern reine Bundessteuern sind -, für
den Verkehrswegeausbau. Wenn Sie das nicht tun,
wird es einen Verkehrsinfarkt auf den Autobahnen geben.
({15})
Herr Müntefering verläßt das Kabinett mit einer ganz
schlimmen Bilanz. Er hat während seines Jahres als
Verkehrsminister nichts gestaltet und nichts bewirkt. Er
hat sich noch nicht einmal gegen die von Ihnen, Herr Eichel, geplanten Investitionskürzungen in seinem Etat
wehren können. Er ist vielleicht in Sachen Wahlkampf
ein guter Mann. Aber man kann nicht drei Jahre lang
Wahlkampf machen und Kampagnen führen, wenn die
Leistungen nichts taugen, die letztlich dahinterstehen
müssen.
({16})
Ich kann nur sagen: Die Autofahrer laufen Ihnen davon. Ich habe kürzlich am Wahlkampf in Thüringen
teilgenommen. Die Leute ärgern sich dort maßlos darüber, daß man ihnen, wo sie jetzt endlich ordentliche
Autos und Straßen haben, das Autofahren vergällen will.
Ihre Mineralölsteuererhöhung ist auch deshalb vollkommen falsch, weil im Moment die Energiepreise auf
den Weltmärkten steigen. Das wirkt sich dann doppelt
auf die Autofahrer aus. Das ärgert die Autofahrer zu
Recht. In dieser Phase sind massive Mineralölsteuererhöhungen falsch.
Sämtliche Stufen der Ökosteuerreform werden im
nationalen Alleingang durchgeführt. Das ist besonders
schlimm, weil es sich auf die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft und unserer Betriebe auswirkt. Trotz der
Wachstumsschwäche in Deutschland und anziehender
Energiepreise auf den Weltmärkten wird zusätzlich an
der Steuerschraube gedreht. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das Ergebnis einer Umfrage der IHK
Wuppertal verweisen. Nach dieser hat die Ökosteuer bei
der Hälfte der Unternehmungen - trotz gleichzeitiger
Senkung der Rentenversicherungsbeiträge - zu Kostenerhöhungen geführt. Das kostet letztendlich Arbeitsplätze. Die überwiegende Mehrheit der Unternehmen setzt
trotz der Ökosteuer keine energiesparenden Produktionsverfahren ein. Es wird also nichts aus der sogenannten doppelten Dividende der vermeintlichen Ökosteuer.
Beispiel Rente. Noch am 17. Februar 1999 haben
Sie, Herr Bundeskanzler, gesagt - zugegebenermaßen,
es war im bayerischen Vilshofen; aber man sollte auch
die Bayern gut behandeln -: Ich stehe dafür, daß die
Renten in Zukunft so steigen wie die Nettoeinkommen
der Arbeitnehmer.
({17})
So dürfen Sie sich selbst nicht beschädigen. Es geht um
Ihre Glaubwürdigkeit. Ich könnte natürlich sagen: Das
macht uns wenig Sorgen, wenn Ihre persönliche Glaubwürdigkeit erschüttert ist. Aber ich stelle auch immer
wieder fest: Die Menschen draußen, insbesondere unsere
älteren Mitbürger, verlieren das Vertrauen in die Politik.
Wenn man älter ist und nicht mehr für sich selbst sorgen
kann, dann ist man darauf angewiesen, daß das, was
man während seines Berufs- und Arbeitslebens eingezahlt hat, auch, wie versprochen, für die Zeit im Alter
zur Verfügung steht. Deswegen müssen unsere Renten
kalkulierbar bleiben. Über sie darf nicht willkürlich und
nach Kassenlage entschieden werden.
({18})
- Herr Poß, ich halte das insbesondere im wiedervereinigten Deutschland für ganz schlimm, weil in der DDR
immer nach Kassenlage über Renten entschieden worden ist. Es ist ein Fortschritt, daß es in Westdeutschland
nie so gewesen ist.
({19})
Die Rentner sollen keine Almosenempfänger sein, und
sie sollen nicht von der Barmherzigkeit der Politik und
von der Barmherzigkeit der jeweiligen Parlamentsmehrheit leben müssen; vielmehr müssen die Renten langfristig kalkulierbar bleiben. Deswegen haben wir eine
Rentenreform durchgeführt, die diesen Namen verdient.
Sie haben sie sofort kassiert. Was Sie jetzt an die gleiche
Stelle setzen wollen, ist Flickwerk.
({20})
- Da die Zwischenrufe von der SPD bei diesem Thema
nicht aufhören, kann man nur sagen: Betroffener Hund
bellt.
Ich möchte Oskar Lafontaine zitieren, auch wenn
ich damit möglicherweise etwas aus seinem Buch vorwegnehme.
({21})
- Es war Ihr Vorsitzender. Möglicherweise waren Sie
beim Putsch in Mannheim sogar dabei und haben ihn
gewählt. Sie müssen sich jetzt anhören, was der Mann
gesagt hat, weil die Leute, die Ihre Partei gewählt haben,
Lafontaine und Schröder, also beide, gewählt haben.
Deswegen wird man zitieren dürfen, was Oskar Lafontaine gesagt hat:
Wir denken … an die, die 45 Versicherungsjahre
haben; wir denken vor allem an die Kriegerwitwen,
die ihre Männer im Krieg verloren haben, die die
Kinder allein großgezogen haben, die zuwenig geklebt haben, die von kleinen Renten leben müssen
und die keine Nebeneinkünfte haben. Mein Wort
steht: Diesen Menschen die Rente zu kürzen ist und
bleibt schamlos!
({22})
Zwar kann ich es nicht in der gleichen wortgewaltigen,
polemischen Art und Weise sagen, wie Oskar Lafontaine solche Dinge immer gegen uns gerichtet hat; aber
Sie müssen ertragen, daß man Ihnen jetzt in einer ruhigeren Sprache vorhält, was er gesagt hat und was er versprochen hat.
({23})
Beispiel Steuerreform. Ich zitiere Peter Struck: „Wir
brauchen eine Steuerreform, die diesen Namen verdient.“
({24})
Ich kann nur sagen: Wo der Mann recht hat, hat er recht.
Von seinem Sprecher, den er hier hat reden lassen, habe
ich dazu wenig gehört. Erst jahrelang die Zustimmung
zu einer kräftigen Absenkung der Steuersätze verweigern, dann selbst eine halbherzige, dafür aber komplizierte Reform beschließen und sich am Ende als großer
Visionär darstellen - das geht nicht.
Ich möchte kurz auf das eingehen, was Sie zum Beispiel zu den Abschreibungen für Schiffbau gesagt haben. Wahr ist: Wir haben die Regelungen, die zu weit
gingen, die zu immer abenteuerlicheren Konstruktionen
geführt haben und die als Steuersparmodelle über Vertriebskanäle behandelt worden sind, mit der Bundestagsmehrheit von CDU/CSU und F.D.P. geändert. Der
Bundesrat hat diese Regelung verhindert. Herr Eichel
war damals der Koordinator, der dafür verantwortlich
war. Machen Sie sich kundig, wenn Sie schon eine
Sprecherfunktion haben.
({25})
- Herr Poß, Sie sollten das wissen. Sie sind einer derjenigen, der Steuerpolitik von Anfang an mitgestaltet hat.
Wir beide waren damals Sprecher im Finanzausschuß.
Daß Sie nicht hinter das Rednerpult getreten sind, das
ehrt Sie. Aber daß Sie Herrn Spiller so ins Abseits laufen lassen, finde ich weniger gut.
({26})
Ich will gar nicht alle komplizierten Regelungen aufzählen, die Sie eingeführt haben. Falls es noch arbeitslose Steuerberater gibt - es gibt sie eh nicht - , dann hätten
sie bald Arbeit, weil sie ungeheuer zu büffeln haben, um
die komplizierte Materie nachzulesen. Die Finanzverwaltung hat kräftig zu tun. Sie muß aufgestockt werden.
Struck hat recht: Niedrigere Steuersätze, weniger Ausnahmen
({27})
und das ordentlich in einem Ruck durchführen, so wie
wir das gewollt haben und so wie es von Herrn Eichel
blockiert worden ist, das ist das Richtige.
({28})
Die letzten Jahre im Bundesrat waren reine Blockadejahre. Mit Ihren Zwischenrufen können Sie darüber
überhaupt nicht hinwegtäuschen. Beispiel Familienentlastung. Sie haben sich gerade gerühmt. Statt endlich
ein schlüssiges Konzept vorzulegen, beschränkt sich die
Bundesregierung darauf, die zu beachtenden Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts
({29})
nur halbherzig umzusetzen. Über Details wird hier noch
gesprochen werden. Es ist eine halbherzige Umsetzung.
Es ist lediglich Flickwerk.
({30})
Jetzt möchte ich gerne noch einmal - heute hat Herr
Spiller das wieder gebracht, Herr Eichel bringt es immer
wieder, und gestern abend bei einer Fernsehdiskussion
kam Herr Struck mit der ollen Kamelle - ausführlich auf
die Geschichte mit den 1,5 Billionen DM Erblast eingehen.
({31})
- Hier tut überhaupt nichts weh, weil Zahlen für sich
sprechen.
Die Wahrheit ist: Wir haben von 1982 bis 1989 Konsolidierungspolitik vorgemacht; davon sollten Sie lernen. Das Ausgabenwachstum lag damals im Schnitt bei
2,5 Prozent im Jahr; diese Steigerung lag halb so hoch
wie das Anwachsen des Bruttosozialproduktes. Nur so
kann man vernünftig konsolidieren.
({32})
Theo Waigel wäre der erste Finanzminister in der neueren Geschichte der Bundesrepublik gewesen, der die Defizite zurückgeführt hätte, wenn nicht die von uns allen
herbeigesehnte deutsche Wiedervereinigung gekommen
wäre.
Um Verdrehungen vorzubeugen, möchte ich noch
einmal sagen, wie es damals war: In den 90er Jahren
mußte der Bund die finanzielle Erblast von 40 Jahren
Kommunismus und Sozialismus in Höhe von 350 Milliarden DM schultern. Diese Schulden hat er direkt übernommen; das können Sie nachlesen. Die dafür und für
die übernommenen Schulden der Regierung Schmidt zu
zahlenden Zinsen und Zinseszinsen zusammen mit 600
Milliarden DM an Transferleistungen, die allein der
Bund - ich lasse die Länder unberücksichtigt - geleistet
hat, ergeben letztlich diese Zahl.
Natürlich ist es richtig, Herr Eichel, daß wir jetzt sparen müssen. Aber Sie sparen nicht wirklich, sondern
verhalten sich wie auf einem Verschiebebahnhof. Außerdem nehmen Sie die Steuergesetze von Oskar Lafontaine zurück, obwohl auch Sie dafür Verantwortung
tragen. Sie ermöglichten es nämlich mit Ihrer Stimme im
Bundesrat, obwohl Sie von den hessischen Wählerinnen
und Wählern schon abgewählt waren, daß dieser Haushalt und diese Steuergesetze in Kraft treten konnten.
Jetzt versuchen Sie, die Luftblasen, die damals in den
Haushalt gekommen sind, wieder herauszulassen.
({33})
Wenn man unsere Finanzpolitik als liederlich bezeichnet, ist das eine bewußte Lüge und Irreführung.
({34})
Wir haben die Maastricht-Kriterien trotz aller Unkenrufe auf Punkt und Komma erfüllt und den Anteil der
Bundesausgaben am Bruttosozialprodukt 1998 mit 11,8
Prozent auf einen neuen historischen Tiefstand gedrückt.
Der Bundeshaushalt ist ständig gesunken und nicht angestiegen; erst unter Oskar Lafontaine stieg er wieder an.
Sie wissen, daß man Zahlen nicht fälschen kann.
({35})
Deswegen hören Sie sich doch noch einmal die Zahlen
an. Der Anteil der Bundesausgaben betrug zu Zeiten der
Regierung Helmut Schmidt 15 Prozent vom Bruttosozialprodukt. Am Ende der Amtszeit von Helmut Kohl und
Theo Waigel waren es trotz der gewaltigen Belastungen
durch die deutsche Wiedervereinigung lediglich 11,8
Prozent. Alle finanzpolitischen Maßnahmen, die von uns
in den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden sind,
wurden blockiert, weil man das Gefühl von Stillstand
erzeugen wollte. Die Rechnung ist ja letztendlich aufgegangen. Die Suppe aber, die Sie sich eingebrockt haben,
müssen Sie jetzt selbst auslöffeln.
Wir werden uns dennoch nicht so verhalten, wie Sie
es getan haben. Wenn wir dazu in die Lage versetzt
werden, werden wir unsere Mehrheit - wir haben ja keine absolute Mehrheit im Bundesrat, Sie haben sie aber
auch nicht mehr - nicht zur totalen Blockade gebrauchen. Uns ist nämlich das Land und das Wohl und Wehe
der Menschen immer noch wichtiger als die Frage, ob
man selber oder jemand anders gerade regiert.
({36})
Die Methode, mit der Sie an die Macht gekommen sind,
muß entlarvt werden.
({37})
Auch die Tatsache, Herr Bundeskanzler, daß Sie den
blanken Hans, wie man ihn inzwischen nennt, zum
Finanzminister gemacht haben,
({38})
wird Ihnen wenig helfen. Wenn man sich nämlich seine
Leistungen in Hessen ansieht ({39})
das müssen Sie sich vorhalten lassen, Herr Bundesfinanzminister -, stellt man fest, daß sich in Hessen von
1990 bis 1999 der Schuldenstand um 60 Prozent erhöht
hat und die Zinsausgaben um fast 70 Prozent gestiegen
sind. Warum prangern Sie das eigentlich nicht an, Herr
Eichel, sondern gehen immer wieder auf die Regierung
Kohl/Waigel/Gerhardt los? Warum kritisieren Sie nicht
diese willkürliche Ausgabensteigerung in Hessen, während der Bund die deutsche Wiedervereinigung zu
schultern hatte? Diese Polemik und solche Erörterungen
lassen wir Ihnen so nicht durchgehen.
({40})
Jetzt könnte ich noch auf Ausführungen von Herrn
Metzger eingehen, aber ich fürchte, die Zeit reicht nicht
aus. Er hat richtigerweise vor einem weiteren Durchmogeln gewarnt. Sie, Herr Schlauch, sind gut beraten, wenn
Sie sich ein Stück weit von der Politik absetzen, die
hauptsächlich von Herrn Eichel und von Herrn Schröder
gemacht wird.
({41})
Im Moment werden die Investoren und Bürger durch
eine endlose Debatte über weitere Steuererhöhungen
verunsichert. Ich nenne beispielsweise die Erbschaftsteuer und die Einführung einer Vermögensabgabe bzw.
-steuer. Jetzt verlangt Frau Schreyer, die aus Ihren Reihen kommt, noch eine zusätzliche EU-Steuer. All das ist
nicht angetan, wieder die Dynamik in die Wirtschaft zu
bringen, die wir wollen. Hören Sie mit hektischen Reformschritten auf; betreiben Sie eine kalkulierbare, längerfristig durchschaubare Steuerpolitik! Dann geht es im
Land wieder aufwärts.
Ich fürchte, Sie haben nicht die Kraft und nicht die
Rückendeckung in Ihren Reihen, um so etwas durchzusetzen. Ich will kein solcher Prophet wie der Prophet Joseph werden. Aber ich glaube trotzdem, daß die Union
guten Grund hat, den künftigen Wahltagen mit Zuversicht entgegenzusehen, weil die Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit haben, auch bei Landtagswahlen
über die verfehlte Politik der Bundesregierung abzustimmen.
Danke schön.
({42})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort der Kollege
Klaus Müller.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Herr Glos, ich bin enttäuscht. Ich hatte eigentlich gedacht, daß wir zu Beginn des Tages hier im
Reichstag, zu Beginn der wirklich spannenden Debatten
über die Zukunft des Sparpaketes, über das Zukunftsprogramm von Ihnen eine spritzige Rede hören würden,
eine Rede mit eigenen Vorschlägen.
({0})
Aber nein, es war eine rückwärtsgewandte Rede. Sie
trauern noch immer Herrn Lafontaine hinterher. Das
kann ich verstehen, ein interessanter Politiker.
({1})
Aber die Realitäten sind inzwischen etwas weiter fortgeschritten. Daß Sie das nicht gemerkt haben, tut mir leid.
Ferner war Ihre Rede voller Halbwahrheiten und
Unwahrheiten. Beispiel Ökosteuer - dazu werden wir
heute hoffentlich noch etwas Qualifiziertes von Ihrer
Fraktion hören -: Wenn Sie die ganze Zeit nur die eine
Seite der Medaille betrachten, nämlich die Frage der
Energiepreise, dann ist das schlicht die Hälfte der Wahrheit. Sie müssen sehen, daß das Geld zur Senkung der
Lohnnebenkosten verwendet wird, die Sie in Ihrer
Amtszeit immer weiter erhöht haben. Das ist eine richtige und kluge Politik.
({2})
Am Anfang haben Sie versucht, sich über die Personalpolitik dieser Bundesregierung auszulassen. Man
könnte fast meinen, daß Sie angesichts der Ereignisse in
Ihrem Heimatland, in Bayern, wo Stoiber gerade gut
dabei ist zu glänzen, wo ein bißchen der Lack abblättert
von Ihrem Ministerpräsidenten
({3})
- kräftig abblättert -, schon dabei wären, auch für ihn
einen Posten im Bundeskabinett zu suchen.
({4})
Ich bin ganz sicher, der Bundeskanzler wird diesen Vorschlag ablehnen.
({5})
Da müssen Sie nicht versuchen, uns Herrn Stoiber irgendwo unterjubeln zu wollen.
({6})
Noch ein Letztes zu Ihnen. Ich hätte gehofft, daß Sie
irgendein Wort zu den Vorschlägen aus Ihren Reihen,
von Herrn Uldall und Herrn Protzner, Ihrem ehemaligen
Generalsekretär, sagen, die das Arbeitslosengeld für
einen Monat streichen wollen. Das ist die Politik Ihrer
Fraktion. Das finde ich extrem enttäuschend und extrem
bedauerlich.
Ich habe auch vermißt, daß von Ihnen ein einziger
Vorschlag zur Sache kommt.
({7})
Wir diskutieren heute die Steuerpolitik von Rotgrün. Ich
hätte von einer wirklich guten Opposition eigentlich erwartet, daß sie mit einem einzigen eigenen Vorschlag
käme. Schade, Fehlanzeige auf der ganzen Linie.
Was wir heute diskutieren müssen, ist, welchen Ansatz Rotgrün verfolgt, um die Generationengerechtigkeit auch in der Steuerpolitik umzusetzen. Um zu ergründen, warum wir tatsächlich Reformen benötigen, ist
es notwendig, zu schauen, was sie uns hinterlassen haben. Wenn man die Bilanz Ihrer Politik zieht, dann stellt
man fest, daß die steuerliche Entlastung von Familien
zu gering gewesen ist - das hat Ihnen Karlsruhe ins
Stammbuch geschrieben - und daß Sie einen Schuldenberg angehäuft haben. Egal wie man herumrechnet „Zahlen lügen nicht“, haben Sie gesagt -, die Verschuldung unter Ihrer Regierungszeit hat sich vervielfacht.
Sie haben sich nicht getraut, es ehrlich zu finanzieren.
({8})
Unsere Familienpolitik, über die wir heute beraten
wollen, beruht auf zwei Erkenntnissen: Erstens müssen
wir etwas für die gegenwärtige Generation tun, die unsere Zukunft ist; deshalb gibt es eine Kindergelderhöhung,
eine Erhöhung der Freibeträge.
({9})
Aber zweitens - dies gehört elementar dazu - müssen
wir auch etwas für den Abbau des erdrückenden Schuldenberges tun. Darum haben wir ein Zukunftsprogramm
geschnürt, mit dem wir sowohl die Familien jetzt fördern als auch die Nettoneuverschuldung, die Sie uns
hinterlassen haben, sukzessive, Jahr für Jahr, abbauen.
Beides gehört zusammen. Normalerweise kann man ein
Erbe ausschlagen. Das Erbe Staatsverschuldung kann
man leider nicht ausschlagen; darum haben wir die
Pflicht, für die nächste Generation vorzusorgen.
({10})
Als die Karlsruher Richter im letzten Herbst ihren
Beschluß zur Familienpolitik gefaßt haben, lag das Kindergeld noch bei 220 DM. Als wir angekündigt haben,
die erste Maßnahme unserer Politik sei, hier für mehr
Gerechtigkeit durch das Steuerentlastungsgesetz zu sorgen, hat sich die Kollegin Hasselfeldt noch hingestellt
und gesagt, diese Erhöhung sei ja ganz erfreulich, aber
sie sei ein Wahlgeschenk. Das war keine respektierliche
Bemerkung. Ich finde, es ist notwendig, an dieser Stelle
etwas für die Familien zu tun.
({11})
Insofern haben wir Karlsruhe bereits vorgegriffen. Wir
werden jetzt noch etwas obendrauf legen, so daß eine
Familie mit zwei Kindern unter Rotgrün im nächsten
Jahr um insgesamt 1 200 DM entlastet wird. Das bedeutet fiskalisch, daß wir für Familien mit Kindern insgesamt etwa 10 Milliarden DM ausschütten. Das ist, so
finde ich, eine respektable Leistung.
({12})
Nach intensiver Prüfung des Karlsruher Urteils haben wir uns entschlossen, neben der steuerlichen Entlastung, die uns Karlsruhe vorschreibt, etwas für Familien
zu tun, die keine Steuern zahlen oder in nicht so hohem
Umfang Steuern einsparen können. Darum beträgt das
Volumen des Familienförderungsgesetzes - das hätten
Sie festgestellt, wenn Sie einen Blick in das Finanztableau geworfen hätten, Herr Glos - 5,5 Milliarden DM.
Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Gerne.
Herr Müller, Sie sprechen von
einer Entlastung der Familien mit Kindern und davon,
daß das Kindergeld erhöht werde. Ich würde von Ihnen
gerne die Auskunft haben - das haben ja Wissenschaftler ausgerechnet -, wie hoch die Belastung der Familien
mit Kindern durch die Ökosteuer ist:
({0})
infolge der Mineralölsteuererhöhung, der Kostensteigerung beim Heizen, beim Wohnen. Können Sie mir darauf bitte eine Antwort geben?
Wenn Sie genau geprüft hätten, wie diese
Ökosteuer aufgebaut ist, dann hätten Sie festgestellt, daß
Hans Eichel insofern etwas traurig ist, als das Aufkommen der Ökosteuer nicht in sein Säckel fließt, sondern
durch die Senkung der Lohnnebenkosten - die Stabilisierung der Beiträge zu der Rentenversicherung - komplett zurückgegeben wird.
({0})
Die Belastung durch die Ökosteuer wird für die Men-
schen, die erwerbstätig sind, in vollem Umfang kompen-
siert. Darüber hinaus ist gewährleistet, daß die Erhöhung
der Warmmiete von der Sozialhilfe abgedeckt ist. Das
heißt, insgesamt ist das plus/minus null.
[Jörg van Essen [F.D.P.]: Was ist bei Rentnern, was
ist bei Arbeitslosen? Das ist doch Unsinn!)
Kollege Müller, gestatten Sie eine Nachfrage der Kollegin Lenke?
Gerne.
Herr Müller, so geht es nicht. Ich
habe gefragt, wie hoch die Belastung einer Familie mit
zwei Kindern durch die Ökosteuer ist, monatlich oder
jährlich. Diese Frage würde ich gerne von Ihnen beantwortet bekommen angesichts der Tatsache, daß Sie von
einer Entlastung durch die Steuergesetzgebung sprechen.
({0})
Klaus Wolfgang Müller ({1})
Liebe Kollegin, ich habe von einem Paket
von Steuermaßnahmen gesprochen. Ich werde nachher
noch auf Ihren Entschließungsantrag zu sprechen kommen, in dem Sie von Steuererhöhungen sprechen,
({0})
und Ihnen dezidiert darlegen, daß die verschiedenen
Steuerpakete zur Entlastung führen und aufkommensneutral sind. Ich bin sicher, daß Sie auch gerne eine
schriftliche Anfrage an das Finanzministerium richten
können, um für die verschiedenen Fälle noch einmal die
einzelnen Zahlen dargelegt zu bekommen.
Kollege Müller, es
gibt zwei weitere Wortmeldungen, zunächst der Kollege
Michelbach, dann die Kollegin Höll.
({0})
Gerne.
Herr Kollege Müller, Sie geben an, daß Ihre zusätzlichen Ökosteuern zur
Senkung der Lohnnebenkosten verwandt werden und
dadurch ein Plus und mehr Wachstum und Beschäftigung entstehen. Ich frage Sie, Herr Kollege Müller: Wo
steht in Ihrem Gesetz die definitive Verwendung der
Einnahmen für die Senkung der Lohnnebenkosten? Ist
es nicht so, daß Sie im Jahr über 20 Milliarden DM zusätzlich einnehmen? Nehmen Sie nicht bis zum Jahre
2003 über 100 Milliarden DM mehr ein? Ist es nicht so,
daß die Senkung der Lohnnebenkosten um 0,5 Prozentpunkte nur 8 Milliarden DM ausmachen? Wohin
fließt das Geld? Das ist doch ein Abkassieren, es fließt
einfach in den Haushalt und sonst nirgendwo hin.
({0})
Kollege Michelbach, ich bin sicher, daß Sie
die Vorlagen, die Sie im Finanzausschuß und im Bundestag abgelehnt haben, auch gelesen haben.
({0})
- Doch, das darf man ihm unterstellen. - Dann wissen
Sie, daß die Lohnnebenkosten bereits jetzt gesenkt sind,
daß in den Beschlüssen des Kabinetts, die wir breit diskutiert haben und die veröffentlicht worden sind, die
Senkung bzw. Stabilisierung der Beiträge weitergehen.
Insofern ist genau das erfüllt, was wir angekündigt und
versprochen haben.
({1})
Das Steuerentlastungsgesetz, das Sie Anfang des Jahres so polemisch bekämpft haben, wird im Jahre 2002 zu
einer Entlastung der Menschen in dieser Republik von
über 20 Milliarden DM führen. Ich glaube, daß Sie das
wissen müßten und daß Sie deshalb nicht von einer
Steuermehrbelastung reden können.
({2})
Es gibt noch zwei
weitere Wortmeldungen zu Zwischenfragen. Bitte fassen
Sie sich sehr kurz, damit wir in der Debatte fortfahren
können.
Herr Kollege Müller, Sie konnten mir nicht erklären, wofür die zusätzlichen Einnahmen verwendet werden.
({0})
Es ist auch nicht so, daß die Arbeitskosten gesenkt
werden. Herr Müller, können Sie mir dahin gehend
recht geben, daß die Kosten einer Arbeitsstunde durch
Ihre Lohnnebenkostensenkung nur um 10 Pfennig gesenkt werden, daß aber gleichzeitig durch Ihre Steuerpolitik zusätzliche Arbeitskosten in Höhe von 18 Pfennig pro Stunde entstehen, so daß unter dem Strich eine
Mehrbelastung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer entsteht?
Nein, Herr Michelbach, Sie haben leider
nicht recht. Ich kann Ihren Äußerungen nicht zustimmen. Wir geben die Energiekostenerhöhung 1 : 1 zurück
bzw. verwenden sie zur Beitragsstabilisierung. Ich wiederhole mich an dieser Stelle nur ungern, aber nur deshalb, weil Sie das Gegenteil behaupten, wird es nicht
wahr.
({0})
Kollege Müller, es
liegen noch zwei weitere Wortmeldungen vor.
Ich würde jetzt gern weitermachen. Vielleicht können wir bei Gelegenheit oder im Finanzausschuß eine Zwischenfrage unterbringen.
Ich möchte gern zu der Politik zurückkommen, die
wir jetzt beschließen und zu der es bisher keine Alternative aus den Reihen der Opposition gibt. Ich habe ausgeführt, daß wir das Kindergeld und die Freibeträge erhöhen werden. Wir haben noch ein Weiteres gemacht: Wir
machen Ernst mit einer Politik für vollstationär untergebrachte behinderte Kinder. Hier nehmen wir eine
erstmalige Erhöhung des Kindergeldes vor. Auch das
gehört zu dem sozial gerechten Paket unseres Zukunftsprogramms.
Ich möchte noch einen kritischen Satz sagen. Wir haben gerade von Gewerkschaften und Familienverbänden
die Anfrage erhalten, ob es nicht für Alleinerziehende
mit kleinen und mittleren Einkommen zu einer Belastung käme. Wir haben das intensiv geprüft und das
Finanzministerium gebeten, eine Sonderauswertung der
Daten der Lohn- und Einkommensteuerstatistik vorzunehmen, um genau nachweisen zu können, daß das nicht
der Fall ist. Wir können jetzt beruhigt sagen, daß es trotz
der Vorgaben aus Karlsruhe, die besagen, daß wir Alleinerziehende nicht besser stellen dürfen als verheiratete Eltern, für mindestens 90 Prozent aller Alleinerziehenden auf gar keinen Fall zu einer Schlechterstellung
kommt. Bei den restlichen 10 Prozent gibt es möglicherweise in Einzelfällen eine Schlechterstellung. Ich
gebe zu, daß ist eine sehr gute Auskunft aus dem Finanzministerium gewesen, mit der man auch offensiv
nach außen gehen kann.
Ich will noch etwas zu den Aspekten des Karlsruher
Familienurteils sagen, die uns nicht glücklich gemacht
haben. Jeder normale Mensch auf der Straße, den Sie
danach fragen, ob nicht jedes Kind steuerlich gleichbehandelt werden müßte, sagt Ihnen: Ja. Jeder normale
Mensch hat ein Gerechtigkeitsgefühl und sagt, ja, jedes
Kind müßte dem Staat eigentlich gleich viel wert sein.
Darum ist meine Fraktion nach dem Karlsruher Urteil
mit der Debatte um einen Kindergrundfreibetrag, der
für jedes Kind die gleiche steuerliche Entlastung bedeutet hätte, so wie es auch unserer Gerechtigkeitsvorstellung entspricht, in die Öffentlichkeit gegangen. Dazu
haben wir viel Zustimmung aus der Bevölkerung und
von Ökonomen bekommen. Leider - das bekomme ich
die ganze Zeit über ins Ohr geblökt - sind die Juristinnen und Juristen in unserer Gesellschaft nicht dieser
Meinung gewesen. Ich möchte nur eines deutlich machen: Das Ziel, daß jedes Kind steuerlich gleich viel
wert sein sollte, bleibt bestehen. Dies bleibt Ziel dieser
Koalition; ich halte dies für richtig und notwendig.
({0})
Man kann niemandem erklären, warum das Kind eines
Millionärs, wie die „Zeit“ so schön gefragt hat, Kaviar
nötig hätte, das Kind eines normal verdienenden Menschen aber nicht. Hier gibt es sicherlich noch Debattenbedarf.
Eine zweite Anmerkung. Im Koalitionsvertrag hatten
wir vereinbart, über das Ehegattensplitting zu reden,
eine Institution, die schon seit Jahren kritisiert wird und
hinsichtlich derer uns Karlsruhe jetzt eine Handhabe gegeben hat. Das Gericht hat nämlich gesagt, es gebe die
Möglichkeit, an die Förderung von Ehen heranzugehen,
in der die Ehepartner sehr unterschiedliche Einkommen
haben, wo es also per se gar nicht um die Förderung der
Familie geht. Die Förderung steht hier nicht mehr im
Zusammenhang mit Kindern. Vielmehr muß es zu einer
Förderung der Kinder unabhängig vom Ehegattensplitting kommen. Hier sehen wir gewisse Spielräume: Weil
rund 20 Prozent der Familien nicht der klassischen Vorstellung von verheirateten Eltern mit Kindern entsprechen, weil der Splittingvorteil abschmilzt, wenn beide
Elternteile berufstätig sind, und sich auf Null reduziert,
wenn beide gleich viel verdienen, und weil es eben viele
Ehen ohne Kinder gibt, die heute noch davon profitieren. Im Sinne einer konsequenten Individualbesteuerung
ist es notwendig, hier weitere Schritte zu gehen.
({1})
In den weiteren Beratungen müssen wir darüber
nachdenken, was mit Kindern ist, die ein großes Vermögen haben, obwohl sie noch minderjährig sind. Nach den
gegenwärtigen Regelungen gibt es sowohl das steuerfreie Existenzminimum von Kindern als auch die Möglichkeit für die Eltern, einen hohen Kinderfreibetrag in
Anspruch zu nehmen. Hier sollten wir im Sinne von sozialer Gerechtigkeit dafür sorgen, daß wir nicht zu einer
Ungerechtigkeit dergestalt kommen, daß wohlhabende
Eltern wohlhabender Kinder zweimal steuerlich begünstigt werden können.
Das heißt, wir werden in den weiteren Beratungen,
die ich als durchaus ernsthaft ansehe - ich hoffe, daß wir
von der Opposition auch eigenständige Vorschläge bekommen -, noch zu Änderungen kommen können, wenn
wir uns verständigen. Herr Glos, Sie haben vorhin gesagt, Sie möchten keine Totalopposition sein, keine
Blockade machen. Auch hörte ich in den vergangenen
Wochen von Ihren eigenen Ministerpräsidenten immer
wieder die Worthülse, man wolle ja nicht blockieren,
aber… Dann wurden von ihnen aber leider enorme Hürden aufgebaut: Sie wollen dem nicht zustimmen, Sie
wollen dem anderen nicht zustimmen usw. Ich halte dies
für bedauerlich, weil Sie bisher keine eigenständige
Vorstellung geäußert haben, und ich wünsche mir, daß
Sie in den kommenden Wochen Farbe bekennen und tatsächlich eigene Vorschläge vorlegen.
Gerade heute kann man hier in Berlin sehen, wie
ernst es Ihre Partei mit einer Haushaltskonsolidierung
meint. Rot und Grün strengen sich gemeinsam an, in
Berlin zu wirklichen Einsparungen zu kommen. Ihre
Partei hingegen ergeht sich jetzt vor den Wahlen in
Populismus. Ich halte das nicht für ehrlich und wünsche mir, daß wir hier im Bundestag eine andere Debatte mit Ihnen führen können und von Ihnen ehrliche
Vorschläge bekommen, was Einsparungen im Haushalt
angeht.
({2})
Zum Schluß möchte ich noch etwas zum Steuerbereinigungsgesetz sagen, zu dem Sie schon wieder so polemisch argumentiert haben, als dürfte man nichts ändern,
wenn man gemerkt hat, daß eine Regelung nicht so
funktioniert, wie man sie vorgesehen hat. Wir werden
hinsichtlich des Steuerbereinigungsgesetzes vor allem
über einen Punkt diskutieren müssen - das hat der Kollege Spiller schon angesprochen -: über die Besteuerung
der Erträge aus Lebensversicherungen.
Sie werfen uns vor, wir machten hier eine widersprüchliche Politik.
({3})
Klaus Wolfgang Müller ({4})
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K
laus Wolfgang Müller ({5})
azu kann ich nur sagen: Alle applaudieren, wenn es
m eine konsequente Steuerreform geht. Auch Sie haben
as in Ihrer Rede angebracht, Herr Glos. Alle sprechen
avon, die Steuersätze müßten heruntergehen und die
emessungsgrundlage müsse verbreitert werden.
({6})
ur, wenn es konkret wird, Herr Michelbach, sind Sie
egen jede einzelne Streichung von Steuerschlupflöhern, gegen jede Verbreiterung der Bemessungsgrundage, wie sie beispielsweise bei Lebensversicherungen
otwendig ist.
({7})
ir sind uns mit allen Fachleuten einig, daß es eine steurliche Ungleichbehandlung von Lebensversicherungen
nd anderen Anlageformen gibt. Diese ist systematisch
icht zu halten. Ich gebe zu, daß wir uns für den Fall, daß
arlsruhe in diesem Herbst tatsächlich das Urteil zu dem
omplex der Besteuerung der Altersvorsorge spricht,
echtzeitig ein Signal aus Karlsruhe wünschen, damit wir
emäß dem Konzept der nachgelagerten Besteuerung zu
iner Gesamtlösung kommen könnten.
In der Koalition sind wir uns in der Frage der Beteuerung der Lebensversicherungen absolut einig. Nur
er Weg ist noch strittig. Daß es hier ein Steuerschlupfoch und eine Ungleichbehandlung gibt, kann auch die
pposition nicht leugnen.
Zum Schluß möchte ich noch etwas zu dem Antrag
er verehrten Kollegen von der F.D.P. sagen. Über Ihren
ntrag war ich, gelinde gesagt, etwas verwundert; aber
mmerhin kommt er diesmal zu Beginn der Beratung
nd nicht erst am Schluß.
Ich sehe ein, daß Sie am vergangenen Sonntag einen
iefschlag erlitten haben.
({8})
ber ist das ein Grund, gleich Wahnvorstellungen zu
ekommen?
In Ihrem Gesetzentwurf sprechen Sie von einer deutichen Erhöhung der Steuerbelastung. Also habe ich die
ahlen addiert: Unsere Ökosteuer ist - wie ich Ihrer
ollegin schon vorhin versucht habe deutlich zu machen
aufkommenneutral; das Familienförderungsgesetz
ringt eine Kindergelderhöhung, einen zusätzlichen
reibetrag, also eine Entlastung von 5,5 Milliarden DM;
us dem Steuerbereinigungsgesetz folgen Steuerminderinnahmen von 1,6 Milliarden DM. Das alles macht zuammen eine steuerliche Entlastung von gut 7 Milliaren DM. Ich bin sicher, daß auch Ihr Taschenrechner
um gleichen Ergebnis kommen wird wie unserer.
echnet man noch das Steuerentlastungsgesetz hinzu,
({9})
ann kommen wir unter dem Strich noch einmal auf eine
teuerentlastung von 20 Milliarden DM. Alles in allem
aben wir eine Steuerentlastung von 27 Milliarden DM,
ie diese Koalition beschlossen hat bzw. beschließen
ird. Von Steuererhöhungen kann also keine Rede sein.
Zwei Erklärungsmöglichkeiten, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, warum Ihr Antrag das aussagt, was Sie
hineingeschrieben haben: Erstens. Sie wissen nicht, was
der Unterschied zwischen plus und minus ist. Das kann
sein;
({10})
die desolate Haushaltslage, die Sie uns hinterlassen
haben, spricht leider dafür.
Die zweite Erklärung: Sie betrachten nur die Steuerschlupflöcher, die wir geschlossen haben; denn Sie als
F.D.P. haben nur einen Blick für große Unternehmen
und Abschreibungskünstler.
({11})
Wenn Sie da über Steuererhöhungen klagen, wenn Sie
da kritisieren, daß wir die Steuerschlupflöcher geschlossen haben, dann kann ich nur sagen, daß es Ihre Art von
Politik war, mit der Sie sich über Steuerschlupflöcher
arm gerechnet haben.
Rotgrün hat eine andere Perspektive: Wir sind für eine gerechte Besteuerung, für eine Ökosteuer, die zur
Senkung der Lohnnebenkosten beiträgt, und für eine gerechte Entlastung von Familien mit Kindern. Das ist die
Politik von Rotgrün. Dafür werben wir um Unterstützung und um Vertrauen. Dafür machen wir Politik, und
dafür sind wir gewählt worden.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat die Kollegin Höll, PDS-Fraktion.
Herr Kollege Müller, Sie
haben sich eben über die F.D.P. mokiert. Wenn ich die
Zahlen richtig im Kopf habe, dann lagen Ihre Wahlergebnisse am Sonntag auf dem Niveau der F.D.P. Deswegen würde ich mich nicht über andere lustig machen.
Sie haben von Redlichkeit und Ehrlichkeit gesprochen. Dazu gehört für mich aber auch, mit den Zahlen
richtig zu rechnen. Ein Beispiel: Alleinerziehende mit
einem mittleren Einkommen werden durch die Streichung der Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten ab
1. Januar 2000 wesentlich höher belastet. Das heißt konkret, daß sie bei einem Gehalt von 50 000 DM und
bei einer Aufwendung für Kinderbetreuung von jährlich 4 000 DM gegenüber 1999 pro Jahr 691 DM
mehr an Steuern zahlen müssen. Bei einem Gehalt von
60 000 DM macht das 899 DM aus. Sie haben zu diesem
Thema also nicht die Wahrheit gesprochen.
Es ist gut, wenn Alleinerziehende eine Arbeit haben.
Daß sie durch Ihre steuerlichen Vorschläge im nächsten
Jahr mehr Steuern zahlen müssen und schlechtergestellt
werden als selbst 1996 ,ist nicht sozial und nicht gerecht.
Zum zweiten möchte ich bemerken: Sie haben versucht, den Eindruck zu erwecken, als ob Ihre Politik
zu einer Entlastung aller Familien mit Kindern führen
würde. Das ist unwahr. 1 Million Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre leben in der Bundesrepublik Deutschland von Sozialhilfe. Sie wissen, daß Sozialhilfe und
Kindergeld gegengerechnet werden. Solange Ihre Kindergeldvorschläge unter dem Sozialhilfesatz liegen, wird
das gegengerechnet. Das führt zu einer Entlastung der
Finanzen der Kommunen, aber nicht zu einer Besserstellung und Entlastung der Familien. Der Eindruck, den
Sie versucht haben, hier zu erwecken, war also falsch.
Drittens. Sie wissen so gut wie alle anderen hier im
Raum, daß die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils durchaus anders möglich gewesen wäre,
nämlich durch ein einheitliches Kindergeld für alle Kinder, um dem Staatsziel zu entsprechen, daß alle Kinder
dem Staat tatsächlich gleich viel wert sind. Das wäre auf
der Grundlage des Urteils möglich gewesen. Aber natürlich brauchen wir dann ein Kindergeld von mindestens 400 DM. Das kann man auch erwirtschaften und
durchsetzen.
({0})
Kollege Müller, Sie haben das Wort.
Verehrte Kollegin Höll, vielen Dank für Ihre Nachfrage. Ich habe nicht die Unwahrheit gesagt. Wir
haben genau überprüft, wie das bei Alleinerziehenden
aussieht. Vor allem haben wir uns die Mühe gemacht,
nachzuprüfen, in welchen Einkommensgruppen welche
Betreuungsfreibeträge wirklich in Anspruch genommen
werden. Das ist das erste. Wir werden im Finanzausschuß gern noch einmal Tabelle neben Tabelle legen.
Meine Tabellen sagen da etwas anderes aus als Ihre Tabellen. Das werden wir überprüfen.
Das zweite ist, daß es in vielen Fällen beispielsweise
einkommensabhängige Kindergartenbeiträge gibt, so
daß wir auch hier davon ausgehen können, daß das zu
einem geläufigen Effekt führt. Ich bitte auch, nicht zu
vergessen, daß am 1. Januar 2000 die zweite Stufe des
Steuerentlastungsgesetzes in Kraft tritt, die ebenfalls dagegenwirken wird, so daß wir sicherlich noch einmal im
Detail Zahlen vergleichen können.
Das zweite, was Sie gesagt haben, ist richtig. Von
vielen Verbänden und Gewerkschaften ist kritisiert worden, daß bei Sozialhilfeempfängerinnen die Kindergelderhöhung nicht ankommt, weil sie systemimmanent gegengerechnet wird. Die Kritik ist auch bei uns angekommen; ich sage das ganz offen. Wir prüfen, welche
Möglichkeiten es hier gibt, und wir werden uns sicherlich im Laufe des weiteren Beratungsverfahrens darüber
verständigen, ob und, wenn ja, in welcher Weise es
möglich ist, etwas zu ändern.
Aber Ihre letzte Bemerkung, Frau Höll, ist etwas
populistisch, finde ich. Sie sagen, natürlich könnte man
für alle Familien das Kindergeld erhöhen. Natürlich
könnte man das Kindergeld auf 400 oder 500 DM erhöhen. Das würde ich mir auch wünschen, gar keine Frage.
Nur müssen Sie dann sagen, wie Sie das Ganze erwirtschaften wollen. Darauf habe ich von Ihnen bisher keinerlei Antwort gehört. Sie wissen genauso wie ich: Die
Vorgabe des Karlsruher Verfassungsgerichtes ist, daß
wir die Freibeträge - leider - nicht senken können, daß
sie beibehalten werden müssen, so daß wir da auf Ihre
Vorschläge von der PDS doch sehr gespannt sind.
({0})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Hermann Otto Solms, F.D.P.Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann die
Ausführungen von Frau Höll voll bestätigen. Sie widerlegen die Aussagen des Kollegen Müller, die aus Wahrheiten, Unwahrheiten und Halbwahrheiten gemischt waren. Im einzelnen will ich darauf noch zurückkommen.
Das Entscheidende aber ist, daß die drei Steuergesetze, die drei Pakete,die nun vorgelegt werden, nicht zusammenpassen.
({0})
Es gibt keine ordnungspolitische Leitlinie, an der entlang diese Gesetzentwürfe entwickelt worden sein
könnten. Sie widersprechen sich selber, sie sind in sich
widersprüchlich, und sie wirken dadurch natürlich verunsichernd, verwirrend und erzeugen keinen Mut für Investitionen und neue Arbeitsplätze.
Das heißt also, nachdem der Bundesfinanzminister
Hans Eichel - das will ich meinem hessischen Landsmann zugestehen - in der Haushaltspolitik eine richtige
Kehrtwende durchgeführt hat, die zu unterstützen ist,
fährt er in der Steuerpolitik den Chaoskurs weiter, den
sein Vorgänger angerichtet hat.
({1})
Deswegen wird es auch nicht zu den Verbesserungen
auf dem Arbeitsmarkt kommen, von denen Sie reden
und die wir uns alle wünschen; denn Ihre Politik in diesem Jahr hat geradezu einen Scherbenhaufen auf dem
Arbeitsmarkt angerichtet.
Die Zahlen bestätigen ja nicht nur, daß die Arbeitslosigkeit mehr oder weniger gleichgeblieben ist, sondern
dahinter steht eine demographische Entwicklung, durch
die der Arbeitsmarkt in diesem Jahr um einige Hunderttausende entlastet wird. In Wirklichkeit - das zeigt die
bekannte Schröder-Uhr in der „Wirtschaftswoche“ - ist
die Arbeitslosigkeit leicht gestiegen, aber die Zahl der
Beschäftigen, die Zahl der Arbeitsplätze ist um über
300 000 gesunken.
({2})
Damit wird deutlich - das zeigt ja auch die konjunkturelle Entwicklung -, daß der Wachstumsprozeß mit Beginn dieser Regierung gestoppt worden ist, daß die Investitionsquote heruntergegangen ist und daß der Arbeitsmarkt darniederliegt.
Das „Handelsblatt“ hat vorgestern gerade erst seine
neue westdeutsche Konjunkturanalyse vorgelegt. Es
kommt zu dem Ergebnis, daß im September der Frühindikator gegenüber August von 1,6 Prozent noch einmal
auf 1,3 Prozent zurückgegangen ist.
({3})
Es ist natürlich wirklich deprimierend, wenn man sich
das anschaut. Deswegen sehe ich auch für die nächsten
Monate und wahrscheinlich für das nächste Jahr noch
keine deutliche Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt.
Gerade in dieser Situation, Herr Eichel, wäre es nun
dringend geboten, Beschlüsse in der Steuerpolitik zu
fassen, die die Menschen ermutigen, zu investieren,
({4})
Existenzgründungen vorzunehmen, Leute einzustellen
und nicht zu entlassen, nicht nur zu rationalisieren und
nicht die Arbeitsplätze zu exportieren.
({5})
Das Gegenteil tun Sie.
Ich will nun zu den einzelnen Vorschlägen kommen,
die heute vorgelegt werden. Fangen wir mit der Ökosteuer an. Herr Müller hat sich mit dem, was er dazu gesagt hat, wirklich nicht mit Ruhm bekleckert.
({6})
- Es ist doch offenkundig, Herr Müller:
({7})
Zuerst einmal müssen Sie eine wahre Analyse machen.
({8})
Es ist keine Ökosteuer, es ist ganz schlicht eine Erhöhung von vier Energiesteuern.
Mit dem Begriff Ökosteuer wollen Sie dem Ganzen
einen guten Anstrich geben. In Wahrheit ist es eine Erhöhung von Energiesteuern. Auch darüber kann man
natürlich diskutieren.
({9})
- Moment. Ich gehöre ja eher zu denen in meiner Fraktion, die diesem Gedanken nähertreten.
({10})
- Das zeigen ja auch unsere Beschlüsse.
({11})
Wir wollen das allerdings mit einem anderen Instrument
tun, nämlich mit einem dritten Mehrwertsteuersatz, weil
das technisch viel einfacher ist.
({12})
Sie müssen hinsichtlich Ihrer Pläne erst einmal deutlich sagen, wer davon betroffen ist. Bezüglich der geplanten Entlastung steht in den Gesetzen überhaupt
nichts darüber, was Sie mit dem Geld machen wollen.
Es gibt Absichtserklärungen, denen man glauben oder
nicht glauben kann. In einem Monat kann die Situation
wieder eine andere sein, und dann brauchen Sie das
Geld für etwas anderes. Dann gilt es nicht mehr; es steht
ja noch nicht im Gesetzesblatt. Rentner, Hausfrauen,
Studenten, Schüler, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger
haben von der von Ihnen geplanten Entlastung nichts;
sie bekommen keinen Pfennig.
({13})
Das sind gerade die sozial Schwächsten, und sie müssen
netto draufzahlen.
({14})
Auch die Leute auf dem Lande, die einen längeren Weg
zwischen Arbeitsstätte und Wohnung zurücklegen müssen, werden natürlich mehr belastet, weil sie von der
Mineralölsteuererhöhung ganz besonders betroffen sind.
Sie müssen sich das Ganze also sehr genau anschauen
und ehrlich untersuchen.
Eine weitere Bemerkung zur Ökosteuer: Wieso verwenden Sie die Einnahmen aus der Ökosteuer, um Sozialpolitik zu machen, um sich an der Notwendigkeit einer
Strukturreform der Rentenversicherung vorbeizumogeln? Nichts anderes tun Sie.
({15})
Selbst der DGB hat das heute erkannt und sagt: Nein,
wir müssen das Rentenniveau anders ausgestalten; wir
brauchen einen demographischen Faktor in der Rentenversicherung, damit das eine verläßliche Größe für unsere Rentner ist.
({16})
Selbst der DGB hat das, wenn auch spät, erkannt und
eingestanden. Aber Sie hängen immer noch Ihrem alten
Plan nach.
Wenn Sie schon eine Verbrauchsteuererhöhung machen wollen - nichts anderes ist das -, dann sollten Sie
sie vornehmen, um unser Steuersystem zu reformieren.
Das Ifo-Institut hat kürzlich gesagt: Hätten Sie das Geld
doch wenigstens genommen, um endlich die Gewerbesteuer abzuschaffen.
({17})
Wenn Sie das machen würden, dann hätten Sie in einem
Schritt eine Unternehmensteuerreform, die Sinn machen würde. Was Sie, Herr Eichel, da planen und was
Ihre Reformkommission vorgeschlagen hat, ist ja das
reinste Unding. Die Kapitalgesellschaften werden doch
durch Ihre Pläne entlastet, Herr Müller.
({18})
Für die Personengesellschaften und die Einzelkaufleute
({19})
haben Sie noch keinen Plan, Herr Poß.
({20})
Da wollen Sie Modellspiele machen. Das hat Frau Hendricks gerade neulich in einer Diskussion gesagt. Sie haben doch keinen Plan.
({21})
- Nein, ich unterstelle gar nichts. Ich habe mich mit
Frau Hendricks ausgetauscht, und sie hat das bestätigt:
Sie wollen Modellversuche machen.
({22})
Sie haben noch keinen Vorschlag.
Ergebnis dieser Unternehmensteuerreform ist - es ist
ja das Erstaunliche, daß das von der SPD vorgeschlagen
wird -, daß nach Ihren Plänen die großen, international
arbeitenden Kapitalgesellschaften, die ihre Steuerhöhe
ohnehin im internationalen Rahmen stärker gestalten
können, als das kleine Unternehmen hier tun können,
weniger besteuert werden als die große Zahl der kleinen
und mittleren Unternehmen hier,
({23})
aber auch weniger als die Arbeitnehmer in diesem Land,
die Landwirte und die Leute, die von Vermietung und
Verpachtung leben. Das ist doch eine enorme Diskreditierung gerade der natürlichen Personen.
Das kann einen ja auch nicht wundern, wenn man
hört, daß der Herr Bundeskanzler letzte Woche bei der
Verabschiedung des Bundesbankpräsidenten Tietmeyer
auf der Versammlung, bei der der gesamte Finanzsachverstand im Frankfurter Palmengarten versammelt war,
erklärte: Wir wollen eine Unternehmensteuerreform und
eine Senkung der Unternehmensteuern, wir wollen aber
keine Senkung der Unternehmersteuern.
({24})
Das zeigt, daß er überhaupt kein Verständnis für die Zusammenhänge in der Wirtschaft hat.
({25})
Das ist unser Bundeskanzler, der Regierungschef eines
Industriestaates. Er versteht nicht, daß es keine Unternehmen gibt, wenn es nicht auch Unternehmer gibt.
Einer muß ja die Initiative ergreifen, um ein Unternehmen erst einmal zu gründen. Das geschieht nur dadurch,
daß er mit seinen Ersparnissen ein Risiko eingeht und
ein Unternehmen startet.
({26})
- Ich habe das selber einmal gemacht, vor 20 Jahren.
Ich weiß, wie es ist,
({27})
wenn man den letzten Pfennig hinlegen muß, um ein
Unternehmen zu starten. Sie dürfen diese Unternehmer
eben nicht dadurch entmutigen, daß Sie sie schlechter
behandeln als die Großunternehmen. Vielmehr brauchen
sie Gleichbehandlung.
({28})
Kollege Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spiller?
Bitte schön,
Herr Spiller.
Herr Kollege Solms, wären Sie bereit einzugestehen, daß es ein tragender Punkt
des Konzepts zur Unternehmensteuerreform, das diese
Kommission vorgelegt hat, ist, daß kleine und mittlere
Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform
({0})
die gleiche steuerliche Belastung erfahren sollen wie
Kapitalgesellschaften,
({1})
daß also diejenigen Unternehmen entlastet werden sollen, die ihre Gewinne im Unternehmen reinvestieren?
({2})
Wären Sie bereit zuzugestehen, daß eines der großen
Probleme der jungen Unternehmen insbesondere in Ostdeutschland und der neugegründeten Unternehmen die
Bildung von eigenem Kapital ist und daß die Reform,
die wir vorschlagen - eine steuerliche Besserbehandlung
des Gewinnes, der zum Aufbau einer gesunden eigenen
Kapitalbasis im Unternehmen verbleibt -, ein Schritt ist,
der insbesondere kleinen und mittleren, vor allem aber
jungen Unternehmen helfen wird?
({3})
Herr Kollege
Spiller, ich will fair sein: Ich akzeptiere, daß Sie die Absicht haben, dies zu tun.
({0})
- Das habe ich nicht unterstellt.
({1})
Bisher aber haben Sie keinen geeigneten Weg. Der Weg,
den Sie gehen wollen, birgt so viele Schwierigkeiten,
daß er nicht gangbar ist.
({2})
Deshalb wird dies scheitern, und deswegen wird es bei
einer einseitigen Entlastung bleiben.
Nächstes Gegenargument: Sie verbinden dies mit
dem Plan, die einbehaltenen Gewinne zu bevorzugen.
Das wiederum belastet natürlich den Kapitalmarkt. Das
führt dazu, daß das Geld im Unternehmen bleibt, obwohl vielleicht eine Investition in einem anderen Unternehmen oder in andere wirtschaftliche Vorhaben sinnvoller wäre. Die Volkswirte sagen: Dieser Lock-inEffekt ist volkswirtschaftlich schädlich.
Weiteres Gegenargument - dies ist für mich das
wichtigste -: Indem Sie für unterschiedliche Einkunftsarten - für Einkünfte aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit, für Einkünfte aus einem Gewerbebetrieb
usw. - eigene Steuersätze postulieren, schaffen Sie die
Voraussetzung dafür, daß wieder manipuliert wird.
Dann nämlich wird wieder versucht, die Einkünfte von
einer Einkunftsart in eine andere, günstiger besteuerte
Einkunftsart zu verlagern.
Auf Grund meiner langjährigen Beschäftigung mit der
Steuerpolitik habe ich die Auffassung: Am besten wäre
es, Sie machten ein ganz einfaches Steuersystem; das haben wir auf unserem Parteitag beschlossen. Ich will jetzt
gar nicht über die Steuersätze reden. Sie kritisieren immer
die Steuersätze. Lassen wir diese aber einmal außen vor!
Es müßte ein einfaches Steuersystem geben, bei dem gar
nicht mehr zwischen Einkunftsarten unterschieden wird.
Gleichbehandlung führt zu Gerechtigkeit. Dann nämlich
gäbe es keine Gerechtigkeitslücke.
({3})
Durch Ihre Pläne werden zwangsläufig Ungerechtigkeiten ausgelöst.
({4})
Unser Problem ist doch, daß wir das komplizierteste,
undurchschaubarste Steuerrecht der Welt haben. Jeder
hat das Gefühl, der andere würde besser behandelt und
man selber schlechter - aus welchen Gründen auch immer. Sie werden nur dann eine Akzeptanz des Steuersystems erreichen, wenn solche Gefühle nicht mehr auftreten, wenn es Ihnen gelingt, das Steuersystem so einfach zu gestalten, daß es auch die Menschen verstehen,
die keine Steuerspezialisten sind.
({5})
- Wir haben es auch nicht erreicht, Herr Poß; das weiß
ich doch. Aber wir waren mit den Petersberger Beschlüssen in dieser Richtung einen Riesenschritt weiter.
({6})
Unsere jetzigen Pläne gehen noch einen Schritt darüber hinaus, denn wir sagen: Es darf keine Unterschiede
zwischen den Einkunftsarten geben, alle Einkünfte müssen steuerlich gleich behandelt werden.
Deswegen war es ein Lichtblick Ihres Fraktionsvorsitzenden Peter Struck, als er sagte, es solle einen Stufentarif geben und keine Ausnahmen. Das wäre doch
eine gute Sache.
({7})
Ich dachte, daß es in der SPD wenigstens Gedankenfreiheit gäbe. Die aber gibt es nicht. Dort werden wieder
Denktabus aufgerichtet, und jeder, der sich dagegen
auflehnt und einmal seine Meinung sagt, wird sofort zur
Ordnung gerufen. Das ist das Schlimme in dieser Diskussion.
Ich sage Ihnen - darüber werden wir noch diskutieren -: Unsere Philosophie, die Gleichbehandlung der
Steuerzahler, ist die richtige Philosophie. Darauf kommt
es in der Steuerpolitik an. Über eine maßvolle Höhe der
Besteuerung muß man diskutieren. Aber die jetzt bestehenden vielen Unterschiede müssen verschwinden.
Nun komme ich zu dem Thema Gerechtigkeitslücke.
Das gehört dazu. Das spielt ja jetzt bei Ihnen eine große
Rolle. Auch mit dem Argument der Gerechtigkeitslücke
wird eine ehrliche Diskussion verbrämt. Dies ist ein
Thema, das Herr Gysi liebt, wenn er über eine Vermögensteuer bzw. eine Vermögensabgabe spricht.
({8})
- Ich weiß; aber ich kenne ja Ihre Argumente.
({9})
Ein ehrlicher Umgang bedeutet, festzustellen: Die
Vermögensteuer ist ja nicht aufgehoben worden.
({10})
Sie wird zur Zeit aus verfassungsrechtlichen Gründen
nicht erhoben.
({11})
- In der Kürze der Zeit hätten wir uns auch nicht einigen
können.
({12})
- Herr Poß, wir stimmen überein.
Der Wegfall der Vermögensteuer ist - das müssen Sie
hinzufügen - durch die Erhöhung der Grunderwerbsteuer, durch die Erhöhung der Erbschaftsteuer im Rahmen der Erbschaftsteuerrefom und durch die Veränderung des Bewertungsgesetzes überkompensiert worden.
({13})
Auch das müssen Sie den Menschen sagen.
({14})
Sonst heißt es ja immer: Die Reichen können geben.
Ein weiterer Punkt: Anstatt von einer Vermögensteuer wird jetzt von einer Vermögensabgabe gesprochen.
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, daß mein leider
so früh verstorbener Kollege Gattermann in der
12. Legislaturperiode in der Koalition die Frage zur Diskussion gestellt hat, ob man nicht aus Gründen der
Finanzierung der deutschen Einheit eine Vermögensabgabe einführen sollte. Ich möchte hier nicht ins Detail
gehen. Der Vorschlag kam von uns. Nach langer, intensiver Diskussion haben wir uns - zwar nicht zu unserer
Freude, aber es ist so gewesen - auf eine Ergänzungsabgabe geeinigt, den sogenannten Solidaritätszuschlag.
Die Argumente aber, die gegen eine Vermögensabgabe sprachen, waren stichhaltig. Das will ich hier bestätigen. Denn es wäre ungeheuer kompliziert, würde
einen ungeheuren Verwaltungsaufwand bedeuten und es
würde große Bewertungsprobleme, insbesondere im
Immobilienbereich, auslösen.
({15})
Der Verwaltungsaufwand hätte das gar nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen.
Deswegen bitte ich diejenigen, die eine Vermögensabgabe wollen, diesen Gesichtspunkt in der öffentlichen
Diskussion einzubeziehen, Herr Gysi. Man kann immer
über alles sprechen. Erst muß man die Voraussetzungen
klären, und dann muß man fragen: Was sind die ökonomischen Ergebnisse, die ich damit bewirke?
Hier möchte ich ein weiteres Argument ansprechen.
Denn ich glaube, daß in Ihren Köpfen noch nicht angekommen ist, daß wir nicht mehr in einer geschlossenen
Volkswirtschaft leben.
({16})
Die Möglichkeiten nationaler Gesetzgebung sind extrem
begrenzt.
({17})
Die Ökonomie ist heute weltweit tätig. Der Wettbewerb findet weltweit statt. Mit strikten Regelungen in
Deutschland können wir unsere Unternehmen nur behindern. Wenn wir auf dem Arbeitsmarkt Erfolg erzielen wollen, dürfen wir unsere Unternehmen nicht mit
höherem Ballast belegen als die Wettbewerber in anderen Industriestandorten, die mit uns im Wettbewerb
stehen.
Wenn ich an die Vermögensteuer bzw. die Vermögensabgabe denke, muß ich feststellen: Sie können heute
Vermögen, also mobiles, liquides Vermögen - dies gilt
nicht für Immobilienvermögen -, nicht einschließen. Sie
können es auch nicht kontrollieren. Das ist völlig ausgeschlossen. Dazu bräuchten Sie noch ein paar hunderttausend Betriebsprüfer mehr, trotzdem könnten sie es nicht.
Denn heute kann jeder Schuljunge in Sekundenschnelle
mit Hilfe des Internets sein Sparvermögen von der Sparkasse hier zur Sparkasse in Hongkong transferieren.
Darauf haben Sie überhaupt keinen Zugriff mehr.
({18})
Was können Sie also tun? Sie können die Sparer in
Deutschland so behandeln, daß sie keinen Anreiz haben,
ihr Geld an einen anderen Ort zu tragen.
({19})
Das ist heute, im Zeitalter der Globalisierung - die ist
nun einmal da, ob man das will oder nicht -, die eigentliche ökonomische Begründung, warum wir auf die
Wettbewerbsregeln, auf die Rahmenbedingungen weltweit, insbesondere in den Industrieregionen der Welt, zu
achten haben, und warum wir dafür sorgen müssen, daß
unsere Wettbewerber nicht behindert werden.
Ich erinnere an eine Glosse in der „Süddeutschen
Zeitung“ vor ungefähr einem Jahr. Hier wurde ein Ruderwettkampf zwischen Amerika und Deutschland verglichen. Die Amerikaner sind angetreten mit acht kräftigen Ruderern und einem zierlichen Steuermann. Die
Deutschen sind angetreten mit acht kräftigen Steuermännern und einem zierlichen Ruderer. Wie, glauben
Sie, geht dieser Wettbewerb aus?
({20})
- Das ist übertrieben, das weiß ich. Aber es ist ein schönes Bild.
({21})
- Leider hat es sich noch verschlechtert, Herr Schmidt.
Sie wollten ja antreten, es besser zu machen, aber bis
jetzt ist es schlechter geworden.
Legen Sie Ihre alten ideologischen Denkschranken
beiseite! Lassen Sie uns über eine grundsätzliche Steuerreform diskutieren, die uns allen, insbesondere den
Menschen in diesem Lande, nützt und die zu neuen Arbeitsplätzen führt! Dazu sind wir gerne bereit; dazu ist
sicherlich auch die CDU/CSU-Fraktion bereit; dazu sind
die Experten, die wir in diesem Lande haben, ebenfalls
bereit. Dann können wir ein gutes Ergebnis erzielen.
Alleine und auf dem Weg, den Sie jetzt begonnen haben,
werden Sie das nicht erreichen.
Vielen Dank.
({22})
Ich erteile nun dem
Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dieser Bundestag ist in einer gewissen Schwierigkeit. Das hängt damit zusammen, daß die CDU/CSU- und die F.D.P.-Fraktion natürlich nicht umhinkommen, daran erinnert zu werden,
welche Politik sie noch vor einem Jahr gemacht haben.
Gelegentlich ist es für Sie deshalb etwas schwer, sich
mit der heutigen Regierung auseinanderzusetzen. Sie hat
eine ähnliche Schwierigkeit: Sie muß es sich gefallen
lassen, gelegentlich an das erinnert zu werden, was sie
noch vor einem Jahr gesagt hat, und daß man das zum
Maßstab macht. Damit haben Sie offensichtlich Ihre
Probleme.
Ich möchte gerne daran erinnern, daß wir vor einem
Jahr einen sehr grundsätzlichen Streit um den Begriff der
Reform hatten. Damals haben Sie Altbundeskanzler Kohl
und der gesamten Regierung vorgeworfen, daß sie den
Reformbegriff mißbrauchen würden. Unter dem Begriff
Reform finde lediglich ein Sozialabbau statt, und im übrigen gehe es sowieso immer nur um Zahlen nach oben und
nach unten, aber nie um strukturelle Veränderungen. Jetzt
schaue ich mir einmal Ihr Rentenkonzept und Ihr Konzept
zu Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe an und frage
Sie, was daran außer Kürzungen eine Reform ist. Strukturelle Veränderungen finden nicht statt.
Das Problem ist doch, daß SPD und Grüne vor gut einem Jahr durchs Land zogen und gegen das Sparpaket von
Kohl und gerade gegen die Rentenkürzungspläne wetterten.
In Brandenburg wurden 45 000 Unterschriften gegen das
Sparpaket gesammelt. Die Leute haben heute bei dem, was
sie lesen und hören, doch nicht ganz zu Unrecht den Eindruck, daß Ihre Vorschläge ein wenig geklont sind.
({0})
Das löst dann die entsprechende Unzufriedenheit aus.
Zum Teil ist das, was Sie machen, tatsächlich anders,
aber nicht immer besser, sondern teilweise auch eindeutig schlechter. Es wird so viel über Rente gesprochen.
Lassen Sie mich dazu etwas sagen. Wir müssen sehen,
daß Sie die Nettolohnanpassung nicht nur bei der
Rente, sondern auch beim Arbeitslosengeld, bei der Arbeitslosenhilfe und bei den Unterhaltsbeiträgen ausfallen
lassen wollen. Damit belasten Sie Gruppen, denen Sie
überhaupt keinen Ausgleich in irgendeiner anderen
Form geben. Während Sie dort, wo Sie Abschreibungsmöglichkeiten streichen, sofort darüber nachdenken, wie
man den Betroffenen durch Senkung des Spitzensteuersatzes wiederum entgegenkommen kann, gibt es für die
anderen Gruppen einen solchen Gedanken nicht.
Was Sie damit anrichten, ist aus vielen Gründen
schlimm. Das schlimmste ist, daß Sie die Nettolohnanpassung zur Willkürmasse einer Regierung machen, je
nach Kassenlage. Wenn das einmal einreißt, wird sich
das auch fortsetzen.
({1})
Von besonderer Bedeutung - darüber werden wir
heute vielleicht zu späterer Zeit noch sprechen - ist folgendes: Sie organisieren, daß bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, bei der Rente und bei den Unterhaltsbeiträgen die Entwicklung zwischen West und Ost wieder auseinandergeht. Unter Kohl war es immerhin so,
daß es, weil die Nettolohnanpassung nach Ost und nach
West differenziert erfolgte, wenigstens eine allmähliche
Angleichung gab; der Prozentsatz im Osten war immer
etwas höher als im Westen. Jetzt nehmen Sie eine
durchschnittliche Inflationsrate. Sie müssen aber wissen:
Die Inflationsrate ist im Osten höher als im Westen. Das
heißt, daß Sie im Osten faktisch unterhalb der Inflationsrate bleiben und damit die Entwicklung von Renten, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Unterhaltsbeiträgen wieder weiter auseinanderklaffen lassen. Das ist
völlig konträr zum Einigungsauftrag, den wir haben und
für den wir Politik zu machen haben.
({2})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang gleich
noch etwas zur Ökosteuer sagen. Ich behaupte: Wenn
der Bundestag in seiner Mehrheit etwas auf sich hielte,
müßte er die erste beschlossene Ökosteuerreform zurücknehmen. Wissen Sie auch weshalb? Weil sie unter
falschen Voraussetzungen - man kann fast sagen: mit
ein bißchen Täuschung - beschlossen wurde.
Ich weiß noch, wie ich im März hier stand
({3})
- stimmt, nicht hier, in Bonn - und darauf hinwies, daß
Arbeitslose und Rentner die Ökosteuer voll zu zahlen
hätten. Daraufhin trat ein Minister an das Pult und sagte,
das sei nicht wahr, und zwar aus folgendem Grund nicht
wahr: Weil die Einnahmen verwendet würden, um die
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu senken, entstünde eine Erhöhung der Nettolöhne. Davon
hätten die Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeitslosen ein Jahr später durch die Nettolohnanpassung etwas. Die Ökosteuer wurde ausdrücklich damit begründet, daß es dann - wenn auch mit einjähriger Verzögerung - zumindest teilweise eine Entlastung gäbe. Unter
diesen Bedingungen hat der Bundestag die Ökosteuer
beschlossen. Wenn dann einen Monat später gesagt
wird, man lasse die Rentenanpassung an die Nettolohnsteigerung ausfallen, müßte dieser Bundestag eigentlich
sagen: Wir sind damals getäuscht worden. Das lassen
wir uns nicht bieten. Wir heben die Ökosteuer wieder
auf. - Das wäre die Konsequenz.
({4})
Oder man hätte es damals wenigstens gleich ehrlich sagen müssen. Das haben Sie aber nicht getan.
Wissen Sie, was eine strukturelle Rentenreform
wäre? Das wäre, wenn wir über zwei Dinge nachdenken
würden. Erstens. Kann es dabei bleiben, daß Unternehmen die zweite Hälfte der Beiträge - ich sage es vereinfacht - als feste Größe, unabhängig von ihrer Produktivität, unabhängig von ihrer Wertschöpfung für ihre Beschäftigten in die Versicherungssysteme einzahlen, als
eine Größe, die belastet und dazu führt, daß nicht gern
eingestellt wird, und die im übrigen dazu führt, daß bei
Entlassungen immer eine doppelte Belohnung stattfindet, indem man bei Entlassungen nicht nur den Lohn,
sondern auch die Beiträge spart, die man für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzuzahlen hat?
Deshalb wäre es viel sinnvoller, einmal eine richtige
Reform zu machen und zu sagen: Unternehmen zahlen
künftig einen bestimmten Prozentsatz nach ihrer Wertschöpfung in die Versicherungssysteme ein: Geht diese
hoch, zahlen sie mehr, geht sie herunter, zahlen sie weniger, unterschreitet sie eine bestimmte Grenze, zahlen
sie gar nichts. Das wäre höchst flexibel und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit angepaßt. Wir hätten
mehr in den Kassen, und es wäre gerechter, weil ein arbeitskräfteintensives Unternehmen nicht mehr so bestraft würde wie heute, aber ein Hochtechnologieunternehmen entsprechend seiner Leistungsfähigkeit herangezogen werden könnte.
({5})
Wir müßten uns noch einen zweiten Gedanken machen: Da nun einmal die Zahl der Lohnabhängigen im
Vergleich zu den Menschen, die auf andere Art Einkommen beziehen, sinkt, ist es auf Dauer vielleicht nicht
richtig, daß nur die Lohnabhängigen Beiträge in die
Versicherungssysteme zahlen. Wir müssen uns einfach
Gedanken darüber machen, wie auch Bezieher anderer
Einkommen herangezogen werden könnten. Dann hätten
wir keine Probleme. Dann müßte hier niemand über
Nettolohnanpassung oder, besser gesagt, über deren
Ausfall diskutieren. Dann könnte es dabei bleiben. Dann
brauchten wir im übrigen auch keine Rentenniveausenkung.
({6})
Die Grünen machen wirklich eine extrem altenfeindliche Politik.
({7})
- Entschuldigen Sie. Sie haben ein Papier vorgelegt,
nach dem die Nettolohnanpassung für immer ausfallen
soll. Dann wollen Sie gleich noch das Rentenniveau um
5 Prozent senken. Aber was ich Ihnen dabei so übel
nehme, ist, daß Sie dabei immer von Generationengerechtigkeit reden, daß Sie so tun, als ob das eine Politik
für die Jugend und eine Politik für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sei. Deshalb dazu von mir drei Bemerkungen.
Erstens. Ich glaube im Unterschied zu Ihnen nicht,
daß sich die Jugend wohlfühlt, wenn man ihr erklärt, es
soll ihr zu Lasten der Arbeitslosen, der Rentnerinnen
und Rentner etwas besser gehen.
({8})
Das mag Ihre Einstellung sein, aber so denkt die Jugend
in dieser Gesellschaft in Wirklichkeit nicht. Sie versuchen eine Entsolidarisierung, die nicht hinzunehmen ist.
({9})
Zweitens. Was verschweigen Sie dabei? Nehmen wir
einmal ein konkretes Beispiel eines Arbeitnehmers, den
Sie angeblich entlasten wollen. Sie verschweigen natürlich zwei Dinge, nämlich erstens, daß auch die Unternehmen Beiträge zahlen. Aber wie wirkte es, Herr Bundesfinanzminister, wenn der Kanzler in einen Brief an
eine Rentnerin nicht hineinschriebe: Bitte haben Sie
Verständnis, daß wir die Beiträge der nächsten Generation nicht so hoch schrauben wollen. Denken Sie an Ihre
Kinder und Enkelkinder. Deshalb werden Sie das Ganze
verstehen. - Die Arbeitslosen sollen das auch noch verstehen. Wenn er vielmehr schriebe: „Bitte haben Sie
doch Verständnis dafür: Das Unternehmen DaimlerChrysler zahlt seit vier Jahren keine Ertragsteuer, und
wir wollen ihm jetzt nicht auch noch höhere Beiträge
zumuten“, wäre das natürlich etwas unangenehmer. Das
schreibt sich nicht so gut in einem Brief. Also lassen Sie
die zweite Seite der Zahler in Ihren Briefen völlig aus.
Drittens. Eines sagen Sie natürlich überhaupt nicht.
Angenommen, wir hätten in den nächsten Jahren für die
Durchschnittsrente bei Dynamisierung immer einen Anstieg um 10 DM, dann wären das nach zehn Jahren
100 DM. Für den Arbeitnehmer, der in zehn Jahren in
Rente geht, heißt das: Beginnt er mit 100 DM mehr,
falls er die Durchschnittsrente bekommt, oder mit 100
DM weniger? Sie kürzen doch nicht nur die Renten der
heutigen Rentnerinnen und Rentner, sondern aller künftigen Rentnerinnen und Rentner. Das verschweigen Sie
jedesmal.
({10})
Auch für die 20jährige, die heute Beiträge zahlt, steht
fest: Wenn die Dynamisierung ausfällt, hat sie in 40
oder 45 Jahren eine geringere Rente als im Falle einer
Dynamisierung. Diese Tatsache verschweigen Sie regelmäßig. Sie schaffen eine Entsolidarisierung, die
schon aus moralischen Gründen nicht geht, die aber
auch faktisch falsch ist.
({11})
Wenn man über ein Konsolidierungspaket spricht,
dann muß man selbstverständlich auch über Einnahmen
und Ausgaben reden. Ich kann das hier nur stichwortartig tun.
Herr Solms, Sie haben schon wieder tapfer gegen die
Vermögensteuer polemisiert. Sie haben dabei auf die
USA und auf das Ruderboot verwiesen. Ich möchte Ihnen dazu einmal sagen: Wenn wir eine USamerikanische Vermögensteuer in Deutschland hätten,
gäbe es bei uns jährliche Mehreinnahmen in Höhe von
30 bis 40 Milliarden DM. Ihr ganzes Problem, Herr
Bundesfinanzminister Eichel, wäre mit einem Schlag
gelöst. Man wird doch als demokratischer Sozialist in
diesem Hause noch eine US-amerikanische Vermögensteuer vorschlagen dürfen! Weiter gehen wir doch
gar nicht. Das wird doch noch erlaubt sein!
({12})
Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Gysi, ich glaube, ich habe deutlich gemacht - ich weiß
nicht, ob Sie das verstanden haben - , daß man, wenn
man von einer zusätzlichen Vermögensteuer oder Vermögensabgabe spricht, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen in einer globalisierten Welt beachten muß
und man deswegen aufpassen muß, daß es nicht mehr
schadet als nutzt.
Einverstanden, Herr Solms.
Nur, da alle Industriestaaten mit Ausnahme von
Deutschland und den Niederlanden eine Vermögensteuer haben, kann in diesem Falle das Standortargument
einfach nicht zählen. Wir würden nur etwas tun, was
auch alle anderen Industriestaaten machen.
Übrigens, Grüne und SPD haben es schwer kritisiert,
als Sie die Vermögensteuer abgeschafft haben. Nur,
seitdem Herr Schröder Bundeskanzler ist, will er davon
nichts hören, obwohl es in der Koalitionsvereinbarung
steht, obwohl es in beiden Wahlprogrammen steht. Das
macht eben die Unglaubwürdigkeit aus.
({0})
Natürlich haben wir eine soziale Schieflage, und zwar
eine extreme.
Ich will Ihnen auch etwas zu den Unternehmensteuern sagen. Ich nenne nur eine Zahl, die Ihnen, glaube
ich, nicht bekannt ist: Hätten wir noch die Sätze von
1980, hätten wir eine jährliche Mehreinnahme in Höhe
von 100 Milliarden DM. Das ist mehr als dreimal soviel,
wie Bundesfinanzminister Eichel sparen will - mehr als
dreimal soviel!
({1})
- Moment! Natürlich, wir haben jetzt andere Bedingungen; ich will die alten auch nicht wiederhaben. Sie müssen schon zu Ende zuhören!
Mein Problem sind nicht die kleinen und mittelständischen Unternehmen; sie sind wirklich zu hoch besteuert. Mein Problem sind die Großen, die Banken, die
Versicherungen, die Konzerne, die sich aus der Finanzierung der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet
haben. Daimler-Chrysler zahlt bei Reingewinnen in
Höhe von 9, 10 oder 12 Milliarden DM - sie liegen immer in dieser Größenordnung - seit vier Jahren keine
Mark Ertragsteuer in Deutschland. Die Deutsche Bank
hat für das letzte Jahr einen Gewinn von über 60 Milliarden DM ausgewiesen. Da gehen Sie nicht heran.
Aber Sie kürzen Renten und behaupten, es gäbe keine,
aber auch gar keine Alternativen. Die gibt es selbstverständlich, auch bei der Einkommensteuer.
({2})
Sie erklären immer, das sei alles so sozial ausgeglichen und verweisen auf das Kindergeld. Beim Kindergeld erwähnen Sie aber nicht, daß die Erhöhung nur für
das erste und zweite Kind gilt. Ab dem dritten Kind gibt
es nicht mehr.
({3})
Ich frage mich immer, ob das Ansätze chinesischer Politik sind.
Das Zweite ist - Sie haben auf das Problem selber
immer hingewiesen -: Die Sozialhilfeempfängerin bekommt die 20 DM Erhöhung sofort wieder abgezogen;
sie hat netto nichts davon. Ich bekomme sie netto ausgezahlt; niemand nimmt mir die 20 Mark wieder weg. Das
sagt doch alles über die soziale Schieflage. Ist es denn
von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung wirklich zuviel verlangt, das Sozialhilfegesetz so
zu verändern, daß dieser Frau wenigstens die 20 DM
netto verbleiben und sie ihr nicht gleich wieder abgezogen werden?
({4})
Das war schon zum 1. Januar 1999 so, und das wird
auch zum 1. Januar 2000 wieder so sein. - Nein, das ist
nicht hinzunehmen.
Zum Eingangssteuersatz der Einkommensteuer
möchte ich kurz sagen: Es gibt Millionen, die davon
nichts haben, weil sie kein Einkommen beziehen, das sie
versteuern könnten: Rentnerinnen und Rentner, Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und all diejenigen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden. Trotzdem - das ist richtig -, auch wir würden den Eingangssteuersatz senken.
Sie verschweigen eine Tatsache, nämlich daß Sie dann,
wenn Sie den Eingangssteuersatz senken, nicht nur den
Wenig- und Normalverdienenden, sondern auch den
Besser- und Bestverdienenden helfen, also auch uns
allen hier im Hause; es gehört zur Ehrlichkeit dazu, so
etwas zu sagen.
({5})
- Herr Poß, eines räume ich ein: Ich könnte es auch
nicht anders machen, wenn ich die Verantwortung trüge.
({6})
- Nein, Sie müssen auch den zweiten Teil meiner Ausführungen hören. Gerade weil es so ist, nämlich daß ich
es nicht ändern könnte, werfe ich Ihnen vor, daß Sie
gleichzeitig auch den Spitzensteuersatz senken. Wir alle
sind doch schon durch die Senkung des Eingangssteuersatzes begünstigt. Deshalb müssen Sie nicht auch noch
den Spitzensteuersatz senken. Das werfe ich Ihnen vor.
({7})
Aber Sie machen es so und sagen dann, daß sie kein
Geld hätten und deshalb bei den Renten sowie dem Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe sparen müßten.
Das ist das eigentlich Unerträgliche.
({8})
Die geplante Reduzierung der Abschreibungsmöglichkeiten geht in Ordnung. Man kann hier über vieles
diskutieren. Aber die Besteuerung der Kapitallebensversicherungen ist und bleibt problematisch.
({9})
- Ich weiß, daß Sie sich immer aufregen, wenn ich darüber rede. Nur, Sie müssen doch auch einmal über Ihre
eigene Politik nachdenken. Sie sagen andauernd, daß die
Leute selbst Vorsorge betreiben sollten, weil sie später
nicht mehr die Renten erhalten, die ursprünglich geplant
waren. Aber im gleichen Atemzug sagen Sie, daß die
Lebensversicherungen besteuert werden müssen. Das ist
ein Widerspruch in sich. Man muß sich für eine Richtung in der Politik entscheiden. Ich kritisiere, daß Sie
das bisher nicht getan haben.
({10})
Zur Ökosteuer möchte ich nur noch so viel sagen:
Sie können das Benzin Jahr für Jahr immer teurer machen. Das kann man immer extremer betreiben. Wenn
Sie das tun, wäre es nur unter einer Bedingung nachvollziehbar,
({11})
nämlich dann, wenn Sie für einen öffentlichen Personennah- und Fernverkehr sorgten, der sich nicht rechnen
muß, der sicher ist, der bequem und extrem preisgünstig
ist. Durch Ihre Ökosteuer dagegen werden Bus und
Bahn immer teurer. Damit gibt es für die Leute keine
Alternative zum Auto. Wir beide, Herr Schwanhold,
können uns die 5 DM, die Sie irgendwann verlangen
werden, leisten. Aber die anderen Menschen müssen
dann zu Hause bleiben. Das ist nicht akzeptabel. Durch
Ihre Ökologiepolitik betreiben Sie soziale Ausgrenzung.
Wir wollen eine sozialverträgliche Ökologiepolitik. Sie
ist ganz wichtig, damit die Leute einen ökologischen
Umbau auch akzeptieren und ihn nicht immer als Verlust empfinden.
({12})
Sie leisten der Ökologie den schlechtesten aller Dienste,
wenn Sie Ihre gegenwärtigen Regelungen umsetzen.
Ihr Paket ist auch deshalb noch unehrlich, weil Sie
eine Kostengröße nie erwähnen. Die Finanzierung des
Krieges, der Stationierung deutscher Soldaten im Ausland und des Wiederaufbaus macht Ihre geplanten Erhöhungen notwendig. Nennen Sie doch wenigstens einmal
die Zahlen!
({13})
Herr Kollege Gysi,
ich möchte Sie nur darauf hinweisen, daß Sie die gesamte Redezeit Ihrer Fraktion aufgebraucht haben. Sie
haben sie sogar schon überschritten.
({0})
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Joachim Poß,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die heutige Debatte beweist, daß sich die
Koalition auf dem richtigen Weg befindet.
({0})
Sie hat ein Zukunftsprogramm. Hier im Parlament haben
wir nur Demagogie von links und von rechts erlebt, zuletzt Gysi von links und vorher Amigo-Glos und Solms
von rechts. Wir sind auf dem richtigen Weg.
({1})
Eine persönliche Bemerkung möchte ich noch machen: Herr Solms und ich mögen uns persönlich sehr.
Daß Sie sich mit der Steuerpolitik lange beschäftigt haben, hat zu dem Ergebnis geführt, daß das Steuerrecht in
Deutschland total verwüstet wurde, Herr Solms. Das ist
das tatsächliche Ergebnis.
({2})
Wir kennen die Beispiele aus dem Finanzausschuß: Policendarlehen - von wegen Kapitallebensversicherung -,
Schulgeld und andere Themen. Herr Solms, treten Sie
hier nicht so auf, wie Sie es tun! Sie müßten sich nach
dem, was Sie angerichtet haben, eher aus der Politik zurückziehen, als solche Reden wie heute morgen zu halten.
({3})
Zur Globalisierung. Herr Gysi, Sie sollten hier nicht
Wahlkampf für Thüringen und andere Länder machen,
sondern sich statt dessen das internationale Unternehmensteuerrecht anschauen. Dort gibt es eine stärkere
Trennung zwischen Privat- und Betriebssphäre als in
Deutschland. Wir vollziehen diese Entwicklung nach.
Wir machen unser Unternehmensteuerrecht europafähig.
Das haben Sie, meine Damen und Herren von der alten
Koalition, doch nicht zustande gebracht. Das muß man
hier festhalten. Sie haben doch kein Konzept vorgelegt.
({4})
Ich möchte auch noch etwas zur Gerechtigkeitslücke
sagen, obwohl der Oberdemagoge, Herr Gysi, nicht
mehr da ist. Was haben wir nicht alles für die Arbeitnehmer und die Familien in den letzten zehn Monaten
zuwege gebracht, um die Arbeitnehmerrechte wieder zu
verbessern und die Fehlentwicklungen aus der Vergangenheit zu korrigieren! Wir haben die Trendwende für
Millionen von Arbeitnehmern und Familien in zehn
Monaten zustande gebracht, nicht Sie. Sie haben vorher
nur für Belastungen gesorgt. Das sind die Fakten.
({5})
Diese Koalition kann auf ihre Leistungsbilanz stolz
sein, auch wenn ich zugeben muß, daß nicht alle Mitglieder dieser Koalition das schon richtig verstanden haben. Wenn das so wäre, dann hätten wir nicht die Debatten, die wir gelegentlich erleben. Das muß man ehrlicherweise zugeben.
({6})
CDU/CSU und F.D.P. haben seit Jahren über Steuersenkungen geredet und das Gegenteil getan. Zwischen
Anspruch und Wirklichkeit klaffen Welten. Sie haben
die Steuerzahler Jahr für Jahr mit Milliarden und Abermilliarden DM zusätzlich belastet. Den Soli haben Sie
für die Jahre 1991 und 1992 eingeführt und ihn dann
wieder abgeschafft - zickzack, von wegen Stetigkeit in
der Steuerpolitik -: je 11 Milliarden DM. Erhöhung der
Mineralölsteuer 1991 und 1994: 25 Milliarden DM. Erhöhung der Tabaksteuer - damit kann man einverstanDr. Gregor Gysi
den sein -: 2 Milliarden DM. Erhöhte Mehrwertsteuer
auf Grund höherer Mineralölsteuer und Tabaksteuer:
3 Milliarden DM. Ich erinnere auch an die Versicherungsteuer. Soll ich Ihnen all das vorlesen, was Sie an
Steuerbelastungen in der Bundesrepublik Deutschland
auf dem Buckel haben? Stellen Sie sich doch hier nicht
hin, und tun Sie nicht so, als wäre das nicht die Realität,
die Sie geschaffen haben!
({7})
Wir haben die schwierige Aufgabe, Ihre Hinterlassenschaft aus 16 Jahren schrittweise zu korrigieren. Das
ist die Doppeloperation, die wir vornehmen. Wir begrenzen die Staatsverschuldung. Wir führen aus dem
Schuldenstaat heraus, und wir entlasten diejenigen, die
von Ihnen systematisch belastet wurden; das können wir
mit Zahlen belegen. Das ist unsere Politik.
({8})
Wenn Sie das akzeptieren, dann können wir darüber
sprechen, ob wir noch eine Gerechtigkeitslücke haben.
Wir haben eine Koalitionsvereinbarung für vier Jahre.
Auch in unseren Reihen verläuft die Diskussion etwas
ungeordnet. Das gebe ich zu. Ich hoffe, daß wir die Diskussion ordnen können. Aber natürlich muß man über
Vermögensbesteuerung im internationalen Zusammenhang reden können. Herr Gysi hat in diesem Punkt ausnahmsweise recht. Übrigens, in den Niederlanden wird
jetzt eine neue Vermögensbesteuerung diskutiert. Es
muß doch möglich sein, tabufrei über solche Dinge zu
reden.
Man muß hinzufügen: Wir haben eine relativ niedrige
Gewinnbesteuerung. Man muß alles berücksichtigen,
damit wir endlich aus dieser verdammten ideologischen
Diskussion über die richtige Steuerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland herauskommen. Wir sollten die
Sache in den Vordergrund stellen. Ich bin ganz zuversichtlich, daß uns das gelingt.
({9})
Es ist schon ein Problem, daß die Wählerinnen und
Wähler offenbar ein kurzes Gedächtnis haben - ich mache keine Beschimpfungen - und schon verdrängt haben, was CDU/CSU und F.D.P. uns hinterlassen haben.
Wir müssen mit dieser Hinterlassenschaft fertig werden.
Herr Glos, stellen Sie sich einmal vor, Ihre Koalition
wäre am 27. September 1998 bestätigt worden. Wie
wäre das Drehbuch für die anschließende Koalitionsvereinbarung gewesen? Es hätte ein „Drehbuch Protzner/
Uldall“ gegeben. Protzner hat etwas mit Ihnen zu tun. Er
war einmal Generalsekretär in der F.D.P.
({10})
- Entschuldigung, in der CSU.
({11})
Wir sollten nicht so kleinlich sein, auch die F.D.P. hatte
keine besseren Generalsekretäre.
Durch die Arbeitslosenversicherung sollte die Arbeitslosigkeit nicht länger subventioniert werden. So
sollten Arbeitslose im ersten Monat ohne Job keine Leistungen mehr erhalten und diese Zeit durch den Rückgriff auf Reserven überbrücken. Die Arbeitslosen haben
sehr wahrscheinlich viele Reserven. In der Krankenversicherung sollten alle Leistungen begrenzt werden, die
über das notwendige Maß hinausgehen. So sollten die
Zuzahlungen für Medikamente erhöht werden. Jeder
sollte zudem, wie bei einer Teilkaskoversicherung für
Autos, einen jährlichen Selbstbehalt von 300 DM übernehmen. - Wir haben die Medikamentenzuzahlung abgesenkt. Darin liegt der Unterschied zwischen dem, was
wir machen, und dem, was bei Ihnen gedroht hätte. Ich
könnte die Reihe der Punkte, die in diesem fulminanten
Papier von Herrn Protzner und Herrn Uldall zu lesen
sind, fortsetzen.
({12})
Ich glaube, in Deutschland muß sich herumsprechen,
was Ihre Absicht ist. Mit Ihren polemischen Angriffen
vernebeln Sie ständig. Nichts anderes findet statt.
Wir sind mit den heute morgen zu diskutierenden Gesetzentwürfen auf dem richtigen Weg. Sie sind wesentlicher Bestandteil unserer Reformvorhaben. Die Koalition
und ihr Finanzminister Hans Eichel werden diese Finanz- und Steuerpolitik fortsetzen. Wir haben die
Trendwende in Gang gesetzt. Was bedeutet das in Zahlen?
Das Steuerentlastungsgesetz bedeutet eine
Lohnsteuerabsenkung von 7,9 Milliarden DM in diesem
Jahr. Im nächsten Jahr wird die Lohnsteuerabsenkung
bei 18,3 Milliarden DM liegen. Im Jahre 2001 wird die
Lohnsteuerabsenkung bei 20,4 Milliarden DM liegen.
Im Jahre 2002 liegt die Absenkung dann insgesamt bei
46 Milliarden DM. Das heißt, bis zum Jahre 2002 wird
die Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer um 14 Prozent gegenüber dem bisher geltenden Steuerrecht reduziert. Das ist fast ein Sechstel des Aufkommens. Das,
was wir realisieren, ist doch wohl ein Wort!
({13})
Die große Masse der Bürgerinnen und Bürger wird das
bei ihren Nettobezügen in den nächsten Jahren spüren.
Die Familien mit Kindern merken es schon heute. Die
breite Masse der Arbeitnehmer und Familien - ich wiederhole es - ist der große Gewinner unserer Politik.
Sie haben dem Publikum vorgelogen, Sie wollten die
deutsche Einheit aus der Portokasse bezahlen. Haben Sie
das vergessen? Kennen Sie nicht mehr Ihre Anzeige
vom November 1990? Es hat auch zu Ihrem Wahlerfolg
beigetragen, daß Sie systematisch getäuscht haben.
({14})
Das hat doch zum Politikverdruß in Deutschland beigetragen. Wir machen das nicht, bleiben bei allem GegenJoachim Poß
wind unbeirrt bei einer Politik der Wahrhaftigkeit und
vertreten sie auch.
({15})
Bei Ihnen wurden immer mehr Bezieher kleiner und
mittlerer Einkommen höher belastet. Sie haben doch zugelassen, daß Steuerkünstler und Spitzenverdiener sich
trotz hoher und höchster Einkommen armrechnen durften und das Finanzamt leer ausging. Diese Ihre Erbschaft, meine Damen und Herren, hat sich aber noch
nicht richtig herumgesprochen. Wir haben mit dem
Steuerentlastungsgesetz einen Schritt genau in die andere Richtung gemacht. Die Zahlen zeigen es ja schon:
Das Steueraufkommen aus der veranlagten Einkommensteuer steigt, weil wir Schlupflöcher geschlossen
haben. Wir haben das gemacht, was Sie nicht gemacht
haben.
({16})
Wir werden diese Politik der sozialen Gerechtigkeit
auch fortsetzen. In dieser Situation sagen wir, daß alle
gesellschaftlichen Gruppen Opfer bringen müssen. Vor
dem Hintergrund der Umsetzung einer sozial gerechten
Politik muten wir allen Gruppen etwas zu und beziehen
dabei zugegebenermaßen auch die Rentner und Arbeitslosen mit ein. Was wäre denn Ihre Alternative gewesen? Im Zusammenhang mit der Aufstellung des
Haushaltes 2000 und der Festlegung der mittelfristigen
Finanzplanung hätten Sie, wenn Sie ehrliche Politik
betreiben würden - es wußte doch jeder, daß da die
Stunde der Wahrheit kommt -, Farbe bekennen müssen.
Das war klar, unabhängig vom Wechsel des Finanzministers. Wir haben mit unserem Zukunftsprogramm die
richtige Antwort gegeben.
({17})
Hätten Sie eine Alternative dazu gehabt? Jeder seriöse Mensch, der sich ein wenig mit Finanz-, Steuer- und
Haushaltspolitik auskennt, weiß doch, daß die konservativen Zeitungen diesen Kurs unterstützen. Das kann
Ihnen nicht passen, wo ist denn die Alternative? Treten
Sie doch einmal vor, und nennen Sie eine! Ich jedenfalls
kenne keine.
({18})
Wir sind auf dem richtigen Kurs, um die Gestaltungsfähigkeit der Politik wiederzugewinnen.
Die nicht gerechtfertigte steuerliche Begünstigung
von Lebensversicherungen, soweit sie als reine Kapitalanlage abgeschlossen werden, wird beseitigt. Damit
werden reine Kapitalanlagen, die aus steuerlichen Gründen mit dem Mantel einer Lebensversicherung verhüllt
werden, anderen Geldanlageformen gleichgestellt nicht mehr und nicht weniger.
({19})
Im übrigen - ich wiederhole mich auch dabei - hatte die
abgewählte Regierung eine ähnliche Regelung vorgesehen. Sie hätte aber außerdem noch den Bestand besteuert, was wir nicht machen. Wir wahren den Vertrauensschutz. Das ist der Fall.
({20})
Wenn man sich anhört, wie Sie hier über das Familienförderungsgesetz reden, kommen einem ja die Tränen.
({21})
- Nein. - Herr Waigel wollte aber damals, als die Neuregelung auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes anstand, das Kindergeld für das zweite Kind
um 20 DM erhöhen. Gemeinsam mit der Mehrheit der
Länder haben wir im Bundesrat einen großen Schritt
vollzogen und das Kindergeld auf 250 DM angehoben.
Wir setzen diese Politik unverändert fort. Wir brauchten
die Ermahnung des Bundesverfassungsgerichts gar
nicht, die dann gekommen ist, weil wir schon auf dem
richtigen Weg waren.
({22})
Wie haben Sie denn im letzten Herbst diskutiert? Sie
waren doch gegen die Anhebung um 30 DM, weil das
keine Arbeitsplätze schaffe.
Mich würde einmal interessieren - das hat keiner von
Ihnen gesagt -, wie Sie sich zu den einzelnen Gesetzen
verhalten.
({23})
Das ist eine spannende Frage. Werden Sie dem Familienförderungsgesetz zustimmen? Die Ökosteuer - so habe ich das verstanden - werden Sie wohl ablehnen, weil
Sie da den reinen Populismus fortsetzen. Aber warten
wir doch einmal ab, wie Sie sich beim Steuerbereinigungsgesetz verhalten. Ich verspreche Ihnen nur folgendes: Intellektuell werden wir es Ihnen nicht einfach machen, Ihren Zickzackkurs vor der Öffentlichkeit zu verschleiern.
({24})
Das Kindergeld wird zum 1. Januar um weitere 20
DM auf 270 DM für die ersten beiden Kinder angehoben. Was ist das denn? Der steuerliche Freibetrag wird
auf knapp 10 000 DM erhöht. Eine Familie mit zwei
Kindern hat ab dem Jahre 2000 ein steuerfreies Einkommen von knapp 50 000 DM. Von einer solchen
steuerlichen Entlastung, die wir hier realisieren, konnten
Familien unter der Regierung Kohl nur träumen.
({25})
Im nächsten Akt werden wir uns mit der zweiten Stufe des Familienförderungsgesetzes beschäftigen und die
Familien weiter entlasten, möglicherweise auch gerechJoachim Poß
ter durch einen Systemwechsel, den der Kollege Müller
hier erwähnt hat. Darüber besteht zwischen beiden
Fraktionen Übereinstimmung. Denn wir wollen insbesondere den Familien mit kleinen und mittleren Einkommen helfen, die finanziellen Lasten der Kindererziehung besser tragen zu können.
Wir werden ebenso die Regelungen bezüglich der
Sozialhilfeempfänger noch einmal prüfen. Auch hier
gilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.
({26})
- Wissen Sie, wir haben mit zwei Dingen zu tun. Die
einen fragen: Was habt ihr bisher denn eigentlich schon
zuwege gebracht? Und die anderen sagen: Ihr habt euch
da verhaspelt. Da muß man sich schon für eine Linie
entscheiden. Wir haben viel angepackt und mußten viel
anpacken, weil wir Ihre Erbschaft hatten. Das ist die
Wahrheit in der Bundesrepbulik Deutschland.
({27})
Wenn Sie dann mit dem Thema Rente kommen, kann
ich nur sagen: Ich verstehe ja den Ärger von Rentnerinnen und Rentnern. Aber es ist eine verlogene Kampagne, die die Union sich erlaubt, wenn man weiß, daß bei
Helmut Kohl die Rentensteigerungsrate in 16 Jahren
achtmal unterhalb der Preissteigerungsrate lag.
({28})
Sie haben überhaupt kein Recht, eine solche Debatte zu
führen.
Da bin ich, genau wie bei der Frage der Vermögensbesteuerung, dafür, daß wir hier eine ehrliche Debatte,
einen ehrlichen Diskurs führen. Natürlich muß und kann
man über Rentenkonzepte kontrovers diskutieren, sowohl innerhalb von Parteien als auch zwischen Parteien.
Aber lassen Sie uns diese Diskussion um der Zukunft
unserer Gesellschaft willen, unserer Kinder wegen, um
das einmal etwas pathetisch zu sagen, nicht auf dem Niveau führen, auf dem Sie diese Debatte führen. So werden Sie unserem Zukunftsprogramm und unserem Ansatz in keinster Weise gerecht. Ein bißchen bessere
Gegner hätten wir heute morgen schon erwartet.
({29})
Herr Kollege Poß, ich
weiß, Sie sind ein leidenschaftlicher und temperamentvoller Redner. Ich möchte aber doch die Empfehlung aussprechen, daß Sie mit Titulierungen wie „Demagoge“
oder „Oberdemagoge“ sehr vorsichtig umgehen.
({0})
Damit erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Rauen,
CDU/CSU-Fraktion.
Herrn Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Poß, wenn Sie
glauben, auf dem richtigen Wege zu sein, dann muß Ihre
Wahrnehmung schon stark getrübt sein.
({0})
Die Steuerdiskussion ist doch in der Tat chaotisch. Ich
habe niemals vorher erlebt, daß in der Wirtschaft, bei
Handwerkern und Selbständigen die Irritation, die Ratlosigkeit und der Vertrauensverlust bezüglich der politischen Rahmendaten so groß gewesen wären wie zum
heutigen Zeitpunkt.
Ich bleibe einmal bei dem, was heute vorgelegt wird.
Die Wirtschaftsverbände und die Steuerberaterkammern
haben in das heute vorgelegte Steuerbereinigungsgesetz teilweise große Hoffnungen gesetzt. Diese werden
mit der heutigen Vorlage allesamt enttäuscht. Sie nehmen lediglich die Abzugsbesteuerung bei ausländischen
Werkvertragsunternehmen zurück, womit Sie sich ohnehin international blamiert hatten. Ferner hat offenbar der
Druck aus der Industrie gereicht, um das Betriebsausgabenabzugsverbot für steuerfreie ausländische Schachteldividenden zu reduzieren. Letztendlich wollen Sie bei
den lang laufenden kapitalbildenden Lebensversicherungen Kasse machen, indem Sie diese besteuern, ohne
daß Sie dabei auch nur im Ansatz eine Antwort auf die
strukturellen Probleme der Rentenversicherung geben
würden. Alle unzumutbaren Belastungen für kleine und
mittlere Betriebe, die sich jetzt bei der Umsetzung des
Steuerentlastungsgesetzes ergeben, haben Sie nicht angepackt und nicht zurückgenommen, trotz teilweise gravierender Fehler. Ich komme darauf an Hand von zwei
Beispielen zurück.
Es bleibt dabei: Dieses sogenannte Steuerentlastungsgesetz ist und bleibt ein Belastungsgesetz für den
Mittelstand.
({1})
Durch die Änderung der Gewinnermittlungsvorschriften
kassiert diese Regierung bei den kleinen und mittleren
Betrieben auf brutalste Weise ab. Sie entlastet nicht, wie
versprochen, sondern sie belastet genau diejenigen, die
in den vergangenen Jahren nachweisbar zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen haben.
Bei dem ganzen Chaos, das Sie seit Monaten anrichten - auch durch die widersprüchlichen Äußerungen innerhalb Ihrer eigenen Reihen -, fällt mir ohnehin auf,
daß Sie kaum mehr von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sprechen. Ihre vollmundigen Versprechungen, alles zu tun, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren,
spielen zwischenzeitlich offenbar keine Rolle mehr.
Bundeskanzler Schröder hat bei seinem Amtsantritt in
der Regierungserklärung gesagt, daß er genau daran geJoachim Paß
messen werden wolle. Herr Bundeskanzler - er ist jetzt
nicht da, aber ich nehme an, es wird ihm übermittelt -, Ihre
Zwischenbilanz ist verheerend. Seit Ihrem Amtsantritt im
Oktober 1998 ist die Zahl der Arbeitslosen um 135 000 auf
mehr als 4 Millionen gestiegen. Das Ganze muß ja vor dem
Hintergrund gesehen werden, daß die Arbeitslosigkeit 1998
im Jahresdurchschnitt noch um 400 000 gegenüber 1997
zurückgegangen war. Das aber war noch der Erfolg der
alten Regierung unter Bundeskanzler Dr. Kohl.
({2})
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in
Berlin nennt 1999 zu Recht ein verlorenes Jahr für die
Arbeitslosen. Das Ganze ist aus meiner Sicht aber noch
viel schlimmer - Kollege Solms hat es eben kurz angesprochen -: Die Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Institute hat am 27. April 1999
in ihrem „Bericht zur Lage der Weltwirtschaft und der
deutschen Wirtschaft“ ausgeführt - ich zitiere -:
Für dieses und das nächste Jahr wird mit einer Abnahme des Erwerbspersonenpotentials um fast eine
halbe Million Personen gerechnet ({3}).
({4})
Wenn das nur annähernd stimmt - daran habe ich
überhaupt keine Zweifel -, erhebt sich die Frage, wie es
mit der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland aussieht. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Rückgang des Erwerbspersonenpotentials lassen darauf schließen, daß wir in
Deutschland seit dem Amtsantritt von Schröder 350 000
Beschäftigte weniger haben.
({5})
Ich wollte gestern dieser Frage exakt nachgehen und
habe dabei eine erschreckende Feststellung gemacht. Da
ich seit Jahren die Arbeitslosen- und Beschäftigtenzahlen monatlich verfolge, habe ich meinen Mitarbeiter gebeten, diese Zahlen, die bis Dezember 1998 bzw. Oktober 1998 vorlagen, durch Rückfragen beim Arbeitsministerium zu vervollständigen. Die Bemühungen waren
erfolglos; das Ganze war äußerst enttäuschend und frustrierend. Ich darf Ihnen die Aktennotiz meines Mitarbeiters vorlesen. Er schreibt:
Auf meine Bitte, mir die monatlichen Zahlen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ab November 1998 zu nennen, teilte mir Herr Ministerialrat
Lepper mit, daß es auf Grund neuer Methoden bei
der Datenerfassung und eines differenzierteren Meldeverfahrens seit Jahresbeginn keine Zahlen über die
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gibt.
({6})
Die Pressestelle der Bundesanstalt für Arbeit bestätigte diesen Sachverhalt und ergänzte, daß der Präsident, Herr Jagoda, monatlich bei der Bekanntgabe
der Arbeitslosenzahlen diesen Mißstand anprangere, da es sich bei den Beschäftigtenzahlen um
einen volkswirtschaftlich äußerst relevanten Parameter handele.
Meine Damen und Herren, ich habe vermutet, daß
das, was ich da hörte, nicht wahr sein kann,
({7})
da die „Wirtschaftswoche“ jeden Monat die „SchröderUhr“ veröffentlicht. Mein Anruf bei einem maßgeblichen Journalisten der „Wirtschaftswoche“ hat dann ergeben, daß auch diese Zeitschrift seit Monaten keine
aktuellen Zahlen mehr über die Beschäftigten bekommt
und sie bei dieser „Schröder-Uhr“ folglich alte Zahlen
einstellen muß.
Ich habe dann vergeblich versucht, Herrn Jagoda zu
erreichen. Sein Mitarbeiter Herr Hönig hat diese Angaben jedoch meinem Mitarbeiter gegenüber bestätigt und
mir das Statement von Herrn Jagoda zur Pressekonferenz vor ein paar Tagen zu den Arbeitsmarktzahlen von
August 1999 zukommen lassen. Dort heißt es im zweiten Absatz:
Nach wie vor fehlen aktuelle Daten zur Erwerbstätigkeit, weil es wegen der Neugestaltung des Meldeverfahrens zur Sozialversicherung vorübergehend zu
Problemen gekommen ist. Jedoch sprechen die Daten zur Personalentwicklung in einzelnen Bereichen
- besonders Industrie, Bauwirtschaft und Handwerk -, aber auch die Veränderungen der Arbeitslosigkeit dafür, daß die Zahl der Erwerbstätigen im
bisherigen Jahresverlauf nicht weiter gewachsen ist.
Meine Damen und Herren, der Präsident drückt sich sehr
zurückhaltend aus.
Diese Regierung quetscht nicht nur den Mittelstand
und die Bauern aus, sorgt nicht nur für Chaos in der
Steuer- und Finanzpolitik, vernichtet nicht nur Arbeitsplätze und Existenzen, nein, sie fängt jetzt auch an zu
tricksen und zu manipulieren.
({8})
Ich halte es für einen Skandal, daß den Parlamentariern und der Öffentlichkeit solch wichtige volkswirtschaftliche Daten wie die Beschäftigtenzahlen vorenthalten werden. Der kleinste Handwerksbetrieb in
Deutschland kann es sich nicht leisten, 10 Monate lang
nicht zu wissen, woran er ist, nur weil er seine Datenerfassung auf Computer umgestellt hat. Das kann sich kein
solider Betrieb leisten, aber von Solidität kann bei dieser
Bundesregierung offenbar keine Rede mehr sein.
({9})
Es muß - ich sage das noch einmal - angenommen
werden, daß unter der Regierung Schröder die Zahl der
ordentlich Beschäftigten in Deutschland um 350 000 zurückgegangen ist. Ich habe es oft in Bonn gesagt, und
ich sage es hier wieder: Herr Bundeskanzler, Herr Eichel, wer wie Sie in Deutschland eine Politik gegen den
Mittelstand und gegen die kleinen und mittleren Betriebe betreibt, wird niemals eine Wende auf dem Arbeitsmarkt herbeiführen können!
({10})
Der Unfug mit der Fortführung der Ökosteuerreform
und das völlig unzulängliche Steuerbereinigungsgesetz
werden diese negative Entwicklung nur noch beschleunigen. Wissen Sie eigentlich noch exakt, was Sie tun?
Haben Sie überhaupt ein Stückchen Ahnung von der
Praxis?
({11})
Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. In meiner
Nachbarschaft hat der 68jährige Besitzer sein Hotelrestaurant, das er mit seiner Frau und seiner Tochter betrieben hat, verkauft, weil die Tochter nicht mehr weitermachen wollte. Er hat bei dem Verkauf einen Erlös in
Höhe von 1,8 Millionen DM gehabt. Bei einem Buchwert des veräußerten Anlagevermögens in Höhe von
400 000 DM betrug der Veräußerungsgewinn
1,4 Millionen DM. Darauf muß er exakt 787 000 DM
Steuern zahlen. Es verbleiben dem Mann gerade noch
613 000 DM.
({12})
- Sie würden besser zuhören, als andere der Polemik zu
bezichtigen, Herr Poß.
({13})
Seine Verbindlichkeiten bei der Bank aus dem Hotelbau betrugen noch 600 000 DM. Es bleiben dem Mann
also 13 000 DM übrig. Sie haben diesem Mann mit Ihrer
vollen Besteuerung bei Betriebsveräußerungen die Altersversorgung kaputtgemacht. Ich will das sehr deutlich
sagen.
({14})
Sie haben alle Hinweise in den Wind geschlagen, dies
zurückzunehmen.
({15})
Mein zweites Beispiel: Durch die Abschaffung des
Mehrkontenmodells nach § 4 Abs. 4 a Einkommensteuergesetz - Herr Eichel, hören Sie bitte genau zu tritt ein Nebeneffekt ein, der mit dem Mehrkontenmodell überhaupt nichts zu tun hat. Wenn zum Beispiel
ein Handwerksmeister über das Kontokorrentkonto
eine Maschine für 100 000 DM finanziert, im gleichen
Jahr 80 000 DM für sich und seine Familie entnimmt,
damit sie leben können, und insgesamt 100 000 DM
Gewinn macht, kann er die Schuldzinsen, obwohl das
Kontokorrentkonto das ganze Jahr bei minus
100 000 DM stand, zukünftig nicht mehr als Betriebskosten absetzen.
Herr Eichel, das kommt einem Entnahmeverbot
gleich. Die Finanzierung aller betrieblichen Investitionen einschließlich aller Entnahmen und Einnahmen über
das Kontokorrentkonto ist die Regel bei den meisten
kleinen und mittleren Betrieben. Obwohl Sie, Herr Eichel, zigmal durch Briefe über diesen Unfug informiert
worden sind, ist nichts bei der Bereinigung geändert
worden. Durch diese unverständliche Regelung zum
Nachteil des Mittelstands werden Hunderttausende von
Selbständigen bei der nächsten Steuerprüfung erhebliche
Steuernachzahlungen bekommen.
Ich kann abschließend nur eines feststellen. Ich will
dieser Regierung keine Böswilligkeit unterstellen, aber
eines steht für mich fest: Ihr wißt nicht, was Ihr tut.
Schönen Dank.
({16})
Das Wort hat nun
der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir haben mit unserem Gesetzentwurf heute eine Verstetigung dessen vorgelegt, womit
wir im letzten Jahr angefangen haben: die ökologischsoziale Steuerreform.
({0})
Wir steigern damit nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit
und die Innovationsfreude unserer Wirtschaft, sondern
wir verbessern auch und gerade den Stand der Wirtschaft
im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften und leisten
einen Beitrag zu einem nachhaltigeren Wirtschaften.
({1})
Wir bemühen uns, die Frage des Klimaschutzes mit einem neuen Schub zu versehen.
Die ökologische Steuerreform ist kein Modell zum
Abkassieren, sondern das Angebot an Bürgerinnen und
Bürger sowie Unternehmen, legal Steuern zu sparen, indem durch umweltbewußtes Verhalten der Energieverbrauch eingeschränkt und damit der Schadstoffausstoß verringert wird.
({2})
Mit der Verstetigung, die wir heute vorlegen, korrigieren wir eine dramatische Fehlentwicklung, die Sie zu
verantworten haben.
({3})
Das Aufkommen aus Steuern und Abgaben, aufgegliedert nach verschiedenen Faktoren, lag in den 70er Jahren
und noch Ende der 80er Jahre, bezogen auf das Gesamtsteueraufkommen, deutlich unter 60 Prozent, nämlich bei 54 Prozent, das Steueraufkommen aus dem
Umweltbereich bei 7 Prozent. Als Sie die Regierung
verlassen haben, lag der Anteil, den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer durch Steuern und Sozialabgaben am
Gesamtsteueraufkommen zu erbringen hatten, inzwischen bei zwei Dritteln, bei 66 Prozent.
Die rotgrüne Koalition ist darangegangen, diese soziale Schieflage zu korrigieren. Zugleich leiteten Sie eine katastrophale ökologische Entwicklung ein. Als alle
von Ressourceneffizienz sowie davon sprachen, tatsächlich weniger Schadstoffe auszustoßen und weniger
Energie zu verbrauchen, ist als Ergebnis Ihrer Steuerpolitik folgendes übrig geblieben: Der Anteil des Aufkommens an Umweltabgaben ist auf knapp 5 Prozent
gesunken.
Wenn ich höre, daß die ökologische Steuerreform eine Steuererhöhung sei, dann sage ich ganz ruhig: Nein,
meine Damen und Herren, hier geht es nicht um mehr
Steuern, sondern um Umsteuern. Als Ergebnis dieses
Prozesses wird im Jahre 2003 die Steuerbelastung aus
dem Faktor Arbeit um 2 Prozentpunkte gesenkt und die
Steuerbelastung aus Abgaben aus dem Faktor Umwelt
wieder um 2 Prozentpunkte erhöht worden sein.
({4})
Zu einer ökologisch-sozialen Steuerreform gehört das möchte ich gleich im Zusammenhang mit den Äußerungen einiger Kollegen sagen - Stetigkeit. Man kauft
nicht an jedem Tag ein neues Auto oder einen neuen
Fernseher, Unternehmen investieren nicht an jedem Tag
neu. Es muß also ein Stück Berechenbarkeit bei Investitionen gegeben sein, und es muß klar sein, ob es sich
lohnt, beispielsweise bei der Neuanschaffung eines Pkw
auf ein verbrauchsärmeres, energieeffizienteres Modell
zu setzen, oder ob bei Investitionen in Betrieben Energiespartechniken bevorzugt eingeführt werden. Mit dem
jetzt vorgelegten Gesetzentwurf schaffen wir Berechenbarkeit für Unternehmen, aber auch und gerade Berechenbarkeit für private Konsumentinnen und Konsumenten.
({5})
Herr Glos hat vorhin gesagt, die 30 Pfennige seien
aber ein Skandal.
({6})
Mit Gregor Gysi hat er einen prominenten Fürsprecher;
„Seit' an Seit'“ könnten sie auch in der Autofahrerpartei
streiten.
({7})
Aber es gibt einen Unterschied zu Herrn Gysi, meine
Damen und Herren von der CSU: Herr Gysi hat da eine
saubere Weste, Sie nicht.
({8})
Sie haben 1987, 1988, 1989, 1991, 1992 und 1994 die
Mineralölsteuer erhöht, und zwar teilweise um Sätze
von jährlich 14 bis 22 Prozent. Der Unterschied zu dieser Koalition ist: Sie haben diese Einnahmen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht zurückgegeben, sondern sie für Ihre Haushaltssanierung mißbraucht.
({9})
Herr Kollege Trittin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Bulling-Schröter?
Bitte.
({0})
Herr Minister
Trittin, Sie haben über die Einsparpotentiale gesprochen.
Mich interessiert, wo Sie die Einsparpotentiale bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sehen. Wo sehen
Sie die Einsparpotentiale bei der Industrie, die momentan von der Ökosteuerbelastung weitgehend ausgenommen ist?
Meine liebe Kollegin,
Sie wissen als Umweltpolitikerin sehr genau: Für die
Beantwortung der Frage nach der Belastung durch
die Ökosteuer gibt es - aus diesem Grunde konnte
Kollege Müller die Frage der Kollegin Lenke nicht
mit der von ihm bekannten Präzision beantworten keine statistische Grundlage, weil die Belastung vom
subjektiven Verhalten des einzelnen abhängt. Wir geben den Menschen die Mündigkeit zurück, indem sie
selbst entscheiden können, in welcher Höhe die Steuer
sie trifft.
({0})
- Lachen Sie nicht! Ich kann Ihnen an einem ganz einfachen Beispiel vorführen, wie Sie Ihre Stromrechnung
unabhängig von der Liberalisierung auf diesem Markt
um 10 Prozent reduzieren können: Vermeiden Sie
Stand-by-Schaltung Ihrer Elektrogeräte, dadurch können
Sie 11 Prozent des Stromverbrauchs einsparen. Sie können mir nicht erzählen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
daß solch einfache Maßnahmen Arbeitslosen und anderen verwehrt sind.
Ich will noch eine zweite Argumentation aufgreifen.
Mir kommen immer die Tränen in die Augen, wenn ich
den geschätzten Fraktionsvorsitzenden Gysi über die
Höhe der Benzinpreise in diesem Land reden höre.
Wenn wir schon von Ehrlichkeit an dieser Stelle reden,
dann gehört das Erwähnen der Tatsache dazu, daß in der
Bundesrepublik Deutschland die Benzinpreise ein Niveau haben, das die niederländische Regierung dazu gebracht hat, Tankstellen in Grenznähe zu subventionieren, weil nämlich die Niederländer zum Tanken in die
Bundesrepublik Deutschland gefahren sind.
Mit dem Einstieg in eine ökologisch-soziale Steuerreform haben wir im europäischen Konzert einen Gleichklang erreicht. Ich will auf zwei Punkte eingehen, die bei
dieser ökologisch-sozialen Steuerreform für mich von
großer Bedeutung sind. Durch diese Steuerreform werden
wir bei der Einführung schwefelarmer Kraftstoffe in
Europa weit vor dem europäischen Durchschnitt liegen.
Wir werden nicht erst 2005, sondern bereits 2001- das
erlaubt die Konstruktion und Nutzung sehr verbrauchseffektiver Motoren - schadstoffarmes Benzin mit einem
Schwefelanteil von 50 ppm einführen. Wir werden einen
noch niedrigeren Wert, nämlich 10 ppm, bereits 2003 erBundesminister Jürgen Trittin
reichen. Wir können heute auf diese Weise Fahrzeuge auf
den Markt bringen, die zwischen 10 und 25 Prozent des
heutigen Verbrauchs einsparen. Schließlich sorgen wir
mit der ökologisch-sozialen Steuerreform für ein Stück
Wettbewerbsgleichheit auf dem Energiemarkt.
Ich kann nicht mit ansehen, daß auf einem liberalisierten Strommarkt das Rückgrat der Energieversorgung
der Zukunft, nämlich hocheffiziente Gas- und Dampfkraftwerke, im Vergleich zu anderen Energieträgern
durch die Besteuerung des Primärenergieeinsatzes benachteiligt wird. Die nun durchzuführende Steuerfreistellung von GuD-Kraftwerken, ähnlich der von KraftWärme-Kopplungsanlagen, sorgt hier für Wettbewerbsgerechtigkeit und -gleichheit.
({1})
Wettbewerbsgerechtigkeit und -gleichheit für diese
Energieversorgung brauchen wir dringend; denn wir
können nicht mit ansehen, wie moderne Kraft-WärmeKopplungsanlagen und moderne GuD-Kraftwerke teilweise nicht gebaut und teilweise sogar stillgelegt werden, weil sie mit abgeschriebenen Altanlagen, deren
Stillegungszeitpunkt - unabhängig von allen Debatten
um die Atomenergie - absehbar ist, nicht mehr konkurrieren können. Wer dieser Entwicklung tatenlos zusehen
würde, der würde in der Tat dann die Verantwortung dafür tragen, daß die Bundesrepublik Deutschland von
einem Land, in dem Energie nicht nur konsumiert und
gehandelt, sondern auch produziert wird, zu einem
reinen Stromhandelsland absinken würde. Dies kann
und darf nicht sein, und deswegen haben wir hier entsprechende Regelungen im Rahmen dieser ökologischsozialen Steuerreform vorgesehen.
({2})
Meine Damen und Herren, wenn ich mir die ersten
Debatten um die ökologisch-soziale Steuerreform auch
vor dem Hintergrund des Beitrages des Kollegen Solms
hier anhöre, dann muß ich doch ein gewisses Erstaunen
an den Tag legen.
({3})
- Meinen Glückwunsch! - Sie haben sich den „Stern“
offensichtlich zu Herzen genommen.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist ja prophezeit worden, daß die ökologisch-soziale Steuerreform Nachteile
bringen würde. Das Gegenteil ist richtig: Die ökologisch-soziale Steuerreform verbessert die Standortbedingungen, und das ist offensichtlich eine Lehre, die in
ganz Europa verstanden wird. Nicht nur in den skandinavischen Ländern, sondern auch in Großbritannien und
anderen Ländern wie Italien hat inzwischen die Lehre
um sich gegriffen: Wer Energie spart, schont die Umwelt; wer Energie spart, der spart dann auch Steuern.
Die Einnahmen aber können benutzt werden, um den
Faktor Arbeit zu verbilligen und so einen Schritt hin zu
mehr Beschäftigung zu tun.
({5})
Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Klaus Lippold.
({0})
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das
Ökosteuergesetz ist absolut untauglich. Herr Trittin weiß
das, und Herr Trittin hat deshalb so über die soziale Komponente gesprochen, falsch und unrichtig, weil er auf den
ökologischen Lenkungsansatz nicht eingegangen ist.
Er läßt wissenschaftliche Aufträge in diesem Bereich
vergeben und erhält durch die Gutachten bestätigt - das
ist eine schallende Ohrfeige -, wie untauglich seine Reform ist. Darauf aufbauend läßt er bereits die Reform
der Reform machen, nämlich ein neues Steuergesetz in
Planung, an das er anknüpfen will. Und dann stellt er
sich hier hin und spricht von Stetigkeit und spricht von
Berechenbarkeit!
Herr Eichel, es ist, ehrlich gesagt, eine schallende
Ohrfeige für Sie:
({0})
Sie dürfen das Ökosteuergesetz jetzt hier einbringen,
begründen, vertreten, und er denkt über eine neue Reform nach, läßt das wissenschaftlich begründen, und
dann sagt er hier nichts. Dann bringen Sie doch die Gesamtheit dessen, was Sie wissen, hier in die Diskussion
ein! Dazu gehört, daß Ihnen Ihre Wissenschaftler die
Untauglichkeit bescheinigen.
({1})
Ich kann zitieren, Herr Trittin:
Andere Ziele als umweltpolitische Ziele gewinnen
die Oberhand. Umweltpolitische Lenkungsaufgaben werden falsch gestellt.
- Das sagt Ihr Gutachter!
Wenn das umweltpolitische Ziel nicht völlig aus
den Augen verloren werden soll, müssen andere
Weichenstellungen erfolgen.
- Ihr Gutachter!
Anreizfunktionen werden weitgehend ausgehebelt.
- Ihr Gutachter!
Herr Eichel, das müssen Sie sich sagen lassen:
Der im Gesetz angelegte und im neuesten Entwurf des
Bundesfinanzministers auch formal beschrittene Weg
ist in doppelter Hinsicht zum Scheitern verurteilt.
Die gegenwärtige Konstruktion des Ökosteuergesetzes wird sich daher weder mit Blick auf die EU
noch binnenwirtschaftspolitisch aufrechterhalten
lassen.
Das, Herr Trittin, müssen Sie hier im Parlament zu
den von Ihnen genannten Konstruktionen einbringen,
nicht aber sich hier hinstellen und sagen, das sei ökologisch, das sei sozial. Es ist weder ökologisch noch sozial. Ihre Leute wissen das, und Sie enthalten uns das vor.
Wir werden das mit Ihnen diskutieren. So lassen wir
diese Reform nicht durchgehen.
({2})
Herr Eichel, ich verstehe ja: Der Bundeskanzler ist
schon gewohnt, daß er von diesem Minister fortlaufend
ans Schienenbein getreten wird, aber Sie sollten doch
wenigstens noch die Sensibilität haben, um zu wissen,
daß man so nicht mit sich umspringen läßt.
({3})
Das ist im Grunde genommen nicht mein Problem, sondern es ist Ihr Problem.
Herr Kollege Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Matschie?
Nein, im Moment nicht. Wir müssen die ganze Schande
mal aufgreifen.
({0})
Da er ja weiß, wie schwierig das Ganze ist, läßt er
seinen Experten das dänische Modell der Energiebesteuerung prüfen. Dabei geht es um eine weitere Ökosteuererhöhung, Herr Trittin. Das muß man ja auch einmal sagen. Von dem Aufkommen dieser weiteren Energiesteuererhöhung geben Sie dann gnädig den Unternehmen, die ein Energieaudit machen, etwas zurück nicht alles, sondern nur etwas. Das geschieht mit einem
ungeheueren bürokratischen Aufwand. Das ist ja der
reine Lustgewinn für die Beratungsagenturen, aber das
bedeutet den Tod für den Mittelstand, dem Sie damit eine weitere Schlinge um den Hals legen. Denn diese Bürokratie ist nicht weiter zu ertragen.
({1})
Davon sagen Sie hier nichts.
Zu dem gesamten Schwachsinn, den Sie veranstalten,
({2})
sagt der Rechtsexperte: An meinen formalverfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber diesem Gesetz halte
ich ebenso fest wie an den materialverfassungsrechtlichen Bedenken. - Damit sind die Bedenken zum Reformmodell des Reformmodells gemeint. Das heißt,
auch darin ist schon das Scheitern angelegt. Es ist also
nicht nur das falsch, was jetzt diskutiert wird, sondern
auch das, was daran anschließen soll. Auch das wird mit
verfassungsrechtlichen Fragezeichen versehen.
Im übrigen lobt derselbe Gutachter unser Modell der
Selbstverpflichtung als die bessere Alternative, weil es
adäquat und angepaßt ist und keine Überregulierung bedeutet.
Das sind die Positionen. Deshalb sage ich Ihnen, Herr
Loske, da Sie etwas zur Selbstverpflichtung in dem sogenannten Realo-Papier ausgeführt haben: Ich bin einmal gespannt, ob Sie dazu auch stehen, ob das wirklich
nicht nur eine wahltaktische Geschichte war. Sie hatten
das ja rechtzeitig vor den Brandenburger Wahlen vorgelegt, und Sie wollten damit ein Stück Unionspolitik
kopieren. Das ist Ihnen fast gelungen, aber nicht ganz.
Es reicht nicht, wenn Sie das einfach nur formal kopieren; Sie müssen auch die Inhalte übernehmen und hier
im Parlament vertreten. Das sollten Sie tun.
Das ist nicht alles.
({3})
Auch das Umweltbundesamt übt ja Kritik - wenn auch
indirekt - an der Ökopolitik dieser Regierung und
schlägt ein neueres, breiteres Modell vor. Weitere Steuererhöhungen werden vorgeschlagen, etwa 1 DM für das
Benzin, und zwar sowohl für Diesel wie für das andere.
Die Abwasserabgabe kommt vor. Weitere Abgaben
werden genannt. Es ist ein Paket, dessen Umfang in kurzer Zeit - das kann man hochrechnen - zusätzliche
150 Milliarden DM erreichen wird. Damit ist nicht die
jetzige Ökosteuerreform gemeint; das ist das, was das
UBA zusätzlich vorschlägt. Dies, Herr Trittin, stellen
Sie alles unter das Stichwort „Berechenbarkeit“: drei
Vorschläge zur gleichen Zeit! Stichwort „Stetigkeit“:
drei Vorschläge zur gleichen Zeit! Ja, das Chaos ist perfekt. Legen Sie uns doch einmal dar, wo Ihre eigentliche
Linie ist.
Herr Loske, wenn Sie wirklich zu dem stehen, was
Sie gesagt haben, nämlich: „Bürokratie weg“, dann haben Sie jetzt eine Lebensaufgabe vor sich, und zwar mit
Ihrem eigenen Minister. Nur so könnten Sie dies einigermaßen in den Griff bekommen.
({4})
Ich will Ihnen noch etwas anderes sagen. Das ist in
dieser UBA-Presseerklärung noch schöner angelegt.
Mich wundert eigentlich, daß Sie sie so einfach haben
herausgehen lassen. Das ist schon erstaunlich.
({5})
- Herr Loske, hören Sie erst zu!
Dort steht: Mit diesen 150 Milliarden lassen sich bestimmte Minderungen - dann werden Prozentsätze von
drei bis 15 Prozent genannt - bei Schadstoffen erreichen. Aber das Entscheidende ist doch: Sie wissen gar
nicht, ob das wirklich so ist. Dort steht, Sie erwarteten
eine Verringerung der Umweltbelastung, und dann
kommt hinterher der Satz: Das sind Schätzwerte, die
Dr. Klaus W. Lippold ({6})
mit erheblichen Unsicherheiten verbunden sind. Das
heißt: keine Lenkungsgenauigkeit, zusätzliches Abkassieren, und Sie wissen hinterher noch nicht einmal, ob
die ökologische Lenkungsfunktion überhaupt erfüllt
wird. Was Sie hier vorführen ist ein Fiasko, wie man es
noch nicht erlebt hat.
({7})
Dann hat Herr Trittin auch von einer sozialen Komponente gesprochen. Das hat man bei ihm zwar nicht so
oft gehört.
({8})
- Wenn er das jetzt nicht hört, dann bekommt er es
schon noch gesagt.
({9})
In der UBA-Presseerklärung steht wörtlich zu den Maßnahmen, die Sie vorschlagen: Relativ am stärksten zu
ihrem Einkommen werden die unteren Einkommensgruppen belastet. - Das ist in Ihren Augen sozial! Ich
gratuliere! Teure Anzüge tragen, teure Zigaretten rauchen und die unteren Einkommensgruppen am stärksten
belasten - das ist es, was wir von Ihnen zu erwarten haben.
({10})
Nein, meine Damen und Herren, so kommen Sie nicht
davon.
Was sagt der Chef der Bahn? Sie sagen doch immer: Der Bahnverkehr ist ökologisch günstig. Mit Ihren Ökosteuervorstellungen - hat er gesagt - kann er
keine Bahnreform machen, eine Reform, die die Schiene wettbewerbsfähig erhält und neue Investitionen zuläßt. Das heißt also, das ökologische Verkehrsmittel,
das Sie propagieren, wird genau durch Ihre Maßnahmen blockiert. Es ist also auch in diesem Bereich
nichts mit Ökologie.
Ich sage ganz offen: Es ist erstaunlich, wieviel Unfug
Sie in kürzester Zeit zusammentragen, diesem Haus präsentieren, und daß Sie dann noch hoffen, daß wir Ihnen
das durchgehen lassen. Das können Sie innerhalb Ihrer
eigenen Truppe so halten - die glauben Ihnen das vielleicht, wenigstens für eine kurze Zeit -, aber machen Sie
das nicht mit dieser Opposition. Wir werden das in den
Ausschußberatungen anmahnen; darauf können Sie sich
verlassen.
({11})
Ich gebe für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Ernst Ulrich von Weizsäcker das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In
einem Buch des leider gegenwärtig abwesenden Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Herrn Dr. Wolfgang
Schäuble,
({0})
habe ich 1994 den, wie ich empfand, richtungsweisenden Satz gelesen: Ökonomisch wie ökologisch sinnvoller wäre es, im Mix der Produktionsfaktoren menschliche Arbeit billiger und im Gegenzug den Verbrauch von
Rohstoffen und Energie teurer zu machen.
({1})
Im Dezember 1995 haben 17 Abgeordnete - signifikanterweise junge Abgeordnete - von CDU/CSU, SPD,
F.D.P. und Grünen zum Klimaschutz durch eine ökologische Umgestaltung des Steuersystems aufgerufen.
({2})
Wenige Wochen zuvor hatte die damalige F.D.P.-Spitze
nachdrücklich die EU-weite Einführung eines ökologischen Steuerkonzepts gefordert. Wörtlich hieß es dazu:
Wir sind jedoch bereit, auf nationaler Ebene mit gutem
Beispiel voranzugehen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Der Grundgedanke der ökologischen Steuerreform ist parteiübergreifend akzeptiert.
({3})
An der Ausgestaltung aber scheiden sich, wie es in der
Politik nicht unüblich ist, die Geister.
({4})
In der Debatte zum Einstieg in die ökologische Steuerreform habe ich im März dieses Jahres eingeräumt,
daß eine einmalige Veränderung des Preisgefüges zwischen Energie und Arbeit weder eine große ökologische
Lenkungswirkung hat noch ein bedeutendes Signal für
den Arbeitsmarkt sein kann; das wissen wir alle. Also
haben wir die langfristige Fortsetzung über die Legislaturperiode hinaus als notwendig bezeichnet. Eben deshalb habe ich in dieser Frage für einen parteiübergreifenden Konsens plädiert. Unser heutiger Gesetzentwurf
soll als Signal in diese Richtung verstanden werden.
Wir suchen und schaffen im Rahmen unserer politischen Handlungsmöglichkeiten Planungssicherheit für
Unternehmen und Bürger. Die vorgesehenen Preissteigerungen bei Kraftstoffen und bei Strom bis 2003 sind
verkraftbar. Sozial verkraftbar sind sie im Rahmen einer
Steuerentlastungspolitik, die wir für die Bezieher kleiner
und mittlerer Einkommen ja betreiben. Wirtschaftlich
verkraftbar sind sie insbesondere in einer Phase generell
sinkender Strompreise. Dennoch gibt unser Reformpaket
durch seine langfristige Ausrichtung ein klares Signal in
Dr. Klaus W. Lippold ({5})
Richtung Verhaltensveränderung beim Verbrauch und
Technologieentwicklung.
In einer seriösen neuen Studie zweier Institute, die
der Kollege Lippold soeben angesprochen hat, wird zugegebenermaßen eingewandt, daß für eine deutliche
ökologische Lenkungswirkung noch wesentlich höhere
Steuersätze, als sie von uns vorgeschlagen werden, wünschenswert wären. Aber es wird auch ganz klar die Devise „Langfristigkeit und Stetigkeit vor Höhe“ vertreten.
Langfristigkeit und Stetigkeit bekommen wir aber nicht
durch brutale Steuersätze.
({6})
Und genau das ist der Grund, weshalb wir sozialpolitisch Konzessionen machen, die um der Langfristigkeit
willen dann auch ökologisch die bessere Alternative
sind.
({7})
Wir sind uns natürlich über eines im klaren: Gerade
weil wir diese Konzessionen machen müssen, wird die
ökologische Steuerreform alleine die notwendigen ökologischen Veränderungen nicht herbeiführen.
({8})
Sie ist Bestandteil eines größeren Pakets. Ich würde
lieber sagen: Sie soll langfristig eine Art Grundton der
Melodie sein, der dann tagespolitische Obertöne aufgesetzt werden können.
({9})
Herr Lippold, dazu gehören selbstverständlich auch
die freiwilligen Vereinbarungen. Die sind aber, der
Natur solcher Vereinbarungen entsprechend, immer nur
ein paar Jahre gültig. Mehr wäre von der Wirtschaft
nicht zu verlangen.
Auch der jetzt eingeführte Oberton einer Differenzierung nach Schadstoffgehalten beim Benzin - übrigens
ein Gedanke aus einem CDU-geführten Bundesland - ist
von uns mit aufgenommen worden. Das ist aber nur ein
Oberton. Wir erwarten von dieser Besteuerung kein
sonderlich berückendes zusätzliches Einkommen für den
Staat. Aber das, was wir jetzt beschließen, wird in der
Gesamtheit ausreichen, um, wie Minister Trittin gesagt
hat, die Rentenbeiträge noch einmal um insgesamt 1
Prozentpunkt zu senken.
Kollege Solms hat aber vollständig recht, wenn er
darauf hinweist, daß allein über diesen Weg die Kalamität im Bereich der Rentenfinanzierung nicht gelöst
werden kann. Es kommt also darauf an, daß gerade wir
Umweltpolitiker mit daran arbeiten, daß diese Kalamität
mit Hilfe von zusätzlichen Maßnahmen beseitigt bzw.
bearbeitet wird.
({10})
Auch dabei sind wir selbstverständlich auf einen parteiübergreifenden Konsens angewiesen. Ich vernehme
mit großem Interesse die neuen Töne nach den letzten
Landtagswahlen, die dahin gehen, daß man seitens der
Bundestagsopposition keine Obstruktion betreiben will.
Da müssen wir sie beim Wort nehmen.
({11})
Wir müssen im Interesse der Gesamtgesellschaft, der
Umwelt und insbesondere der Jugend eine langfristige,
stabile Politik hinbekommen. Das verlangt an einigen
zentralen Punkten, die ich die Grundmelodie genannt
habe, einen parteiübergreifenden Konsens.
({12})
Wir haben deswegen ein Konzept vorgelegt, welches
über die Grenze der Legislaturperiode hinausgeht. Das
ist für die Planungssicherheit wichtig. Es wäre für uns
alle sehr wünschenswert, wenn sich dieses Hohe Haus
über diese für den Generationenvertrag entscheidende
Frage nicht weiter zerstreiten würde.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Reinhard Loske.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin an und für sich ein großer Freund der Holzarchitektur. Aber heute bin ich froh, daß wir hier mehr
Stein und Beton haben; denn die Balken hätten sich angesichts dessen, was uns die Opposition hier geboten
hat, gebogen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
({0})
Herr Kollege Lippold, ich möchte den Begriff der
Glaubwürdigkeit ins Zentrum rücken und feststellen:
Es ist völlig unglaubwürdig, was Sie hier tun. Auf der
einen Seite singt Kollege Rauen das Lied vom Niedergang des Standortes Deutschland durch die ökologische Steuerreform und tut so, als ob die gesamte
Wirtschaft kollabierte. Auf der anderen Seite zitieren
Sie Studien, die besagen, die ökologische Steuerreform
gehe nicht weit genug. Dies ist in vielen Punkten sicherlich richtig; aber von der Tendenz her wird uns ja
zugestimmt. Das heißt, Sie können nicht beides feststellen. Entweder kollabiert der Standort, oder diese
Reform geht nicht weit genug. An die Regeln der Logik sollten auch Sie sich halten.
({1})
Genauso unschlüssig ist Ihr Vorgehen in folgendem
Bereich: Auf der einen Seite werfen Sie Herrn Trittin
vor, daß er einen bürokratischen Moloch herstellt. Das
stimmt objektiv nicht. Jeder, der genau hinschaut, kann
das erkennen. Auf der anderen Seite verlangen Sie tausenderlei Ausnahmeregelungen, die in der Tat einen
bürokratischen Moloch erzeugen würden. Auch das ist
total unglaubwürdig.
({2})
Ein weiterer Punkt bei der Opposition, den ich wirklich
noch einmal ansprechen muß: Sie sehen immer nur die
eine Seite der Medaille. In Wahrheit wissen Sie es natürlich besser, stellen aber immer nur die eine Seite der
Medaille in den Raum. Denn Sie betonen immer nur die
Erhöhung der Energiepreise. Sie wissen doch ganz
genau, daß die Schritte, die wir über die Legislaturperiode
hinaus bis zum Jahr 2003 festgelegt haben - viermal
sechs Pfennig beim Sprit und viermal einen halben Pfennig bei der Stromsteuer -, eine Entsprechung haben. Diese Entsprechung heißt: Absenkung der Lohnnebenkosten. Das ist doch das, was wir uns immer gemeinsam
vorgenommen haben; das ist das Entscheidende. Die
Rentenversicherungsbeiträge sind zum 1. April bereits
von 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent gesunken. Bis 2003
werden sie um insgesamt knapp zwei Prozentpunkte sinken. Das enthebt uns nicht der Verpflichtung - das hat der
Kollege von Weizsäcker vollkommen zu Recht gesagt -,
eine vernünftige Rentenreform zu machen. Es ist aber ein
Beitrag zur Lösung dieser Problematik.
({3})
Wenn ich dann diese Horrorszenarien erlebe! Ich
weiß nicht, ob der Kollege Austermann jetzt im Saal ist
- ich sehe ihn gerade nicht -, aber er hat gestern wieder
eine Presseerklärung herausgegeben, bei der sich die
Balken wirklich gebogen hätten; wahrscheinlich wären
sie sogar gesprungen. Kollege Austermann behauptet,
die ökologische Steuerreform würde dem Bund jährlich
19 Milliarden DM in die Kasse spülen. Wenn wir so viel
Geld für die Entlastung des Haushalts hätten, dann wäre
uns Hans Eichel sicher dankbar. Es ist aber nicht so,
denn das Geld fließt in die sozialen Sicherungssysteme
und zu einem kleinen Teil in die Förderung erneuerbarer
Energien. Das wissen Sie ganz genau.
({4})
Hören Sie doch mit solchen Märchen auf!
({5})
Zum nächsten Punkt. Für uns Grüne - das sage ich
als umweltpolitischer Sprecher meiner Fraktion - steht
die ökologische Lenkungswirkung der Ökosteuer natürlich im Mittelpunkt. Das ist völlig klar. Herr Lippold,
Sie haben das angemahnt. Ich will die Punkte im einzelnen nennen: Die Kraft-Wärme-Kopplung wird gezielt
gefördert. Wenn Wirkungsgrade von über 70 Prozent erreicht werden, wird sie von der Mineralölsteuer freigestellt. Das war bei Ihnen nicht so. Die kleinen Blockheizkraftwerke - ganz wichtig für die dezentrale Energieerzeugung - werden sowohl von der Mineralölsteuer
als auch von der Stromsteuer freigestellt und erhalten
dadurch einen ganz klaren Wettbewerbsvorteil. Auch
das ist gut so. Die modernen Gas- und Dampfturbinenkraftwerke werden bessergestellt. Das Erdgas im Verkehrsbereich wird für zehn weitere Jahre privilegiert,
was für die öffentlichen Busflotten und auch für die gewerblichen Flotten ganz wichtig ist. Die schwefelarmen
Kraftstoffe werden vier Jahre eher eingeführt, als das bei
Ihnen der Fall gewesen wäre. Schließlich haben wir ein
Förderprogramm für erneuerbare Energien in Höhe von
200 Millionen DM jährlich. Das alles läßt sich vorzeigen; das alles ist ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutzprogramm.
({6})
Zu meinem letzten Punkt. Kollege Gysi ist leider
nicht mehr da. Es geht um die soziale Komponente.
({7})
Dazu muß man doch die Gesamtschau anstellen. Ich
muß sagen, dieser blanke Populismus geht mir langsam
auf den Geist.
({8})
Man muß das Steuerpaket also in der Gesamtschau betrachten, und dann ist die soziale Komponente sehr wohl
ausgewogen. Ich darf vielleicht darauf hinweisen - als
Ökologe sehe ich das durchaus mit einem weinenden
Auge -, daß wir uns im Moment in einem Umfeld stark
sinkender Strompreise bewegen. Das, was wir durch
die ökologische Steuerreform auf den Strompreis draufpacken, reicht möglicherweise gar nicht aus, um dieses
Absinken zu kompensieren. Damit werden wir uns noch
beschäftigen müssen. Wir alle wollen ja den Wettbewerb. Gott sei es gedankt: Die Monopolrenten schmelzen ab. Wenn das aber im Gegenzug dazu führte, daß
Energiesparaktivitäten praktisch eingestellt werden,
wäre das ökologisch verheerend.
({9})
Ich komme zum Schluß. Ich glaube, das, was wir obwohl bekannt ist, daß wir Grünen durchaus gewillt
gewesen wären, in diesem Punkt noch ein bißchen
weiter zu gehen - guten Gewissens vorzeigen können,
ist zunächst das, was von Weizsäcker gesagt hat, nämlich die Verstetigungsperspektive. Wir alle wissen nun:
Auf diese Sache kann man sich verlassen; sie bekommt
eine Perspektive, und zwar auch über die Legislaturperiode hinaus. Das ist ein Mut, den ich mir in der Vergangenheit manchmal auch bei Ihnen gewünscht hätte.
({10})
Zudem kommen wir von der hechelnden Kurzatmigkeit
weg, mit der Sie sozusagen je nach Kassenlage die Mineralölsteuer erhöht haben. Heute wissen die Leute es;
sie können sich darauf verlassen.
({11})
Noch eines: Für das Erreichen des Klimaschutzziels,
das wir uns mit der CO2-Reduktion um 25 Prozent bis
zum Jahre 2005 gesetzt haben - das sind nur noch sechs
Jahre, und wir haben mit 13 Prozent die Hälfte der
Wegstrecke erreicht, dennoch ist noch ein ganzes Stück
zu gehen -, brauchen wir in der Tat mehr Maßnahmen
als nur die ökologische Steuerreform. Dabei ist zweierlei
besonders wichtig. Erstens müssen wir uns im Raumwärmebereich etwas ausdenken, denn wir haben in den
nächsten Schritten Öl und Erdgas von der Besteuerung
ausgenommen. Es muß etwas anderes kommen. Die
Energiesparverordnung muß dafür sorgen, daß auch im
Gebäudebestand wirklich gespart wird. Zweitens haben
wir die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes als
große Aufgabe vor uns. Sie sehen also, wir haben für
den Klimaschutz noch genug zu tun. In diesem Sinne
bitte ich um Ihre Unterstützung für unser Gesetz.
Danke schön.
({12})
Als nächste spricht
die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Heute reden wir über den Entwurf des Familienförderungsgesetzes, den die Koalitionsfraktionen vorgelegt
haben. Familienpolitik ist ein wichtiges Herzstück moderner Gesellschaftspolitik. Damit Sie von der CDU/
CSU jetzt nicht wieder auf die Idee verfallen, hier platte
Oppositionspolitik zu machen, will ich Ihnen gleich
vorweg sagen: In Ihrer Regierungszeit hat die Familienpolitik nur so vor sich hergedümpelt.
({0})
- Herr Merz, bleiben Sie ganz ruhig. Sie brauchen mich
überhaupt nicht, um eine kritische Bilanz über die Familienpolitik der Kohl-Regierung zu ziehen. Das kann
man mittlerweile von Leuten aus Ihren eigenen Reihen
lang und breit lesen.
({1})
Sie können bei dem CDU-Landesvorsitzenden in
NRW nachfragen, was er über die Familienpolitik der
Kohl-Regierung sagt.
({2})
Sie können auch bei der Generalsekretärin der CDU
nachfragen, was sie überall über die alte Familienpolitik
sagt. Noch heute habe ich in einer dpa-Meldung gelesen,
daß sie in der „Mitteldeutschen Zeitung“ gesagt hat, in
der Familienpolitik habe die Partei Defizite. Sie führt
das auch näher aus.
({3})
Im Kern trifft Sie der Vorwurf, daß Sie nicht bereit
gewesen sind, die Lebenswirklichkeit von Familien
wahrzunehmen, daß Sie nicht bereit gewesen sind, zu
sehen, daß es mittlerweile viele Formen von Familien
gibt, und daß Sie auch nicht bereit gewesen sind, das
Rollenverständnis der Frauen, der Mütter, der erwerbstätigen Mütter ernsthaft in Ihre Familienpolitik einzubeziehen.
({4})
Sie sind - lassen Sie mich das ganz freundschaftlich
sagen - auch jetzt nicht auf einem guten Weg, wenn in
Ihren Reihen das Erziehungsgehalt intensiv diskutiert
wird. Meine Damen und Herren, das Erziehungsgehalt
wäre ein familienpolitischer Rückschritt, würde zu einer
erneuten Polarisierung der Geschlechterrollen in der
Familie führen und letztendlich erneut die Frauen in den
Familien benachteiligen.
({5})
Wir haben aber Grund genug, auch über die materielle Situation von Familien zu reden, was wir heute tun.
Wie erging es denn den Familien unter den Familienministerinnen und den Finanzministern der CDU/CSU?
Das Bundesverfassungsgericht verkündete ein Urteil
nach dem anderen und mahnte einen deutlich verbesserten Familienlastenausgleich an. Es war schon bemerkenswert, wie taub sich die alte Bundesregierung
gegenüber diesen Verfassungsgerichtsurteilen gestellt
hat.
Wer weiß denn noch, daß das Kindergeld für das erste Kind 1995 gerade einmal 70 DM mit der Folge betrug, daß die Gutverdienenden auf Grund des vorherrschenden Kinderfreibetrags für ihr Kind vom Staat weitaus mehr bekamen als die Gering- und Normalverdienenden?
({6})
Wir alle wissen - das wurde heute auch schon gesagt -, daß es einer erheblichen Einflußnahme seitens
der SPD-Mehrheit im Bundesrat bedurfte, um das Kindergeld 1996 auf 200 DM und 1997 auf 220 DM für das
erste und das zweite Kind anzuheben. Nach langer Zeit
zog damals, vor zwei Jahren, so etwas wie soziale Gerechtigkeit wieder in die Familienpolitik ein.
({7})
Aber 250 DM Kindergeld konnten wir als Opposition
bei Ihnen nicht durchsetzen. Dazu brauchte es in der Tat
den Regierungswechsel.
({8})
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Schenk?
Ja, bitte.
Frau Parlamentarische
Staatssekretärin, Sie haben kritisiert, daß die Politik der
alten Bundesregierung in Sachen Familienförderung so
zu charakterisieren ist, daß insbesondere die Besserverdienenden davon einen Vorteil hatten. Sind Sie bereit
einzuräumen, daß sich mit dem heute vorliegenden Vorschlag daran nichts Wesentliches ändert? Ab einem Einkommen in Höhe von 50 000 DM für Einzelpersonen
oder 100 000 DM für Ehepaare ist der Ertrag aus der
Steuerersparnis höher als das Kindergeld. Im Prinzip ist
dies also nichts anderes als das, was wir vorher hatten.
Frau Schenk, ich habe gerade erst angefangen. Ich
wollte gerade erzählen, was wir tun. Vielleicht können
wir uns darauf einigen, daß Sie erst einmal zuhören und
dann, wenn Ihnen noch etwas einfällt, noch einmal
nachfragen.
Ich möchte nämlich erwähnen - da kann ich gleich an
die Frage von Frau Schenk anknüpfen -, daß die Steuerpolitik der jetzigen Bundesregierung in jedem Fall
dazu führt, daß die Arbeitnehmerfamilien, die Familien
mit mittleren und durchschnittlichen Einkommen, die
Gewinner unserer Steuerpolitik sein werden, und zwar
durch die Absenkung des Eingangssteuersatzes und die
Anhebung des Grundfreibetrages.
({0})
Sie können nicht nur einen Ausschnitt aus einem großen
finanzpolitischen Bereich nehmen.
Heute diskutieren wir wieder ein familienpolitisches
Versäumnis der alten Bundesregierung. Vollkommen zu
Recht hat das Bundesverfassungsgericht angemahnt,
auch bei verheirateten Eltern nicht nur das sächliche
Existenzminimum von Kindern finanziell zu berücksichtigen, sondern auch den Betreuungs- und Erziehungsbedarf.
Auf Grund der schlechten Erfahrungen mit unserer
alten Bundesregierung, die nichts umsetzte, hat das
Bundesverfassungsgericht unserer neuen Bundesregierung leider eine ganz enge Frist zur Umsetzung gegeben.
Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes für die
Politik sind ausschließlich auf das Steuerrecht bzw. die
Steuerfreistellung von bestimmten Aufwendungen und
von Eltern - im Gegensatz zu Kinderlosen - erbrachten
Betreuungs- und Erziehungsleistungen ausgerichtet.
Das bedeutet konkret: Es hätte ausgereicht, die Kinderfreibeträge anzuheben, um das Verfassungsgerichtsurteil umzusetzen. Das wäre auch noch die kostengünstigste Lösung für den öffentlichen Haushalt gewesen.
Insofern wäre das eine verführerische Variante insbesondere für einen Bundesfinanzminister gewesen und
zwar angesichts der Tatsache, daß wir die gigantische
Staatsverschuldung, die in 16 Jahren Kohl-Regierung
entstanden ist, abbauen wollen und abbauen müssen das im übrigen auch um unserer Kinder willen.
({1})
Auch wenn eine leistungsgerechte Besteuerung familienpolitisch von besonderem Gewicht ist, kann ich doch
nicht daran vorbeigehen, Frau Schenk, daß eine ausschließliche Verfolgung dessen dazu führen würde, daß
die Bezieher höherer Einkommen sehr viel für ihr Kind
erhalten würden und die Bezieher niedriger und mittlerer
Einkommen gar nichts oder wenig für ihr Kind bekämen. Das wäre eine Familienpolitik, die - da brauchen
wir nur auf die Straße zu gehen - alle für äußerst ungerecht halten. Eine solche Familienpolitik könnte daher
nicht zufriedenstellen.
Das heißt, meine Damen und Herren: Horizontale
Steuergerechtigkeit darf nicht der wesentliche Maßstab
für Familienpolitik sein. Vielmehr muß immer auch eine
bedarfsgerechte Familienförderung hinzukommen.
({2})
Darum ist es richtig und wichtig, was die Regierungskoalition in ihrem Gesetzentwurf gemacht hat:
Obwohl das Kindergeld in diesem Jahr schon um 30 DM
erhöht wurde, hat sie gesagt: Wir nehmen das Verfassungsgerichtsurteil zum Anlaß, noch einmal 20 DM
Kindergeld dazuzulegen. Es gibt also 50 DM Kindergelderhöhung innerhalb eines Jahres. Das hat es in einer
Regierungspolitik noch nie gegeben.
({3})
Frau Kollegin Niehuis, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lenke?
Ja, bitte.
Frau Niehuis, als erstes: Es ärgert mich, daß die Regierungsmitglieder immer die
deutsche Einheit vergessen, wenn sie von den Schulden
der Bundesrepublik Deutschland sprechen.
({0})
Ich denke, dazu gehört auch ein Stück Ehrlichkeit. Daß
Sie das immer vergessen, zeigt, daß das eine Strategie
von Ihnen ist.
({1})
Jetzt komme ich zu meiner Frage: Frau Niehuis, können Sie mir sagen, weil Herr Müller das nicht konnte,
wie hoch die Belastung durch die Ökosteuer bei einer
Familie mit zwei Kindern pro Haushalt und pro Jahr ist?
({2})
Zunächst einmal zu der Staatsverschuldung: Ohne
Zweifel war die deutsche Einheit ab 1990 eine besondere Herausforderung. Aber wenn Sie sich die Haushalte
bis 1989 anschauen - vielleicht wissen Sie das als neue
Abgeordnete im Bundestag nicht -, die hier im Bundestag verabschiedet wurden, dann stellen Sie fest, daß die
Staatsverschuldung von Jahr zu Jahr auch ohne deutsche
Einheit zugenommen hat.
({0})
Das Zweite: Natürlich muß man über die ökologische
Steuerreform reden. Der Hintergrund Ihrer Frage ist,
nehme ich an: Bei mehr Köpfen in der Familie gibt es
mehr Stromverbrauch. Aber immerhin bleibt es in der
Regel noch bei einem Auto; es passen dort vier Personen
hinein.
Ihre Argumentation, über die Ökosteuer würde unsere familienpolitische Gerechtigkeit in Schwierigkeiten
kommen, ist total falsch. Rechnen Sie doch einmal nach:
Wenn die Steuern auf Strom, Diesel und Benzin nach
dem neuen Konzept höher werden, dann bedeutet das für
den von Ihnen genannten Haushalt einer vierköpfigen
Familie gerade einmal eine Mehrbelastung von vier bis
fünf DM im Monat.
({1})
Sie können einmal gegenrechnen, wieviel diese Familie
im Rahmen des Familienlastenausgleichs erhält.
({2})
Wir reden aber heute über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es kann passieren, daß uns die steuerpolitische Ausrichtung dieses Urteils eine zu enge familienpolitische Diskussion aufzwingt. Aber durch die
Fokussierung des Urteils auf den Betreuungs- und Erziehungsbedarf haben wir auch die Möglichkeit, die familienpolitische Diskussion zu erweitern.
Wir alle wissen zum Beispiel, daß Eltern mit volljährigen behinderten Kindern, die vollstationär untergebracht sind, von der Politik seit langem fordern, anzuerkennen, daß sie - auch wenn das sächliche Existenzminimum der Kinder durch Eingliederungshilfe abgedeckt
ist - einen erheblichen Betreuungsaufwand haben, zum
Beispiel durch häufige Besuche, durch Betreuung an
Wochenenden und in den Ferien. Lange haben Eltern
von behinderten Kindern darauf warten müssen, daß die
Politik dies anerkennt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird dies anerkannt, weil nun diese Eltern ein
Teilkindergeld oder einen teilweisen Betreuungsfreibetrag beanspruchen können.
({3})
Ich halte dies für einen ganz wichtigen Schritt in der
Familienpolitik; denn ich kenne so viele Eltern, die ihre
behinderten Kinder liebevoll und intensiv betreuen, auch
dann, wenn diese Kinder im Heim untergebracht sind.
Diese Eltern haben es wirklich verdient, daß man ihre
Leistungen heute auch steuerpolitisch anerkennt.
({4})
Auch für Alleinerziehende ist es wichtig, daß der Gesetzgeber berücksichtigt, daß ein Elternteil das Kind betreut, während sich der andere nicht an der Betreuung
beteiligt. Wenn es so ist, dann ist es nur recht und billig,
daß der Alleinerziehenden auf Antrag der Betreuungsfreibetrag voll übertragen werden kann. Auch dies wird
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg gebracht.
Wir beschränken uns bei der Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 bewußt zunächst nur auf die zum 1. Januar
2000 geforderte Regelung. Familienpolitisch lohnt es
sich, noch einmal genau zu prüfen, ob im Hinblick auf
Betreuungs- und Erziehungsbedarf die Gesichtspunkte
der horizontalen Steuergerechtigkeit ebenso beachtet
werden müssen wie beim Grundbedarf in Höhe des
sächlichen Existenzminimums. Das Bundesverfassungsgericht
({5})
fordert, Frau Frick, daß der Betreuungs- und der Erziehungsbedarf einkommensteuerrechtlich generell zu berücksichtigen sind,
({6})
unabhängig davon
({7})
- lassen Sie uns familienpolitisch doch einmal weiterdenken -, ob überhaupt Aufwendungen die finanzielle
Leistungsfähigkeit der Eltern mindern. Ich möchte diesen Gedankengang einmal weiterspinnen: Wenn der
sächliche Unterhalt die finanzielle Leistungsfähigkeit
der Eltern zwingend mindert, die Betreuungs- und Erziehungsleistungen jedoch nicht oder nur zu einem disponierbaren Teil, dann kann meines Erachtens die steuerliche Berücksichtigung des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs zumindest prinzipiell zu einem Teil anders
geregelt werden als die des Grundfreibetrags.
Ich möchte Sie einfach einladen, mit uns darüber
nachzudenken, ob nicht auch diese Lösung verfassungskonform wäre; denn eine differenzierte Betrachtung des
Betreuungsbedarfs macht auch eine differenzierte finanzpolitische Argumentation möglich. Dieser Gedanke weist
in die Zukunft. Ich gebe zu: Die Verfassungskonformität
dieser Regelung muß äußerst streng geprüft werden.
Aber warum dürfen wir nicht einmal weiterdenken? Gibt
es denn nicht noch einen gerechteren Maßstab als nur
die horizontale Steuergerechtigkeit?
({8})
Das Finanzielle ist nur das eine. Als Familienpolitikerin bedauere ich sehr, daß wir über all die anderen familienpolitischen Themen heute nicht mehr diskutieren
können. Aber wir werden demnächst noch weitere Vorlagen einbringen. Dann können wir auch über die anderen Rahmenbedingungen für Familien reden. Ich freue
mich auf die weitere familienpolitische Debatte.
Danke schön.
({9})
Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Ilse Falk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist viel die Rede von Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewesen.
Je nachdem, auf welcher Seite man steht, greift man auf
das eine oder andere zurück. Es würde jetzt Spaß machen, aus alten Protokollen zu zitieren. Ich will Ihnen
das nicht in aller Ausführlichkeit zumuten; denn das
würde zu weit führen. Sie kennen das.
Sie werden heute an Dingen gemessen, die wir damals vielleicht nicht so gerne gehört haben. Wir sahen
damals keinen anderen Weg. Wir haben eine Familienpolitik entwickelt, die unseren Vorstellungen von Familie in einem umfassenden Maße entsprach. Heute hätten
Sie die Möglichkeit gehabt, mit der Macht Ihrer Mehrheit Ihre damalige Kritik konstruktiv in einen ideenreichen, großen Entwurf zur Familienförderung umzusetzen. Es hätte sich zum Beispiel angeboten, schon jetzt
den Erziehungsbedarf mitzuregeln und keine Zweiteilung vorzunehmen, um damit erst einmal wieder mit
dem denkbar kleinsten Aufwand die unausweichlichen
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen.
Es scheint mir übrigens ein sehr merkwürdiges Zusammentreffen in dieser Debatte zu sein, daß ein steuererhöhendes Gesetz wie das über die ökologische Steuerreform, die die Familien belastet, für die nächsten vier
Jahre festgeschrieben wird. - So sah es zumindest bisher
aus. Nach dem, was Herr Trittin gerade gesagt hat,
scheint darüber aber schon wieder Unsicherheit zu bestehen. - Wenn es um die Entlastung von Familien geht,
dann können Sie sich zunächst nur auf die erste Stufe
verständigen. Die erforderliche zweite Stufe soll in einem Gesetzgebungsverfahren für das Jahr 2002 geregelt
werden. Was von der Parlamentarischen Staatssekretärin
Niehuis eben anklang, war zu diffus, als daß es Planungssicherheit für Familien geben könnte.
({0})
Ein Zitat will ich Ihnen dennoch nicht ersparen.
({1})
- Eine Zwischenfrage möchte ich jetzt nicht beantworten.
Ich möchte jetzt vortragen, was wir zu Ihrem Gesetzentwurf zu sagen haben. Fragen haben Sie zu beantworten.
({2})
Frau Ministerin Bergmann hat sich an dem messen zu
lassen, was sie selber angesichts des Urteils in der Aktuellen Stunde vom 22. Januar 1999 gesagt hat.
({3})
- Man wird es ihr schon weitersagen. - Sie sagte, daß
die Regierung bei der Neuregelung des Einkommensteuergesetzes die Erfahrungen berücksichtigen werde,
die - Zitat … wir mit dem kumulierenden dualen System des
Familienlastenausgleichs gemacht haben. Dieses
System hat gesellschaftspolitisch falsche Auswirkungen, weil die Freibeträge bei niedrigen Einkommen nicht oder nur teilweise genutzt werden
können, dafür aber bei steigendem Einkommen eine immer höhere Entlastung eintritt. Diesen Effekt
wollen wir nicht erreichen.
Das Protokoll notiert Beifall bei der SPD und beim
Bündnis 90/Die Grünen. - Weiter sagte Frau Bergmann:
In einer solchen Herausforderung liegt auch die
Chance, … strukturell moderne Wege einzuschlagen.
Wo sind denn jetzt die „strukturell modernen Wege“?
Sie sind doch Ihren eigenen Ansprüchen mit diesem Gesetzentwurf nicht ansatzweise gerecht geworden. Sie
selbst arbeiten sich heute mühsam an den Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts ab und werden diesen Mindestanforderungen kaum gerecht. Sie haben die Chance
nicht genutzt, einen verfassungsrechtlich auf Dauer unanfechtbaren, ordnungspolitisch richtigen, steuersystematisch einfachen und sozial gerechten Gesetzentwurf
vorzulegen. Wo ist denn Ihre Perspektive einer zukunftsfähigen Familienpolitik? Natürlich freuen wir uns,
wenn die Familien jetzt für das erste und zweite Kind je
20 DM mehr bekommen und damit 270 DM pro Monat
erhalten.
({4})
Schade ist nur, daß Sie alle weiteren Kinder vergessen.
({5})
Was ist eigentlich mit den Mehrkinderfamilien? Wo sind
die bei Ihnen?
Wir begrüßen auch die Einführung eines Betreuungsfreibetrages von 1 080 DM für ein Elternpaar und
die Einführung des Kindergeldes von 30 DM monatlich
für volljährige behinderte Kinder, die vollstationär untergebracht sind.
({6})
- Ich werde Ihnen gleich die Zahlen nennen, die angeben, was wir gemacht haben. Bis ich zu diesem Punkt
komme, möchte ich noch eine Kritik vortragen: Der in
dem Gesetzentwurf vorgesehene pauschale Betreuungsbetrag von 3 024 DM ist geringer als der bisher bei
Nachweis abzugsfähige Betreuungsbetrag von 4 000 DM
für Alleinerziehende. Damit stellen Sie die Alleinerziehenden schlechter, bei denen Kosten in Höhe von mehr
als 3 024 DM für die Betreuung durch Dritte, zum Beispiel durch Tagesmütter, Au-pair-Mädchen usw., anfallen.
({7})
Ist das sozial und gerecht?
({8})
- Ich möchte jetzt erst einmal zusammenhängend vortragen, damit Sie auch hören, was wir gemacht haben.
An einer Stelle greifen Sie diese Schlechterstellung
auf: bei nicht miteinander verheirateten Eltern im BAföGGesetz. Es wird in den Diskussionen zu klären sein, was
Sie im einzelnen damit gemeint haben, daß diese die
4 000 DM wieder geltend machen können. Ich verstehe
es bisher so, daß miteinander verheiratete Eltern, die
BAföG-Leistungen beziehen, dieses nicht geltend machen können. Aber das werden Sie mir sicherlich erklären. Hier haben wir noch Fragen an die Regierung.
Für Nicht-Steuerbelastete und Geringverdiener bringt
die Anhebung des Kindergeldes um 20 DM Verbesserungen, die bei den Sozialhilfeempfängern wieder voll
abgeschöpft werden. Es wurde hier schon gesagt, daß
die Bundesregierung damit gerade im Sozialleistungsbereich keine Verbesserungen herbeigeführt hat.
({9})
Im Gegenteil: Diejenigen, für die die steuerlichen Wirkungen unterhalb der Kindergeldfreibeträge liegen, haben nichts von der optisch deutlichen Verbesserung einer Freibetragsanhebung. Mehrkinderfamilien sind auch
in diesem Falle die Benachteiligten, denn sie werden im
Regelfall nur über ein Einkommen verfügen und schnell
den Freibetrag ausgeschöpft haben.
({10})
Damit werden - das ist auch hier schon häufig gesagt
worden - Spitzenverdiener stärker entlastet als Durchschnitts- und Geringverdiener. Das ist zwar steuersystematisch durchaus richtig, entspricht aber nicht Ihren
eigenen Forderungen. Daran messen wir Sie zur Zeit.
({11})
Wenn Sie immer wieder betonen, Sie machten alles sehr
viel sozialer und gerechter, als wir es seinerzeit gemacht
haben, dann müssen Sie sich auch diesen Vorwurf gefallen lassen.
Kommen wir zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Sie bezeichnen es gerne als eine schallende Ohrfeige für unsere Familienpolitik.
({12})
Ich habe es immer als eine Aufforderung empfunden,
den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, weil es der richtige Weg war.
({13})
Wir haben den Alleinerziehenden zunächst etwas zugestanden, was nun die Familien im Rahmen des Gesetzes
im Nachtrag bekommen.
Nun will ich Ihnen sagen, welche Leistungen wir für
die Familien erbracht haben. Dazu einige Zahlen, um
endlich mit der Fehlinformation aufzuräumen, es sei
während unserer Regierungszeit überhaupt nichts passiert, Familienpolitik sei nur so dahingedümpelt. Die
Erhöhung des Kindergeldes von 70 DM auf zunächst
200 DM fand im Rahmen der Umstellung auf das sogenannte Optionsmodell statt.
({14})
Das war eine grundsätzliche Änderung, die Ihren Wünschen, daß die Höherverdienenden nicht stärker entlastet
werden sollten als diejenigen, die nicht viel absetzen
können, in hohem Maße entgegenkam. Wir haben es
miteinander so vereinbart.
({15})
Das hat auch dazu geführt, daß 95 Prozent aller Familien
das Kindergeld in Anspruch genommen haben, also nur
5 Prozent davon nicht erfaßt wurden. Nachdem der Kindergeldbetrag von 200 auf 220 DM angehoben wurde,
haben wir zugleich das Kindergeld für das dritte Kind
auf 300 DM und ab dem vierten auf 350 DM erhöht.
Das ist bis heute so geblieben - unverändert von Ihnen.
Die Umstellung auf das Optionsmodell, die Sie gerne
als Schönfärberei bezeichnen, da sich dadurch für Familien angeblich nichts geändert habe, hat den Familien
damals tatsächlich 11 Milliarden DM mehr gebracht.
({16})
Dann bekommen Niedrigverdienende in den ersten
beiden Jahren nach der Geburt eines Kindes 600 DM
Erziehungsgeld monatlich. Außerdem will ich eine
Summe nennen, die von Ihnen nie herangezogen wird;
ich weiß nicht, ob das gegen Ihre familienpolitische
Ausrichtung ist. Wir haben eine Erziehungsrente eingeführt, nach der zunächst ein Jahr bzw. bei Müttern, deren Kinder nach 1992 geboren sind, drei Jahre Erziehungszeit in der Rente anerkannt werden. Diese bemißt
sich im nächsten Jahr an 100 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das heißt in Zahlen, daß der Bundeszuschuß in die Rentenkasse für diese Mütter monatlich 862 DM Rentenversicherungsbeitrag bedeutet. Diese Zahl kommt bei Ihnen an keiner einzigen Stelle vor.
Ist denn das überhaupt nichts?
({17})
Diese Zahlen - einschließlich des Kindergeldes in
Höhe von 220 DM - summieren sich - ich sage dazu:
bei niedrigen Einkommen - auf 1 682 DM im Monat
während der ersten beiden Jahre und auf 1 083 DM im
Monat im dritten Jahr. Inzwischen sind auch noch die 30
DM dazugekommen, die Sie in diesem Jahr beschlossen
haben.
Erziehungsgehalt war ein Stichwort. Aber ich glaube,
dazu muß ich nichts mehr sagen, denn das ist für uns
kein Punkt, an dem Familienpolitik stattfindet. Wir erarIlse Falk
beiten zur Zeit ein umfangreiches Konzept, das wir Ihnen dann rechtzeitig vorlegen werden.
Wir werden Gelegenheit haben, den Gesetzentwurf in
den nächsten Wochen intensiv zu diskutieren. Aber ich
appelliere zum Schluß schon heute an Sie: Lassen Sie
nicht zu, daß die Familien diese verbesserten Leistungen
selber bezahlen müssen.
({18})
Die Umsetzung Ihrer Wahlversprechen - dazu gehört
auch die Anhebung des Kindergeldes - hat dazu geführt,
daß der Bundeshaushalt erheblich ausgeweitet wurde.
Das wird jetzt über das sogenannte Sparpaket wieder
aufgefangen. Da wir aus Ihren Plänen wissen, daß etliches auf die Kommunen abgeschoben und zusätzlich die
Ökosteuer erhoben wird, sehen wir, daß damit Belastungen auf die Familien zukommen, die nach all Ihren Aussagen von Ihnen so nicht gemeint sein können. Vergessen Sie eines nicht: Familienpolitik ist mehr als nur Anhebung von Kindergeld.
({19})
Zu einer Kurzintervention gebe ich nunmehr zunächst das Wort der Kollegin Christina Schenk und anschließend zu einer weiteren
Kurzintervention der Kollegin Nicolette Kressl.
Frau Dr. Niehuis hat vorhin meine Frage nicht beantwortet. Das nehme ich zum
Anlaß, einige Anmerkungen zu ihren Ausführungen zu
machen.
Zum einen hat sie auf die Kindergelderhöhung verwiesen und betont, daß es ohne das Wechselspiel zwischen Kindergeld einerseits und Steuerfreibeträgen andererseits eine noch größere Gerechtigkeitslücke gäbe.
Das ist zweifellos richtig. Aber das eigentliche Problem,
die soziale Schieflage, wird damit überhaupt nicht beseitigt. Ich sage es noch einmal: Mit den jetzt vorgeschlagenen Steuerfreibeträgen von 10 000 DM ergibt
sich für die Spitzenverdiener ein Ertrag von monatlich
420 DM. Das sind immerhin 150 DM mehr, als das
Kindergeld von 270 DM gegenwärtig beträgt. Das ist für
mich eine unakzeptable Sache.
Es bleibt also festzustellen: Mit dem, was man hierzulande unter Steuergerechtigkeit versteht, ist soziale
Gerechtigkeit nicht herzustellen. Es führt kein Weg an
dem vorbei, was die PDS schon lange vorgeschlagen
hat, nämlich ein einheitliches Kindergeld für alle zu
zahlen.
Der zweite Punkt, auf den ich eingehen will, ist die
Anrechnung der Kindergelderhöhung auf die Sozialhilfe. Ich verstehe wirklich nicht, warum seit Januar, als
die erste Kindergelderhöhung um 30 DM stattgefunden
hat - selbst wenn Sie das Problem vorher nicht in voller
Schärfe erkannt haben sollten -, nicht genügend Zeit
gewesen sein sollte, um heute hier einen Vorschlag vorzulegen. Ich finde, in dieser Sache hat sich die rotgrüne
Regierung nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Eine dritte Anmerkung zu der Situation von Alleinerziehenden: Sie hatten vorher einen Betreuungsfreibetrag von 4 000 DM, jetzt haben sie einen von 3 000 DM.
Das ist ganz klar eine Schlechterstellung. Das heißt, unter dem Strich kommt heraus, daß die Alleinerziehenden
die finanzielle Besserstellung verheirateter Eltern finanzieren.
Insgesamt habe ich den Eindruck, daß wir es hier mit
einem Diktat der Finanzpolitik in der Weise zu tun
haben, daß nicht einmal ernsthafte Bemühungen erkennbar sind, zusätzliche Finanzierungsquellen zu erschließen. Nach Berechnungen des DIW beläuft sich zum
Beispiel der Steuerausfall durch das Ehegattensplitting
pro Jahr auf 60 Milliarden DM. Damit - so hat der
Deutsche Frauenrat errechnet - ließe sich mühelos ein
Kindergeld von über 500 DM finanzieren. Das, was Sie
hier vorgelegt haben, bleibt insgesamt also außerordentlich dürftig.
({0})
Frau Kollegin
Kressl.
Ich wende mich sowohl an
die Kollegin Falk als auch an die Kollegin Schenk: Sehr
geehrte Kolleginnen, ich bin zu der Kurzintervention
veranlaßt worden, weil es mir ein wichtiges Anliegen
ist, daß Sie sich, wenn Sie schon über Steuerpolitik und
Freibeträge diskutieren, das dann bitte auch genau anschauen. Sie haben einfach zwei Zahlen nebeneinandergestellt und behauptet, Alleinerziehende seien automatisch benachteiligt, weil sie jetzt „nur“ einen Freibetrag
von 3 024 DM haben, während sie vorher 4 000 DM
geltend machen konnten. Dies entspricht nicht der
Wahrheit. Die Wahrheit ist, daß jetzt alle Alleinerziehenden diesen Freibetrag pauschal, das heißt, ohne
nachweisen zu müssen, daß sie Kosten in dieser Höhe
hatten, geltend machen können, während es bisher so
war, daß dieser Betrag nur in dem Fall abziehbar war,
wenn tatsächlich Kosten in Höhe von 4 000 DM nachgewiesen werden konnten. Hinzu kam in der Regel ein
Selbstbehalt, so daß überhaupt nicht 4 000 DM in Anspruch genommen werden konnten. Ich bitte Sie, sich in
die Steuersystematik so einzuarbeiten, daß Sie nicht
hinterher in reine Polemik verfallen und falsche Dinge
behaupten.
({0})
Ein Weiteres: Frau Niehuis hat in ihrer Rede sehr
deutlich gemacht, daß wir uns neben Änderungen bei
Freibetrag und Kindergeld noch anderes gewünscht
hätten. Aber das ist eben der Punkt, den auch ich Sie
fragen wollte, Frau Kollegin: Wie kommen Sie dazu, zu
behaupten, wir hätten nur das verfassungsrechtlich Notwendigste gemacht?
({1})
Sie müßten doch wissen, daß es verfassungsrechtlich
nicht notwendig war, das Kindergeld um 20 DM zu erhöhen, daß wir das lediglich aus Gründen der sozialen
Gerechtigkeit gemacht haben und daß es gereicht hätte,
allein die Freibeträge zu erhöhen. Natürlich hätten auch
wir den Betrag lieber auf 400 DM angehoben. Aber
Verantwortung für Kinder wahrzunehmen bedeutet
eben, sowohl das Kindergeld zu erhöhen als auch sich
um einen soliden Haushalt zu kümmern.
({2})
Ich bitte Sie, in Ihrer Argumentation etwas seriöser zu
bleiben.
({3})
In der Aussprache
hat für die SPD-Fraktion nun die Kollegin Lydia Westrich das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steuerpolitik ist immer spannend.
Aber wenn in der Steuergesetzgebung eines besonders
Spaß macht, dann dieses: die Familienförderung immer
weiter voranzutreiben. Die Freude, diesen Gesetzentwurf der rotgrünen Regierungskoalition als erste Stufe
der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs in den
Bundestag einzubringen, lassen wir uns auch nicht durch
Ihre Reden nehmen, die nur in den Krümeln suchen und
nichts Konkretes dagegensetzen können.
({0})
Wir sind angetreten, die desolate Lage vieler Familien zu beenden, in die sie erst durch Ihre familienfeindliche Politik hineingeraten sind. In der öffentlichen Diskussion heißt es, Kinder seien heute das Armutsrisiko
Nummer eins, Kinder seien ein Luxus, den man sich
nicht leisten könne oder wolle. Das ist doch ein vernichtendes Urteil über eine Bundesregierung, die einstmals die geistig-moralische Wende propagiert hat.
({1})
Noch im Februar 1999, nach Ergehen des Urteils des
Bundesverfassungsgerichtes, war öffentlich große Freude von Ihnen, Herr Merz, darüber zu hören, daß die
Gleichmacherei in der Familienpolitik damit endlich
aufhören müsse. Eine Freude für die Familien war das
sicher nicht. So ehrenwert der Grundsatz der horizontalen Gerechtigkeit auch sein mag - also der Vergleich
von Familien mit Kindern und kinderlosen Paaren -: Die
meisten Bürgerinnen und Bürger akzeptieren und verstehen ihn überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Und es
gibt ja auch den Anspruch auf eine vertikale Gerechtigkeit, auf die Gleichbehandlung aller Kinder.
Das Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler
- nun gerade kein Intimfreund der Sozialdemokraten hat erst neulich wieder aufgelistet, wie viele Male die
sozialdemokratische Bundestagsfraktion seit der 11. Legislaturperiode Anträge auf ein einheitliches Kindergeld
gestellt hat. Es gibt eine stattliche Anzahl von Drucksachen dazu. Der Bund der Steuerzahler hat es natürlich
sehr beklagt, daß wir es erst in der 13. Legislaturperiode
endlich geschafft haben, der damaligen Regierungskoalition das einheitliche Kindergeld abzuringen. Auch da
hat natürlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
nachgeholfen.
Unsere Forderung nach einem einheitlichen Kindergeld ist schließlich in das Jahressteuergesetz von Herrn
Waigel eingeflossen. Das Kindergeld ist auf 200 DM für
das erste und zweite Kind erhöht worden. Der Kinderfreibetrag wurde auf 6 264 DM erhöht. Dies war zwar
im Vergleich zur bisherigen Regelung, Frau Falk, ein
Fortschritt, dennoch wollten wir schon immer mehr. So
haben wir, wenn ich die Kollegen und Kolleginnen aus
dem Finanzausschuß daran erinnern darf, 1997 einen
Entschließungsantrag gestellt, in dem wir die Erhöhung
des Kindergeldes auf 250 DM und die Erweiterung der
steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten bei erwerbstätigen Eltern generell gefordert haben.
Das ist natürlich abgelehnt worden.
Wir haben damals dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Anfang dieses Jahres vorgegriffen. Direkt
nach dem Regierungswechsel haben wir unsere erste
Forderung umgesetzt. Immer wieder hört man, daß wir
das Geld mit vollen Händen hinausgeschmissen hätten,
weil wir das Kindergeld für das erste und zweite Kind
ab Januar 1999 von 220 DM auf 250 DM erhöht haben.
Allein diese Erhöhung ergibt - ich will einmal die Zahlen nennen - in 1999 für Familien mit zwei Kindern eine
Entlastung von 720 DM im Jahr.
Des weiteren haben wir den Grundfreibetrag angehoben und den Eingangssteuersatz gesenkt. Nach diesen steuerlichen Verbesserungen - rechnen Sie nach zahlt ein verheiratetes Ehepaar mit zwei Kindern bei einem Bruttoeinkommen von weniger als 90 000 DM
1 100 DM bis 1 200 DM weniger Steuern als zuvor.
({2})
Wir haben damit vor allem Familien mit niedrigen und
mittleren Einkommen entlastet, wie wir das immer gewollt haben.
({3})
Das ist, Frau Falk, eine Politik, wie sie die Familien
in den letzten 16 Jahren nicht erleben durften. Während
dieser Zeit konnten sie nur zusehen, wie andere immer
weiter steuerlich begünstigt wurden und sich immer besserstellten, während bei den Familien mit Kindern das
Geld in der Tasche immer weniger wurde und sie außer
moraltriefenden Phrasen nichts bekamen.
Was Familien aber wirklich brauchen, sind steuerliche Erleichterungen. Deutlicher ausgedrückt: Sie brauchen einfach mehr Geld; denn Kinder großzuziehen kostet Geld - siehe die öffentliche Diskussion. Was sind
wir dafür, daß wir dieses Geld gleich zu Beginn unserer
Regierungszeit aufgebracht haben, von der Opposition,
also von Ihnen, gescholten worden! Bis zum Urteil des
Bundesverfassungsgerichts, das uns die Rechnung für
die verfehlte Politik von 16 Jahren konservativ-liberaler
Regierung präsentiert hat, so daß jede Kritik an Aufwendungen für Familien im Keim ersticken mußte, hieß
es, wir würden das Geld mit vollen Händen zum Fenster
herauswerfen.
({4})
Frau Kollegin
Westrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele?
Bitte.
Herzlichen Dank. Frau Kollegin. Sie erklären immer, daß unter der alten
Koalition nichts für die Familien getan worden sei.
({0})
Darf ich daran erinnern, daß das Kindergeld während
der Zeit der alten Koalition ab 1996 von 70 auf 200 DM
gestiegen ist
({1})
und um weitere 20 DM auf 220 DM erhöht wurde und
daß ausweislich der Äußerungen der Staatssekretärin im
Finanzministerium die Summe der Entlastungen für
Familien in diesem Zeitraum um mehr als 50 Prozent
erhöht wurde, so daß man nicht sagen kann, die alte Koalition habe nichts für die Familien getan. Das Gegenteil
ist der Fall.
Wenn ich sehe, daß das Kindergeld von 70 DM auf
220 DM gestiegen ist, habe ich nicht den Eindruck, daß
das eine Politik der sozialen Kälte war. Ich habe auch
nicht den Eindruck, daß die kleinen Schritte, die Sie gegangen sind bzw. momentan gehen - eine Erhöhung auf
250 DM, dann auf 270 DM - , ein Riesenschritt sind. Es
ist nur die Fortsetzung der von der alten Koalition vernünftigerweise eingeleiteten Linie. Stimmen Sie mir zu?
({2})
Herr Thiele, wir haben das
im Finanzausschuß zusammen gemacht. Ich weiß nicht,
ob Sie sich noch an den Kollegen Dr. Fell, der leider
verstorben ist, erinnern. Er hat sich zurückgezogen, weil
ihm die Diskussion über den Familienleistungsausgleich, der mit dem Jahressteuergesetz 1996 einhergegangen ist, einfach zu viel war. Er war damals Vorsitzender des katholischen Familienbundes. Er war es leid,
zu sehen, wie darüber diskutiert wurde. Deswegen hat er
sich zurückgezogen. Wir haben es dennoch zusammen
gemacht, und ich hoffe, daß wir auch dieses Gesetz zusammen vorwärtsbringen; denn die Familienförderung
ist das Lohnendste, was es gibt. Herr Thiele, ich kann
Sie nur herzlich dazu einladen, das mit uns gemeinsam
zu machen.
({0})
Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müßte
Ihnen doch in höchstem Maße peinlich sein. Können Sie
sich noch an die alte Bundesverfassungsgerichtsentscheidung erinnern, die wir 1996 mit durchgesetzt haben? Es hat dann drei Jahre gedauert, bis überhaupt irgend etwas passiert ist. Das heißt, von Ihnen ist die Frist
bis zum letzten Moment ausgeschöpft worden. Wir dagegen haben uns unverzüglich darangemacht, das Urteil
zur steuerlichen Gleichstellung von Familien und Alleinerziehenden umzusetzen.
Wir haben unsere Pflicht erfüllt: Wir haben alle Vorgaben des Karlsruher Urteils geprüft und abgewogen,
was daraus zu machen ist. Wir haben verschiedene Optionen, um die Karlsruher Entscheidung durchzusetzen.
Die Freibetragslösung, die verfassungskonform gewesen
wäre, ist in hohem Maße unsozial und scheidet deswegen aus. Eine reine Kindergeldlösung, bei der sich das
Kindergeld an der Höhe des Kinderfreibetrages und am
Spitzensteuersatz orientiert, wäre zwar sozial gerecht
und uns am liebsten, ist aber angesichts der leeren Kassen und der Verantwortung, die wir für die Finanzen zu
übernehmen haben, im Moment nicht umzusetzen.
Schließlich schied der von uns favorisierte Kindergrundfreibetrag, der eine gleichmäßige Entlastung aller Eltern
garantiert hätte, wegen verfassungsrechtlicher Bedenken
aus. Wir haben uns daher für die Beibehaltung des bisherigen Modells von Kinderfreibetrag und Kindergeld
entschieden.
Mit dem Gesetzentwurf zur ersten Stufe einer Neuregelung des Familienleistungsausgleichs sind wir einen
weiteren entscheidenden Schritt in die richtige Richtung
gegangen. Der Gesetzentwurf sieht im Kern die Einführung eines Betreuungsfreibetrags in Höhe von 3 024 DM
für Eltern zusätzlich zum bisherigen Kinderfreibetrag
vor. Daneben wird das Kindergeld für das erste und
zweite Kind nochmals um 20 DM auf 270 DM zum
1. Januar 2000 erhöht werden. Im Jahr 2002 werden wir
das Kindergeld nochmals erhöhen.
Auch für die Eltern volljähriger Kinder, die seelisch
oder geistig behindert und in Einrichtungen untergebracht sind, haben wir endlich eine Lösung gefunden,
damit diese Eltern die Leistungen, die sich an einen
Kindergeldanspruch knüpfen, wieder erhalten können.
Das war für uns das wichtigste. Wie haben wir im
Finanzausschuß nach Möglichkeiten gesucht! Immer
hieß es, es sei nicht durchsetzbar. Kreativität in der Familienpolitik war noch nie Ihre starke Seite.
({1})
Auch für die Grenzgänger in die Schweiz - können
Sie sich daran noch erinnern, Frau Frick? - haben wir
endlich Gerechtigkeit wiederhergestellt. Marion Caspers-Merk und Karin Rehbock-Zureich können ein Lied
von Familien singen, die Sie viele Monate lang bedrängt
haben. Aber immer hieß es, es gehe nicht.
Dieses Gesetz ist nur ein erster Schritt. Aber es bringt
einem Arbeitnehmerhaushalt mit zwei Kindern und einem
durchschnittlichen Familieneinkommen von rund 7 000
DM monatlich brutto im Jahre 1999 gegenüber 1998
rund 1 100 DM, im Jahr 2000 rund 2 400 DM und im
Jahr 2002 sogar rund 4 200 DM Entlastung.
Wir haben es trotzdem nicht aufgegeben, einen Systemwechsel zur einheitlichen steuerlichen Entlastung
für Erziehungs- und Betreuungsbedarf zu erreichen. Wir
werden uns das noch in allen Richtungen überlegen. Bis
zum Jahr 2002 werden wir die Familien, von 1997 an
gerechnet, mit rund 40 Milliarden DM entlastet haben.
Auch die besondere Entlastung für Alleinerziehende
wird nicht vergessen.
Kinder sind kostbar; aber ein Luxus dürfen sie trotzdem nicht werden.
({2})
Frau Merkel hat es gestern eingesehen. Ich hoffe, daß
wir eine gute Beratung dieses Gesetzentwurfes bekommen und das Gesetz gemeinsam verabschieden können.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nunmehr der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Heute war vielfach gar nicht von dem eigentlichen Anlaß dieser Debatte die Rede, nämlich von den drei Steuergesetzentwürfen, die ins Parlament eingebracht worden sind. Ich habe nichts dagegen, daß Sie diese drei
Gesetzentwürfe in einen Zusammenhang mit der Haushaltspolitik und der Steuerpolitik dieser Regierung stellen wollen. Darauf, Herr Solms, will ich Ihnen antworten, daß dieser Zusammenhang selbstverständlich besteht und daß die Gesetzentwürfe kein Flickwerk sind.
Die fünf Elemente, aus denen die Wirtschafts- und
Finanzpolitik der Bundesregierung besteht, lassen sich
nämlich genau beschreiben:
Erstens. Es gibt eine deutliche Steuersenkung für die
Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen für die Familien und für den Mittelstand, um die Kaufkraft im
Lande zu stärken.
({0})
- Rufen Sie doch nicht dazwischen, und hören Sie einmal einen Moment zu!
({1})
Zweitens. Es geht um die Senkung der Lohnnebenkosten, um die Chancen zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen und um die Wettbewerbsfähigkeit für Betriebe, die mit Menschen statt mit Maschinen arbeiten,
zu erhöhen.
Drittens. Es geht um die Verteuerung des Ressourcenverbrauches, die in unserer Wirtschaft für einen Modernisierungsschub sorgen soll.
({2})
Viertens. Es geht um die Verbesserung der Chancen
für Investitionen. Dazu gehört das Thema Unternehmensteuerreform, dem Sie sich, Herr Solms, ausführlich
gewidmet haben, obwohl dazu noch kein Entwurf der
Regierung auf dem Tisch liegt.
Fünftens. Es geht um Haushaltskonsolidierung. Ich
will nebenbei bemerken, daß dieser fünfte Punkt in der
Regel in den Reden der Oppositionsmitglieder nicht nur
völlig nachrangig, sondern überhaupt nicht behandelt
wird. Das ist das fundamentale Problem Ihrer Regierungstätigkeit von 16 Jahren. An diesem Punkt muß ich
ansetzen.
({3})
Bitte wärmen Sie folgenden Punkt nicht immer wieder auf: Ich habe nie die Kosten der Wiedervereinigung
kritisiert - ich bekenne mich ausdrücklich dazu -, sondern ich habe nur darauf hingewiesen, daß die Art, wie
Sie die Wiedervereinigung finanziert haben, extrem unsolide war und daß uns die Folgen in Form der hohen
Staatsverschuldung jetzt einholen.
({4})
- Darüber können wir gerne reden. Aber wir reden hier
über die Situation des Bundes, die sehr viel problematischer ist.
Von den Gesamtschulden in Höhe von 1,5 Billionen
DM stammen Schulden in Höhe von 1,2 Billionen DM
aus der Zeit, in der Sie die Regierungsverantwortung
hatten. Diese Schulden sind nämlich im Zeitraum von
1982 bis 1998 entstanden.
Übrigens muß man auch mit der Mär von den niedrigen Schulden in den 80er Jahren vorsichtig sein. Immerhin haben Sie in dieser Zeit Schulden in Höhe von 300
Milliarden DM angehäuft. Diesen Punkt muß man festhalten.
Heute ist der Bund in einer schlechteren finanziellen
Verfassung als das Haushaltsnotlagenland Saarland. Nur
noch das Haushaltsnotlagenland Bremen befindet sich in
einer schlechteren finanziellen Verfassung als der Bundeshaushalt. Das ist das Ergebnis Ihrer Regierungstätigkeit.
({5})
- Ich bin völlig einverstanden. Wir haben im Bundesrat
vieles gemeinsam gemacht. Sie können meine Rede vom
25. September des vergangenen Jahres nachlesen, in der ich
den Sachverhalt minutiös dargestellt habe. Es steht aber fest
- über diesen Punkt brauchen wir gar nicht zu diskutieren -,
daß nicht nur ich als hessischer Ministerpräsident, sondern
daß alle 16 Ministerpräsidenten sich nicht in erster Linie als
die Interessenwahrer des Bundes hinsichtlich seiner Finanzsituation gefühlt haben. Das ist wahr.
({6})
Das galt also sowohl für die Ministerpräsidenten Ihrer
Couleur wie auch für die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten.
({7})
Ich habe immer gesagt: Ich beklage mich nicht, daß
ich jetzt für die Aufräumarbeiten infolge Ihrer Hinterlassenschaft verantwortlich bin. Ich sage nur, daß die
Hauptverantwortlichen, die 80 Prozent der Gesamtschulden in Höhe von 1,5 Billionen DM zu verantworten
haben, wenigstens einen kleinen Beitrag dazu leisten
können, daß wir aus dieser Schuldenfalle herauskommen. Man kann schon verlangen, daß sie uns nicht noch
Knüppel zwischen die Beine werfen.
({8})
Bei der Bewertung der Schulden hilft Ihnen auch
nicht die trickreiche Aussage, der Finanzminister Eichel
nehme das zurück, was der Finanzminister Lafontaine
draufgetan habe.
({9})
- Auf diesen Punkt komme ich sofort zurück, Herr Glos.
- An dieser Legende können Sie nur deswegen stricken,
weil wir die Zahlen ein halbes Jahr nach Regierungsantritt auf den Tisch gelegt haben; ansonsten wäre Ihnen
diese Ausrede verbaut.
Sie müssen schon einräumen, daß die Schulden in
Höhe von 1,5 Billionen DM nicht zwischen dem September des vergangenen Jahres und dem 23. Juni dieses
Jahres entstanden sind. Aber genau diese Schulden verursachen jetzt die Zinskosten in Höhe von 82 Milliarden
DM.
({10})
Ich sage übrigens einmal mit Blick auf die PDS: Es
ist schon ein erstaunlicher Vorgang, daß jemand, der
sich für links hält oder jedenfalls so tut als ob, die Themen Staatsverschuldung und Umverteilung von unten
nach oben - das ist nämlich die schlimmste, die es überhaupt gibt - und ihre sozialpolitischen Probleme überhaupt nicht in den Blick nimmt, sondern wie viele die
Augen fest zumacht und die Debatte erst dahinter anfängt. Das ist ein schwerer Fehler.
({11})
Deswegen: Wer überhaupt eine soziale Politik in diesem Land machen will, der muß an dieser Ursache ansetzen, so bitter das ist.
Meine Damen und Herren, es muß auch noch einmal
gesagt werden - und daran erinnere ich mich nun sehr
gut -: Im Jahr 1990 haben wir eine Debatte über die
Finanzierung der Kosten der Einheit geführt. Erstens
haben Sie konsequent die Kosten geleugnet. Daran werden Sie sich erinnern. Zweitens haben Sie aber auch
konsequent die damalige Bereitschaft im Volke, die Lasten zu tragen, weil wir sie gern getragen hätten, nicht
genutzt
({12})
und die Debatte darüber vermieden. Die SPD, die Gewerkschaften und übrigens auch viele aus der Wirtschaft
haben Ihnen damals vor der Bundestagswahl Steuererhöhungen zur Finanzierung der Kosten der Einheit vorgeschlagen. Sie haben das alles in den Wind geschlagen.
({13})
Ich bin ganz sicher, daß das Wahlergebnis von 1990
für Helmut Kohl nicht einen Deut anders ausgefallen
wäre, wenn er den Mut gehabt hätte, damals vor der
Bundestagswahl den Menschen zu sagen: Jawohl, zeitlich befristet müssen wir jetzt für die Kosten der Einheit
mehr Geld nehmen, weil wir es andernfalls in eine ganz
ferne Zukunft verschieben, unsere Kinder das finanzieren lassen und im übrigen unseren Staat nach ein paar
Jahren handlungsunfähig machen. Das ist genau die Lage, in der wir uns heute befinden.
({14})
Das heißt, das fundamentale Versäumnis kurz vor der
Wahl, die Solidarität der Menschen nicht eingefordert zu
haben, als sie bereit waren, sie zu geben, und als die
Opposition bereit war, Ihnen zuzustimmen, holt uns jetzt
ein. Deswegen bitte ich schon sehr herzlich darum, daß
sich alle, die sich zur Einheit und ihren Kosten bekennen, jetzt wenigstens auch zur seriösen Finanzierung
eben dieser Kosten bekennen.
Nun etwas, Herr Glos, zu der Mär, daß ich jetzt das
zurücknehmen müßte, was Herr Lafontaine draufgetan
hätte. Sie wissen doch wie ich - das können Sie nun
nachlesen, und das habe ich in der Bundesratsrede am
25. September 1998 einzeln dargelegt -, daß der Haushaltsentwurf für 1999, den Sie damals auf den Tisch
gelegt haben, eine Fülle von Dingen, die eigentlich hineingehört hätten, überhaupt nicht beinhaltet hat. Er war
ja in der offiziellen Darstellung schon ganz knapp unter
der Grenze der Verfassungsmäßigkeit. Sie haben nicht
einmal die Hilfen für die Haushaltsnotlagenländer
Saarland und Bremen eingestellt. Da fehlten 3 Milliarden DM. Die mußten natürlich hinein.
({15})
Sie haben so getan, als ob die Sowjetunion oder dann
Rußland immer weiter die Schulden tilgen würde, die sie
bei uns haben. Daß das nicht so ist und daß wir nun in
Paris umschulden mußten und daß das jetzt zum Beispiel zu einer laufenden Belastung von knapp 3,5 Milliarden DM im Haushalt führt, haben wir Ihnen damals
vorausgesagt. Sie haben keinerlei Vorsorge im Haushalt
getroffen. Das mußte aber in den Haushalt 1999 hinein.
Zu den Postunterstützungskassen: Sie haben doch
das ganze Dilemma, daß Sie eigentlich gar keinen verfassungsgemäßen Haushalt mehr vorlegen konnten - übrigens seit 1996 nicht mehr -, immer nur durch Privatisierungserlöse verdeckt. Diese Mittel stehen erstens nicht
mehr so zur Verfügung, zweitens waren sie dafür nie
gedacht. Sie waren immer dafür gedacht, die Pensionen
für die Beamten, die da übergegangen sind - es geht um
6,5 Milliarden DM mit wachsender Tendenz -, langfristig
abzudecken. Wenn wir aber die Privatisierungserlöse bei
der Telekom in großen Tranchen nehmen und in den
Haushalt stecken, dann kommt in etwas späterer Zukunft
- und diese ist gar nicht lange hin - die volle Last der
Pensionen für die Beamten auf den Bundeshaushalt zu.
({16})
Sehen Sie, meine Damen und Herren, so kann man
Haushaltspolitik doch nicht betreiben.
Abgesehen davon: Wir haben ja Gott sei Dank eine
breite Privatisierung bei der Telekom erreicht, nicht nur
Aktienoptionspläne für die Vorstände. Das meine ich
nicht. Wir haben erreicht, daß dann doch bitte alle beteiligt wurden. Dabei muß man auch wissen, wie der Bund,
nach wie vor noch Hauptaktionär, mit der Privatisierung
umgehen soll. Man kann überhaupt nicht mit so großen
Tranchen an den Markt gehen, weil die Konsequenz
dann der Kursverfall wäre. Im übrigen könnten wir von
den Kleinaktionären bei der Telekom strafrechtlich zur
Verantwortung gezogen werden, wenn wir uns so verhielten. Das geht alles überhaupt nicht.
({17})
Aber so ist das gelaufen. In diesem Fall ist ein großes
Paket bei der KfW geparkt worden. Aber so etwas hat ja
alles seine Grenzen; vor allen Dingen ist es dann in kürzester Zeit aufgebraucht. Es waren übrigens 6,5 Milliarden DM, die dort gefehlt haben.
Auf den folgenden Punkt werde ich anschließend
noch einmal zurückkommen, wenn wir über die Lohnnebenkosten reden. Jetzt will ich nur folgendes sagen:
Sie haben doch auch ein Viertel des Aufkommens aus
der Mehrwertsteuer vergessen. Wir haben zusammen
zum 1. April 1998 eine Mehrwertsteuererhöhung um 1
Prozent beschlossen, damit der Rentenversicherungsbeitrag nicht über 21 Punkte steigt. Das war aber für das
betreffende Jahr nur für ein dreiviertel Jahr veranschlagt.
Jetzt, 1999, müssen wir das für das gesamte Jahr veranschlagen. Auch das sind schon wieder 4 Milliarden DM.
Wenn ich das alles zusammenrechne - ich habe das jetzt
nicht mehr so genau im Kopf -, bewegen wir uns in
einer Größenordnung zwischen 15 und 20 Milliarden und dies bei 30 Milliarden, die dadurch zustande kommen, daß Herr Waigel damals schlicht das nicht veranschlagt hat, was veranschlagt werden mußte.
({18})
Es kommt eine andere Sache hinzu - hierbei gebe ich
Ihnen zu, das haben wir im Bundestagswahlkampf natürlich weidlich ausgeschlachtet. Sie müssen das aber
vertreten -: Sie haben vor der Bundestagswahl die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik - vorzugsweise
für die ostdeutschen Länder - ordentlich heraufgesetzt,
damit Sie noch schnell vor der Wahl eine schöne Statistik vorweisen konnten. Die Mittel mußten alle auch
schnell, schnell ausgegeben werden. Im Haushalt 1999
hatten Sie dann dafür überhaupt nichts mehr vorgesehen.
So kann man auch mit den Arbeitslosen nicht umgehen,
etwa nach dem Motto: Mal vor der Wahl schnell rein in
den Job und hinterher wieder raus.
({19})
Das sind auch noch einmal 6,5 Milliarden DM. Wenn
Sie, verehrter Herr Glos, wollen, daß wir über diese Frage weiter reden, machen wir das.
({20})
Übrigens glaubt diese Legende, die Sie hier bilden wollen, in der Bevölkerung sowieso keiner. Sie führen ja
sozusagen lauter Bäume vor. Die Leute sehen aber trotz
der vielen Bäume den Wald sehr genau. Sie sehen die
1,5 Billionen DM Staatsverschuldung und sagen: Genau
das ist es. Sie wissen genau: Es ist etwas faul im Staate der Satz heißt eigentlich - Dänemark. Dieser Satz ist
falsch, weil die Dänen eine viel bessere Finanzpolitik
haben als wir. Der Satz muß lauten: Es ist etwas faul im
Staate Deutschland. Das wissen die Leute.
({21})
Wir hatten ja auch den Sommer über genügend Streit in
den eigenen Reihen. Es ist ja nicht einfach, so etwas
klarzumachen und durchzuziehen. Aber glauben Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, nicht, daß
Sie aus dem Streit und der Verwirrung, die es da gab,
langfristig einen Gewinn ziehen können.
({22})
- Ja, natürlich; dieser Herbst wird schwierig für uns.
({23})
Ich sage Ihnen einmal, daß viele Menschen - wildfremde - mich jeden Tag ansprechen und sagen: Sie haben
doch ganz recht; das geht doch wirklich nicht so weiter.
Ziehen Sie das einmal durch! - Das sagen mir sehr viele
Menschen, übrigens auch aus Ihrem Lager, und das geht
quer durch die ganze Bevölkerung. Die Leute wollen
endlich, daß ihnen reiner Wein eingeschenkt wird. Sie
wissen es im Grunde schon; sie wollen, daß das einmal
klargemacht wird.
({24})
Sie wollen vor allen Dingen auch, daß ein Ausweg aufgezeigt wird. Sie sind ja auch bereit, etwas mitzutragen,
wenn sie wissen, daß es ihren Kindern zugute kommt,
und wenn sie wissen, daß alle nach ihrer Leistungsfähigkeit mit dabei sind. Das ist ein völlig richtiger Satz,
gegen den ich überhaupt nichts einzuwenden habe. Das
kann man im einzelnen durchdeklinieren; das will ich
aber heute nicht tun. Wir werden ja in der nächsten Woche die Debatte um den Haushalt führen.
Ich will jetzt nur kurz auf die Steuerpolitik eingehen.
Es sind dabei ja mehrere Elemente zu beachten. Einige
haben sich noch einmal mit dem Steuerentlastungsgesetz
beschäftigt. Es ist richtig: Ich habe das mitgetragen. Das
ist völlig wahr. Ich will jetzt nicht über die Verwirrung
im März reden; das war immer falsch. Aber wie dem
auch sei: Das war damals der erste Baustein - das gehört
alles zusammen -, nämlich eine starke Entlastung der
Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen und der Familien.
Sie müssen sich jetzt einmal die Steuerpolitik, die Sie
in 16 Jahren gemacht haben, und die Steuerpolitik, die
wir jetzt machen, ansehen. Eines gestehe ich Ihnen, Herr
Thiele, zu: Den ersten großen Schritt haben wir zusammen getan, als wir das steuerfreie Existenzminimum,
den Grundfreibetrag, nach dem betreffenden Urteil des
Bundesverfassungsgerichts und das Kindergeld ordentlich angehoben haben. Ich finde es schon sehr schön,
wenn Sie das heute auf Ihre Habenseite schreiben.
({25})
Lesen Sie doch bitte einmal nach, was damals im Vorfeld die F.D.P. - die ganz besonders -, aber auch die
CDU/CSU zu diesem Thema gesagt haben. Das konnte
nur deshalb umgesetzt werden, weil wir eine Mehrheit
im Bundesrat hatten; ohne diese hätte man es nicht
hinkriegen können.
({26})
Es war immer das Prinzip sozialdemokratischer Steuerpolitik, das steuerfreie Existenzminimum möglichst
hoch anzusetzen, also wenigstens - jetzt sage ich es
einmal präzise, weil dort ein großes Mißverständnis liegt
- auf der Höhe der Sozialhilfe. Wir wollten das als
steuerfreies Existenzminimum definieren und es auch
wirklich steuerfrei stellen; das war bis dahin nämlich
nicht der Fall, und das war verfassungswidrig.
Wir haben in der Tat die Vorstellung, daß jedes Kind
- um es präzise zu sagen: das des Sozialhilfeempfängers
und das des Millionärs - dem Staat das gleiche wert sein
soll.
({27})
Es gibt viele, die sagen: Bei meinem Einkommen habe
ich es gar nicht nötig, Kindergeld zu bekommen. Das
wäre verfassungswidrig; Sie wissen das. Es kann allerdings verteilungspolitisch geregelt werden. Es ist nur
eine Frage der Höhe des Spitzensteuersatzes und der
Möglichkeiten der Steuergestaltung. So können Sie von
der Verteilung her genau das richtige Ergebnis erzielen.
Insofern ist es richtig, den Weg eines einheitlichen
Kindergeldes für alle zu gehen.
Es ist aber Populismus, wenn jetzt gesagt wird, wir
müßten dies gleichmachen. Die Ungerechtigkeit bezieht
sich übrigens nicht auf die Bezieher der Sozialhilfe. Die
Ungerechtigkeit bezieht sich auf die Bezieher kleiner
Tarifeinkommen. Bei der Sozialhilfe handelt es sich um
den einzigen Fall, wo wir nach dem Bedarfsdeckungsprinzip ein kostendeckendes Kindergeld in Höhe von
408 DM haben.
({28})
Derjenige aber, der ein kleines Tarifeinkommen bezieht,
guckt ins Röhrchen, und zwar nicht wegen des kleinen
Tarifeinkommens - da ist das Lohnabstandsgebot zur
Sozialhilfe gewahrt; das wird in der Öffentlichkeit im-
mer falsch diskutiert -, sondern weil die Familienkom-
ponenten in der Sozialhilfe andere sind. Das ist nicht in
Ordnung. Deshalb müssen wir endlich dahin kommen,
daß die Familienkomponente genauso hoch ist wie bei
der Sozialhilfe. Das ist die Zielsetzung.
[Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Deswegen wird die Haushaltskonsolidierung immer
völlig aus dem Blick gelassen. Sie reden nicht von der
Staatsverschuldung, weil Sie dann nämlich konkret werden müßten, wenn es darum geht, was noch möglich ist
und was nicht. Eine Erhöhung des Kindergeldes von
jetzt 250 DM auf 410 DM kostet mehr als 30 Milliarden
DM. Mir muß einmal jemand vorrechnen, wie dies finanziert werden soll. Das kann mit keinem Rechenschieber ermittelt werden.
({29})
Wenn das Komma verschoben würde, dann wäre dies
möglich. - Das ist die eine Seite.
In Wirklichkeit war in der Gesellschaft die Situation
entstanden, daß nur diejenigen, die den Steuern nicht
ausweichen konnten - das sind die, die fast ihr gesamtes
Geld zum Leben brauchen -, die volle Steuerlast getroffen hat. De facto ist die Steuerlast schwergewichtig in der
Mitte der Gesellschaft, bei den Beziehern kleiner und
mittlerer Einkommen, übrigens auch bei den kleinen Unternehmen, die nur in diesem Lande ihre Tätigkeit entfalten, abgeladen worden. Denn durch die vielen Steuergestaltungsmöglichkeiten der Bezieher höherer Einkommen
- ich rede nur von den legalen Möglichkeiten - könnten
diese in großem Umfang am Finanzamt vorbeikommen.
So ist zum Beispiel der Aufbau Ost über die Sonderabschreibungen - Sie wissen, daß wir dies ursprünglich
nicht wollten; wir wollten ein Zulagensystem - zu einem
Vermögensbildungsprogramm West geworden. Das ist
eines der Probleme, die wir vorgefunden haben. Dies
hätte vernünftigerweise anders geregelt werden müssen.
({30})
Meine Damen und Herren, ich muß der Wahrheit die
Ehre geben: Dies hat begonnen mit dem, was wir zuvor
gemeinsam verabschiedet haben. Herr Poß hat vorhin zu
Recht gesagt, daß die veranlagte Einkommensteuer wiederkommt. In diesem Frühjahr haben wir die Beendigung der Sonderabschreibungen „Aufbau Ost“ mit
Wirkung zum 31. Dezember vergangenen Jahres gemeinsam beschlossen und die Finanzierung auf ein Zulagensystem umgestellt. Im nächsten Frühjahr werden
Sie sehen, was das, wogegen Sie wütend angerannt sind,
obwohl es auch in Ihren Petersberger Beschlüssen enthalten ist, hervorgerufen hat.
({31})
Beispiele: Teilwertabschreibung, das absolute Wertaufholungsgebot, die Einschränkung der gegenseitigen Verrechnung von Gewinnen und Verlusten aus unterschiedlichen Einkunftsarten, das Abzinsungsgebot zum Beispiel für Rückstellungen bei den Energieversorgungsunternehmen, die sie für die Entsorgung von Kernkraftwerken gebildet hatten.
({32})
Allein das - und deswegen ist die Mär von der Mit-
telstandsbelastung falsch - macht 16,7 Milliarden DM
aus.
Jetzt komme ich zu Ihren niedrigeren Steuersätzen.
Ihr Problem war - das wissen Sie ganz genau; deswegen
haben Sie Frau Nolte am Schluß auch nicht durchgehen
lassen, daß sie die Wahrheit gesagt hat -: Ihre Steuerre-
form bedeutete einen Einnahmeausfall von rund 40 Mil-
liarden DM für alle öffentlichen Kassen. Hinzu kam
noch 1 Prozentpunkt mehr an Mehrwertsteuer. Das war
politisch nicht verantwortbar.
[Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die Wahrheit ist, daß kein Ministerpräsident, auch keiner von der CDU, dies gewollt hat. Wir nehmen im
Rahmen des Steuerentlastungsgesetzes eine Entlastung
von - und das fällt für alle öffentlichen Haushalte hart
genug aus - mehr als 20 Milliarden DM vor. Aber eine
Herabsetzung auf 40 Prozent wäre nicht möglich gewesen. Sie haben sich ja am Schluß nicht einmal zu ihrer
Gegenfinanzierung bekannt, die ja in dem gesamten Paket vorgesehen war.
Nun komme ich zum zweiten Teil der Unternehmensteuerreform, über den Herr Solms ausschließlich
gesprochen hat, obwohl der noch gar nicht vorliegt. Er
hat über Empfehlungen der Kommission gesprochen, die
- ganz zu Recht - drei Elemente der Besteuerung von
Personengesellschaften vorsehen. Wir machen die entsprechenden Planspiele ja deshalb, weil wir bei dem
einen Element, bei dem es in der Tat zu einer Belastung
der kleinen und mittleren Unternehmen kommt, sagen:
Genau das wollen wir nicht. Deswegen brauchen wir
eine sorgfältige Gesetzgebung. Trotzdem bauen Sie immer einen solchen Popanz auf. Ich weiß nicht, ob Sie
damit noch jemanden beeindrucken. Aber mit Wahrheit
hat das jedenfalls gar nichts zu tun.
({33})
Wir müssen eine Unternehmensteuerrefom durchfüh-
ren, um die Investitionen zu begünstigen; denn das ist
wichtig. Auch das Realkapital bei uns muß erneuert
werden. Das ist für die Schaffung von Arbeitsplätzen
bedeutend.
Nun müssen Sie sich entscheiden - denn sie wech-
seln ständig die Prioritäten -, ob Sie jetzt, wenn wir
eine ordentliche Senkung der Unternehmensteuersätze
und eine Nettoentlastung vor allem der kleinen und
mittleren Unternehmen vornehmen, auch noch eine
Senkung des privaten Spitzensteuersatzes fordern, ob-
wohl, wie Sie auch wissen - deswegen ist Ihre Argu-
mentation in volkswirtschaftlicher Hinsicht, Herr
Solms, nicht sehr überzeugend -, in allen Industrielän-
dern zwischen dem im Unternehmen verbliebenen Ge-
winn und dem privaten Spitzensteuersatz unterschieden
wird.
[Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die haben
doch eine andere Gesellschaftsstruktur! -
Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der
F.D.P.)
Wenn wir die Unternehmensteuerreform mit unseren
Eckpunkten hinter uns haben und bei einer Belastung
der Unternehmen von 38 Prozent und bei einem Spitzensteuersatz von 48,5 Prozent liegen, kommt es zu
einer Spreizung von 10 Prozentpunkten. Das ist im
europäischen Umfeld so ziemlich die niedrigste Spreizung, die es gibt. Die benachbarte Niederlande haben
eine Spreizung von 25 Prozentpunkten, und zwar bei 35
auf der einen und 65 Prozent auf der anderen Seite. Die
Niederländer reduzieren jetzt den Spitzensteuersatz auf
52 Prozent. Es bleibt aber immer noch eine Spreizung
von 17 Prozentpunkten übrig.
Angesichts dessen müssen Sie sich fragen, ob Sie,
wenn Sie eine europaweit konkurrenzfähige Unternehmenbesteuerung durchführen wollen - das müssen wir -,
gleichzeitig an die Senkung des Spitzensteuersatzes herangehen wollen und woher Sie das Geld dafür nehmen.
Das mag alles schön sein. Aber in Wirklichkeit heißt
das, daß Sie die Unternehmen nicht so sehr entlasten
können, wie wir das eigentlich wollen.
Beim Rückblick auf die 16 Jahre Ihrer Regierungspolitik ist festzustellen: Durch unser Steuerentlastungsgesetz, das in diesem Jahr in Kraft getreten ist, wird in
dieser Wahlperiode der Spitzensteuersatz um 4,5 Punkte
gesenkt, und zwar von 53 auf 48,5 Prozent. Das ist bereits Gesetz. Sie haben in Ihren 16 Regierungsjahren gerade einmal eine Senkung um 3 Prozentpunkte hinbekommen, und zwar von 56 auf 53 Prozent. Mehr nicht!
Auch aus diesem Grunde sollten Sie mit Ihrer Polemik
ein bißchen vorsichtig sein.
({34})
Was den unteren Rand, dem unsere Leidenschaft auch aus vernünftigen ökonomischen Gründen - zugegebenermaßen mehr gehört, betrifft: Da haben Sie eine
merkwürdige Politik gemacht. Es ging immer hin und
her: einmal bis zu 3 Prozentpunkte runter und dann wieder 3 Prozentpunkte rauf. Im Rahmen unserer Steuerreform, die wir Anfang dieses Jahres beschlossen haben,
geht der Eingangssteuersatz in einer Wahlperiode um 6
Prozentpunkte zurück, und zwar von 25,9 auf 19,9 Prozent. Das hat es noch nie in Deutschland gegeben.
({35})
Herr Gysi hat natürlich recht, wenn er sagt, daß das
allen zugute kommt. Aber es kommt vorrangig den
Empfängern unterer Einkommen zugute - deswegen ist
diese Reform ja so teuer -, und das wollen wir auch.
Daher weise ich darauf hin: Wer darüber nachdenkt, wie
wir das Problem des Transfereinkommens, also das des
Übergangs von Nichtbeschäftigten zu Beschäftigten,
besser lösen, der wird sich, wenn er denn kann, noch
einmal mit dem Eingangssteuersatz beschäftigen müssen. Das wäre eine vernünftigere Idee als manch andere.
({36})
Zum vorliegenden Gesetzentwurf zur Familienförderung: Es ist zu betonen, daß trotz einer solchen
Haushaltslage sehr viel in sehr kurzer Zeit getan wird. In
der Koalitionsvereinbarung haben wir für diese Wahlperiode eine Erhöhung des Kindergeldes um 40 DM versprochen. Wenn das, was wir hier vorgeschlagen haben,
am 1. Januar 2000 im „Bundesgesetzblatt“ steht - ich
vermute einmal, daß Sie nicht dagegen stimmen werden,
({37})
obwohl Sie im vergangenen Jahr immer erklärt haben,
daß eine Erhöhung des Kindergeldes nicht so wichtig
sei; dazu könnte man einmal Reden aus dem vergangenen Jahr heraussuchen; ich bin mir aber sicher, daß Sie
nicht dagegen stimmen -, dann werden wir bereits nach
einer Regierungstätigkeit von 14 bzw. 15 Monaten mehr
getan haben, als wir am Beginn der Wahlperiode in
Kenntnis der schwierigen Haushaltslage versprochen
haben. Das sollte uns einmal jemand nachmachen.
({38})
Zum Steuerbereinigungsgesetz sage ich nur: Ich habe mit großem Amüsement gehört, daß Sie, Herr Gysi,
jetzt zum Befürworter der Steuerfreiheit der Erträge aus
der Kapitallebensversicherung mutieren. Das werde ich
den Versicherungen erzählen. Die werden Ihnen die Bude einrennen. Da können Sie noch Stimmen sammeln.
Dieses Steuerschlupfloch wollen wir wirklich schließen. Ich weiß, Sie von der Opposition wollten es mit
Eingriffen in die bestehenden Verträge schließen. Das
haben wir uns nicht getraut. Das gebe ich offen zu. Das
ist vielleicht auch nicht richtig. Aber wir wollen es
schließen, weil es uns zuallererst darauf ankommt - das
ist doch das Interesse der Gemeinschaft -, daß alle im
Alter ein regelmäßiges gesichertes Einkommen haben,
mit dem sie vernünftig auskommen können, das über der
Sozialhilfe liegt und das ihren Lebensstandard einigermaßen sichert. Das wollen wir steuerlich fördern.
({39})
Darüber hinaus kann von mir aus jeder machen, was er
will. Aber Gegenstand besonderer Steuersubventionen
muß das wirklich nicht sein.
({40})
Herr Gysi, ich bin sehr gespannt, ob die PDS das fordert.
Wir sollten an anderer Stelle einmal darüber sprechen,
was das eigentlich bedeutet.
Ferner aber, meine Damen und Herren, gibt es eine
Menge an Bereinigungen, die wir im Hinblick auf EURecht machen müssen. Es gibt auch einige Bereinigungen - das ist jedes Jahr so - im Zusammenhang mit dem
Steuerentlastungsgesetz. Es ist wahr - und das sollten
wir lernen -, daß der bloße Steuersatz, den man festlegt,
das Geld nicht bringt, wenn sich das ganze Umfeld nicht
entsprechend bewegt. Deswegen müssen wir selbstverständlich eine Steuerpolitik - künftig wird das übrigens
auch bei den Abgabensystemen so sein - mit Blick auf
unsere Nachbarn machen; denn wir sind nun einmal
nicht mehr alleine. Der Hinweis, daß das so sein muß, ist
richtig. Die europäische Einigung muß in diesem Punkt
vorangehen. Sie wird in vielen anderen Feldern vorangehen müssen. Wir müssen uns mit unserem Rechtssystem darauf einstellen.
Zum letzten Punkt: Ökosteuer und der Lohnnebenkosten. Ich sage es noch einmal in aller Ruhe: Ich hatte den
Eindruck - Herr von Weizsäcker hat das sehr nachdrücklich geschildert -, daß inzwischen zwei Dinge Gemeingut
sind - unabhängig davon, ob man schon in der Lage war,
das in Handeln umzusetzen: Zum einen ist es in der Zeit
hoher Arbeitslosigkeit ein fundamentaler Fehler, die Arbeit so teuer zu machen. Das bedeutet jetzt nicht, man
muß Druck auf die Einkommen der Arbeitnehmer ausüben. Es geht darum, daß wir zu hohe Lohnnebenkosten
haben. Das hängt auch von den Tarifvertragsparteien
- nicht nur vom Staat - ab. Wir müssen die Lohnnebenkosten senken, wenn wir Chancen für Arbeit schaffen
wollen. Zum anderen ist es gut, wenn wir mit dem knappen Gut unserer natürlichen Ressourcen sparsamer umgehen und wenn wir insbesondere entsprechende Preissignale setzen. Denn das ist marktwirtschaftlich die vernünftigere oder jedenfalls die interessantere Lösung, als
nur Ordnungspolitik zu betreiben. Denn Ordnungspolitik
verlangt immer sogleich einen größeren Überwachungsapparat. Diese beiden Punkte sind richtig und können
überhaupt nicht bestritten werden.
Meine Damen und Herren, wenn Sie uns nun vorwerfen, daß wir vorsichtiger als Sie Anfang der neunziger
Jahre - da waren es nämlich bei der Mineralölsteuer 50
Pfennig in fünf Jahren -,
({41})
aber systematischer an das Problem herangehen, weil
wir ein langfristiges Signal setzen und nicht einfach
Haushaltslöcher stopfen wollen und weil wir gleichzeitig das Geld für die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge nutzen werden, während in Ihrer Zeit sowohl
die Mineralölsteuer als auch die Lohnnebenkosten gestiegen sind, dann sind Sie schlechte Kritiker unseres
Vorhabens.
({42})
Auch an dieser Stelle gilt eines wieder: Ganz plötzlich - das betrifft Sie, Herr Solms - wechseln Sie die
Prioritäten und sagen: Wenn ihr die Verbrauchsteuern
erhöht, dann macht das, um die direkten Steuern zu senken. Dabei haben Sie selbst die ganze Zeit davon geredet, was für ein Problem die Lohnnebenkosten darstellen. Sie kamen doch gar nicht ohne unsere Hilfe aus. Sie
hätten das auch mit der Mineralölsteuer machen können.
Sie haben aber über die Mehrwertsteuer verhindert, daß
der Rentenversicherungsbeitrag gestiegen ist. Jetzt sagen
Sie mir einmal, was daran im Prinzip anders als bei unserem Konzept ist und wieso Sie jetzt plötzlich, nur weil
wir das fortsetzen, die Prioritäten wechseln. Damals haben Sie doch mit uns - das ging sogar auf Ihre Initiative
zurück; wir hatten doch gar keine Veranlassung dazu beschlossen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um die
Rentenversicherungsbeiträge nicht über 21 Prozent steigen zu lassen.
Ich fände es ganz in Ordnung, wenn wir auf der Basis
unseres gemeinsamen Verhaltens - also auf Basis dessen,
was jeder von uns in der Vergangenheit gemacht hat miteinander diskutieren würden. Das würde manche Debatte - es ist schon witzig, welche Volten so geschlagen
werden - ein ganzes Stück versachlichen und würde hier
und dort vielleicht auch zu breiteren Mehrheiten führen,
aber jedenfalls nicht dazu, daß wir den Leuten heute das
Gegenteil von dem erzählen, was gestern noch galt.
({43})
Herr Minister Eichel,
gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Solms? Ich
will vorweg darauf hinweisen, daß sich die Debatte wegen der Überschreitung der Redezeiten verlängert.
Gleich haben wir auch noch zwei Kurzinterventionen. Nun der Kollege Solms.
Herr Minister,
darf ich Ihnen in Erinnerung rufen, daß es ein Kompromiß mit der Koalition war, einen demographischen
Faktor in die Rentenversicherung einzubauen und einen
Teil der versicherungsfremden Leistungen - das war
unser Zugeständnis - über 1 Prozentpunkt mehr Mehrwertsteuer mitzufinanzieren. Das war der Kompromiß.
Das gehört zusammen.
Seitdem hat aber selbst Ihr Arbeitsminister zugestanden - insbesondere auch nach dem, was Sie jetzt bei der
ersten Stufe der Ökosteuer gemacht haben -, daß die versicherungsfremden Leistungen durch die Zuschüsse aus
dem Haushalt voll abgedeckt sind. Einen zusätzlichen
Anlaß oder eine Begründung dafür, weitere Zuschüsse in
die Rentenversicherung zu leiten, gibt es nicht. Was jetzt
zu tun ist, ist, die Rentenversicherung in ihrer Struktur zu
reformieren, damit sie auf Dauer bestandsfähig wird, und
die Steuerpolitik so zu reformieren, daß sie auch den Ansprüchen des Kapitalmarktes und insbesondere der wirtschaftlichen Entwicklung des Arbeitsmarktes gerecht
wird. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie sich nicht an diesen
Kompromißzusammenhang erinnern.
({0})
Herr
Solms, das war ein Kompromiß in Ihrer Koalition. Der
erste Teil war nie Bestandteil unserer Zustimmung, wie
Sie wissen. Gegenstand unseres Kompromisses - also
zwischen der damaligen Regierungskoalition und der
damaligen Opposition respektive der Bundesratsmehrheit - war der, daß der Rentenversicherungsbeitrag nicht
über 21 Punkte steigen sollte und daß deswegen die
Mehrwertsteuer um einen Punkt erhöht wird. Das war
der Gegenstand unseres Kompromisses. Zu dem bekenne ich mich auch. Der ist qualitativ nicht anders als das,
was wir machen.
({0})
({1})
Herr Gysi hat seine
Kurzintervention zurückgezogen, da es ohnehin eine
Debatte dazu geben wird. Aber Herr Thiele möchte seine Kurzintervention aufrechterhalten. Bitte sehr.
Herr Minister, Sie
hatten mich direkt zur Familie angesprochen. Sie haben
auch die Wahrhaftigkeit angesprochen. Dazu möchte ich
wie folgt Stellung nehmen: Erstens. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber einen Auftrag erteilt. Nicht der Bundesrat hat die Änderung des Gesetzes
und die Erhöhung des Kindergeldes von 70 DM auf 200
DM beschlossen. Das hat vielmehr der Finanzausschuß
und in der Folge des Finanzausschusses der Deutsche
Bundestag beschlossen. Es gab keinen Druck des Bundesrates, sondern das hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Der Bundesrat hat dem nachher zugestimmt.
({0})
Der Deutsche Bundestag hat in diesem Zusammenhang nach dem Modell der F.D.P. und nicht der SPD die SPD wollte eine reine Transferleistung als soziale
Wohltat an die Bürger, die F.D.P. wollte, daß die Bürger
das Existenzminimum ihrer Kinder aus steuerfreien
Geldern bestreiten können - 1996 erstmalig das Kindergeld im Einkommensteuergesetz als negative Einkommensteuer geregelt. Das ist vernünftig so, weil die Leistungen für die Familien in Form des Kindergeldes keine Wohltat eines Arbeitsministers oder des Staates sind.
Jeder, der erwerbstätig ist, hat einen Anspruch darauf,
das Existenzminimum aus steuerfreien Geldern bestreiten zu dürfen. Das war der Punkt, den wir damals
durchgesetzt haben.
Zweitens. Sie haben angesprochen, daß die Unternehmen entlastet würden. Mit keinem Gesetz, das heute
von Ihnen vorgelegt wird, werden die Unternehmen
auch nur um einen Pfennig entlastet: Im Gegenteil:
Durch das Steuerbelastungsgesetz sind sie mehr belastet
worden. Wenn Sie dann Ihre Unternehmensteuerreform, die eigentlich zum 1. Januar 2000 kommen
sollte - das war im Bündnis für Arbeit verabredet -, jetzt
aber auf 2001 verschoben wird, als Vision in den Raum
stellen, kann ich nur sagen: Dazu werden wir noch fröhliche Debatten erleben. Denn Sie übersehen einen Unterschied: In Deutschland haben wir Personen und Personengesellschaften und keine Kapitalgesellschaften.
Deshalb ist der Handwerker, der mittelständische Unternehmer nicht genauso zu behandeln wie eine große Aktiengesellschaft in Deutschland. Insofern ist das, was Sie
wollen, ein Bruch mit unseren mittelständischen Wirtschaftsunternehmen. Damit werden wir uns in Zukunft
noch konkret beschäftigen.
Drittens. Die Lohnnebenkosten werden mit keinem
dieser Gesetze auch nur um einen Pfennig gesenkt. Auch
in dem Gesetz über die Erhöhung der ökologischen
Steuer, die Verbrauchsteuererhöhung, die Sie ansprechen, ist mit keinem Wort davon die Rede, daß die Gelder zweckgebunden für die Rente genutzt werden.
({1})
Wenn Sie schon zu diesen Gesetzen sprechen, dann gehört das dazu.
Viertens, zur Art der Finanzierung der deutschen
Einheit: Ich glaube, inzwischen durchschaut jeder, daß
man nicht sagen kann: In den 16 Jahren Regierung Kohl
ist nur ein Schuldenberg entstanden. Diese 16 Jahre bestehen aus zweimal acht Jahren: acht Jahre bis zur deutschen Einheit und acht Jahre ab der deutschen Einheit.
({2})
Wir haben versucht - auch die damalige CDU/CSUF.D.P.-Bundesregierung -, die Finanzierung der deutschen Einheit in einem Solidarpakt mit einer stärkeren
Berücksichtigung der Länder zu regeln. Die westdeutschen Länderministerpräsidenten haben sich dieser Herausforderung verweigert.
({3})
Deshalb hatte die Last ausschließlich der Bund zu tragen. Wenn Sie auf eine solche Gruppe von Ministerpräsidenten gestoßen wären, hätten Sie überhaupt nicht anders handeln können, als die damalige Bundesregierung
gehandelt hat - vorausgesetzt, daß man die deutsche
Einheit wollte und auch den Aufbau in den neuen Bundesländern wollte. Insofern ist es unredlich, diese Verschuldung der alten Koalition zuzuweisen. Sie ist die
Folge eines sozialistisch ruinierten Landes. Dieser Last
hat sich jeder zu stellen. Das haben wir gemacht.
Deshalb bitte ich Sie, das Ammenmärchen, daß das
alles die Regierung Kohl zu vertreten habe, nicht weiter
zu erzählen und den wirklichen Zusammenhang zukünftig klarer darzustellen.
({4})
Diese Kurzintervention war mindestens eine Minute zu lang; ich weise darauf nur hin. Es war eine „Langintervention“.
Nun kehren wir sozusagen zur normalen Debatte zurück.
({0})
- Entschuldigung! Der Herr Minister darf antworten.
Das war eine Kurzintervention.
Sie haben völlig recht: Den Freibetrag haben Sie durchgeboxt. Das war nie sozialdemokratische Politik. Insofern
bin ich für Ihre Klarstellung dankbar. Wir wollten immer gleiches Kindergeld für alle. Sie haben ganz besonders den Anteil betont, der die Entlastung oben am
höchsten macht. Das ist richtig so.
({0})
Zweiter Punkt - über dieses Problem wird man im
Ernst reden müssen. Sie haben ja recht: Eine Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2000 kann es nicht
geben, wenn man sie einigermaßen seriös machen will.
Denn für die Personengesellschaften die gleiche Steuerentlastung zu erzielen, wie wir sie für die Kapitalgesellschaften relativ leicht erzielen können, ist steuerrechtlich
schwierig. Das ist der ganze Hintergrund.
({1})
- Ich sagte doch schon: Das Thema Haushaltskonsolidierung scheint es in Ihren Köpfen überhaupt nicht zu
geben. Sie können doch die Mark nur einmal ausgeben!
Weil Sie immer geglaubt haben, wir könnten sie zweimal ausgeben, sind wir doch in der heutigen Situation.
({2})
Dann können Sie den Körperschaftsteuersatz eben nicht
auf 25 Prozent senken. Allerdings müssen Sie dann fragen, wo Sie im europäischen Vergleich stehen.
An diesem Punkt müssen wir auch über die Großen
sprechen: Wir haben die meisten transatlantischen Unternehmen im Lande. Deren Ausschüttungsverhalten das kenne ich sehr gut - hat sehr viel damit zu tun, wie
unsere Steuersätze im Vergleich zum übrigen Europa
bzw. zu den Vereinigten Staaten aussehen. Da müssen
Sie ehrlicherweise bekennen, daß Sie die Unternehmensteuern ein ganzes Stück höher lassen wollen, wenn Sie
gleichzeitig den privaten Einkommenspitzensteuersatz
drankoppeln. Das macht keinen Sinn. Das können wir zu
einem späteren Zeitpunkt immer noch regeln, wenn das
gewünscht wird. Wir müssen dann, glaube ich, auch
noch einmal über den Eingangssteuersatz reden.
Wer aber bei der Körperschaftsteuer einen Steuersatz
von 25 Prozent - das erfordert eine große Kraftanstrengung - und eine genauso hohe Belastung bei den Personengesellschaften will, der hat nicht mehr das Geld, um
den Einkommenspitzensteuersatz beim Privateinkommen zu senken, wie Sie das vorhaben; Sie machen da
den Leuten etwas vor.
({3})
Letzter Punkt: Ich habe den Zusammenhang mit der
deutschen Einheit völlig klar dargelegt.
({4})
- Dann wollen Sie nicht zuhören. Ich habe gesagt, die
Kosten waren nötig; die bestreite ich nicht. Ich bestreite
aber Ihre Finanzierung. Sie haben die Kosten in die Zukunft geschoben, statt seriös zu einem Zeitpunkt, wo wir
es Ihnen noch angeboten hatten, eine solide Finanzierung, das hieß damals Steuererhöhung, zu machen. Das
allein ist der Punkt.
({5})
Sie wissen das alle auch selber. Deshalb haben Sie einen
solchen Scherbenhaufen hinterlassen.
Ich beschwere mich nicht, daß diese Regierung das
jetzt hauptverantwortlich abtragen muß. Aber es muß
schon festgehalten werden, daß die Schulden in Höhe
von 1,2 Billionen DM in Ihrer Zeit entstanden sind und
daß Sie die Pflicht haben, an der Aufräumarbeit bei dem,
was Sie selber hinterlassen haben, mitzuwirken.
({6})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Friedrich Merz.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede kritisiert, daß sich die Debatte des heutigen Vormittags zum
Teil mit Themen beschäftigt, die nicht Gegenstand der
eingebrachten Gesetzesentwürfe sind. Trotzdem haben
Sie selber einen großen Teil Ihrer Redezeit darauf verwandt, um über andere Themen zu sprechen. Ich kritisiere das nicht. Ich glaube, die erste Sitzungswoche des
Deutschen Bundestages in Berlin ist eine gute Gelegenheit, um auch über die Finanzpolitik im allgemeinen zu
sprechen. Ich hätte es begrüßt, wenn Sie etwas früher
das Wort ergriffen hätten; denn dann hätten wir wesentlich früher mit derselben Aussprache beginnen können.
Lassen Sie mich nun etwas zur Entwicklung der öffentlichen Finanzen seit 1990 sagen. Richtig ist, daß
viele von uns die tatsächliche Herausforderung, die mit
der Überwindung der deutschen Teilung verbunden
war, unterschätzt haben. Aber es ist auch richtig, daß es
im Jahr 1990, als Sie, Herr Eichel, noch Ministerpräsident eines großen Bundeslandes waren ({0})
- oder gerade werden wollten -, eine Facette in den
Verhandlungen über den Einigungsvertrag gab, die in
der deutschen Öffentlichkeit fast vollständig vergessen
worden ist. Auf sie möchte ich hinweisen. Die SPDgeführten Bundesländer haben im Jahr 1990, als der Einigungsvertrag zur Ratifikation im Bundesrat anstand,
verlangt, im Rahmen einer Protokollerklärung zum Ratifikationsgesetz festzuhalten, daß der zu erwartende Privatisierungserlös aus der Tätigkeit der Treuhandanstalt
zur Hälfte zwischen Bund und Ländern aufgeteilt wird.
({1})
Der damalige Verhandlungsführer der SPD-geführten
Bundesländer ist ein Mann, der in der deutschen Öffentlichkeit noch immer nicht vergessen ist: Es war Oskar
Lafontaine, der damalige Ministerpräsident des Saarlandes. Er selbst hat den zu erwartenden Erlös aus der Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt auf 500 Milliarden bis 1 Billion DM beziffert. Wer damals eine so
eklatante Fehleinschätzung abgegeben hat, der hat nicht
das Recht, andere zu kritisieren, die auch die Herausforderung der deutschen Einheit unterschätzt haben.
({2})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch an einen
anderen Punkt. Als die Treuhandanstalt am 31. Dezember 1994 ihre Tätigkeit eingestellt hat, stand nicht ein
Privatisierungserlös, sondern - wenn ich es richtig in
Erinnerung habe - ein Defizit in Höhe von 270 Milliarden DM in den Büchern. Zu diesem Zeitpunkt redete
allerdings niemand mehr vom Teilen zwischen Bund
und Ländern.
({3})
- Damals waren Sie Ministerpräsident, Herr Eichel. - Es
war völlig selbstverständlich, daß die bis zu diesem
Zeitpunkt aufgelaufenen Defizite einschließlich der danach noch folgenden Altschulden der Kommunen aus
der DDR vom Bund übernommen wurden. Ich sage Ihnen deshalb an dieser Stelle in aller Nüchternheit und
Klarheit: Wer damals die deutsche Einheit nicht wollte
- die meisten SPD-Ministerpräsidenten wollten sie
nicht -, der hat heute nicht das Recht, uns zu kritisieren,
daß wir sie falsch gemacht hätten.
({4})
In dem Jahr, als das von mir erwähnte Defizit der
Treuhandanstalt offensichtlich wurde, hat es Verhandlungen zwischen dem Bund und den Ländern über die
Neuverteilung des Steueraufkommens gegeben. Auch
zu diesem Zeitpunkt waren Sie, Herr Eichel, Ministerpräsident. Damals haben sich die Ministerpräsidenten ich gebe zu, es waren nicht nur die SPD-Ministerpräsidenten -, nach dem Abschluß der Verhandlungen
mit dem Bund landauf, landab gerühmt, daß sie den
Bund über den Tisch gezogen und es fertiggebracht
hätten, mehr als die Hälfte des Steueraufkommens, das
der Gesamtstaat ausweist, für die Länder und die Kommunen zu vereinnahmen. Zu Beginn der 90er Jahre flossen fast zwei Drittel aller Steuereinnahmen in den Bundeshaushalt. Seit Mitte der 90er Jahre verfügt der Bund
durch Ihr Mitwirken, Herr Eichel, nur noch über rund
die Hälfte der Steuereinnahmen des Gesamtstaates.
Wenn Sie das heute beklagen, dann beklagen Sie eine
Entwicklung, die Sie selber als Ministerpräsident mitzuverantworten haben.
({5})
Sie stehen jetzt mit Ihrem Haushalt von zwei Seiten
unter erheblichem Druck. Ich will Ihnen jetzt sagen wir werden die Diskussion fortsetzen, wenn der Bundeshaushalt für das Jahr 2000 nächste Woche von Ihnen
eingebracht wird -: Wir werden uns der konstruktiven
Mitwirkung an der Konsolidierung der Staatsfinanzen
nicht versagen. Wir werden nicht nach dem Vorbild Ihres Amtsvorgängers Oskar Lafontaine Obstruktion und
Blockade im Bundesrat praktizieren, und wir werden
auch im Deutschen Bundestag als Opposition unseren
Beitrag leisten. Ich füge gleichzeitig hinzu: Sie können
von uns nicht erwarten, daß wir den grundlegend falschen Weichenstellungen der Steuer- und Finanzpolitik
der Bundesregierung unsere Zustimmung geben.
({6})
Ich möchte ein Thema ganz konkret aufgreifen, das
Sie angesprochen haben, nämlich die Steuerpolitik der
letzten 16 Jahre. Herr Eichel, die Steuerpolitik der
letzten Bundesregierung hat nicht bei der Neuordnung
des Kindergeldes zum 1. Januar 1996 begonnen; vielmehr haben wir insbesondere in den 80er Jahren eine
Steuerpolitik betrieben, die auch Vorbild für die Steuerpolitik des nächsten Jahrhunderts in Deutschland sein
könnte. Ich meine eine Steuerpolitik, die sich im wesentlichen auf die Stärkung der Wachstums- und Investitionskräfte der Volkswirtschaft der Bundesrepublik
Deutschland konzentriert hatte.
Ich erinnere daran, weil die alte Regierung in den
80er Jahren in Deutschland eine Steuerreform auf den
Weg gebracht hat - diese Steuerreform verbindet sich
eng mit dem Namen des damaligen Finanzministers
Gerhard Stoltenberg -, die Sie alle in der SPD nicht
wollten. Am Ende dieser Steuerreform stand genau der
Erfolg, den Sie heute für Ihre Politik beanspruchen,
nämlich mehr Arbeitsplätze und eine niedrigere Staatsquote.
In diesem Zusammenhang fällt auf, daß das Thema
Staatsquote in den Reden des Bundesfinanzministers
überhaupt keine Rolle spielt, obwohl der unmittelbare
Nachbar des Bundesfinanzministers - er sitzt neben
Ihnen, Herr Eichel - keinen Jahreswirtschaftsbericht für den ist er nicht mehr zuständig -, aber einen Wirtschaftsbericht für das Jahr 1999 herausgegeben hat, in
dem das ehrgeizige Ziel formuliert ist, die Staatsquote in
der Bundesrepublik Deutschland auf 40 Prozent abzusenken.
Herr Eichel, bei irgendeiner Gelegenheit hätte ich
gern von Ihnen gewußt, ob Sie das Ziel Ihres Nachbarn,
des Bundeswirtschaftsministers, teilen, die Staatsquote
in Deutschland auf 40 Prozent abzusenken. Mit der
Politik, die Sie gegenwärtig betreiben, werden Sie gegenüber der Staatsquote des Jahres 1998 am Ende des
Jahres 1999 vermutlich eine höhere Staatsquote erzielen.
({7})
Ich erinnere an die Steuerpolitik der 80er Jahre, weil
in dieser Zeit in drei Stufen - 1986, 1988 und 1990 eine steuerliche Nettoentlastung in der Bundesrepublik
Deutschland für Betriebe und für Familien in einer Größenordnung von gut 45 Milliarden DM realisiert worden
ist. Auch damals gab es in den öffentlichen Haushalten
Zwänge. Aber Gerhard Stoltenberg und die damalige
Bundesregierung haben immer den richtigen Ansatz
vertreten, daß eine auf die Stärkung der Investitions- und
Wachstumskräfte in der Volkswirtschaft ausgerichtete
Steuerpolitik innerhalb sehr kurzer Zeit auch wieder zu
höheren Steuereinnahmen führen wird.
Ich habe in den letzten Tagen die Zahlen nachgelesen,
um sie Ihnen hier vorzutragen. Die mit der dritten Stufe
der Steuerreform 1990 in Kraft getretene Nettoentlastung hat bereits im ersten Jahr nach der dritten Stufe,
nämlich im Jahr 1991, Steuermehreinnahmen von Bund,
Ländern und Gemeinden in einer Größenordnung von
115 Milliarden DM gegenüber dem Jahr vor Beginn dieser dreistufigen Steuerreform gebracht.
Das zeigt eines ganz deutlich: Wenn Sie eine wirtschaftspolitisch ausgerichtete Steuerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland betreiben, dann können Sie dadurch nicht nur höheres Wachstum und mehr Arbeitsplätze schaffen, sondern auch einen erheblichen Teil an
Mehreinnahmen für die öffentlichen Haushalte.
({8})
Sie sollten wenigstens den Versuch machen, Ihre
Steuerpolitik, die Sie mit der am 1. April in Kraft getretenen ersten Stufe begonnen haben, auf diese wirklich
entscheidende Zielrichtung abzustellen, nämlich auf die
Stärkung der Wachstumskräfte in Deutschland. Bis
zum heutigen Tag ist Ihnen aber nachweislich das Gegenteil gelungen.
Wir hatten im Jahr 1998 - das war das letzte dieser
„schrecklichen“ Jahre, in der die CDU/CSU regiert hat ein reales wirtschaftliches Wachstum von 2,8 Prozent.
({9})
Im ersten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit hat es im Vergleich zu allen europäischen Ländern - ich mache diesen Vergleich bewußt, damit Sie nicht behaupten können, es handele sich um externe Schocks aus Asien,
Rußland oder Südamerika - in der Bundesrepublik
Deutschland den höchsten Wachstumseinbruch gegeben.
Sie stehen am Ende dieses Jahres mit einem wirtschaftlichen Wachstum von nur noch 1,5 bis 1,6 Prozent da.
({10})
So sieht das erste Jahr der rotgrünen Bundesregierung
aus, wo doch, wie wir gehört haben, in diesem Jahr nicht
alles anders, aber vieles besser werden sollte. Nichts ist
durch Ihre Steuerpolitik besser geworden. Der Kollege
Thiele hatte eben völlig zu Recht darauf hingewiesen:
Sie haben mit dieser Steuerpolitik Vertrauen in die auf
Stetigkeit bedachte und langfristig angelegte Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zerstört.
({11})
Sie haben kritisiert, daß es uns in 16 Jahren nicht gelungen sei, den Spitzensteuersatz zu senken. Zu einer
solchen Kritik gehört wirklich Mut. Sie haben doch zu
denen gehört, die im Jahre 1997 eine grundlegende Reform unseres Steuersystems im Bundesrat verhindert
haben, durch die der Spitzensteuersatz in der Bundesrepublik Deutschland von 53 auf 39 Prozent abgesenkt
werden sollte. Sie können sich doch heute nicht darüber
beklagen, daß das nicht gelungen ist, wenn Sie selbst zu
denen gehört haben, die dafür Verantwortung tragen,
daß es verhindert wurde.
({12})
In diesem Zusammenhang will ich auch ganz freimütig zugeben: Natürlich gab es ein gewisses Gegenfinanzierungsrisiko bei dieser Steuerreform, die wir 1996/97
konzipiert haben. Wir haben aber immer gesagt, daß wir
bereit gewesen wären, mit der Opposition im Deutschen
Bundestag wie mit der Mehrheit im Bundesrat Verhandlungen darüber zu führen, ob eine solche Steuerreform, wenn die öffentlichen Haushalte es nicht hergeben, nicht möglicherweise in Stufen verwirklicht werden
sollte. Wir haben immer gesagt, ein Satz von 39 Prozent
muß nicht im ersten Schritt realisiert werden. Die Reform ist aber nicht daran gescheitert, daß Sie gesagt
hätten, 39 Prozent seien zu niedrig, 45 Prozent wären
besser, sondern sie ist gescheitert, weil Sie, Herr Eichel,
im Bundesrat eine parteipolitisch motivierte Strategie
mitgetragen haben, die damals überhaupt keine Kompromißfähigkeit mehr erkennen ließ.
({13})
Erlauben Sie mir, daß ich einige Anmerkungen zu
dem Thema Ökosteuer mache. Es ist ja schon in den ersten Runden hier etwas dazu gesagt worden. In diesem
Zusammenhang haben Sie hier ein Wort gebraucht, das
mich außerordentlich hellhörig gemacht hat. Dem Sinne
nach haben Sie gesagt: Ordnungspolitik in diesem Zusammenhang hat immer etwas mit mehr Überwachung
durch den Staat zu tun.
({14})
- Nein, er sprach von Ordnungspolitik, aber sei es drum;
vielleicht hat er sich versprochen. Sprechen wir lieber
über den Kern des Themas.
Natürlich kann man die Frage diskutieren, ob es nicht
richtig ist, in unserem Steuersystem den Anteil der indirekten Steuern zugunsten einer Absenkung der direkten
Steuern zu erhöhen. Insbesondere vor dem Hintergrund
der Liberalisierung der Energiemärkte, durch die Monopolgewinne und tatsächliche Belastungen erheblich reduziert werden, kann man die Frage stellen, ob es nicht
richtig wäre, durch eine etwas höhere Besteuerung von
Energie Probleme zu lösen, die wir im Steuer- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland insgesamt
haben.
({15})
- Das ist übrigens keine neue Erkenntnis, sondern diese
Diskussion führen wir schon viel länger, als Sie hier sitzen.
({16})
Gleichzeitig haben wir aber immer gesagt, daß die
einseitige Anhebung von Ökosteuern und die Verwendung dieser Erträge zur Quersubventionierung der Sozialversicherungssysteme aus mehreren Gründen der falsche Weg ist. Ich will Ihnen einen entscheidenden
Grund nennen: In den letzten Jahren haben wir uns über
die sogenannten versicherungsfremden Leistungen
gestritten. Die Leistungen der Rentenversicherung, die
nicht durch Beiträge abgedeckt gewesen waren, hatten
ein Volumen von etwa 90 Milliarden DM.
Über eine Finanzierung der versicherungsfremden
Leistungen aus dem allgemeinen Staatshaushalt sind wir
längst hinaus. Die Finanzierung der Rentenversicherung
durch Ökosteuern und allgemeine Steueraufkommen hat
in diesem Jahr eine Höhe von 119 Milliarden DM erreicht. Die zweite, dritte, vierte und fünfte Stufe der
Ökosteuer, die Sie von den Koalitionsfraktionen uns
heute in diesem Gesetz vorgelegt haben, werden dazu
führen, daß wir nach der fünften Stufe 150 Milliarden
DM auszahlen, die nicht mehr durch Beiträge, sondern
durch allgemeine Steuern finanziert werden. Ein Staat,
der auf diese Art und Weise mehr als ein Drittel der
Rentenauszahlungsleistung nicht mehr durch Beiträge,
sondern durch allgemeine Steueraufkommen finanziert,
eröffnet sich damit - ich will es vorsichtig formulieren einen wesentlich größeren Spielraum für Rentenanpassungen je nach tagespolitischer Opportunität. Ich könnte
auch sagen: einen wesentlich größeren Spielraum für
Manipulationen.
({17})
Vor diesem Hintergrund erscheinen Ihre Beschlüsse,
die Rentenanpassung in den Jahren 2000 und 2001 nur
noch entsprechend der Inflationsrate vorzunehmen, natürlich in einem völlig anderen Licht. Sie befinden sich
geistig schon auf dem Weg in die Staatsrente. Nur derjenige, der eine Staatsrente will, kann nach Maßstäben
der tagespolitischen Opportunität Rentenanpassungen
vornehmen.
Wir widersprechen nachhaltig dem Versuch, die Probleme der Rentenversicherung dadurch zu lösen, daß Sie
nur eine neue Finanzierungsquelle suchen. Das ist die
entscheidende Kritik, die wir an diesem Konzept der sogenannten ökologisch-sozialen Steuerreform üben. Sie
befinden sich mit dieser Steuerpolitik und dieser Sozialpolitik auf einem grundlegend und, wenn Sie so wollen,
ordnungspolitisch völlig falschen Weg.
({18})
Sie werden die Probleme der Rentenversicherung, die
wir unbestritten haben, nicht dadurch lösen, daß Sie nur
eine neue Finanzierungsquelle suchen.
In diesem Zusammenhang spreche ich etwas an, was
Sie in dem vorliegenden Gesetzentwurf konkret ändern
wollen, nämlich die Bedingungen für die Lebensversicherung. Auch wir haben nie bestritten, daß man die
einseitige Privilegierung dieser besonderen Form der
Kapitalbildung durch das Einkommensteuerrecht überprüfen muß. Wir haben damals eine Form diskutiert, die
durchaus auch kritikwürdig war. Aber ich frage mich:
Warum verschlechtern Sie die Bedingungen der Lebensversicherung jetzt, zu einem Zeitpunkt, zu dem es
eigentlich an der Zeit wäre, eine grundlegende Neuordnung der Besteuerung der Alterseinkommen insgesamt
vorzunehmen?
({19})
Ich frage mich auch: Warum warten Sie nicht wenigstens die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
im Herbst über die Besteuerung der Alterseinkommen
ab,
({20})
um danach eine in sich geschlossene, für alle Formen
der betrieblichen, privaten und gesetzlichen AltersverFriedrich Merz
sorgung gültige Lösung vorzuschlagen? Mit dem, was
Sie jetzt machen, Herr Eichel, belasten Sie insbesondere
diejenigen, die die Versorgungslücke haben werden,
weil Sie nämlich nicht jetzt zugreifen, sondern, bei einer
durchschnittlichen Dauer einer Lebensversicherung von
25 Jahren, erst im Jahr 2025 - in Kraft treten soll das ja
ab dem 1. Januar 2000 -, also bei denen, die heute 20,
30, 40 Jahre alt sind und im Jahr 2025 eine Versorgungslücke in der gesetzlichen Rentenversicherung haben werden. Bei denen schlagen Sie mit der Besteuerung
der Lebensversicherung zu, wenn sie das Kapitalwahlrecht in Anspruch nehmen.
Übrigens: Ich halte die Differenzierung, die Sie im
Gesetz vornehmen, für grob willkürlich. Sie beschränken damit die freie Verwendung des Kapitals aus einer
Lebensversicherung in einer nicht sachgerechten und
meines Erachtens auch verfassungsrechtlich höchst anfechtbaren Weise.
({21})
Ich will nur der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, daß Sie mit dieser Form der Besteuerung der Lebensversicherung in der Bundesrepublik Deutschland
einen Markt zerstören, der sich erst seit dem 1. Januar
1994 herausbilden konnte, nämlich im Zuge der Liberalisierung und der Öffnung des europäischen Binnenmarktes. Die Besteuerung betrifft nämlich auch alle Lebensversicherungen, die von nichtdeutschen Bewohnern
bei deutschen Gesellschaften erworben werden, also von
Ausländern, die außerhalb der Bundesrepublik
Deutschland eine DM-Police erwerben. Die Besteuerung
in Deutschland, die zwangsläufig all diejenigen erfaßt,
die hier in Deutschland eine Lebensversicherung abgeschlossen haben, zerstört einen erheblichen Markt der
Dienstleistungen, die in der Bundesrepublik Deutschland für ausländische Steuerbürger erbracht werden
können, die in Deutschland, nachdem das, was Sie hier
vorschlagen, Wirklichkeit geworden ist, keine Lebensversicherung mehr erwerben werden.
({22})
Ich will in diesem Zusammenhang ein weiteres Thema ansprechen, bei dem Sie mittlerweile Gefangene Ihrer eigenen Wahlkampfrhetorik sind. Sie diskutieren seit
der Sommerpause intensiv über die Wiedereinführung
der Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe und jetzt über die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Herr Eichel, nachdem nun gestern unwidersprochen
die Nachrichten durch die Medien gingen, daß das Bundesfinanzministerium plant, die Bewertungsgrundlagen
für die Anwendung des Erbschaftsteuergesetzes zu ändern, hätte ich von Ihnen an dieser Stelle eine Klarstellung erwartet, daß Sie solche Pläne nicht haben. Ich erinnere daran, daß wir in der letzten Legislaturperiode,
Ende 1996, rückwirkend in Kraft getreten zum 1. Januar
1996, schon einmal eine massive Anhebung der Erbschaftsteuer beschlossen haben. Wir haben damals übrigens, was die meisten von Ihnen offensichtlich nicht
mehr wissen, den von uns geschätzten Privatanteil an
der Vermögensteuer auf die Erbschaftsteuer übertragen
und sie erheblich erhöht. Wir haben gleichzeitig auf
Betreiben des Bundesrates sogar die Grunderwerbsteuer
von 2 auf 3,5 Prozent erhöht und damit fast verdoppelt.
Jetzt geht die Diskussion über die Erbschaftsteuer
wieder los. Ich will Sie darauf hinweisen: Wir haben
damals eine außergewöhnlich große Spreizung in der
Bewertung des Betriebsvermögens und des Privatvermögens vorgenommen. Wir haben das gemeinsam getan, Bundestag und Bundesrat, weil wir uns von dem
Gedanken haben leiten lassen, daß in Deutschland die
Betriebsübergänge beim Erbgang von der Erbschaftsteuer weitestgehend verschont bleiben sollen. Wenn Sie die
Bewertungsgrundlagen für die Anwendung des Erbschaftsteuergesetzes heute verschärfen, dann verschärfen
Sie zwangsläufig die steuerliche Belastung all der Unternehmen, die sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im Erbübergang an die nächste Generation befinden.
({23})
Sie kommen wegen dieses Sachzusammenhangs, den
ich aufgezeigt habe, nicht umhin, eine höhere Steuerbelastung zu realisieren.
({24})
Die eigentümergeführten Unternehmen in Deutschland insbesondere die des Mittelstandes - können eine höhere
Erbschaftsteuerbelastung beim Übergang in die nächste
Generation ohne Gefährdung ihrer Existenz nicht tragen.
({25})
Das sollten Sie wissen, Herr Eichel, wenn die Diskussion über die Erbschaftsteuer ihren Fortgang nimmt.
Ich will Ihnen an dieser Stelle sagen, wo es in der
Steuerpolitik eine Gerechtigkeitslücke gibt. Ich bin
dankbar, daß Sie, Herr Bundeskanzler, wieder da sind.
({26})
- Nein, er war eben nicht da; aber das ist ja auch in Ordnung.
({27})
- Ich war die ganze Zeit da; andere waren es nicht. Aber
das ist doch kein Thema!
({28})
- Ich habe gesagt: Ich freue mich, daß der Bundeskanzler wieder da ist. Teilt die SPD-Bundestagsfraktion diese
Freude? - Danke schön.
Ich will auf eine wirkliche Gerechtigkeitslücke hinweisen, die in der Steuerpolitik in der Tat besteht: Die
Besteuerung von Kapitalerträgen ist nach wie vor
nicht gleichmäßig. - Herr Bundeskanzler, Sie nicken. Es
war eines Ihrer großen Vorhaben für die deutsche Ratspräsidentschaft, während der ersten sechs Monate des
Jahres 1999 eine entsprechende Richtlinie in der Europäischen Union durchzusetzen,
({29})
die diese Gleichmäßigkeit der Besteuerung in Europa
tatsächlich verwirklicht. Das war eines Ihrer großen
Vorhaben.
({30})
Nur, in der entscheidenden Phase, als dies in Brüssel
möglich war - und zwar auf Grund von Vorarbeiten, die
Theo Waigel geleistet hat -, ist der Bundesrepublik
Deutschland der Finanzminister abhanden gekommen.
({31})
Ich komme zum letzten Thema, den sogenannten
Steuerschlupflöchern, die auch heute schon mehrfach
zitiert worden sind. Richtig ist, daß unser außergewöhnlich kompliziertes Steuerrecht eine ganze Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, die wir aber, als der
Gesetzgeber sie verabschiedet und in Kraft gesetzt hat,
fast alle gekannt haben. Es handelt sich also nicht um
Steuerschlupflöcher, sondern es handelt sich in der Regel um Steuergestaltungsmöglichkeiten, die wir aus
finanz-, steuer- oder wirtschaftspolitischen Begründungen für richtig gehalten haben.
Sie haben jetzt eines dieser sogenannten Steuerschlupflöcher geschlossen, indem Sie die sogenannte
Mindestbesteuerung eingeführt und die eigentlich richtige und notwendige Verrechnungsmöglichkeit von
positiven und negativen Einkünften bei den verschiedenen Einkunftsarten des Einkommensteuergesetzes stark begrenzt haben. Das ist sehr kompliziert. Aber
ich will Sie auf eine Konsequenz hinweisen: Durch diese Mindestbesteuerung und durch die nicht mehr vorhandene Möglichkeit, entstandene Verluste bei der einen
Einkunftsart mit Überschüssen der anderen Einkunftsart
zu verrechnen, gefährden Sie in ihrer Existenz ganze
Branchen, insbesondere diejenigen, deren Unternehmen
in den ersten Monaten ihrer unternehmerischen Tätigkeit
zwangsläufig hohe Anlaufverluste erwirtschaften.
Ich nenne Ihnen eine Branche, die zu den in der Bundesrepublik Deutschland sich wirklich gut entwickelnden Branchen gehört und die gar nicht weit von diesem
Ort ihr neues Zentrum gründet, nämlich die Filmwirtschaft in Deutschland. Die produzierenden Unternehmen
der Filmwirtschaft erwirtschaften in den ersten Monaten
ihrer Tätigkeit typischerweise hohe Verluste, weil in den
ersten Monaten der Tätigkeit eines solchen Produktionsunternehmens sämtliche Kosten anfallen. Sie versagen
mit der fehlenden Möglichkeit der Verlustverrechnung
mit anderen Einkunftsarten diesen Unternehmen jede
Startchance. Sie werden in den nächsten Jahren erleben,
daß in der Bundesrepublik Deutschland die Filmwirtschaft kaum noch eine Chance hat, weil auf diese Art
und Weise Verluste mit anderen Einkommen nicht mehr
verrechnet werden können. Dieser Weg ist falsch, Herr
Eichel, und er sollte im Zuge des Steuerentlastungsgesetzes korrigiert werden.
({32})
Lassen Sie mich zum Schluß deutlich machen, daß
wir uns hier nicht um Details streiten. Manche steuerpolitische Einzelfallregelung erweckt den Eindruck, als
gehe es hier wirklich nur um Stellen hinter dem Komma.
In Wahrheit geht es in der steuerpolitischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition um die
grundlegende Ausrichtung der Steuerpolitik in Deutschland.
Wir widersprechen Ihnen mit Nachdruck, daß die
Steuerpolitik, wenn sie nur ein höchstmögliches Maß an
Verteilungsgerechtigkeit und ein höchstmögliches Maß
an Binnenkaufkraft realisiert, zu den gewünschten Ergebnissen auf dem Arbeitsmarkt führen kann. Die Bundesrepublik Deutschland braucht eine Steuerpolitik, die
sich ganz strikt darauf konzentriert, die internationale
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Deutschland
zu verbessern und nicht zu verschlechtern, eine Steuerpolitik, die sich strikt darauf konzentriert, die Investitions- und Wachstumskraft dieser Volkswirtschaft zu
stärken. In den ersten zehn Monaten einer real existierenden rotgrünen Bundesregierung in Deutschland ist
genau das Gegenteil von dem eingetreten.
({33})
Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit?
Deswegen sage ich Ihnen eine sehr konstruktive, sehr kritische, in der Sache
aber harte Auseinandersetzung über den zukünftigen
Weg der Steuerpolitik dieser Bundesregierung voraus.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Barbara Hendricks.
Herr Kollege Merz,
ich will nicht auf alles eingehen, was Sie in Ihrer Rede
vorgetragen haben.
({0})
Das geht auch nicht im Wege einer Kurzintervention.
Ihre Rede hat sich nahtlos in das eingefügt, was wir in
der letzten Zeit von Oppositionspolitikern erleben müssen. Sie beklagen die Verunsicherung der deutschen
Wirtschaft und tragen dennoch durch Fehlinformationen
in allen steuerpolitischen Bereichen massiv zur Verunsicherung der deutschen Wirtschaft bei.
({1})
Sie tun das teilweise wider besseres Wissen, teilweise
aber auch in Unkenntnis des Steuerrechts.
Ich will jetzt nur ganz kurz auf das eingehen, was Sie
zum Erbschaftsteuerrecht gesagt haben, und dem Hohen
Hause folgendes mitteilen. Es gibt im Bundesfinanzministerium eine Arbeitsgruppe von Beamten aus Bund
und Ländern, die sich mit Bewertungsfragen befaßt.
Sie wird im nächsten Jahr ihren Bericht vorlegen. Die
Beamten kommen, wie gesagt, aus dem Bund und mehreren Ländern. Die Länder sind nicht politisch sortiert,
sondern es handelt sich um eine ganz normale Arbeitsgruppe, die sich mit Bewertungsfragen befaßt.
Bewertungsfragen gelten natürlich nicht nur für das
Erbschaftsteuerrecht, sondern Bewertungsfragen von
Immobilienvermögen gelten natürlich auch für das
Grundsteuerrecht. In der Tat gibt es auch aus technischen Gründen möglicherweise Anpassungsnotwendigkeiten. Es ist im übrigen so, daß wir das bebaute und das
unbebaute Immobilienvermögen durchaus unterschiedlich bewerten und daß wir es anders bewerten als anderes Vermögen. Das ist auch ein Grund dafür gewesen,
weswegen gerade das im Vermögensteuerurteil des
Bundesverfassungsgerichts gegeißelt worden ist. Vergleichbares, was im Vermögensteuerrecht als nicht mehr
zulässig bezeichnet worden ist, haben wir im Erbschaftsteuerrecht.
Damit ist aber keinesfalls irgendeine politische Vorentscheidung darüber gefällt worden, wie man mit dem
Erbschaftsrecht in Zukunft umgehen wird. Es muß aber
doch möglich sein, daß sich Beamte Gedanken über die
Fortentwicklung des Steuerrechts unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten machen können.
Sie haben davon gesprochen, daß es schwierig ist,
den Übergang von Betriebsvermögen zu organisieren.
Deshalb darf ich die gesamte Öffentlichkeit darauf hinweisen - Ihnen, Herr Merz, ist das wohl bewußt; Sie sagen das wider besseres Wissen -, daß wir so umfangreiche Freibeträge bei der Erbschaftsteuer auf Betriebsvermögen haben, daß eine Witwe mit zwei Kindern ein
Betriebsvermögen in Höhe von 2,7 Millionen DM vollkommen erbschaftsteuerfrei erben kann. Der von Ihnen
angesprochene Mittelstand, der normale Handwerksbetrieb und alle anderen, die man dabei ins Auge fassen
kann, können also im Regelfall erbschaftsteuerfrei erben.
({2})
Herr Kollege Merz,
möchten Sie darauf antworten? Es muß nicht sein. Bitte.
Ich mache nicht von
den drei Minuten Gebrauch, die die Kollegin beansprucht hat. Ich will nur eines sagen: Ein Betriebsvermögen in Höhe von 2 Millionen DM oder 2,5 Millionen
DM ist noch nicht einmal das Vermögen eines sehr kleinen mittelständischen Unternehmens.
Ich nehme Ihre Kurzintervention zum Anlaß, festzustellen, daß Sie im Bundesfinanzministerium nur über
Bewertungsfragen und nicht über Steuererhöhungsfragen nachdenken lassen. Wenn das anders ist, bitte ich
um ausdrücklichen Widerspruch, damit wir bei Gelegenheit darauf zurückkommen können.
Herzlichen Dank.
({0})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Gisela Frick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kurzintervention der Frau Staatssekretärin Hendricks kann nicht ganz unwidersprochen
bleiben, auch wenn Herr Merz schon selbst geantwortet
hat. Sie haben damit einen ganz interessanten Punkt angesprochen, nämlich die Diskussion über die Vermögensteuer bzw. Vermögensabgabe in Ihrer Koalition,
insbesondere in der SPD-Fraktion. Sie haben gesagt: Die
Bewertung brauchen wir nur für die Erbschaftsteuer, allenfalls noch für die Grundsteuer. Genau das war ein
wesentlicher Vorteil der Neuregelung, die wir, unsere
Koalition, in der letzten Wahlperiode getroffen haben.
Wenn Sie jetzt wieder zur Vermögensteuer oder zu
einer Vermögensabgabe zurückwollen, stehen Sie wieder vor dem Problem, daß Sie eine Dauerbewertung für
die Immobilien - egal, ob bebaut oder unbebaut, ob privat oder betrieblich - brauchen. Insofern haben Sie hier
schon wunderbar die Argumente vorgetragen, die wir
später beim Kampf gegen eine Vermögensteuer oder eine Vermögensabgabe benutzen werden. Wir brauchen so
etwas in Zukunft nicht mehr, und wir wollen auch nicht
dahin zurück. Das ist ganz eindeutig unsere Position.
Deshalb wollen wir auch nichts mehr von der Bewertung des Immobilienvermögens hören.
({0})
Daß die Vermögenswerte für Immobilien verhältnismäßig schonend festgesetzt werden, haben wir überhaupt nicht bestritten. Aber das Bundesverfassungsgericht hat dies ausdrücklich zugelassen. Nicht zugelassen
hat das Bundesverfassungsgericht, daß sozusagen auf
kaltem Wege die Werte bei der Einheitsbewertung nicht
mehr stimmten.
({1})
Das Gericht hat aber ausdrücklich gesagt, wenn es insbesondere aus Gründen der Sozialpflichtigkeit, wie es
beim Betriebsübergang der Fall ist - gewollt sei, dann
könne es gemacht werden. Das gilt natürlich auch für
immobiles Vermögen. Das haben wir damals auf mein
Betreiben - daran erinnere ich mich noch - in die Begründung hineingeschrieben, so daß wir auch deshalb
etwas schonender an die Bewertung des Immobiliarvermögens herangegangen sind, weil hier eben die Sozialbindung gegeben ist. Insofern müssen hier andere Regeln als beim Geldvermögen oder bei sonstigem leicht
zu bewertenden Vermögen herrschen.
Ich möchte die Mahnung von Ihnen, Herr Eichel,
aufgreifen, beim Thema zu bleiben. Ich weiß allerdings
nicht, ob bei Ihnen die Freude größer wird, wenn ich
beim Thema bleibe. Versprechen kann ich Ihnen das
beim besten Willen nicht.
Wir haben heute drei Steuergesetze zu debattieren.
Bei allen drei Steuergesetzen stimmt schon die Überschrift nicht.
({2})
- Ich komme gleich zur Familienförderung, Herr Müller; keine Sorge! - Es wäre ja nicht schlimm, wenn es
nur eine Frage der Sprache wäre. Aber diese falschen
Überschriften zeigen eben auch die falsche „Denke“, die
bei Ihnen in der Regierungskoalition herrscht.
Fangen wir gleich mit der Familienförderung an,
Herr Müller. Der Entwurf heißt „Gesetz zur Familienförderung“. Familienförderung ist aber ein äußerst
schmaler Bereich des Inhalts dieses Gesetzentwurfes.
Das haben Sie in § 31 selbst ganz klar ausgeführt schauen Sie in Ihren eigenen Entwurf hinein -, wo es
heißt, Aufgabe des Freibetrages sei es, das sächliche
Existenzminimum und den Betreuungsbedarf steuerfrei
zu stellen. Die entsprechende Forderung haben wir
schon seit langer Zeit immer wieder vom Bundesverfassungsgericht auf den Tisch bekommen. Wenn es nur um
die Freistellung des Existenzbedarfes geht, ist von Förderung noch überhaupt keine Rede,
({3})
ob es sich nun um das sächliche Existenzminimum oder
um den jetzt neu einzuführenden Betreuungsbedarf handelt. Es ist eine selbstverständliche Folge der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit.
({4})
Wenn Aufwand für den Unterhalt von Kindern und für
die Betreuung von Kindern anfällt, dann ist die Steuerfreistellung eine Selbstverständlichkeit
({5})
und noch keine Förderung.
Förderung ist nur in dem schmalen Bereich gegeben,
in dem das Kindergeld für die Steuerfreiheit des Existenzminimums - wohlgemerkt: unter Einschluß des
Betreuungsbedarfes - nicht erforderlich ist. Da ist ein
kleiner Überschuß und manchmal auch ein etwas größerer Überschuß vorhanden, und da gibt es eine Förderung. Aber der Schwerpunkt des Gesetzes liegt ganz
eindeutig auf der Steuerfreistellung des Existenzminimums und damit natürlich auch auf einer entsprechenden Durchführung mittels Freibeträge.
In diesem Zusammenhang muß ich leider auf etwas
zurückkommen, was ich in meiner allerersten Rede im
Januar 1995, in meiner sogenannten Jungfernrede, im
Bundestag schon einmal gesagt habe und was leider
immer noch aktuell ist: Wenn Sie immer wieder gebetsmühlenhaft behaupten - das gilt beileibe nicht nur
für Sie, Herr Müller, der sie gerade so erwartungsfroh
gucken, sondern für die ganze Koalition -,
({6})
daß jedes Kind dem Staat gleich viel wert sein muß,
dann sage ich: Genau das wird mit den gleich hohen
Freibeträgen gemacht.
({7})
Ich will nicht für Kinder von Beziehern höherer Einkommen den Kaviar berücksichtigen, indem ich einen
höheren Freibetrag für das sächliche Existenzminimum
einsetze, und ich will auch nicht die englische Nurse berücksichtigen, indem ich einen höheren Freibetrag für
die Kinderbetreuungskosten einsetze. Vielmehr ist es ein
und derselbe Freibetrag. Die Tatsache, daß er sich unterschiedlich auswirkt, ist ausschließlich nur eine Folge der
Steuerprogression.
({8})
Ich habe schon 1995 gesagt: Wenn Sie diese Situation
nicht wollen, dann seien Sie bitte auch konsequenterweise gegen einen progressiven Tarif bei der Einkommensteuer. Das höre ich aber von Ihnen beileibe nicht.
Seien Sie also konsequent!
Wenn Sie darüber hinaus mehr für eine echte Förderung der Familien tun wollen, dann erhöhen Sie das
Kindergeld.
({9})
Diese Maßnahme können Sie zusätzlich durchführen. In
diesem Punkt werden Sie uns immer an Ihrer Seite finden. Es geht aber in erster Linie um die steuerliche
Komponente. In diesem Zusammenhang - das hat eben
auch die Staatssekretärin gesagt - reicht die Regelung
bezüglich des Freibetrages natürlich aus, weil es dabei
nur um eine gerechte Erfassung der Leistungsfähigkeit
geht.
Soweit meine kurzen Ausführungen zu dem Gesetzentwurf zur sogenannten Familienförderung.
Wenn Sie den Gesetzentwurf zur Ökosteuer als den
„Entwurf eines Gesetzes zur Fortführung der ökologischen Steuerreform“ bezeichnen, dann kann ich nur
sagen: Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur für die Opposition, sondern für die gesamte Bevölkerung eine
Drohung,
({10})
weil Sie diesen Unsinn, den Sie mit der ersten Stufe der
ökologischen Steuerreform angerichtet haben, noch fortführen wollen. Obwohl es heute schon häufiger gesagt
worden ist, stelle ich noch einmal fest: Es handelt sich
um ein Abkassieren und hat überhaupt keinen ökologischen Sinn.
({11})
Ich will es einmal ein wenig auf die Spitze treiben.
Wir haben heute von der Koalition mehrfach gehört, daß
diese Ökosteuer hinsichtlich der volkswirtschaftlichen
Gesamtbelastung aufkommensneutral ist. Ich sage: Es
handelt sich um eine reine Aufkommenssteuer, die,
wenn Sie Glück haben, im besten Falle ökoneutral ist.
Aber auch das bezweifle ich.
({12})
Ich brauche nicht noch einmal zu betonen - dieser Punkt
ist schon x-mal angesprochen worden -, daß eine soziale
Schieflage vorliegt, weil eine Deckung allenfalls im gesamtvolkswirtschaftlichen Vergleich einigermaßen vorhanden ist.
Ich komme zu dem dritten Gesetzentwurf, zu dem
Entwurf des sogenannten Steuerbereinigungsgesetzes.
Wie kann man um Gottes Willen etwas bereinigen, was
im Kern so verkorkst ist, daß es verkorkster gar nicht
mehr sein kann?
({13})
Da ein kleines bißchen Kosmetik zur Bereinigung zu
betreiben reicht überhaupt nicht aus.
Herr Eichel, ich habe mich sehr gefreut, als Sie in der
ersten Woche nach ihrem Amtsantritt dem Finanzausschuß einen Besuch abgestattet haben - im Gegensatz zu
Ihrem Vorgänger, der nie erschienen war. Sie haben uns
bei diesem Besuch die Agenda für die künftige Arbeit
im Finanzausschuß vorgetragen. Vielleicht erinnern Sie
sich, daß ich damals schon gesagt habe: Alles, was Sie
vorgetragen haben, insbesondere in bezug auf die Unternehmensteuerreform, ist richtig; das sehen wir genauso. Wir warten gerne ab, welche Regelungen folgen
werden. Ich habe Ihnen damals auch gesagt, daß Sie etwas ganz Wichtiges vergessen haben. Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß wir - damit meine ich die
Regierungsfraktionen im Bundestag und nicht die Oppositionsfraktionen - die ganze Legislaturperiode damit
beschäftigt sein werden, Korrekturgesetze durchzuziehen, um den Unsinn, der zu Beginn dieser Legislaturperiode angerichtet wurde, wieder einigermaßen aus der
Welt zu schaffen.
Jetzt machen Sie mit dem sogenannten Steuerbereinigungsgesetz einen allerersten zaghaften Schritt; denn
interessanter als das, was darin enthalten ist, ist eigentlich all das, was fehlt, was aber auch bereinigt werden
müßte.
({14})
Es ist eine Katastrophe, daß es in diesem Zusammenhang nur wenige Änderungen, zum Beispiel hinsichtlich
des § 50a Abs. 7, gibt. In der Begründung zu dieser Änderung heißt es, daß sich nach den bisherigen Erkenntnissen die neue Vorschrift zur Erreichung des gewünschten Zieles nicht bewährt hat. Das haben Sie immerhin schon im August erkannt, nachdem Sie im März
dieses Gesetz, das am 1. April in Kraft treten sollte, erlassen hatten. Konsequenterweise wird es rückwirkend
zum 1. April schon wieder außer Kraft gesetzt. Mit anderen Worten: Es galt also nie. Dennoch wollen Sie uns
erzählen, daß durch Ihre Politik die Wirtschaft nicht
verunsichert wird. Ja, man weiß doch überhaupt nicht,
was heute gilt.
({15})
Wir haben keine Klarheit darüber, ob Sie im Oktober
nicht rückwirkend zum April Gesetze ändern, die die
Unternehmer und die Bürger heute für geltendes Recht
halten.
Eine Bereinigung reicht nicht aus. Sie müssen vielmehr neu von vorne anfangen. Ich habe schon in einer
anderen Diskussion über die Steuerpolitik gesagt: Ihre
grundsätzliche Konzeption ist falsch. Stampfen Sie alles
ein! Der Papierkorb reicht dazu nämlich nicht aus, allenfalls der Reißwolf. Machen Sie alles noch einmal neu,
und machen Sie es richtig!
Sie haben uns damals im Finanzausschuß - das habe
ich mit großem Vergnügen gehört - versprochen: In Zukunft soll Sorgfalt vor Schnelligkeit gehen. Ich erinnere
Sie an dieses Versprechen.
Das Steuerbereinigungsgesetz ist schon wieder ein
Schnellschuß, von Sorgfalt ist nichts zu sehen. Also machen Sie alles noch einmal neu! Gucken Sie sich die Erkenntnisse bitte noch einmal im Lichte des Septembers
dieses Jahres an, und Sie werden feststellen, daß sich
noch viele andere Regelungen im sogenannten Steuerentlastungsgesetz, das seit dem 1. April dieses Jahres
gilt, nicht bewährt haben und sich gar nicht bewähren
können. Und deshalb holen Sie es bitte alles wieder zurück.
Danke schön.
({16})
Jetzt hat das Wort
der Kollege Dr. Gregor Gysi.
({0})
Ja, sicher. Sachsen kommt
auch noch.
({0})
- Na, nun übertreiben Sie doch nicht so schamlos.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß
schon etwas zu den Vorwürfen des Bundesfinanzministers an unsere Adresse sagen. Das kann ich so nicht
stehenlassen.
Sie haben zunächst kritisiert, daß über die eigentlichen Gesetze kaum gesprochen worden sei - was ja
auch stimmt - und haben dann wiederum kritisiert, die
PDS-Fraktion habe keine Vorschläge gemacht und sich
überhaupt nicht mit dem Thema des Abbaus der Staatsverschuldung befaßt. Das war heute eigentlich nicht der
Gegenstand der Debatte. Das wird in der nächsten Woche Gegenstand sein, wenn es denn um den Bundeshaushalt für das Jahr 2000 geht.
Abgesehen davon ist aber diese Darstellung von
Ihnen auch falsch, Herr Bundesfinanzminister. Es gibt
zahlreiche Vorschläge der PDS-Bundestagsfraktion,wie
man Staatsverschuldung abbauen kann. Sie können sagen, daß Ihnen diese Vorschläge nicht gefallen. Sie können ja auch sagen, sie gehen Ihrer Meinung nach in die
falsche Richtung. Aber Sie können nicht behaupten, daß
es diese Vorschläge nicht gibt. Das finde ich dann unredlich.
({1})
Wenn wir sagen, die Einführung einer Vermögensteuer nach amerikanischem Vorbild würde in Deutschland zum Beispiel eine Mehreinnahme von 30 bis 40
Milliarden DM bringen, dann ist das eben ein Vorschlag. Wir fordern, den Spitzensatz der Einkommensteuer nicht zu senken. Wenn man diesen Steuersatz um
einen Prozentpunkt senkt, dann bedeutet das eben, daß
man pro Prozentpunkt 1 Milliarde DM weniger hat. Sie
wollen ihn insgesamt um 4,5 Prozentpunkte senken. Das
sind dann 4,5 Milliarden DM.
Wir haben auch Vorschläge zu den Unternehmensteuern gemacht, wobei ich noch einmal vor Mißverständnissen warne. Auch ich sage, die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind in Deutschland zu
hoch besteuert. Das Problem sind die Banken, die Versicherungen und die Konzerne, die sich aus der Finanzierung der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet haben. Dafür haben Sie keine Lösungsansätze vorgelegt.
Also machen wir Vorschläge.
({2})
Genauso haben wir Vorschläge auch zur Ausgabenseite gemacht. Glauben Sie denn, wir haben alle vergessen, daß Frau Matthäus-Maier Jahr für Jahr, bei jedem
Haushalt - wie ich meine, völlig zu Recht - die alte Regierung für den Eurofighter kritisiert hat? Was lese ich
in Ihrem Entwurf`? 1,7 Milliarden DM für das Jahr
2000. Nichts hat sich diesbezüglich an der Ausgabenseite geändert.
({3})
Da können wir auch über den Transrapid reden und über
andere Großprojekte.
Jetzt können Sie sagen, das sei alles falsch. Sie machen lauter andere Vorschläge, Herr Bundesfinanzminister; in Ordnung. Aber Sie können nicht sagen, daß wir
keine machen. Das, finde ich, geht einfach zu weit.
Dann noch einen Satz zum Kindergeld. Es ist doch
nicht so, daß wir das im luftleeren Raum vorschlagen,
sondern dahinter steckt doch ein anderes Konzept. Wir
sagen eben, die Methode, über Freibeträge zu gehen, ist
im Ergebnis falsch, weil es Millionen gibt, die eben kein
Einkommen haben, die keine Einkommensteuer zahlen
und die deshalb nichts davon haben.
({4})
Deshalb schlagen wir vor, langfristig den Weg zu gehen,
das Kindergeld zu erhöhen und die Freibeträge abzubauen und im übrigen das Ehegattensplitting aufzugeben.
Damit wäre das Ganze auch finanzierbar.
({5})
Nun lassen Sie mich noch ein Wort zu den Kapitallebensversicherungen sagen.
Aber nur ein Wort,
denn ich habe Ihnen schon ein bißchen Redezeitüberschreitung eingeräumt.
Wissen Sie, ich habe gar
nicht gesagt, ob ich dafür oder dagegen bin. Nein, da bin
ich viel zu vorsichtig.
({0})
- Ja, ich habe nur auf einen Widerspruch hingewiesen. Sie können doch nicht einerseits überall erklären, die
Rente sei zukünftig nicht mehr sicher und die Leute
sollten deshalb durch Lebensversicherungen privat vorsorgen, um dann andererseits zu sagen, daß sie, falls sie
es tun, steuerlich zur Kasse gebeten werden. Das ist ein
Widerspruch in sich. Auf den wird man doch wohl noch
hinweisen dürfen.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür-
fe auf den Drucksachen 14/1513, 14/1524, 14/1514 und
14/1546 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? -
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9a bis 9d sowie die
Zusatzpunkte 4 bis 6 auf:
9a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Michael Luther, Dr. Angela Merkel, Gerda
Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Aufbau Ost endlich wieder richtig machen
- Drucksache 14/1210 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
({0})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Michael Luther, Kurt-Dieter Grill, Dr. Angela
Merkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Strompreise in Deutschland angleichen neue Stromsteuern im Osten aussetzen
- Drucksache 14/1314 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
({1})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse und zur Herstellung von mehr
Rechtsicherheit in Ostdeutschland - „Chefsache Ost“
- Drucksache 14/1277 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
({2})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die wirtschaftliche Stärkung der neuen
Länder - Voraussetzung für die Gestaltung
der deutschen Einheit
- Drucksache 14/1551 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
({3})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuß
ZP4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, Joachim
Günther, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 14/1540 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({4})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Türk, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Aufbau Ost muß weitergehen
- Drucksache 14/1542 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({5})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, Horst Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Verkehrsprojekte Deutsche Einheit müssen
zügig realisiert werden
- Drucksache 14/1543 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für die Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Damit sind
Sie einverstanden? - Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sabine Kaspereit für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Daß wir in der ersten ordentlichen Sitzungswoche in Berlin die weitere Gestaltung der Einheit Deutschlands debattieren, freut mich
ganz besonders, obwohl mir natürlich durchaus bewußt
ist, daß der Grund für die Beantragung dieser Debatte
eher im Landtagswahlkampf von Thüringen und Sachsen zu suchen ist. Das sieht man den Anträgen der Opposition auch an. Sie enthalten wirklich keine neuen
Vorschläge für die Politik und für den Aufbau Ost. Ich
frage die ehemaligen Regierungsparteien, warum sie
sich erst jetzt so vehement für die neuen Länder ins
Zeug werfen.
({0})
Haben Sie nicht neun Jahre Zeit gehabt, die Weichen
richtig zu stellen?
({1})
Gerechterweise will ich zugeben, daß die Ostdeutschen
in Ihrer Fraktion schon öfter den Mund gespitzt haben.
Aber gepfiffen haben sie nie.
Sie wissen wie ich, in welcher Haushaltssituation wir
sind; wir haben gerade über drei Stunden darüber debattiert. Die Tatsache, daß ein Fünftel der Haushaltsmittel
allein für den Zinsendienst aufgewendet werden muß,
zeigt, wie eng die Handlungsspielräume für gestaltende
Politik geworden sind. Daran sind nicht wir Sozialdemokraten schuld, sondern die alte Regierung, die diese
Schulden aufgehäuft hat. Ich weiß natürlich - und stelle
das in Rechnung -, daß die Finanzierung der deutschen
Einheit dazu beigetragen hat. Dies will ich in keiner
Weise herunterreden.
Ein paar Zahlen zur Illustration. Die Gesamtschulden aller Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik
stiegen von 1 048 Milliarden DM im Jahre 1990 auf
2 341 Milliarden DM im Jahre 1999; das ist ein Anstieg
von 1 297 Milliarden DM in weniger als 10 Jahren. Verglichen mit dem Jahrzehnt zuvor hat sich das Verschuldungstempo verdoppelt.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Besonders dramatisch ist dabei die Verschuldungslage beim Bund. Nahm der Bund in den 80er Jahren insgesamt 290 Milliarden DM neue Schulden auf, so stieg
die Verschuldung in den 90er Jahren um 847 Milliarden
DM, das heißt, das Verschuldungstempo verdreifachte
sich fast.
({2})
- 1,5 Billionen DM.
Die Tragweite dieser Staatsverschuldung ist nur
schwer zu begreifen, weil das menschliche Denkvermögen kaum ausreicht, diese Zahl mengenmäßig zu erfassen. Um es plastisch auszudrücken: Pro Kopf der
gesamten Bevölkerung, vom Säugling bis zum Greis,
stieg die Bundesschuld von 6 777 DM auf 16 945 DM;
also ein Anstieg von über 150 Prozent in nur neun Jahren. Das ist die schwere Erblast, die uns alle so bedrückt und der die Regierung Schröder nun endlich
auch zu Leibe rückt. Dazu gibt es keine, aber auch keine Alternative.
Auch wenn mancher Wähler den steinigen Weg, den
wir nun gehen müssen, nicht mitgehen mag, bleibt das
Ziel doch richtig. Wer einen besseren, einen bequemeren
Weg weiß, der möge das auch sagen.
Wir Ostdeutschen sind bereit, unseren Beitrag zur
Haushaltskonsolidierung zu leisten, weil diese Konsolidierung kein Selbstzweck ist. Sie ist unumgänglich,
um die notwendigen Handlungsspielräume für gestaltende Politik zurückzugewinnen, die in der Regierungszeit von Kohl verlorengegangen sind. Der falsche
Mix aus Kreditaufnahme, Ausgabenkürzungen und
Steuererhöhungen hat zwar am Beginn der 90er Jahre
zu einer Scheinblüte in Ost und West geführt, aber für
diese Scheinblüte zahlen wir heute bitter mit Zins und
Zinseszins.
Deshalb ist das Zukunftsprogramm 2000 der neuen
Bundesregierung so wichtig und so richtig.
({3})
Ich denke, es liegt vor allem im Interesse der neuen
Länder, weil uns die Verringerung der Ausgaben für die
Zinsen im Bundeshaushalt wieder in die Lage versetzt,
politisch zu gestalten und die Förderung der neuen Länder fortzusetzen.
Die neuen Länder brauchen noch auf absehbare Zeit
einen wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitisch aktiven Staat, um gleichwertige und einheitliche Lebensbedingungen in ganz Deutschland zu verwirklichen.
Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren;
denn wir können es auf Dauer nicht hinnehmen, daß das
Leben in einem begrenzten Teil Deutschlands einen
Nachteil bedeutet. Dabei sind populistische Anträge
ohne brauchbare Finanzierungsvorschläge genausowenig
hilfreich wie Wahlkampfanträge, die uns hier vorliegen.
({4})
Eines möchte ich betonen: Niemandem in Deutschland, auch nicht unseren westdeutschen Mitbürgern, kann
daran gelegen sein, durch überzogene Haushaltsbeschlüsse des Bundes den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen
Ländern zu beeinträchtigen oder gar zu gefährden.
({5})
Je länger es dauert, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und damit die Lebensverhältnisse anzugleichen,
desto länger wird Ostdeutschland am Tropf hängen müssen. Der Aufbau Ost behält - das kann ich für meine
Fraktion sagen - auch in dieser schwierigen Haushaltssituation höchste Priorität. Dies ist auch die Linie der
Bundesregierung.
({6})
Im übrigen: Für den Aufbau Ost ist nicht die absolute
Höhe des Fördervolumens entscheidend, sondern das
Präferenzgefälle zwischen Ost und West. Eine intelligente Sparpolitik kann beides erreichen: den Haushalt
konsolidieren und durch ein Präferenzgefälle zwischen
Ost und West das Investieren in den neuen Ländern
wieder attraktiver gestalten.
Deshalb ist es richtig, die bisher angewandten Förderinstrumente auf den Prüfstand zu stellen, um Effizienz
und Zielgenauigkeit zu verbessern. Wenn dabei Finanzmittel eingespart werden können - um so besser. Wir
werden aber nicht nur Förderprogramme auf den Prüfstand stellen, sondern auch Sonderregelungen daraufhin
prüfen, ob sie noch ostdeutschen Sondertatbeständen entsprechen oder ob inzwischen die Voraussetzungen dafür
gegeben sind, gesamtdeutsche Regelungen zu treffen.
Ein Sondertatbestand, dem wir besondere Aufmerksamkeit widmen müssen, ist die Tatsache, daß wir auch
unter den Bedingungen der liberalisierten Strommärkte
für die ostdeutsche Braunkohleproduktion und die Verstromung der Braunkohle eine wettbewerbskonforme
Übergangsregelung brauchen werden.
Im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost treibt mich
ein anderes Thema um: Die F.D.P. will den Solidarzuschlag abschaffen, die CSU will die Förderung im Osten
vom Wohlverhalten oder besser Wahlverhalten der Bürger abhängig machen,
({7})
und die Südländer stellen den Finanzausgleich in Frage.
({8})
Der Angriff einiger unionsgeführter Länder auf das
Föderale Konsolidierungsprogramm zielt unmittelbar
auf die neuen Länder; denn 85 Prozent der durch das
FKP umverteilten Steuereinnahmen fließen im Moment
noch dorthin. Nach Berechnungen des Finanzministeriums von Sachsen-Anhalt würde die Verwirklichung
der Vorschläge der Südländer in den ostdeutschen Ländern zu Mindereinnahmen in Höhe von über 10 Milliarden DM führen. Andere Berechnungen weisen sogar
zirka 20 Milliarden DM aus.
({9})
Die Finanzkraft der Einwohner der neuen Länder liegt
jedoch nur bei 60 Prozent des Durchschnitts aller Bundesländer.
({10})
Deshalb ist es für uns Ostdeutsche völlig unverständlich, daß sich CDU-geführte Länder, die ihren eigenen
Wohlstand der Solidarität der Länder untereinander verdanken, nun aus diesem Zusammenhalt verabschieden
wollen. Hätten diejenigen Länder, die heute dem Wettbewerbsföderalismus das Wort reden, dies vor 30 Jahren
getan, wäre Bayern vermutlich ein Agrarland geblieben
- vielleicht mit der lila Kuh als Wahrzeichen.
({11})
Ich frage mich: Wie stehen eigentlich die Ministerpräsidenten Vogel und Biedenkopf zu den Vorschlägen der
Herren Stoiber, Teufel und Koch?
Nebenbei: War es nicht Franz Josef Strauß, der zusammen mit Karl Schiller in der großen Finanzreform
1967 das Konzept des kooperativen Föderalismus vollendet und verfassungsrechtlich abgesichert hat? Dieses
Konzept wird heute von seinen politischen Enkeln als
bürokratisch, bürgerfern und unitaristisch-zentralistisch
denunziert, nun, da man es offensichtlich selber nicht
mehr braucht.
Was wäre die Folge für den Osten? Die Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand käme zum Erliegen. Der
gerade für die wirtschaftliche Gesundung notwendige
Aufbau der öffentlichen Infrastruktur würde abgebrochen werden. Dies wiederum hätte erhebliche Konsequenzen für die private Investitionstätigkeit. Kurz gesagt: Der Aufbau Ost würde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden, mit all den Folgen, vor
denen ich nur warnen kann. Ein solcher Wettbewerbsförderalismus muß zum Scheitern dessen führen, was im
Osten schon erreicht wurde.
Nun dürfen wir wirklich nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Lassen Sie uns lieber in den Wettbewerb der
besseren Konzepte eintreten.
({12})
Ich denke, es werden viele Schritte und auch viele gute
Gedanken notwendig sein. Dazu würde ich Sie gern
einladen.
({13})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Paul Krüger.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz
zu Frau Kaspereit denke ich, es ist angemessen, daß wir
uns etwa ein Jahr nach Antritt der neuen Bundesregierung - zumal dies unsere erste Sitzungswoche hier an
diesem Ort ist - mit dem Aufbau Ost beschäftigen. Frau
Kaspereit, liebe Kollegen von der rotgrünen Koalition,
was ich nicht angemessen finde, ist der Zeitpunkt, an
dem wir hier diskutieren. Mich ärgert schon, daß Sie den
Zeitpunkt für diese, wie ich meine, wichtige Debatte auf
den Nachmittag anberaumt haben.
({0})
Wir können dem Bundeskanzler nicht durchgehen lassen, daß er aus vermeintlichen Termingründen heute
nicht hier sein kann. Das ist Ausdruck der Bedeutung,
die die ganze Koalition dieser Problematik, nämlich dem
Aufbau Ost, beimißt.
Wenn wir uns nach einem Jahr die Bilanz Ihrer Arbeit anschauen, dann stellen wir fest, daß die Wirtschaft
in den neuen Bundesländern stagniert. Auch schon
vorher gab es bedenkliche Einbrüche im Bereich der
Bauwirtschaft. Aber im Bereich des verarbeitenden Gewerbes kam es noch zu hervorragenden Entwicklungen.
Diese Zeit ist jetzt vorbei. Wir haben vor allen Dingen
einen Rückgang im Bereich der Arbeitsplätze zu verzeichnen, was mich noch mehr bedrückt als die Erhöhung der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern.
Das steht im Gegensatz zu den vielen Versprechen, die
Sie vor den Wahlen gemacht haben. Sie haben viel versprochen und angekündigt. Mittlerweile haben sich in
Ostdeutschland in bezug auf Ihre Politik Enttäuschung,
Resignation und Verunsicherung breitgemacht.
Wir werden heute von Herrn Schwanitz und auch von
anderen Rednern wahrscheinlich wieder die übliche
Floskel hören, der Aufbau Ost werde auf hohem Niveau
weiter gefördert.
({1})
Jeder, der in der Politik zu Hause ist, weiß, was das
eigentlich heißt. Auf hohem Niveau weiter fördern heißt
absenken.
({2})
Dies bedeutet nicht mehr eine Förderung auf dem gleichen Niveau wie bisher, sondern nur noch auf hohem
Niveau.
({3})
In der Tat, die Leistungen für die neuen Länder sind
reduziert worden und werden nach Ihren Planungen
weiter reduziert.
({4})
Das geben Sie schon heute mehr oder minder zu. Die
Ostdeutschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, „haben
verstanden“. Eigentlich wollte ich in diesem Zusammenhang den Bundeskanzler direkt ansprechen; aber der
ist ja bekanntlich nicht anwesend.
Meine Damen und Herren, wir haben uns anzuschauen, was die Bundesregierung tut. Das für mich
größte und gravierendste Problem hat erst einmal gar
nichts mit der Förderung zu tun, sondern mit den Belastungen, die diese Bundesregierung den Menschen in
den neuen Bundesländern zusätzlich aufbürdet.
({5})
Ich nenne das „Benachteiligung durch Gleichbehandlung“. Die alte Bundesregierung hat die ostdeutschen
Probleme sehr wohl immer wieder differenziert betrachtet und differenziert darauf reagiert. Jetzt wird alles
pauschal heruntergebügelt.
Wir haben zu konstatieren, daß in den neuen und in
den alten Bundesländern unterschiedliche Verhältnisse
bestehen. In den neuen Bundesländern gibt es eine Vermögensbasis, die wesentlich schlechter ist als die in den
alten Bundesländern. Das haben uns die Kollegen von
der SED bzw. der PDS hinterlassen. Die Menschen in
Ostdeutschland haben im Durchschnitt ein Geldvermögen, das ungefähr einem Drittel dessen entspricht, was
der Bürger in Westdeutschland im Durchschnitt zur Verfügung hat.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Nein, ich möchte
diesen Gedanken gerne zu Ende bringen. - Sie haben ein
Viertel des Immobilienvermögens, und sie haben niedrige Einkommen. Die liegen - wir wissen und bedauern,
daß das immer noch der Fall ist - zur Zeit bei 75 Prozent. Das ist eine Kluft zwischen Ost und West, die sich
noch verstärkt. In Ostdeutschland gibt es - das sage ich
im Zusammenhang mit der Mineralölsteuererhöhung eine wesentlich geringere Bevölkerungsdichte. Vor diesem Hintergrund verstärken Sie die Belastungen in Ost
und West gleichermaßen.
Die Ostdeutschen - das wissen wir inzwischen aus
vielen Umfragen - haben als das höchste Ziel, das sie
verfolgen, die Gerechtigkeit in den Vordergrund gestellt.
Ich habe schon zu DDR-Zeiten einen Spruch über meinem Schreibtisch gehabt, der lautete: „Nichts ist ungerechter als die gleiche Behandlung Ungleicher!“ Sie
aber behandeln Ost und West gleich. Ich nenne im Hinblick auf die Belastungen einige Beispiele. Die Ökosteuererhöhung wirkt für die Ostdeutschen doppelt hart,
weil Sie die gleiche Belastung auf Ost und West verteilen, die Ostdeutschen aber höhere Mobilitätsanforderungen zu realisieren haben. Sie differenzieren überhaupt
nicht. Auch die Energiepreissteigerungen wirken doppelt hart, weil bei der niedrigeren Einkommensbasis ein
höherer Anteil des Einkommens für Energie gezahlt
werden muß und weil die Energiepreise in Ostdeutschland ohnehin schon höher sind. Dann haben Sie beschlossen, die Renten nur noch um die Inflationsrate zu
erhöhen. Das trifft Ostdeutschland doppelt hart, weil die
Steigerungen, an denen die Ostdeutschen bislang teilhatten, nicht mehr stattfinden. Alles das sind Dinge, die
die Ostdeutschen in doppelter Weise bestrafen. Das
werden wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
nicht durchgehen lassen.
({0})
Im übrigen verstoßen Sie mit Ihrer Politik auch gegen
Art. 3 des Grundgesetzes, wozu das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, daß Gleiches gleich und Verschiedenes seiner Eigenart entsprechend unterschiedlich
zu behandeln ist. Die ehemalige Bundesregierung hat
das immer - bei allen Entscheidungen, die sie getroffen
hat - berücksichtigt. Wir fordern Sie auf, die neuen
Länder ungleich zu behandeln - bezogen auf die Zukunft und auf das, was bisher schon beschlossen ist.
Darüber hinaus nehmen Sie - Frau Kaspereit, das ist
nun wirklich keine Erfolgsstory - Kürzungen in fast
allen Bereichen der Förderung vor. Das beginnt beim Infrastrukturausbau, dem nachgewiesenermaßen wichtigsten Bereich für Ostdeutschland. Sie stehen nicht an, insoweit zu Streichungen zu kommen. Ich denke, zur ICEStrecke Nürnberg-Erfurt werden einige Kollegen von
uns heute noch etwas sagen.
({1})
Auch andere Dinge werden in Frage gestellt. Obwohl
Sie die Mineralölsteuer erhöht haben, geht kein Pfennig
von dieser Erhöhung in den Verkehrswegeausbau. Damit bestrafen Sie die Ostdeutschen, die ohnehin schon
überproportional zahlen, wiederum doppelt. Sie kürzen
bei der Förderung in verschiedenen Bereichen; das ist
schon gestern abend in der Debatte angesprochen worden. Ich erinnere nur an die 900 Millionen DM bei der
BvS und 200 Millionen DM GA-Wirtschaftsförderung.
({2})
Zudem wird bei der Städtebauförderung und in vielen
anderen Bereichen gekürzt. Was mich besonders betroffen gemacht hat, ist - das muß ich Ihnen ganz ehrlich
sagen - die Tatsache, daß jetzt auch noch im Bereich
Forschung und Entwicklung, von dem ich immer dachte,
daß die Bundesregierung dort einen Schwerpunkt setzt,
gekürzt werden soll.
({3})
- Innoregio ist einmal aus meiner eigenen Feder entstanden. Machen Sie sich einmal richtig sachkundig!
Sie kürzen des weiteren durch die Verhängung einer
Haushaltssperre; darauf wird der Kollege Schmidt noch
eingehen. Das einzige und wichtige Programm für Existenzgründer in den neuen Bundesländern, FUTOUR,
wird durch Sie zum Jahresende gekappt. Auch das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Sie betreiben eine völlig falsche Akzentsetzung in der
Arbeitsmarktpolitik. Wir haben versucht, die Integration von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt durch
eine Brückenfunktion zu vollziehen. Wir haben versucht, das über Lohnkostenzuschüsse, über VergabeABM und andere Instrumente verstärkt zu pushen. Jetzt
wird das um 180 Grad umgedreht: Sie versuchen jetzt
wieder, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine reine
Beschäftigungsfunktion zu installieren. Ich sage Ihnen:
Das ist der falsche Weg. Wir werden dagegen sein.
({4})
Wenn ich mir anschaue, was die Bundesregierung im
Bereich der Energiepolitik macht, dann muß ich sagen,
daß das für die neuen Bundesländer geradezu tödlich ist.
Es ist nicht nur so, daß Sie nichts dagegen tun, daß wir
in Ostdeutschland schon erhöhte Energiepreise haben,
was seine Ursache darin hat, daß wir mehr investieren
mußten, weil wir die gesamte Energiewirtschaft neu
aufbauen mußten. Nein, Sie erhöhen die Energiepreise
in den neuen Bundesländern durch die Ökosteuer noch
weiter. Das führt natürlich dazu, daß für die ostdeutsche
Energiewirtschaft überhaupt keine Chancen im Wettbewerb zur internationalen Energiewirtschaft, aber auch
zur westdeutschen Energiewirtschaft bestehen. Darüber
hinaus belasten Sie die Privathaushalte und vor allem
die gesamte ostdeutsche mittelständische Wirtschaft
überproportional. Das wird sich nicht nur negativ auf die
wirtschaftliche Entwicklung, sondern vor allem auch auf
die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den neuen
Bundesländern auswirken. Im übrigen betrifft das auch
die gesamte Braunkohlewirtschaft in den neuen Bundesländern. Das ist der falsche Weg.
Wir haben einen Antrag eingebracht, die Belastungen
durch die Ökosteuer - also die sogenannte zweite Stufe
der Ökosteuerreform - auszusetzen. Damit würden wir
auf gleiche Energiepreise kommen und alle diese negativen Effekte, die ich eben genannt habe, umgehen.
({5})
Meine Damen und Herren, dazu, was dieser Bundeskanzler im Bereich der Strukturpolitik macht oder
nicht macht, will ich nur ein Beispiel nennen: den
A3XX. Das ist das größte europäische Infrastrukturvorhaben bzw. Wirtschaftsvorhaben, das von wesentlicher
staatlicher Unterstützung getragen und begleitet wird.
Der alte Bundeskanzler Helmut Kohl hat zum Standort Rostock/Laage ganz klar Position bezogen. Von seiten des neuen Bundeskanzlers ist hierzu bisher keine
Äußerung erfolgt, obwohl wir ihn mehrfach direkt im
Plenum des Deutschen Bundestages dazu aufgefordert
haben. Ich will gar nicht darauf eingehen, was dies wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch für die neuen Länder
bedeutet. Ich will Sie nur darauf hinweisen, wie enttäuscht die Menschen in Ostdeutschland, insbesondere
in Mecklenburg-Vorpommern und Rostock von dieser
Haltung der neuen Bundesregierung sind.
Ich kann Ihnen nur sagen: Setzen Sie sich dafür ein,
daß sich Ihr Bundeskanzler und Ihre Bundesregierung
nachhaltig dafür aussprechen und auf internationaler
Ebene dafür kämpfen, daß der Standort Rostock/Laage
eine faire Chance bekommt oder/und darüber hinaus die
neuen Bundesländer an diesem großen Vorhaben intensiv beteiligt werden.
({6})
Herr Kollege, Ihre
Redezeit!
Meine Damen
und Herren, all das, die Kulisse, die ich hier eben geschildert habe, führt dazu, daß die Chefsache Aufbau
Ost in Ostdeutschland langsam als Drohung empfunden
wird.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Wir alle wünschen uns, daß Sie es nicht zur Chefsache, sondern es
wie unser alter Bundeskanzler zur Herzenssache erklären, den Aufbau im Osten zu betreiben. Wir haben unsere Anträge heute eingebracht, um den wirklich schlimmen Entwicklungen, die im Moment in Ostdeutschland
im Gange sind, entgegenzuwirken.
({0})
Sie werden die Suppe, die Sie uns eingebrockt haben,
auslöffeln müssen.
Vielen Dank.
({1})
Ich habe zwei Bitten
um Kurzinterventionen vorliegen. Frau Kollegin Luft,
bitte sehr.
Herr Kollege Krüger, als Sie
noch auf der Bank der Regierungsfraktionen gesessen
haben, haben Sie schon keine Zwischenfragen zugelassen. Jetzt sitzen Sie auf der Oppositionsbank, aber dies
setzt sich fort. Ich finde, das ist kein besonders guter
Stil. Aber egal.
Ich gehe doch sicher richtig in der Annahme, wenn
ich sage, daß die Überschrift des Antrages Ihrer Fraktion
„Aufbau Ost endlich wieder richtig machen“ suggerieren soll, er sei schon einmal richtig gemacht worden,
nämlich unter der Regierung Kohl.
({0})
- Ich wußte, daß Sie applaudieren würden. - Jetzt darf
ich Sie fragen: Wie erklären Sie sich dann, daß sich wenige Monate nach für die CDU verlorengegangener
Bundestagswahl über 120 ehemalige christdemokratische Abgeordnete der frei gewählten Volkskammer der
DDR in einem Brief an Fraktionschef Schäuble über das
beschwert haben, was beim Aufbau Ost gelaufen ist? Ich
habe hier eine Pressenotiz - ich könnte Ihnen viele Notizen bringen -, in der insbesondere gesagt wird, daß
Art. 28 und 29 des Einigungsvertrages verletzt worden
seien - ich zitiere wörtlich durch die „bloße Übertragung der Wirtschaftsmechanismen der alten Bundesländer nach 40jähriger
Entwicklung in Richtung Ost“.
Ganz oben bei dieser Initiative stand Frau BergmannPohl. Ich nehme an, daß auch Sie zu diesen 120 Abgeordneten gehörten. Wir beide waren in der frei gewählten Volkskammer und saßen dort gemeinsam im Haushaltsausschuß. Ich erinnere mich sehr gut.
Sie haben angesprochen, daß die Energiepreise im
Osten höher sind als in den alten Ländern, daß die Vermögensverhältnisse unterschiedlich sind und daß die
Renten differieren. Hier kann ich Ihnen nur zustimmen.
Das sind richtige Feststellungen. Aber diese Tatsachen
sind nicht seit September vergangenen Jahres in der
Welt, sondern die gibt es schon eine ganze Weile.
({1})
Wenn Sie die Ansiedlungspolitik, die betrieben wird,
beklagen, möchte ich dazu etwas Konkretes sagen: Wir
beide sind gebürtige Mecklenburger. Mir liegt der
Standort Rostock/Laage genauso am Herzen wie Ihnen.
Im Wirtschafts- und im Haushaltsausschuß hat die PDS
in dieser Legislaturperiode als erste Fraktion den Antrag
eingebracht, die Ausschüsse mögen sich parteiübergreifend darauf verständigen, die Bundesregierung aufzufordern, alles in ihrer Kraft Stehende zu tun, um die
Produktion des Großraumpassagierflugzeuges in Rostock/Laage anzusiedeln. Das ist auch von den Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion abgelehnt worden.
({2})
Ich will zum Ende kommen. Meine Erfahrung ist gerade in diesen Tagen, in denen der Wahlkampf läuft: Die
Menschen in den neuen Bundesländern verdrießt total die schlechte Wahlbeteiligung unterstreicht das -, daß
die Parteien, die früher an der Regierung waren, heute
die damaligen Oppositionsargumente benutzen, und
diejenigen, die heute in der Regierung sind, frühere Regierungsargumente benutzen. Das ist für die Menschen
inzwischen nicht mehr erträglich.
({3})
Herr Kollege Krüger, möchten Sie jetzt antworten oder nach der zweiten
Kurzintervention?
({0})
- Jetzt. Bitte sehr.
Liebe Frau Luft,
Zwischenfragen habe ich schon damals nicht gerne zugelassen, wenn ich den Eindruck hatte, daß sie nichts
weiter als meinen Redefluß stören sollten,
({0})
damit ich den Gedanken, den ich vortragen wollte, nicht
herüberbringen konnte.
({1})
Sie haben gefragt, ob wir den Aufbau Ost richtig gemacht haben. Darüber kann man sich natürlich bestens
streiten. Wir waren der Auffassung, daß wir sehr vieles
richtig gemacht haben. Wir sind nicht der Meinung, daß
wir alles richtig gemacht haben. Das kann auch niemand. Jeder, der etwas tut, macht Fehler. Die haben
auch wir gemacht. Das sollten Sie uns auch einräumen.
Aber ich glaube, wir haben sehr viel Wesentliches richtig gemacht.
Von dem Brief, den Sie eben erwähnten, habe ich in
der Zeitung gelesen. Ich habe allerdings auch nach eingehenden Recherchen nicht ermitteln können, wer diesen
Brief geschrieben haben soll. - Nicht alles, was in der
Zeitung steht, stimmt. Das sollte auch Ihnen, Frau Luft,
nicht entgangen sein. - Ich habe viele von den Kollegen,
die heute noch im Bundestag sind, gefragt. Niemand von
ihnen hat diesen Brief unterzeichnet. Mir ist auch nicht
ein einziger Kollege aus der ehemaligen Volkskammer
bekannt, der diesen Brief unterzeichnet hat. Ich bin mir
bis heute nicht sicher, ob das nicht nur eine Zeitungsente
gewesen ist, die möglicherweise wohlweislich aus irgendwelchen Gründen lanciert worden ist.
Ich will auch auf das noch eingehen, was Sie, Frau
Luft, im Zusammenhang mit der Haushaltssituation angesprochen haben. Auch als wir den Aufbau Ost betrieben haben, sind die Bäume nicht in den Himmel gewachsen. Damals mußten wir sehen, daß wir bei den hohen Belastungen, die wir aus der ehemaligen DDR übernehmen mußten, das Ausgabevolumen tatsächlich auf
das konzentrierten, was für den Aufbau in den neuen
Bundesländern wesentlich war. Das haben wir versucht,
und das ist uns im großen und ganzen, glaube ich, gut
gelungen. Wir hatten dabei immer auch die Unterstützung der Bundesregierung.
Sicher, wir haben sehr hart dafür kämpfen müssen.
- Ich schaue mich hier um und sehe einige Kollegen, die
das mitgetragen haben. - Wir haben manchmal auch warnende Blicke von unseren Kollegen bekommen - ich entdecke hier den Kollegen Uldall -, daß wir das wegen der
Haushaltsverschuldung nicht überziehen. Einen Teil der
Haushaltsbelastungen, die wir heute hier beklagen, haben
wir natürlich deshalb, weil wir dringende und wichtige
Maßnahmen für den Aufbau Ost realisiert haben.
Frau Luft, zu Ihrem Antrag zum A3XX, der etwa
zeitgleich mit unserem Antrag in den Ausschuß überwiesen wurde
({2})
- das ist auch egal; darüber brauchen wir uns nicht zu
streiten; mittlerweile gibt es eine ganze Reihe solcher
Anträge mit unterschiedlicher Substanz und unterschiedlicher Forderung -: Sie wissen, daß wir uns mit
dieser Problematik im Ausschuß sehr intensiv beschäftigen. Es gibt bisher überhaupt keine Ablehnung dieser
Anträge. Die Anträge liegen noch im Ausschuß; die Entscheidung ist im Moment nicht aktuell. Gerade gestern
haben wir in der Obleutebesprechung darüber geredet,
daß wir eine öffentliche Anhörung zum A3XX durchführen wollen, um dieses Thema intensiv auch in die Öffentlichkeit zu bringen.
Ich denke, daß wir alle gemeinsam dafür kämpfen
sollten - das tun wir auch -, daß ein möglichst hoher
Anteil von der sogenannten Workshare mit dem A3XX
verbunden ist und somit möglichst viele Arbeitsplätze in
den neuen Bundesländern entstehen können.
({3})
Denken Sie bitte an
die Redezeit! Ich muß jetzt ein bißchen strenger sein,
weil wir sonst den ganzen Tag der Zeit hinterherlaufen.
Frau Präsidentin,
ich schließe dann. Ich glaube, es war wichtig, daß ich
das noch einmal anmerken konnte.
Danke.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Hustedt.
Herr Krüger, Sie haben hier Krokodilstränen darüber
geweint, daß die Energiepreise in Ostdeutschland höher
sind als in Westdeutschland - was in der Tat stimmt:
ungefähr zwei Pfennig bei der Industrie, und teilweise
gibt es sogar noch größere Unterschiede.
Jetzt frage ich Sie: Warum ist das so? Auch Sie waren
in der letzten Legislaturperiode in diesem Parlament. Ich
kann mich nicht erinnern, daß Sie dagegen protestiert
haben, daß diese Bundesregierung genau dies mit ihren
Maßnahmen vorbereitet hat.
Wir haben einen Wettbewerb im Energiebereich. Wir
als Grüne haben das immer begrüßt, unterstützt und gefördert.
({0})
- Herr Ulldal, wir haben einen Vorschlag auf den Tisch
gelegt, der weiter geht als der der Bundesregierung. Das
mußte selbst Herr Rexrodt zugeben.
Wir müssen Ihren Vorschlag ablehnen; denn Sie haben während Ihrer Regierungszeit den gesamten Energiebereich im Osten vom Wettbewerb ausgenommen.
Sie haben einen Schutzzaun um die Veag gezogen. Das
hat genau den Effekt erzielt, daß die Energiepreise im
Osten höher als die im Westen sind. Es gibt also ein
zweigeteiltes Recht auf dem Energiemarkt dieser Republik. Sie ziehen damit eine virtuelle Mauer zwischen Ost
und West. Die Folgen sind, daß die ostdeutsche Industrie, aber in Zukunft auch die ostdeutschen Bürger wenn die freie Wahl des Stromlieferanten im Westen
sehr schnell umgesetzt wird - höhere Energiepreise
zahlen müssen. Das geht zu Lasten der Entwicklung der
ostdeutschen Industrie. Damals habe ich keinen Protest
von Ihnen gegen diese Entwicklung gehört. Jetzt weinen
Sie Krokodilstränen.
Jetzt schlagen Sie vor, die virtuelle Mauer - das
zweigeteilte Recht für Ost und West - durch ein zweigeteiltes Steuerrecht noch zu erhöhen. Das wäre auch
überhaupt nicht EU-kompatibel. Nach unserem Vorschlag, den wir schon in der letzten Legislaturperiode
unterbreitet haben und den wir in dieser wahrscheinlich
realisieren werden, sollen durch die Einführung einer
bundesweiten Quote die Investitionen, für die Ost und
West gemeinsam aufkommen sollen - gemeint sind neue
Investitionen -, in die Produktion von Strom aus Braunkohle gesichert werden.
({1})
Damit soll gleichzeitig ermöglicht werden, daß auch Ostdeutschland in den Genuß des Wettbewerbs gelangt. Auf
diese Weise sollen sich die Energiepreise in Ost und West
zügig aneinander angleichen. Das ist unser Weg, nicht der
des zweigeteilten Rechts zwischen Ost und West.
({2})
Jetzt darf der Kollege Krüger antworten. Bitte sehr.
Vielen Dank für
Ihre Kurzintervention. Sie gibt mir zunächst die Gelegenheit, auch noch auf einige Ausführungen von Frau
Luft zu erwidern, auf die ich vorhin aus Zeitgründen
nicht eingehen konnte.
Frau Luft, Sie haben vorhin gefragt, warum wir früher nicht das umgesetzt haben, was ich jetzt fordere. Der
einzige Grund liegt darin, daß wir früher den Ostdeutschen keine zusätzlichen Belastungen aufbürden wollten. Wir haben versucht, die Bürger und auch die Wirtschaft in Ostdeutschland in allen möglichen Bereichen
zu entlasten oder „incentives“, also Anreize, zum Beispiel für Investitionen, zu geben. Wir haben immer versucht, Ostdeutsche dort zu präferieren, wo es nur möglich war. Aber wir haben den Ostdeutschen - jedenfalls
ist mir das nicht bekannt - nicht solche Belastungen
aufgebürdet, die auf einer differenzierten Betrachtungsweise der Vermögens- und Einkommenssituation in
West- und Ostdeutschland beruht hätten; denn die Verhältnisse in Ostdeutschland waren generell schlechter als
die in Westdeutschland, und zwar deutlich. Deshalb
kannten wir während der Regierung Kohl das heutige
Problem - Gott sei Dank - nicht. Darauf wollte ich noch
einmal hinweisen.
Kurz zu Frau Hustedt. Frau Hustedt, wir haben uns
schon damals um die um zwei Pfennig im Vergleich zu
Westdeutschland höheren Energiepreise in Ostdeutschland sehr gesorgt. Uns war klar, daß diese Differenz die
ostdeutsche Wirtschaft belastet. Wir hatten kaum eine
Chance, daran etwas zu verändern, obwohl wir immer
versucht haben, Lösungen für dieses Problem zu finden.
Um die Investitionen zu schützen und gleichzeitig auch
die Braunkohlewirtschaft in Ostdeutschland wenigstens
in einem bestimmten Umfang zu erhalten, haben wir
keinen Schutzzaun errichtet - wir konnten ja nicht Subventionen für die ostdeutsche Braunkohlewirtschaft in
Höhe der Subventionen für den Steinkohlenbergbau
in Westdeutschland durchsetzen; die Subventionen für
Westdeutschland haben insbesondere Sie durchgesetzt -,
sondern versucht, eine möglichst wettbewerbsverträgliche Übergangsregelung zu schaffen, damit nicht zu viele
Arbeitsplätze in der ostdeutschen Wirtschaft verlorengehen mußten. Das ist uns sicherlich nicht super gelungen.
Es ist mehr oder weniger gut gelungen.
Wenn wir tatsächlich einen großen Schutzzaun um
die Veag errichtet hätten, dann müßte dieser Energiekonzern jetzt jubeln und große Renditen abwerfen. Aber
das ist leider nicht der Fall. Die Veag hat große Probleme, von denen Sie wissen dürften, wenn Sie sich mit der
Materie auskennen. Wir haben damals versucht, einen
vernünftigen Kompromiß zu finden.
Mir scheint, daß es für die ostdeutsche Wirtschaft,
insbesondere für die ostdeutsche Energiewirtschaft, tödlich ist, daß sie einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt
ist - und das bei schlechterer Eigenkapitalsituation, bei
höheren Abschreibungen für Investitionen und bei all
den Lasten, die sie zusätzlich zu tragen hat. Sie haben
das - ohne mit der Wimper zu zucken - hingenommen.
Das war bisher kein Thema. Die Gruppe in Ihrer Fraktion, die sich jetzt entschlossen hat, für den Aufbau Ost zu
kämpfen - ich frage mich, gegen wen sie kämpfen will -,
hat sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet. Es ist ein
Thema, das wir mit unserem Antrag einbringen. Wir
sollten es ernst nehmen. Für die Entwicklung in Ostdeutschland ist es gravierend.
({0})
Mir liegen weitere
Wünsche nach einer Kurzintervention vor. Ich lasse sie
aber nicht zu, weil es auf die Antwort auf eine Kurzintervention keine erneute Kurzintervention gibt. Die Präsidentin oder der Präsident kann entscheiden, ob sie oder
er eine Kurzintervention zuläßt. Da wir in der ersten
Runde dieser Debatte sind und in den weiteren Runden
noch eine Menge Argumente vorgetragen werden, lasse
ich jetzt keine weiteren Kurzinterventionen mehr zu.
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zeitpunkt und der Ort der heutigen Debatte
zum Aufbau Ost geben mir die Gelegenheit, an das zu
erinnern, was wir bereits bewältigt haben, und uns zu
vergegenwärtigen, was noch zu leisten ist. Herr Kollege
Krüger, wir sind nicht gut beraten, den Aufbau Ost zu
einer derartigen Erbsenzählerei zu machen und eine
wichtige Sache dadurch so zu zerfasern.
({0})
- Herr Kollege Türk, man kann sich leidenschaftlich
darüber streiten, ob der Aufbau Ost Chef- oder Herzenssache ist. Sie machen ihn lediglich zu einer schlechten
Drucksache.
({1})
Die Drucksache ist in sich widersprüchlich, weil Sie behaupten, die Bundesregierung mache kaum etwas anderes als das, was Sie gemacht hätten. Gleichzeitig behaupten Sie, nur Sie selbst könnten es gut machen. Das
haben wir in der Zeit unserer Opposition längst widerlegt, obwohl wir es uns gar nicht so einfach gemacht haben.
Ich will diese Debatte in eine andere Dimension rükken. Wir haben vorgestern hier, in diesem neuen Haus
des Bundestages, 50 Jahre parlamentarische Demokratie
in Deutschland gefeiert. Das ist möglich geworden, weil
wir vor zehn Jahren eine friedliche Revolution hatten.
Das „Haus der Demokratie“ in der Friedrichstraße, also
unweit von hier, ist in das Eigentum des Beamtenbundes übergegangen. Es ist das Schicksal deutscher Revolutionen, irgendwie institutionalisiert zu werden und
schwere Eigentumsfragen aufzuwerfen - aber das nur
nebenbei.
Vor genau 10 Jahren, am 9. September 1989, ist in
Berlin-Grünheide der Aufruf zur Gründung des „Neuen
Forums“ verfaßt worden. Das war ein Aufschrei zum
Widerstand gegen einen Überwachungsstaat. Es war ein
Aufbruch, um aus diesen festgefahrenen, betonierten
Strukturen und Verhältnissen auszubrechen. Der Mauerfall hat uns wenig später beidseitig überrascht. Im Westen Deutschlands hatte man ein Ministerium für innerdeutsche Fragen, aber keines für gemeinsame gesamtdeutsche Antworten. Wir im Osten waren überrascht,
wie schnell das Ganze geht und daß es überhaupt keinen
Sinn mehr gemacht hat, die DDR zu reformieren, was
ursprünglich der Anspruch war.
Der Zustand der DDR war katastrophal. Das belegt
das Geheimpapier, der Offenbarungseid von Gerhard
Schürer, den er an die Staatliche Plankommission im
Herbst 1989 gerichtet hat. In diesem Papier kommt zum
Ausdruck, daß dieser Staat zahlungsunfähig war. Er war
ruiniert, die Arbeitsproduktivität lag am Boden. Es ging
so gut wie nichts mehr. Viele Kommunen und viele
Städte sind dem Tod im letzten Moment von der Schippe gesprungen. Auch die rettende Vereinigung hat nur
kurzzeitig Freude und Optimismus hervorgerufen; denn
Arbeitslosigkeit und Zukunftsängste haben diese Anfangsfreude relativ schnell verdrängt.
Die Ostdeutschen haben sehr schnell erfahren, was es
heißt, wenn Entscheidungen woanders fallen und wenn
man doch wieder fremdbestimmt wird. Manche Entscheidungen der Treuhand waren leider so undurchsichtig wie die der Staatlichen Plankommission - wobei ich
beide nicht vergleichen möchte.
({2})
- Auch das, aber unter Ihrer Verantwortung, Herr Kollege!
({3})
Ich spreche das an, um unsere Ausgangssituation
klarzumachen. Die heutige Bundesregierung hat eine
doppeltschwere Erblast übernommen, und zwar die der
SED, aber auch die der letzten Koalitionsregierung. Wie
gesagt, man darf sich die Sache nicht so einfach machen.
Man hat auch in der Opposition redlich zu urteilen.
Diesbezüglich hat Ihnen Ihr Fraktionsvorsitzender diese
Woche ja ins Gewissen geredet. Es geht jetzt eben nicht
nur um die Vollendung der inneren Einheit, sondern
auch um die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft. Vor
dieser Aufgabe stehen wir, sie müssen wir lösen.
Von der PDS hätte ich mir zumindest gewünscht, daß
sie im Vorspann ihres Antrages etwas dazu ausführt,
was für eine kaputte Piste sie hinterlassen hat, wenn sie
schon den Osten zu einem neuen Experimentierfeld machen und dort ein Pilotprojekt starten möchte.
({4})
Die Angleichung der Lebensbedingungen war doch
der Anspruch Ihrer Ursprungspartei. Ich verwende ungern die Formel von 40 Jahren SED-Herrschaft. Aber
die SED hatte doch wirklich den Anspruch, West- bzw.
Weltniveau zu erreichen. Sie hatte dazu ja auch alle
Gelegenheit, und die PDS könnte jetzt in MecklenburgVorpommern sofort diesen Pilotversuch starten. Ich frage mich, warum Sie, Kollege Gysi, das dort nicht tun
und statt dessen Forderungen an diese Bundesregierung
stellen, obwohl Sie wissen, daß diese eigentlich nicht finanzierbar sind, wie es übrigens auch ein internes Papier
aus Ihrem Haus, dem Karl-Liebknecht-Haus, belegt.
({5})
Ich wollte das hier jetzt nicht ausschlachten, aber der
Kollege Bartsch, unter dessen Federführung es entstanden ist, hat einmal die Forderungen, die Sie so locker in
die Welt hinausposaunen und vor allen Dingen in den
ostdeutschen Wahlkampf tragen, unter die Lupe genommen und festgestellt, daß diese jeglichen finanzpolitischen Rahmen sprengen würden. Die Aufstellung erfolgte wohl nach dem alten „Wünsch dir was“-Katalog.
So steht es auch wortwörtlich in diesem Papier. Sie
sollten stärker solche kritischen Papiere beachten, bevor
Sie solche Anträge einbringen.
({6})
Bei aller Kritik, die wir aus der Rolle der Opposition
heraus damals geübt haben, haben wir durchaus auch die
positiven Leistungen der alten Bundesregierung gewürdigt. Hier muß man ja differenzieren. An dem Grundfehler, daß die Vereinigung auf Pump gemacht wurde
und dem politischen Mut zur Wirtschafts- und Währungsunion leider nicht der Mut zu einem Lastenausgleich gefolgt ist, kommen wir auch heute nicht vorbei.
Wir hätten es sonst in finanzieller Hinsicht um einiges
leichter, bräuchten diesen Schuldenberg nicht abzutragen, und Hans Eichel hätte nicht so schwer an der
Erblast von Theo Waigel zu schleppen, wenn dieser
Fehler am Anfang nicht passiert wäre. Dazu müssen Sie
sich politisch bekennen.
({7})
Die Länder, die so keß die Reduzierung der Finanzhilfen für den Osten fordern, sollten sich auch daran erinnern, daß sie damals mit dem Bund mächtig gefeilscht
haben und ihrer Verantwortung eigentlich nicht gerecht
geworden sind. So begegnet heute mancher Finanzminister dem ehemaligen Ministerpräsidenten und stellt
fest, daß das Herz nicht nur links schlägt, sondern
manchmal auch zwei Herzen in einer Brust schlagen.
Das Versprechen von den blühenden Landschaften
hat einerseits völlig überzogene Erwartungen geweckt,
auf der anderen Seite kann niemand bezweifeln, daß ein
Teil dieses Versprechens durchaus eingelöst worden ist
und man einiges davon sehen kann. Allerdings müssen
wir uns von der Illusion befreien, daß eine größere Anzahl von industriellen Kernen wirklich zu retten gewesen wäre. Trotz aller Anstrengungen und Mühen, die
man sich gegeben hat, finden wir kein Headquarter eines
Großkonzerns im Osten, und im Deutschen Aktienindex
sucht man vergeblich nach einem ostdeutschen Unternehmen. Die Dresdner Bank ist in Frankfurt geblieben
und die Gothaer Versicherung in Köln. Ich könnte das
weiter fortsetzen. Weil im Osten nur Filialbetriebe eingerichtet worden sind, ergibt sich, wie Sie wissen, das
Problem, daß die wirtschaftliche Basis dort eben noch
nicht ohne weiteres einen selbsttragenden Aufschwung
ermöglicht.
Sicherlich wurden auch kapitale Fehler begangen:
Fehlallokationen in Hotel- und Bürobauten sowie in
Gewerbegebiete. Es ist aber schon ein Witz, daß ausgerechnet aus Bayern immer wieder Vorwürfe kommen,
nachdem man jetzt durch das Aufdecken des LWSSkandals sieht, wie dort zum Teil mit Geldern umgegangen wurde. Es ist manchmal ratsam, nicht nur vor, sondern auch hinter der eigenen Tür zu kehren. Das geschieht
ja im Moment auch ein wenig. Der Aufbau Ost eignet
sich nicht, um die eigenen Versäumnisse zu rechtfertigen.
({8})
Der Aufbau Ost selbst kommt voran; wir sind zwar
noch nicht über den Berg, aber auf gutem Weg. Die
Bundesregierung hat mit dem Zukunftsprogramm eine
Marschroute festgelegt, die uns in den nächsten Jahren
auch finanzielle Spielräume eröffnet, um weiterhin entsprechende Mittel für den Aufbau Ost zur Verfügung zu
stellen.
Mittlerweile ist im Osten eine sehr leistungsfähige
und moderne Wirtschaft entstanden. Sie ist aber noch zu
schmal. Die Experten sagen: ,,too small but beautiful“.
Das heißt, wir dürfen uns künftig nicht nur um die Existenzgründer, sondern müssen uns auch um die Wachstumskräfte der bereits bestehenden Unternehmen stärker kümmern.
({9})
Auch das ist erkannt worden; auch das tut diese Regierung. Es geht um die Zielgenauigkeit der Fördermittel.
({10})
Werner Schulz ({11})
- Sie tut es, Herr Kollege Luther. Daß Sie daran Zweifel
haben, kann ich nicht verstehen. Das können Sie doch
aus Ihrer eigenen Region bestätigen.
Leider ist die Arbeitsplatzbilanz, die Arbeitsmarktentwicklung nicht positiv. Das wissen wir. Die saisonbereinigte Arbeitslosenquote ist weiter gestiegen. Diese
Entwicklung ist also auf dem Arbeitsmarkt leider noch
nicht angekommen. Das ist schon bedrückend. Das
schafft im Grunde genommen auch die schlechte Stimmung im Osten. Denn die wirtschaftliche Entwicklung,
vor allen Dingen der Strukturwandel, gäbe eigentlich jeden Grund zu Hoffnung und zu Optimismus. Denn es
sind sehr leistungsfähige Betriebe, die hier entstanden
sind.
Aber die Bundesregierung tut vieles, um hier voranzukommen. Denken Sie beispielsweise an das erfolgreiche Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit,
({12})
oder denken Sie an den Innoregio-Wettbewerb zur Förderung der regionalen Strukturen. Das sind, finde ich,
wichtige Impulse, die hier gesetzt werden.
Es gibt also im Moment noch keinen Grund, beim
Aufbau Ost einen Gang zurückzuschalten. Die Bundesregierung wird deswegen - da brauchen wir uns über
die einzelnen Fördertöpfe hier gar nicht zu streiten den Aufbau Ost auf sehr hohem Niveau fortführen. Das
ist festzuhalten. Es ist eine Unterstellung, wenn Sie
hier sagen, es werde gekürzt. Im Gegenteil, wenn Sie
sich einmal die Bundeshaushalte vor Augen führen, sehen Sie, daß die Priorität des Aufbaus Ost noch viel
deutlicher zum Vorschein kommt, weil alle anderen
Ressorts sparen müssen. Der Bundesfinanzminister hat
deutlich gemacht, daß man gerade beim Aufbau Ost
nicht spart.
({13})
Daher ist es im Interesse der ostdeutschen Bundesländer,
dem Sparpaket zuzustimmen, weil das den finanziellen
Spielraum schafft, den wir brauchen, um den Osten dauerhaft unterstützen zu können.
({14})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Ja.
Bitte sehr, Frau
Kollegin.
Herr Kollege Schulz,
wenn Sie sagen, die Bundesregierung treibt den Aufbau
Ost voran: Wie erklären Sie dann bitte, daß im Sparhaushalt von Herrn Eichel allein 3 Milliarden DM für
den Aufbau Ost gestrichen werden, unter anderem für
die Eigenkapitalstärkung gerade mittelständischer Unternehmen in den neuen Bundesländern in Höhe von,
wenn ich mich recht entsinne, 5 Millionen DM? Darüber
hinaus werden insgesamt 3 Milliarden DM im Sparprogramm vorgesehen bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen, auch in den neuen Bundesländern, nicht nur beim
ICE von Nürnberg nach Erfurt über Halle, Leipzig, Berlin, sondern auch beim Autobahnausbau, beim Straßenausbau und bei Ortsumgehungen, die dringend gebraucht werden und die Voraussetzungen sind für die
Investitionen und Arbeitsplätze. Wie können Sie bei solchen Zahlen und Fakten, wie ich sie Ihnen hier nenne,
vom Aufbau Ost sprechen? Ich bezeichne das als Abbau
Ost, was Sie hier betreiben.
({0})
Kollegin Pieper, es ist zwar eine große Leistung,
wie Sie mit diesen Zahlen hier jonglieren, aber das sind
keine Fakten, sondern im Grunde genommen kann man
das alles relativieren und widerlegen, was Sie sagen. Zur
ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt wird mein Kollege
Schmidt hier in der Debatte noch sprechen. Das muß
man ein bißchen ausführlicher erklären. Wir schaffen
eher neue Chancen für den Osten.
({0})
- Aber natürlich. Sie müssen nämlich dazusagen, daß
wir die Mitte-Deutschland-Bahn und die FrankenSachsen-Magistrale dafür bauen werden, daß hier Mittel
frei werden für Projekte, die Sie ins Blaue hinein geplant
haben.
({1})
Das Geld ist doch gar nicht da. Wir wären ja froh, wenn
dieses Geld da wäre, das der Kollege Waigel eingeplant
hatte, obwohl er es nicht hatte und das immer nur auf
Pump gemacht worden ist.
({2})
Außerdem wissen Sie ganz genau, daß bei der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ die Mittel gerade aus Ihrem Land Sachsen-Anhalt bisher nicht wie geplant abgerufen wurden,
daß die Kofinanzierung der Länder vielfach nicht geklappt hat oder daß Mittel gebunkert werden. Gerade
daraus, wie man mit den bisherigen Fördermitteln umgegangen ist, hat die neue Bundesregierung Konsequenzen gezogen, um, wie gesagt, die Zielgenauigkeit zu erhöhen. Es stimmt also nicht, was Sie sagen. Die Zahlen
kann ich Ihnen nicht bestätigen.
Jetzt gibt es noch
den Wunsch nach einer Zusatzfrage der Kollegin Pieper
und den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Herrn
Kollegen Luther. Möchten Sie beide zulassen?
Ich lasse nur noch die Zusatzfrage zu; sonst
zerfasert die Debatte immer mehr.
Werner Schulz ({0})
Zusatzfrage, Frau
Pieper, bitte.
Wenn Sie sagen, die
Mittel im Bundeshaushalt seien nicht da, wie erklären
Sie sich dann, Herr Kollege Schulz, daß zwar bei den
Subventionen für die neuen Bundesländer gekürzt
wird, sprich: bei den Mitteln für den Aufbau Ost? Man
kann dies eigentlich gar nicht als Subvention bezeichnen;
({0})
denn es geht ja um die Chancengleichheit der Ausgangsbedingungen der Menschen. Wie erklären Sie es
sich, daß ausgerechnet bei den Subventionen zum Beispiel für den Steinkohlebergbau der alten Länder nicht
oder nicht in ausreichendem Maße gekürzt wird?
Die Auseinandersetzung um die Steinkohlesubventionen ist beliebt. Sie wissen, daß wir diese Unterstützung immer kritisch gesehen haben, daß wir sie viel
drastischer reduziert hätten. Aber die Verbindlichkeiten
der alten Bundesrepublik lasten sehr stark. Bei der
Steinkohle handelt es sich ja um eine Verpflichtung, die
die alte Bundesregierung eingegangen ist.
({0})
- Ich bitte Sie! Natürlich kommt immer das Argument,
daß sich Joschka Fischer bei der Demonstration in Bonn
vor die Steinkohlekumpel gestellt hat. Das alles können
Sie lassen. Er hat sich im Grunde genommen dort nur
hingestellt, damit die F.D.P.-Zentrale, die Zentrale der
Partei der Besserverdienenden, nicht demoliert wurde.
({1})
- Das können Sie mir glauben! Denn die Kumpel aus
dem Saarland waren schon bereit, sich die Fensterscheiben vorzunehmen.
({2}).
- Sie freuen sich, weil Sie nichts abbekommen haben?
Das kann ich gut verstehen.
Also: Freuen Sie sich, daß wir die Braunkohle nicht
subventionieren müssen, daß wir damit eine wettbewerbsfähige Energienform haben. Genaugenommen
fließen in die neuen Länder gar keine Subventionen,
Kollegin Pieper. Ich glaube, Sie haben sich in Ihrer Frage auch dahin gehend berichtigt. Vielmehr handelt es
sich im Moment um Förderhilfen. Wir wollen ja gerade
vermeiden, daß Betreibe an den Subventionstropf kommen.
Ich glaube, wir müssen uns auch um die föderalen Finanzbeziehungen kümmern, das heißt, das Föderale
Konsolidierungsprogramm muß neu geordnet werden.
Wir wissen, daß wir den eingegangenen Verpflichtungen
nachkommen müssen. Wir werden den Solidarpakt auch
nach 2004 fortsetzen. Ich freue mich, daß auch der Herr
Kollege Teufel aus Baden-Württemberg das noch einmal bestätigt hat. Allerdings finde ich es etwas unredlich, daß er sich bereits im Vorfeld über die künftige
Höhe der Mittel geäußert hat.
Ich glaube, die Lastenteilung muß zwischen Bund
und Ländern fair neu bestimmt werden. Wir werden uns
auch darüber unterhalten müssen, ob der Zuschnitt des
heutigen Bundesgebietes wirklich noch zeitgemäß ist.
Eine föderale Reform verlangt vielleicht auch die Zahl
von 16 Ländern und diesen hochkomplizierten Finanzausgleich von Geber- und Nehmerländern zu überdenken. Insofern denke ich, daß die Forderung nach
Vollendung der inneren Einheit - ein Sammelbegriff
für all die Defizite, die sich angehäuft haben - heute eine Frage nach der Gestaltung der Zukunft ist.
Ich will zum Schluß aus dem eingangs erwähnten
Gründungsaufruf des „Neuen Forums“ zitieren. Da
stand:
Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative,
aber keine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das
Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung
schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich
zu leben.
Auch wenn diese Sätze damals in einem anderen Zusammenhang entstanden sind: Sie haben bis heute ihre
Aktualität nicht verloren. Eben auch diese Ansprüche
will die rotgrüne Bundesregierung mit ihrer Politik in
die Tat umsetzen. In diesem Sinne werden wir, wie gesagt, die innere Einheit vollenden: indem wir die gemeinsame Zukunft gestalten.
({3})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin
Luft, Sie haben von der Schuld der alten und der neuen
Regierung gesprochen, aber Sie haben so ganz nebenbei
vergessen, welche Schuld die ganz alte Regierung auf
sich geladen hat. Ohne die brauchten wir heute keinen
Aufbau Ost zu betreiben. Es ist einfach nicht seriös, dies
einfach wegzulassen; denn es ist die Ursache dafür, daß
wir jetzt solche Anstrengungen für den Aufbau Ost unternehmen müssen.
({0})
Jetzt geht es wieder einmal um den Aufbau Ost. Da
geht es nicht nur um eine Drucksache, sondern es muß
immer wieder Druck gemacht werden, weil der Aufbau
Ost noch nicht abgeschlossen ist. Der Grund dafür ist,
daß die vorgebliche Chefsache des Kanzlers zur Nebensache geworden ist. Das ist kein Populismus, das ist eine
Feststellung.
({1})
Es ist auch keine Erbsenzählerei, Herr Schulz, wie Sie
sie, als Sie noch in der Opposition waren, betrieben haben. Wir werden Fakten aufzeigen und uns auch daran
halten.
Das, was die F.D.P.-Wirtschaftsminister Möllemann
und Rexrodt - daran darf man nebenbei erinnern - initiiert bzw. erfolgreich fortgesetzt haben - ich erinnere
zum Beispiel an die Rettung von EKO Eisenhüttenstadt;
das war zwar ein ordnungspolitischer Sündenfall, aber
jetzt arbeitet EKO und bringt Gewinn -, befindet sich in
akuter Gefahr. Weil sich der Aufbau Ost in Gefahr befindet, gibt es heute diese Debatte.
Es geht nicht um das Einklagen von Dauersubventionen - ich unterscheide zwischen Start- und Dauersubventionen; das ist nämlich ein riesengroßer Unterschied -, sondern es geht nach wie vor um Mittel für den
Ausgleich von entwicklungsbedingten Nachteilen im
Osten, um hier so schnell wie möglich den selbsttragenden Aufschwung zu erreichen. Noch ist er nicht erreicht,
also müssen wir gemeinsam etwas dafür tun.
Es war auch Unsinn, als gestern in der Aktuellen
Stunde von der SPD behauptet wurde, daß wir jetzt in
der Opposition gegen das Sparen seien. Das ist natürlich
nicht so. Auch in der Opposition - jedenfalls kann ich
das für die F.D.P. sagen - sind wir für einen sparsamen
Einsatz der Mittel. Man darf aber nicht nur vom Sparen
reden, man muß es tun.
Man kann sich nicht mit Einsparungen in Höhe von
30 Milliarden DM schmücken - damit kann man wirklich Schlagzeilen machen - , wenn das gar nicht stimmt.
Wenn man zunächst 22 Milliarden DM auf den Haushalt
der alten Koalition draufpackt und dann 30 Milliarden
DM einspart, sind das nur 8 Milliarden DM Unterschied.
Diese 8 Milliarden DM sind auch nicht eingespart, sie
sind zum großen Teil nur verschoben worden. So kommen wir mit Sicherheit nicht weiter, hier muß wirklich
gespart werden. Das wollte ich nur zur Klarstellung sagen.
Wahrscheinlich sind Sie sich nicht bewußt, daß Sie
Investitionsruinen produzieren, wenn Sie schon vor der
Fertigstellung eines Hauses die Mittel für das Dach
streichen. Dann regnet es rein, und das Haus geht kaputt.
Genau das machen Sie beim Aufbau Ost. Es ist angekündigt worden, daß die neue Koalition jetzt 10 Milliarden DM drauflegen will. Sie wollte es also besser machen, weil es Chefsache ist. Unterm Strich sind minus 3
Milliarden DM herausgekommen. Das muß man hier
ganz einfach aufzeigen. Wir kommen auch nicht daran
vorbei, daß das so nicht weitergehen kann.
Vom Streichkonzert ist auch ein so wichtiges Verkehrsprojekt wie die ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt
betroffen. Man kann das nicht oft genug sagen. Das ist
in hohem Maße kontraproduktiv; denn es behindert den
wirtschaftlichen Aufholprozeß und fördert die Krise im
Bauhandwerk. Deshalb sollten Sie dem F.D.P.-Antrag
zustimmen, in dem wir fordern, daß der Investitionsschwerpunkt für die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur nach wie vor in den neuen Bundesländern liegen sollte, daß der angekündigte Baustopp für die ICEStrecke Nürnberg-Erfurt zurückgenommen wird und
daß alle Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zügig
realisiert werden.
({2})
Lassen Sie mich noch etwas zu den geforderten Dekkungsvorschlägen sagen. Die Frage, wo soll das Geld
herkommen, können Sie stellen. Überprüfen Sie zum
Beispiel einmal, ob das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Havelausbau - wir sind jetzt in Brandenburg - im
vorgesehenen Umfang nötig ist und ob die Verkehrsprognosen noch stimmen. Wenn wir dort Mittel freischaufeln könnten, bräuchten wir sie nicht aus den Mitteln für
den Aufbau Ost zu streichen, sondern könnten sie für
Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen einsetzen, die unbedingt verwirklicht werden müssen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Bitte schön.
Bitte sehr.
Herr Kollege Türk, Sie haben uns soeben aufgefordert, Ihrem Antrag zuzustimmen. Darf ich Sie zu Ihrem Antragspunkt 14 fragen, ob
Sie künftig einem PDS-Antrag auf Wiederauflegung
einer kommunalen Investitionspauschale zustimmen
würden? Wir stellen diesen Antrag seit Jahren. Zu Zeiten der Regierungsmitgliedschaft der F.D.P. haben Sie
das immer abgelehnt. Darf ich jetzt davon ausgehen, daß
wir künftig mit Ihrem Ja dazu rechnen dürfen?
Ich möchte noch zu zwei weiteren Punkten Fragen
stellen. In Punkt 7 sagen Sie, durch Investivlohnmodelle solle insbesondere in Ostdeutschland die Vermögensbildung verbessert werden. Ich nehme an, daß
Sie ganz gut wissen, welche Durchschnittslöhne im
Osten vor allem im verarbeitenden Gewerbe verdient
werden. Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen,
wer davon noch etwas für Investivlohnmodelle abknapsen könnte.
Bisher habe ich von der F.D.P. immer gehört, die
Löhne im Osten seien zu hoch, weshalb sich Unternehmer im Osten zurückhielten, den Standort mieden oder
sich dort nicht ansiedelten.
({0})
Jetzt beklagen Sie, daß die Löhne im Osten zwischen 60
und 85 Prozent des westdeutschen Niveaus betragen,
was bekanntlich ein Faktum ist. Ich frage Sie, was nun
in Ihrer Argumentation gilt.
Die erste Frage war, ob wir
der Wiedereinführung einer Investitionspauschale zustimmen würden. Natürlich; anderenfalls hätten wir das
ja nicht gefordert.
({0})
Was zweitens den Investivlohn angeht, so muß man
zumindest darüber sprechen, wobei natürlich beachtet
werden muß, ob sich die Arbeitnehmer so etwas leisten
können. Aber man sollte das im Gespräch halten und es
wenigstens prüfen.
({1})
- Daß die Löhne geringer sind, ist doch eine Tatsache.
Ich wüßte nicht, daß wir schon einmal etwas anderes
behauptet hätten.
({2})
- Ja, das muß man beklagen, um Druck zu machen, daß
auch in dem Punkt eine Angleichung erfolgt.
Lassen Sie mich zu unserem Antrag betreffend die
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zurückkommen.
Diese Projekte dürften nicht gestrichen, sondern müssen
zügig realisiert werden.
Nun möchte ich noch etwas zu den geforderten Dekkungsvorschlägen sagen. Daß der Havelausbau nicht im
vorgesehenen Umfange kommen muß, habe ich bereits
gesagt. Wir sehen im übrigen auch generell die Möglichkeit, daß man Projekte, Objekte und Maßnahmen
daraufhin überprüft, ob sie im vorgesehenen Umfang
realisiert werden müssen. Aber das heißt dann noch lange nicht, daß Mittel für den Aufbau Ost gestrichen werden, weil wir noch lange den Nachteilsausgleich brauchen. Die Schere zwischen Ost und West schließt sich ja
nicht, sondern sie öffnet sich wieder. Deswegen sagen
wir: Die Mittel müssen für sinnvolle andere Infrastrukturmaßnahmen eingesetzt werden. Die Streichung von
Mitteln für den Aufbau Ost ist also schlichtweg falsch
und kontraproduktiv.
Ein weiterer Deckungsvorschlag: Wir betreiben in
Ostdeutschland und in Westdeutschland - es ist also
nicht ein Ost-West-Gegensatz - Verschwendung in erheblicher Größenordnung. Die geniale Lösung ist überhaupt, daß wir uns zusammensetzen - ich wiederhole
den Vorschlag von gestern - und uns an einem Sparpakt beteiligen, bei dem wir aufzeigen, wo in Deutschland, und zwar in Ost- und Westdeutschland, Mittel verschwendet werden. Brächten wir diese Verschwendung
weg, hätten wir genügend Geld, das der öffentlichen
Hand heute auf allen Ebenen fehlt. Man sollte auf jeden
Fall den Versuch machen.
Dafür gibt es ja auch eine Grundlage: Wir haben den
Bund der Steuerzahler und den Bundesrechnungshof.
Sie weisen in jedem Jahr 70 Milliarden DM an Verschwendung aus. Ich frage mich, warum es den Bundesrechnungshof gibt, wenn wir nach seinen Feststellungen
gleich wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir sollten
uns also zusammensetzen und fragen, wo wir auf diese
Art und Weise einsparen können.
Ebenso sinnvoll wäre es, besser zwischen Straßenbau
und Verlegung unterirdischer Vorsorgungsleitungen zu
koordinieren. Heute geht es ja immer noch nach dem
Prinzip „Straße auf, Straße zu“, was wahnsinnig viel
Geld kostet. Warum setzen wir hier nicht zum Beispiel
private Ingenieurbüros ein, die solche Baumaßnahmen
koordinieren? Sie könnten ordentlich Geld verdienen,
würden aber durch ihre Tätigkeit sehr viel mehr Geld
einsparen. Das sind keine Illusionen; wir brauchen es
nur einmal anzugehen.
Ich denke, daß der F.D.P.-Gesetzentwurf zur Verlängerung und Erweiterung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auch ein Beitrag zur Verbesserung der ostdeutschen Infrastruktur sein kann. Das
Gesetz läuft ja bekanntlich am 31. Dezember 1999 aus.
Damit würden die Beschleunigungsmöglichkeiten in den
neuen Ländern wegfallen. Es geht aber gerade um
schnelle Planungen.
Es darf nicht sein, daß dieses Gesetz Ende 1999 wegfällt: Erstens gibt es im Osten trotz großer Leistungen
immer noch erhebliche Rückstände. Zweitens hat sich
das Gesetz bewährt, was man von jeder Seite erfahren
kann. Drittens sind ja bekanntlich die Planungsprozesse
auch im Westen viel zu lang und stellen daher Investitionshemmnisse dar. Wir fordern daher in unserem Antrag, daß die Geltungsdauer des Gesetzes um 10 Jahre
verlängert und der Geltungsbereich auf ganz Deutschland auszudehnen ist. Vielleicht kann man bei dieser
Gelegenheit für diesen langen, schlecht auszusprechenden Namen des Gesetzes einen kürzeren Namen finden.
Abschließend will ich noch ein paar Fragen stellen,
die durch den Antrag der Regierungskoalition zum Aufbau Ost nur unzureichend beantwortet werden konnten.
({3})
Erste Frage: Wann ändern Sie das Gesetz zur Regelung der 630-Mark-Jobs
({4})
und das Gesetz zur Scheinselbständigkeit? Ich kann
nicht verstehen, daß Sie zuerst dieses Gesetz machen
und dann eine Studie zur Überprüfung seiner Wirksamkeit in Auftrag geben. Genau dasselbe gilt für das
Gesetz zur Scheinselbständigkeit, mit dem sich eine
Kommission befaßt. Damit zäumen Sie das Pferd von
hinten auf und verunsichern die Menschen. Das ist
ganz eindeutig. Wer weiß denn noch, was da gehauen
und gestochen ist? Es müßte doch eigentlich umgekehrt ablaufen: erst eine Studie und dann ein vernünftiges Gesetz.
Zweite Frage: Wann entlasten Sie endlich die kleinen
und mittleren Betriebe des Ostens? Haben Sie wirklich
vor, die zweite und dritte Stufe der „Ökosteuerreform“
durchzuführen, womit Sie die kapitalschwachen Betriebe - wenn auch in Stufen - weiter belasten?
Dritte Frage: Wollen Sie den kapitalschwachen ostdeutschen Betrieben die Mehrwertsteuer erlassen,
wenn sie ihre Rechnungen noch nicht bezahlt bekommen haben? Wir haben schon die Umsatzgrenze von
100 000 DM auf 1 Million DM heraufgesetzt, weil der
vorherige Zustand für die Betriebe nicht auszuhalten
war.
({5})
- Wenn wir in diesem Punkt übereinstimmen, ist das
okay. - Trotz der Erhöhung dieser Grenze von 100 000
DM auf eine Million DM müssen wir feststellen, daß
das Problem noch nicht gelöst ist. Die Grenze für den
Jahresumsatz müßte auf mindestens 5 Millionen DM
hochgesetzt werden. Diese Regelung wäre dann im Gesetz zur Zahlungsmoral zu berücksichtigen.
Vierte Frage: Wann erhöhen Sie das Wohngeld in
ganz Deutschland, und mit welchen Instrumenten wollen
Sie den großen und immer größer werdenden Leerstand
abbauen?
({6})
Fünfte Frage: Könnten Sie sich damit anfreunden,
daß das von der F.D.P. geforderte Bürgergeldsystem im
Osten getestet wird? Gerade im Osten wäre dieser Test
wegen der geringeren Entlohnung sinnvoll.
({7})
Sechste Frage: Wann beginnen Sie endlich, Herr
Schwanitz, mit der Entwicklung strukturschwacher Regionen, insbesondere an der östlichen EU-Außengrenze?
Ganz konkret gefragt: Werden Sie mit einer Grenzlandförderung beginnen?
({8})
Wir hatten eigentlich erwartet, daß während Ihrer EURatspräsidentschaft die entsprechenden Weichen gestellt
worden wären. Aber Ihre Politik dümpelt weiter vor sich
hin. In der Zwischenzeit entvölkern sich diese Regionen.
({9})
- Ja, das war eine Gelegenheit, zum Beispiel für Brandenburg, zur Zusammenarbeit. Aber genau dort dümpelte die Politik vor sich hin.
Siebente Frage: Wann wird in einer erneuten Vermögensauseinandersetzung sichergestellt, daß die für die
Landwirtschaft nicht verwendbaren Wirtschaftsgüter
aus der Bilanz herausgenommen werden? Bis jetzt sind
sie immer noch in der Bilanz enthalten und belasten so
die kleinen und mittelständischen Betriebe. Es ist jetzt
nach 10 Jahren nicht nur eine Zwischenkontrolle, wie sie
das Moratorium vorgesehen hat, sondern eine Korrektur
falscher Bilanzwerte und damit eine Entschuldung vorzunehmen, um diesen kleinen und mittelständischen
Betrieben Entwicklungsmöglichkeiten zu geben und sie
nicht weiter zu hemmen.
Außerdem wollen wir - das sagte Frau Luft schon die kommunale Investitionspauschale, natürlich eine
zweckgebundene Pauschale, wieder haben, zum Beispiel, um das Abwassersystem in Ordnung zu bringen.
Das ist ja überall in den neuen Bundesländern ein Problem. Wann wollen Sie und werden Sie diese Pauschale
auflegen? Es wäre jedenfalls ein Beitrag, um den Kommunen und der Bauwirtschaft zu helfen.
Letztlich stellt sich auch die Frage, Herr Staatsminister Schwanitz, ob schon ein Plan zur Vereinfachung
des Förderkonzeptes vorliegt. Wir hatten das ja einmal
in einer Fragestunde erörtert. Sie sagten, das kann man
in Stufen machen. Ich frage heute nach, ob wenigstens
die erste Stufe vorliegt und welche Schwerpunkte gesetzt wurden, falls sie vorliegt.
Es ist auch denkbar, daß über die vereinfachte Investitionsförderung hinaus vielleicht eine neue Strategie
vorgelegt wird. Wird sie vorgelegt, und wie wird sie
aussehen?
Schließlich will ich sagen: Den Aufbau Ost zur Chefsache zu erklären ist eine relativ einfache Sache, aber
ihn dann wirklich auch zu machen, das ist natürlich eine
andere, und genau das wollen wir hier erreichen. Wir
wollen Druck machen, damit es vielleicht doch zur
Chefsache wird, auf jeden Fall, daß der Aufbau Ost
nicht in Vergessenheit gerät. - Vielen Dank.
({10})
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.
({0})
Ich weiß gar nicht, weshalb
Sie sich aufregen. Bei uns war der Aufbau Ost immer
Chefsache.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Werner Schulz, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, und
ich habe festgestellt, Ihre Beiträge gleichen sich nun
auch seit zehn Jahren. Sie sind immer geprägt erstens
von tiefem Zynismus, zweitens erteilen Sie in alle
Richtungen Ihre Zensuren, und es ist immer der notwendige Schuß Anti-PDS-Stimmung enthalten. Sie sollten
einmal darüber nachdenken, ob das vielleicht auch etwas
mit dem Grad der Akzeptanz der Grünen in den neuen
Bundesländern zu tun hat. Vielleicht sollte man irgendwann den Stil auch einmal ändern.
({1})
- Ja, das sind Sie nie. Ich weiß.
Wenn man schon meint, zum Beispiel ein Papier der
Arbeitsgruppe des Parteivorstandes hier anführen zu
können, dann sollte man es wenigstens gelesen haben.
Wenn Sie es gelesen hätten, dann würden Sie feststellen,
daß darin überwiegend Lob und zum Teil auch Kritik an
Landeswahlprogrammen enthalten ist, was mit inneren
Landesprojekten zu tun hat.
({2})
Mit unserem heutigen Antrag auf Gleichstellung der
Lebensverhältnisse in Ost und West hat es überhaupt
nichts zu tun. Deshalb geht Ihre Bemerkung völlig fehl.
Herr Kollege Krüger, Sie haben am Anfang den
Kanzler dafür kritisiert, daß er nicht da ist. Das finde ich
nicht fair. Das will ich ehrlicherweise sagen. Sie wissen,
daß ich mich auch sehr deutlich mit ihm auseinandersetze, aber das finde ich nicht fair.
Wenn wir hier im Bundestag nicht in der Lage sind,
einigermaßen eine Zeitdisziplin an den Tag zu legen, so
daß die Debatte viel später beginnt, als sie vorgesehen
war, können wir ja nicht im Ernst von ihm erwarten, daß
er sich einen ganzen Tag in der Erwartung freinimmt,
daß irgendwann einmal diese Debatte stattfindet.
({3})
Insofern wollte er daran teilnehmen. Er hat sich bei uns
allen persönlich entschuldigt. Mehr kann man vielleicht
in dieser Situation von ihm nicht erwarten.
Aber - und das hätten Sie sagen können - daß so gut
wie überhaupt kein Bundesminister hier auf der Bank
sitzt, das ist allerdings wirklich Ausdruck von Desinteresse,
({4})
und das muß man auch ganz klar kritisieren. Beim Thema Steuern sind alle da; wenn es um den Osten geht,
fehlen auch alle.
Sie haben außerdem noch, Herr Abgeordneter Krüger, darauf hingewiesen, daß Sie schon zu DDR-Zeiten
über Ihrem Schreibtisch den Spruch hatten, daß es das
Ungerechteste sei, wenn man ungleiche Verhältnisse
gleich behandele. Das wundert mich nicht; ich finde nur,
Sie hätten dann schon der Vollständigkeit halber darauf
hinweisen müssen, daß das ein Zitat von Karl Marx ist,
aus der „Kritik am Gothaer Programm“. Das ist ja auch
richtig, aber ich finde, man hätte es dann auch wenigstens erwähnen dürfen.
({5})
Herr Kollege Gysi,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?
Ja, bitte.
Sind Sie bereit
zur Kenntnis zu nehmen, Herr Gysi, daß ich ausdrücklich gesagt habe, ich lasse dem Bundeskanzler nicht
durchgehen, daß seine Fraktion bzw. die Koalition von
Rotgrün vorher den Termin, der ursprünglich - zumindest in unserer Intention - auf den Vormittag angesetzt
war, auf den Nachmittag verschiebt
({0})
und daß sich dann, wenn sich die Debatte etwas verzögert, der Bundeskanzler entschuldigt, daß er nicht dabeisein kann. Das ist nach meiner Einschätzung symptomatisch für diese Regierung, und genau das wollte ich
zum Ausdruck bringen.
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
({1})
Erstens bin ich bereit, das
zur Kenntnis zu nehmen; zweitens habe auch ich die
Bundesregierung kritisiert. Allerdings war die Verzögerung nicht klein; sie war ziemlich erheblich.
({0})
Er wollte um 12.30 Uhr da sein. Zwei Stunden sind viel
Zeit.
Was die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte betrifft: Darin stimmen wir wieder völlig überein. Was
glauben Sie, wie ich mich darüber schwarz ärgere, daß
von uns beantragte Tagesordnungspunkte immer mitternachts an die Reihe kommen. Da hätten wir gern einmal
eine Änderung. Aber das ist bisher nicht durchzusetzen
gewesen.
({1})
Nur aus dem Grund, daß auch Sie einen entsprechenden Antrag gestellt haben, hatten wir einmal die Chance,
daß ein Antrag von uns in der Nachmittagsstunde behandelt wird. Das schätzen wir ja auch an solchen Anträgen von Ihnen.
({2})
Wenn ich zu einem weiteren Punkt kommen darf: Sie
haben hier etwas zu unserem Antrag zum Airbus A
3XX, der in Rostock-Laage montiert werden soll, und zu
der entsprechenden Großinvestition gesagt. Sie, Herr
Kollege Krüger, haben in dieser Beziehung nicht vollständig informiert. Im Haushaltsausschuß und im Wirtschaftsausschuß haben die Abgeordneten der CDU/CSU
gegen diesen Antrag gestimmt; sie haben ihn abgelehnt.
Nur im Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
muß noch über ihn entschieden werden; das ist wahr.
({3})
Sie sollten mit Ihren Kolleginnen und Kollegen, die im
Haushalts- und im Wirtschaftsausschuß sind, über diese
Frage noch einmal gründlich reden.
({4})
- Ja, sehen Sie, das ist eben nicht besonders klug.
({5})
Es kommt der Tag, an dem Sie das noch bereuen werden.
({6})
Ich will Ihnen auch noch folgendes sagen. Sie haben
kein Wort zu Bayern gesagt. Das geht mir langsam auf
die Nerven. Nach jeder Wahl und vor jeder Wahl meldet
sich Bayern zu Wort, beklagt die Transferleistungen in
die neuen Bundesländer und knüpft das Ganze noch an
Wohlverhalten und an entsprechende Wahlergebnisse.
Wissen Sie: Mir gefallen die Wahlergebnisse in Bayern
auch nicht. Ich finde merkwürdig, was da seit 40 Jahren
gewählt wird. Nur käme ich nie auf die Idee, entsprechende Wahlergebnisse zur Bedingung für die Bereitstellung der Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe und
anderer Mittel, die vom Bund in das Land Bayern fließen, zu machen. Was von Bayern nie erwähnt wird
- setzen Sie, Herr Krüger, sich doch wenigstens einmal
damit auseinander! -, ist zum Beispiel, daß Bayern vom
Bund nach wie vor sehr viel mehr Geld erhält als etwa
Sachsen und Thüringen. Das ist übrigens wahrscheinlich
auch berechtigt. Bayern hat ja sehr viel mehr Einwohnerinnen und Einwohner.
({7})
Es gibt allerdings keinen Grund dafür, daß ständig
auf diese Art und Weise der Osten von Spitzenpolitikern
der CSU gedemütigt und diskreditiert wird, ohne daß
Sie, Herr Krüger, jemals ernsthaft dagegen aufgetreten
wären.
({8})
Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu den beiden
Ministerpräsidenten Vogel und Biedenkopf sagen. Wer
das in den Zeitungen richtig liest, der bekommt doch
jetzt schon mit - so habe ich übrigens auch Ministerpräsident Vogel bei „Sabine Christiansen“ verstanden -,
daß wahrscheinlich beide dem Sparpaket zustimmen
werden.
({9})
Die Kritik bezieht sich auf diese ICE-Strecke. Herr Vogel hat in der Sendung ausdrücklich gefragt: Wieso
kriegen wir diese Mittel nicht? Wenn wir diese Mittel
bekommen, dann kann man über alles reden.
({10})
Das heißt, sein Maßstab ist nicht die Kürzung beim Arbeitslosengeld, die Kürzung bei der Rente, die Kürzung
bei den Unterhaltsleistungen, bei der Arbeitslosenhilfe.
Das läßt er alles durchgehen.
({11})
Nur der ICE ist sein Maßstab. Wissen Sie, es ist mir ein
bißchen wenig - das muß ich ehrlich sagen -, wenn man
das zum Gegenstand der Auseinandersetzung beim
Sparpaket macht. Ganz ähnlich verhält sich auch Biedenkopf.
({12})
Herr Kollege Schulz, Sie haben gesagt, es würde im
Osten nicht gekürzt werden. Das ist wirklich schlicht
falsch. Darf ich Ihnen ein paar Einzelbeträge nennen?
Die Sachkostenzuschüsse an Träger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden um 800 Millionen DM reduziert, die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ werden um
67 Millionen reduziert, die Mittel für die Bundesanstalt
für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben werden um
915 Millionen DM gekürzt, bei Forschung und Entwicklung wird um 15 Millionen gekürzt, die Mittel für
die Finanzhilfen für Pflegeeinrichtungen werden um 109
Millionen gekürzt. Angesichts dieser Zahlen können Sie
doch nicht im Ernst behaupten, da würde nicht dramatisch gekürzt werden. Das hat alles Auswirkungen, was
Sie im Sparpaket in dieser Beziehung vorsehen. Deshalb
kann man nicht im Ernst davon sprechen, daß der Aufbau Ost auf hohem Niveau fortgesetzt wird. Nein, er
wird auf niedrigerem Niveau fortgesetzt. Das ist die
Wahrheit, und dazu sollte sich die Bundesregierung
dann auch wenigstens ehrlich bekennen.
Nun sind wir für unseren Antrag kritisiert worden,
zum Beispiel in bezug auf das Pilotprojekt Ost. Worum
geht es denn da? Wir wollen doch, daß der Osten endlich auch für die alten Bundesländer zu einer Chance
wird. Man kann dort mehr ausprobieren, mehr machen,
weil bestimmte Strukturen noch nicht so festgefahren
sind. Wir möchten, daß das einfach einmal genutzt wird,
damit gesagt werden kann: Da entwickelt sich etwas,
was für die gesamte Bundesrepublik Deutschland von
Vorteil sein könnte. Was wir unter anderem kritisiert
haben, ist doch nicht, daß Sie dort marode Strukturen
beseitigt haben. Ich bin ja auch bereit, meinen Teil der
Verantwortung dafür zu übernehmen. Was wir immer
kritisiert haben, ist, daß Sie nie genau hingeguckt haben.
Wenn ich mir jetzt die Pläne der Gesundheitsministerin
anschaue, stelle ich fest: Sie entdeckt die Polikliniken
wieder, die Sie, meine Damen und Herren von der jetzigen Opposition, neun Jahre lang beseitigt haben. Sie haben damals nicht genau hingeschaut.
({13})
- Ja, ich meine die rechte Seite dieses Hauses.
Dasselbe könnte ich Ihnen hinsichtlich der Sekundärrohstofferfassung und zu vielen anderen Sachverhalten
sagen. Das ist es, was uns ärgert; hier wollen wir eine
andere Weise des Herangehens. Wenn man das zum Teil
im Westen übernommen hätte, dann hätten die Menschen in den alten Bundesländern gesagt: Durch die
Vereinigung kommt auch etwas Vernünftiges auf uns
zu. Dann hätte man die Einheit nicht nur unter Kostengesichtspunkten behandelt, wie das in den letzten Jahren
der Fall gewesen ist.
Ich könnte noch viele Themen ansprechen, zum Beispiel die Altschulden. Sie kennen das alles. Die Fehlentwicklungen, die es da gegeben hat, geschahen unter
Ihrer Leitung; das können Sie nicht der heutigen Regierungskoalition vorwerfen. Der kann man nur vorwerfen,
daß es kein Programm gibt.
Was beantragen wir? Wir beantragen doch nicht die
Angleichung der Verhältnisse zum 1. Oktober 1999. Das
kann der Bundeskanzler nicht leisten. Das können auch
die Regierungsfraktionen und die Bundesregierung nicht
leisten. Was wir aber beantragen, ist, daß Sie wenigstens
einen Fahrplan vorlegen, damit wir wissen, in welchen
Schritten und innerhalb welcher Fristen dies vollzogen
werden soll, damit wir eine Perspektive haben, mit der
wir umgehen können. Und wenn hier immer das Finanzargument vorgebracht wird, dann kann ich das nicht akzeptieren. Wir kämen doch auch in keinem alten Bundesland auf die Idee, bei einem Ministerwechsel zu sagen: Dein Vorgänger hat zwar mehr verdient als du.
Aber du weißt, unsere Kassen sind knapp. Du fängst
jetzt einmal mit 80 Prozent des Gehalts an. - Einen
solch absurden Gedanken hätte kein Mensch. Aber der
Osten soll das immer akzeptieren.
Vielleicht könnte man dies ja akzeptieren, aber nur
unter der Bedingung, daß auch unsere Preise bei 70 bis
80 Prozent der Westpreise liegen. Wir aber haben Preise
in Höhe von 100 bis 110 Prozent und Einnahmen zwischen 65 und 85 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar; das
paßt einfach nicht zueinander.
({14})
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Hier ist dem Westen etwas gelungen, was der DDR nie gelungen ist, wovon sie nur geträumt hat. Sie kennen den alten Spruch:
Überholen, ohne einzuholen. Also, bei den Energiepreisen, bei den Wasser-, Abwasser- und Straßenbaubeteiligungsgebühren haben wir das geschafft. Da haben den
Westen überholt, ohne ihn je einzuholen. Diese Preise
sind bei uns inzwischen bei weit über 100 Prozent. Das
ist nicht hinnehmbar.
({15})
Deshalb sage ich: Hier muß sich etwas verändern.
Neun Jahre nach der Herstellung der deutschen Einheit können Sie dies auch nicht mehr erklären. Was sagen Sie denn zu den beiden Polizisten in Greifswald?
Trotz längerer Dienstzeit bekommen sie bei gleichem
Dienstgrad und gleichen Dienstaufgaben nach BAT Ost
anstatt nach BAT West
({16})
- nein, Sie wissen, daß das nichts mit dem Land zu tun
hat; über den BAT wird hier entschieden
({17})
- 250 bis 300 DM weniger als die tausend Kollegen in
Bayern, die ohne Erfolg durch den Wald streifen, während sie zu zweit, wie es sich gehört, den Mörder auf der
Straße festnehmen. Das können Sie nicht mehr erklären.
({18})
Und kommen Sie mir bloß nicht mit der Produktivität!
({19})
- Ja, Berlin. Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Herr
Nooke, wenn Sie etwas von mir wissen wollen. Dann
werde ich es Ihnen erklären.
In Berlin haben wir eine andere Situation. Weil dort
die Konfrontation viel zu unmittelbar war, hat sich der
Berliner Senat diesbezüglich vernünftig gehalten. Soweit
es aber auch dort um den BAT geht, ist der Unterschied in
allen Bereichen nach wie vor derselbe. Ich sage Ihnen: Es
muß etwas passieren, und zwar nicht nur wegen der heutigen Preisstruktur, sondern auch wegen der Zukunft.
Wenn heute ein 19- oder 20jähriger als, nur einmal angenommen, Angestellter im öffentlichen Dienst anfängt
und dort seine Arbeit leistet, für die er etwa 80 Prozent
dessen bezieht, was er in den alten Bundesländern dafür
bekäme, dann bekommt er noch in 45 Jahren, wenn er in
Rente geht, per Rentenbescheid schriftlich bestätigt, daß
er Ossi war bzw. ist, weil von ihm jetzt geringere Beiträge
abgeführt werden, so daß er bei gleicher Lebensleistung
eine geringere Rente bekommt. Und da er nicht nur ein
Jahr Rentner sein wird, sondern wahrscheinlich 20 Jahre,
bekommt er dies 20 Jahre lang bestätigt.
Wir fragen: Wann kommt der erste Jahrgang ins
Berufsleben, der weder beim Arbeitslosengeld noch bei
der Arbeitslosenhilfe - sollten diese traurigen Fälle eintreten -, noch bei der Rente spürt, daß er in Ostdeutschland geboren ist, weil er unter gleichen Bedingungen gestartet ist? Welcher Jahrgang wird das sein? Wenn nicht
bald etwas geschieht, werden wir dieses Problem noch
in 100 Jahren haben. Schon jetzt steht fest, daß wir die
Unterschiede in den Rentenbescheiden noch in 65 Jahren haben werden. Jedes Jahr, das tatenlos verstreicht,
verlängert auch diesen Prozeß.
({20})
Dies kann nicht einfach mit dem Vorwand der Finanzschwierigkeiten abgetan werden. Wir brauchen vielmehr
einen klaren Fahrplan, in dem festgelegt ist, innerhalb welcher Fristen und mit welchen Schritten die Verhältnisse angeglichen werden sollen. Alles andere ist nicht akzeptabel.
Es kommen noch nichtmaterielle Dinge wie Berufsabschlüsse etc. hinzu. Um darauf einzugehen, habe ich
aber keine Zeit mehr. Sie wissen, da könnte man vieles
machen, was nicht einmal Geld kostet. Aber auch diesbezüglich passiert nichts.
({21})
Ich gebe das Wort
für die SPD-Fraktion dem Kollegen Dr. Mathias Schubert.
({0})
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte frage ich
mich, warum die Opposition - damit meine ich hauptsächlich Sie von der CDU/CSU - mit polemischen Attacken zur Erklärung der eigenen Verantwortungslosigkeit für ehemaliges Tun ein Thema behandelt, das früher
dankenswerterweise eher zu den gemeinsamen Anliegen
des Hauses gehörte. Ich will Ihnen sagen, was ich vermute: Offenkundig drückt das Ihre Angst vor der Aussicht aus, daß sich wirklich etwas zum Besseren wendet,
wenn wir unser Haushaltskonsolidierungsprogramm
realisieren und damit dem Staat auch in den neuen Bundesländern wieder mehr Handlungsspielräume verschaffen.
({1})
Diese Handlungsspielräume sind dringend nötig, um
zwei der wichtigsten Ziele des Aufbaus Osts, nämlich
neue Arbeitsplätze durch zukunftsfähige Investitionen,
umzusetzen. Dazu taugt die plakative Formel der PDS
von der sozialen Gerechtigkeit nicht. Sie bleibt nämlich
schlicht die Antwort schuldig, wie das soziale Netz auch
in den neuen Ländern dauerhaft belastbar bleiben kann.
Das Wort von der „Wünsch-dir-was-PDS“ ist ja nicht
zufällig im Liebknecht-Haus geprägt worden.
Es taugt auch nicht die summarische Forderung der
CDU/CSU nach eindeutigen inhaltlichen Prioritäten
beim Aufbau Ost, wenn Sie der Kritik in Ihrem Antrag
nicht einen konkreten Vorschlag beifügen.
({2})
- Das ist so; das können Sie nachlesen. Sie schließen mit
einem Fünfzeiler, der nichts aussagt.
Während ich bei der PDS wenigstens noch ein Zipfelchen an Bemühungen um Konstruktivität entdecke,
verharren Sie im alten Denken und sind offensichtlich
unfähig, eine umsetzbare politische Konzeption zur
Neuorientierung des Aufbaus Ost zu entwickeln. Denn
wenn Sie hier von Rotrot sprechen, dann bescheinigen
Sie sich bloß, daß Sie nicht mehr fachlich, sondern nur
noch in Ideologien denken können.
({3})
Wir dagegen haben in einer ersten Etappe der Neuorientierung wesentliche und dringend notwendige Korrekturen vorgenommen. Der vor allem im Osten dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit begegnen wir wirksam mit unserem Sofortprogramm, das, wie auch Sie sicherlich schon wissen, fortgesetzt werden wird. Wir haben mit der Forschungsförderung nach vielen Jahren den
finanziellen Kahlschlag endlich beendet und die längst
überfällige Voraussetzung für zukunftsfähige Investitionen in den neuen Ländern geschaffen.
Herr Kollege Schubert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Christa Luft?
Bitte schön.
Herr Kollege Schubert, ich
freue mich, daß Sie uns eine gewisse Konstruktivität
unterstellen. - Ich möchte Sie folgendes fragen: Was
halten Sie denn davon, daß die Kollegin Röstel, die
Parteisprecherin der Bündnisgrünen, vorgestern - so habe ich das am 8. September in der Zeitung gelesen - eine Initiative der ÖTV zur Angleichung der Ostlöhne
an die Westlöhne unterstützt hat. Dort heißt es, daß es
nicht mehr länger hinnehmbar sei, daß eine Krankenschwester im Osten über 13 Prozent weniger verdiene
als im Westen. Besteht in diesem Zusammenhang ein
Dissens in der Koalition, oder hat sie nur für sich gesprochen? Hat sich die Parteisprecherin der Grünen
nicht mit ihrer Fraktion abgestimmt? Ich möchte gerne
wissen, wie Sie das sehen.
Ich versuche, Ihnen
eine Antwort zu geben, aber nicht genau in diesem
Punkt. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Dinge abgestimmt worden sind und welche nicht. Ich kann Ihnen
nur meine Meinung zu diesem Thema sagen. Das Gerede über Rotrot lasse ich jetzt einmal außen vor. Wir
werden nämlich nicht rotrot zusammenkommen.
({0})
Ich gebe Ihnen völlig recht, daß wir die Lohnangleichung hinbekommen müssen, wenn wir nicht weiterhin
eine Zweiklassengesellschaft kultivieren wollen. Das
Problem ist nicht - darüber sollten wir ernsthaft diskutieren -, daß wir das hinbekommen, sondern wie und in
welchem Zeitraum wir das mit Blick auf die öffentlichen
Kassen erreichen.
Es gibt ein weiteres Problem - auch darüber müssen
wir sprechen -: Nicht nur die öffentlichen Kassen sind
von einer Lohnangleichung betroffen. Wir können nicht
den öffentlichen Dienst auf allen Ebenen bevorzugen
bzw. bevorteilen und die anderen Einkommensempfänger, die mehrheitlich außertariflich bezahlt werden - das
wissen wir ja alle -, bei 60, 70 oder 80 Prozent der
Westeinkommen hängen lassen. Wenn wir das Thema
Lohnangleichung als Gerechtigkeitsprojekt in den neuen
Bundesländern verstehen - den Fahrplan, von dem Ihr
Fraktionsvorsitzender, Frau Luft, gesprochen hat, finde
ich nicht uninteressant -, dann sollten wir uns nicht nur
über einen solchen Fahrplan, sondern auch - um im Bild
zu bleiben - über die einzelnen Haltestellen unterhalten.
Denn dann ginge es nicht, daß der Beamte hie 100 Prozent erhält und der Gießer da 60 Prozent. Das funktioniert nicht.
Gestatten Sie, Herr
Kollege, eine weitere Zwischenfrage von Frau Kollegin
Sonntag-Wolgast?
Ich bitte ganz herzlich.
Kollege
Schubert, können Sie mir über das hinaus, was Sie eben
schon erläuternd gesagt haben, bestätigen, daß die UnDr. Mathias Schubert
terschiede bei den Tarifen zwischen Ost und West nur
fünf Prozent betragen, wenn Sie die Nettoberechnung
zugrunde legen?
({0})
Das kann ich bestätigen. Vielen Dank, Frau Kollegin.
({0})
Liebe Kollegin, an
einer knappen Auskunft ist nichts auszusetzen.
({0})
Außerdem war das
eine korrekte Antwort, wenn Sie einmal nachdenken.
Das Inno-Regio-Programm hat in einer Reihe von
Regionen schon jetzt zu wirtschaftlichen und strukturellen Synergieeffekten geführt wie kaum ein anderes
Förderprogramm bisher. Bitte vergessen Sie eines nicht:
Der Bund wird - später werden Sie hier wieder anderes
behaupten - trotz Haushaltskonsolidierung im Jahr 2000
mehr Geld für die neuen Länder bereitstellen, als es im
letzten Haushalt der schwarz-gelben Bundesregierung
1998 der Fall war.
({0})
Das ist erst der Anfang. Denn die Bilanz nach nunmehr neun Jahren Aufbau Ost zeigt ein Bild voller Kontraste. Wer wollte das leugnen? Absturz und Aufschwung, Wachstumszentren und Problemregionen! In
einem beispiellosen solidarischen Kraftakt haben Ostdeutsche und Westdeutsche gemeinsam Hunderte Milliarden an Steuergeldern für die neuen Länder aufgebracht. Dennoch ist flächendeckend keine tragfähige
Wirtschaftsstruktur entstanden. Die bedrückende Arbeitslosigkeit liegt durchweg und stabil bei über 17 Prozent, die Abwanderung von Ost nach West konnte nicht
gestoppt werden, ganze Regionen drohen leerzulaufen.
({1})
- Wenn Sie mir zuhören würden, könnten Sie sich so
etwas sparen.
({2})
Die immer wieder beschworene Angleichung der Lebensverhältnisse stagniert. Und da wundern wir uns, daß
sich immer mehr Ostdeutsche als Menschen zweiter
Klasse fühlen!
Dennoch habe ich als Ostdeutscher nicht vor, die Leistungen der alten Bundesregierung für die neuen Länder
pauschal zu disqualifizieren. Erstaunlicherweise machen
das die Autoren des CDU/CSU-Antrags. Darin stehen
im Zusammenhang mit Strompreisangleichung und
Wohngeldreform folgende Sätze:
Eine Verbesserung für Ostdeutschland gibt es nicht.
Bestenfalls wird der Status quo gewahrt.
Was heißt denn das? Damit diskreditieren Sie den
Stand der deutschen Einheit, den Sie zu verantworten
haben,
({3})
und bezeichnen damit natürlich auch Ihre bisherige Aufbau-Ost-Politik pauschal als schlecht.
({4})
- Dann lesen Sie doch noch einmal nach.
Herr Krüger, wenn die Bankrotteure die Konkursverwalter für ihren Bankrott verantwortlich machen,
dann zeugt das von der Unfähigkeit zur Realitätsbewältigung und damit letztlich von Ihrer Unfähigkeit, konstruktive Politik zu gestalten.
({5})
Ich sehe mich fast genötigt, Sie gegen sich selbst in
Schutz zu nehmen.
({6})
Es geht jetzt um eine zweite Phase beim Aufbau Ost,
und dieser ist als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
zu begreifen. Deshalb werden wir das Zerbrechen der
gesamtdeutschen Solidarität nicht zulassen. Es muß
unsere gemeinsame parlamentarische Aufgabe bleiben,
im Rahmen der Möglichkeiten dieses Hauses den angestrebten Ausstieg etwa Bayerns oder Baden-Württembergs aus der Bund-Länder-Solidargemeinschaft mit
Ostdeutschland zu verhindern - und zwar unabhängig
davon, wie die notwendige Anschlußregelung des Solidarpakts nach 2004 im Detail gestaltet wird.
({7})
Wer den Aufbau Ost als Erfolg will, darf ihn nicht
auf eine Finanzbeziehung zwischen Bund und neuen
Ländern reduzieren. Denn das ist ein fahrlässiges Spiel
mit der inneren Einheit. Wir werden ja sehen, wieviel
Sie an solidarischer Kraft im eigenen Lager dazu aufbringen. Denn eines ist sicher: Die ererbte Finanzlage
des Bundes ist derart desolat, daß der Aufbau Ost ohne
Haushaltskonsolidierung in Zukunft nicht mehr in der
notwendigen Form gesichert werden kann. Dieser Zusammenhang ist zwingend.
({8})
Herr Kollege Schubert, die Kollegin Pieper möchte eine Frage an Sie stellen.
Bitte schön, Frau
Kollegin.
({0})
Ich werde in der Tat dafür
bezahlt, daß ich hier im Interesse des Aufbaus Ost die
richtigen Fragen stelle.
({0})
Herr Kollege Schubert, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, was das Wirtschaftsinstitut in Halle unter
Führung von Professor Pohl letztens veröffentlicht hat,
nämlich daß auf Grund der im letzten Jahr von Ihrer Regierung beschlossenen Gesetze - ich meine jetzt nicht
nur das Ökosteuer-Gesetz, sondern auch alle anderen
Gesetze - eine unheimliche Belastung gerade des Mittelstandes in den neuen Bundesländern stattgefunden
hat? Er hat nachgewiesen, daß allein durch die damit
einhergehende Verunsicherung viele Firmen einen Auftragsverlust erlitten haben. Darüber hinaus ist in den
neuen Bundesländern auf Grund der Unsicherheiten, die
es gerade für kleine und mittelständische Unternehmen
gibt, mit einem Beschäftigungsabbau zu rechnen.
Sind Sie bereit, diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen
und zuzugeben, daß die Politik, die von Ihnen betrieben
worden ist, letztendlich nicht zum Aufbau Ost beiträgt?
({1})
Verehrte Frau Kollegin, Sie werden von mir schlechterdings nicht erwarten
können, daß ich dem letzten Teil Ihrer Frage zustimme.
Ich kenne - das muß ich Ihnen ehrlicherweise zugestehen - diese Studie nicht. Was mich wundert, ist: Herr
Pohl hat - wie übrigens andere Wirtschaftsinstitute auch
- bislang immer einen ganz anderen Standpunkt vertreten. Er hat nämlich gesagt: 2004 brauchen wir im Osten
keine Sonderförderung für die Wirtschaft mehr; und
jetzt plötzlich dies.
({0})
- Verunsichert worden ist vielleicht Herr Pohl. Aber ich
kenne zumindest aus meinem Umfeld - ich kenne Ihr
Umfeld nicht - kein Unternehmen, das durch unsere
steuerpolitischen Maßnahmen verunsichert worden wäre.
({1})
Man muß ein Wort zur hoffnungslosen Unterfinanzierung - jetzt wird es wieder ernsthaft - zum Beispiel
des Bundesverkehrswegeplans sagen, eines Bundesverkehrswegeplans, den Sie, die Vorgängerregierung
- dafür tragen Sie die Verantwortung -, als eine Art
Märchenbuch geschrieben haben. Das zwingt zu einer
realistischen Zurückführung auf das Machbare, und das
Machbare ist in diesem Fall das Bezahlbare.
({2})
- Herr Türk, ich komme gleich zu Ihnen. - Meinen Sie
etwa, es macht uns Spaß, das Verkehrsprojekt Nr. 8 zu
canceln?
({3})
- Herr Kollege, haben Sie es noch nicht kapiert? Wenn
wir sagen würden, wir machen das Projekt Nr. 8 und
nicht das Projekt Nr. 17, garantiere ich Ihnen, daß Sie
als Opposition bei der nächsten Debatte zum Aufbau Ost
hier fragen: Warum macht ihr Nr. 17 und nicht Nr. 8?
Das ist schwierig.
Bei diesen Aufräumarbeiten sind leider auch als
schmerzhaft empfundene Einschnitte nicht zu vermeiden. Es ist wohlfeil und pharisäerhaft zugleich, sich
auch hier aus der eigenen Verantwortung zu stehlen.
Auch als Opposition können Sie doch nicht übersehen,
daß auf der Grundlage von Bund-LänderVereinbarungen - die Sie im übrigen so gut kennen wie
ich - andere Verkehrsvorhaben wie die A 17, die A 38
und die A 71 sowie die B 247 einschließlich Ortsumgehungen gebaut werden. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, herzlichen Dank für diese am Montag vor einer
Woche in Leinefelde erteilte Auskunft. Diese Projekte
liegen alle im Osten der Republik.
Ein letzter Punkt: Neuorientierung der Wirtschaftsförderung. Auch hier, meine Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, sind einige unbequeme
Wahrheiten zu diskutieren. Wie entwickelt man leistungs- und innovationsorientierte Standorte in Ostdeutschland? Weder Dauersubventionen noch konfliktvermeidende sogenannte Transferleistungen allein reichen zur Realitätsbewältigung aus. Zukunftsfähiges muß
gefördert werden. Dazu müssen wir Bedingungen schaffen, die besser sind als anderswo, um nicht zuletzt historisch bedingte Nachteile auszugleichen.
Dazu gehört zum Beispiel die Förderung von Vernetzungseffekten, von Marktzugang, von Managementkompetenz, von Kooperation zwischen Branchen und Regionen. Nachdem die Privatisierung der ostdeutschen Unternehmen abgeschlossen ist und die meisten industriellen
Kerne - wenn auch auf sehr unterschiedlichem Niveau erhalten sind, geht es nun darum, den wirtschaftlichen Erfolg zu organisieren. Die Regeln westdeutscher Industriepolitik der 60er und 70er Jahre, nach denen sehr viele
Wirtschaftsförderprogramme Ost immer noch gestrickt
sind, sind offenbar nicht mehr zukunftsfähig.
Ich weiß, daß solche Überlegungen zur Neuorientierung in Einzelfällen zu bitteren Konsequenzen führen
und sich der Widerstand derer, die den Status quo als
konservatives Politikinstrument bewahren wollen, regt.
Aber an den Fakten kommt letztlich niemand vorbei.
Das Ziel heißt: mehr Effizienz, mehr Arbeitsplätze,
mehr Innovation, mehr Zukunftssicherheit - mit demselben finanziellen Einsatz.
Da Frau Kollegin Hustedt vorhin das Thema Strompreisdiskussion dankenswerterweise genau in derselben
Richtung diskutiert hat, die auch ich vertrete, will ich
das nicht mehr ansprechen.
Ich möchte noch auf den A3XX, Herr Krüger, zu
sprechen kommen. Das Engagement des ehemaligen
Bundeskanzlers Kohl für den A3XX in Rostock besteht
nach Recherchen der Schweriner Staatskanzlei aus einem
Brief an die Staatskanzlei und ein paar Wahlkampfreden. Es war also nichts als laue Luft, die hinten herauskam.
({4})
- Dafür hat sie nicht lange gebraucht.
({5})
Ich fasse zusammen und komme zum Ende: Meine
Damen und Herren, soziale Gerechtigkeit ist nicht zuletzt durch Innovation, Investition und Schaffung von
Arbeitsplätzen zu organisieren. Dazu braucht es Geld aber nicht nur. Dazu braucht es auch intelligente Ideen,
gemeinsames politisches Engagement, risikobereite,
pfiffige Unternehmer und qualifizierte sowie motivierte
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Essentials
werden unsere Arbeit am Aufbau Ost bestimmen.
Vielen Dank.
({6})
Ich gebe nunmehr
das Wort dem Finanzminister des Landes Thüringen,
Andreas Trautvetter.
Andreas Trautvetter, Minister ({0}): Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
({1})
Herr Schubert, Sie haben ein Bild von Ostdeutschland
gezeichnet, das für Ihre Heimat Brandenburg zutreffen
mag. Für Sachsen und für Thüringen ziehe ich mir - bei
aller regionalen Differenzierung, die auch bei uns angebracht ist - diesen Schuh allerdings nicht an.
({2})
Sie haben sich über die Verantwortungslosigkeit,
über ehemaliges Tun beschwert. Ich möchte ein Beispiel nennen - das bezieht sich mehr auf die letzte
Debatte -: Über die Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte reden wir nicht erst seit 1998, sondern
schon viele Jahre.
({3})
1997 gab es eine Finanzministerkonferenz in Merseburg.
Bis am Vorabend dieser Finanzministerkonferenz von
Merseburg waren sich alle SPD- und CDU-Finanzminister über ein Konsolidierungsprogramm in Höhe
von 15 Milliarden DM einig. Das war der kleinste gemeinsame Nenner von Vorschlägen über insgesamt
35 Milliarden DM. Dann kam am Vormittag das Aus
aus der Baracke, und der gemeinsame Beschluß kam
nicht zustande. Das ist verantwortungsloses Tun Ihres
ehemaligen Bundesvorsitzenden Lafontaine.
({4})
Auch dazu sollte man stehen.
({5})
Es gibt eine weitere verantwortungslose Aussage aus
den letzten Tagen.
({6})
- Hören Sie mir doch einmal zu!
({7})
Es gibt ein Zitat von Herrn Bundesfinanzminister Eichel
am 30. August in der „Leipziger Volkszeitung“:
Ich erwarte auch von den neuen Ländern, daß sie
begreifen, daß die Konsolidierung des Bundeshaushaltes jetzt die Voraussetzung dafür ist ({8})
- Sehr geehrter Herr Abgeordneter, dürfen Bundesratsmitglieder hier im Bundestag reden, ist das nicht parlamentarischer Brauch? Oder möchte der Deutsche Bundestag seine Geschäftsordnung diesbezüglich ändern?
({9})
Ich darf noch einmal Bundesfinanzminister Eichel zitieren:
Ich erwarte auch von den neuen Ländern, daß sie
begreifen, daß die Konsolidierung des Bundeshaushaltes jetzt die Voraussetzung dafür ist, daß der
Bund auch in Zukunft weiter seinen Verpflichtungen für den Aufbau Ost nachkommen kann
({10})
und daß damit die ostdeutschen an die westdeutschen Länder herangeführt werden können.
Auf die Frage, ob die Zustimmung zum Sparpaket die
Voraussetzung für die Fortführung des Solidarpaktes
sei, erklärte Eichel: „Ja, sicher.“ Darauf kann ich frei
nach
Wir haben verstanden. Nur dann, wenn wir uns im Osten mit kindlicher Seele dem Willen des guten, großen Onkels aus
dem Westen anpassen, bekommen wir zur Belohnung
unseren Solidarpakt. So kann ein Bundesfinanzminister
nicht mit uns umspringen.
({0})
Diese Parolen mögen an einem Stammtisch in Kassel
gut ankommen, aber sie haben nichts mit einer Politik zu
tun, die sich am Allgemeinwohl orientiert.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben
mittlerweile die verhängnisvolle Neigung entwickelt,
Politik per Dekret zu verkünden. Aber das Wesen der
parlamentarischen Demokratie besteht darin, Mehrheiten
durch Überzeugungsarbeit und nicht durch Muskelspiele
und böse Blicke zu gewinnen.
({1})
Vorhin ist gesagt worden, uns interessiere nur der
ICE. Nein, meine Damen und Herren! Thüringen wird
dem Bundesfinanzminister keine Knüppel zwischen die
Beine werfen, jedenfalls nicht dort, wo echte Einsparungen zu erwarten sind. Aber wir erlauben uns, immer
dann nachzufragen, wenn elementare Interessen der
Ostländer tangiert sind. Wir werden uns auch querlegen,
wenn zentrale Punkte beeinträchtigt werden. Zu diesen
gehören der Ausbau der Infrastruktur und die Wirtschaftsförderung.
Wenn Herr Schulz uns die Mitte-DeutschlandVerbindung für den ICE verkaufen möchte, dann kann
ich nur darauf sagen: Diese Mogelpackung nehmen wir
nicht an; denn für die Mitte-Deutschland-Verbindung ist
keine Mark mehr als vorgesehen in den Haushalt eingestellt worden. Es gibt keine überregionale Strecke, wenn
die Züge in Weimar das elektrifizierte Gleis verlassen
und in Glauchau wieder auf dieses zurückkehren. Die
Elektrifizierung der Mitte-Deutschland-Verbindung haben Sie einfach vergessen. Damit ist Ihr Angebot eine
Mogelpackung.
({2})
Herr Minister
Trautvetter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Andreas Trautvetter, Minister ({0}): Bitte.
Ich hatte in den letzten
Wochen Gelegenheit, sehr viel mit Minister Schuster
über den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den
neuen Ländern zu sprechen. Gestehen Sie mir zu, daß
die Bundesregierung zur Sicherung der Infrastruktur
immer wieder dafür gesorgt hat, daß die neuen Bundesländer, insbesondere Thüringen und Sachsen, bei
den Hauptbautiteln an vorderster Stelle stehen? Räumen Sie auch ein, daß die Bundesregierung mit besonderer Priorität die A 71 und A 73 sowie im Rahmen ihres Ortsumgehungsprogramms auch die Infrastruktur in
Thüringen - wie übrigens auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt - im Vergleich zu den alten Bundesländern
auf höchstem Niveau gefördert hat und die Mittel dafür
gegenüber 1998 sogar noch erhöht hat? Ist Ihnen bekannt, daß die alte Bundesregierung unter Kohl keine
Finanzierungsvereinbarung für die 8.1 und für die 8.3
getroffen hatte?
Andreas Trautvetter, Minister ({0}): Ich gestehe Ihnen zu, daß Sie in der letzten Woche sehr häufig
in Thüringen waren, um Investitionen in Gang zu bringen, die alle die letzte Bundesregierung auf den Weg
gebracht hat.
({1})
Ich möchte Sie bitten, sich einmal einen Autoatlas
von 1952 anzuschauen. Wenn Sie das tun, merken Sie,
worum es geht. 1952 gab es das dichteste Autobahnnetz von Deutschland in Sachsen und in Thüringen.
Wir klagen nicht irgendwelche großen Vorhaben vom
Staat ein, weil dieser zuviel Geld hat; vielmehr klagen
wir den Aufbau einer Infrastruktur ein, und zwar so, wie
wir sie längst hätten, wenn es keine deutsche Teilung
gegeben hätte.
Das sind keine Geschenke, sondern politische Notwendigkeiten.
({2})
Herr Minister
Trautvetter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Scheffler?
Andreas Trautvetter, Minister ({0}): Bitte.
Die Regierung Kohl hat
zwar viele Spatenstiche gemacht, aber die Finanzierung
war nicht gesichert. Meine Frage zur Finanzierung der
8.1, der 8.3, der A 71 und der A 73 haben Sie nicht beantwortet. Sie hatten die Finanzierung nicht unter Dach
und Fach. Wir haben im Bundeshaushalt 1999, im Bundeshaushalt 2000 und darüber hinaus die Finanzierung
gesichert.
Das gilt im übrigen auch für die Verkehrsprojekte
Deutsche Einheit. Man kann zwar vollmundig viel auf
den Weg bringen, aber man muß die Finanzierung sichern. Darin besteht der Unterschied zwischen der alten
und der neuen Bundesregierung. Die neue Bundesregierung hat angefangen, mit dem Haushalt 1999 und auch
mit dem Haushalt für das nächste Jahr, die jetzt begonnene Verkehrsinfrastruktur finanziell abzusichern.
({0})
Andreas Trautvetter, Minister ({1}): Sie haben keine Frage gestellt. Ich bitte um Entschuldigung,
ich kann keine Antwort geben, weil Sie keine Frage gestellt haben.
({2})
- Sie haben eine Feststellung getroffen. Zu den Finanzierungsfragen komme ich noch. Warten Sie einen Moment! Erst möchte ich über ein paar andere Punkte sprechen.
Minister Andreas Trautvetter ({3})
Schauen wir uns die Neuregelung zum Wohngeld an.
Sie verkaufen hier die nächste Mogelpackung. Sie brüsten sich damit, daß die Wohngeldbeträge in den neuen
Ländern um durchschnittlich 35 DM pro Monat erhöht
werden, gleichzeitig verschweigen Sie aber, daß alle
Vorschriften, von denen ein zu abrupter Übergang zum
Vergleichsmietensystem abgefedert werden soll, auf
einmal abgeschafft werden. Das ist die Realität.
({4})
Gerade die sozial schwächeren Gruppen wie Arbeitslose, Rentner und Alleinerziehende werden durch diese
Regelung mit Mehrbelastungen zu rechnen haben.
Ein Weiteres kommt hinzu. Wenn man das ganze
Sparpaket durchgearbeitet hat, dann erkennt man, daß
sich der Bund um Milliardenbeträge entlastet, während
Länder und Kommunen sehen müssen, wo sie ihr Geld
herbekommen.
({5})
Ich frage mich manchmal, ob sich der Bundesfinanzminister noch in seine Zeit als Oberbürgermeister von Kassel zurückversetzen kann.
({6})
- Ja, das hat er alles vergessen.
Bei der Einhaltung der Maastricht-Kriterien kommt
es nicht darauf an, welche Schulden durch den Bundeshaushalt gemacht werden; vielmehr kommt es auf die
gesamtstaatliche Verschuldung von Bund, Ländern und
Gemeinden an. Das wird vergessen. Wenn das so weitergeht, dann garantiere ich Ihnen, daß wir nicht nur
einen Solidarpakt II benötigen; vielmehr können Sie
gleich einen dritten Solidarpakt planen.
Wir haben - nicht nur aus reinem Länderinteresse gar keine andere Möglichkeit, als gegen ein solches
Sparpaket zu stimmen. Man muß unser Abstimmungsverhalten bald wirklich Notwehr nennen. Wie sollen wir
unseren Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung im Osten
leisten, wenn die Finanzausstattung von Ländern und
Kommunen deutlich reduziert wird?
({7})
Wenn der Aufbau Ost zur Chefsache gemacht wird,
dann ist das gut und richtig. Aber der Bundeskanzler
hält sich nicht daran, und mittlerweile ist dieser Gedanke
auch in Thüringen eher als Drohung denn als Zusage zu
verstehen. Bis 1998 gab es unter den Länderfinanzministern und zwischen den Länderfinanzministern und
dem Bundesfinanzminister einen anderen Umgang. Es
gab kaum etwas Schwieriges, was vorher nicht auch mit
den SPD-Finanzministern aus den Ländern besprochen
worden ist. Das wird heute nicht mehr gemacht. Man
tagt jetzt in parteiinternen Zirkeln, wie letztens in Wismar. Diese Hinwendung zu einem Parteienstaat, der nur
eine Sicht der Dinge zuläßt, betrachten vor allem wir in
den neuen Ländern mit Skepsis, denn wir haben damit
schon vor 1989 entsprechende Erfahrungen gemacht.
({8})
Meine Damen und Herren, noch einmal zurück zu
den Verkehrswegen: Ich hoffe ja, daß sich bezüglich des
Weiterbaus der ICE-Trasse etwas ändert, wenn demnächst ein neuer Verkehrsminister sein Amt aufnimmt.
Ich habe das SPD-Wahlprogramm für das Saarland sehr
aufmerksam studiert: In ihm wurde die transeuropäische
ICE-Strecke von Paris über Saarbrücken nach Frankfurt
als ein notwendiges Projekt für die Entwicklung von
Wirtschaftsstrukturen bezeichnet. Vielleicht wird man
ja, wenn der neue Bundesverkehrsminister im Amt ist,
noch einmal über die ICE-Strecke reden können, da er
offensichtlich die Bedeutung eines solchen Projektes
richtig einschätzt.
({9})
Dann bekommen wir es vielleicht vor Ablauf der nächsten fünf Jahre auf die Reihe. Es war ja auch eine Mogelpackung, als man davon sprach, die Finanzierungszusage auf zehn Jahre auszudehnen. Sie wissen ganz genau, daß man laut Gesetz das Baurecht nur einmal für
fünf Jahre verlängern kann. Wenn Sie dieses Projekt erst
in zehn Jahren finanzieren wollen, dann müssen Sie öffentlich sagen, daß Sie den Bau aufgeben wollen, weil
das Baurecht es nicht mehr zuläßt.
({10})
Sie haben nach der Finanzierung gefragt: Wenn der
Staat kein Geld hat, muß er intelligente Lösungen anstreben. Man sollte sich dabei vom volkswirtschaftlichen
Sachverstand und nicht vom Bleistift eines Buchhalters
leiten lassen. Wenn man nämlich 1 Millionen DM investiert, dann fließen 400 000 DM direkt in Form von
Steuern und Sozialabgaben in die öffentlichen Kassen
zurück. Wenn ich noch den Beschäftigungsaspekt hinzunehme, ergibt sich bei der Bundesanstalt für Arbeit
eine Entlastung um weitere 300 000 DM. Das heißt,
70 Prozent der öffentlichen Investitionen fließen direkt
in die Kassen des Staates zurück bzw. entlasten ihn auf
der Ausgabenseite. Ausgehend von dieser Basis sollte
man sich darüber unterhalten.
Herr Staatssekretär, es stimmt ja nicht, daß Sie nur
die ICE-Strecke zur Disposition stellen. Es gibt Finanzierungsvorbehalte für Bauabschnitte der A 4: Die
Finanzierung für das Projekt im Leutratal und für die
Nordumfahrung Hörselberge ist nicht gesichert. Ich
stelle jetzt einmal eine volkswirtschaftliche Rechnung
für das Leutratal auf: Wenn die A 4 dort nicht ausgebaut
wird, dann verursachen die entstehenden Staus täglich
einen volkswirtschaftlichen Schaden zwischen 500 000
und 1 Millionen DM. Wenn Sie das auf ein Jahr hochrechnen und die jetzige Steuerbelastung von Unternehmen zugrunde legen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß der Nichtausbau dieses Abschnittes der A 4
Steuermindereinnahmen von mindestens 80 bis 100 Millionen DM im Jahr verursacht. Insgesamt geht es dabei
um eine Investition in Höhe von 300 Millionen DM, die
Minister Andreas Trautvetter ({11})
hinausgeschoben wird. Wenn ich den Aspekt der Rückflüsse der Gelder und der Mehreinnahmen durch Verhinderung eines solchen Nadelöhrs zusammenrechne,
refinanziert sich diese Investition in spätestens zwei Jahren. Jeder Unternehmer würde sich eine solche Amortisation von Investitionen wünschen.
Deswegen gehört es auf die Tagesordnung, daß man
sich neue Modelle überlegt und volkswirtschaftliche
statt rein fiskalische und buchhalterische Erwägungen
bei Investitionsentscheidungen ins Feld führt.
({12})
Wir haben damit gute Erfahrungen insbesondere im Bereich des Hochschul- und Hochschulklinikbaus gemacht.
Damit haben wir strukturelle Nachteile schneller abbauen, Arbeitsplätze schaffen und trotz schwieriger Kassenlage hohe Investitionen beibehalten können.
Man könnte noch viele Punkte ansprechen; doch davon sehe ich jetzt einmal ab. Nur soviel noch: Vorhin
wurden Zahlenangaben bezweifelt. Ich möchte Ihnen
einmal die konkreten Zahlen der Energiesteuer für Thüringen nennen. Im privaten Bereich gibt es in Thüringen
eine Mehrbelastung von 60 Millionen DM im Jahr. Das
ist ein Finanztransfer von Ost nach West. Diese Mehrbelastung entsteht durch die unterschiedlichen Löhne in
West und Ost, weil die Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen geringer, aber die Kostenbelastung
die gleiche ist. Das erste Gesetz, das die neue Bundesregierung beschlossen hat, ist ein Gesetz, das einen
Finanztransfer von Ost nach West erzeugt. Dazu kann
man Ihnen gratulieren. Machen Sie in dieser Sache ruhig
so weiter.
Wir werden uns niemals gesamtstaatlichen Konsolidierungsbemühungen widersetzen. Ganz im Gegenteil,
wir werden alle echten Sparbemühungen unterstützen.
Aber etwas darf nicht passieren - dort werden wir uns
widersetzen -, nämlich erstens, daß der Osten überproportional belastet wird - und das ist der Fall -,
({13})
und zweitens, daß eine soziale Unausgewogenheit verankert wird; auch das ist in Ihrem Sparprogramm der
Fall. Deswegen werden wir ihm in der jetzigen Form
nicht zustimmen können.
({14})
Machen Sie den Aufbau Ost endlich wieder zu dem,
was er einmal war, nämlich zur Chefsache.
Vielen Dank.
({15})
Es spricht nun für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Albert
Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine Bemerkung vorweg zu dem, was es für
mich schwer erträglich macht, dieser Debatte gelassen
zu folgen: Wer selbst einen derart gigantischen Schuldenberg hinterlassen hat,
({0})
in einer Größenordnung, welche die Handlungsfähigkeit
und Gestaltungsfähigkeit des Staates in Frage stellt, und
jetzt hier eine scheinheilige Empörung darüber zelebriert, daß wir nicht alle Ihre haltlosen Versprechungen
von gestern erfüllen können, der ist für mich völlig unglaubwürdig.
({1})
Dieses Haushaltskonsolidierungsprogramm veranstalten wir doch nicht aus Jux und Tollerei, um mitten in
schwierigen Landtagswahlkämpfen möglichst viele
Wählerinnen und Wähler zu verschrecken, sondern das
veranstalten wir, weil es bitter notwendig ist, um die Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeit des Staates wieder
zurückzugewinnen und nachhaltig zu sichern.
({2})
Denn wenn ich jede vierte Mark aus Steuereinnahmen
sofort an die Banken weiterüberweisen muß - als Zinsen, nicht als Tilgung; in diesem Land wurden seit Jahren keine Schulden mehr getilgt -, kann ich nicht mehr
handeln und gestalten. Das ist der Hintergrund, vor dem
wir diskutieren.
({3})
- Da gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege. Ich gebe Ihnen
ausdrücklich recht, daß uns dies nicht der Verantwortung entbindet, sehr sorgfältig zu schauen, wo Sparen
vernünftig und sinnvoll und wo es vielleicht geradezu
falsch und kontraproduktiv ist.
Damit komme ich zur Sache im Detail, zur jetzt
mehrfach beklagten Planungskorrektur bei der ICEVerbindung Nürnberg-Erfurt. Was ist eigentlich passiert? Was sieht man, wenn man einmal hinter den ganzen Pulverdampf des Wahlkampfs und den Rauch der
politischen Nebelkerzen schaut?
({4})
Die Planung einer Neubaustrecke durch den Thüringer
Wald - das hat bereits die Anhörung in der letzten Legislaturperiode gezeigt - war von Anfang an eine unwirtschaftliche Planung. Sie ist dennoch aus politischen
Gründen, einfach auf Grund der Mehrheitsverhältnisse,
zunächst einmal weiter verfolgt worden. Es gab aber
gleichwohl innerhalb des Bundesunternehmens Deutsche Bahn AG - das ist eine privatisierte Aktiengesellschaft; wir alle hier im Haus wollten das - schon immer
intensive Überprüfungen, inwieweit diese Strecke überhaupt rentabel ist. Diese Überprüfungen wurden nicht
Minister Andreas Trautvetter ({5})
nur an dieser Stelle durchgeführt, sondern im gesamten
Netz sämtlicher Infrastrukturplanungen der Deutschen
Bahn und damit auch des Bundes, der sie bezahlen muß.
Das Ergebnis war - das wurde am 7. Juli dieses Jahres
zu einem Beschluß im Aufsichtsrat -, daß sich diese
Strecke in dieser Form derzeit nicht rechnet.
Sie wurde aber nicht ersatzlos gestrichen. Vielmehr
wurde statt dessen beschlossen - das unterschlagen Sie
immer -, endlich die Finanzierung der Mitte-Deutschland-Bahn zu sichern und damit auf hohem Niveau
prioritär voranzutreiben, ein von der alten Regierung
vergessenes Projekt der deutschen Einheit,
({6})
in einer Region, in der sämtliche Städte Mitteldeutschlands wie auf einer Perlenschnur aufgereiht sind, in der
Millionen von Pendlerinnen und Pendlern fahren, die
zum Beispiel östlich von Erfurt jetzt noch Fahrgeschwindigkeiten von 50 km/h haben. Das ist völlig unhaltbar. Das mußte vorangetrieben werden. Gleiches gilt
für die andere wichtige Achse, die Franken-SachsenMagistrale, die sich in Chemnitz mit der MitteDeutschland-Bahn vereint. Zur Mitte-Deutschland-Bahn
gehört eben auch der Abschnitt Dresden-Görlitz. Denn
die Welt hört nicht in Dresden auf. Diese Achse in
Richtung Polen wollen wir ebenfalls ausbauen, und deshalb wird dort zusätzlich Geld investiert.
({7})
Des weiteren wurde beschlossen - im wesentlichen
werden dafür Bundesmittel eingesetzt -, daß das gesamte Netz bundesweit mit 48 Milliarden DM modernisiert wird: mit moderner elektronischer Leit- und Sicherungstechnik, mit elektronischen Stellwerken. Diese
Maßnahmen werden doch nicht um Thüringen herum
durchgeführt, sondern kommen natürlich auch dem maroden Netz in Thüringen zugute. Denn es nützt uns
nichts, wenn wir deutschlandweit zwei oder drei DeLuxe-Vorzeigeprojekte haben, während nebenan von
Tag zu Tag das Netz verfällt, bis es buchstäblich nicht
mehr befahrbar ist.
({8})
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zu Thüringen, Herr
Minister Trautvetter: Wissen Sie, daß das Nahverkehrsnetz in Thüringen schon heute zu 9 Prozent nicht mehr
befahrbar ist, weil es technisch k.o. ist? Da hat nie eine
Stillegung stattgefunden; es ist einfach marode und kaputt und darf aus Sicherheitsgründen nicht mehr befahren werden. Zudem häufen sich die Langsamfahrstellen.
Auf diesen Strecken sind die Menschen jeden Tag unterwegs - nicht von Stockholm nach Verona, sondern im
Nahverkehr. Dort muß investiert und modernisiert werden, und das werden wir tun.
({9})
Ich möchte noch einer anderen üblen Legendenbildung entgegenwirken, nämlich dem Latrinengerücht von
gekürzten oder gestrichenen investiven Mitteln, das
landauf, landab gestreut wird. Es war gerade die Leistung - eine sehr clevere, wie ich meine - des scheidenden Bundesverkehrsministers, Franz Müntefering, es
hinbekommen zu haben, daß trotz des Konsolidierungspaketes die investiven Mittel für Straße und Schiene
im Bundeshaushalt 1999/2000 faktisch auf gleichem Niveau geblieben sind. Schauen Sie in den Bundeshaushalt
- Sie können das doch nachlesen; das sind Zahlenwerke,
die Ihnen als Drucksache zur Verfügung stehen -: Straßenbau: einstmals 8,3 Milliarden DM, jetzt 8,2 Milliarden DM; Schienenbau: letztes Jahr 6,7 Milliarden DM,
jetzt 6,8 Milliarden DM. Im Grunde wurde das Niveau
gehalten. Von einer Streichorgie kann überhaupt keine
Rede sein. Gerade die investiven Mittel haben wir im
wesentlichen halten können; im Bereich Schiene wurden
sie sogar erhöht. Also, lassen Sie diese üblen Gerüchte!
Herr Kollege
Schmidt, eigentlich ist Ihre Redezeit vorbei; aber wenn
Sie noch eine Frage des Kollegen Kolbe beantworten
möchten, dann sollten Sie dazu Gelegenheit bekommen.
Wenn es denn um diese Zeit noch der
Wahrheitsfindung dient, bitte, Herr Kollege.
({0})
Ob es der Wahrheitsfindung dient, hängt von Ihnen ab.
Herr Schmidt, Sie haben von zahlreichen Alternativprojekten gesprochen. Können Sie mir bitte erstens sagen, welche Beträge die Bundesregierung für diese alternativen Eisenbahnprojekte im mitteldeutschen Raum
in die Haushalte einzustellen plant? Sind überhaupt
Mittel eingeplant, und wenn ja, in welcher Höhe werden
sie anstelle des gestrichenen ICE-Projektes eingestellt?
({0})
- Ja, zusätzliche Mittel; denn Sie haben ja von Ihren
zahlreichen zusätzlichen Projekten gesprochen. Ich habe
im Bundeshaushalt bis jetzt nichts gefunden. Aber vielleicht können Sie uns da weiterhelfen.
Zweitens. Wann werden die mitteldeutschen Städte
Erfurt, Leipzig und Dresden an das reguläre europäische
und deutsche Schnellbahnnetz angebunden, erhalten also
einen regulären ICE-Anschluß? Damit meine ich nicht
das, was in Dresden derzeit passiert, daß ein Berliner
ICE einmal über Nacht abgestellt wird. Wann erhalten
Erfurt, Leipzig und Dresden einen regulären ICEAnschluß? Als Verkehrspolitiker wissen Sie da sicher
Bescheid und können uns die Jahreszahl verraten.
Herr Präsident, es waren eigentlich zwei
Zwischenfragen. Ich will jedoch versuchen, kurz darauf
einzugehen.
Albert Schmidt ({0})
Zunächst haben Sie noch einmal nach den Alternativprojekten gefragt. In einem Punkt möchte ich Herrn
Trautvetter übrigens ausdrücklich Recht geben: Die
Elektrifizierung muß auch nach meiner Einschätzung
durchgehend sein. Es macht keinen Sinn, sie zwischendurch zu unterbrechen. Ich versichere Ihnen: Wir werden koalitionsintern massiv dafür eintreten, daß dies tatsächlich geschieht.
({1})
Das aber nur als Randbemerkung.
Sie finden - ich habe das angedeutet - zusätzliche
Mittel für den Abschnitt Dresden-Görlitz. Das gehörte
bisher offiziell nicht zur Planung. Darüber hinaus wurde
bei der Europäischen Kommission Geld im Rahmen des
Strukturfonds, des EFRE-Programms, für die MitteDeutschland-Bahn beantragt.
({2})
Bisher hat die Finanzierung des Konzeptes gefehlt. Das
ist das Entscheidende. Die schönsten Pläne nützen
nichts, wenn sie Wolkenkuckucksheim, wenn sie nicht
bezahlbar sind. Damit ist die Finanzierung gesichert.
Zu Ihrer zweiten Frage nach der Jahreszahl darf ich in
Kürze sagen: Es wird Ihnen derzeit niemand, auch niemand in der Landesregierung, auf den Tag und auf das
Jahr genau sagen können, welche Stadt in welchem Jahr
mit welchem Anschluß bedient wird. Ich nehme diese
Frage aber gern auf, sie behandelt das Bedienungskonzept. Sie betrifft eigentlich nicht die Bundesregierung,
sondern die Deutsche Bahn AG.
ICE und erst recht die ICE mit moderner Neigetechnik, die auch engere Kurvenradien verkraften, können
prinzipiell auf jeder Strecke fahren. Ich werde das gern
noch einmal nachrecherchieren. Wir treten nachdrücklich dafür ein, daß insbesondere die Landeshauptstadt
Thüringens möglichst bald eine hochwertige Anbindung
an das Schnellbahnnetz, und zwar nicht nur in der NordSüd-Achse, sondern auch in der West-Ost-Achse, bekommt.
Ich versichere Ihnen: Das verfolgen wir nicht erst seit
heute. Wer mich kennt, weiß, daß wir genau dafür seit
vielen Jahren massiv Druck machen.
({3})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Manfred Heise, CDU/CSU.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gern nimmt Bundeskanzler Schröder für sich in Anspruch, ein Mann der
Wirtschaft zu sein, ein Mann also, der wirtschaftlich
denkt und somit sein finanzielles Konzept und Engagement primär unter dem Aspekt der Investitionen betrachtet, um ein Projekt produktiv voranzubringen.
Blicken wir vor diesem Hintergrund auf die aktuelle
Verkehrspolitik der Bundesregierung in den neuen Bundesländern, so stellt sich ein völlig anderes Szenario dar:
Der derzeitig noch zuständige Bundesminister Müntefering hat in den letzten zehn Monaten die Politik seines
Vorgängers Matthias Wissmann deutlich umgekehrt. Von
notwendigen Investitionen im Verkehrsbereich, so wie sie
noch unter der alten Bundesregierung - ich sage: trotz
vergleichbar schwieriger Haushaltslage - üblich waren,
kann gegenwärtig nicht mehr gesprochen werden.
Betrachtet man die Situation in Thüringen, so zeigen
sich für alle deutlich sichtbar die Früchte einer sinnvollen Verkehrsplanung aus den vergangenen Jahren. Die
wirtschaftlichen Daten des Freistaates Thüringen liegen
im Vergleich der neuen Bundesländer auf einem Spitzenplatz, vielleicht sogar auf dem Spitzenplatz. Daß dieser wirtschaftliche Erfolg maßgeblich durch die konsequente Umsetzung der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit unterstützt wurde, ist für mich mehr als offensichtlich.
Allerdings ist der weitere Aufschwung durch die
Politik der Bundesregierung massiv gefährdet. Nachdem
eine konkrete Aussage zur ICE-Strecke NürnbergErfurt-Berlin erst monatelang durch Herrn Müntefering
verzögert wurde, bietet sich nun vor Ort ein trauriges
Bild. Es sei nur am Rande erwähnt, daß man mit einer
derartigen Vorgehensweise kein investitionsfreundliches
Klima für zukünftige Industrieansiedlungen schafft.
({0})
Wie will Minister Müntefering den Menschen in Thüringen, aber auch in den anderen Bundesländern ein
650 Millionen DM teures Investitionsgrab plausibel erklären? Ich sage Ihnen: Über ein eindeutiges Wählervotum am 12. September in Thüringen darf sich die Bundesregierung nicht wundern.
Allein die bis Herbst 1998 gut begründete Aussicht,
daß in Erfurt ein ICE-Verkehrsknotenpunkt entstehen
wird, war für viele private und öffentliche Investitionen
in Thüringen maßgeblich. Beispielsweise wird der in
diesem Jahr in Betrieb genommene Container-Terminal
im Güterverkehrszentrum Erfurt auf Grund des
Baustopps nur unzureichend ausgelastet bleiben. Welche
fatalen Folgewirkungen sich aus einer solchen Abkoppelung aus dem überregionalen, ja europäischen Verkehrsnetz für eine Wirtschaftsregion und gleichzeitig
auch für den Arbeitsmarkt ergeben, braucht wohl nicht
weiter erläutert zu werden.
Indem die Bundesregierung auf dringend notwendige
Verkehrsinvestitionen verzichtet, werden de facto Arbeitsplätze vor Ort nicht geschaffen und bestehende sogar vernichtet.
({1})
Bei einem Verzicht auf jeweils 1 Milliarde DM an Investitionsvolumen schickt die Bundesregierung gleichzeitig etwa 15 000 Menschen aus dem Baugewerbe in die
Arbeitslosigkeit - für den ostdeutschen Arbeitsmarkt
eine geradezu beängstigende Vorstellung.
({2})
Albert Schmidt ({3})
Um Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die
Dramatik einmal am Beispiel der bereits erwähnten ICEStrecke Nürnberg-Erfurt-Leipzig-Berlin deutlich vor
Augen zu führen, mache ich folgende konkrete Rechnung auf: Das VDE 8.1 Nürnberg-Erfurt hat ein Investitionsvolumen von 3,9 Milliarden DM. Hinzu kommt
das VDE 8.2 Erfurt-Leipzig-Berlin mit 4,2 Milliarden DM. Selbst unter Berücksichtigung der bereits realisierten Bauvorhaben bleibt noch eine Restinvestitionssumme in Höhe von 7,45 Milliarden DM. Dies bedeutete mehr als 100 000 Arbeitsplätze vor Ort.
Will sich die Bundesregierung diesen Erfolg wirklich
entgehen lassen? Wo, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, bleiben hier Ihre sichtbaren Taten
zu Ihrem Wahlkampfslogan „Wir wollen Arbeit finanzieren, nicht Arbeitslosigkeit“? Auch ist es nur ein Bekenntnis des Kollegen Schmidt, wenn er davon spricht, man
müsse in den SPNV, also in den Schienenpersonennahverkehr, investieren und ihn attraktiver machen. Ich meine, es fahren schon eine Reihe leerer Züge durch die Gegend. Das Schienennetz muß nicht ausgebaut werden; der
Nahverkehr muß nur attraktiver werden.
Die Realität ist leider eine völlig andere. Die Bundesregierung kaschiert mit dem am 19. Mai 1999 gegenüber
der Presse angekündigten „Verkehrsprogramm Ost bis
2006“ ihre Streichlust bei den wichtigsten Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen in den neuen Ländern. Dieses
groß angekündigte Programm mit einer Bausumme von
insgesamt 7,9 Milliarden DM dient eigentlich nur der
Entlastung des Bundes um 3 Milliarden DM, die aus
EU-Strukturfondsmitteln stammen.
Letztlich zeichnet sich ein Bild ab, das noch zahlreiche dramatische Einsparungen auf dem Investitionssektor der Verkehrsplanung erwarten läßt. So müssen die
Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern wohl nachhaltig um ihre A 20 bangen. Welche Folgen dies für das
ohnehin strukturschwache Bundesland hat, mag sich jeder selbst ausmalen.
Die beabsichtigte Konzentration der Bauvorhaben der
Deutschen Bahn auf den Ausbau der bestehenden Schienenwege verhindert gleichzeitig eine Anpassung der
ostdeutschen Infrastruktur an das westdeutsche Niveau.
Dies stellt durch eine veränderte Schwerpunktsetzung
den langjährigen Konsens über den Vorrang für den
Aufbau Ost in Frage. Der Osten unseres Vaterlandes
wird somit aus der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und Europa abgekoppelt. So
sieht die Wirklichkeit aus, wenn Herr Schröder von der
„Chefsache Aufbau Ost“ spricht.
({4})
Unter der vormaligen Bundesregierung wurden Verkehrsprojekte in den neuen Ländern nicht zuletzt dank
des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes zügig in Angriff genommen. Der entscheidende Unterschied zur jetzigen Regierung ist, daß ihr einfach der
politische Wille fehlt, konsequent zu handeln und offensichtlich notwendige Bauvorhaben zu realisieren.
({5})
Stellt man nun die Gretchenfrage, wie es um den sogenannten Wirtschaftsmann Schröder steht, so reibt man
sich verwundert die Augen. Von unternehmerischem
Denken und zukunftsweisenden Investitionen in eine
Verkehrspolitik für die neuen Länder fehlt hier jede
Spur. Daß Herr Müntefering vor diesem Hintergrund
den politischen Scherbenhaufen bereitwillig Herrn
Klimmt überläßt und sogar das Kreuz der SPD-Zentrale
auf sich nimmt, spricht Bände. Die Bilanz des Ministers
Franz Müntefering fällt eindeutig negativ aus.
({6})
Weiterhin könnte man - leider verbietet es die Zeit noch auf die desaströse Wohngeldpolitik des Ministers
hinweisen. Aber auch hier muß man ja gespannt sein, ob
Eichel oder Müntefering Herr des Verfahrens ist. Die
Unterlegenen in diesem unwürdigen Streit stehen ohnehin schon fest - Minister Trautvetter hat es gesagt -: Es
sind die Länder und die Kommunen.
({7})
Noch ein letzter Nachtrag, der die verkehrte Welt in
dieser Regierung verdeutlicht: Die ICE-Strecke über Erfurt ist an Rot-Grün unter Beifall der Thüringer Parteigenossen gescheitert, obwohl sie vorher etwas anderes
gesagt haben, allen voran Herr Dewes. Dieser trommelt
gleichzeitig für den Bau der A 71 und A 73, nun unter
dem Beifall der Bündnisgrünen vor Ort. Ich muß feststellen, daß die angeblichen Vorreiter einer ökologischen Steuerreform konkret den Autobahnbau dem Ausbau der Schiene vorziehen.
({8})
So weit sind wir mittlerweile gekommen.
Herzlichen Dank.
({9})
Es spricht nun
Staatsminister Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zum Aufbau Ost atmet die Luft
des momentan tobenden Wahlkampfes
({0})
in einer Intensität, die es in den Jahren zuvor nicht gegeben hat, was man auch bei einigen eingebrachten Anträgen, insbesondere bei dem Antrag der CDU/CSU, sofort
erkennen kann. Ich will gar nicht auf das abstellen, was
Kollege Schubert schon zu Recht angemerkt hat, nämlich daß kein einziger neuer Vorschlag in dem Antrag
enthalten ist. Das wäre ja auch eine Premiere gewesen.
({1})
Ich will auf einen Punkt besonders eingehen, der
mich sehr geärgert hat und der heute schon eine Rolle
gespielt hat. In diesem Punkt steckt ein wenig Verdrängung, was ich nicht unkommentiert lassen will. Ihr Antrag hat die Überschrift „Aufbau Ost endlich wieder
richtig machen“. Auf dem Wort „wieder“ liegt die Betonung.
({2})
Sie entwerfen damit ein Bild, das ausdrücken soll, daß
Sie alles richtig gemacht haben und wir jetzt alles falsch
machen.
({3})
In den zurückliegenden acht Jahren, in denen ich auf
der Oppositionsbank saß, habe ich Ihnen nie unterstellt,
daß Sie beim Aufbau Ost alles falsch machen.
({4})
Es gab sehr wohl richtige Entscheidungen. Sie müssen
sich aber schon fragen lassen - ich will Sie gar nicht an
die vergangenen Debatten erinnern -: Erinnern Sie sich
wenigstens an die großen und schwerwiegenden Fehlentscheidungen, die mit Ihrer Mehrheit gefällt worden
sind und die bis heute in der ostdeutschen Realität fortwirken?
({5})
Sie haben zum Beispiel die Zeiträume falsch eingeschätzt, indem Sie gesagt haben, in drei bis fünf Jahren
werde alles in Ordnung sein. Dementsprechend sind
Lohnabschlüsse getätigt worden. Heute klagen wir darüber, daß die Lohnentwicklung schneller war als der
Zuwachs an Produktivität. Hier gibt es entsprechende
Kausalitäten.
({6})
Haben Sie vergessen, daß die offene Vermögensfrage
bis heute fortwirkt? Wir haben lang und breit über das
Thema „Rückgabe vor Entschädigung“ geredet. Sie haben Ihre Entscheidung durchgesetzt und damit das Handeln der Verwaltungen der Kommunen im Osten in den
letzten Jahren auf Grund der entstandenen Kosten beeinflußt.
({7})
Zum Thema Treuhandanstalt. Heute ist gesagt worden, daß viele Unternehmen weggebrochen sind. Das hat
natürlich mit der Tatsache zu tun, daß Konzeptionen in
der Schublade geblieben sind und daß gerade zu Beginn
der 90er Jahre nicht saniert worden ist.
({8})
Zum Thema Staatsverschuldung: Ich weiß, daß Sie da
schon wieder aufjaulen. Ich erinnere mich noch an die
Zeitungsannoncen, in denen Steuererhöhungen wegen
der Deutschen Einheit ausgeschlossen wurden. Sie haben statt dessen die Verschuldung nach oben getrieben,
die Ausgaben den Versicherungssystemen per Gesetz
aufgebürdet und dadurch die Einheit von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzieren lassen. Auch dies
müssen wir nach dem Regierungswechsel als große Last
mitschleppen. Die Situation einfach zu ignorieren und
zu sagen, man habe alles richtig gemacht, ist schon der
Gipfel der Frechheit.
({9})
Ich will noch auf den Vorwurf einer angeblichen Erpressung durch Hans Eichel eingehen. Natürlich ist die
Handlungsfähigkeit des Bundes entscheidend dafür, wie
lange und wie stark wir Ostdeutschland unterstützen
können. Während wir diese Debatte abhalten, in diesen
zwei Stunden gehen zirka 20 Millionen DM an Steuergeldern als Zinszahlungen an die Banken. Dieser Betrag
ist so hoch wie der Betrag, den wir für die Absatzförderung in Ostdeutschland im gesamten Haushalt zur Verfügung stellen können. Das ist die Lage. Trotzdem stellen Sie sich hin und sagen, dies habe nichts miteinander
zu tun. Das ist Politik nach Art eines Wolkenkuckucksheims.
({10})
Deswegen sage ich ganz klar: Es gibt zu der Konsolidierung auch aus ostdeutscher Sicht überhaupt keine
Alternative; wir haben ein großes Interesse daran. Ähnlich wie die Tatsache, daß sich nur ein Reicher einen
armen Staat leisten kann, gilt natürlich auch, daß nur
eine prosperierende und ökonomisch potente Region,
wie sie vielleicht im Fall von Bayern oder BadenWürttemberg, aber nicht für den Fall der ostdeutschen
Länder gegeben ist, einen armen Bundesstaat verkraften
kann. Wir brauchen einen Bundesstaat, der über viele
Jahre hinweg helfen kann. Die Konsolidierung ist bei
allen Schmerzen, die gar nicht wegdiskutiert werden,
zutiefst im Interesse des Ostens, und das muß man den
Leuten sagen.
({11})
Es werden auch nicht nur Lasten geschultert, sondern
wir machen natürlich auch etwas, um Mißstände zu beseitigen, die letztlich durch Ihre Politik verursacht worden sind. Wir entlasten zum Beispiel die Familien.
Wenn wir nach unserer Konzeption - der Familienlastenausgleich ist ein Element davon - einer typischen
ostdeutschen vierköpfigen Familie, in der der Vater ein
ostdeutsches Durchschnittseinkommen verdient, die
Mutter arbeitslos ist und in der zwei schulpflichtige
Kinder leben, in den nächsten vier Jahren insgesamt
über 7 600 DM in Form geringerer Belastung zurückgeben können, dann ist das nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch vernünftig, auch für die Wirtschaft in den neuen Ländern.
({12})
Herr Krüger, das nur einmal so nebenbei: Sie haben
vorhin gesagt, Sie hätten niemand gefunden, der das
CDU-Papier unterschrieben hat. Sie sagten, Sie kennen
keinen. Ich will es Ihnen sagen. Das ist Frau Grehn. Das
ist eine ehemalige Kollegin von Ihnen. Ich stelle Ihnen
das gern zur Verfügung, wenn Sie das wollen. Ich habe
das Papier, und ich habe es auch im Original unterschrieben. Ich rede nämlich im Gegensatz zu Ihnen mit
den Leuten. Das unterscheidet uns.
({13})
Meine Damen und Herren, wir haben im Osten in den
letzten Jahren unabhängig von großen politischen Debatten und auch Fehlentscheidungen, die getroffen worden sind - ich habe einiges angesprochen -, viel erreicht. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Obwohl
das natürlich seine Voraussetzungen in der Solidarität
der alten Bundesländer gegenüber Ostdeutschland hat,
es ist vor allen Dingen der Leistungskraft, dem Engagement und dem Durchhaltewillen der Ostdeutschen zu
danken, daß wir heute, zehn Jahren nach der friedlichen
Revolution, an einer solchen Stelle sind.
Aber ich finde, man darf auch in seiner Dramatik
nicht verschweigen, daß die Probleme, vor denen wir
stehen, noch riesig sind. Dazu gehört natürlich, daß wir
seit 1997 ein langsameres gesamtgesellschaftliches
Wachstum als in den alten Ländern haben. Auch das
werden wir in diesem Jahr noch nicht kompensieren
können. Seit zwei Jahren, jetzt im dritten Jahr haben wir
diesen Pfad. Da haben wir noch nicht regiert, Herr Türk,
da gab es noch andere, die die Mehrheit in diesem Parlament hatten.
({14})
Das ist eine schwere Last. Dazu gehört, daß der industrielle Bereich zu schmal ist. Dazu gehört, daß sich
der Baubereich in einer massiven Krise befindet und
daß die Arbeitsplatzgewinne - denn wir haben auch
Gewinne in der ostdeutschen Industrie und im Dienstleistungsbereich - überkompensiert werden durch nach wie
vor überproportional hohen Arbeitsplatzabbau in der
Bauwirtschaft. Das ist die Situation.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren,
glaube ich, ist es wichtig, daß wir den Menschen deutlich sagen: So schwierig ist der Weg. Wir dürfen es uns
auch nicht zu leicht machen, indem wir meinen, mit
Planspielen oder mit ähnlichen anderen schnellen Lösungen könnten diese schwierigen Wegstrecken jetzt in
drei bis vier Jahren geschultert werden. Ich glaube, wer
das tut - da setzt auch meine Kritik an der PDS und
ihrem Papier an -, der nimmt nicht das ureigenste Interesse der Ostdeutschen wahr - ich will nicht sagen, er
vergeht sich an diesen Interessen -, denn wir haben noch
eine längere Wegstrecke vor uns. Das darf man, so unbequem es auch ist, nicht verheimlichen.
({15})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung fängt
nach acht Jahren Vereinigungspolitik natürlich nicht im
luftleeren Raum an. Es sind im Prinzip drei Ebenen, die
sich parallel durch die Politik der Bundesregierung für
die neuen Länder in den letzten Monaten gezogen haben, und ich behaupte einmal, daß sie sich auch in den
kommenden Jahren, bis zur nächsten Bundestagswahl
immer bei ostdeutschen Angelegenheiten manifestieren
werden.
Erstens müssen wir Fehlentwicklungen, soweit wir
das heute noch können, soweit wir auch politisch dafür
noch zuständig sind, die Sie durch eine falsche Politik,
bezogen auf den Aufbau Ost, eingeleitet haben, korrigieren. Das ist der erste Punkt.
({16})
- Ich sage Ihnen gleich, welche das sind.
Der zweite Punkt, um den es geht, ist folgender: Wir
müssen Dinge, die Sie richtig gemacht haben, die vernünftig sind, bei denen Sie aber nicht mehr die politische Kraft hatten, sie für Ostdeutschland bereitzustellen,
verlängern und bewahren, denn wir müssen das Fahrrad
nicht neu erfinden.
Dann gibt es die dritte Ebene, auf der wir Zukunftsfelder definieren, deren Bearbeitung man verstärken
muß, wo Sie das gar nicht getan haben. Dort, auf dieser
Zukunftsebene, liegen die wichtigen Dinge, die verstärkt
werden müssen, und genau das haben wir getan.
Sie haben nach Beispielen gefragt, meine Damen und
Herren, und diese will ich Ihnen nicht vorenthalten. Ich
komme zu dem ersten Punkt, zu dem, welche Fehlentwicklungen da waren. Da erinnere ich Sie an etwas,
womit Sie in Ostdeutschland durch den Wahlkampf getigert sind, nämlich das Investitionszulagengesetz. Das
haben Sie damals übrigens gemeinsam mit uns verabschiedet. Wir haben ja 1994 zugestimmt. Sie haben jetzt
verschwiegen - vielleicht wußten Sie es nicht; dann sage
ich Ihnen, daß das Ihre damalige Regierung verschwiegen hat -, daß das Investitionszulagengesetz von der
Europäischen Kommission gestoppt worden ist und
nicht in Kraft treten konnte.
({17})
Sie haben 1998 in Ostdeutschland einfach Wahlkampf
gemacht und haben sich nicht um diese Dinge gekümmert. Ihre Regierung hat das auch nicht getan. Wir
mußten als erstes dieses zentrale, wichtige Investitionsinstrument für Ostdeutschland wieder frei bekommen
und grünes Licht aus Brüssel bekommen. Das ist einer
der Fehler, die wir korrigieren mußten.
({18})
Einen zweiten Fehler will ich ebenfalls ansprechen
- darüber werden wir uns demnächst im Parlament
streiten -: Das ist der Landerwerb durch ostdeutsche
Bauern. Sie wissen, daß die Kommission das Ganze gestoppt hat. Wir werden im Geist der Vereinbarung von
1994 eine Veränderung der Flächenerwerbsregelung
für Ostdeutschland hinbekommen, die die ostdeutschen
Bauern nicht benachteiligt, die vielmehr Chancengleichheit gewährleistet. Das ist etwas anderes als das, was
auch aus Ihren Reihen zum Teil gefordert wird. Auch in
dieser Frage haben wir die Fehlentwicklung, die darin
bestand, daß man ein Vorhaben nicht der Europäischen
Kommission zur Genehmigung vorgelegt hat, korrigiert.
Wenn Sie auch noch ein drittes Beispiel hören wollen, dann nenne ich Ihnen die Altschuldenregelung.
({19})
- Ich bin jetzt gerade so schön in Fahrt, Sie können mir
hinterher gern eine Frage stellen, Herr Luther.
Bei der Altschuldenregelung haben wir auf der untergesetzlichen Ebene, im sogenannten Lenkungsausschuß,
Erleichterungen geschaffen. Herr Luther, Sie werden
mir das bestätigen; Sie wissen, die Erleichterungen gibt
es. Über 700 ostdeutsche Wohnungsgesellschaften sind
seit dem Regierungswechsel durch unsere Erleichterungen vorfristig entschuldet worden. Das ist doch nicht
nichts; vielmehr ist das für die Wohnungsunternehmen,
die investieren können, für die ostdeutsche Bauwirtschaft und für viele andere wichtig.
Das waren einige Beispiele aus der ersten Ebene, der
Fehlerkorrektur. Beispiele aus der zweiten Ebene will
ich ebenfalls nennen. Dabei geht es darum, richtige Dinge weiterzuführen, zu deren Weiterführung Sie nicht die
Kraft hatten. Ich nenne ein Beispiel - wir waren gerade
bei der Baubranche -, nämlich das KfW-Wohnraummodernisierungsprogramm.
({20})
Wir haben durch die mittelfristige Finanzplanung von
Herrn Waigel einen objektiven Maßstab in der Hand;
dort können wir nämlich genau nachlesen, wie das bei
einer Regierung Kohl gelaufen wäre, wenn es den Regierungswechsel nicht gegeben hätte. Ich kann Ihnen nur
sagen: Das KfW-Wohnraummodernisierungsprogramm
wäre nicht verlängert worden; es wäre im April ausgelaufen.
({21})
- Ja, schütteln Sie nicht den Kopf; das ist so. Das steht
so in der mittelfristigen Finanzplanung. Wir haben 1999
10 Milliarden DM daraufgelegt.
({22})
Daran hängen über 60 000 Arbeitsplätze in der ostdeutschen Bauwirtschaft, sagen mir Experten. Das, was wir
gemacht haben, ist wichtig gewesen. Sie haben dazu
nicht die politische Kraft gehabt; wir haben sie gehabt,
und das ist in Ordnung.
({23})
Ich komme zu der dritten Ebene, dazu, wo wir neue
Schwerpunkte und andere Schwerpunkte als Sie setzen.
Da kann ich auch eine ganze Reihe von Dingen nennen.
Das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist genannt worden. Wenn ich in ostdeutsche Regionen komme und mir die Leute zum Teil sagen: „Wir
haben eine Jugendarbeitslosigkeit, die um 22 Prozent
geringer als im Vorjahr ist“, dann sage ich Ihnen: Das ist
eine tolle Leistung. Ich bin auch ein wenig stolz darauf,
daß das gelungen ist und daß wir einen ordentlichen
Schwerpunkt mit 40 Prozent der Mittel für Ostdeutschland zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gesetzt
haben. Das war in Ordnung. Diesen Schwerpunkt haben
Sie nicht gesetzt; wir setzen ihn, weil die Fragen der Jugend letztendlich Zukunftsfragen sind.
({24})
Es gehört auch der gesamte Bereich der Forschungsförderung dazu. Das Programm Inno-Regio ist genannt
worden. Sie haben nichts, gar nichts, für benachteiligte
Regionen gemacht. Wir haben einen Wettbewerb ausgeschrieben, um Innovationspotentiale in diesen Regionen
freizusetzen. Wir wollen dabei erstmalig 25 Modellregionen fördern. Dafür werden wir 500 Millionen DM
in die Hand nehmen. Ich höre jetzt, daß infolge der Ausschreibungen über 400 Anträge eingegangen sind. Das
ist mehr als erfreulich. Ich weiß, da ist ein richtiger
Ruck durch die Regionen gegangen. Wir werden sie
nicht alle fördern können. Es sind Potentiale vorhanden,
die nicht alle brachliegen werden. Wir werden über diese 25 Modellregionen hinaus dort vieles anstoßen können.
Es wäre noch vieles weiter auszuführen. Wenn man
hier sitzt und das alles mit anhört, könnte man versucht
sein, die ganze Rede wegzuwerfen und die Redezeit mit
Entgegnungen zu füllen. Ich will das alles nicht tun.
Eine Sache tut richtig weh. Zum Bundesverkehrswegeplan ist viel gesagt worden; ich habe da nichts zu
ergänzen. Es verhält sich genauso: Wir verstärken die
Mittel. Wir werden im nächsten Jahr mehr für den Infrastrukturaufbau und für Wohnungen zur Verfügung haben, als Sie das in dem betreffenden Jahreshaushalt, mit
dem Sie in den Bundestagswahlkampf 1998 gezogen
sind, stehen hatten. Das ändert aber nichts daran, daß
dennoch mittelfristig das Loch von 90 Milliarden DM
bleibt. Das ist so. Das ist bitter. Wir kürzen dort nichts;
im Vergleich mit dem Haushalt der Regierung Kohl von
1998 bauen wir auf, und trotzdem können wir die
90 Milliarden nicht finanzieren. Das ist die Lage. Und
Sie setzen sich hier wohlfeil hin und tun so, als ob
Finanzfragen mittelfristig nie eine Rolle gespielt hätten.
Offensichtlich ist es so, meine Damen und Herren.
({25})
Ich will zum Schluß noch etwas zu Hans Eichel und
dem abermaligen Vorwurf der Erpressung sagen. Herr
Trautvetter ist nicht mehr da; ich möchte aber trotzdem
darauf zurückkommen.
({26})
Das hat sehr viel mit Wahlkampf zu tun; das sehe ich
genauso. Ich erinnere mich aber noch daran, als im
Frühjahr 1996, als hier im Parlament die kommunalen
Altschulden verhandelt wurden, der damalige BundesStaatsminister Rolf Schwanitz
finanzminister Waigel dafür gesorgt hat, daß für die
Eigenkapitalhilfe der Konsolidierungsfonds nicht aus
dem Parteienvermögen aufgestockt worden ist. Ein Jahr
lang gab es die Verknüpfung dieser beiden Themen.
Damals sind die ostdeutschen Länder im wahrsten Sinne
des Wortes erpreßt worden. Darüber habe ich von Herrn
Trautvetter nichts gehört, auch nicht von einem CDUMinisterpräsidenten. Das ist eine Politik, die wir nicht
betreiben werden. Diese Politik aber haben Sie in den
letzten Jahren gepflegt.
Schönen Dank, meine Damen und Herren.
({27})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nunmehr der Kollege
Dr. Joachim Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst eine
Bemerkung zur Rede von Herrn Schwanitz: Herr
Schwanitz, Sie haben ein Thema, das früher zu Ihren
Lieblingsthemen gehörte, wenn Sie uns bei unseren Bemühungen für den Osten mit Kritik, häufig auch mit
Häme bedacht haben, heute überhaupt nicht behandelt:
den zweiten Arbeitsmarkt. Ich habe einmal mit Ihnen
in Dresden bei den Gewerkschaften eine Podiumsdiskussion geführt. Damals haben Sie über nichts anderes
geredet als über den zweiten Arbeitsmarkt. Dieses Thema gibt es offensichtlich nicht mehr.
({0})
Ich will Ihnen sagen: Sie haben das wichtigste Programm des zweiten Arbeitsmarktes im Osten, die Lohnkostenzuschüsse, kaputtgemacht,
({1})
ein Programm mit einer Umsetzungsquote von 60 Prozent. Dieses Programm ist durch Ihre Maßnahmen beerdigt worden.
({2})
- Reden Sie mit Handwerkern in den neuen Bundesländern! Die werden es Ihnen erzählen. Das war eine Ihrer
Fehlleistungen in diesem Jahr.
({3})
Sie haben zuletzt über Innovationen geredet. Im
Frühjahr waren Sie bei sächsischen Forschungs-GmbHs;
denen Sie etwas vollmundig erzählt haben: Auch auf
diesem Gebiet wird alles besser. Wollen wir einmal sehen, wie die Bilanz im Moment aussieht. Ich will mich
zur Situation in der wirtschaftsnahen Forschung äußern.
Offenbar besteht kein Zweifel, daß sich die auf lange
Sicht klein- und mittelständisch geprägte Wirtschaft nur
durch Innovationen auf nationalen und internationalen
Märkten halten kann. Nur so ist es auf Dauer möglich,
wettbewerbsfähige Produkte anzubieten. Innovationen
aber - das weiß jeder - hängen mit gezielter Forschung
und Entwicklung, hier vor allen Dingen wirtschaftsnaher
Forschung zusammen.
Wie sieht die Situation aus? Nach 1990 gab es in Folge des totalen Wirtschaftsumbruchs einen starken Rückgang der Mitarbeiterzahlen. Seit 1995 ist ein leichter
Anstieg zu verzeichnen, der sicherlich steigerungsfähig
ist. Im Moment haben wir in der wirtschaftsnahen Forschung im Osten 21 000 Beschäftigte. Das ist erfreulich,
entspricht aber erst 6 Prozent des gesamtdeutschen Industrieforschungspotentials. Das heißt: Auf niedrigem Niveau hat eine Stabilisierung stattgefunden. Deshalb ist es
unbedingt notwendig, die wirtschaftsnahe Forschung
weiterhin gezielt und intensiv zu unterstützen.
({4})
Dies ist eine der Hauptaufgaben im Hinblick auf die
Entwicklung der ostdeutschen Forschungslandschaft.
Im vergangenen Jahr haben etwa 2 700 Betriebe Forschung und Entwicklung betrieben. Das entspricht einer
Steigerungsrate von zirka 10 Prozent; das ist sehr erfreulich. Nach einem Gutachten der Forschungsagentur
Berlin sind die Unternehmen, die Forschung und Entwicklung betreiben - das ist nicht überraschend -, anderen in allen betriebswirtschaftlichen Daten überlegen.
Dies betrifft den Umsatz, aber auch die Exportrate. In
diesem Zusammenhang ist ganz besonders interessant,
daß die meßbaren Fortschritte - es hat sich gelohnt, die
Forschungslandschaft zu unterstützen - in erster Linie
auf die Förderung durch den Bund und die ostdeutschen
Bundesländer zurückzuführen sind; denn weit über 90
Prozent der FuE betreibenden Unternehmen haben Fördermittel beantragt und auch erhalten. Das heißt: Wir
haben wirklich etwas für sie getan. Und die Leute sind
auch dankbar dafür.
Rückblickend ist es daher erfreulich, daß sechs von
zehn Firmen innerhalb der letzten drei Jahre im Zusammenhang mit Förderprojekten Personal eingestellt haben. Dadurch sind einige Tausend Arbeitsplätze geschaffen worden. Besonders wichtig ist, daß - das
konnte nachgewiesen werden - durch die FuEFörderung neue Geschäftsfelder erschlossen worden
sind. Das ist das entscheidende, um sich überhaupt auf
den Märkten zu behaupten.
Zur weiteren Konsolidierung der wirtschaftsnahen
Forschungslandschaft, die unabdingbar ist, ergeben sich
nach wie vor drei Aufgaben:
Erstens. Die verstärkte Wiederansiedlung von Personal für Forschung und Entwicklung in kleinen und
mittelständischen Unternehmen, vor allem, um eine erheblich intensivere Kooperation zwischen den kleinen
und mittelständischen Betrieben und der aus außeruniversitärer Forschung, Hochschulforschung und externer
Industrieforschung bestehenden Forschungslandschaft
zu erreichen. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß die
Beiträge der gesamten ostdeutschen Forschungslandschaft zur Wertschöpfung in den neuen Bundesländern was notwendig ist - deutlich erhöht werden. Darüber
hinaus ist die gezielte Kooperation aller beteiligten UnStaatsminister Rolf Schwanitz
ternehmen und Institutionen ein entscheidender Faktor
für die schnelle und effiziente Umsetzung von Ideen in
wettbewerbsfähige Produkte.
Zweitens. Die weitere angemessene finanzielle Unterstützung der Einrichtungen der externen Industrieforschung - die Sie, Herr Schwanitz, besucht haben -,
die zur Zeit die wesentlichsten Träger der wirtschaftsnahen Forschung sind.
Drittens - dies ist besonders wichtig -: die bevorzugte Förderung von technologieorientierten, innovativen Existenzgründungen.
Diese Aufgaben sind unumstritten. Ihre Erfüllung
muß vor allem mittelfristig gesichert werden. Aus diesem Grunde darf es zukünftig keine Degressionen bei
der Forschungsförderung geben.
({5})
Bis zum Auslaufen des Solidarpaktes, das heißt bis
2004, sollte die Förderung der wirtschaftsnahen Forschung auf gleichem Niveau gehalten werden. Es gibt
kein - auch kein ordnungspolitisch überzeugendes - Argument, die Förderung früher abzusenken. Das gilt insbesondere für die Personalförderung. Der noch vorhandene 30prozentige Produktivitätsunterschied zwischen Ost und West ist nur auf diese Art und Weise
spürbar und in einem überschaubaren Zeitraum zu reduzieren.
Die neue rotgrüne Bundesregierung hat im Wahlkampf auch verkündet, die wirtschaftsnahe Forschung in
den neuen Ländern noch stärker als bisher zu unterstützen. Herr Schwanitz hat dies den sächsischen Landsleuten gesagt. Auch hier sollte alles besser werden.
Wie sieht die Situation heute, nach einem Jahr, aus?
Die neue Regierung hat im Sommer heimlich, still und
leise eine Haushaltssperre verfügt, die alle der ostdeutschen Industrieforschung gewidmeten Programme
lahmlegt.
({6})
Sie hat diese Haushaltssperre, nachdem ein Sturm der
Entrüstung durch das Land gegangen war, vor wenigen
Tagen partiell von 12 auf 6 Prozent zurückgenommen.
Immer noch gilt, daß in diesem Jahr für diese Program-
me praktisch keine Neuanträge gestellt werden können.
Dies gilt ebenso für das Jahr 2000, da auch die Ver-
pflichtungsermächtigungen für das Jahr 2000 zurückge-
fahren werden.
Weiterhin führt die Sperre dazu, daß in diesem Jahr
nach unseren Recherchen 20 Millionen DM, nach Re-
cherchen der AiF 40 Millionen DM nicht verfügbar
sind. Wie wir weiter erfahren haben, beabsichtigt die
Regierung, das der Unterstützung von technologie-
orientierten innovativen Existenzgründungen - ich be-
ziehe mich auf die dritte von mir genannte Aufgabe -
gewidmete Programm FUTOUR zum Jahresende
gänzlich einzustellen.
[Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Das ist das
schlimmste!)
Auf diese Weise wird eine der innovationspolitisch herausragenden Aufgaben in den neuen Bundesländern de
facto ad absurdum geführt.
({7})
Weiterhin sehen die Planungen der neuen Regierung
vor, das Programm „Forschung und Entwicklung in
den neuen Bundesländern“ bis zum Jahre 2003 drastisch von 270 auf 180 Millionen DM, das heißt um ein
Drittel, zu reduzieren. Die Regierung beweist damit, daß
sie noch immer nicht begriffen hat, wo und auf welche
Weise dem Osten wirklich wirkungsvoll geholfen werden kann.
({8})
Bezeichnend für den Geist der Regierung bei der
Kürzung der Ostförderung ist, daß aus der berühmten
Zukunftsmilliarde für den Aufwuchs von Forschung und
Entwicklung nicht eine einzige Mark in das der ostdeutschen Industrieforschung gewidmete Programm „Forschung und Entwicklung in den neuen Bundesländern“
fließt.
({9})
Im Gegenteil: Dieses Programm wird gerade um ein
Drittel gekürzt. Ich gebrauche dieses Wort nicht allzu
gerne; aber ich muß Ihnen sagen: Das wird dann Chefsache Ost in Sachen Industrieforschung genannt.
In den letzten Wochen bin ich von vielen Menschen
in dieser Angelegenheit angesprochen worden. Die Betroffenen empfinden dies als Betrug - es gibt kein anderes Wort dafür ({10})
an ihren Interessen und an ihrer Entwicklung.
({11})
Jedenfalls sieht man, welch unglaublich große Schere
hier zwischen Anspruch und Realität besteht.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, unverzüglich die Haushaltssperre für die ostdeutschen Forschungsprogramme aufzuheben.
({12})
- Im Interesse der Sache, Herr Schmidt, und im Interesse des ostdeutschen Vorwärtskommens.
({13})
- Ich habe immer so geredet.
({14})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({15})
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r.-Ing. Joachim Schmidt ({16})
Ja, sicher. Ich will Ihnen sagen: Ich habe genug Erfahung, wie es ist, wenn man gegen den Stachel löckt. Ich
abe von keinem einzigen in diesem Raum, von Ihnen
uletzt, Nachhilfeunterricht nötig in der Vertretung osteutscher Interessen oder ostdeutscher Forschungsinterssen.
({17})
Wir fordern weiterhin, daß die Verpflichtungserächtigungen zurückgenommen werden, und vor allen
ingen, daß das Programm FUTOUR ohne Kürzungen
ortgesetzt wird. Ich füge hinzu, daß die Förderung der
irtschaftsnahen Forschung nach 2004 ohne Wenn und
ber integraler Bestandteil eines Fortsetzungsproramms Aufbau Ost sein muß, das sich an den auslauenden Solidarpakt anschließt.
Ich komme zum Schluß. Wir rufen auch die ostdeutchen Bundesländer auf - über die Parteigrenzen hineg, denn sie sind alle betroffen -, sich unseren Fordeungen anzuschließen. Das gilt auch für die ostdeutschen
bgeordneten der Koalition. Sie können auf unsere Unerstützung bauen, denn für uns gilt nach wie vor ohne
bstriche: Der Aufschwung Ost war, ist und bleibt unsee wichtigste politische Aufgabe.
Vielen Dank.
({18})
Als letzte Rednerin
n dieser Debatte hat nun die Kollegin Barbara Wittig
on der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Daen und Herren! Gestatten Sie mir bitte, daß ich mich
unächst einmal an Herrn Dr. Schmidt wende. Wenn
ie, Herr Dr. Schmidt, behaupten, wir hätten ein wichties Förderinstrument kaputtgemacht, dann muß ich Ihen sagen, wir haben zum 1. August die Zielgenauigkeit
ieses Instrumentes hergestellt,
({0})
ndem wir beispielsweise für junge Menschen unter 25
ie Förderungsmöglichkeiten herstellen und - das hat es
och nie gegeben - für ältere Menschen ab 50 ebenso.
({1})
as möchte ich Ihnen einfach einmal mitteilen, weil
hnen das anscheinend entfallen ist.
Aufbau Ost richtig machen! Aufbau Ost muß weiterehen! Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit noch einmal
uf die ostdeutsche Arbeitsmarktpolitik lenken, die
err Dr. Schmidt ebenfalls vermißt hat. Meine Damen
nd Herren, wir arbeiten arbeitsteilig, deshalb spreche
ch speziell dazu. Diesbezüglich bedeutet Aufbau Ost
ür uns, arbeitsmarkpolitische Instrumentarien und Antrengungen zu verstetigen. Das heißt: Arbeitnehmerchaft, Betriebe und Verwaltungen müssen den Einsatz
er Mittel längerfristig kalkulieren können. Ich weiß,
eine Damen und Herren von der Opposition, daß das
für Sie ein wunder Punkt ist. Denn Sie haben der Regierung Schröder eine arbeitsmarktpolitische Achterbahn
hinterlassen: mal rauf, mal runter, mal kürzen, mal klotzen - weil gerade Wahlen vor der Tür standen.
({2})
Das war Ihre Politik. Alle Fachleute waren sich einig,
daß das der falsche Weg ist.
Die Wahlkampf-ABM der alten Bundesregierung
sind ausgelaufen bzw. laufen aus. Deshalb hat die Regierung Schröder Stetigkeit in die Arbeitsmarktpolitik
Ost gebracht. Sie hat das Finanzvolumen für die aktive
Arbeitsmarktpolitik
({3})
- hören Sie sich doch zuerst einmal die Zahlen an - von
39 Milliarden DM auf 45,3 Milliarden DM im Jahre
1999 aufgestockt.
({4})
Auf die neuen Länder entfallen davon 22,8 Milliarden
DM oder 50,3 Prozent. Dadurch haben wir die Arbeitsämter wieder handlungsfähig gemacht.
Dieser hohe Mitteleinsatz zeigt übrigens Wirkung:
1999 war die Zahl der in ABM Beschäftigten in den
neuen Ländern mit rund 163 000 im Jahresdurchschnitt
um zirka 10,7 Prozent über dem Vergleichswert von
1998.
Frau Kollegin Wittig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klinkert?
Ja, Herr Klinkert, gerne.
({0})
- Er will bestimmt nach dem Bergbau fragen.
Man sollte Ihnen hellseherische Fähigkeiten zusprechen, ob es auch zu logistischen reicht, werden wir sehen. - Frau Kollegin Wittig, Sie haben eben über die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik gesprochen.
Genau.
Wie bewerten Sie die
vertragsbrüchige Kürzung der Mittel für die Braunkohlesanierung? Sie wissen, daß es ein zwischen der
Bundesregierung und den Ländern abgeschlossenes
Bund-Länder-Verwaltungsabkommen gibt, das bis zum
Jahre 2002 gilt. Dieses Abkommen will die rotgrüne
Bundesregierung brechen, indem sie in den Jahren 2001
und 2002 je 50 Millionen DM streicht. Ist das Ihre Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik?
Herr Klinkert, ich antworte
Ihnen gerne, denn gerade mit diesem Argument sind Sie
schon landauf, landab durch Brandenburg und Sachsen
gezogen. Ich möchte zunächst einmal vermerken: In der
Zeit, als Sie noch als Parlamentarischer Staatssekretär
im Bundesumweltministerium Verantwortung trugen,
hätten Sie die Möglichkeit gehabt, die Mittel in dem ersten Verwaltungsabkommen zu erhöhen. Sie haben sich
damals dafür ausgesprochen, sie zu senken, weil ein
Großteil der Sanierungsaufgaben bereits erledigt ist.
({0})
Wenn Sie mit Herrn Dr. Fritz von der LMBV sprechen, wird er Ihnen sagen, daß die Hälfte der Sanierungsarbeiten erledigt ist.
({1})
- Ich habe gar nicht bestritten, daß das eine gute Leistung war.
({2})
- Jetzt halt doch einmal den Mund, dort drüben, jetzt rede ich.
({3})
Aber man muß in diesem Zusammenhang auch berücksichtigen, daß die Beschäftigungswirkung gerade
während der ersten Jahre unwahrscheinlich hoch war.
All das, was jetzt noch kommen wird, wird wesentlich
weniger beschäftigungsintensiv sein, weil die jetzt noch
zu erfüllenden Aufgaben der Grundwasserhebung und
all diese Dinge - das wissen Sie besser, als ich das jetzt
in der Kürze darstellen kann - einfach nicht mehr so beschäftigungsintensiv sind.
Ich habe auch bei der LMBV nachgefragt, wie die
LMBV als Projektträger dazu steht. Man hat mir gesagt:
Okay, das können wir verschmerzen. - Reicht das?
({4})
Ich fahre mit den Ausführungen zu den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen fort und möchte in diesem Zusammenhang ergänzen, daß auch bei den Strukturanpassungsmaßnahmen der Beschäftigungsstand in den
neuen Ländern im Juni 1999 deutlich über dem Niveau
des Vorjahresmonats lag. 1999 werden hier voraussichtlich 240 000 Arbeitnehmer beschäftigt werden. Zum
Vergleich: 1998 waren es nur 174 000. Insgesamt stehen
für die Strukturanpassungsmaßnahmen 1999 rund 6,3
Milliarden DM bzw. 37 Prozent mehr als 1998 zur Verfügung. 90 Prozent davon - das muß natürlich auch gesagt werden - fließen in die neuen Länder. Ich weiß
nicht, wo Sie immer hernehmen: Der Aufbau Ost sei ein
Abschwung Ost.
Was bedeuten nun diese Zahlen für die Entlastung
des Arbeitsmarktes? Nach Berechnungen des Instituts
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lag die Entlastung der Arbeitslosenzahl durch die wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien wie ABM, SAM
und die Förderung der beruflichen Weiterbildung 1998
bei nur 654 000 Personen im gesamten Bundesgebiet,
davon 395 000 in den neuen Ländern.
Für das Jahr 1999 wird der Entlastungseffekt auf
727 000 Personen geschätzt, davon 427 000 in den
neuen Ländern. Dies ist wiederum ein Anstieg von 11,2
bzw. 8,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Werfen wir bitte auch noch einen Blick auf die Auguststatistik bezüglich des Abbaus der Jugendarbeitslosigkeit: 100 000 arbeitslosen und noch ausbildungssuchenden Jugendlichen wollten wir eine Ausbildung,
Qualifizierung oder Beschäftigung anbieten. Dieses Ziel
haben wir bereits im Mai erreicht. Bis Ende August sind
rund 178 000 Jugendliche in Maßnahmen des Sofortprogramms eingetreten, davon entfallen auf die neuen Länder wiederum 37 Prozent. Insgesamt befanden sich im
August 107 000 Jugendliche in Maßnahmen, davon 38,5
Prozent im Osten.
Ihnen wird auch nicht ganz unbekannt sein, daß in
den neuen Bundesländern die Maßnahmen der Nachund Zusatzqualifizierung, ABM mit integrierter beruflicher Qualifizierung und schließlich außerbetriebliche
Ausbildung bzw. Begründung von Arbeitsverhältnissen
mit Lohnkostenzuschüssen am häufigsten genutzt wurden. Da kann ich nur sagen: Aufschwung Ost!
Die Jugendarbeitslosigkeit konnte mit diesen Maßnahmen reduziert werden. Deshalb - wie bereits gesagt
wurde - hat die Bundesregierung bereits am 29. Juni beschlossen, dieses Programm fortzusetzen.
Die Arbeitsmarktpolitik ist natürlich nur ein Bereich,
mit dem die Bundesregierung ihr Ziel der Schaffung zusätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten verfolgt. Die
Ausweitung neuer Beschäftigungsfelder, der Einsatz
neuer Instrumente zur Schaffung von Arbeitsplätzen im
ersten Arbeitsmarkt und die zielgerichtete Förderung
von Arbeitsplätzen durch eine beschäftigungsfreundliche Wirtschafts- und Haushaltspolitik gehören ebenso
dazu. Die jüngsten positiven Wirtschaftsprognosen führender Wirtschafts- und Forschungsinstitute hinsichtlich
einer wieder anziehenden Konjunktur lassen hoffen.
In einem trifft der CDU/CSU-Antrag meiner Meinung nach übrigens ins Schwarze: Die Weichen wurden
in der Vergangenheit falsch gestellt; das ist Ihrem Antrag zu entnehmen. Um auf einen der vorhergehenden
Redner einzugehen: Wir haben schließlich die Suppe
auszulöffeln.
Im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost muß über
die Verantwortung der Länder unbedingt noch ein
Wort gesagt werden. Herr Trautvetter aus Thüringen hat
hier für Sachsen und Brandenburg gesprochen. Er hat
sehr polarisiert, indem er Sachsen und Brandenburg gegenübergestellt hat. Deshalb gestatten Sie mir an dieser
Stelle einen kleinen Exkurs in meine Heimat, Sachsen.
Die Arbeitslosenquote im Freistaat Sachsen - das
sind die neuen Zahlen - liegt wie in Brandenburg und
wie in Mecklenburg-Vorpommern bei über 17 Prozent.
Das heißt, es gibt einen Gleichstand. Deshalb kann man
das nicht so ausspielen, wie er das gemacht hat. Das
Wirtschaftswachstum des Freistaates Sachsen bleibt
hinter den ostdeutschen Konkurrenten zurück - leider!
Was mich als Kommunalpolitikerin, die ich gleichzeitig
bin, natürlich besonders bedrückt: Nirgendwo in Ostdeutschland sind die Kommunen so hoch verschuldet
wie gerade im Freistaat Sachsen.
Wenn die Regierung des Freistaates Sachsen nur
Leuchtturmpolitik macht und strukturschwache Regionen, zum Beispiel meine Heimat, die Lausitz, vernachlässigt, wird sich nichts ändern lassen. Für die Lausitz
gab es bisher leider nur populistische Ankündigungspolitik von seiten der Landesregierung. Als Beispiel
möchte ich nennen, daß 1992 eine Arbeitsgruppe mit
dem pompösen Namen „Zukunft Laubusch“ ins Leben
gerufen wurde. Null Ergebnis mangels der von der Landesregierung eingebrachten Masse.
Der Gipfel war jedoch die erneute Ankündigung einer
Lausitzinitiative von Biedenkopf und Schönbohm Ende
August in Brandenburg, obwohl Ende Juni dieses Jahres
eine länderübergreifende Lausitzinitiative von beiden
Landesregierungen unterzeichnet wurde. Ein Lenkungsausschuß sollte sich treffen, mit Hilfe der Lausitzer
Sparkassen sollten Risikofonds aufgelegt werden, die
LMBV sollte die Projektsteuerung übernehmen und
vieles mehr. Das heißt, diese Lausitzinitiative war längst
gegründet, wurde aber noch einmal als eine Superidee
verkauft.
Nun müssen insbesondere im sächsischen Teil der
Lausitz Taten folgen. Angekündigt wurden sie schon
über viele Jahre. In dem Beitrag vorhin klang es so an:
Brandenburg trägt da die Schuld. Das ist aber nicht so.
Für den brandenburgischen Teil der Lausitz möchte ich
für denjenigen, der das noch nicht weiß, nur sagen: In
Brandenburg wurde der Lausitzring gebaut, in Brandenburg wird die Internationale Bauausstellung vorbereitet,
und das alles in der Lausitz. Das schafft Arbeit, das
schafft Arbeitsplätze und damit ein Stückchen Aufschwung Ost.
Kommen wir zurück zur Bundespolitik; ich will zur
Landespolitik keine weiteren Ausführungen machen.
Zum Schluß möchte ich noch auf das eingehen, was ich
für den Aufschwung Ost für ganz wichtig halte, nämlich
das Inno-Regio-Programm, das von der Bundesregierung initiiert wurde. Ich kann an dieser Stelle nur sagen:
Die Menschen in der Lausitz haben verstanden. Eine
wirkliche Lausitzinitiative für Unternehmensentwicklung, Transfer, Kommunikation und Innovation hat ihren Antrag abgegeben. Aus den Anfangsbuchstaben leitet sich übrigens der nette Name LUTKI her; das paßt so
richtig schön in die Lausitz. Das sind Projekte, die wir
brauchen. Das bringt den Aufschwung Ost voran.
Fazit: Der Kurs der Bundesregierung beim Aufbau
Ost ist richtig.
({5})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/1210, 14/1314, 14/1277,
14/1551, 14/1540, 14/1542 und 14/1543 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zusatzpunkt 7 auf:
16. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung insolvenzrechtlicher und kreditwesenrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/1539 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({0})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lilo
Friedrich, Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Cem Özdemir, Marieluise
Beck ({1}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Migrationsbericht
- Drucksache 14/1550 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({2})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu Beschlußfassungen zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 a auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Präsidentin des Bundesrechnunghofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 1998
- Einzelplan 20 - Drucksachen 14/498, 14/1256 Berichterstattung:
Abgeordnete Ewald Schurer
Josef Hollerith
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition und der PDS bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P. angenommen.
({4})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Klaus
Grehn, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Sofortige Bauunterbrechung an der Bundesautobahn A 17
- Drucksachen 14/128, 14/1272 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Letzgus
Hierzu möchte die Kollegin Ostrowski eine Erklärung
zur Abstimmung abgeben. Bitte schön.
Herr Präsident! In
aller Kürze: Ich werde dieser Beschlußempfehlung
nicht zustimmen. Meine Gründe dafür sind: Seit zwei
Tagen hauen wir uns gegenseitig Zahlen um die Ohren.
Seit zwei Tagen wird behauptet, daß der Staat angeblich arm wie eine Kirchenmaus sei. Wer dann in einer
solchen Situation 1,3 Milliarden DM für eine Autobahn
ausgeben will, obwohl am Grenzübergang zu Tschechien das Verkehrsaufkommen auf schlappe 20 000
Kfzs prognostiziert wird, der ist nicht von dieser Welt.
Wer in einer solchen Zeit 1,3 Milliarden DM für eine
Autobahn ausgeben will, durch die die Landschaft zerschnitten wird, die durch Landschaftsschutzgebiete
führt, für die teure Umweltmaßnahmen notwendig
sind, die die Umwelt dennoch belasten wird und die
Folgekosten mit sich bringt, der hat vom sinnvollen
Sparen keine Ahnung.
Sachsen hat eines der dichtesten Verkehrsnetze
Deutschlands. Wer 1,3 Milliarden DM für eine Autobahn ausgeben will und gleichzeitig die wesentlich billigere Alternative ausschlägt, die vorhandenen Fernverkehrsstraßen auszubauen, um eine Verbindung nach
Tschechien zu schaffen, der hat vom Sparen keine Ahnung, der ist falsch an diesem Platz.
Rotgrün hatte eine Wende in der Verkehrspolitik
versprochen. Der Kollege von der CDU/CSU-Fraktion
- seinen Namen habe ich vergessen - behauptete während seiner etwas langatmigen Rede über die ICEStrecke, Müntefering hätte die Politik der alten KohlRegierung nicht fortgesetzt. Ich behaupte das Gegenteil: Müntefering war kaum Minister, als er nichts Besseres zu tun hatte, als anzukündigen: Alle während der
Kohl-Regierung begonnenen Projekte werden fortgesetzt. Einzig die Planung für die Trasse durch Thüringen hat man verändert, indem man zwei Alternativen
unter anderem mit der Deutschlandbahn geschaffen
hat.
Bei den Autobahnprojekten bleibt alles beim alten.
({0})
Hier steht Müntefering noch im Wort. So steht es auch
in der Koalitionsvereinbarung. Nun ist Müntefering Generalsekretär der SPD geworden. Wie ich gehört habe,
wird Klimmt der neue Verkehrs- und Bauminister.
Vielleicht wird er eine Wende in der Verkehrspolitik
einleiten.
({1})
Frau Kollegin
Ostrowski, ich muß Sie jetzt unterbrechen, weil der Sinn
einer Erklärung zur Abstimmung im Regelfall darin besteht, eine Erklärung zum abweichenden Stimmverhalten zur eigenen Fraktion abzugeben. Aber die Erklärung
zur Abstimmung darf nicht für eine Aussprache zu
einem Punkt genutzt werden, obwohl keine Aussprache
vereinbart worden ist. Ich möchte Sie daher bitten, zum
Schluß zu kommen.
({0})
Ich möchte noch meinen dritten Grund für die Ablehnung nennen, nämlich
meine Enttäuschung über die Kollegen von der Fraktion
der Grünen, insbesondere über die Kollegen aus Sachsen.
({0})
Sie gehörten zu den heftigsten Gegnern dieses Autobahnbaus. Sie, Frau Hermenau, und Ihre Parteikollegen
aus Sachsen hatten noch kurz nach dem Regierungsantritt einen Beschluß gegen die Autobahn gefaßt. Es tut
mir leid, wie Sie sich verhalten; denn Ihr Verhalten ist
auch ein Zeichen für das Absinken in der Wählergunst.
Frau Kollegin, ich
muß Ihnen jetzt das Wort entziehen. Bitte verlassen Sie
das Rednerpult!
Ich möchte darauf hinweisen, daß wir, was Erklärungen zur Abstimmung angeht, großzügig verfahren. Das
sage ich an die Adresse aller Fraktionen. Aber bei diesem Verhalten müssen wir uns seitens des Präsidiums
überlegen, ob wir solche Erklärungen zur Abstimmung
künftig zulassen; denn dieses Verhalten ist ein Mißbrauch der Geschäftsordnung. Darauf wollte ich hinweisen.
({0})
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/128 abzulehnen. Wer stimmt für diese BeschlußempVizepräsident Rudolf Seiters
fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 c auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Aufhebbare Sechsundvierzigste Verordnung
zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 14/1068, 14/1187 Nr. 2.1, 14/1552 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 9 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Finanzierung des Sparpaketes zu Lasten der Pflegeversicherung
Die Aktuelle Stunde findet auf Verlangen der
CDU/CSU-Fraktion statt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ulf Fink.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion hat diese
Aktuelle Stunde beantragt, weil der Pflegeversicherung
ernste Gefahren durch das Eichelsche Sparpaket drohen,
in dem die Senkung der Beiträge für Empfänger von Arbeitslosenhilfe vorgesehen ist. Dadurch entgehen den
Pflegekassen erhebliche Einnahmen. Es muß mit Einnahmenminderungen der Pflegeversicherung in Höhe
von jährlich mindestens rund 400 Millionen DM gerechnet werden für den Fall, daß die Bundesanstalt für
Arbeit, wie im Sparpaket beabsichtigt, die Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitslose nur an der Höhe der
tatsächlich bezogenen Unterstützungsleistung bemißt das sind im ungünstigsten Fall 53 Prozent des pauschalierten Nettoentgeltes - und nicht mehr 80 Prozent des
Bruttoverdienstes berechnet. Dies ist inakzeptabel, weil
dadurch die ohnehin schon absehbare defizitäre Finanzentwicklung der Pflegeversicherung noch einmal deutlich verschärft würde.
Ich glaube, ein Teil Ihrer Beschlüsse ist darauf zurückzuführen ist, daß Sie der Ansicht sind, die Pflegeversicherung habe viel Geld. In der Tat verfügt die Pflegeversicherung über ein solides Finanzpolster von rund
9,5 Milliarden DM. Aber diese 9,5 Milliarden DM sind
im wesentlichen in den ersten zwei Jahren der Pflegeversicherung entstanden. Bereits 1997 war der Überschuß auf 1,6 Milliarden DM und 1998 auf 250 Millionen DM pro Jahr gesunken.
Nach den Berechnungen des Bundesversicherungsamtes ist in diesem Jahr mit keiner positiven Entwicklung mehr zu rechnen; vielmehr muß man sogar von
einer kleinen defizitären Entwicklung von 20 Millionen
DM ausgehen. Das ist eine Folge der zunehmenden Inanspruchnahme von teureren Sachleistungen und von
mehr stationären Leistungen.
Durch das Sparpaket der Bundesregierung kann
dieses Defizit nach den Berechnungen des Bundesversicherungsamtes bis zum Jahre 2000 auf 850 Millionen DM pro Jahr und bis Ende des Jahres 2002 auf
jährlich 1,35 Milliarden DM anwachsen. Diese Entwicklung ist um so kritischer zu werten, als bei allen
Finanzberechnungen des Bundesversicherungsamtes
keine Anpassung der Versicherungsleistung unterstellt worden ist. Das ist aber eine schlicht undenkbare Prognose. Bei der Rentenversicherung streiten
wir uns zu Recht darum, ob man die Leistungen der
Nettolohnentwicklung oder der Inflationsrate anpaßt.
Bei allen Finanzberechnungen des Bundesversicherungsamtes ist aber überhaupt keine Anpassung der
Leistung unterstellt.
Wenn man unterstellen würde, daß die Leistungen
jährlich um 1 Prozent angepaßt werden müßten, dann
ergäbe sich allein für das Jahr 2002 die Notwendigkeit,
bei den Leistungen eine Anpassung in Höhe von 1,5
Milliarden DM vorzunehmen. Nach den Berechnungen
des Bundesversicherungsamtes, die das nicht unterstellen, und ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß wir
eine Mindestrücklage aufrechterhalten müssen, würden
spätestens im Jahre 2005 die Beitragssätze erhöht oder
die Leistungen gekürzt werden müssen. Es ist aber laut
Gesetz ausgeschlossen, daß der Beitragssatz zur Pflegeversicherung in Höhe von 1,7 Prozent erhöht wird. Leistungskürzungen sind auch nicht hinnehmbar. Im Gegenteil: Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung angekündigt, etwas zugunsten der altersverwirrten Patienten tun zu wollen. Das ist ja auch richtig.
Sie, meine Damen und Herren, bringen die Pflegeversicherung durch Ihre Beschlüsse in eine ausweglose Situation. Außerdem ist der vorgesehene Eingriff nicht systemkonform.
Schließlich gilt der Grundsatz, daß die Pflegeversicherung der Krankenversicherung folgt. Die ursprünglich beabsichtige Senkung der Beiträge zur Krankenversicherung für Empfänger von Arbeitslosenhilfe hat man
nun aber nicht realisiert. Kann es denn wirklich richtig
sein, daß Sie in den Bereichen, wo es eine starke Lobby
gibt, nicht kürzen, bei der Pflegeversicherung aber, deren Lobby, wie Sie meinen, nicht so stark ist, zuschlagen?
({0})
Was Sie da machen, hat nichts mit Sparen zu tun. Die
Staatsausgaben und das Staatsdefizit werden dadurch
nicht gesenkt. Es gibt zwar ein geringeres Defizit beim
Bund, aber dafür ein höheres Defizit bei der Pflegeversicherung.
({1})
Vizepräsident Rudolf Seiters
Nein, meine Damen und Herren, dieser Teil des
Eichelschen Sparpakets darf auf gar keinen Fall Wirklichkeit werden. Wir dürfen nicht zu Lasten der Allerärmsten sparen.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans Georg Wagner.
({0})
Haben Sie da mal keine Bange, ich werde es Ihnen gleich sagen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rede von Herrn Fink kann noch so sachlich vorgetragen
worden sein, es bleibt die Tatsache, daß er damit die
Lügenserien fortgesetzt hat, mit der Sie die jetzige Bundesregierung und Koalition seit Monaten überziehen.
({0})
Sie wissen doch ganz genau, daß die Pflegeversicherung
einen Überschuß von 9,7 Milliarden DM hat,
({1})
während die Mindestsumme 4 Milliarden DM beträgt.
Nach Abzug der von Ihnen genannten Möglichkeiten
sind immer noch 8 Milliarden DM in der Kasse, so daß
überhaupt keine Gefährdung der Pflegeversicherung besteht.
({2})
Erinnern Sie sich, Herr Kollege Fink, an das Jahr
1997? Da waren Sie ja auch Mitglied des Bundestages.
Damals hat die damalige Koalition den Versuch unternommen, der Pflegeversicherung ganze 4,5 Milliarden
DM zu entziehen. Sie hätte ihr damals beinahe den Todesstoß versetzt. Das ist Gott sei Dank verhindert worden. Jetzt geht es um maximal 400 Millionen DM, die
ihr durch die Veränderung der Bemessungsgrundlage
genommen werden.
({3})
Abgesehen von Ihrem Gerede besteht sonst keine Gefahr. Sie verbreiten Angst und Panik; das ist ja auch die
Absicht dieser Debatte. Aber es steht absolut nichts dahinter.
Wer für ein Defizit von 30 Milliarden DM und für
eine Zinslast von 80 Milliarden DM verantwortlich ist,
weil er 1,5 Billionen DM Schulden gemacht hat, sollte
endlich einmal zu einer sachlichen Auseinandersetzung
zurückkehren und konstruktive Vorschläge machen;
aber Sie sind dazu nicht in der Lage.
({4})
- Ich würde Ihnen als christliche Parteien empfehlen,
endlich einmal das achte Gebot „Du sollst nicht falsch
Zeugnis reden wider Deinen Nächsten!“ einzuhalten.
Halten Sie sich einmal daran, zumal Sie sich ja christlich
nennen.
({5})
Die Angstmache von seiten der Union um die Pflegeversicherung soll von der Verantwortung für die 1,5
Billionen DM Schulden ablenken, von denen Sie und
sonst niemand 1,2 Billionen selber verursacht haben. Sie
haben ein Finanzloch von 30 Milliarden DM hinterlassen. Nun habe ich heute morgen gehört, wie jemand
sagte, Herr Eichel sammle nur das ein, was Herr Lafontaine vorher verbraten habe. Das ist falsch. Sie kennen
Ihre eigenen Haushalte nicht. Herr Kolb, Sie reden ja
nachher und müßten eigentlich wissen, welche falschen
Beschlüsse die alte Bundesregierung gefaßt hat. Ein falscher und zu niedrig veranschlagter Ansatz im Haushalt
von Waigel führte dazu, daß 10 Milliarden DM finanziert werden mußten.
({6})
- Nein, diese 10 Milliarden DM Defizit im Haushalt des
ehemaligen Bundesfinanzministers, sind echte WaigelSchulden.
Von uns wurde der Ansatz „Postunterstützungskasse“
in den Haushalt aufgenommen. Das ist, wie Sie wissen,
aufkommensneutral; 8 Milliarden DM Einnahmen und 8
Milliarden DM Ausgaben. 1999 haben wir zur Absenkung der Beiträge 15 Milliarden DM mehr Zuschüsse an
die Rentenversicherung gezahlt. Wahrscheinlich sind
Sie dagegen gewesen. Auch das ist aufkommensneutral;
wir werden das über die Ökosteuer und die Mehrwertsteuer finanzieren.
Die Gründe dafür sind die 30 Milliarden DM strukturelles Defizit, das wir bei der Regierungsübernahme
vorgefunden haben. Sie können das, was ich sage, kontrollieren, indem Sie einmal in den Haushaltsentwurf
schauen. Die Nettokreditaufnahme ist in diesem Haushaltsjahr um 3 Milliarden DM geringer als vorher. Also
kann das, was Sie hier über die 30 Milliarden DM sagen,
absolut nicht stimmen. Auch das ist ein Satz in Ihrer Lügenserie.
Ich muß Sie auch daran erinnern, daß Sie gegen die
Kindergelderhöhung waren. Wir haben es geschafft, das
Kindergeld für das erste und zweite Kind innerhalb von
13 Monaten um 50 DM zu erhöhen. Sie waren dagegen.
Sie haben diese familienfreundlichen Beschlüsse abgelehnt. Wir haben auch den Eingangssteuersatz gesenkt.
Sie waren dagegen. Wir haben das Existenzminimum
angehoben. Sie waren dagegen.
({7})
Heute werden wir beim Schlechtwettergeld die alte Regelung wiederherstellen, die den Bauarbeitern die Sicherheit gibt, ganzjährig verdienen zu können und nicht
in die Arbeitslosigkeit zu fallen, was Sie wollten und beschlossen haben. Wir haben auch die Lohnfortzahlung
im Krankheitsfall wiedereingeführt und den KündiUlf Fink
gungsschutz verbessert. Alle sozialen Tiefschläge, die
Sie in den letzten Jahren losgelassen haben, haben wir
zurückgenommen, und es ist eine gute Sache, daß das
gemacht worden ist.
Was bei Ihnen fehlt, sind die konstruktiven Alternativen; sie sind nicht sichtbar. Sie sind Meister in Anträgen
und Debatten zur Geschäftsordnung und im Beantragen
Aktueller Stunden. Sie werden beim nächsten Punkt
vermutlich Jubiläum feiern, weil das die 25. aktuelle
Aussprache über irgendein Thema ist - nur um die Bevölkerung zu verunsichern. Ich bin der Auffassung, Sie
sollten damit aufhören. Kommen Sie zu einer konstruktiven Politik, und machen Sie das, was Ihr Vorsitzender
lauthals verkündet hat, nämlich daß die Union auf verschiedenen Politikfeldern zur Zusammenarbeit mit der
Koalition bereit sei. Bitte machen Sie das, und lügen Sie
nicht ins Bodenlose.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Bundesregierung mit der Pflegekasse vorhat, ist genau das, was wir
immer befürchtet haben und wovor wir auch immer gewarnt haben. Denn wo Gelder im Zugriffsbereich des
Staates angehäuft werden, entstehen Begehrlichkeiten,
die in Zeiten knapper Kassen dann die Hemmschwelle
auf ein solch niedriges Maß senken, daß man wirklich
davon sprechen muß - ich will nicht so weit gehen, Herr
Kollege Wagner, hier das vierte Gebot zu strapazieren -,
daß Sie hier schamlos in die Kassen der Pflegeversicherung greifen.
({0})
Damit tun Sie genau das, was Sie in allen früheren
Diskussionen um die Pflegeversicherung immer weit
von sich gewiesen haben. Es ist traurig, aber es ist
beileibe nicht das erste Mal, daß sich das grundsätzliche
Mißtrauen der F.D.P. gegenüber dem Aufbau von Kapitalstöcken in den sozialen Sicherungssystemen wieder
einmal bewahrheitet hat.
Um der Gefahr des Mißbrauchs von Finanzsystemen
entgegenzutreten und gleichzeitig dem von uns allen als
absolut vorrangig anerkannten Ziel der Senkung der
Lohnnebenkosten ein Stück näher zu kommen, fordern
wir seit zweieinhalb Jahren die Senkung der Beitragssätze - leider, so muß ich sagen, ohne Erfolg. Auch die
Überlegung, Beiträge zurückzuerstatten, hat keine ausreichende Unterstützung gefunden. Das ist bedauerlich
für die Beitragszahler, denn es ist deren Geld, über das
wir hier reden.
({1})
Inzwischen zeichnet sich das Abschmelzen des Überschusses der Pflegekasse bereits ab, und in nicht allzu
ferner Zukunft - das steht bereits jetzt fest - droht wieder eine Diskussion über Beitragssatzanhebungen. Die
Berechnungen des Bundesversicherungsamtes zeigen,
daß die Rücklagen viel schneller aufgebraucht sein werden, als viele von uns gehofft hatten. Diese Entwicklung
wird durch die heute hier zur Diskussion stehenden Pläne der Bundesregierung natürlich weiter beschleunigt
werden. Es ist deswegen nicht falsch, anzunehmen, daß
wir bereits ab 2005 wieder an die Grenze, an den Deckel
stoßen werden.
Ich will heute auch folgendes anmerken. Bereits jetzt
schlägt sich die demographische Entwicklung in den
Leistungssteigerungen der Pflegeversicherung nieder.
Der Kreis der Pflegebedürftigen wird von Jahr zu Jahr
größer. 1996 gab es 1,55 Millionen berechtigte Antragsteller, 1997 bereits 1,66 Millionen und 1998 1,72 Millionen. Ich denke, auch diese Entwicklung müssen wir
berücksichtigen.
Weil wir, die F.D.P.-Bundestagsfraktion, uns ein Bild
über die aktuelle Situation der Pflegeversicherung machen wollten und weil wir fünf Jahre nach der Einführung eine Zwischenbilanz ziehen wollten, haben wir im
Juni ein Gespräch mit zahlreichen Experten geführt.
Daraus ergab sich insgesamt ein durchaus positives Gesamtbild. Aber natürlich wurden auch Probleme aufgezeigt. Eines der großen Zukunftsprobleme ist - wie bei
der Rente - der demographische Faktor. Die langfristigen Berechnungen lassen uns eher sorgenvoll dreinblikken. Deswegen steht, Frau Ministerin Fischer, für die
F.D.P. eines fest: Die Spendierhosen kann man jedenfalls nicht anhaben. Eher schon sollte man daran denken,
der Pflegeversicherung schnellstens die Taschen zuzunähen, damit wir auch zukünftig noch in der Lage sind,
auf neu entstehende Belastungen einzugehen und diese
abzufedern.
({2})
Ich will in dieser Debatte auch noch ein Wort zur
Frage möglicher Leistungsausweitungen sagen. Vor der
Sommerpause haben wir ja einige - auch aus unserer
Sicht notwendige - Verbesserungen beschlossen, die für
die Betroffenen im Einzelfall eine große Hilfe sein können. Wir haben damals zugestimmt, weil es bei Anwendung des Gesetzes offensichtliche Schwächen gab. Natürlich gibt es auch weiterhin Probleme und Bereiche, in
denen wir noch bessere Lösungen suchen müssen. Ich
denke da vor allem an die Demenzkranken und deren
Angehörige. Demenzkranke zu Hause zu betreuen ist
eine enorm schwierige Aufgabe. Man erkennt schnell,
welche Tragweite diese Krankheit für die Betroffenen
und ihr Umfeld hat, wenn man sich einmal damit befaßt.
Ich sehe hier und in anderen Bereichen entsprechenden
Handlungsbedarf.
Ich meine, es ist insgesamt ein Gebot der politischen
Redlichkeit, den Menschen klar zu sagen, daß der Staat
nicht in der Lage ist, jedwedes Lebensrisiko für sie zu
übernehmen. Zu verschenken hat die Pflegekasse jedenfalls nichts, schon gar nicht, um damit an anderer Stelle
Löcher zu stopfen.
Frau Ministerin Fischer, zum Schluß möchte ich doch
noch ein Wort zur Art und Weise sagen, wie diese einseitige Belastung der Pflegeversicherung durch das
Sparpaket zustande gekommen ist.
Aber bitte nur
ganz kurz; Ihre Redezeit ist nämlich vorbei.
Sie läßt nämlich
Rückschlüsse auf den Stellenwert zu, die die Pflegeversicherung bei Ihnen offenbar hat. Als der Finanzminister
nämlich genau dasselbe, was er nun bei der Pflege
macht, mit den Krankenversicherten vorhatte, sind Sie zugegebenermaßen mit Erfolg - auf die Barrikaden gegangen. Seltsam ist nur, daß Ihnen die Pflegebedürftigen
jetzt ein solches Engagement nicht wert waren. Deshalb
muß ich Sie fragen: Sind die Versicherten der Pflegeversicherung in Ihren Augen etwa Versicherte zweiter
Klasse? Anscheinend erbringen Sie ein Bauernopfer für
den Bundesfinanzminister, das zur Rettung Ihrer waghalsigen Ausgabenpolitik im Gesundheitswesen nötig
wurde.
({0})
Herr Kollege,
ich glaube, Sie haben gesagt, was Sie sagen wollten. Sie
müssen jetzt Schluß machen.
Frau Präsidentin, ich
hätte noch viel zu sagen. Aber ich nehme natürlich Ihren
Hinweis ernst.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kolb, ich bin ganz überrascht. Ich kann mich gar
nicht erinnern, daß Sie schon bislang so engagiert für die
Pflegeversicherung gekämpft haben, und bezweifle, daß
Sie sich qualifiziert darüber äußern können, was mein
Engagement in diesem Bereich angeht.
({0})
Ich glaube, diese Art von kasuistischer Beweisführung
- wem mein Engagement gilt - ist wenig überzeugend.
Ganz grundsätzlich gilt: Wir unternehmen mit dem
Sparpaket eine große Anstrengung zur Konsolidierung
des Haushalts. Das Ziel ist, wenn Sie ehrlich sind, auch
bei Ihnen unumstritten: Es geht nicht, daß wir uns - sozusagen mittels einer Hypothek auf die Zukunft - ständig weiter verschulden. Wir brauchen hier eine Kehrtwende in der staatlichen Haushaltspolitik.
({1})
- Ich verstehe das ja; so macht man das halt in der Opposition. Da braucht man sich um das Ganze nicht so
sehr zu kümmern. Ihre Haltung ist die: Sparen? - Ja, unbedingt, aber nicht hier!
({2})
Das kann natürlich jeder sagen. Genau deshalb führen
wir zur Zeit diese Debatten.
({3})
Vor diesem Hintergrund haben wir ein Paket geschnürt. Und, es ist richtig, daß auch die Pflegeversicherung davon betroffen ist.
({4})
Es ist hier vorhin gesagt worden - zum Glück hat der
Kollege Fink die inzwischen korrigierten Zahlen genommen -: Es geht um einen Einnahmeausfall von 400 Millionen DM pro Jahr. Herr Kollege Fink, glauben Sie
nicht - was Sie in Ihrer Rede unterstellt haben -, wir
hätten das nach dem Motto „Die Pflegeversicherung
hat's ja!“ gemacht. Das ist nicht richtig. Es ist einfach so
- ich habe das schon neulich, nicht in diesem Haus, sondern woanders gesagt -: Auch mich schmerzen die Eingriffe; auch ich hätte das lieber vermieden.
({5})
So geht es auch in anderen Bereichen.
Jetzt stellt sich die Frage: Wie groß ist das Problem,
das wir damit anrichten? Das ist der interessante Punkt.
Daß man es lieber anders und bequemer hätte, ist klar,
aber wenn man es tun muß, dann lautet die interessante
Frage: Ist das Problem so groß, wie hier behaupet wird?
Ich sage: Nein.
Sie haben gesagt, es sei unsystematisch.
({6})
Das stimmt nicht. Wir stellen die Beiträge,
({7})
die der Bund zahlt, um. Deswegen stimmt es auch nicht,
daß wir dem Beitragszahler schaden, wie Sie es behaupten. Hier geht es um Beiträge, die nicht von den
Arbeitnehmern entrichtet werden, sondern vom Bundeshaushalt. Sie werden auf eine andere Bemessungsgrundlage, nämlich auf den Zahlbetrag der Arbeitslosenhilfe, umgestellt.
({8})
- Zumindest ist es nicht unsystematisch, weil wir auch
sonst das tatsächliche Einkommen als Bemessungsgrundlage für die Entrichtung von Beiträgen zur Sozialversicherung heranziehen.
Jetzt möchte ich noch einmal auf die Frage, ob das
Problem so groß ist, wie Sie behaupten, eingehen. Wenn
wir das bei einer veränderten Finanzentwicklung machen, die zu erwarten ist - Sie haben andere Zahlen
verwendet; die Bundesregierung teilt die Einschätzung
des Bundesversicherungsamtes nicht ganz, weil die
mittelfristige Finanzplanung eine andere Einkommensentwicklung voraussagt -, wird diese Maßnahme dazu
führen, daß sich die Rücklagen in den nächsten Jahren
zwar geringfügig vermindern, daß aber die gesamten
Rücklagen der Pflegeversicherung immer noch drastisch
über der vorgesehenen Schwankungsreserve von rund
4 Milliarden DM liegen werden.
Das soll heißen: Es besteht nicht die Gefahr, daß die
Pflegeversicherung in dem Sinne ins Defizit gerät, daß
man befürchten muß, wir müssen entweder sofort die
Beiträge anheben oder die Leistungen kürzen.
({9})
Diese Gefahr besteht nicht.
({10})
Die Veränderung der Bemessungsgrundlage macht die
Einkommenslage der Pflegeversicherung nicht besser,
aber wir müssen deswegen nicht so tun, als wäre die
Pflegeversicherung akut gefährdet,
({11})
als müßten die Versicherten die Sorge haben, daß ihre
Leistungen nicht mehr gewährleistet sind.
Völlig unabhängig von der Frage der 400 Millionen
DM, die hier Gegenstand der Debatte sind, werden wir
die großen Probleme, die in der Pflegepolitik anstehen,
zu lösen haben. Diese Probleme betreffen die Qualitätssicherung. Der Gesetzentwurf dazu wird in Kürze an die
Fachleute zur ersten Beratung weitergegeben.
Wir werden die große Aufgabe, die Sie uns hinterlassen haben, angehen - wir haben schon in der vergangenen Legislaturperiode viel darüber geredet -, nämlich
die Abgrenzung der verschiedenen Versicherungssysteme und Leistungsträger zueinander. Tun Sie jetzt nicht
so, als wäre unser Vorgehen ein Ausdruck dafür, daß ich
mich nicht für die Pflegeversicherung interessieren würde. Dieses Problem ist uns schon seit mehreren Jahren
bekannt. Sie haben es uns hinterlassen,
({12})
und nur weil wir es nicht sofort im ersten Jahr lösen
können, müssen Sie sich nicht mit fremden Federn
schmücken.
Wir werden diese Fragen angehen, und wir werden
auch über die Demenzkranken zu reden haben. Das sind
aber Probleme, die auf der Tagesordnung stehen und deren Lösung nicht durch die 400 Millionen DM, die der
Staat vorher an Beiträgen in die Pflegeversicherung entrichtet hat, leichter geworden wäre. Das, was Sie sagen,
ist nicht wahr; denn Sie tun einfach so, als hätte das
Problem nur die Dimension von 400 Millionen DM.
Die langfristige demographische Entwicklung hat
aber eine ganz andere Dimension. Es hätte uns die Dinge sicherlich leichter gemacht. Aber es ist falsch, den
Eindruck zu erwecken, als würde es mit dieser Maßnahme unmöglich gemacht, die anstehenden Probleme
zu lösen.
Die Lösung dieser Probleme liegt ganz woanders. Sie
liegt auch in der sozialpolitischen Phantasie. Wir müssen uns mit den verschiedenen Trägern, die für die Pflege zuständig sind, einigen. Die Lösung liegt zum Beispiel im Bereich der Qualität. Da geht es gar nicht ums
Geld, sondern darum, daß man sich über Standards verständigt und sie einhält.
Über diese Fragen werden wir zu diskutieren haben.
Das, was Sie heute machen, ist ein Scheingefecht. Vor
allem ist es Kirchturmpolitik nach dem Motto: Ja, ihr
müßt sparen, aber wenn ihr irgendwo anfangt,
({13})
sind wir grundsätzlich dagegen. Sie werden wahrscheinlich in den nächsten Jahren noch viele solcher kirchturmpolitischer Debatten anregen. Das macht es aber
nicht besser und verantwortungsbewußt im Blick auf das
Gemeinwesen ist es auch nicht.
({14})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf die sozialpolitische Phantasie der
Frau Ministerin, insbesondere im Bereich der Absicherung des Pflegefalles, bin ich sehr gespannt. Ich hoffe,
daß sie zu einer Ausweitung und nicht zu Kürzungen
führt.
So bequem, wie Sie, Herr Wagner, es sich machen,
geht es natürlich wirklich nicht. Sie tun hier so, als gäbe
es das Problem gar nicht. Die 400 Millionen DM gibt
sogar die Ministerin zu.
({0})
Nach Schätzungen beispielsweise des Sozialverbandes VdK - der mir politisch nicht so nahesteht, wie Sie
vielleicht vermuten - kann man auch mit 1,5 Milliarden
DM rechnen - oder eine solche Summe zumindest befürchten. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf
hinweisen, daß schon vor Ihrem Sparpaket und vor Ihren
Rentenplänen bekannt war, daß die Pflegeversicherung
ihre bisherigen Überschüsse in Zukunft nicht mehr erwirtschaften wird. Eigentlich hatte ich angenommen Bundesministerin Andrea Fischer
das wurde mir zumindest eingeredet -, daß die Pflegeversicherung Menschen helfen soll, die auf fremde Hilfe
angewiesen sind. Jetzt habe ich den Eindruck, daß die
Sparpläne der Koalition einer Regierung helfen sollen,
die auf helfende Fremde angewiesen ist. In diesem Fall
ist die Pflegeversicherung der Fremde, der helfen soll.
Das kann nicht sein.
Unmittelbar vor der Sommerpause ist - nicht in diesem Gebäude, aber in diesem Haus - sehr ausführlich
darüber debattiert worden, daß wir etwas für Demenzkranke tun müssen. Stets wurde gesagt, dies müsse im
Zusammenhang mit der Pflegeversicherung geschehen.
Ich habe damals erklärt, daß ich es für unmöglich halte,
im Rahmen der Pflegeversicherung demenzkranken
Menschen und ihren Angehörigen wirklich zu helfen;
denn Demenzkranken kann man nur durch Anwesenheit
helfen. Das heißt, 24 Stunden täglich muß jemand dasein. Das ist aus den Mitteln der Pflegeversicherung
nicht zu bezahlen.
Deshalb komme ich gerne auf den Vorschlag zurück,
sozialpolitische Phantasie einzusetzen, und erinnere daran, daß gerade in der vergangenen Woche eine Delegation des Gesundheitsausschusses in Österreich war und
sich dort über die Pflegevorsorge informierte. Die Pflegevorsorge ist in Österreich eine staatliche, steuerfinanzierte Leistung. Auch dort gibt es Probleme mit der Versorgung von demenzkranken Menschen. Aber immerhin
haben sie das Problem, über das wir heute reden müssen,
nicht.
Wenn Sie, Frau Ministerin, davon reden, daß wir sozialpolitische Phantasie brauchen, dann bitte ich darum,
nicht immer nur darüber zu reden, wo man angeblich
etwas einsparen kann, um den Haushalt zu sanieren. Dagegen bin ich ja nicht; aber das darf nicht auf Kosten
derjenigen gehen, die sich wirklich nicht wehren können. Ein Land und sogar eine Kommune - grundsätzlich
bin ich der Meinung, daß die Kommunen von Ihnen viel
zu schlecht bedacht werden - können sich leichter als
ein Mensch wehren, der morgens nicht weiß, wie er alleine auf die Toilette kommt. Das ist ja eine der Aufgaben der Pflegeversicherung. Angesichts dessen kann
man nicht so tun, als wäre ein Minus bei den Einnahmen
in Höhe von 400 Millionen DM nur ein Klacks.
Ich hatte mich zunächst gewundert, weshalb die
CDU/CSU diese Aktuelle Stunde verlangte. Inzwischen
ist mir klar, daß es darum geht, Herrn Fink die Möglichkeit zu geben, sich als zukünftiger Sozialminister in
Brandenburg zu empfehlen. Das können Sie auch gerne
tun; Wahlkampf ist schließlich immer wieder.
({1})
- Das bezweifle ich nun ernsthaft; aber das ist ein anderes Thema. Ich mache hier keinen Wahlkampf, sondern
rede für Menschen, die keine andere Möglichkeit haben,
als über die mäßigen Leistungen der Pflegeversicherung
ihre Lebensbedingungen wenigstens ein bißchen zu verbessern. Wenn wir in diesem Bereich Phantasie aufbringen und die Leistungen tatsächlich so ausweiten, daß die
Menschen das bekommen, was sie benötigen, dann wäre
dies ein Fortschritt. Der Fortschritt liegt aber nicht in
einer Haushaltssanierung, die in vielen Bereichen unsozial, in manchen Bereichen ökologisch schädlich und
in diesem Falle unverantwortlich ist.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva-Maria Kors.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierung betreibt Sozialpolitik mit der Überzeugung, die Zukunftsprobleme ließen sich nur über den Aufbau eines Kapitalstocks bewältigen. Mit ihrer Pflegepolitik macht sie aber
genau das Gegenteil.
({0})
Den Kapitalstock, den es in der Pflegeversicherung bereits gibt, zerstört sie wieder. So schafft sie es, viel zu
tun und trotzdem stehenzubleiben, Vollgas zu geben im
Leerlauf. So kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“
die Stellungnahme von Ministerin Fischer zu den Auswirkungen des Sparpakets auf die Pflegeversicherung.
Treffender und besser läßt sich die Konzeptionslosigkeit
der rotgrünen Bundesregierung im Bereich der Pflegeversicherung kaum beschreiben. Das gilt für die gesamte
Sozialpolitik.
({1})
Es ist jetzt knapp drei Monate her, da beschloß der
Deutsche Bundestag Änderungen des Pflegeversicherungsgesetzes. Frau Fischer, das waren Änderungen, die
unbestritten sinnvolle und notwendige Verbesserungen
brachten und deshalb unsere Unterstützung erhielten.
Was wir aber bereits damals vermißt haben und bis zum
heutigen Tag vermissen, sind Vorschläge der Bundesregierung, die das drängende Problem der Einbeziehung
demenzkranker Menschen in das System der Pflegeversicherung lösen, und Regelungen, die eine längerfristige
Stabilisierung und Sicherung der Pflegeversicherung
beinhalten. Denn im Gegensatz hierzu drohen der gesetzlichen Pflegeversicherung durch die verfehlte Finanzpolitik dieser Bundesregierung nunmehr Einnahmeverluste in dreistelliger Millionenhöhe.
Eines ist sicher: Diese beabsichtigten Maßnahmen der
Bundesregierung verschärfen die ohnehin schwierige
Situation der Pflegeversicherung. Sie haben nichts, aber
auch rein gar nichts mit einer sachorientierten und vorausschauenden Politik zu tun, geschweige denn mit der
von Ihnen so oft zitierten sozialen Gerechtigkeit.
({2})
Denn soziale Gerechtigkeit beinhaltet auch den fairen
und verantwortungsvollen Umgang mit erworbenen und
berechtigten Ansprüchen von Beitragszahlerinnen und
Beitragszahlern.
Im übrigen ignoriert die Bundesregierung - auch dieser Punkt ist schon angeklungen - die Einschätzung von
Experten des Bundesversicherungsamtes. Sie berückDr. Ilja Seifert
sichtigt in keiner Weise den in den kommenden Jahren
anstehenden erhöhten Finanzbedarf der Pflegeversicherung etwa durch die demographische Komponente sowie
durch Preissteigerungen oder auch durch Lohnerhöhungen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung benutzt nun
schon die Pflegeversicherung zum Stopfen von selbst
geschaffenen Haushaltslöchern
({3})
und zerstört damit mehr und mehr das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger in unsere sozialen Sicherungssysteme.
({4})
Wir fordern die Bundesgesundheitsministerin daher
auf, sich ihrer politischen Verantwortung für eine vernünftige, sachgerechte und zukunftsfähige Politik im
Bereich der Pflegeversicherung zu stellen und sich gegenüber den Finanz- und Haushaltspolitikern, die heute
für die SPD-Regierungsfraktion hier geredet haben,
endlich durchzusetzen.
Die Union hat als Opposition bereits im Frühjahr dieses Jahres zur Frage der langfristigen Sicherung der finanziellen Grundlage und zur Weiterentwicklung der
gesetzlichen Pflegeversicherung ihr Konzept auf den
Tisch gelegt. Dieses Konzept lehnten Sie, Frau Fischer,
und die die Regierung tragenden Bundestagsfraktionen
im Mai schlichtweg ab.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, beenden Sie nach einem Jahr nun endlich Ihre Jammerei über die frühere Regierung! Diese
Jammerei nimmt Ihnen ohnehin keiner mehr ab. Nehmen Sie endlich Ihre politische Verantwortung wahr!
({5})
Beenden Sie eine Rentenpolitik, die auf Kosten der
Rentnerinnen und Rentner geht! Beenden Sie eine Gesundheitspolitik zu Lasten der Patientinnen und Patienten! Verhindern Sie Maßnahmen, die das System der gesetzlichen Pflegeversicherung in absehbarer Zeit aushöhlen werden und allein wieder auf Kosten der Pflegebedürftigen gehen!
({6})
Lassen Sie mich am Ende noch eines sagen: Wenn
Bundeskanzler Schröder jedesmal behauptet, er habe
verstanden und Sie hätten verstanden, so wage ich dies
zu bezweifeln. Wer verstanden hat, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, das sind die Wählerinnen und Wähler - Gott sei Dank.
({7})
Jetzt hat das
Wort der Abgeordnete Walter Schöler.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Kors, wenn
einer die Haushaltslöcher geschaffen hat, dann war das
die von Ihnen gestützte ehemalige Regierung. Wir haben
diese Haushaltslöcher leider vorgefunden, und Sie
müßten an und für sich vor Scham rot werden, denn jahrelang hat die von Ihnen gestellte Regierung den Menschen in die Tasche gegriffen. Das ist die Tasche, die
Herr Kolb jetzt zunähen möchte. Man hat denen genommen, die sich am wenigsten wehren können, und
heute bauen Sie auf die Vergeßlichkeit dieser Menschen.
({0})
Sie zeigen mit dem Finger auf uns, und Sie wollen sich
zum Sozialwächter der Nation erklären. Das wird Ihnen
nicht gelingen.
Sie wollen hier heute ein Horrorszenario eröffnen,
wenn Sie behaupten, die Pflegekassen würden um lebenswichtige Einnahmen gebracht und zerstört.
({1})
Sie wissen, Ihre Schwarzmalerei dient nicht der Klarheit, dient nicht der Wahrheit. Sie soll vielmehr die Betroffenen verunsichern, weiter Ängste schüren, wie Sie
das in anderen Politikfeldern auch machen.
Es wird Ihnen, meine Damen und Herren der ehemaligen Regierungskoalition, nicht gelingen, davon abzulenken, daß Sie die unsoliden Staatsfinanzen zu verantworten haben, daß die Verschuldung ein unverantwortliches Maß erreicht hat, daß die Arbeitslosigkeit, die ja
Auswirkungen auf die Sozialsysteme und die Kassen
hat, nicht wirkungsvoll genug bekämpft worden ist
({2})
und daß dennoch all die Menschen, auch die alten Menschen, die Sie jetzt hier als Ihre Zeugen anführen, mit
unerträglich hohen Belastungen von Ihnen belegt worden sind. Das, was die alte Regierung jahrelang versäumt hat, muß jetzt die Gesellschaft - nicht wir - in
einem Kraftakt schultern,
({3})
um von den Folgen Ihrer unsozialen und einseitigen
Politik wegzukommen.
Wir werden dafür sorgen, daß der Staat handlungsfähig bleibt. Dazu dient auch unser Zukunftsprogramm.
Dem dient auch das Haushaltssanierungsgesetz, über das
wir demnächst hier beraten werden, und dem dienen
auch die Reformen der sozialen Sicherungssysteme.
Wir werden den Menschen langfristig Sicherheit geben, denn jahrelang haben wir von Ihnen und auch von
Ihren Sprachrohren immer vernommen: So kann es nicht
weitergehen; es muß gespart werden, wir alle müssen
den Gürtel enger schnallen, der Sozialstaat blutet aus
usw. usf. Aber was haben Sie in den Jahren dagegen
getan? Das müssen Sie sich jetzt fragen lassen.
({4})
- Das war im übrigen ein gemeinsames Werk, falls Sie
das vergessen, sogar mit Zustimmung der F.D.P.
({5})
Vor einem Jahr haben Sie uns zum Beispiel massiv kritisiert, wir hätten in unserem Regierungsprogramm einen
Finanzierungsvorbehalt. Ja, den haben wir aus guten
Gründen aufgenommen. Daß er notwendig war, haben
wir selber mit großem Bedauern erkannt, als nach der
Regierungsübernahme der Kassensturz kam, und unsere
Befürchtungen sind bei diesem Kassensturz noch weit
übertroffen worden.
Das Sparpaket sieht eine gerechte Verteilung der
Sparmaßnahmen vor, und wir hätten uns gewünscht, auf
Einsparungen im Sozialbereich verzichten zu können.
Aber Einschnitte sind hier in vertretbarem Maß leider
notwendig, um das Ziel zu erreichen, auch angesichts
des Umfangs des Sozialhaushalts, gemessen am Gesamtetat.
Sie wissen selbst, daß diese Einsparungen angesichts
einer Rücklage von 9,7 Milliarden DM vertretbar sind,
daß sich eine Unterdeckung der Höhe nach in Grenzen
hält und ab Mitte des nächsten Jahrzehnts wieder Überschüsse zu verzeichnen sein werden. Die Beitragssenkung ist auch für uns sicherlich nicht wünschenswert,
aber haushaltspolitisch notwendig und aus Sicht der
Pflegekasse vertretbar.
Wenn Sie heute von Plünderung dieser Pflegekasse
reden, dann überziehen Sie damit maßlos, denn Sie müssen sich fragen lassen: Wer war es denn, der im Rahmen
der EU-Kriterien, im Rahmen der Sicherung von Rentenbeitragshöhen an die Rücklagen der Pflegekasse heranwollte? Wer ist es denn, der, wie eben Herr Kolb, von
einer Senkung des Beitrages um 0,2 Prozentpunkte redet
({6})
und dabei vergißt, daß dieser Beitrag im Grunde genommen von den Arbeitnehmern kompensiert wird?
({7})
Er ist doch überkompensiert worden. Das vergessen Sie.
Ich weiß gar nicht, wie Sie, Herr Kolb, demnächst zwei
Stunden des Buß- und Bettages wieder arbeitsfrei machen wollen.
({8})
Wer hat zum Beispiel die Investitionsleistungen für
die Pflege Ost, jährlich 800 Millionen DM, im Jahre
1997 ausgesetzt? Ihr Finanzminister Theo Waigel war
es. Wir dürfen diese Beträge in den nächsten zwei, drei
Jahren zusätzlich veranschlagen. Meine Damen und
Herren von der Opposition, deshalb haben Sie das Recht
verwirkt, heute mahnend den Finger zu heben.
Zu Ihren eigenen Vorschlägen zur Haushaltskonsolidierung: Fehlanzeige - das haben wir bei den Debatten
gestern und heute wieder festgestellt.
Meine Damen und Herren, die Finanzlage der sozialen Pflegeversicherung ist und bleibt stabil. Das gilt
auch für den Beitragssatz, und das gilt vor allen Dingen
für die Leistungen an die Versicherten, Leistungen, die
nicht gekürzt werden. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, jetzt nur von Einnahmeausfällen
sprechen, dann sind Sie - so muß ich Ihnen sagen - auf
einem Auge blind. Denn Sie verschweigen, daß diesen
vorübergehenden Mindereinnahmen der Pflegekasse
nachhaltige Mehreinnahmen gegenüberstehen.
Herr Kollege,
die Zeit!
Kollege Wagner wollte mir
seine 47 Sekunden zur Verfügung stellen.
({0})
Das ist leider
nicht möglich.
Ich weiß, nur fünf Minuten
Rede.
({0})
Es sei mir noch gestattet, auf diese Mehreinnahmen
hinzuweisen, die aus unserem Zukunftsprogramm und
mittelbar auch aus dem Familienleistungsausgleich entstehen werden. Sie entstehen aus dem Steuerentlastungspaket, ein Paket, das wir aufgelegt haben und das
Sie nie zustande gebracht haben.
Meine Damen und Herren, Ihre Vorwürfe gehen ins
Leere. Wir werden in den nächsten Monaten die Debatte
führen. Sie werden sehen: Die Sozialsysteme werden
durch uns nachhaltig gesichert werden.
({1})
Nur zur Klarstellung: In der Aktuellen Stunde sind wir immer gehalten, die fünf Minuten Redezeit präzise einzuhalten. Man
darf sich auch keine Zeit von anderen leihen, sondern
muß seine eigene Zeit einhalten.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Aribert Wolf.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wenn in Versammlungen draußen Politiker von SPD und Grünen über die
Pflegeversicherung und die ohne Zweifel immer schwierige Situation von Pflegebedürftigen sprechen, dann ist
viel von sozialer Verantwortung, von Mitgefühl und von
Einsatzbereitschaft für die Schwachen die Rede. Aber
was erleben wir hier?
({0})
Welch andere Welt im Bundestag! Hier ist der Ort, an
dem wir unseren Worten und Versprechungen Taten
folgen lassen müssen.
({1})
Aber wie sieht die Wirklichkeit hier aus? Wo Verbesserungen für die Pflege gefragt sind, werden wir traurige
Augenzeugen, wie Schröder, Eichel und Riester die Pflegeversicherung schamlos für ihr Sparpaket ausplündern.
({2})
Gelder, die für Leistungsverbesserungen in der Pflege
dringend gebraucht werden, verschwinden mit einem
Trick auf Nimmerwiedersehen im Bundeshaushalt.
Meine Damen und Herren, die Beitragszahler der
Pflegeversicherung haben mühsam in vier Jahren
10 Milliarden DM angespart. Dieses Geld sollte als
Rücklage zur Absicherung demographischer Risiken
dienen und Leistungsanpassungen möglich machen.
Doch statt das Geld für die zu verwenden, für die es eingezahlt wurde, beispielsweise für eine Verbesserung der
Situation der Demenzkranken, wie es Bayern und Baden-Württemberg in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen haben, schallt und tönt es aus dem Kanzleramt: Geld
her! Sparpaket!
Meine Damen und Herren, ich finde es beschämend,
mit welcher Gefühlskälte dieser Kaschmirkanzler den
Schwächsten in unserer Gesellschaft die ersparten Notgroschen abknöpft.
({3})
Da mag er sein Falschspiel noch so geschickt tarnen:
Wir haben den Riester-Rüssel längst erkannt. Über den
Umweg der Absenkung der Bemessungsgrundlage bei
der Arbeitslosenhilfe saugt Riester gierig die Rücklagen
der Pflegeversicherung auf.
({4})
Jahr für Jahr dirigiert er 400 Millionen DM in den Bundeshaushalt um ({5})
Geld, das für eine menschliche Pflege dringend benötigt
wird.
Meine Damen und Herren von Rotgrün, woher haben
Sie den Wählerauftrag für diesen Sozialraub?
({6})
Aber das paßt nur zu gut zum Bild der Neuen Mitte:
dicke Zigarren und Brioni-Anzüge. All das ist wichtiger,
als den Pflegebedürftigen die bitter nötigen Spargroschen zu erhalten.
({7})
Dabei hat die Pflegeversicherung nichts zu verschenken.
Mein Kollege Ulf Fink hat schon auf die Berechnungsgrundlagen des Bundesversicherungsamtes hingewiesen. Ich erinnere noch einmal daran: Für 1999 ist allein in der Pflegeversicherung eine negative Bilanz zu
erwarten; es ist mit einem Defizit von 20 Millionen DM
zu rechnen. Angesichts solch alarmierender Zahlen
sollte eigentlich ein Aufschrei des Entsetzens von der
Gesundheitsministerin durchs Land hallen; denn ihr obliegt es, auf das Geld der Pflegebedürftigen aufzupassen.
({8})
Frau Fischer, was sagen Sie eigentlich einer alten
Frau, die ein Leben lang schwer gearbeitet hat und keine
Kraft mehr hat, ihren an Alzheimer erkrankten Mann
rund um die Uhr zu Hause zu beaufsichtigen, sondern
dazu fremder Hilfe bedarf und auf die Pflegeversicherung hoffte? Dieser armen Frau stellen Sie jetzt den
Stuhl vor die Tür.
({9})
Ohne Moos nichts los; so ist es doch.
Auch in den Pflegeheimen ist es nicht anders. Wie
wollen Sie denn dort den Pflegeschlüssel wirksam verbessern, wenn Sie das dafür notwendige Geld Herrn
Riester und Herrn Eichel kampflos überlassen, meine
Damen und Herren?
({10})
Wie steht es denn mit Ihren Versprechungen in der
Koalitionsvereinbarung? Dort steht schwarz auf weiß:
Die Rücklage der Pflegeversicherung wird vorrangig für die dauerhafte Stabilisierung des Beitragssatzes verwendet. Die Bildung eines Teilkapitalstocks wird angestrebt.
Aber jetzt ist das Geld futsch, und Sie mucken nicht
einmal auf, Frau Fischer. Das ist bedauerlich. Das muß
ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
({11})
Offensichtlich hat man sich bei Rotgrün damit abgefunden, daß es bei dieser Bundesregierung und diesem
Bundeskanzler auf einen Wortbruch mehr oder weniger
gar nicht mehr ankommt.
({12})
Ich muß Ihnen wirklich sagen: Haben Sie von der
SPD und den Grünen etwas Mumm! Lassen Sie sich
nicht zum bloßen Stimmvieh von Schröder und Eichel
degradieren! Zeigen Sie ein wenig Rückgrat! Kippen Sie
das Sparpaket zumindest an diesem Punkt, und halten
Sie wenigstens gegenüber den Pflegebedürftigen, was
Sie den Menschen vor der Wahl versprochen haben.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Matthias Berninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Herr Kollege Wolf, man kann als Oppositionspolitiker
Fundamentalopposition gegen ein Sparpaket betreiben.
Das ist ja die Linie, die die CDU/CSU jetzt fährt. Erst
hat sie uns den Schuldenberg hinterlassen, dann hat sie
sich nicht mehr darum geschert, und nun betreibt sie
Fundamentalopposition. Aber bei den Menschen den
Eindruck zu erwecken, wir würden mit diesen Maßnahmen die Pflegeversicherung abschaffen - Herr Kollege
Wolf, hören Sie einen Moment zu; wir haben Ihnen auch
ruhig zugehört -, halte ich persönlich für eine bodenlose
Unverschämtheit.
({0})
Herr Kollege Wolf, man kann Fundamentalopposition
gegen ein Sparpaket betreiben, auch wenn man selbst für
den Schuldenberg verantwortlich ist. Sich aber hier hinzustellen und so zu tun, als würden sich durch diese
Maßnahmen die Leistungen für die Pflegebedürftigen in
irgendeiner Form ändern, finde ich persönlich bodenlos
unverschämt.
({1})
Und, Herr Kollege Wolf: Man kann sich hier hinstellen und Leistungsausweitungen in der Pflegeversicherung fordern. Sie aber in der eigenen Regierungszeit
nicht durchgesetzt zu haben finde ich mindestens genauso unverschämt.
({2})
Mich regen einige Krokodilstränen, die in dieser Debatte geflossen sind, ungeheuer auf. Die F.D.P. ist die
Partei, die Leistungsausweitungen in der Pflegeversicherung verhindert hat.
({3})
Wenn es nach denen gegangen wäre, hätte es keine
Pflegeversicherung gegeben. Dann würden wir eine völlig andere Debatte führen.
({4})
- Den Streit zwischen Ihnen beiden habe ich schon mitbekommen.
Meine Damen und Herren, wenn wir Ihren Weg weiterverfolgen und entsprechend weiterdiskutieren, dann
werden wir ein Ziel nicht erreichen: Wir werden diesen
Haushalt nicht ins Gleichgewicht bringen.
Das Ziel dieser Bundesregierung ist es, die hohe
Verschuldung und die dadurch hohe Zinsbelastung des
Bundes zurückzufahren. 83 Milliarden DM gehen Jahr
für Jahr nur für die Bedienung der Schulden drauf. Ein
Viertel aller Steuereinnahmen geht verloren, nur um
die Schulden, die Sie uns hinterlassen haben, zu zahlen.
Unser Ziel ist es, den Haushalt ins Gleichgewicht
zu bringen, die Nettoneuverschuldung auf Null zu fahren. Dazu - das räume ich gerne ein - sind auch Maßnahmen nötig, die nicht der reinen Lehre entsprechen
und über die wir uns nicht freuen. Die Ministerin, aber
auch alle anderen Rednerinnen und Redner der Regierungsfraktionen haben deutlich gemacht, daß wir
selbstverständlich sehen, daß 400 Millionen DM weniger Rücklagen in der Pflegeversicherung vorhanden
sind.
Aber - ich komme zu dem zurück, was am Anfang
der Debatte gesagt wurde, Herr Kollege Fink - es
stimmt nicht, daß Pflegebedürftige in uns keine Lobby
haben. Sie können uns trotz aller Polemik abnehmen:
Sie haben in uns eine große Lobby. Ministerin Fischer
wird kreativ daran arbeiten, Leistungsverbesserungen in
der Pflegeversicherung für diejenigen Menschen, die es
nötig haben, durchzusetzen. Die Koalition wird unsere
Ministerin darin unterstützen.
({5})
Es geht um etwas anderes: In uns haben die Beitragszahler insgesamt endlich eine Lobby. In den letzten acht
Jahren haben Sie den Beitragszahlern im Rahmen der
Sozialversicherung Mehrbelastungen von insgesamt
10 Prozent zugemutet. Das Ziel dieser Bundesregierung
ist es, die Beiträge stabil zu halten bzw. sie sogar zu
senken, damit Arbeit wieder billiger wird und ein weiteres wichtiges Ziel erreicht wird, nämlich die Arbeitslosigkeit in diesem Lande zu bekämpfen.
Das gibt mir Anlaß, auf eines hinzuweisen: Ich halte
es für ein gutes Zeichen, wenn die Beiträge für die
Krankenversicherung in diesem Jahr nicht weiter steigen.
({6})
Ich finde, das ist eine Leistung, was Ministerin Fischer
vollbracht hat. Sie wissen aus Ihrer Amtszeit, wie
schwer es ist, Beitragsstabilität in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu erreichen.
({7})
Ich halte es für eine gute Leistung, daß es der Bundesregierung mit Hilfe der Ökosteuer gelungen ist, die Beiträge zur Rentenversicherung abzusenken. Das sind
Dinge, die in Ihrer Regierungszeit überhaupt nicht
denkbar und möglich gewesen wären. Ich freue mich
darüber, daß das geklappt hat. Bei uns haben also die
Beitragszahler insgesamt eine Lobby, und unser Ziel ist
die Beitragssatzstabilität.
Vorhin wurde gesagt, Ministerin Fischer habe nicht
für die Pflegeversicherung gekämpft. Herr Kollege
Wolf, ich kenne Andrea Fischer ganz gut. Ich kann
Ihnen versichern: Sie hat ziemlich gekämpft. Nur, sie
hat sich nicht ganz durchsetzen können, weil wir vor
einem riesigen Problem stehen: Wir müssen die
Staatsausgaben in diesem Lande zurückfahren, um
Schulden abzubauen.
({8})
Wir in der Koalition müssen unangenehme Entscheidungen treffen. Sie können dagegen opponieren. Aber
ich garantiere Ihnen: Die Menschen werden es uns danken, wenn wir den Haushalt wieder ins Gleichgewicht
bringen.
({9})
- „Das sehen wir bei den Wahlen“, sagt er. Er ist zum
erstenmal in diesem Parlament. Ich kann mich an viele
Wahlen erinnern, die wir gewonnen haben, Herr Kollege. Dann haben wir uns zurückgelehnt,
({10})
die Realitäten weiter verleugnet und haben gedacht:
Kohl ist übernächste Woche nicht mehr da. Das hat so
nicht geklappt.
Ich weiß wohl, daß die Menschen im Moment einige
Probleme mit uns haben.
({11})
Aber ich weiß eines auch: Die Menschen sind mehrheitlich dafür, daß wir die Ausweitung der Staatsausgaben
so nicht weiterführen, daß wir den Haushalt konsolidieren. Ich bin ganz sicher, daß uns die Menschen dies
danken werden. Ich bin auch sicher, daß die finanzielle
Basis der Pflegeversicherung nach wie vor auf einem
derart hohen Niveau ist, daß wir eine dauerhafte Sicherung der Pflege in Deutschland garantieren können,
({12})
wenngleich wir alle gemeinsam wissen, Frau SchnieberJastram, daß in der langfristigen Perspektive auf Grund
der demographischen Entwicklung - die geringere
Rücklage in Höhe von 400 Millionen DM ist da keine
maßgebliche Stellgröße - Probleme sowohl auf die Pflegeversicherung als auch auf die Rentenversicherung zukommen.
Das gibt mir Anlaß, Sie um eines herzlich zu bitten,
und zwar darum, wieder zu der Politik zurückzukehren,
die Sie in der letzten Wahlperiode gemacht haben. Da
haben Sie die Realitäten der Rentenversicherung, den
demographischen Wandel und die Belastungen, die auf
die Rentenversicherung zukommen, anerkannt.
({13})
Sie sollten jetzt nicht den Fehler machen, weiterhin
Fundamentalopposition zu betreiben. Wenn Sie die demographische Entwicklung als Problem ernst nehmen,
dann sollten Sie sowohl in der Rentenpolitik als auch in
der übrigen Politik zu einem konstruktiven Dialog zurückkehren.
({14})
Sie sollten nicht den Fehler machen, weiterhin billigem
Populismus das Wort zu reden.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Berninger,
wenn man Sie so reden hört, dann ist festzustellen: Das
Ziel, das Sie haben, ist richtig. Auch wir haben dieses
Ziel.
({0})
Nur, das Werkzeug, das Sie in die Hand nehmen, um
dieses Ziel zu erreichen, ist für jeden Handwerker eine
Beleidigung. Das ist das Problem, das Sie haben.
({1})
Auch bei diesem Thema wird das verkehrte Werkzeug in die Hand genommen. Ich gehöre dem Bundestag
seit 1990 an. Ich habe damals in der entsprechenden
Kommission meiner Fraktion mitgearbeitet, in der wir
die Pflegeversicherung durchgesetzt haben. Die Pflegeversicherung war in ihren Inhalten nie umstritten. Heiß
umstritten war, wie man sie finanziert. Deswegen haben
Norbert Blüm und viele andere in der CDU, liebe Kollegin Fischer, immer darauf geachtet, daß wir die Finanzen bei der Pflegeversicherung solide voreinander haben. Es hat ja genug gegeben, die uns gewünscht haben,
daß die Pflegeversicherung schon nach einem Jahr vor
die Wand gefahren wäre. Ich kann mich daran erinnern,
daß von manchen im Parlament gesagt worden ist, wie
unfinanzierbar eine soziale Pflegeversicherung ist. Ich
war immer ein leidenschaftlicher Anhänger der sozialen
Pflegeversicherung. Wir werden sie aber nur behalten,
wenn wir gerade in diesem System sehr auf die Finanzen
achten.
Dadurch, daß wir drei Monate eher Beiträge erhoben
haben, als Leistungen erbracht worden sind, und daß in
den letzten Jahren immer ein bißchen weniger ausgegeben worden ist, als man eingenommen hat, haben wir erreicht, daß eine Rücklage da ist. Sie wissen alle, daß das
auf Grund von verschiedenen Entwicklungen kippt. Die
stationäre Pflege wird häufiger in Anspruch genommen
als die ambulante; da steigen die Kosten. Das hat direkt
mit den Ausgaben der Pflegeversicherung zu tun.
Daß man den Beitrag des Staates, den er für Arbeitslosenhilfebezieher zahlt, für die Krankenkasse bei 80
Prozent beläßt, wie es immer war, und bei der Pflegeversicherung auf den tatsächlichen Zahlbetrag bringt, ist
nun wirklich unmöglich.
({2})
Ich sage Ihnen: Wenn Norbert Blüm noch für die Pflegekasse zuständig wäre, wäre das nicht passiert.
({3})
Die Sozialpolitiker bei SPD und Grünen sollten, damit das System soziale Pflegeversicherung nicht beschädigt wird, bei den Beratungen in der Fraktion alles
daransetzen, einen anderen Hebel zu finden. Ich weiß
doch, wie das ist, wenn eine Regierung ein Sparpaket
macht: Die Gesamtvolumina müssen erbracht werden.
Ich habe ja auch Sparpakete mitgemacht.
({4})
Ich denke, man sollte bei dieser Frage noch einmal
nachdenken. Wir sollten das Image der Sozialversicherung - da geht es nämlich um mehr - nicht verletzen.
Wir müssen einen weiteren Punkt im Auge haben. Irgendwann werden wir bei der Pflegeversicherung einmal die Leistungen erhöhen müssen. Durch Preissteigerungen bei den Pflegestunden bekommen die Leute für
das Geld, das sie konstant seit einigen Jahren zahlen wir haben die Beiträge nie erhöht -, immer weniger
Pflegeleistungen. Wir müssen aufpassen, daß die Leistungen in der Pflegeversicherung und die Leistungen,
die wir in der Beihilfe für Pflege haben, nicht zu weit
auseinandergehen. Bei der Beihilfe ist das wie folgt geregelt: In der Pflegestufe I sind es 30 ambulante Pflegeeinsätze, in der Pflegestufe II sind es 60 und in der Pflegestufe III dann 90. Dort bekommt man also nach wie
vor 90 Pflegesätze, auch wenn die Preise steigen. Derjenige aber, der in der gesetzlichen Pflegeversicherung ist,
bekommt heute keine 90 Pflegesätze, sondern kann sich
allenfalls noch 78 kaufen. Wenn Sie jetzt das Geld für
den Staatshaushalt verfrühstücken,
({5})
dann machen Sie diesen Unterschied immer größer.
({6})
Darauf müssen Sie achten!
Sie sind wirklich auf dem Weg - das muß man ganz
klar sagen -, beitragsfinanzierte Leistungen stärker zu
belasten, damit Sie steuerfinanziert etwas in den Griff bekommen. Ich sage Ihnen: Es ist nicht mehr als recht und
billig, daß auch diejenigen, die über die Beihilfe eine verdammt gute Absicherung in der Pflege haben als Beamte
über die Steuergelder zumindest für die Arbeitslosen einen reelen Beitrag in die Pflegeversicherung entrichten.
({7})
Das wird aber durch Sie und Ihre Mehrheit zerstört.
Kehren Sie auf diesem schlimmen Weg, den Sie eingeschlagen haben, um!
Danke schön.
({8})
Kann ich dem
nächsten Redner das Wort geben?
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich möchte doch gerne
auf zwei, drei Punkte eingehen. Das eine Argument, das
Sie, Frau Fischer, verwendet haben, war, der Vorwurf
der Unsystematik treffe nicht zu. Dann frage ich Sie
aber: Wie können Sie es denn vertreten, daß die Arbeitslosenhilfe die Beiträge für die Krankenversicherung
der Arbeitslosenhilfeempfänger auf der Basis von 80 Prozent des früheren Bruttolohns zahlt, daß aber die Beiträge für die Pflegeversicherung der Arbeitslosenhilfeempfänger nur auf Grund von 53 Prozent des Nettoentgelts gezahlt werden?
Können Sie mir irgendeine sachliche Begründung
dafür nennen, warum das in dem einen Fall so und in
dem anderen Fall anders geregelt wird? Dies ist doch
erkennbar lediglich dem Umstand zu verdanken, daß
das eine Mal, nämlich bei der Gesundheitsreform, für
Sie die Notwendigkeit bestand, die Leute einigermaßen
beieinanderzuhalten, die es Ihnen nicht verziehen hätten, wenn Sie ihnen einen Milliardenausfall oktroyiert
hätten, während Sie das andere Mal gedacht haben: Na,
da sind ja noch 9,5 Milliarden DM! Die Haushaltspolitiker der SPD haben auch gerade zugegeben, daß das
nach dem Motto „Da kann man es schon einmal machen“ ging.
Das hat mit Ordnungspolitik, mit Sozialpolitik überhaupt nichts zu tun. Das steht damit in keinem sachlichen Zusammenhang.
({0})
Das ist auch der Grund dafür, weshalb hierzu kein
einziger Sozialpolitiker der SPD geredet hat.
({1})
Dies waren vielmehr zwei Haushaltspolitiker, weil sich
auch bei Ihnen die Sozialpolitiker ganz offensichtlich
dafür schämen, daß so etwas gemacht wird.
({2})
- Lieber Herr Andres, warum hat keiner von Ihnen dazu
geredet? Keiner von Ihnen hat dies verteidigt, denn es ist
nicht zu verteidigen.
Zweiter Punkt. Das sage ich jetzt zu Ihren Wirtschafts- und Finanzpolitikern: Es wäre noch eine einsichtige Argumentation zu sagen: Es muß auch bei der
Pflegeversicherung etwas getan werden, damit die
Haushaltszahlen zu einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Das wäre eine mögliche Argumentation. Herr Berninger hat es probiert. Aber diese Argumentation wäre nur dann schlüssig, wenn sich dadurch
irgend etwas bei den Staatsausgaben oder dem Staatsdefizit insgesamt ändern würde. Aber genau das tritt nicht
ein.
Durch Ihre Operation erreichen Sie nur, daß der Bund
um 400 Millionen DM pro Jahr entlastet wird. Sein
Ausgabengebaren wird dadurch überhaupt nicht verändert. Dagegen fällt bei der Pflegeversicherung das Defizit um 400 Millionen DM höher aus, als wenn Sie es
nicht gemacht hätten. An den Ausgaben der Pflegeversicherung ändert sich auch nichts. Das heißt, daß lediglich
eine Umschichtung des Gesamtstaatsdefizits vom Bund
auf die Pflegeversicherung stattfindet. Das ist volkswirtschaftlich in keiner Weise von Belang. Das Ergebnis ist
dasselbe wie vorher. Sie haben nicht einmal die geringste Aussicht, daß sich durch diese Operation an der wirtschaftlichen Entwicklung irgend etwas ändert.
Das einzige, was bei dieser Operation geschieht deshalb können Sie auch nicht die Argumente des Sparens oder der Konsolidierung für sich in Anspruch nehmen -, ist, daß Sie ein grundlegendes Prinzip verletzen,
nämlich daß man nicht in anderer Leute Kasse greifen
sollte.
({3})
Das ist - um es einmal ganz klar zu sagen - ein reiner
Diebstahl an den Pflegeversicherten und den Pflegebedürftigen, der jetzt stattfindet. Das ist nichts anderes.
({4})
Der Diebstahl ist durch nichts anderes als durch die Tatsache zu begründen, daß Sie sagen: Es fällt uns leichter,
bei den Pflegebedürftigen zuzugreifen, da diese keine so
starke Lobby haben, während die andere Seite, nämlich
Bund und Krankenversicherungen, eine starke Lobby
haben, so daß Sie sagen: Hier können wir es uns nicht so
leisten.
({5})
Nein, meine Damen und Herren, dies ist ein ganz
schlimmer Verstoß.
Wir müssen alles daran setzen, daß Sie daran gehindert werden, eine solche Politik, die sowohl auf wirtschaftlichem wie auch auf sozialem Gebiet versagt,
weiter durchzusetzen.
({6})
Wir müssen Sie daran hindern, daß Sie solch eine
schlechte Weichenstellung in der sozialen Entwicklung
vornehmen.
({7})
Damit ist die
Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der
Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in
der Bauwirtschaft - Schlechtwettergeldgesetz
({0})
- Drucksache 14/1516 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Verkehr, Bau und Wohnungswesen
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Klaus Wiesehügel.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Am 30. Juni dieses Jahres haben
wir noch in Bonn beschlossen, ein Gesetz zur Förderung
der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft,
besser bekannt unter dem Namen Schlechtwettergeldgesetz, einzubringen. Grundlage dieses Gesetzes ist ein
Zehnpunkteprogramm, auf das sich die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes und die Bundesregierung geeinigt haben. Das liegt uns heute in erster Lesung vor.
Ich will hier die Gelegenheit nutzen, auf die Eckpunkte, die diesem Gesetzentwurf zugrunde liegen, einzugehen, und möchte in diesem Redebeitrag auch auf
die zahlreichen Kritikpunkte eingehen, die mir in der
Zwischenzeit bekannt geworden sind. Ich will versuchen, sie hier abschließend zu widerlegen.
Meine Damen und Herren, beim ersten Punkt handelt
es sich um die Beibehaltung des sogenannten Dreisäulenmodells. Das heißt, es geht um die gemeinsame Finanzierung durch die Tarifvertragsparteien. Arbeitsmarktpolitisch ist dies immer schon notwendig gewesen
und hat in der Vergangenheit bis zum Jahre 1995 hervorragende Früchte für die durchgängige Beschäftigung
der Arbeitnehmer im Baugewerbe erbracht.
Ich habe vor kurzem anläßlich einer Veranstaltung
mit dem ehemaligen Minister Georg Leber sprechen
können und habe mit ihm die Beweggründe, die ihn und
die damalige Bundesregierung unter Führung von Konrad Adenauer dazu veranlaßt haben, ein Schlechtwettergeldgesetz zu verabschieden, erörtert. Er hat mir ganz
deutlich gesagt, daß es damals allen Beteiligten darum
ging, zu verhindern, daß es zur Winterarbeitslosigkeit
kommt. Jeder, der an dieser Schlechtwettergeldregelung
kratzt, der vom Dreisäulenmodell abweicht und versucht, eine der Säulen zum Absturz zu bringen, muß Arbeitslosigkeit in dem Maße produzieren, wie es vor dem
Gesetz der Fall gewesen ist.
Dies ist dann auch passiert. Als dieses Gesetz 1995
durch Sie, die damals an der Regierung waren, beseitigt
wurde, stieg die Arbeitslosigkeit im Baugewerbe
sprunghaft an. Das Schlimme war nicht nur, daß eine
große Arbeitslosigkeit entstand, sondern auch, daß diese
Änderung wider besseren Wissens geschah. Wir hatten
Ihnen das damals klar und deutlich gesagt. Dennoch haben Sie das getan, weil Sie damals in Zwängen gesteckt
haben, aus denen Sie nicht herauskamen.
Zum Schluß haben sich unsere Prognosen bewahrheitet: Das Ganze hat erheblich mehr Geld gekostet, als
Sie tatsächlich einsparen konnten. Pro Winter sind insgesamt 2 Milliarden DM ausgegeben worden; 700 Millionen DM wollten Sie eigentlich einsparen.
({0})
Die Flexibilisierung - das ist der zweite Punkt bleibt im Grundsatz erhalten. Während der ganzen Debatte dieses Jahres haben Sie hier Ihre wesentliche Kritik angesetzt. Überall war zu hören: Die Flexibilisierung
im Baugewerbe wird durch eine neue Schlechtwettergeldregelung abgeschafft. Dies war völliger Blödsinn
und zeigte, wie wenig Sie sich damals wie heute mit der
Materie beschäftigt haben.
Diese Flexibilisierung bleibt vollumfänglich erhalten
- ich komme darauf gleich noch einmal zurück -; sie
wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf sogar noch
stabilisiert und verbessert. Es war Wunsch beider Tarifvertragsparteien, diese Flexibilisierung beizubehalten,
weil auch das Baugewerbe eine moderne, flexibilisierte
Arbeitszeit braucht, weil nur so die Chance besteht, den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein ganzjähriges
Einkommen zu sichern.
Der nächste Punkt, auf den ich eingehen will, betrifft
den Eigenbeitrag der Arbeitnehmer, der von 50 auf 30
Stunden reduziert wurde. Auch das wurde kritisiert. Ich
will hier noch einmal sehr deutlich machen, warum das
nötig ist: Unternehmen, die geglaubt haben, ihre Auftragslage hänge überwiegend von dem Bereich ab, den
man den geschützten Bau nennt, also vom Innenbau,
und die deswegen keine Vorsorge geleistet haben, aber
plötzlich noch einen Rohbauauftrag bekommen, wodurch sie von dieser Regelung betroffen sind, können
bei einem Anteil von 30 Stunden erheblich schneller
und flexibler in diese Regelung einsteigen, als es bei
50 Stunden möglich ist. Von daher ist auch diesen Betrieben die Möglichkeit gegeben, von dem Gesetz in
vollem Umfang zu partizipieren.
Meine Damen und Herren, zukünftig wird von der 31.
bis zur 100. Stunde ein Winterausfallgeld aus der
Winterbauumlage gezahlt.
Aus dieser Umlage - das ist das Bedeutende und ganz
Entscheidende an diesem Gesetz - werden auch die
Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung gezahlt.
Dies ist besonders wichtig, weil auch durch den Reparaturversuch, den die alte Bundesregierung unternommen hat, als sie gemerkt hatte, welchen Schaden sie angerichtet hat - sie hat deshalb einen neuen, ergänzenden
Tarifvertrag gefordert -, Arbeitslosigkeit nicht auf Dauer verhindert werden konnte; denn die Unternehmen
kamen in die Situation, daß sie dann, wenn sie die Menschen nicht entlassen haben - vor allem in der liquiditätsschwachen Zeit im Winter -, für jede Stunde, in der
Schlechtwettergeld gezahlt wurde, auch Sozialversicherungsbeiträge aufbringen mußten, die sich zum Schluß
in einer Größenordnung von fast 8 DM pro Stunde bewegten.
Bei einem kleinen Handwerker ist es meistens so,
daß er von der Hand in den Mund lebt. Es ist bekannt,
daß die Unternehmen aus dem Baugewerbe keine
große Eigenkapitaldecke haben oder Vorsorge für die
liquiditätsschwache Zeit im Winter treffen können.
Entlassungen sind dann notwendig, weil den zu zahlenden Sozialversicherungsbeiträgen keine Leistungen
gegenüberstehen. Dies wird mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf repariert. Dort ist vorgesehen, daß die
Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang erstattet
werden.
Es gibt noch einen anderen wesentlichen Vorteil unseres Gesetzentwurfs: Die zu erstattenden Sozialversicherungsbeiträge werden nicht aus den öffentlichen
Kassen, sondern aus der Umlage finanziert. Diese Beiträge fließen tatsächlich in die Renten- und Krankenversicherung. Damit erhalten die Sozialversicherungsträger
bares Geld. Das ist ein wesentlicher Vorteil, auf den ich
hier deutlich hinweisen möchte.
Die Winterbauumlage beträgt unverändert 1,7 Prozent der Bruttolohnsumme. In der Vorbereitung zu unserem Gesetzentwurf gab es eine Diskussion, die mich
an manchen Stellen sehr verwundert hat. Ich habe immer gesagt, daß die Auswirkungen des neuen Gesetzes
nicht erheblich teurer werden als die der bisherigen
Regelungen. Vielleicht kann man es sogar schaffen,
daß die Kosten, die das neue Gesetz verursacht, genauso hoch sind wie die, die ursprünglich festgelegt worden waren. So ist es jetzt auch eingetreten: Auch nach
dem neuen Gesetz beträgt die Winterbauumlage 1,7
Prozent der Bruttolohnsumme. Es wird damit noch
mehr bewegt. Ich habe ja Verständnis dafür gehabt,
daß manche Arbeitgeber dagegen waren. Sie sprachen
sogar davon, daß die Winterbauumlage 3,5 Prozent der
Bruttolohnsumme betragen müsse. Dies sei noch der
unterste Rand. Ich habe sogar gelesen, daß sie bei 10
Prozent liegen sollte.
Sie haben diese Zahlen nur nachgeplappert, nachdem
Sie Post von Ihren Arbeitgeberfreunden erhalten hatten.
Sie haben weder damals noch heute selber gerechnet.
({1})
Das ist das Problem, wenn Sie an solche Dinge herangehen.
Ab der 101. Ausfallstunde wird das Winterausfallgeld von der Bundesanstalt für Arbeit finanziert. Dadurch werden die Belastungen für die Baubranche reduziert. Die Bundesanstalt hat dadurch einen Mehrbedarf
von 55 Millionen DM. Das sind die Kosten, die durch
das neue Gesetz entstehen. In diesem Haus und an anderen Stellen ist schon mehrfach behauptet worden, daß
für diese Neuregelung tief in die Tasche der öffentlichen
Hand gegriffen werden muß. Dies ist völliger Unsinn.
Die 55 Millionen DM decken sich automatisch, wenn
man bedenkt, daß für einen Bauarbeiter, der drei Monate
arbeitslos gewesen ist, 7 300 DM aufgebracht werden
müssen. Dies ist ein Erfahrungswert, den wir aus den
vergangenen Wintern abgeleitet haben. Wenn Sie die
Zahl von 7 300 DM nur mit der Zahl von 8 000 arbeitslosen Arbeitnehmer multiplizieren, dann liegt die Summe schon deutlich über den 55 Millionen DM. Ich rechne damit, daß von den 160 000 Bauarbeitern, die im
letzten Jahr arbeitslos waren, mindestens die Hälfte wenn die Regelung vernünftig und mit gutem Willen
umgesetzt wird - nicht mehr arbeitslos sein wird. Das
bedeutet also sogar einen erheblichen Gewinn für die
Bundesanstalt für Arbeit. Die Neuregelung ist auch arbeitsmarktpolitisch richtig. Die 55 Millionen DM an
Mehrbedarf werden in vollem Umfang gedeckt. Darauf
möchte ich hier hinweisen. Ich hoffe, daß Sie zumindest
diesmal in der Lage sind, richtig zu rechnen. Damals haben Sie falsch gerechnet.
Mit unserem Gesetzentwurf wird eine weitere Neuerung eingeführt, die in den alten Gesetzen nicht enthalten war, aber notwendig ist, nämlich das Verbot der
witterungsbedingten Kündigung. Sie kann erst jetzt
eingeführt werden, nachdem schon sehr viel in der
Branche kaputtgeschlagen wurde. Die Tarifvertragsparteien haben schon immer das Verbot der witterungsbedingten Kündigung im allgemeinverbindlichen Tarifvertrag festgelegt. Nur, heutzutage halten sich leider
nicht mehr allzuviele Arbeitgeber an den Tarifvertrag.
Sie werden dazu auch immer wieder aufgefordert: Wenn
man wie der Wirtschaftsminister von Sachsen, Herr
Schommer, täglich zum Tarifbruch auffordert, dann darf
man sich nicht wundern, daß die Tarifverträge nicht
mehr die Kraft entfalten, die ihnen ursprünglich innewohnte.
Jetzt wird dieser Tarifvertrag durch eine entsprechende arbeitsmarktpolitische Maßnahme, die äußerst sinnvoll ist, ergänzt. Wer nun den Tarifvertrag bricht und
dennoch kündigt, der kündigt in einer Zeit, in der die
Kündigung eigentlich verboten ist, und er muß der Bundesanstalt für Arbeit und damit der Allgemeinheit den
Schaden erstatten. Das ist das Neue und auch das Gute
in dem Gesetzentwurf. Ich bin mir sicher, daß das Gesetz in diesem Punkt tatsächlich wirkt.
Daß eine solche Regelung Teil des Gesetzes werden
muß, hat noch einen anderen Grund. Daß die Arbeitgeber, aufgehetzt von vielen Ihrer politischen Freunde, die
Arbeitgeberverbände verlassen, hat noch einen anderen, sehr großen Nachteil. Es geht nicht nur darum, daß
man sich den Tarifverträgen entziehen kann. Arbeitgeberverbände haben nicht nur die Funktion, Verhandlungen über Tarifverträge zu führen und für die Tarifverträge verantwortlich zu sein; Arbeitgeberverbände haben
auch die Funktion, ihre Mitglieder zu informieren.
Indem Teile der CDU mit unverantwortlichen Reden
die Menschen dazu bringen, die Arbeitgeberverbände zu
verlassen, haben wir es mit großen uninformierten Arbeitgebergruppen zu tun, besonders in den neuen Bundesländern. Kein Mensch sagt diesen Arbeitgebergruppen, wie neue Gesetze funktionieren, was hinter neuen
Gesetzen steht und wie sie sich darauf einzurichten haben. Deswegen kommen wir gar nicht darum herum,
jetzt entsprechende Maßnahmen durchzuführen. Durch
Ihre damalige Streichung des Schlechtwettergeldes ist so
viel Schaden entstanden, daß dieses Gesetz hoffentlich
schon im nächsten Winter erheblich wirkt. Ich hoffe,
daß wir in der Lage sind, diejenigen Informationen, die
jetzt nicht über die Verbände fließen, dann über die
Bundesanstalt für Arbeit zu vermitteln.
Die Winterbauausschüsse waren immer ein Instrument, die Zahlung von Schlechtwettergeld, ganzjährige
Beschäftigung und ganzjähriges Einkommen umzusetzen und arbeitsmarktpolitisch in diesem Sinne zu wirken. Sie haben auch diese Winterbauausschüsse abgeschafft. Ich habe bis heute nicht begriffen, warum Sie
das getan haben und was Sie daran gestört hat, daß sich
Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam mit der Bundesanstalt für Arbeit in Drittelparität zusammengesetzt
und überlegt haben, wie die schwierige Zeit des Winters
zu überbrücken ist und welche Maßnahmen man ergreifen kann, um die Arbeitnehmer in Arbeit zu halten.
Wir reparieren das, was dadurch kaputtgegangen ist,
daß die Winterbauausschüsse abgeschafft worden sind.
Die Winterbauausschüsse werden wieder eingerichtet,
und sie sind als arbeitsmarktpolitisches Instrument diesem Gesetzentwurf hinzugefügt, damit die Menschen
vor Ort, die sich mit der Situation am besten auskennen,
die die jeweilige Witterungssituation kennen, die wissen, welche Sorgen die Betriebe haben, die wissen, wie
die Situation der Arbeitnehmer aussieht, zusammen mit
den Winterbauausschüssen tatsächlich in der Lage sind,
die Dinge so zu regeln, daß möglichst wenig Menschen
arbeitslos werden.
Ein anderer Punkt - ich habe schon vorhin einmal auf
ihn hingewiesen - ist die Flexibilisierung. Wir haben
sie ausgedehnt. Mit der Summe der 1,7 Prozent der
Umlage, die ursprünglich überhaupt nicht ausreichen
sollte, schaffen wir ein zusätzliches Instrument zur Flexibilisierung. Zukünftig wird es so sein, daß jedem, der
im Sommer Überstunden gemacht hat, im Rahmen einer
großen Flexibilisierung 2 DM im Winter, wenn die
Überstunden zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und
zur Inanspruchnahme dieser Regelung genommen werden, zusätzlich vergütet werden. Für diese Flexibilisierung habe ich mich immer klar und deutlich ausgesprochen. Diejenigen Unternehmen, die das begriffen haben
- es sind einige -, machen schon jetzt in den Betrieben
Werbung und vereinbaren mit den Betriebsräten wesentlich mehr Flexibilisierungsmodelle als früher, weil
die entsprechenden Anreize vorhanden sind. So ist es
gedacht: Gesetze müssen Anreize schaffen. Diese Anreize sind von den Tarifvertragsparteien eingebracht
worden, und diese Anreize werden hoffentlich so wirKlaus Wiesehügel
ken, daß wir uns zukünftig über Winterarbeitslosigkeit
nicht mehr unterhalten müssen. Dieser Gesetzentwurf
soll die Dinge entsprechend regeln.
({2})
Es ist immer wieder der Gedanke in die Diskussion
eingebracht worden, tarifvertragliche Regelungen gingen vor und als Gesetzgeber dürfe man nicht eingreifen,
man solle die Tarifpartner die Probleme alleine klären
lassen. Dieser Gesetzentwurf ist so konzipiert, daß er
nicht in die Tarifverträge eingreift. Kenner der Materie
wissen, daß wir in unterschiedlichen Branchen, die von
schlechtem Wetter betroffen sind, verschiedene Tarifverträge haben. Es handelt sich nicht nur um das Baugewerbe, sondern auch um das Gerüstbaugewerbe, um
das Dachdeckergewerbe und um den Garten- und Landschaftsbau. Alle diese Tarifverträge können in ihrer Verschiedenheit in vollem Umfang funktionieren, und trotzdem kann die Ihnen heute vorliegende Regelung dort
angewandt werden. Damit ist in diesem Bereich der Beweis gelungen, daß die Arbeit der Tarifvertragsparteien
mit der Gesetzgebung gekoppelt werden kann, so daß
arbeitsmarktpolitisch Erfolg erzielt werden kann.
Ich zumindest, meine Damen und Herren, bin davon
überzeugt, daß dieses neue Gesetz seinen arbeitsmarktpolitischen Aufgaben nachkommen wird und damit erneut beschäftigungspolitischer Schaden, den die alte
Bundesregierung ja in großem Umfang verursacht hat,
behoben wird. Darüber bin ich froh, denn ich habe
ziemlich lange darauf gewartet, daß das kommt.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Hans-Peter Friedrich.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Durch die Vorlage dieses Gesetzentwurfes, den Sie
wahrheitswidrig Gesetzentwurf zur Förderung der
ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft nennen, wird einmal mehr deutlich, in welch unglaublichem
Maße Sie die Menschen vor der Wahl in die Irre geführt
haben. Jetzt, ein Jahr nach der Wahl, backen Sie ganz
kleine, aber leider ungenießbare Brötchen. Deswegen
brauchen Sie sich überhaupt nicht zu wundern, wenn Ihnen die Menschen von einer Wahl zur anderen die
Quittung für Ihre Unwahrhaftigkeit erteilen.
({0})
Herr Kollege Wiesehügel, ich wundere mich schon
über Ihre Rede. Sie waren, wenn ich mich richtig erinnere, einer von denjenigen, die sich im April, also sieben
Monate nach der Wahl, noch an die Parolen erinnert haben, die man vor der Wahl ausgegeben hatte. Sie wollten,
wenn ich es richtig in Erinnerung habe - vielleicht haben
die Zeitungen da ja etwas völlig Falsches geschrieben ({1})
wieder ein Winterausfallgeld ab der ersten Arbeitsstunde einführen. Heute wissen Sie davon offensichtlich nichts mehr. Gegen Ihre Versprechen, Herr Wiesehügel, an die Sie offensichtlich geglaubt haben, hat
aber auch schon im April gesprochen, daß sie weit von
der Realität in der deutschen Bauwirtschaft, die von
Konkurrenzdruck und Wettbewerb bestimmt ist, entfernt waren.
({2})
Durch ihren Gesetzentwurf bestätigt die Regierungskoalition im Grunde genommen - Sie haben das ja vorhin ausgeführt - das von der Kohl-Regierung reformierte und flexibilisierte Dreisäulenmodell. Dieses
Modell steht gleichsam symbolisch für die Richtung, in
die die Reformen unseres Sozialstaates und unserer sozialen Marktwirtschaft gehen müssen.
Erste Säule: Jeder muß im Rahmen des ihm Möglichen und ihm Zumutbaren Arbeitslosigkeit und Verdienstausfall vermeiden.
({3})
Die Bauarbeiter haben dieses Prinzip begriffen und akzeptiert, weil damit der richtige Weg aus der Arbeitslosigkeit aufgezeigt wurde: während des Jahres Überstunden ansammeln, sie in der Schlechtwetterperiode
einsetzen und dadurch Lohnausfall mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen vermeiden. Wenn ich es
richtig einschätze, hat das ja auch funktioniert. Der
Zentralverband des Deutschen Baugewerbes gibt an,
daß zwei Drittel der Baubetriebe Arbeitszeitkonten
führen, was sie, wie Sie sagten, immer wollten. Beim
Hauptverband der Deutschen Bauindustrie heißt es, sogar 88 Prozent der Unternehmen hätten solche Arbeitszeitkonten.
Zweite Säule: Ab einer gewissen zumutbaren Eigenleistung muß die nächstgrößere Einheit, nämlich der
Zusammenschluß der Unternehmen in einer Branche,
einen Ausgleich finden, also zum Beispiel durch eine
Winterbauumlage Solidarität der Branche beweisen.
Für diese ersten beiden Stufen brauchen die Tarifpartner noch nicht einmal gesetzliche Regelungen. Das
könnten sie eigentlich im Rahmen ihrer Tarifautonomie
selber lösen. Deswegen wundere ich mich, daß Sie als
Gewerkschafter mehr kleinlaut sagen, Sie griffen gar
nicht in Tarifverträge ein. Sie sollten diese Möglichkeiten zur Flexibilisierung selber nutzen.
Die dritte Säule greift dann, wenn es ganz schlimm
kommt, wenn es harte Winter oder kaum Winterbautätigkeit in klimatisch schwierigen Bereichen gibt. Vor
allem in den Mittelgebirgen, wo die Winter sehr hart
und sehr lang sind, im Thüringer Wald oder im Bayrischen Wald, haben wir natürlich Schwierigkeiten. Hier
ist die Solidarität aller gefordert, erst hier kommt das
beitragsfinanzierte Winterausfallgeld zum Zuge.
({4})
Diese drei Stufen der Subsidiarität gilt es zu stärken,
denn sie haben dazu beigetragen, daß die WinterarKlaus Wiesehügel
beitslosigkeit am Bau im Januar und Februar 1999 im
Vergleich zu den Vorjahresmonaten rückläufig war.
({5})
Ich dachte, Sie, Herr Wiesehügel, hätten bestätigt, daß
sie im Februar immerhin um 9,4 Prozent zurückgegangen ist.
({6})
Das war, wie ich denke, eine gute Nachricht für die
Bauarbeiter in Deutschland.
Sie hätten sagen müssen: Dies war der richtige Weg,
und wir gehen ihn weiter, weil dadurch die Bruttoarbeitseinkommen der Arbeitnehmer stabilisiert werden.
Statt dessen machen Sie erst die Leute mit falschen Parolen verrückt, verunsichern dann die Bauwirtschaft und
machen am Schluß eine Minireform, die Signale in die
falsche Richtung gibt nach dem Motto: Die Selbstverantwortung der Tarifpartner war nicht so ernst gemeint.
({7})
Die Bauwirtschaft muß schon froh sein, daß die Lohnnebenkosten durch die Wintergeldumlage nicht noch
steigen.
Sie verpassen damit die Chance, die Umlage und die
Lohnnebenkosten zu senken - auch dieses Ziel steht
übrigens in Ihrer Koalitionsvereinbarung -, um damit
Impulse für die Schaffung neuer und die Erhaltung bestehender Arbeitsplätze zu geben. Sie senden permanent
Signale in die falsche Richtung, auch mit diesem Gesetzentwurf, obwohl gerade in diesen Tagen der Internationale Währungsfonds die Bundesregierung ermahnt,
Reformen am Arbeitsmarkt anzugehen.
In der gemeinsamen Erklärung von Arbeitgebern und
DGB vom 6. Juli 1999 heißt es:
Auf allen Ebenen des sozialen und wirtschaftlichen
Lebens ist eine auf mehrere Jahre angelegte Politik
zur Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung notwendig.
Die Bundesregierung macht genau das Gegenteil: Sie
schränkt die neu geschaffenen Flexibilisierungsreserven
der Bauwirtschaft wieder ein.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiesehügel?
Ja,
bitte.
Herr Kollege, Sie haben
gerade gesagt, daß wir es versäumt hätten, die entsprechende Umlage und die Lohnnebenkosten zu senken. Ist
Ihnen denn bekannt, daß die Winterbauumlage zusammen mit den Beiträgen zur Sozialversicherung des Baugewerbes erhoben wird? Und ist Ihnen bekannt, daß die
Tarifvertragsparteien diese justament vor dieser Regelung schon einmal gesenkt haben? Kennen Sie sich
überhaupt in diesem System aus, über das Sie jetzt hier
so hervorragend zu referieren versuchen?
Lieber Herr Kollege, das ist doch genau das, was ich sage.
Die Chance durch die Flexibilisierung zwischen der ersten und der zweiten Säule, die Sie als Tarifpartner hätten nutzen können, haben Sie nicht wahrgenommen,
sondern Sie haben dieses System zu Lasten der zweiten
Stufe wieder aufgegeben.
({0})
Natürlich ist mir klar, daß das die Bauwirtschaft aufregt.
Schließlich sind es Lohnnebenkosten, lieber Herr Kollege Wiesehügel.
({1})
Sie haben das Ziel, sie zu senken. Aber mit dieser Maßnahme senken Sie sie nicht.
Ich hatte bisher eigentlich den Eindruck - mehr in der
Realität draußen, vielleicht nicht in den oberen Gewerkschaftsetagen -, daß viele Tarifpartner in ihrem Denken
schon viel weiter sind. Vielleicht trifft das auf den DGB
nicht zu.
Aber ich möchte noch einmal aus der Erklärung von
BDA und DGB vom 6. Juli zitieren:
Bei der Arbeitszeit stehen die tariflichen Vereinbarungen von Arbeitszeitkorridoren, Jahresarbeitszeiten, die Schaffung von Jahres-, Langzeit- und
Lebensarbeitszeiten im Mittelpunkt.
So heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer.
Wir reden über Langzeitarbeitskonten, das heißt, es
wird in Lebenszeitabschnitten gerechnet. Wir reden über
Leistungen eines 35jährigen, die ihm zugute kommen,
wenn er 55 ist. Und diese Bundesregierung hält es für
unzumutbar, 30 oder 50 Überstunden vom Sommer in
den Winter zu schieben! Ich denke, das zeigt, wie weit
Sie von der Realität entfernt sind.
({2})
Sie fordern immer den Abbau von Überstunden.
Genau das passiert hier: Im Sommer aufgebaute Überstunden werden im Winter beschäftigungswirksam abgebaut. Das war das Ziel der Reform vor drei Jahren. Sie
sehen hier offensichtlich einen neoliberalen Exzeß. Jedenfalls greifen Sie mit Ihrem Gesetzgebungsaktionismus hier ein.
Das erklärt auch, warum Sie mit den großen Problemen in unserer Wirtschaft nicht fertig werden. Hören Sie
auf, in den Verantwortungsbereich der Tarifpolitik einzugreifen, wie Sie es schon beim Kündigungsschutz getan haben. Die wahren Bündnisse für Arbeit finden tausendfach in den Betrieben der Republik statt. Es ist der
falsche Weg, den Tarifpartnern Verantwortung abzunehmen, in einer Phase, in der sie meiner Meinung nach
Dr. Hans-Peter Friedrich ({3})
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d
D
r. Hans-Peter Friedrich ({4})
ewiesen haben, daß sie gemeinsam Verantwortung zum
ohl der Arbeitnehmer und der Wirtschaft übernehmen
önnen.
({5})
Das eigentliche Problem, auch im Baubereich, liegt
icht darin, daß das Wetter so schlecht ist, sondern darn, daß die Auftragslage schlecht ist. Hier entsteht Areitslosigkeit. Eigentlich sind die Rahmenbedingungen
ür den Baubereich derzeit günstig. Wir haben dank
iner soliden Finanzpolitik des Finanzministers Waigel
eiterhin günstige Finanzierungsbedingungen.
({6})
ir haben stabile Preise für Bauleistungen. Beides bieet die Chance einer Stabilisierung der Inlandsnachfrage
uch im Bereich der deutschen Bauwirtschaft.
Die Bundesbank sagt in ihrem jüngsten Bericht veralten optimistisch, daß insbesondere bei den öffentlihen Bauaufträgen eine positive Tendenz feststellbar ist,
or allem im Hochbau. Auch hier zeigt die investitionsördernde Politik der Regierung Kohl Langfristwirkung.
Jetzt bereiten Sie einen rotgrünen Doppelschlag geen die öffentliche Investitionstätigkeit vor: Erstens
enken Sie die Investitionsausgaben des Bundes im
aushalt 2000 nachhaltig, auf weniger als 58 Miliarden DM. 2003 sollen es sogar nur 53 Milliarden DM
ein. Damit ist die Investitionsquote auf historischem
iefstand. Zweitens nehmen Sie mit der geplanten Verchiebung von Belastungen auf Länder und Gemeinden
or allem den Kommunen die notwendigen Finanzspieläume für Investitionen, die sie vor allem im Hochbau
ätigen. Sie sind dabei, die positiven Ansätze im öffentichen Baubereich, die momentan feststellbar sind, zu
erstören. Die Leidtragenden werden in erster Linie die
auarbeiter und ihre Familien sein.
({7})
Das ist einer von vielen Gründen dafür, daß die Reierung Schröder Monat für Monat mehr Arbeitslosigeit produziert - 40 000 alleine in den letzten sechs
onaten. Der Bundeskanzler, der angetreten ist, die
assenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, schaut zu, wie
ich seine Minister und, wie ich jetzt feststelle, auch die
usschußmitglieder seiner Fraktion Sandkastenspielen
idmen und kleinkarierte Ideologie betreiben.
Das 630-Mark-Chaos und die Regelungen zur
cheinselbständigkeit waren schon politische Kurzchlußhandlungen mit verheerenden Auswirkungen.
ber es reicht der SPD offensichtlich immer noch nicht.
eitere Steuererhöhungen, die die Bürger und die
irtschaft strangulieren, werden derzeit permanent disutiert: Stromsteuer, Mineralölsteuererhöhung, neue
ermögensteuer, Erbschaftsteuererhöhung, Vernichtung
ittelständischer Existenzen in der Landwirtschaft - das
lles zerstört Vertrauen und schafft Unsicherheit.
Im Ergebnis ist die rotgrüne Politik eine Politik auf
em Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Kehren Sie auf diesem falschen Weg um! Wir sind zu
einem zukunftsorientierten Dialog bereit.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Herr Kollege Friedrich, ich muß mich schon sehr wundern, daß
Sie hier plötzlich das Bündnis für Arbeit reklamieren,
welches auf einzelbetrieblicher Ebene an vielen Stellen
stattfindet. Sie gehören doch zu der Partei, die unter ihrem Bundeskanzler alles darangesetzt hat, das Zustandekommen eines Bündnisses für Arbeit zu verhindern.
({0})
- Ja, Herr Hirche, natürlich ist es auf Betriebsebene vernünftig. Aber wir sind doch diejenigen, die in diesem
Land Bündnisse für Arbeit auf allen gesellschaftlichen
Ebenen voranbringen wollen. Wir können mit Zahlen
belegen, daß das bei Ihnen eben nicht funktioniert hat,
gerade im Bereich Bau.
({1})
Durch die Abschaffung des Schlechtwettergeldes haben Sie doch die Entwicklung losgetreten, daß trotz einzelbetrieblicher Lösungen im Zusammenhang eines
Bündnisses für Arbeit die Winterarbeitslosigkeit in den
letzten Jahren extrem in die Höhe gegangen ist. Die Arbeitgeber hätten doch die Chance gehabt, das zu beweisen, was Sie immer behaupten, nämlich daß diese Branche, die unter extrem schwierigen Bedingungen - man
denke nur an die Witterungsabhängigkeit - arbeiten
muß, in der Lage ist, diese Regelungen alleine zu treffen. Das war nicht der Fall. Deswegen sind die Regelungen des Kompromisses, der erzielt worden ist, gesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich notwendig und helfen sowohl den kleinen und mittleren Betrieben in der
Bauwirtschaft als auch den Beschäftigten.
Meine Damen und Herren, Ziel der rotgrünen Politik
ist es, die Arbeitslosigkeit zu senken. Die Regelung zum
Schlechtwettergeld in der Bauwirtschaft ist ein Baustein
im Zusammenhang mit diesem Projekt.
({2})
Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht einfach nur
ein guter Kompromiß, der zwischen den Handelnden zustande gekommen ist, sondern er ist auch in der Substanz eine gute Lösung, weil er die Winterarbeitslosigkeit tatsächlich reduzieren wird und auf der anderen
Seite die Einkommen der Beschäftigten verstetigen
kann. Gegenüber dem jetzigen Zustand, den Sie hergestellt haben und der tatsächlich zu einer Verschärfung
geführt hat, ist hier für alle Seiten, für die Arbeitgeber,
und zwar gerade für diejenigen in den kleinen und mittleren Betrieben, für die Beschäftigten, aber auch für die
Bundesanstalt für Arbeit eine vernünftige Lösung gefunden worden, die für alle Seiten vorteilhaft ist. Deswegen kommt das Lob von allen Seiten.
({3})
Die Winterarbeitslosigkeit ist nicht einfach nur ein
Problem der Baubranche. Die Winterarbeitslosigkeit ist
ein gesamtvolkswirtschaftliches Problem. Sie bedeutet
nicht nur eine soziale Härte für die Beschäftigten, sondern sie bedeutet insbesondere ökonomische Probleme
für die kleinen Betriebe im Baugewerbe, die durch die
Winterarbeitslosigkeit in eine Situation geraten, in der es
immer schwieriger wird, die notwendigen Fachkräfte
überhaupt halten zu können.
Wir haben hier eine hohe Fluktuation, die die Situation in spezifischer Weise verschärft. Mit diesem Gesetz
wird es uns gelingen - das glaube ich jedenfalls -, eine
gute Hilfe für die kleineren und mittleren Betriebe zu
bieten, damit sie ihre notwendigen Fachkräfte über den
Winter hinweg beschäftigen können.
Wir können uns gern darüber streiten, Herr Friedrich, in welchem Ausmaß die nachweislich verschärfte
Winterarbeitslosigkeit durch die Abschaffung des
Schlechtwettergeldgesetzes erzeugt worden ist und
welche anderen Einflüsse, beispielsweise konjunkturelle, es gegeben hat. Wir können uns darüber streiten,
wie stark die einzelnen Einflüsse waren. Aber das
Hochschnellen der Winterarbeitslosigkeit um bis zu
80 Prozent läßt auf alle Fälle ganz deutlich sichtbar
werden, daß die Abschaffung des Schlechtwettergelds
wirklich zu einer signifikanten Verschlechterung in
diesem Bereich geführt hat.
({4})
Deswegen bin ich sehr froh, daß es gelungen ist, bei
einer sehr schwierigen Ausgangsposition diesen fairen
Interessenausgleich herzustellen und das Drei-SäulenModell - Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit tun gemeinsam etwas gegen die Winterarbeitslosigkeit - durchzusetzen.
Wenn Sie behaupten, das ginge zu Lasten der Steuerzahler, hier entstünden zusätzliche Kosten in Millionenhöhe, dann hat Ihnen Herr Wiesehügel soeben in guter
Weise vorgerechnet, daß es eine Milchjungenrechnung
war, die Sie aufgemacht haben.
Kosten in Höhe von ungefähr 55 Millionen DM werden der Bundesanstalt für Arbeit durch diese Regelung
entstehen. Aber sicher ist auch, daß etwa 7 500 bis 8 000
Arbeitslose weniger im Winter genau dieses Geld einspielen werden.
({5})
Bedenken Sie, daß wir in den letzten Jahren zu Silvester
ungefähr 160 000 Arbeitslose im Baubereich hatten. Es
liegt doch auf der Hand, daß es gelingen wird, mindestens 8 000 Arbeitsplätze mehr über den Winter sichern
zu können.
({6})
Mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir durch dieses
Gesetz sehr viel mehr Winterarbeitslosigkeit verhindern.
Dann wird sogar eine positive Rechnung für die Bundesanstalt für Arbeit herauskommen.
Ein anderer Aspekt dieses Kompromisses, der
erstritten worden ist, wurde bereits angesprochen: Die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bringen etwas in
diese Regelung ein, sie bringen Arbeitsstunden als Kapital ein. Ich finde es ausgesprochen gut, daß infolge der
Entwicklung der letzten Jahre die Förderung von Arbeitszeitkonten in der Bauwirtschaft auch mit diesem
Gesetz noch einmal befördert wird. Natürlich brauchen
wir diese Flexibilität auch und gerade in der Bauwirtschaft. Durch das Angebot eines Wintergeldes in Höhe
von 2 DM pro Stunde für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die mehr als 30 Überstunden einbringen,
besteht auch ein großer Anreiz, zusätzliche Arbeitszeitkonten zu befördern. Die Beschränkung auf 30 anstatt
50 Stunden ist zugleich eine Regelung, die kleine Betriebe nicht überfordert.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz bringt nicht
nur Vorteile im Sinne der Verhinderung von Winterarbeitslosigkeit, sondern es bringt auch den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern Vorteile, weil es ihnen das
Schlechtwetterrisiko nimmt, ohne daß dies mit einer Erhöhung der Lohnnebenkosten verbunden wäre, wie Sie
immer wieder fälschlich behaupten. Der Beitrag für die
Winterbauumlage bleibt bei 1,7 Prozent. Das Gesetz
bringt ihnen auch deshalb Vorteile, weil die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber - in den kleineren und mittleren
Betrieben haben sie es besonders nötig - von den zusätzlichen Sozialabgaben beim Schlechtwettergeld nun
vollständig befreit werden. Sie alle wissen, daß Betriebe
sich im Winter immer wieder gezwungen sahen, zur
Einsparung von Sozialabgaben Arbeitskräfte in die Arbeitslosigkeit zu schicken, und zwar auch solche Betriebe, die das gerne verhindert hätten. Diese Regelung wird
es ihnen ermöglichen, ihre Arbeitskräfte zu halten.
Wenn Sie behaupten, wir träfen eine Überregelung
für einen Bereich, der sich selbst regulieren könnte,
dann mache ich Sie darauf aufmerksam, daß die Entwicklung der Winterarbeitslosigkeit in den vergangenen
Jahren gezeigt hat, daß sich dieser Bereich nicht selber
regulieren kann. Im Ausland gibt es vergleichbare Regelungen. Deswegen ist das, was hier als Kompromiß
vorgelegt wird, keine Überregelung zu Lasten Dritter,
sondern eine gemeinsame Anstrengung der Arbeitgeber,
der Arbeitnehmer und Gewerkschaften sowie der Bundesanstalt für Arbeit, um eine sehr mißliche Entwicklung in dieser Volkswirtschaft, nämlich die Winterarbeitslosigkeit, zu stoppen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, es ist
einfach eine falsche, eine populistische Argumentation,
wenn Sie sagen, diese Regelung gehe zu Lasten der
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Umgekehrt wird ein
Schuh daraus: Die Verstetigung der Arbeit und die Verhinderung von Winterarbeitslosigkeit nützen der gesamten Volkswirtschaft. Die Lohnnebenkosten werden
nicht steigen. Die zusätzlichen Kosten der Bundesanstalt
für Arbeit werden über eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit wieder eingespielt werden. Nicht zuletzt können
die spezifischen Härten für die Beschäftigten im Baugewerbe abgebaut werden.
Deswegen lautet meine abschließende Bewertung: Das
war in der Tat ein Ergebnis eines kleinen Bündnisses für
Arbeit, das allen Vorteile gebracht hat. Es bringt den
Arbeitgebern, aber auch den Arbeitnehmern Vorteile.
({7})
Hier ist also ein guter Kompromiß erarbeitet worden. Insoweit hoffe ich, daß Sie alle, meine Damen und Herren
- auch die F.D.P., auch Herr Hirche -, diesem Gesetzentwurf zustimmen können.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Niebel.
Frau Präsidentin!
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich vorhin
dem Kollegen Wiesehügel zuhörte, ging ich davon aus,
daß es sinnvoll wäre, meine Rede vom 30. Juni zu zitieren, weil sich seine Argumente seitdem überhaupt nicht
verbessert haben.
({1})
Aber die Rede von Frau Kollegin Dückert hat mich dazu
gebracht, das doch lieber zu lassen. Frau Dückert, es ist
mir einfach unbegreiflich, daß Sie hier allen Ernstes so
tun, als sei das Drei-Säulen-Modell die Erfindung der
rotgrünen Bundesregierung.
({2})
- Sie haben so getan, als hätten Sie erfunden, daß sich
Arbeitnehmer, Arbeitgeber und die Bundesanstalt für
Arbeit ganz toll in dieses Problem hineinteilen. Ich
möchte Ihnen sagen, was los ist: Der Kollege Wiesehügel ist noch im April durch die Reihen gegangen und hat
Unterschriften für eine Bezahlung ab der ersten Ausfallstunde gesammelt.
({3})
Er ist dann von Ihrem Fraktionsvorsitzenden, Frau Rennebach, zurückgepfiffen worden, weil diese Regelung
dann doch übertrieben gewesen wäre.
({4})
Sie hätten sich im Rahmen dieser Regelung das große
Ziel für die Zukunft vornehmen sollen, die Arbeitszeitflexibilisierung weiter voranzutreiben, Jahresarbeitszeitkonten und Lebensarbeitszeitkonten zu schaffen.
Das haben Sie versäumt. Wie sieht die Situation jetzt
aus? Sie haben eine Vorarbeitszeit von 30 Stunden statt
bisher 50 Stunden - also deutlich weniger als bisher eingeführt. Sie haben die Umlage für den Zeitraum von
der 31. bis zur 100. Stunde eingeführt. Die Bundesanstalt für Arbeit greift ab der 101. statt ab der 120. Arbeitsstunde ein. Welchen Sinn sollte es angesichts dieser
Regelung für einen Bauarbeiter machen, auch nur eine
Minute länger als diese 30 Stunden vorzuarbeiten?
({5})
- Frau Kollegin Rennebach, wenn Sie mir zuhören würden, müßten Sie bemerken, daß ich das weiß.
({6})
Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie hat
festgestellt, daß durch die Vorarbeit die Zahl der Entlassungen trotz des harten und kalten Winters im letzten
Jahr dramatisch zurückgegangen ist. Über 80 Prozent
der Betriebe mit mehr als 20 Arbeitnehmern nutzten diese Möglichkeit der Vorarbeit, um mehr Flexibilität zu
schaffen und um den Arbeitnehmern am Bau die Möglichkeit zu geben, auch ein Stück Eigenleistung für ihre
Arbeitsplatzsicherheit zu erbringen.
Das Ifo-Institut hat im Oktober 1998 in einer Umfrage
festgestellt, daß Gutzeiten von durchschnittlich 64 Stunden erarbeitet worden sind, die mit der Betriebsgröße ansteigen. 98 Prozent aller erarbeiteten Gutzeiten sind tatsächlich für Schlechtwettertage eingesetzt worden.
Herr Kollege Wiesehügel, ich möchte auf Ihr Kampfblatt „SWG-Express“ eingehen und wiederholen, was
ich schon am 30. Juni gesagt habe, weil dies bezeichnend ist. Sie schreiben im „SWG-Express“: Beharrlichkeit bei der eigenen Interessenvertretung zahlt sich aus.
- Ich möchte Ihnen heute zustimmen; denn es handelt
sich tatsächlich um die Vertretung der Partikularinteressen der Mitglieder der Gewerkschaft BAU. Sie haben
die Interessen der Allgemeinheit überhaupt nicht zur
Kenntnis genommen. Sie sichern mit diesem Kompromiß keinen einzigen Arbeitsplatz am Bau, und Sie verhindern damit überhaupt nicht, daß die Lohnzusatzkosten weiter steigen.
55 Millionen DM Mehrbelastung bei der Bundesanstalt für Arbeit rechnen Sie mit zweifelhaften Zahlen
gegen, wie auch in der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf - ich zitiere aus dem Teil C auf Seite 18 -: Allein schon wegen urlaubs- und krankheitsbedingter Abwesenheit vieler Bauarbeiter in der Schlechtwetterzeit
wird sich das vermindern. - Man kann doch beim besten
Willen nicht das Einsparen von Schlechtwettergeld auf
Grund von Krankheit gegen die 55 Millionen DM aufrechnen. Diese Rechnung ist ziemlich gewagt. Ich kann
Ihnen versichern, daß diese Regelung mit Sicherheit
nicht sozial gerecht ist. Ihre Politik ist nämlich Politik
für Arbeitsplatzbesitzer. Diejenigen aber, die vor der Tür
stehen und in die Arbeitswelt wollen, stehen auf Grund
der durch Ihre Regelung bewirkten Erhöhung der Lohnnebenkosten vor einer zusätzlichen Hürde und werden
so von Ihnen draußen gehalten.
({7})
Herr Kollege Wiesehügel, im „SWG-Express“ ist
ebenfalls zu lesen, daß Sie, als Sie das Programm zusammen mit dem Herrn Bundeskanzler vorgestellt haben, gesagt haben, ein kleines Bündnis für Arbeit sei dabei herausgekommen.
({8})
- Mir ist völlig klar, daß Sie diese Zeitschrift gerne sehen.
({9})
Es ist wieder einmal deutlich festzustellen, daß 244
von 298 Abgeordneten der SPD-Fraktion Mitglieder einer Gewerkschaft sind und daß sie die Partikularinteressen der Gewerkschaften vertreten.
({10})
Es gibt eine zwingende Notwendigkeit für Gewerkschaften in diesem Land, um Ungerechtigkeiten in der
Arbeitswelt zu verhindern. Aber das ist noch lange kein
Grund, daß die Gewerkschaften in diesem Land die
Richtlinien der Politik bestimmen.
({11})
Sie bewirken mit diesem Gesetzentwurf eine Verlagerung der Kosten und Verantwortung auf die Allgemeinheit.
({12})
Sie machen genau das, was der Kollege Friedrich gesagt
hat: Sie entmündigen die an der Tarifpolitik Beteiligten.
Es ist mir unbegreiflich, wie Sie als Gewerkschaftsführer es zulassen können, daß nicht die Tarifpartner eine
Regelung finden müssen, sondern daß der Gesetzgeber
eingreifen muß. Sie entmündigen sich selbst als Gewerkschaftsfunktionär, frei nach dem Motto „Vater Staat
nimmt den deutschen Michel an die Hand und führt ihn
mit seiner Schlafmütze durchs ganze Leben“. Lassen Sie
den Menschen in diesem Land ein bißchen mehr Eigenverantwortung!
({13})
Lassen Sie den Menschen doch die Möglichkeit, das
Ziel zu erreichen, an dem Sie sich selbst messen lassen
wollen, nämlich an dem Abbau der Arbeitslosigkeit!
Auf diese Art und Weise werden Sie das mit Sicherheit
nicht schaffen, und das finde ich sehr bedauerlich.
({14})
Herr Kollege Wiesehügel, diese Regelung wird natürlich auch, weil die Lohnnebenkosten steigen werden,
wieder mehr Anreiz für Schwarzarbeit bringen. Und
was ist Ihre Lösung dafür? Sie wollen eine neue Behörde schaffen, eine neue Behörde, die am besten wieder
mit Gewerkschaftsvertretern in der Selbstverwaltung besetzt ist und die Schwarzarbeit durch Überwachung
vermeiden soll. Sie können mir nicht erzählen, daß Sie
die Planstellen von Behörden, die bisher damit zu tun
haben, dazu hernehmen werden, um diese Behörde aufzubauen. Das ist wieder die typische Selbstbedienungsmentalität, die uns Sozialdemokraten und Gewerkschafter über Jahrzehnte in dieser Republik vorgemacht
haben.
({15})
Ihre Regelung führt dazu, daß der technische Fortschritt im Winterbau an der deutschen Bauwirtschaft
vorbeigehen wird.
({16})
Der technische Fortschritt im Winterbau wird an der
deutschen Bauwirtschaft vorbeigehen, wird die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Bereich dramatisch
verschlechtern und wird im Endeffekt dazu führen, daß
auch hier wieder Arbeitsplätze verlorengehen.
({17})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiesehügel?
Selbstverständlich.
({0})
Lieber Herr Kollege, da
Sie gerade sagen, wir verhindern die technische Entwicklung im Winterbau, frage ich Sie, ob Ihnen die Abkürzungen MKZ und IKZ etwas sagen.
Selbstverständlich, Herr Kollege.
Warum haben Sie das
dann abgeschafft? - Das waren nämlich genau die Möglichkeiten, die von der sozialliberalen Koalition geschaffen worden sind, Winterbau in Deutschland technisch zu
fördern. Genau diejenigen Instrumente, die zur Verfügung gestellt worden sind und die die ersten zarten Ansätze von geschütztem Winterbau hervorgebracht hatten,
haben Sie wieder abgeschafft.
Warum werfen Sie das eigentlich uns vor, wo Sie
selbst verhindert haben, daß qualifizierter Winterbau wie
in Skandinavien und in anderen Ländern um uns herum
tatsächlich passiert? Warum werfen Sie uns das vor, was
Sie selbst abschaffen, oder ist Ihnen das entfallen?
({0})
Herr Kollege Wiesehügel,
MKZ und auch IKZ, als Investitionskostenzuschuß
({0})
- ja, ja, ich habe das einmal gelernt, Entschuldigung -,
sind natürlich Mittel gewesen, die den Winterbau gefördert haben. Das ist unbestreitbar. Sie haben aber in der
Vergangenheit feststellen können, daß es wesentlich
sinnvoller ist, wenn die Industrie aus eigenen Stücken
heraus auf Grund der Notwendigkeit, daß sie in dieser
Situation lebt und arbeitet, solche Entwicklungen vorantreibt, anstatt daß sie auf Grund staatlicher Förderprogramme dazu gezwungen wird.
({1})
Ich finde übrigens, das war ein Fehler. Da haben wir regiert.
Das gleiche haben Sie im Bereich der Katalysatortechnik gesehen. Hier wurde eine Technologie vorgeschrieben, statt ein Ziel vorzuschreiben. Hätte man ein
Ziel vorgeschrieben, wäre vielleicht etwas ganz anderes
dabei herausgekommen.
Genauso ist das bei der Abschaffung von IKZ und
MKZ. Es war viel zu eng gefaßt; die Industrie hatte viel
zu wenig Anreize, tatsächlich Wege zu suchen, in ihrer
speziellen Situation den Winterbau voranzutreiben.
Der technische Fortschritt im Winterbau wird also an
der deutschen Bauindustrie vorbeigehen und wird die
internationale Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern. Wir
haben wieder einmal die Situation, daß die rotgrüne Regierung zwar vollmundig verkündet, Arbeitslosigkeit
abbauen zu wollen, aber genau wie bei der sogenannten
Scheinselbständigkeit oder bei den 630-DM-Jobs die
Weichen exakt in die falsche Richtung stellt. Mit Ihren
gesetzlichen Regelungen werden Sie genau das Gegenteil dessen bewirken, was Sie sich vorgenommen haben,
was Sie in der Öffentlichkeit vertreten haben.
Kollege Wiesehügel, daß Sie hier so vehement und so
glorifizierend diesen sogenannten Kompromiß vorgetragen haben, verwundert mich tatsächlich. Ich hätte Ihnen
da ein wenig mehr Redlichkeit gegenüber Ihren Mitgliedern in der Gewerkschaft zugetraut. Im Wahlkampf sind
Sie noch durch die Gegend gerannt und haben gesagt,
das Drei-Säulen-Modell ist schlecht, wir brauchen die
Bundesanstalt ab der ersten Ausfallstunde, und jetzt ist
das Drei-Säulen-Modell das Tollste, was Sie haben
wollten. Sie machen die Rolle rückwärts, und das ist
ziemlich unglaubwürdig. - Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ach, Herr Niebel,
wenn Sie bei Ihrer zugegebenermaßen immer kleiner
werdenden Klientel die Selbstbedienungsmentalität anprangern, dann ist das schon ziemlich witzig.
({0})
Aber na gut.
Der Regierungsentwurf zum Schlechtwettergeld, über
den wir hier debattieren - das hat der Kollege Wiesehügel heute noch einmal sehr deutlich ausgeführt -, ist
natürlich keine Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes. Daß ich das bedauere, wissen Sie ja bereits.
Was hier heute auf dem Tisch liegt, ist ein mit den
Arbeitgebern ausgehandelter Kompromiß zur Neuregelung der ganzjährigen Beschäftigung am Bau.
({1})
Ob er wirklich dafür tragfähig sein wird, das muß in der
Tat erst einmal der Winter zeigen.
Die PDS wollte die Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes. Wir waren uns sehr wohl dessen bewußt,
daß dazu kompatible Tarifverträge gehören und natürlich auch Mehrausgaben bei der Bundesanstalt für Arbeit entstehen würden. Ich halte das für vertretbar, und
zwar deshalb, weil wir Jahr für Jahr Unsummen für Arbeitslosigkeit - auch für Winterarbeitslosigkeit - ausgeben. Ich denke, es wäre durchaus ein vernünftiger Weg,
Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Etwa 400 000 arbeitslose Bauarbeiter mehr seit Abschaffung des Schlechtwettergeldes - das ist in der Tat
eine schlimme Hypothek, die Ihnen die Vorgängerregierung hinterlassen hat. Um den Bauarbeitern mehr soziale
Sicherheit und endlich wieder eine Chance auf eine
ganzjährige Beschäftigung zu geben, muß gehandelt
werden. Ihr Gesetzentwurf ist ein Instrument dazu. Ob
es das entscheidende und richtige ist, wird sich zeigen
müssen.
Bei der ganzjährigen Arbeit am Bau geht es nicht nur
um die völlig berechtigten Interessen der Bauarbeiter an
kontinuierlicher Beschäftigung und sicherem Einkommen, sondern auch um eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit. Stilliegende Kräne und Bagger sowie längere
Bauzeiten verteuern das Bauen. Das hat Auswirkungen
auf Mieten und die Auftragslage. Das geht weit über die
Interessen von Bauwirtschaft und Bauarbeitern hinaus.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß es in der
Bundesrepublik im europäischen Vergleich immer noch
erhebliche technologische Defizite im Winterbau gibt.
Auch das ist eine Belastung der Volkswirtschaft insgesamt. Trotzdem glaube ich, daß es nicht richtig ist, das
Witterungsproblem dieser Branche allein zu überlassen,
weil das auch den Interessen insbesondere der kleinen
Unternehmen zuwiderläuft. Aus diesen Gründen finde
ich es nach wie vor richtig, daß die Bundesanstalt möglichst weitgehend in die soziale Flankierung der Winterarbeit einsteigt.
Nun noch kurz zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Regelungen, die Sie vorschlagen, sind - das räume ich gerne
ein - besser als das, was die alte Regierung hinterlassen
hat. Wenn es gelingt, mehreren zehntausend Arbeitern
die Winterarbeitslosigkeit zu ersparen - die IG Bau
rechnet das vor -, so ist viel für die Beschäftigten und
auch für deren Familien erreicht.
({2})
Ich will trotzdem auf ein paar Probleme hinweisen.
Die Flexibilisierung ist - zwar in reduziertem Umfang - geblieben. Sie geht eindeutig allein zu Lasten der
Bauarbeiter und nutzt nur den Unternehmen, die keine
Zuschläge zu zahlen haben. Ich sehe diese Flexiregelung, die Sie so positiv bewertet haben, sehr kritisch. Sie
zwingt die Bauarbeiter, in der Sommerhitze Stunden für
die kalte Zeit zu hamstern.
({3})
Es passiert jetzt schon, daß sie zwölf und mehr Stunden
arbeiten, auch samstags. Das ist weder aus gesundheitlichen Gründen noch für die Familien akzeptabel.
({4})
Wenn diese Tendenz durch das Wintergeld auch noch
gefördert wird, dann halte ich das für eine ausgesprochen problematische Entwicklung.
Es bleibt die Frage offen, was mit den angesammelten Stunden passiert, wenn ein Betrieb pleite geht. Daß
das gerade in der Bauwirtschaft nicht selten ist, wissen
Sie so gut wie ich.
({5})
Auch ist mir nicht klar, ob es gelingen kann, trotz Kündigungsverbot Mißbrauch der Unternehmer zu verhindern, wenn aus anderen als Witterungsgründen gekündigt wird. Ich weiß nicht, wie das kontrolliert werden
soll. Das wird wahrscheinlich auch erst die Erfahrung
zeigen.
Zum Schluß: Ich finde es - wie ganz sicher auch
Sie - besonders dreist, daß die Unternehmer jetzt nach
den Verhandlungen den Tarifvertrag zum Lohnausgleich
für die Weihnachts- und Neujahrstage gekündigt haben.
({6})
Das lehrt uns zumindest eines: Gibt man ihnen den kleinen Finger, wollen sie immer gleich die ganze Hand.
({7})
Sie werden viel Kraft brauchen, um diese Unternehmer
zu zügeln. Das ich Ihnen diese Kraft von Herzen wünsche, nehmen Sie mir hoffentlich ab.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michael Meister.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle politischen Entscheidungen, die die deutsche Bauwirtschaft
betreffen und damit insbesondere die Arbeitnehmer, die
dort tätig sind, müssen sich daraufhin prüfen lassen, ob
sie den Rahmenbedingungen gerecht werden. Als Rahmenbedingungen sehe ich zum einen die Baukonjunktur,
zum anderen die internationale Wettbewerbsfähigkeit
der Arbeitnehmer und die Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen auf diesem Feld.
({0})
Die Baukonjunktur verzeichnete im Zuge der deutschen Einheit einen riesigen Boom, der sich anschließend wieder abgekühlt hat. Wir haben damals alles getan, auch mit Hilfe niedriger Zinsen, um diese Abkühlung aufzufangen und die Situation wieder zu stabilisieren. Sie aber fahren die öffentlichen Investitionshaushalte massiv zurück. Mit der Kürzung des Verkehrshaushalts um 1 Milliarde DM gefährden Sie rund 10 000
Arbeitsplätze im Baubereich. Deshalb können wir die
heutige Diskussion nicht isoliert betrachten. Wir müssen
sie vielmehr vor dem Hintergrund der Kürzungen im
Verkehrsressort - es handelt sich um Einsparungen im
Investitionsbereich in Milliardenhöhe -, der Verschiebung der Lasten zu den Kommunen - diese kürzen dann
ebenfalls die Investitionshaushalte - und der Kürzungen
im Wohnungsbausektor sehen. Hier nenne ich nur die
Stichworte Eigenheimzulage und sozialer Wohnungsbau. Gleichzeitig stehen die deutschen Bauarbeitnehmer
und die Bauwirtschaft unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs.
Deswegen, Frau Kollegin Dr. Dückert, ist es eine
Milchmädchenrechnung, wenn Sie das Winterausfallgeld - Sie haben eine positive Bewertung hinsichtlich
der Bundesanstalt für Arbeit abgegeben - für sich allein
betrachten und so tun, als sei Deutschland eine Insel.
Das aber ist nicht der Fall. Wir müssen bei allen Maßnahmen, die sich auf die Arbeitskosten auswirken, die
internationale Konkurrenz im Auge haben. Ob es uns
gefällt oder nicht, müssen wir feststellen, daß viele internationale Konkurrenten mit deutlich geringeren Sozialstandards arbeiten, zum Teil sogar - auch das ist uns
bekannt - mit illegalen Methoden. Dagegen muß ein
deutscher, regulär beschäftigter Bauarbeitnehmer antreten. Das wird durch diese Maßnahme wesentlich erschwert.
Sie selbst haben in Ihrer Regierungserklärung gesagt,
Sie wollten etwas tun, um die Lohnnebenkosten zu
senken und damit die Beschäftigung in Deutschland zu
sichern. Ich sage Ihnen: Durch diese Maßnahme senken
Sie die Lohnnebenkosten nicht. Sie tun das schiere Gegenteil dessen, was in Ihrer Koalitionsvereinbarung
steht: Sie erhöhen die Lohnnebenkosten. Damit regen
Sie an zu weiterem Mißbrauch und zu weiterer
Schwarzarbeit und fördern die Arbeitslosigkeit von
deutschen, regulär beschäftigten Bauarbeitern.
Die Bundesregierung hat die Fragen der Baukonjunktur, der Wettbewerbsfähigkeit und das Problem des
Anreizes zur Schwarzarbeit überhaupt nicht angesprochen. Sie sind darauf mit keinem Wort eingegangen.
Das, was Sie in der Begründung des Gesetzentwurfes
angeführt haben, ist meines Erachtens typisch für einen
alten Verteilungsstaat, der es zuläßt, daß sich Tarifpartner an einen runden Tisch setzen, sich dort zu Lasten
Dritter einigen und dies dann als „Bündnis für Arbeit“
ausgeben. Dadurch wird nicht nur, wie es in dieser DeDr. Heidi Knake-Werner
batte schon angeführt worden ist, eine Vereinbarung zu
Lasten Dritter getroffen. Nein, es wird auch der Grundgedanke eines „Bündnisses für Arbeit“ diskreditiert. In
diesem Fall muß die Arbeitslosenversicherung die Lasten tragen.
In dieser Debatte haben Sie eine schöne Verschleierung vorgenommen: Sie haben immer von den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern gesprochen Man muß
aber aufpassen, über welche Arbeitgeber und Arbeitnehmer man redet. Es geht eben nicht nur um die Bauarbeitgeber und Bauarbeitnehmer; es geht um alle. Diese
aber saßen nicht mit am Tisch, obwohl sie von diesem
Unsinn, den Sie machen, genauso betroffen sind.
({1})
- Nein, das ist eben nicht positiv, Herr Kollege Wiesehügel, weil Sie schlicht und ergreifend vergessen, daß
wir uns auf einem internationalen Markt befinden und
im EU-Binnenmarkt Konkurrenz aus Osteuropa haben.
({2})
- Sie haben hier die Möglichkeit gehabt, in aller Ruhe
vorzutragen. Ich habe Ihnen auch in aller Ruhe zugehört.
Vielleicht können Sie Ihre Emotionen etwas zurückfahren und rational diskutieren.
Wenn ich an dieser Stelle einmal darauf hinweisen
darf: Der Bundeskanzler ist in den letzten Wochen vor
das deutsche Volk getreten und hat gesagt, er müsse dieses Land konsequent modernisieren. Wenn man sich
aber einmal ansieht, was im Bereich des Schlechtwettergeldes und der Nachfolgeregelung geschieht, so tut er
genau das Gegenteil von dem, was er draußen in seinen
Reden verkündet. Es wird nichts modernisiert; es werden alte Besitzstände konserviert. Das Allerschlimmste
aber ist: Das alles geschieht unter seinem Vorsitz. - So
deutlich ist Reden und Handeln selten auseinandergefallen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben mit Sicherheit das gebe ich gerne zu - nicht im ersten Anlauf eine gute
Regelung zustande gebracht. Wir haben 1995 eine Regelung gehabt, die wir 1997 nachgebessert haben.
({4})
In dieser Debatte ist mir, wenn es um die Zahl der Arbeitslosen im Winter ging, aufgefallen, daß Sie sich auf
die Daten beziehen, die aus dem Jahre 1995 stammen.
({5})
Ich gebe zu, daß wir mit unserem ersten „Schuß“
auch nicht absolut richtig gelegen haben. Das war ein
Stück weit zu komplex, nicht flexibel genug und mißbrauchsanfällig. Deshalb haben wir 1997 nachgebessert.
Wenn Sie sich die 1997 nachgebesserte Regelung anschauen, dann müssen Sie feststellen, daß sie eben nicht
dazu geführt hat, daß die Arbeitslosigkeit im Winter gestiegen ist. Wenn Sie die aktuellsten Zahlen, etwa die
vom Januar bis zum März dieses Jahres, betrachten,
dann können Sie erkennen, daß diese Regelung, was den
Winterbetrieb im Baubereich betrifft, zu einer Absenkung der Arbeitslosenzahlen um mehr als 20 Prozent geführt hat.
Ich bitte Sie, während der Diskussionen, die wir sowohl im Ausschuß als auch in der zweiten und dritten
Lesung führen werden, die Tatsache zur Kenntnis zu
nehmen, daß wir nicht mehr über die Regelung aus dem
Jahre 1995 diskutieren, sondern über die von 1997, die
nach meiner Meinung sehr ausgewogen ist und in der
darauf geachtet wird, daß hier tatsächlich ein DreiSäulen-Modell entsteht.
Meine Damen und Herren, die Arbeitnehmer verfügen - auch das ist angesprochen und als tolle Errungenschaft dieser Neuregelung verkündet worden - seit der
Regelung von 1997 über ein stetiges, abgesichertes
Ganzjahreseinkommen. Sie sind ganzjährig beschäftigt, und sie haben auf betrieblicher Ebene auch in bezug
auf die Vereinbarung über Mehrarbeit Mitspracherechte
bekommen. Die Unternehmen können sich auf der anderen Seite sehr flexibel auf die Auftragseingänge einstellen. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund - wenn
hier im Deutschen Bundestag nicht einige Lobbyisten
sitzen würden -, diese funktionierende Regelung jetzt
wieder zu kritisieren.
({6})
- Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, warum Sie sich
aufregen. Aber eines können Sie mir mit Sicherheit nicht
unterstellen, nämlich daß ich in diesem Punkt für irgendeine Lobby spreche. Ich versuche einfach, den
Sachverhalt zu analysieren.
Wenn Sie betrachten, daß mittlerweile etwa 80 Prozent der deutschen Betriebe im Bereich des Bauwesens
sehr flexible Regelungen auf der Grundlage der gültigen
Rechtslage abgeschlossen haben, dann zeugt dies davon,
daß dies hervorragend funktioniert und von den Mitarbeitern und Betrieben hervorragend angenommen wird.
({7})
- Das ist so, Herr Wiesehügel.
Die nun vorgelegte Gesetzesnovelle schließt leider zwischendurch mit einer Diskontinuität - lückenlos an
das an, was Sie bis zum Dezember 1998 getan haben:
verteilen. Dahin sind Sie wieder zurückgekehrt. Der Sache wäre es viel dienlicher, wenn Sie weniger auf Lobbyisten hören und sich ein bißchen mehr mit den Realitäten auseinandersetzen würden.
Das, was Sie, Herr Wiesehügel, vorhaben und was
Sie vorhin in Ihrer Rede ausführlich vorgetragen haben,
wird zwei wesentliche Effekte haben: Die Arbeitslosenversicherung muß künftig schon ab der 101. Stunde
eintreten statt, wie bisher, ab der 121. Das führt natürlich dazu, daß die Kosten der Arbeitslosenversicherung
steigen werden. Diese 55 Millionen DM können Sie
eben nicht, wie Sie es getan haben, durch Kosteneinsparung, die dadurch entsteht, daß es angeblich zu 8 000
Arbeitslosen weniger kommt, ausgleichen. Da wir bei
den Lohnnebenkosten insgesamt höhere Lasten haben,
({8})
wird dies angesichts des internationalen Konkurrenzdrucks vielmehr dazu führen, daß diese Arbeitslosen
nach wie vor arbeitslos sein werden.
({9})
Ein zweiter Punkt: Sie haben im Rahmen der Ökosteuer davon gesprochen, daß Sie die Ökosteuer einführen, um die Lohnnebenkosten zu senken.
({10})
Wenn Sie sich einmal den Effekt klarmachen, den die
Ökosteuer bringt, und diesen mit den Zusatzlasten vergleichen, die vor allem für den mittelständischen Baubereich entstehen - Sie müssen sich ansehen, was Sie speziell für die Unternehmen tun, über die wir hier reden -,
dann stellen Sie fest: Die führt nicht zu einer Reduzierung der Lohnnebenkosten, wie Sie dies aller Welt verkünden, sondern zum krassen Gegenteil.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, die
Winterbauumlage. Es wird behauptet, es bleibe bei der
Winterbauumlage in Höhe von 1,7 Prozent der Bruttolohnsumme. Dies kann man natürlich zunächst einmal
beschließen. Aber in unserem Lande ist es ja leider nicht
so, daß Geld wie Manna vom Himmel regnet.
({11})
Wenn irgendwann die Winterbauumlage durch die
Mehrbelastung, die Sie hier einführen, entsprechend
strapaziert worden ist, werden Sie beschließen müssen,
daß Sie diesen Prozentsatz anheben, wenn die Rücklage
aufgebraucht ist. Dann nützt es nichts, sich hier hinzustellen und zu sagen: Wir beschließen das jetzt nicht,
sondern wir werden es dann tun, wenn die Rücklage
aufgebraucht worden ist. Dann aber heißt es wieder: Wir
sind in Handlungszwängen; wir haben keine andere
Möglichkeit.
({12})
Fazit des Ganzen: Die Schlechtwettergeldregelung,
die Sie vorsehen, ist nichts anderes als eine Restauration
bzw. Konservierung von unwirtschaftlichen, unsozialen
Verhältnissen. Leider - so muß ich sagen - machen
diejenigen in der Bundesregierung, die diesen Staat modernisieren wollen, einen Kniefall vor den Lobbyisten.
Sie verändern ohne Not eine Regelung, die sich bewährt
hat, und sie verschlechtern damit auch die Lage der
deutschen Bauwirtschaft.
Was Sie vorlegen, ist ein Anti-BaukonjunkturProgramm. Das einzige, was Sie, Herr Wiesehügel, dabei machen, ist, Ihre eigene Klientel zu befriedigen.
({13})
Ich möchte deshalb abschließend an Sie appellieren wir stehen heute ja in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes -, Einsicht in die Realtitäten zu gewinnen,
({14})
diesen Schaden zu erkennen und nach Anhörungen und
Diskussionen im Ausschuß nicht den Lobbyisten, sondern den Realitäten näher zu kommen. Wenn Sie das
getan haben, sollten Sie, anstatt Arbeitsplätze in
Deutschland zu vernichten, sagen, daß Sie diesen Gesetzentwurf schlicht und ergreifend zurücknehmen.
Dann könnten wir zusammenkommen und gemeinsam
Entscheidungen im Sinne der deutschen Bauunternehmen und der deutschen Bauarbeitnehmer treffen.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister
für Arbeit und Sozialordnung, Gerd Andres.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe jetzt
die ganze Debatte verfolgt und sage - trotz vieler falscher Argumente und trotz heftigen Gejammers durch
Vertreter der Opposition -: Ich finde, heute ist eine guter
Tag für die Kollegen auf dem Bau.
({0})
Heute bringen wir ein dringend notwendiges Gesetz auf
den parlamentarischen Weg, das die besonderen Interessen der Beschäftigten in der Bauwirtschaft berücksichtigt. Damit setzt diese Bundesregierung ihre Politik der
sozialen Gerechtigkeit fort, mit der wir direkt nach der
Wahl, vor knapp einem Jahr, begonnen haben. Das
heißt: Wir räumen den Schutt in den Bereichen weg, in
denen Sie den Sozialstaat in Trümmer gelegt haben.
({1})
In der Koalitionsvereinbarung haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen das so festgelegt, und das halten wir
auch. Ich erinnere nur an die Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall, den Kündigungsschutz und unsere Maßnahmen gegen Lohndumping auf dem Bau.
Mit diesem Gesetzentwurf bekämpfen wir die Winterarbeitslosigkeit bei den Bauarbeitern. Auch im
letzten Winter waren sie - was nicht weiter hinnehmbar
ist - erneut in einem erschreckend hohen Ausmaß von
Arbeitslosigkeit betroffen. Das hat seinen Grund: Der
Anstieg der Winterarbeitslosigkeit auf dem Bau begann
mit der Streichung des Schlechtwettergeldes zum
1. Januar 1996. Das haben Sie zu verantworten, meine
Damen und Herren von der Opposition. Denn damals
haben Sie in der Regierung die falschen und zu teuren
Ersatzregelungen durchgesetzt. Ich sage: Das war damals Pfusch am Bau. Denn im folgenden haben sich die
Bauunternehmer für die kostengünstigere Alternative
entschieden, massenhaft wurden Bauarbeiter in den
Wintermonaten entlassen.
Daran haben auch die Korrekturen 1997 nichts
grundlegend geändert.
({2})
Deshalb verstehe ich nicht, daß Sie immer noch weitere
Korrekturen des Gesetzes ablehnen. Ich empfehle Ihnen
einen Blick in die amtliche Statistik:
({3})
Im vergangenen Februar lag die Arbeitslosenquote in
den Bauberufen mit 25,7 Prozent erneut doppelt so
hoch wie im Durchschnitt aller Berufe. In den neuen
Bundesländern waren sogar 29,8 Prozent der Bauarbeiter arbeitslos. Wie wollen Sie den Bauarbeitern erklären,
daß da kein Handlungsbedarf besteht, meine sehr verehrten Damen und Herren? Für uns sind 30 Prozent Arbeitslose in einem Wirtschaftsbereich jedenfalls keine
Größe, die wir vernachlässigen dürfen; deshalb handeln
wir. Der Gesetzentwurf zeigt: Die Regierungskoalition
reagiert auf drängende soziale Probleme auch unter
schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zügig
und konsequent.
Zur kommenden Schlechtwetterzeit, ab 1. November,
sollen die gesetzlichen Regelungen wirksam werden.
Wir haben ganz bewußt darauf gesetzt, einen breiten
Konsens aller Beteiligten zu erreichen, auch wenn Sie
das als falschen Lobbyismus oder dergleichen kritisieren. Ich finde, daß es sehr vernünftig war, die Beteiligten an einen Tisch zu bekommen und mit Bauwirtschaft,
mit Bauhandwerk, mit der Gewerkschaft und mit der
Bundesregierung zu einer einvernehmlichen Lösung zu
gelangen.
({4})
Ich füge hinzu: Dieser Konsens war nicht einfach. Viele
Verhandlungen waren notwendig, aber es hat sich gelohnt. Unter Leitung des Bundeskanzlers sind die Eckwerte für die neue Regelung zustande gekommen. Das
zeigt die gemeinsame Bereitschaft, die Winterarbeitslosigkeit von Bauarbeitern effektiv zu bekämpfen.
Die Regierungskoalition hat dem Deutschen Bundestag diese Eckwerte bereits im Juni vorgestellt. Sie
umfassen gesetzliche und tarifvertragliche Regelungen;
Gesetz und Tarifvertrag greifen eng ineinander. Die Interessen der drei beteiligten Seiten sind ausgewogen berücksichtigt. Bauarbeiter und Baubetriebe werden nicht
aus ihrer Verpflichtung zur eigenständigen Vorsorge
entlassen. Die Arbeitslosenversicherung wird durch die
Pflicht zur Übernahme von weitergehenden Risiken
nicht überfordert. Dieser Kompromiß wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf umgesetzt.
Es bleibt bei dem Drei-Säulen-Modell: Arbeitgeber,
Arbeitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit sind gemeinsam dafür verantwortlich, die Bauarbeiter bei witterungsbedingtem Arbeitsausfall im Winter sozial abzusichern. Die Verteilung der Mindestbeiträge unterhalb den
drei Kostenträgern wird korrigiert. Das Interesse der
Unternehmen, Bauarbeiter zu entlassen, wird verringert.
Ergänzende Maßnahmen wirken Entlassungen zusätzlich entgegen.
Die wesentlichen Inhalte des Gesetzentwurfes sind
mit den zuständigen Tarifpartnern abgestimmt. Ich will
sie noch einmal kurz darstellen:
Bauarbeiter und Baubetriebe werden in den ersten
100 witterungsbedingten Ausfallstunden entlastet.
Das ist das Markenzeichen dieses Gesetzentwurfes. Mit
der Übernahme der vollen Sozialversicherungsbeiträge
bis zur 100. Ausfallstunde durch die Umlage wird das
Risiko der Bauarbeiter, aus witterungsbedingten Gründen entlassen zu werden, weil der Arbeitgeber die Beiträge nicht tragen kann oder es nicht will, deutlich reduziert. Die Vorredner haben bereits darauf verwiesen:
Eines der zentralen Elemente, warum es reihenweise zu
Kündigungen gekommen ist, ist, daß die Betriebe die
Sozialversicherungsbeiträge einsparen wollten oder
mußten, weil die wirtschaftlichen Bedingungen entsprechend waren. Dies ist abgestellt und eines der Schlüsselelemente der Vereinbarung. Wir haben vereinbart, daß
der Arbeitgeber, wenn er dennoch tarifwidrig kündigt,
dem Arbeitsamt künftig die Kosten in Höhe des Arbeitslosengeldes erstatten muß. Das ist übrigens eine
Regelung, die wir auch aus anderen Bereichen kennen.
Auch dem Anliegen der Beschäftigten wird Rechnung getragen. Der Eigenbeitrag der Bauarbeiter wird
mit 30 Stunden neu und angemessen festgelegt. Die von
den Arbeitgebern der Bauwirtschaft aufzubringende
Winterbauumlage bleibt mit 1,7 Prozentpunkten der
Bruttolohnsumme konstant. Zu dem Hinweis, der hier in
der Diskussion kam, es sei bereits absehbar, daß das alles hinten und vorne nicht mehr reiche, will ich Ihnen
sagen: Wir sind mit der Position angetreten, die Lohnnebenkosten abzusenken. Wir haben dies - im Gegensatz zu der vorherigen Regierung, die das jedes Jahr
wieder in Sonntagsreden beschworen hat - gemacht.
Allein den Rentenversicherungsbeitrag haben wir um
0,8 Prozentpunkte gesenkt.
({5})
Die Bundesanstalt für Arbeit hat höhere Kosten für
das beitragsfinanzierte Winterausfallgeld. Diese Kosten
werden jedoch durch geringere Ausgaben beim Arbeitslosengeld wieder ausgeglichen.
Zweitens ist ganz wichtig: Mit der geplanten Neuregelung wird nicht in tarifliche Regelungen über das
Schlechtwettergeld eingegriffen. Sie haben weiter Vorrang. Auch tarifvertraglich vereinbarte Arbeitszeitflexibilisierungen behalten ihren Nutzen. Allerdings muß
ich sagen, daß ich in der heutigen Debatte sehr viel Unsinn zu der Frage gehört habe, daß man nicht flexibel
reagieren könne. Es gibt die „kleine Flexi-Lösung“ und
die „große Flexi-Lösung“. Alle, die hier darüber reden,
daß wir mit gesetzlichen Maßnahmen die notwendige
Flexibilität abbremsen oder verhindern, sollten sich
einmal die Realitäten im Baubereich anschauen, auch
die tarifvertraglichen Vereinbarungen, die es dort gibt,
die Klaus Wiesehügel und seine Gewerkschaft schon vor
langer Zeit abgeschlossen haben.
({6})
Die Einführung eines besonderen Wintergeldes
fördert die Anreize für die Beschäftigten, mit Arbeitszeitguthaben aus dem Sommer Ausfallzeiten im Winter
auszugleichen, und zwar auch über die 30 Stunden hinaus, die sie nach der tariflichen Regelung leisten sollen. Dies fördert nicht nur die flexible Arbeitszeitgestaltung, sondern das verbessert auch die soziale Absicherung der Bauarbeiter im Winter. Dies hat aber noch
einen weiteren wünschenswerten Effekt. Die Winterbauumlage der Arbeitgeber und der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit werden, wenn dies entsprechend
greift, entlastet.
Drittens. Es werden bei den Arbeitsämtern wieder
Winterbauausschüsse eingerichtet. Dies ist ein weiterer
Schritt, um die Arbeitslosigkeit von Bauarbeitern in den
Wintermonaten zu bekämpfen. Ein wichtiges Ziel ist
dabei, die Auftragslage im Winter zu verstetigen.
In diesem Zusammenhang, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, appelliere ich ganz
herzlich an Sie: Wenn es Ihnen ernst damit ist, mit der
Winterarbeitslosigkeit auf dem Bau Schluß zu machen
und sie zu bekämpfen, dann helfen Sie mit. Sorgen Sie
dort, wo Sie Verantwortung tragen, dafür, daß auch für
die Winterzeit Aufträge vergeben und ausgeführt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin sicher, daß dieser Gesetzentwurf die notwendige Mehrheit
im Deutschen Bundestag findet. Auf dem Tisch liegt ein
wichtiger Baustein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Er ist das Ergebnis eines breiten Konsenses, ein
Bündnis für Arbeit in einer Branche.
Ich danke ganz besonders den Sozialpartnern für ihr
Engagement und für ihre Kompromißbereitschaft. Vor
diesem Hintergrund gehe ich aber noch einen Schritt
weiter und appelliere an die Kolleginnen und Kollegen
der Opposition: Schließen Sie sich diesem Kompromiß
an! Kommen Sie mit in das Boot!
Im Interesse von Bauarbeitern und Baubetrieben fordere ich alle Abgeordneten auf, unseren Gesetzentwurf
zu unterstützen und ihn vor allen Dingen reibungslos zu
verabschieden. Ich denke, daß das eine wichtige und
sinnvolle Maßnahme ist, mit der einerseits den Beschäftigen im Baubereich geholfen wird und wir andererseits
die Grundlagen dafür legen, entschiedener gegen die
Winterarbeitslosigkeit am Bau vorzugehen.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1516 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, daß, wie üblich, in der kommenden
Haushaltswoche keine Regierungsbefragung, keine Fragestunden und keine Aktuellen Stunden stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Berichts des Innenausschusses ({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Hildebrecht Braun ({1}), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes
({2})
- Drucksachen 14/48, 14/1541 ({3})
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Cem Özdemir
Dr. Guido Westerwelle
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Fraktion der F.D.P. der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung kann eine Fraktion eine Beratung hier im Plenum beantragen, wenn seit
der Einbringung zum Beispiel eines Gesetzentwurfes
zehn Sitzungswochen vergangen sind. Ich glaube, daß
wir alle guten Grund haben, heute über den von uns eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes zu debattieren.
Es ist in diesem Jahr zwar gelungen, mit dem neuen
Staatsangehörigkeitsrecht einen vernünftigen Weg zu
einer besseren Integration der bei uns lebenden - insbesondere jungen - Ausländer zu beschreiten. Das ist in
einer Anstrengung gelungen, an der die beiden Koalitionsfraktionen, aber auch meine Fraktion beteiligt waren.
Daß man sich als Oppositionsfraktion natürlich besonders freut, wenn praktisch der eigene Vorschlag im Gesetzentwurf steht, das werden Sie mir nachsehen können. Es ist ja auch ein vernünftiger Vorschlag gewesen.
({0})
Deshalb freut es mich sehr, daß wir die beiden Koalitionsfraktionen in diesem Zusammenhang überzeugen
konnten.
Die Überzeugungsarbeit wollen wir aber fortsetzen,
weil wir der Auffassung sind, daß es nicht reicht, lediglich eine Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts
vorzunehmen. Vielmehr müssen wir uns auch über das
Thema Zuwanderung unterhalten.
({1})
Daß es hier ganz offensichtlich Diskussionsbedarf
gibt und daß es hier ganz offensichtlich Fragen gibt,
über die sich zu debattieren lohnt, das hat die letzte Legislaturperiode gezeigt. Diejenigen, die heute in der Regierung sind, haben damals genau das von uns verlangt
und haben uns immer wieder Vorwürfe gemacht, daß
wir im Bereich der Zuwanderung nicht zu Lösungen gekommen sind.
Wir haben das als F.D.P. bedauert. Wie Sie wissen,
hat gerade Cornelia Schmalz-Jacobsen, die Vorgängerin
von Ihnen, Frau Beck, in dieser Richtung immer wieder
Initiativen ergriffen. Sie hat auch einen entsprechenden
Gesetzentwurf erarbeitet, den wir nach der letzten Bundestagswahl eingebracht haben.
Warum ist das ein Thema? Wer sich einmal die Zuwanderungszahlen für die Bundesrepublik Deutschland
anschaut, der wird feststellen: Wir sind faktisch ein
Einwanderungsland. Wir sind das nicht erklärtermaßen,
wie zum Beispiel Australien. Aber wer sich die Zahlen
anschaut, sieht, daß wir einen erheblichen Zuwanderungsdruck haben.
Wir haben durch geeignete Maßnahmen, zum Beispiel durch den Asylkompromiß - einige, die hier sitzen, waren daran beteiligt; ich war damals der Verhandlungsführer der F.D.P. -, erreichen können, daß das
eine oder andere geschehen ist, um diesen Druck zu reduzieren. Das hat unserem Land in doppelter Hinsicht
gutgetan: Ein Ergebnis war, daß die politische Rechte,
die damals an Boden gewann und erhebliche Wahlerfolge erzielte, diese nicht fortsetzen konnte. Ich glaube, alle
demokratischen Kräfte in diesem Land freuen sich darüber.
({2})
Aber viel wichtiger war: Die wirklich politisch Verfolgten haben von diesem Asylkompromiß profitiert.
Die Zahl der Anerkennungen von Asylberechtigten ist
von 5 000 im Jahr vor der Reform auf 50 000 angestiegen. Das ist zehnmal so viel! Es ist klar, daß dann, wenn
im einzelnen Verfahren besser geprüft werden kann, der
einzelne größere Chancen auf Anerkennung hat.
Im Bereich der Zuwanderung - auch das muß klar
und deutlich gesagt werden - gibt es bisher in Deutschland keine Steuerungsinstrumente. Aber Deutschland
braucht Kontrolle über die Zahl der Einwanderer. Wer
behauptet, Deutschland sei faktisch ein Einwanderungsland, muß zu der Einsicht gelangen, daß dann
selbstverständlich auch die Instrumente angewendet
werden wie in allen anderen Einwanderungsländern;
({3})
so bestimmen die anderen Einwanderungsländer nach
ihren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, wie
hoch die Einwanderungsquoten sind und wer einwandern darf. Genau das schlagen auch wir in unserem Gesetzentwurf vor. Wir halten eine Debatte darüber für
notwendig, weil nach unserer Auffassung in einer solchen Debatte am besten den dumpfen Vorurteilen, die
wir in der Politik immer wieder hören, begegnet werden
kann. Es muß darüber diskutiert werden, wie hoch die
Zuwanderungsquote sein soll, wer zu uns kommen darf,
wen wir wollen und brauchen. Auch das muß in diesem
Zusammenhang gesagt werden: daß wir Menschen brauchen.
({4})
- Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Wiefelspütz, bin ich
nicht Vorsitzender eines Fußballvereins. Deshalb fehlt
mir in diesem Bereich der Sachverstand. Ihnen sieht
man ja an, daß Sie der typische Fußballfan sind. Ich bin
es nicht. Deswegen kann ich die Lage im Fußball nicht
so gut beurteilen wie Sie. Aber ich hoffe, daß die
Schwerpunkte der Zuwanderung in einem anderen Bereich liegen als in dem, den Sie gerade angesprochen
haben.
Jedenfalls brauchen wir auch Zuwanderer. Die F.D.P.
möchte nur, daß diese Zuwanderung gesteuert wird.
Deshalb haben wir einen Entwurf eingebracht. Wir erwarten, daß es endlich eine rationale Debatte darüber
geben wird. Ich bin gespannt, wie die Koalitionsfraktionen, die eine solche Debatte immer wieder gefordert haben, unser Begehren beurteilen.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Michael Bürsch.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um einen Bericht über den Stand der Beratungen zum F.D.P.Entwurf, um nicht mehr. Das hat eine formale und eine
- heute nicht so stark interessierende - inhaltliche Seite.
Zur formalen Seite: Vor rund neun Monaten, Anfang
Dezember 1998, haben wir über dieses Gesetz in erster
Lesung beraten. Einvernehmlich - auch mit Zustimmung der F.D.P. - haben wir dann im Innenausschuß am
20. Januar dieses Jahres die Beratung des Entwurfs von
der Tagesordnung genommen. Der Grund dafür war der
Beginn der monatelangen, intensiven Beratungen und
öffentlichen Auseinandersetzungen um das neue Staatsangehörigkeitsrecht. Bis in den Sommer hinein waren
wir Innenpolitiker mit dieser wichtigen Reform ausgiebig und erschöpfend beschäftigt. Anschließend, im Juni
dieses Jahres, hat die Mehrheit im Innenausschuß beschlossen, den Gesetzentwurf nicht mehr vor der Sommerpause in Bonn abschließend zu beraten. Diese Vorgeschichte erklärt, warum wir heute über einen
Sachstandsbericht reden. Nachdem sich nun auch der
Innenausschuß in Berlin etabliert hat, sind die Regierungsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen sehr
gerne bereit, über den F.D.P.-Vorschlag in der nächsten
Sitzung des Innenausschusses abschließend zu entscheiden. Bei dieser Sach- und Rechtslage, Herr Kollege van
Essen, kann nicht die Rede davon sein, daß die Regierungsfraktionen die Beschlußfassung über den F.D.P.Jörg van Essen
Entwurf auf die lange Bank geschoben oder auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben hätten.
Nun ein paar inhaltliche Bemerkungen zur F.D.P.Initiative: Nach wie vor begrüßt die SPD-Fraktion das
Ziel einer transparenteren gesetzlichen Steuerung der
Einwanderung. Doch wird dies nach unserer Einschätzung nur mittelfristig zu erreichen sein. Gerade nach den
jüngsten emotionalen Debatten um das Staatsangehörigkeitsrecht ist es eher schwieriger geworden, vorurteilsfrei und besonnen über unser nationales Selbstverständnis und die Vor- und Nachteile von Zuwanderung zu
diskutieren. Mit den Ängsten, die mit dem Thema „Integration und Zuwanderung“ verbunden sind, muß - erkennbar - behutsam umgegangen werden. Auch das
braucht seine Zeit.
Vor allem aber dürfen keine unerfüllbaren Erwartungen geweckt werden. Schon der Titel des vorliegenden F.D.P.-Entwurfs „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“
weckt die falsche Erwartung, mit dem Gesetz könnten
die bestehenden zwingenden Zuzugsmöglichkeiten zum
Beispiel für anerkannte Asylbewerber, für Spätaussiedler und für Familienangehörige im Rahmen der Familienzusammenführung ersetzt und auf diese Weise die
Zuwanderung deutlich reduziert werden. Das wird nicht
möglich sein, weil es gesetzliche Vorgaben sind.
Der Entwurf suggeriert zudem, daß es gegenwärtig
eine hohe Zuwanderung gebe. Auch Sie, Herr van Essen,
haben das eben angedeutet. Es ist tatsächlich aber so, daß
sich seit einigen Jahren die Zahl der Menschen, die nach
Deutschland zuwandern, verringert, während gleichzeitig
die Zahl derjenigen wächst, die unser Land verlassen.
1997 hatten wir mehr Abwanderung als Zuwanderung.
Überdies: Der wirkliche Schlüssel zu einer rationalen,
berechenbaren Zuwanderungspolitik liegt in Europa.
Das ist auch Ihnen klar, Herr van Essen. Die Freizügigkeit der EU-Bürger und die fortschreitende europäische
Integration rücken auch das Erfordernis einer gemeinsamen Einwanderungspolitik in den Vordergrund. Zuwanderung ist deshalb immer weniger eine nationale
Aufgabe. Sie muß europaweit harmonisiert werden. Das
ist aus unserer Sicht viel erfolgversprechender als Lösungen im nationalen Rahmen.
({0})
Fazit: Wir - auch die F.D.P. - sollten im gemeinsamen
Interesse die jüngste Empfehlung der baden-württembergischen Zukunftskommission beherzigen und - Zitat viel mehr Energie, Nachdenken und Ausdauer auf eine
systematische Integrationspolitik verwenden als bisher.
({1})
Wir Sozialdemokraten verschließen uns sicher nicht
sinnvollen Vorschlägen, die uns auf den Feldern Zuwanderung und Integration voranbringen. Aber diese
Vorschläge müssen in einem Gesamtkonzept sorgfältig
abgewogen und erörtert werden, ehe es zu entsprechenden politischen Beschlüssen kommt.
({2})
Das heißt, auch für dieses Vorhaben gilt der neue sozialdemokratische Gesetzgebungsgrundsatz: Sorgfalt statt
Schnelligkeit.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte lassen Sie mich
zu Beginn zu einer Frage Stellung nehmen, die bei migrationspolitischen Debatten immer wieder auftaucht,
ohne daß jedoch bis heute erkennbar gewesen wäre,
welche Bedeutung die Beantwortung der Frage für die
Entscheidungsfindung haben kann. Der Kollege van Essen hat das Thema angesprochen. Die Frage lautet: Ist
unser Land ein Einwanderungsland? Oder: Sollten wir
uns nicht klar dazu bekennen, daß die Bundesrepublik
ein Einwanderungsland ist?
({0})
Das ist eine reine Frage der Definition. Wenn man
sagt, ein Land ist schon dann ein Einwanderungsland,
wenn regelmäßig Zuwanderung stattfindet, dann ist
Deutschland in der Tat ein Einwanderungsland. Das kann
keiner bestreiten. In diesem Sinne ist Deutschland, wie
vermutlich auch alle anderen Länder dieser Erde, ein
Einwanderungsland. Worin aber soll bei der Bejahung der
Frage der Erkenntnisfortschritt liegen? Richtigerweise
muß man wohl sagen: Einwanderungsländer sind nur solche, die sich, aus welchen Gründen auch immer, gezielt
um Zuwanderung bemühen. Davon kann bei uns spätestens seit November 1973 keine Rede mehr sein.
Trotzdem nimmt die Bundesrepublik nach wie vor
wie kaum ein anderes Land, insbesondere aus humanitären Gründen, Menschen auf. Dies geschieht auf Dauer
oder auf Zeit, bis die Verhältnisse in den Herkunftsländern eine Rückkehr erlauben. Unser Land ist ausländerfreundlich, und das soll auch so bleiben.
({1})
Ich füge ausdrücklich hinzu: Dennoch muß auch und
gerade im Interesse der rechtmäßig und dauerhaft hier
lebenden Ausländerinnen und Ausländer die Frage erlaubt sein, ob die nach wie vor beachtliche Zuwanderung unsere Integrationskraft nicht übersteigt. Dies gilt
insbesondere für den Zuzug aus Nicht-EU-Ländern.
Auch der Bundesinnenminister muß, zumindest verbal, dieser Auffassung sein. Er ist nicht persönlich hier,
er hat seine First Lady geschickt; aber Sie werden es
ihm berichten. Er hat vor wenigen Monaten in einem
Interview gesagt, daß die Grenze der Belastbarkeit
durch Zuwanderung nicht nur erreicht, sondern, so
wörtlich, überschritten sei. Im Klartext: Einen so großen
Zuzug wie in den vergangenen Jahren könnten wir uns
in Zukunft nicht mehr erlauben.
Wenn ein sozialdemokratischer Innenminister das
sagt, dann ist das politisch korrekt. Hätte sein Vorgänger
Manfred Kanther exakt den gleichen Satz gesagt, dann
wäre ein Sturm der Entrüstung durch unser Land gegangen.
({2})
Er wäre als ausländerfeindlich gegeißelt worden. Wir
vermissen bei diesem Innenminister, daß der richtigen
Diagnose nunmehr die richtigen politischen Entscheidungen folgen.
Im Zusammenhang mit der Debatte über die Einführung einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit haben wir zwei Anträge zur Abstimmung gestellt. In ihnen
haben wir einerseits unserer Ansicht nach dringende
Vorschläge für die Begrenzung weiterer Zuwanderung
vorgelegt und andererseits zahlreiche Maßnahmen vorgeschlagen, mit denen die Integration der dauerhaft und
rechtmäßig hier lebenden Ausländer spürbar verbessert
werden könnte.
({3})
- Wissen Sie, was ein großes Glück ist, Herr Kollege
Tauss? Daß Sie nicht Mitglied des Innenausschusses
sind. Wenn Ihre Mutter erleben könnte, wie Sie sich hier
im Parlament benehmen und wie flegelhaft Sie dazwischenrufen, würde sie heute noch über die völlig fehlgeschlagene Erziehung enttäuscht sein.
({4})
Ohne daß eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der Union stattgefunden hat,
sind sie in Bausch und Bogen verworfen worden. Natürlich ist es von Interesse, was der Bundesinnenminister
zu wichtigen politischen Fragen sagt. Viel wichtiger ist
jedoch, für welche praktische Politik er steht und ob das,
was er öffentlich sagt, mit dem übereinstimmt, was er
politisch durchzusetzen versucht. Leider ist hier eine erhebliche Diskrepanz festzustellen. Die F.D.P. hat bereits
im November 1998 den Entwurf für ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz mit der nicht unoriginellen Begründung vorgelegt, daß die absehbare demographische
Entwicklung in Deutschland zu einer fortschreitenden
Überalterung der Bevölkerung führe; es müßten verstärkt ausländische Erwerbstätige einwandern; nicht zuletzt würde das deutsche Sozialsystem auch in Zukunft
ohne die Mitarbeit ausländischer Arbeitnehmer nicht bestehen können.
({5})
Ich lasse einmal dahingestellt, ob diese Diagnose angesichts von über vier Millionen Arbeitslosen und der
erfolgreichen Bemühungen der rotgrünen Bundesregierung bei der Vernichtung vorhandener und der Verhinderung neuer Arbeitsplätze richtig ist. Jedenfalls erscheint es seltsam, einerseits Gründe für eine stärkere
Zuwanderung anzuführen und andererseits durch den
Begriff „Zuwanderungsbegrenzung“ den Eindruck zu
erwecken, daß dieser Gesetzentwurf geeignet sei, den
Zuwanderungsdruck zu verringern.
({6})
Ich will der F.D.P. nicht absprechen, daß sie sich ernsthaft darum bemüht, für ein wichtiges Feld der Innenpolitik ein neues Lösungsmodell anzubieten. Es gibt
allerdings erhebliche Zweifel daran, daß der vorliegende
Gesetzentwurf geeignet ist, irgendein Problem zu lösen.
({7})
Kernpunkt ist die Lenkung der Einwanderung durch
die Bildung von Gesamthöchstzahlen und Teilquoten
sowie deren Nachsteuerung.
({8})
Es ist die feste Überzeugung unserer Fraktion, daß sich
so die migrationspolitischen Probleme bei ansonsten unveränderter Rechtslage nicht lösen lassen.
Wir wären außerordentlich dankbar gewesen, wenn
uns die F.D.P. in den vergangenen Monaten einmal ganz
präzise mitgeteilt hätte, welche praktischen Auswirkungen dieser Gesetzentwurf bei Realisierung eigentlich
gehabt hätte.
({9})
Sollte es nach dem Willen der F.D.P. in diesem Jahr
mehr oder weniger Zuwanderung geben? Wenn mehr,
was soll dann die Teilüberschrift „Begrenzung“? Wenn
weniger, wer oder welche Personengruppen hätten nach
Ansicht der F.D.P. nicht mehr einreisen dürfen, die nach
geltendem Recht einreisen können? Wie groß wären
nach Ansicht der F.D.P. die Gesamthöchstzahl in diesem
Jahr und wie hoch die einzelnen Teilquoten gewesen?
Uns würde auch interessieren, wie die Liberalen den Zuzug auf Grund von Art. 16 a des Grundgesetzes einschränken wollen und ob sie der Ansicht sind, daß
Art. 116 eine beliebige Begrenzung des Zuzuges erlaube. Gerne würden wir auch erfahren, ob die F.D.P. eine
Begrenzung des Familiennachzuges anstrebt oder ob sie
ernsthaft plant, die durch EU-Recht garantierte Freizügigkeit einzuschränken.
({10})
Wenn nein, würde es nach Verabschiedung des Gesetzes
mehr oder weniger Zuwanderung geben? Wie soll zahlen- oder quotenmäßig mit jenen Asylbewerbern verfahren werden, denen zwar rechtskräftig mitgeteilt wurde, daß sie keinen Anspruch auf Asyl und damit keinen
Anspruch auf einen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik haben, die sich aber zum Teil jahrelang und mit allen Tricks darum bemühen, der drohenden Abschiebung
zu entgehen?
In diesem Zusammenhang eine Zwischenbemerkung:
Die Begrenzung weiteren Zuzugs einerseits und die von
den Koalitionsfraktionen verabredete neue Altfallregelung andererseits schließen sich gegenseitig aus.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle kennen Einzelfälle, bei denen wir vermutlich alle der Überzeugung
sind, daß es das Lebensschicksal des Betroffenen jenWolfgang Bosbach
seits einer rechtlichen Würdigung gebietet, einen weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik zu gewähren.
Humanität und Großzügigkeit dürfen auch im Ausländerrecht keine Fremdwörter sein. Aber eine erneute
großzügige Altfallregelung wäre zum einen eine Prämie
für jene, die sich zum Teil seit vielen Jahren mit allen
Finessen darum bemühen, ihrer Ausreisepflicht nicht
nachzukommen, und zum anderen wäre sie ein weiterer
Anreiz zur Einreise in die Bundesrepublik.
Statt dessen benötigt unser Land dringend eine gerechte Lastenverteilung innerhalb der Europäischen
Union, insbesondere bei der Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen. Wir haben während des Krieges
in Bosnien-Herzegowina über 350 000 Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen, mehr als alle anderen Staaten
der Europäischen Union zusammen. Das kritisiere ich
nicht. Aber alleine und auf Dauer können wir keine Lasten tragen, die größer sind als die Lasten aller anderen
Staaten in Europa zusammen.
({12})
Die Kombination von weltweit einzigartigen Rechtsschutzgarantien und außerordentlich großzügigen sozialen Leistungen machen die Bundesrepublik für Migranten aus aller Welt zu einem begehrten Ziel.
({13})
Vor diesem Hintergrund muß die Frage erlaubt sein, ob
nicht unter bestimmten Voraussetzungen die Aufenthaltsbedingungen in der EU zumindest ähnlich ausgestaltet sein müssen. Dies alles sage ich ausdrücklich ohne Vorwurf an irgend jemanden, auch nicht an die
Adresse des Bundesinnenministers. Wir alle wissen aus
der Vergangenheit, wie schwierig es ist, derartige Vereinbarungen zu erreichen. Hier müssen nicht nur einzelne, sondern ganze Berge dicker Bretter gebohrt werden.
Trotzdem dürfen wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren.
Die Union ist gern bereit, die Bundesregierung bei
diesen Bemühungen zu unterstützen. Daneben brauchen
wir auf allen staatlichen Ebenen verstärkte Bemühungen
um eine bessere Integration der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer. Das
ist das Gebot der Stunde, sowohl im Interesse unseres
Landes als auch und gerade im Interesse der betroffenen
Menschen, deren Lebenschancen in unserem Land mit
einer gelungenen Integration untrennbar verbunden sind.
Wenn der Anteil von Ausländern bei der Erwerbslosigkeit doppelt so hoch ist wie ihr Anteil an der Bevölkerung und wenn ihr Anteil an den Empfängern von
Sozialhilfe dreimal so hoch ist, dann sind das alarmierende Daten. Gleichzeitig bedeuten sie eine Herausforderung an alle, die hier Verantwortung tragen. Ein
schlichtes Nein zu den Vorschlägen der Union kann daher nicht genügen.
Ich würde das folgende normalerweise nicht sagen;
unnötige Schärfe muß nicht sein. Aber nachdem gestern
die Kollegin Wieczorek-Zeul die Katze aus dem Sack
gelassen hat und im „Kölner Stadt-Anzeiger“ entsprechend zitiert worden ist, muß ich es sagen: Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen,
geht es im Zusammenhang mit Einbürgerung und Wahlrecht um die Macht. Uns geht es um Hilfe für die betroffenen Menschen. Das ist der politische Unterschied.
Danke für Ihr Zuhören.
({14})
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Diskussion um Zu- und Einwanderung
wird in unserem Land oft sehr aufgeregt geführt. Wir
alle tun uns sehr schwer, bei diesem Thema zur Sachlichkeit zu finden. Auch die Diktion ist oft sehr verräterisch. Es wird im Zusammenhang mit Migration sehr
schnell von Überschwemmung, von Migrations- und
Fluchtwellen oder von vollen Booten geredet. Das ist eine Diktion, die Urgewalten bemüht. Sie ist nicht dazu
angetan, die Behandlung dieses prekären Themas auf eine sachliche Basis zu stellen. Insofern ist es gut, wenn
wir uns hier als erstes darauf verständigen, die Debatte
um Migration in sehr nüchternem Ton zu führen. Wir
haben auch eine Verpflichtung angesichts der Debatte in
der Gesellschaft, die oft sehr problematisch ist.
Ein erster Schritt zur Versachlichung ist in der Tat,
die Fakten zu beleuchten, die mit Migration zu tun haben. Richtig ist, daß in den letzten acht Jahren, also von
1991 bis 1998, etwa 8,8 Millionen Menschen vorübergehend oder dauerhaft - die Statistiken geben eine Differenzierung zum Teil gar nicht genau genug her - nach
Deutschland zugezogen sind. Der Anteil der Ausländer
daran betrug etwa 80 Prozent. Richtig ist aber auch, daß
im gleichen Zeitraum etwa 5,8 Millionen Menschen ebenfalls überwiegend ausländische Staatsangehörige Deutschland verlassen haben. Diese zweite Zahl wird in
der aufgeregten Debatte sehr oft unterschlagen, wodurch
sich ein schiefes Bild ergibt. Immerhin beträgt der
Wanderungsüberschuß etwa 3 Millionen Menschen Deutsche wie Ausländer. Allerdings hat sich in den
letzten beiden Jahren - das ist spannend - der Wanderungssaldo bei den Ausländern umgekehrt: 1997 und
1998 zogen mehr Ausländer aus Deutschland weg als
nach Deutschland zu. Im letzten Jahr haben wir 606 000
Zuzüge gehabt, aber 639 000 Wegzüge, also ein Minussaldo von 33 000 Menschen. Es ist sehr wichtig, dies in
der Gesellschaft zu vermitteln, damit wir endlich von
der Aufregung und von solchen Sätzen wie „Das Boot
ist voll“ wegkommen.
({0})
Der Ausländeranteil in diesem Land ist 1998 um
0,6 Prozent gesunken.
Diese Zahlen belegen nun zweierlei: Wir haben es mit
einer relevanten Einwanderung zu tun. Wir haben es
aber auch mit einer sehr hohen Mobilität von Ausländern und Deutschen zu tun, die auch nationale Grenzen
überschreitet. Hierauf muß sich Politik einstellen. Mit
der Weigerung, die Tatsache dieser Einwanderung anzuerkennen, hat die alte Regierung Gestaltungsmöglichkeiten unnötig aus der Hand gegeben.
({1})
Es gilt nun, diese Versäumnisse wettzumachen.
({2})
Denn in der Regelung der zukünftigen Zuwanderung
und der Integration der Einwanderer liegt - darin sind
wir uns einig - in der Tat eine zentrale Gestaltungsaufgabe für die kommenden Jahre.
Zu dem Integrationsansatz der Union möchte ich
noch ganz kurz sagen: Es war ja kein Modell. Es war ein
Sammelsurium von unterschiedlichen Vorschlägen, deren Auswirkungen in keiner Weise finanziell beziffert
wurden. Zudem war nicht klar, auf welcher Ebene überhaupt Handlungsmöglichkeiten bestanden. Was Sie dem
Parlament angeboten haben, war doch sehr zusammengesucht und eigentlich untauglich.
({3})
Eine Industrienation in der Mitte Europas wird auch
weiterhin mit Zuwanderung und Abwanderung von Arbeitskräften, Familienangehörigen, Unionsbürgern und
Flüchtlingen leben müssen. Wenn wir auf der einen
Seite darauf hinweisen, daß Informations- und Kommunikationstechnologien unseren Globus in ein Wohnzimmer verwandeln, dann können wir nicht auf der anderen
Seite eine Politik nationaler Abschottung wie im vergangenen Jahrhundert machen.
({4})
Wir sind in einer sich globalisierenden Welt auf Migration angewiesen, sowohl aus wirtschaftlichen und demographischen als auch aus sozialen und kulturellen
Gründen.
Wir stehen allerdings erst am Beginn der Diskussion
um eine moderne Einwanderungs- und Integrationspolitik, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik.
Daß wir diese gelassen führen sollten, darüber sind wir
uns in diesem Hause sicherlich einig, ebenso darüber,
daß wir sie auf der Grundlage gesicherter Zahlen führen
sollten. Diese fehlen zur Zeit. Ich habe das schon eben
gesagt: Die erste Aufgabe wird sein, sich das Zahlenund Datenmaterial etwas genauer anzuschauen. Das
wird die Bundesregierung in der kommenden Zeit auch
tun.
Ich möchte nur daran erinnern, daß zum Beispiel der
Anwerbestopp 1973 nicht, wie beabsichtigt, zu einer
Senkung, sondern zu einem Anstieg der Zuwanderung
geführt hat, weil dieser Anwerbestopp den Familiennachzug in Gang gesetzt hat. Hier ist man nach dem
Motto „trial and error“ vorgegangen und hat eine Migrationspolitik gestaltet, wie sie eigentlich nicht beabsichtigt war.
Eines scheint mir allerdings sicher: Die hier von der
F.D.P. vorgeschlagenen Maßnahmen - wir werden sie
noch diskutieren - im Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes signalisieren schon im Titel: Das
Boot ist voll.
({5})
Das finde ich nicht in Ordnung. Der Ansatz von Quotierung und flexibler Steuerung, so wie Sie das vorschlagen, führt zu einem undurchschaubaren und hoch
bürokratischen System von Teil- und Gesamtquoten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt?
Ja, bitte, Herr Lippelt.
Frau Kollegin, würden Sie die sehr interessanten Zahlen,
die Sie uns vorgetragen haben, vielleicht noch durch den
Hinweis ergänzen, daß alle diese Zahlen vor dem Hintergrund des natürlichen - das heißt des deutschen - Bevölkerungswachstums von minus 70 000 im letzten Jahr
zu sehen sind, so daß wir sagen müssen, daß unsere Bevölkerung, wenn ich das recht sehe, im letzten Jahr geschrumpft ist?
({0})
Deswegen ist es ja so wichtig, darüber zu
diskutieren, ohne parteipolitisches Kapital aus der Migrationsdebatte schlagen zu wollen, auch wenn, wie wir
in den vergangenen Monaten lernen mußten, die Versuchung sehr nahe liegt.
({0})
Wir müssen uns darüber unterhalten, in welche demographischen Schwierigkeiten diese Gesellschaft gerät.
Der „Spiegel“-Titel der vergangenen Woche hat das
aufbereitet. Insofern haben wir ganz andere Debatten in
der Bevölkerung zu führen: nicht hinsichtlich Abschottung, sondern hinsichtlich Zuwanderung und gewollter
Migration.
({1})
- Auch nach eigenen Interessen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Marieluise Beck ({0})
Ja, gut. - Wir werden sicherlich noch
weiter diskutieren; wir haben im Ausschuß noch Zeit
dazu. Klar ist, daß ein hoch bürokratisiertes Modell,
wie Sie es vorschlagen, nicht tauglich sein kann und
daß auch ein Ansatz, der ausschließlich die nationalen
Interessen formuliert, nicht aber den sozialen und humanitären Aspekt beinhaltet, von uns nicht mitgetragen
wird.
({0})
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich fand es schon einigermaßen irritierend,
Herr van Essen, daß Ihr Gesetzentwurf ausgerechnet
wenige Tage, nachdem die DVU in Brandenburg mit
einem Wahlerfolg ins Landesparlament einziehen konnte,
noch einmal eingebracht wird.
({0})
- Ja gut, er wird auf die Tagesordnung gesetzt, damit
er diskutiert wird. Das ist mir schon klar, Herr van Essen. Fakt ist aber doch, daß die DVU nur mit ausländerfeindlichen Parolen ins Parlament gekommen ist
und daß Sie mit Ihrem Gesetzentwurf nicht über die
Frage der Einwanderung oder darüber, wie eine mögliche Zuwanderung geregelt werden kann, debattieren
wollen, sondern daß es Ihnen - wer den Gesetzentwurf
genau liest, weiß das auch - einzig und allein um die
weiterhin unkontrollierte Zuwanderung geht, wie Sie
es selbst sagen. Auch der Name des Gesetzes - „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ - belegt, daß Sie Zuwanderung verhindern wollen. Das ist der Inhalt Ihres
Gesetzes.
({1})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ja, gern.
Frau Kollegin Jelpke, unabhängig davon, daß ich den Zusammenhang, den Sie zur
DVU herstellen wollten, ganz entschieden zurückweisen
muß, würde mich interessieren, ob Sie bereit sind, zur
Kenntnis zu nehmen, daß in diesem Land - ob rational
oder irrational, das sei dahingestellt - in weiten Teilen
der Bevölkerung Ängste wegen der Zuwanderung bestehen, die wir so nicht teilen. Sind Sie weiterhin bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, daß diese Ängste vor allem darauf
beruhen, daß Zuwanderung tatsächlich stattfindet, daß
sie aber von den Menschen, die Angst davor haben, als
etwas nicht Steuerbares, als etwas, was mit ihnen passiert, wahrgenommen wird und daß unser Gesetz dafür
sorgen soll, daß Zuwanderung auf nachvollziehbare
Weise stattfindet, damit die diffusen Ängste verschwinden können und die Zuwanderung auch größer werden
kann? Begrenzung heißt schließlich nicht ausschließlich
weniger Zuwanderung, sondern Begrenzung bedeutet
auch Zuwanderung in einem notwendigen und von uns
gewünschten Maß, das wir zu definieren haben. Sind Sie
bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Sie haben im Grunde genommen
den Punkt, den ich ansprechen wollte, vorweggenommen. Ich wollte ausführen, daß Ihr Gesetz, in dem Sie
hauptsächlich über Zuwanderungsbegrenzung diskutieren, auf Zustimmung in der Bevölkerung stößt, und daß
Sie die Stimmung und das rechtsextremistische Gedankengut befördern.
({0})
Sie sagen das auch selbst in Ihrem Gesetzentwurf.
({1})
- Darauf gehe ich gleich noch ein. - Ich möchte darauf
hinweisen, daß Ihre Analyse, die Sie immer vortragen,
falsch ist. Mehrere Kollegen haben vor mir berichtet,
daß es gegenwärtig keine Zuwanderung gibt, sondern
daß die Abwanderung eher höher ist, und das nicht erst
seit 1998, sondern seit 1997.
Ich kann Ihnen die Zahlen nennen. Die Zuzüge betrugen 1997 615298 und die Fortzüge 637066. Im Jahr
1998 sehen die Zahlen nicht wesentlich anders aus. Diese Fakten müssen Sie erst einmal zur Kenntnis nehmen.
Wer in dieser Situation eine solche Debatte führt und
nicht darüber diskutiert, wie beispielsweise Integrationsmaßnahmen verstärkt werden können,
({2})
wie die Probleme von Menschen ausländischer Herkunft, die hierher emigriert sind, gelöst werden können,
der wird meiner Meinung nach solche Stimmungen befördern, wie sie beispielsweise von der DVU in Brandenburg und anderen Ländern zum Ausdruck gebracht
werden.
({3})
Ich meine, daß Sie, wenn Sie in Ihrem Antrag eine
falsche Analyse bringen, bereit sein müssen, Ihren Gesetzentwurf zurückzuziehen. Diese Analyse trifft ja gegenwärtig nicht mehr zu. Ich denke, diese Diskussion
brauchen wir gegenwärtig zweifellos nicht.
Unabhängig davon - das ist bereits vom Kollegen
Bosbach und anderen angesprochen worden - kann es
nicht sein, daß wir über ein Quotensystem diskutieren,
das zu Lasten von Humanität und Menschenrechten
geht. Familiennachzug darf beispielsweise nicht auf
Kosten anerkannter Asylbewerber und Asylbewerberinnen gehen. Das ist ein grundlegender Verstoß; das
habe ich auch damals schon in der Debatte, in der Sie
das Gesetz eingebracht haben, gesagt. Politik für Migrantinnen und Migranten, für Menschen, die hier eingewandert sind - daß Deutschland ein Einwanderungsland ist, ist meiner Meinung nach völlig unumstritten; das müssen auch Sie langsam anerkennen -,
muß Sprachförderung und wirkliche Integrationsmaßnahmen beinhalten.
({4})
In diesem Zusammenhang ist auch Jugendsozialarbeit zu
finanzieren, damit der Rechtsextremismus zurückgewiesen werden kann und sich vor allen Dingen die
Stimmung in der Bevölkerung verändert, was Migrantinnen und Migranten in diesem Land angeht.
Danke.
({5})
Das Wort hat jetzt
die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Zunächst sollten wir uns den Anlaß der
heutigen Debatte vor Augen führen: Eine Fraktion
glaubte, ihr parlamentarisches Anliegen werde zu sehr
verzögert, und meldete das Thema nach den Regularien
an, weil es im Innenausschuß so lange nicht behandelt
worden war. Daraufhin vermutete ich, daß Sie heute hier
massenhaft und markig antreten, um Ihr Anliegen
machtvoll zu vertreten. Aber was sehen wir? Zwei bis
drei Teilnehmer der F.D.P.-Fraktion.
({0})
- Im Innenausschuß habe ich Sie, die Sie da sitzen, auch
nicht so oft gesehen. Das wollen wir erst einmal festhalten; denn das illustriert doch die Ernsthaftigkeit des
Anliegens der F.D.P.-Fraktion.
({1})
Eines ist sicherlich richtig: Es ist nur sehr bedingt
möglich, die Migration nach Deutschland politisch zu
steuern und zu gestalten. Zugang zu unserem Land haben politisch Verfolgte, nachziehende Familienangehörige und Menschen, die vor Bürgerkriegen Zuflucht suchen. Im Vergleich zu diesen Gruppen ist der Zuzug der
Spätaussiedler vielleicht am ehesten zu steuern, und das
tun wir ja auch.
Daß darüber hinaus darüber nachgedacht wird, ob es
noch einen anderen Weg für solche Menschen geben
kann, die bei uns eine andere Lebensperspektive suchen,
das empfinde ich als durchaus verständlich. Schließlich
geht es trotz anhaltender Arbeitslosigkeit nicht ohne
ausländische Arbeitskräfte; denn unsere Gesellschaft
altert und die Sozialsysteme geraten in Probleme. Das
sind die Wurzeln, aus denen seit Jahren die Auseinandersetzung um Chancen und Risiken eines Einwanderungsgesetzes mit Quoten erwächst.
Es ist also durchaus denkbar, meine Damen und Herren, daß auch wir künftig eine Regelung brauchen, wie
sie etwa in klassischen Einwanderungsländern besteht;
aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt, nicht ohne Einbettung in gemeinsame Überlegungen mit unseren europäischen Partnern und schon gar nicht nach dem Muster,
das uns die F.D.P.-Bundestagsfraktion hier feilbietet.
Liebe Kollegen und Kolleginnen auf den Sesseln der
F.D.P.-Fraktion, wenn Sie mit dem Schlachtruf „Der
Umständlichkeit eine Gasse“ in den Kampf ziehen
wollten, dann wäre Ihnen sicherlich ein bravouröser
Sieg sicher; denn Sie präsentieren - die Kollegin Beck
hat es schon gesagt - ein ungeheuer kompliziertes bürokratisches Gebilde mit Teilquoten, Gesamthöchstzahlen,
sonstigen Höchstzahlen, Vor- und Nachsteuerung, und
zur Durchführung des gesamten Verfahrens muß ein
Bundesamt für die Regulierung der Zuwanderung herhalten.
({2})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei der Migrationspolitik handelt es sich um Menschen und nicht um eine
Mathematikaufgabe.
({3})
Schwerer wiegt noch etwas anderes. Sie sagen ja
selbst, daß das Gesetz keine zusätzliche Wanderung
nach Deutschland ermöglichen oder auslösen soll. Also
werden Bewegungen umgeschichtet, und zwar, wie ich
meine, auf eine höchst bedenkliche Weise. Zwar stellen
Sie den Familiennachzug nach geltendem Recht nicht
grundsätzlich in Frage. Aber um die jährlichen Zuzugszahlen einhalten zu können, wollen Sie diesen Zuzug
mit den sonstigen Quoten verrechnen. Wissen Sie, was
das in der Praxis bedeutet? Dadurch kann sich die Einreise eines Angehörigen zu Familienmitgliedern, die hier
schon leben, um Jahre verzögern. Das bedeutet eine
ganz erhebliche Härte und verstößt wahrscheinlich gegen den grundgesetzlich verbrieften Schutz von Ehe und
Familie. Sie glauben ja wohl nicht im Ernst, daß wir
Ihnen dazu die Hand reichen.
({4})
Ich möchte dann auf die europäische Dimension zu
sprechen kommen. Wir stehen vor der Osterweiterung
der Europäischen Union. So wichtige Staaten wie
Polen, die Tschechische Republik und Ungarn werden
sich in absehbarer Zeit noch enger an Europa binden.
Andere Länder werden folgen.
Mitgliedschaft in der EU bedeutet zugleich Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft. Man
mag sich ja darüber streiten, wie sich Migration unter
veränderten Bedingungen entwickeln wird. Aber die
Osterweiterung ist ja wohl den meisten von uns eine
Herzensangelegenheit. Wir sollten uns daher nicht selber
Knüppel zwischen die Beine werfen, indem wir für neue
Mitglieder Freizügigkeit schaffen, die zugleich durch
andere Zugangsmöglichkeiten aus anderen Staaten wieder ausgehöhlt werden könnte.
Eine fortschrittliche Zuwanderungspolitik setzt voraus, daß man die Lebenswirklichkeit und das Empfinden vieler Menschen nicht völlig außer acht läßt. Wie
wollen Sie denn eigentlich Ihr Modell in Regionen mit
hoher Erwerbslosigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt
den Menschen verständlich machen? Wollen Sie sagen
„Es gibt ein neues Gesetz und viele Jobs. Nun bewerbt
euch mal!“? Auch wenn die Tatsache zutrifft, daß Arbeitslosigkeit schon jetzt mit Fachkräftemangel einhergeht, können Sie dieses Gesetz vielen Menschen einfach
nicht plausibel machen.
Deshalb sage ich für die Bundesregierung sehr deutlich: Wir stoßen die Tür zu einem zukünftigen Gesetz
mit quotierter Zuwanderung nicht zu; aber wir lassen sie
bis auf weiteres angelehnt. Wir sind davon überzeugt,
daß wir die Chancen, aber auch die Probleme der Migration nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern angehen können. Deswegen haben andere Ziele für
uns zeitliche und inhaltliche Priorität, nämlich die Integration derer, die hier dauerhaft leben, und eine Asylund Flüchtlingspolitik, die die humanitären Spielräume stärker auslotet.
Herr Bosbach, die Diskussion um eine Altfallregelung hat mit der jetzigen Diskussion nichts zu tun. Diese
Regelung betrifft Menschen, die hier leben und die nicht
etwa über eine Quotenregelung hier ins Land geholt
werden sollen. Diese beiden Sachverhalte sollte man
sauber auseinanderhalten.
Es geht jetzt vor allen Dingen um die Integration. Das
neue Staatsangehörigkeitsrecht ist das deutliche Signal
für den Wandel in der Integrationspolitik, den wir in den
letzten 10 Monaten eingeleitet haben. Wir brauchen
auch eine Kampagne gegen die alltägliche Diskriminierung und für gegenseitige Achtung und Partnerschaft im
Zusammenleben von Menschen deutscher und ausländischer Herkunft.
Wie dringlich dies ist - auch das muß ich sagen - haben die Wahlergebnisse des vergangenen Sonntags einmal mehr bewiesen. Die von dem Kollegen van Essen
eben ausgedrückte Zuversicht über den Rückgang von
Fremdenfeindlichkeit kann ich leider in dieser Form
nicht teilen. Dazu ist eine Offensive, ein Bündnis für
Demokratie und Toleranz nötig, die wir vorbereiten.
Daran mitzuwirken sind Sie alle herzlich eingeladen.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache und rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 12
sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gunnar
Uldall, Bernd Protzner, Karl-Heinz Scherhag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
„Jahr-2000-Problem“ in der Informationstechnik ernst nehmen
- Drucksachen 14/1334 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrike Flach, Horst Friedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Jahr 2000-Problem - Unterstützung zur Problemlösung
- Drucksache 14/1544 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Fraktion der F.D.P. der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir haben am heutigen Nachmittag
interfraktionell verabredet, daß eigentlich mit Ausnahme
der beiden SPD-Kollegen, die heute ihre Jungfernreden
halten, die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es hat
sich herausgestellt, daß diese Absprache in den Fraktionen offensichtlich nicht, wie verabredet, weitergegeben
worden ist. Deshalb erlaube ich mir, den Redebeitrag
meiner Kollegin Homburger hier vorzutragen.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, den Fortschrittsbericht zum Jahr-2000Problem zu konkretisieren. Der Fortschrittsbericht, den
die Bundesregierung im April 1999 vorgelegt hat, läßt
nämlich viele Fragen offen. Deshalb hatte die F.D.P.Fraktion eine Kleine Anfrage zum Jahr-2000-Problem
an die Bundesregierung gerichtet. Die Bundesregierung
sollte über nationale wie internationale Problemlösungen
und über den Vorbereitungsstand Auskunft geben. Leider wurden die offenen Fragen auch in der Antwort der
Bundesregierung nicht beantwortet.
Daher bringt die F.D.P.-Bundestagsfraktion heute den
Antrag „Jahr-2000-Problem - Unterstützung zur Problemlösung“ in den Bundestag ein. Die F.D.P.-Fraktion
fordert die Bundesregierung auf, den vorgesehenen
zweiten Fortschrittsbericht bis zum 1. Oktober 1999
fristgerecht vorzulegen und ihn klar und konkret zu fassen.
Wir verlangen, daß der zweite Fortschrittsbericht der
Bundesregierung klar zeigt, wie weit die Vorbereitungen
zum Jahr-2000-Problem sind und wo noch Probleme bestehen. Vor allem dort, wo es durch Computerfehler zu
einer Gefährdung der Bevölkerung kommen könnte,
ist Handeln statt Aktionismus angesagt. Das gilt unter
anderem für den Bereich der Kernkraftwerke, die
Trinkwasserversorgung und die Krankenhäuser.
Wo keine direkte Zuständigkeit der Bundesregierung
besteht, fordern wir klare Kompetenzabsprachen und
entsprechende Unterstützung zum Beispiel der Kommunen. Wir verlangen von der Bundesregierung saubere
Arbeit statt seitenweise Geschwafel und ein klares Informationskonzept für die Bevölkerung.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPDFraktion hat jetzt der Kollege Rainer Brinkmann das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich eines heute abend vorab feststellen:
Erstens. Das Jahr-2000-Problem wird von vielen
vollkommen überschätzt, von vielen aber auch unverantwortlich verharmlost.
Zweitens. Das Problem als solches besteht schon lange, und die alte Bundesregierung hat sich nicht gerade
mit Ruhm bekleckert. Darum sind die vorliegenden Anträge von Union und F.D.P. auch als das zu bewerten,
was sie nämlich in Wirklichkeit sind: Showanträge, die
von den eigenen Fehlern der Vergangenheit ablenken
sollen.
({0})
Was ursprünglich einmal als geniale Idee von Computerprogrammierern gefeiert worden war, nämlich die
Jahreszahl zweistellig einzugeben und damit Geld und
Speicherkapazität zu sparen, entpuppt sich nun als
ernsthaftes Problem für Technik, Wissenschaft, Wirtschaft, Dienstleister und öffentliche Hand.
Die pikante Anekdote am Rande: Der Chef der amerikanischen Notenbank, Alan Greenspan, der selbst erheblich mit den möglichen Auswirkungen dieses auch
Y2K genannten Problems zu kämpfen hat, war selber als
Programmierer in den 60er und 70er Jahren nicht unerheblich an der Ursache dieses Problems beteiligt.
Die Herausforderung für alle Beteiligten ist groß und
muß weltweit angepackt werden. Es gibt in der Informationstechnologie keine staatlichen Grenzen. Mit jedem Chip hat sich das Risiko vergrößert. Weltweit sind
es zwischenzeitlich drei Milliarden Prozessoren, in denen ein Fehlerrisiko stecken kann. Die sogenannten embedded systems, die eingebetteten Prozessoren sind es,
die noch heute das eigentliche Risiko in sich bergen.
Das Problem besteht darin, daß niemand weiß, wie diese
Prozessoren am 1. Januar 2000 um 0.00 Uhr reagieren.
Die neue Bundesregierung hat sich dieser Problematik schnell angenommen und eine ganze Reihe von
Maßnahmen ergriffen, die der Komplexität dieser Herausforderung angemessen sind. Sowohl im Fortschrittsbericht aus dem April dieses Jahres als auch in der Beantwortung der Kleinen Anfrage der Koalitionsfraktionen in der Drucksache 14/1469 werden diese Anstrengungen ausführlich dargelegt. Schwerpunkte der Aktivitäten sind die Aufklärung der KMU, der Kommunen
und Verbraucher sowie der Bereiche, in denen der Bund
eine eigene Zuständigkeit besitzt.
Im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland ist eine zentrale Lösung, so wie sie im Antrag der
CDU/CSU gefordert wird, nun einmal nicht möglich,
und eine dezentrale Lösung unter Beteiligung der Länder und anderer Einrichtungen und Institutionen angesagt. Durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit ist die
notwendige Sensibilität bei allen Unternehmern und den
Verantwortlichen in den Kommunen und Ländern sowie
den öffentlichen Einrichtungen erreicht worden.
Es kann nicht die Aufgabe der Bundesregierung sein,
die notwendigen Arbeiten derjenigen zu erledigen, die
dafür selbst die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung haben. Dennoch gibt es ein breites Informationsangebot, das für alle bereitsteht und auch hunderttausendfach genutzt und als wirksame Hilfestellung verstanden wird.
Wenn wir, die Koalitionsfraktionen, im April dieses
Jahres eine eigene Kleine Anfrage gestellt hatten, dann
mit der Zielsetzung, die öffentliche Diskussion über
diese Problematik zu beleben. Wer heute einen Blick in
die entsprechenden Seiten des Internets wirft, stellt fest,
daß dieses Ziel auch erreicht worden ist. Interessant
hierbei ist aber auch die Tatsache, daß unter der Seite
„zeitbombe-jahr2000.de“ die Urheber das Unionsantrages ausgemacht werden können.
({1})
Die Gestalter dieser sogenannten Webseite geben selber
an, am Antrag der Union gearbeitet zu haben. Dies ist
eigentlich überhaupt nicht verwerflich. Verwerflich ist
aber die Stoßrichtung dieser Webseite und wie dort mit
unseriösen Methoden Propaganda betrieben wird.
Die Diktion der Webseite „zeitbombe-jahr2000.de“
ist auch im Antrag der Union enthalten. Dabei wird verschwiegen, welche großen internationalen Hilfen die
Bundesregierung leistet und nicht etwa bekommt und
welche Anstrengungen sie auch im Rahmen ihrer EUPräsidentschaft unternommen hat. Die Bundesregierung
ist auch im internationalen Rahmen führend und hinkt
nicht, wie von vielen behauptet, hinterher.
Den Kolleginnen und Kollegen von der Opposition
möchte ich heute abend einen schönen guten Morgen
wünschen.
({2})
Denn ihre Anfrage zum Jahr 2000 zeigt vor allem eines:
Sie haben das Thema verschlafen wie vieles andere auch.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es besteht kein Anlaß zur Hysterie. Aber es
könnte in der Tat zu einer ganzen Reihe von kleineren
Vorfällen, von Schäden für Menschen und die Volkswirtschaft in unserem Lande kommen.
Die Bundesregierung hat mehr als 5 Millionen DM
aufgewandt, um das Jahr-2000-Problem darzustellen, die
Öffentlichkeit zu sensibilisieren und ihr Informationen
zu vermitteln. Zusammenfassend ist zu sagen: Die Bundesregierung hat auf nationaler und internationaler Ebene vielfältige Aktivitäten entwickelt, um die Funktionsfähigkeit von zentralen öffentlichen und privaten Einrichtungen der Infrastruktur zu erhalten.
Die neue Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben
gemacht, ganz im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin, die
das Problem zwar erkannt, ihm aber keine besondere
Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die alte Bundesregierung hat sich, wie jeder weiß, nicht nur deshalb als nicht
Jahr-2000-fest erwiesen.
({4})
Herr Kollege Brinkmann, dies war ihre erste Rede hier im Plenum des
Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen möchte ich Sie dazu beglückwünschen.
Ähnlich wie meine Kollegin Anke Fuchs gestern kann
ich Sie auch dazu beglückwünschen, daß Sie in Ihrer
Jungfernrede die Redezeit wunderbar eingehalten haben.
({0})
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Gunnar Uldall.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Brinkmann,
dies war Ihre Jungfernrede. Es hat mich gefreut, daß ich
dabei sein durfte. Sie sollten aus dem, was Sie vorgetragen haben, eines lernen: Man muß sich auf ein Thema
immer so vorbereiten, daß man seine Informationen aus
möglichst vielen Quellen sammelt. Wenn Sie sich auch
aus unabhängigen Quellen Input für eine parlamentarische Initiative holen, dann machen Sie es genau richtig.
So haben auch wir es gemacht. Deswegen können Sie
vielleicht viele Webseiten zitieren, deren Autoren angeben, der CDU geholfen zu haben, und stolz darauf sind zu Recht. Wenn die Leute sagen, sie helfen der CDU
und sind stolz darauf, dann freuen wir uns. Hier werden
die Maßstäbe richtig gesetzt.
({0})
Wir haben vorhin überlegt, ob man die Reden zu
Protokoll gibt. Aber wenn nur Herr Brinkmann und Herr
Kollege Berg ihre Reden hier gehalten hätten und wir
nicht hätten antworten dürfen, dann wäre das nicht so
gut gewesen. Ich war ein bißchen hin und her gerissen,
ob man nicht besser Unter den Linden spazierengegangen wäre. Auch das hätte seinen Reiz gehabt. Aber das
wäre wieder ein bißchen typisch für den Umgang mit
diesem Thema gewesen.
Das Thema Jahr-2000-Problem ist im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zu einem Spezialistenthema
geworden. Davon müssen wir weg; da sind wir uns sicherlich einig. Wir müssen dieses Thema breiteren Kreisen nahebringen. Wir Politiker sind dazu verpflichtet,
dieses komplizierte und abstrakte Thema so vorzutragen,
daß man die Expertenkreise übersteigt.
Ich gebe Ihnen recht: Wir wollen das Thema in Ruhe
diskutieren, ohne Hysterie zu erzeugen, müssen aber auf
der anderen Seite auch dafür sorgen, daß diesem Thema
die notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.
Wir müssen mit Ernst und Nachdruck darauf hinweisen,
welche Folgen mit einer mangelhaft vorbereiteten Umstellung verbunden sein können.
Jeder Bürger, jedes Unternehmen, jede staatliche Institution muß ein Interesse daran haben, daß im eigenen
Bereich alles dafür gerüstet ist, das Problem der Jahr2000-Umstellung möglichst klein zu halten. Deshalb bereitet es schon einige Sorge, wenn, wie die Hermes
Kreditversicherung bei einer Umfrage im Sommer dieses Jahres festgestellt hat, 48 Prozent der deutschen Unternehmen diesem Problem keine besondere Bedeutung
beimessen und erst 30 Prozent die Notfallpläne für ihr
Unternehmen ausgearbeitet haben. Die Hermes Kreditversicherung, die als Hauptgeschäft die Warenkreditversicherung betreibt, wird das sehr genau analysiert haben.
Deswegen ist es gut, daß wir hier gemeinsam eine Debatte führen, um auf dieses Problem hinzuweisen.
Lieber Kollege Brinkmann, in einem Punkt stimme
ich Ihnen nicht zu: Die notwendige Sensibilität ist noch
nicht vorhanden - zwar bei Ihnen, bei dem Kollegen
Mosdorf und bei den Verantwortungsträgern in den Unternehmen, jedoch nicht bei der Mehrheit der mittelständischen Betriebe.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion haben Zweifel daran, ob
die Bundesregierung diesem Problem die notwendige
Aufmerksamkeit schenkt.
({1})
Ebenso geht es den Freien Demokraten - wir stehen also
nicht alleine da -; denn sonst hätten sie diesen Antrag
nicht gestellt. Ebenso geht es aber auch den Grünen und
Ihnen, sonst hätten Sie nicht die entsprechenden Anfragen gestellt. Hätten Sie gesagt, alles sei wunderbar, dann
Rainer Brinkmann ({2})
hätten Sie die Anfrage damals nicht so fleißig ausgearbeitet. Insofern ist es richtig, wenn Sie sagen: Wir, das
Parlament, wollen dafür sorgen, daß die Bundesregierung diesem Problem die entsprechende Aufmerksamkeit zukommen läßt.
Mir reichen die bisherigen Aktivitäten der Regierung
nicht aus; das muß ich ganz klar sagen.
({3})
- Auch der jetzigen; ich werde gleich etwas dazu sagen.
({4})
Die Öffentlichkeitsarbeit ist zu unauffällig. Wenn ich
mir die Anzeigenserie anschaue, für die Sie, wie Sie sagen, 5 Millionen DM ausgegeben haben, so kommt da
nichts rüber. Sie haben gesagt: Im Internet haben wir
tolle Webseiten installiert. Aber wer sich das im Internet
ansieht, der ist doch sowieso gut vorbereitet; denn das
tun gerade diejenigen, die sich mit diesem Problem beschäftigen. Das, was im Fortschrittsbericht vom April
1999 steht, ist ebenfalls nicht nur lobenswert. Vor allen
Dingen ist auch das nur Insidern bekannt.
Deswegen sage ich: Die Bundesregierung muß sich
hier sehr viel energischer einschalten. Sie muß sich dieses Themas sehr viel intensiver annehmen.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Gern.
Herr Kollege Uldall, ist Ihnen
bekannt, daß über das, was Sie angesprochen haben,
hinaus beispielsweise das Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik kurzfristig hervorragende
Materialien nicht nur im Web abrufbar gemacht hat,
sondern auch Programme, Software und ähnliches zur
Verfügung gestellt hat, damit gerade kleine und mittlere
Betriebe in der Lage sind, sich sehr schnell auf dieses
Problem vorzubereiten? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß davon in großem Umfang Gebrauch gemacht
worden ist, so daß die Bemühungen der Bundesregierung doch weit über das hinausgegangen sind, was Sie
heute abend darzustellen versuchen?
Daß das Problem auf der Hand liegt, das wissen wir.
Aber so gering sollten Sie unsere Bemühungen doch
nicht einschätzen. Dürfte ich Sie bitten, das Positive ein
bißchen stärker zur Kenntnis zu nehmen und auch zu
betonen, weil dies ein Unterschied zu der alten Bundesregierung darstellt.
Lieber Herr Kollege
Tauss, wenn es etwas objektiv zu loben gibt, bin ich
immer dabei.
({0})
Wenn ich aber die Informationspolitik der Bundesregierung in Sachen Jahr-2000-Umstellung loben soll, dann
habe ich doch einige Schwierigkeiten. Aber die Information, die Sie uns gegeben haben, war gut. Wir freuen
uns, daß etwas getan wurde. Lassen Sie uns aber gemeinsam dafür sorgen, daß noch mehr getan wird.
({1})
Nun möchte ich einmal vorlesen, was die Bundesregierung auf ihrer Internetseite zum Jahr-2000-Problem
sagt:
Ein Jahr-2000-Projekt kann … nur erfolgreich verlaufen, wenn sich die Führungsebene darüber im
klaren ist, wie wichtig diese Arbeiten für das gesamte Unternehmen sind. Darum: Ein Jahr-2000Projekt muß in einem Unternehmen immer Chefsache sein.
({2})
Ich will gar nicht so weit gehen, von der Bundesregierung zu fordern, das, was sie auf ihrer Internetseite fordert, selber zu tun. Gott bewahre uns davor, daß Schröder auch dies noch zu seiner Chefsache erklärt. Denn in
den Bereichen, in denen er erklärt hat, sie seien Chefsache, ist meistens nichts passiert. Insofern kann ich nur
darum bitten, daß Schröder nicht auch dies noch zur
Chefsache macht. Dann wird das überhaupt nichts werden.
Was wir aber mit allem Nachdruck fordern, ist, einen
zentral Verantwortlichen zu schaffen und als Parlament ganz deutlich verstehen zu geben, daß es nicht angeht, daß heute das Innenministerium, morgen das Wirtschaftsministerium und übermorgen eine sonstige Stelle
federführend mit diesem Thema beauftragt wird.
({3})
Die Aktivitäten laufen auf zu vielen verschiedenen Kanälen. Es wäre klug, diese zu bündeln. Wenn man mich
fragen würde, wen in der Bundesregierung ich dafür
vorsehen würde, würde mir ein entsprechender Vorschlag nicht allzu schwer fallen.
({4})
Wir sollten dieses Thema nicht zu leicht nehmen. Das
Erstellen einer Antwort auf die vorliegenden Kleinen
Anfragen ist ja sehr schwierig gewesen. Die Abstimmung und Koordination zwischen den Häusern war sehr
vielschichtig. Das ist ein Zeichen dafür, daß es in diesem
Punkte keinen zentral Verantwortlichen gibt. Dazu kann
ich nur sagen: Dies ist ein Kernfehler, der jetzt noch behoben werden kann, um die Arbeiten effektiver zu machen.
Aber es kommt nicht nur zu mangelhaften Bemühungen in der Informationspolitik, und es fehlt nicht nur ein
zentral Verantwortlicher, sondern in dem Fortschrittsbericht selber sind Dinge aufgeführt worden, die einfach
nicht ausreichend sind, da nicht auf das besonders Notwendige eingegangen wird.
Ich nenne als erstes Beispiel das Gesundheitswesen.
Die Funktionsfähigkeit von Krankenhäusern und mediGunnar Uldall
zinischen Geräten muß uns nach Auffassung von vielen
Experten große Sorgen machen. Unser Kollege Brinkmann hatte soeben die Bedeutung der embedded systems
erklärt. Es ist richtig, wie Sie das dargestellt haben. Diese embedded systems befinden sich natürlich auch in
medizinischen Geräten, und keiner weiß mehr, ob der
Hersteller dieser Systeme noch existiert und ob es Unterlagen über das gibt, was hier installiert worden ist. Insofern ist es sehr schwer zu klären, ob diese Geräte zum
Jahrtausendwechsel eventuell ihren Dienst einstellen
werden. Man denke nur an die Auswirkungen für die mit
diesen Geräten zu versorgenden Patienten.
Deswegen könnte ich mir schon vorstellen, daß die
erste Aufgabe eines solchen zentral Verantwortlichen
wäre, dafür zu sorgen, daß auf der Ebene der Bundesländer eine sogenannte Deadline gesetzt wird, zu der die
zuständigen Krankenhäuser eine entsprechende Meldung an die jeweilige Landesregierung zu geben haben,
daß all diese Dinge überprüft worden sind.
({5})
Es wäre hier eine wunderbare Gelegenheit, in der Meinungsbildung der Länder eine entsprechende Führung zu
übernehmen.
Ein zweites Beispiel, zu dem die Darstellungen im
Fortschrittsbericht wirklich nicht ausreichend sind und
angesichts dessen man sich Sorgen machen muß, ist die
Mineralöl- und die Gasversorgung. Es ist vorstellbar,
daß irgendwo in den Schaltstationen östlich des Urals
eine solche Funktionsuntüchtigkeit plötzlich auftreten
kann. Das hat Bedeutung für die Versorgung hier bei
uns in Deutschland. Deswegen kann ich nur sagen: Hier
sollte die Regierung sehr viel energischer vorgehen.
Ein drittes Beispiel, angesichts dessen ich meine, daß
in dem vorliegenden Fortschrittsbericht etwas aufgedeckt wird, was so nicht hingenommen werden kann, ist,
daß die Eventual- und die Notfallplanungen noch absolut unterentwickelt sind. Ich könnte mir vorstellen,
daß die Bundesregierung diese Planungen mit Hilfe einer zentralen Stelle sehr viel energischer angehen könnte.
Weitere neuralgische Punkte möchte ich nicht nennen. Wir haben sie in unserem Antrag im einzelnen aufgelistet. Negativ fällt an dem Fortschrittsbericht weiterhin auf, daß er häufig im Unverbindlichen steckenbleibt.
Da heißt es dann zum Beispiel, es gebe zu vielen Betroffenen Kontakte, die jeweils zuständigen Stellen seien
zuversichtlich, daß sie ihre Probleme doch noch lösen
könnten, bzw. Probleme würden von den Verantwortlichen nicht erwartet. Mir ist das alles zu nebulös und zu
schön, als daß man bei einem so ernsten Thema damit
zufrieden sein könnte.
({6})
Ich erwarte deswegen von der Bundesregierung, daß
sie nicht zu vertrauensselig nur die Berichte anderer referiert. Statt dessen muß sie viel stärker auf die Übermittlung klarer Fakten und Überprüfungsergebnisse
drängen und diese kontrollieren. Sonst ist es nicht möglich, konkrete Defizitanalysen sowie Zeitpläne zur Problemlösung oder Notfallbekämpfung aufzustellen.
Sorge macht mir dann auch die Tatsache, daß jetzt,
also zu einem recht späten Zeitpunkt, noch Probleme
zugegeben werden, die eigentlich schon längst gelöst
sein müßten. So muß die Bundesregierung in der Beantwortung der Kleinen Anfrage der SPD und der Grünen einräumen: Erstens. Der Vorbereitungsstand in kleinen Kommunen ist vielerorts unklar. Zweitens. Bei der
Schadens- und Unfallversicherung sind noch Anstrengungen nötig. Drittens. Es ist nicht hundertprozentig
gewährleistet, daß alle medizinischen Geräte sicher arbeiten können. Viertens. Funktionsbeeinträchtigungen
bei der Bundeswehr sind nicht auszuschließen. Fünftens. Die Atomaufsichtsbehörden wollen die erforderlichen Überprüfungen der deutschen Kraftwerke erst
im Oktober/November abschließen. Sechstens. Die Sicherheitslage in osteuropäischen Kernkraftwerken bereitet den Berichterstattern Sorge. Diese Liste ist mir
schlichtweg zu lang.
Nun kommt natürlich immer der Zwischenruf: Die
alte Regierung hätte längst damit anfangen müssen.
({7})
Doch dafür sind Sie alle viel zu sehr in der Geschichte
drin. Sie sind Fachleute und wissen, daß viele Probleme
in ihrer Auswirkung
({8})
erst im letzten Halbjahr des Jahres 1998 allgemein erkannt worden sind.
({9})
- Genauso ist es. Die Bundesregierung hat natürlich
schon vor drei Jahren ihre Berichterstattung begonnen.
Aber tun wir doch nicht so, als wenn dieses Problem in
seiner Tragweite, in alle Dimensionen, von allen Beteiligten schon so früh erkannt worden ist! Das ist doch gerade das Verheerende, daß diese Probleme erst vor etwa
einem Jahr richtig erkannt worden sind.
({10})
Andere, Wirtschaftsbereiche, haben Konsequenzen
daraus gezogen. Ich denke an die Kreditwirtschaft, die
sich über die Bedeutung des Ausfalls eines Zahlungssystems für die Weltwirtschaft und für die nationale Wirtschaft voll im klaren ist. Sie haben zur Mitte dieses Jahres eine Simulation gefahren. Dieser Test war, wie die
Mediziner sagen, negativ; es ging also positiv aus. Ich
frage mich, warum die Bundesregierung nicht etwas
Ähnliches gemacht hat.
Wir wissen, daß auf die Regierung auch große finanzielle Verbindlichkeiten zukommen können, wenn ein
Ausfall allzu lange dauert. Der Rechnungshof schätzt
maximal 40 Millionen DM Schaden pro Tag. Nun müssen nicht alle Schäden auf einmal eintreten. Wenn sich
der Schaden über mehrere Tage hinzieht, können ganz
schnell dreistellige Millionenbeträge erreicht werden Gunnar Uldall
ganz abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen, die
sich zunächst gar nicht in der Staatskasse niederschlagen. Wenn am 1. Januar zum Beispiel die Zollverwaltung nicht richtig funktioniert, dann gibt es weniger
Zölle. Die gehen sowieso nach Brüssel, deswegen ist das
nicht so wichtig. Falls aber ein wichtiges Ersatzteil nicht
ausgeliefert werden kann, dann hat das Implikationen,
die weit über diesen finanziellen Verlust hinausgehen.
Wir wollen, daß die Bundesregierung eine Informationskampagne macht, die wirklich aufklärt. Wir wollen
die Einsetzung eines zentral Verantwortlichen. Wir
wollen eine verstärkte Bemühung in den genannten Problembereichen. Schließlich wollen wir bei aller diplomatischen Rücksichtnahme auf die anderen Länder ein
energisches Auftreten unserer Regierung gegenüber den
Ländern, deren Versäumnisse eine Gefahr für uns darstellen könnten.
Lassen Sie mich abschließend kurz vorlesen, was die
Bundesregierung unter „Allgemeine und praktische
Hinweise“ im Internet - Sie sehen, ich lese auch dort sagt:
Werden Sie aktiv! Ändern Sie Ihre Grundeinstellung! Sagen Sie sich und anderen: In meiner Umgebung, in meinem Verantwortungsbereich gibt es
Jahr-2000-Probleme, zumindest so lange, bis ich
mich vom Gegenteil überzeugt habe. Ich darf jetzt
keine Zeit mehr verlieren, in meinem Verantwortungsbereich muß das Jahr-2000-Problem schnellstens gelöst werden.
Ich wünsche mir, daß unsere Bundesregierung sich das,
was sie anderen empfielt, selber zu Herzen nimmt und
realisiert. Dann werden wir kein Problem haben.
Vielen Dank.
({11})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege HansJosef Fell.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU, Herr Uldall, sagt, daß
das Computerproblem 2000 ernst genommen werden
muß. Damit haben Sie recht. Daß diese Einsicht um Jahre zu spät kommt, wissen Sie selbst am besten. Das Problem ist seit vielen Jahren bekannt.
Parlamentarisch haben die Bündnisgrünen das Jahr2000-Problem als erste aufgegriffen, und zwar schon
1997. Damals hat die alte Bundesregierung Anfragen
mit einem lockeren „Keine Panik“ beantwortet.
({0})
Alles sei unter Kontrolle, alle notwendigen Maßnahmen
seien eingeleitet worden. Inzwischen wissen wir, daß
diese Aussagen damals nicht der Wahrheit entsprachen.
Ihr heutiger Antrag beweist es.
({1})
Mittlerweile haben sich die Verantwortlichkeiten geändert. Auch die neueren Oppositionsparteien lesen in
den Regierungstexten: „Keine Panik, alles unter Kontrolle! Alle notwendigen Maßnahmen sind eingeleitet.“
Tatsächlich hat die neue Bundesregierung wesentlich
weitreichender gehandelt als die alte. Es muß allerdings
hinterfragt werden, ob diese weitgehenden, zusätzlichen
Aktivitäten ausreichen. Ich bin ehrlich und sage Ihnen:
Ich weiß es nicht.
Fragen Sie die Fachleute, und Sie werden nicht
schlauer. Die einen bauen sich einen Bunker mit Notstromaggregat, die anderen behaupten, daß von einigen
fehlprogrammierten Videorecordern abgesehen, kaum
etwas passieren wird. Manche erwarten eine wirtschaftliche Depression, andere erhoffen sich Tausende neue
Arbeitsplätze in der Videorecorderindustrie. Das einzige, was Ihnen die Experten einhellig sagen, ist: Die bis
Ende 1998 gemachten Versäumnisse sind nicht mehr
wettzumachen.
({2})
Niemand könne nach Jahren der Versäumnisse das Jahr2000-Problem lösen. Allenfalls könnten die Folgen abgemildert werden. Daran arbeitet die neue Bundesregierung mit Hochdruck.
Das Computerproblem 2000 ist sehr komplex. Es
handelt sich nicht nur um unzuverlässige Computerprogramme - Sie haben es ausgeführt, Herr Uldall -,
schlimmer noch: Etwa 2 Prozent aller Computerchips
sind datumsrelevant. Diese Schwachstellen sind schwer
aufzufinden. Falls man fündig geworden ist, ist es gut
möglich, daß Fehlerquellen von außen zu Fehlfunktionen führen werden.
Andere Staaten - vor allem im angelsächsischen
Raum - haben dieses Thema daher zur Chefsache gemacht. Die deutschen Bundesregierungen haben darauf
verzichtet. Unterschiedliche Kulturen haben verschiedene Risikowahrnehmungen und setzen daher auch abweichende Prioritäten. Warum das so ist, brauchen wir nicht
zu vertiefen. Welche realitätstauglicher ist, wird sich
eben erst zu Beginn des kommenden Jahres herausstellen.
Maßnahmen, um dem Problem Herr zu werden, wurden von beiden Bundesregierungen durchgeführt; von
der letzten weniger, von der neuen mehr. Da das Computerproblem 2000 zu komplex ist - wie das eine oder
andere Problem der Informationstechnologie insgesamt
auch -, kann nicht jede Gefahr völlig ausgeschlossen
werden. Ein Risikoausschluß ist nur möglich, wenn von
vornherein ungefährliche Technologien eingesetzt werden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Computer-2000-Problem zeigt auch, wie abhängig unsere
Gesellschaft inzwischen von der Informationstechnologie ist. Selbst vollkommene Banalitäten wie die Anzahl von Ziffern für Jahreszahlen können über die Zukunft von Gesellschaften entscheiden. Wer der Auffassung ist, diese Probleme ließen sich mit genügend Informatikern und Geldeinsatz automatisch lösen, hat
entweder die Dimension nicht verstanden oder noch
nie mit einer Software von Microsoft gearbeitet, einem
zweifellos finanziell gut ausgestatteten Unternehmen
mit sehr vielen Informatikern, aber auch Programmfehlern und Systemabstürzen.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition ich möchte den einen oder anderen auf der Regierungsbank nicht ganz ausnehmen -: Ein „Weiter so“ in der
Technologiepolitik würde lediglich aufzeigen, daß aus
der Geschichte nur zu lernen ist, daß die Menschen
nichts aus der Geschichte lernen.
Aus meiner Sicht müssen folgende Schlüsse gezogen
werden: Erstens. Die restlichen Wochen bis zum Jahreswechsel müssen dazu genutzt werden, die Anstrengungen nochmals zu verstärken. Ich gehe davon aus, daß
dies auch geschieht. Dies gilt sowohl hinsichtlich der
Prävention als auch für die Notfallplanung. Die Bundesregierung sollte das Parlament in Anhörungen auf dem
laufenden halten. Dies gilt vor allem für die Schwerpunktfelder, wie zum Beispiel Energieversorgung, Verkehr und Gesundheitswesen.
Bei der Notfallplanung sind die Ministerien nicht um
ihre Aufgabe zu beneiden. Es handelt sich hier um einen
schwierigen Balanceakt. Einerseits muß die Bevölkerung auf die Gefahren aufmerksam gemacht werden,
und zwar in weit umfangreicherem Maße, als dies bisher
geschehen ist. Andererseits muß darauf geachtet werden,
daß keine Panik entsteht. Deren Folgen könnten womöglich schlimmer sein als das eigentliche Computerproblem.
Ich schlage vor, daß an alle Haushalte möglichst bald
ein detailliertes Informationspaket geschickt wird, in
dem auch Tips gegeben werden sollten, wie man sich
vorbereiten kann. Es ist wohl selbstverständlich, daß
dieses Schreiben in mehreren Sprachen verfaßt werden
sollte.
Darüber hinaus müssen vor Ort in den Kommunen
möglichst umfangreiche Notfallplanungen entwickelt
werden. Die USA, in denen eng mit der Bevölkerung
kommuniziert wird, sind ein gutes Vorbild.
Zweitens. Risikotechnologien mit ihren umfangreichen Gefährdungen müssen vermieden bzw. durch
Technologien ersetzt werden, bei denen sich Fehlfunktionen auf die Anlage begrenzen lassen. Dort, wo wie
bei den Atomkraftwerken Altlasten vorhanden sind, muß
möglichst schnell ausgestiegen werden und bis zum
Ausstieg eine Risikominimierung stattfinden. Schon alleine das Computer-2000-Problem zeigt die Notwendigkeit des Atomausstiegs.
Sie von der CDU/CSU, die das Computerproblem
2000 seit einigen Wochen ernst nehmen, können wertvolle Arbeit leisten, indem Sie einen Antrag stellen, die
Atomkraftwerke sicherheitshalber vom Netz zu nehmen.
Für den Fall, das Sie dies nicht tun, bescheinigen Sie der
Bundesregierung, gute Prävention geleistet zu haben.
({3})
Andernfalls setzen Sie sich dem Verdacht aus, daß Sie
Ihren heutigen Antrag selbst nicht ernst nehmen.
Die Bundesregierung - so unsere Forderung - muß
lückenlos und objektiv prüfen, ob alle sicherheitsrelevanten Einrichtungen, wie Atomkraftwerke, Genlabors
und Chemiefabriken, ihre Jahr-2000-Fähigkeit nachgewiesen haben. Im Falle von Defiziten ist eine Abschaltung ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Zukünftig müssen
die Systeme so gebaut werden, daß Datenfehler durch
Sicherungssysteme aufgefangen werden, die unabhängig
von der Informationstechnologie funktionieren.
Wir sollten aus diesem Problem lernen, es ernst nehmen und unsere Risikovorsorge insgesamt in Form von
Technikfolgenabschätzung vorantreiben.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({4})
Das Wort hat die
Kollegin Angela Marquardt, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Uhrzeit paßt ein bißchen zu den
vorliegenden Anträgen: Sie alle gucken schon ein bißchen verschlafen drein.
({0})
Ich glaube, hier ist wirklich sehr viel verschlafen worden.
Dennoch habe ich mich natürlich gefragt, warum Sie
diese Anträge gerade zu diesem Zeitpunkt stellen. Ich
bin auf einen Satz in Ihren Anträgen gestoßen, der das
alles offenlegt. Ich zitiere kurz. Sie schreiben:
Das „Jahr-2000-Problem“ beschäftigt die Öffentlichkeit in zunehmendem Maße.
Ich glaube, Sie haben hinter dem Vorhang Publikum
vermutet, und haben sich gesagt: Wir führen jetzt ein
Stück auf und bringen einen ziemlich verspäteten Antrag
ein. Sie müssen einfach zugeben: Das ist in der vorhergehenden Legislaturperiode Ihr Ding gewesen. Sie hatten
die Zeit, sich auf das Jahr-2000-Problem vorzubereiten.
({1})
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte
die rotgrüne Regierungskoalition das Jahr 2000 erfunden, als hätte es das vorher nicht gegeben. Diesen Vorwurf müssen Sie sich einfach gefallen lassen; daran
kommt man nicht vorbei.
({2})
Dennoch ist Ihr Anliegen natürlich insofern zu unterstützen, als sich die Regierung umfassender als bisher
mit dem Jahr-2000-Problem beschäftigen sollte. Aber ob
das durch neue und ausführliche Berichte oder durch die
Einberufung eines hochrangigen Verantwortlichen gewährleistet wird, das halte ich doch für sehr fraglich. Es
gibt eine interministerielle Task Force und einen Sachverständigenkreis beim Bundeswirtschaftsministerium.
Was es nutzen soll, wenn nun noch ein einzelner Verantwortlicher einen zentralen Koordinierungsstab bildet,
leuchtet mir - ehrlich gesagt - nicht so richtig ein.
Natürlich kann über das Ausmaß der technischen
Schäden des „millennium bug“ nur spekuliert werden.
Dennoch halte ich es für töricht und verantwortungslos,
Panik zu verbreiten und so zu tun, als wären keine Vorbereitungen getroffen worden.
Eines ist mir allerdings bei beiden Anträgen aufgefallen: Obwohl so wahnsinnig leidenschaftlich mit der
Bundesregierung ins Gericht gegangen wird, findet sich
in Ihren Anträgen - Sie haben zwar darüber gesprochen
- nicht ein Satz zur Haftung im Schadensfall. Dies
scheint mir doch eines der zentralen Themen im Zusammenhang mit dem Jahr-2000-Problem zu sein. Natürlich wird es rund um den Globus zu Ausfällen, zu
Störungen und zu Schäden kommen, die dann aber immerhin berechtigte finanzielle Forderungen zur Folge
haben. Nicht der zeitweise Ausfall von Technologie,
sondern Regreßforderungen und Haftungsansprüche in
Millionen- oder Milliardenhöhe sind die eigentliche Gefahr für die Wirtschaft.
Dieses Problem taucht in Ihren Anträgen leider nicht
auf. Mir ist auch klar warum: Das von Ihnen ausgesparte
Thema spricht auch die Computerbranche nicht so gerne
an. Es ist ein sehr heißes Eisen. Deshalb lenken Sie lieber den Blick auf die Bundesregierung. Aber eines muß
man auch zugeben: Weder Kohl noch Schröder haben
die Computer dieser Welt falsch programmiert.
Nein, meine Damen und Herren, allein die vielen unterschiedlichen Computersysteme machen es nötig, daß
sich Hersteller und Vertreiber von Hard- und Software
dezentral um Schadensbegrenzung bzw. um Schadenersatz kümmern. Normalerweise sind doch gerade sie darauf bedacht, die freie Wirtschaft vor dem Zugriff der
Politik zu schützen. Nun erklären Sie plötzlich hier den
Staat bzw. die Bundesregierung zum Alleinverantwortlichen des Jahr-2000-Problems.
({3})
Diesem billigen Populismus - oder sollte ich lieber von
Lobbyismus sprechen - kann sich die PDS wirklich
nicht anschließen.
Trotzdem müssen auch Sie sich die Frage gefallen
lassen, ob Ihre Vorsorge ausreicht. Der Fortschrittsbericht vom April dieses Jahres genügt nicht. Hier haben
CDU/CSU und F.D.P. natürlich recht. Der im Oktober
erscheinende Bericht muß mehr Einblicke gewähren.
Nötig sind genaue Auskünfte über die Art und Weise der
Unterstützung von Behörden durch Bund und Länder.
Ein detaillierter Überblick über die Notfallplanungen
muß her.
Eines ist auch klar: Für jeden einzelnen Jahr-2000Schaden wird im neuen Jahr nach einem Verantwortlichen gesucht werden. Wo immer der Bund haftbar gemacht werden kann, wird dies sicherlich auch geschehen. Ich glaube, daß wir den größten „millennium bug“
womöglich im nächsten Haushalt erleben werden.
Danke.
({4})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Axel Berg, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein halbes Jahr
vor dem Jahrtausendwechsel haben Sie von der Union
Ihren Antrag mit dem Titel „Jahr-2000-Problem in der
Informationstechnik ernst nehmen“ in den Bundestag
eingebracht. Sie haben sich also entschieden, das Jahr2000-Problem ernst zu nehmen. Es ist schön, daß die
Union aus ihrem Dornröschenschlaf aufgewacht ist.
({0})
Das gilt natürlich auch für Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P.-Fraktion. Sie haben letzten Dienstag
Ihren Antrag „Jahr-2000-Problem - Unterstützung zur
Problemlösung“ eingebracht. Ich bin froh, daß auch Sie
sich entschieden haben, unsere neue Regierung bei der
Bewältigung des Jahr-2000-Problems zu unterstützen.
Immerhin bleiben Ihnen dafür noch gut 100 Tage Zeit.
Ach, hätten Sie doch gemeinsam Ihre eigene alte
Regierung schon vor drei, vor zwei oder wenigstens vor
einem Jahr zum Jagen der Jahr-2000-Probleme getragen.
Wenn Sie das geschafft hätten, dann wären wir mit der
Überprüfung der Systeme in Deutschland wohl inzwischen fertig.
({1})
Sie haben das Problem Y2K, wie man es nennt, über
Jahre hinweg in kaum nachvollziehbarer Weise vernachlässigt. Warnungen von SPD und Grünen - der
Kollege Fell hat dies vorhin schon gesagt; auch die
„Frankfurter Rundschau“ hat in ihrem heutigen Leitartikel darauf hingewiesen - wurden von Ihnen nach dem
Prinzip Hoffnung ignoriert. So weit, so schlecht.
Unser früherer Bundeskanzler dachte noch, die Datenautobahn habe vier Spuren und in der Mitte einen
Grünstreifen. Dementsprechend wurde das Problem auf
Referentenebene abgehandelt. Es sollte wohl wie so
viele andere Probleme auch ausgesessen werden. Hierzu
passen die Recherchen internationaler ConsultingUnternehmen, die Deutschland stets auf einem der hinteren Plätze im Ranking gesehen haben.
Wenn die neue Bundesregierung nicht weit über den
eigenen Bereich hinaus, also die Bundesverwaltung,
gewaltig Gas gegeben hätte, dann müßten wir uns heute
tatsächlich auf die Millenniumskrise einrichten.
Staatssekretär Mosdorf hat sich ruck, zuck eingearbeitet und kann Ihnen nachher sicherlich ein ganzes
Bündel erfolgreich durchgeführter Maßnahmen zur Beseitigung der „millennium bugs“ aufzeigen. Mosdorf ist
übrigens, Herr Uldall, der zentral Verantwortliche, den
Sie sich so sehr gewünscht haben.
Auch international ist seit dem Regierungswechsel
einiges geschehen. Natürlich sind nicht alle Länder gleichermaßen gut auf den Jahrtausendwechsel vorbereitet.
Ich schlage daher zur Notfallversorgung die Bildung
einer internationalen Y2K-Task-Force vor. Wir müssen
einfach alles versuchen, um die Versäumnisse der KohlRegierung aufzuholen.
({2})
Wie sieht es mit der Wirtschaft aus, und wie sieht es
mit den Privatleuten aus? Ich denke, daß es grundsätzlich nicht die Kernaufgabe einer Regierung ist, Versäumnisse von Herstellern eines Produkts auszubügeln.
Wenn ein Bauteil in einem neuen Auto mißlungen ist,
dann macht der Hersteller eine Rückrufaktion, nicht die
Regierung. Wenn Computer- und Chiphersteller ihre
Produkte mangelhaft konstruieren, um Geld und Speicherkapazität zu sparen, sollte das gleiche gelten. Hier
scheint die Pflicht zum Risikomanagement nicht so
großgeschrieben zu sein. Es ist Bundeskanzler Gerhard
Schröder hoch anzurechnen, daß er gerade auf diesem
Gebiet eben nicht wie in den USA ein Gesetz zur Haftungsbegrenzung wegen Y2K initiierte.
Verursacher des Problems ist weder die alte noch die
neue Regierung. Die Ursache liegt bei den Computerund Chipherstellern, die bis vor wenigen Jahren Produkte auf den Markt geworfen haben, die nicht millenniumstauglich waren. Gleichwohl sieht die neue Bundesregierung das Problem als übergreifende Herausforderung an und fungiert als eine Art Beschleuniger, auch
wenn sie mit ihrem Informationsfeldzug nicht alle Arglosen erreichen kann.
Die Bundesregierung hat die Wirtschaft mit Y2K
nicht alleine gelassen. Sie kann aber nicht für die Betriebe, die das Problem - wie die alte Regierung auch verschlafen haben, in Haftung genommen werden. Die
Bundesregierung muß in den verbleibenden Monaten
verstärkt auf die neuralgischen Punkte der Wirtschaft
achten. Leider haben einige mittlere und kleine Betriebe
ebenso wie einige Kommunen in der Bundesrepublik
ihre Programme und ihre betrieblichen Anlagen nicht
ausreichend auf das neue Jahrtausend vorbereitet und
das Thema ebenfalls zu spät angepackt.
Auch die notwendige Information der Bevölkerung
zur Sensibilisierung und zur Eigenvorsorge wurde ernsthaft erst unter der neuen Bundesregierung begonnen.
Wir können davon ausgehen, daß es auf Grund der getroffenen Maßnahmen und der Aufklärungsarbeit zu
keiner Y2K-Hysterie in Deutschland kommen wird. Es
ist nicht notwendig, wie die Amerikaner extra Lagerhäuser mit frisch gedrucktem Geld zu füllen, um die Währung vor einem Zusammenbruch zu schützen, wenn kurz
vor Jahresende alle Sparer ihr Geld vom Sparkonto abheben wollen. Banken sind wie Versicherer und die meisten Großunternehmen bei uns gut vorbereitet, so daß
wir hier keine Ausfälle befürchten müssen.
Die Gefahr von panischem Verhalten oder von
Angstkäufen läßt sich nicht und niemals ausschließen.
Hier tut die Bundesrepublik gut daran, die vertrauensbildenden Maßnahmen fortzusetzen. Gegen Panik in der
Bevölkerung hilft nur eine umfassende, frühzeitige Aufklärung. Das betonen Sie, geschätzte Kollegen von der
CDU/CSU, in Ihrem Antrag. Die frühzeitige Aufklärung, von der Sie sprechen, haben Sie aber selbst versiebt. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Die neue
Bundesregierung ist dabei, die Informationsdefizite, die
Sie zu verantworten haben, zu beseitigen und die Bevölkerung umfassend aufzuklären.
({3})
Der zweite Fortschrittsbericht der Bundesregierung
kommt im Oktober sowieso. Dazu braucht die Bundesregierung Ihren Antrag also nicht. Mit diesem Bericht
werden weitere noch bestehende Unklarheiten beseitigt.
Wie wird es weitergehen? Die Spekulationen zum
Jahr-2000-Problem variieren zwischen „null problemo“
und wild ausgemalten Katastrophen. Ich persönlich neige nicht zur apokalyptischen Weltsicht. Die internationalen Consultings sehen uns inzwischen als recht gut
vorbereitet an.
Vielleicht sind wir schon morgen ein bißchen schlauer; denn der heutige 9. September, der 9.9.1999, könnte
einen kleinen Vorgeschmack auf den Jahrtausendwechsel geben. Liest der Rechner das heutige Datum als
9999, so kann er das als Befehl zur Beendigung des Programms deuten und abschalten.
Ihr Antrag ist nicht schlecht, kommt aber viel zu spät.
Ihr Antrag ist damit obsolet.
Ich danke Ihnen.
({4})
Herr Kollege Berg,
auch für Sie war das die erste Rede im Plenum des
Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen beglückwünsche ich Sie dazu.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst muß
man einmal sagen, daß viele die Sorge hatten, daß schon
am 9. September 1999 Zusammenbrüche stattfinden.
({0})
- Auch ich wollte das gerade sagen. Wir sollten an diesem Abend zunächst einmal allen gratulieren, die an
dem heutigen Tag geheiratet haben.
({1})
Das wird sicher Glück bringen. Ich hoffe, daß Zusammenbrüche vermieden werden. Aber das weiß man heute
ja nie.
Ein Zweites vorweg: 113 Tage sind es noch, lieber
Kollege Uldall - der Countdown läuft -, bis zu diesem
31. Dezember 1999. Ich möchte gleich zu Beginn meiner Ausführungen sagen, daß es in unser aller Interesse
ist, wenn wir noch einmal an alle appellieren, das Problem ernst zu nehmen und sich der Sache anzunehmen.
Das gilt insbesondere für viele kleine mittelständische
Unternehmen, die - das merke ich auch in der Praxis bei
vielen Gesprächen - nicht täglich mit „embedded systems“ zu tun haben und nicht immer wissen, was das
Jahr-2000-Problem ist. Handwerksmeister haben andere
Sorgen und auch die Aufgabe, andere Probleme zu lösen. Das muß man verstehen. Wir schätzen, daß sich
noch 45 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen
damit schwertun. Wir appellieren auch an die Städte und
Gemeinden, dem Problem ernsthaft nachzugehen.
Es ist aber schon richtig - ohne dies hier parteipolitisch zu wenden -, was die Kollegen Brinkmann, Berg
und Fell hier festgestellt haben. Als wir Ende Oktober
1998 vereidigt wurden und die Amtsgeschäfte übernommen haben, haben wir innerhalb von fünf Wochen,
also noch im alten Jahr, eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Vom Wirtschaftsministerium aus haben wir
Anfang Dezember ein Spitzengespräch mit allen Branchen organisiert und dabei festgestellt, daß es noch eine
Reihe von Lücken gibt. Internationale Consultings hatten festgestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland
Mitte und Ende letzten Jahres in bezug auf dieses Problem noch im letzten Drittel der sogenannten OECDVolkswirtschaften lag. Inzwischen liegen wir im vorderen Drittel. Das reicht natürlich noch nicht, wir müssen
trotzdem Tempo machen. Wir haben aber eine ganze
Menge gemacht. Wenn Sie sich in der Wirtschaft umhören, stellen Sie auch fest, daß das so ist.
Es ist aber auch klar, daß nach wie vor der alte Satz
gilt: Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. Die Bundesregierung ist nicht für jeden PC verantwortlich, sondern dafür ist die Wirtschaft verantwortlich. Wir können der Wirtschaft nur raten, die Systeme umzustellen,
und ein systematisches Monitoring organisieren. Das
haben wir getan, indem wir alle Branchen eingeladen
und gefragt haben, wie es in der Energiewirtschaft, in
der Telekommunikation, beim Flugverkehr, bei den
Banken und Versicherungen und in anderen großen
Branchen aussieht. Das haben wir nicht nur einmal im
Dezember letzten Jahres getan, sondern wir haben das
jedes Vierteljahr wiederholt. So konnten wir feststellen,
daß bis jetzt erhebliche Fortschritte erzielt wurden.
Die Energiewirtschaft hat übrigens - ich weiß nicht,
wer es vorhin angesprochen hat - schon Simulationen
durchgeführt und uns zugesagt, daß die Sicherheit der
Kernkraftwerke jetzt schon gewährleistet ist, die anderen
Kraftwerke untersucht werden und uns bis zum 1. Oktober ein Schlußbericht vorgelegt wird. Auch die Banken
und Versicherungen sind bei der Umstellung schon sehr
weit vorangekommen. Das hat zum einen mit der Haftungsproblematik zu tun, aber auch damit, daß sie dieses
Problem bei der Umstellung auf den Euro gleich mit erledigt haben. Deshalb ist diese Branche besonders weit.
Man kann davon ausgehen, daß in der Telekommunikationsbranche viele mit neuen Systemen arbeiten; es ist
heute gang und gäbe, daß man dies zum Anlaß nimmt,
neue Systeme anzuschaffen, damit man sich nicht mit
alten Systemen das Millennium-Problem einfängt. All
das ist festzuhalten; klar ist aber auch, daß es insbesondere bei kleineren und mittleren Unternehmen noch Defizite gibt.
Das ist übrigens der Grund für eine andere Initiative,
die die Bundesregierung gestartet hat und bundesweit
mit sogenannten 24 Kompetenzcentern intensiv fortsetzen wird, nämlich die Vorbereitung des Mittelstandes auf „electronic commerce“. Um den Mittelstand
und das Handwerk auf das Millenniumproblem vorzubereiten, führen wir spezielle Trainingsprogramme
durch. Bei diesen Veranstaltungen zeigt sich, daß eine
ganze Menge an Informationen vermittelt werden und
auch Aufmerksamkeit erzielt werden kann, so daß sich
auch der Mittelstand jetzt auf diese Fragen vorbereiten
kann.
In der Bundesregierung gibt es eine klare Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium. Herr Tauss hat
vorher schon auf das BSI und auf viele andere Institutionen hingewiesen, die hilfreich sind und das Projekt
insgesamt unterstützen. Das Bundesinnenministerium
kümmert sich intensiv darum. Wir machen das auch zusammen mit den anderen Bundesressorts und den nachgeordneten Behörden. Wir haben vor wenigen Tagen ein
Spitzengespräch mit dem Landkreistag, dem Städtetag
und dem Gemeindetag geführt und haben auch noch
einmal darauf hingewiesen, welche Probleme es bei
kleineren Gemeinden gibt.
Aber eines ist völlig klar: Die Bundesregierung kann
in dem Bereich, in dem sie nicht unmittelbare Verantwortung trägt, nur Tempo machen und versuchen, ein
Monitoring-Verfahren so einzuleiten, daß wir genau
wissen, wie der Stand in der jeweiligen Branche ist. Dieses Monitoring werden wir fortsetzen. Wir werden bereits Anfang Oktober wieder mit den Branchen zusammensitzen und entsprechend nachfragen, wie der Stand
der Dinge ist, so daß ich davon ausgehe, daß das Tempo
deutlich erhöht werden kann und wir mit dem Problem
einigermaßen fertig werden.
Es ist schon so - wie es auch angeklungen ist -, daß
die alte Bundesregierung mit dem Problem etwas locker
umgegangen ist. Das wissen auch Sie, Herr Uldall. Das,
was Sie heute kritisch angemerkt haben, nehme ich gerne auf. Aber Sie hätten natürlich ein bißchen früher an
diesen Themen arbeiten können. Denn es ist sehr wohl
wahr, was eben auch Herr Berg gesagt hat: Das Problem, daß das Jahr 2000 kommt, war für jeden absehbar.
Dafür muß er nicht besonders fortschrittlich sein. Der
31. Dezember 1999 war für jeden sichtbar. Andere Regierungen haben da sehr viel Tempo gemacht.
Nun muß ich allerdings auch sagen - irgendeiner hat
gesagt, wir sollten die USA als Vorbild nehmen -: Man
sollte es auch nicht übertreiben. Vor wenigen Tagen haben wir gehört, daß auch das Weiße Haus noch nicht
Jahr-2000-fähig ist, obwohl Bill Clinton der Beauftragte
ist. Man muß also genau hinschauen. Es gibt sehr viele
Dinge, die man sich genau ansehen muß. Da gibt es
schon noch Probleme, die man bewältigen muß. Man
kann nicht nur Beauftragte benennen, sondern muß sich
auch intensiv mit der Sache beschäftigen.
Aber eines ist mir aufgefallen, als ich neulich wieder
einmal in der Downing Street war: Da, wo Tony Blair auf
dem Schreibtisch seinen PC stehen hat, hatte Helmut Kohl
früher das Aquarium stehen. Es ist schon so: Das Bewußtsein, daß es bei der Umstellung der Computer Probleme
gibt, war nicht so ausgeprägt. Das wissen auch Sie.
Wir kümmern uns jetzt sehr intensiv um die Lösung
der Probleme. Wir kümmern uns sehr intensiv darum,
daß das Land auf das Jahr 2000 vorbereitet ist. Im übrigen möchte ich alle Kolleginnen und Kollegen herzlich
einladen, den 31. Dezember mit mir zusammen im Krisenstab zu verbringen, ganz nach der Devise: In Tokio
beginnt das neue Jahr schon neun Stunden früher; wir
wollen einmal sehen, was da los ist.
({2})
Entsprechend werden wir dann auch die Lösung der
Probleme angehen.
Spaß beiseite: Wir machen Tempo. Wir müssen noch
viel Aufklärungsarbeit leisten. Wir bitten Sie, daran mitzuwirken. In diesem Sinne verstehe ich auch die Anträge
der Fraktionen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Die Vorlagen auf den Drucksachen 14/1334 und
14/1544 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung
- Drucksache 14/980 ({0})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 14/1306 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Dr. Wolfgang Frhr. von Stetten
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol-
leginnen und Kollegen Alfred Hartenbach, Dr. Wolf-
gang Freiherr von Stetten, Volker Beck, Rainer Funke,
Dr. Evelyn Kenzler sowie die Bundesministerin Däub-
ler-Gmelin geben ihre Reden zu Protokoll.*)
({2})
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall, mit einem geringen Bedauern aus den Reihen
der SPD-Fraktion.
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung, Drucksachen 14/980 und
14/1306. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des Betäubungsmittelgesetzes ({3})
- Drucksache 14/1515 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
SPD-Fraktion der Kollege Hubertus Heil.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Jahre und Jahrzehnte dominierte ein
Prinzip den gesellschaftlichen Umgang mit Drogen: „Es
kann nicht sein, was nicht sein darf“, so hieß es immer
wieder. Jahre und Jahrzehnte vergingen damit, daß -
ohne daß das Problem kleiner wurde - weiter nach die-
sem Prinzip verfahren wurde.
Die Probleme sind nicht nur nicht kleiner, sie sind
schwieriger geworden. Ich behaupte: Die ideologische
Fixierung auf Strafverfolgung nicht nur von Drogen-
händlern - diese finden wir richtig -, sondern auch von
abhängigen Konsumenten hatte fatale Folgen. Ich will
sogar sagen: Dieses Prinzip ist mitverantwortlich für den
Tod vieler Menschen, weil es in ignoranter Verblendung
mißachtete, daß Abhängigkeit eine Krankheit ist und
------
*) Anlage 2
somit in erster Linie in den Bereich der Gesundheitspolitik und erst in zweiter Linie in den Bereich der Innen- und Rechtspolitik gehört. Die einseitige Fixierung
auf Repression hat abhängige Menschen kriminalisiert
und so noch mehr an den Rand der Gesellschaft getrieben, mit, wie gesagt, zum Teil tödlichen Folgen.
Der von uns heute vorgelegte Gesetzentwurf ist Teil
einer neuen Drogenpolitik und trägt einem schon vor
vielen Jahren begonnenen Prozeß des Umlernens Rechnung. Dieses Gesetz schafft vor allen Dingen eines:
Rechtssicherheit für den Betrieb von Drogenkonsumräumen, die im allgemeinen Sprachgebrauch als sogenannte Fixerstuben bekannt sind. Diese Einrichtungen,
die von mutigen Kommunen wie Frankfurt am Main und
der Freien und Hansestadt Hamburg in der ersten Hälfte
der 90er Jahre eingerichtet wurden, haben zunächst ein
Ziel: Sie leisten Überlebenshilfe für Abhängige. Sie ermöglichen durch ein niedrigschwelliges Angebot den
Zugang von Drogenabhängigen zu medizinischer Versorgung und eröffnen hygienisch einwandfreie Bedingungen. Die Alternativen zu solchen Einrichtungen sind
durch die schockierenden Folgen auch einer breiteren
Öffentlichkeit bekannt. Bilder von toten Junkies auf
Bahnhofstoiletten, Infektionen mit Hepatitis B oder HIV
und vieles andere mehr sind uns allen vor Augen.
Daß Drogenkonsumräume hier ein wirksames Mittel
der Überlebenshilfe sind, beweisen ganz einfach auch
die Zahlen: 1991 starben in Frankfurt am Main 183
Menschen im Zusammenhang mit dem Konsum illegaler
Substanzen. Nach der Einrichtung von Drogenkonsumräumen und dem verstärkten Einsatz von Substitutionsmöglichkeiten sank diese Zahl auf 44 Fälle im Jahr
1995.
Wir schaffen mit unserem Gesetz vor allen Dingen
Rechtssicherheit für die bestehenden Einrichtungen und
die dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bisher
oftmals zumindest in einer rechtlichen Grauzone gearbeitet haben. Wir eröffnen zudem durch eine bundeseinheitliche Rahmenvorschrift den Landesregierungen die
Möglichkeit, über nähere Regelungen im Rahmen ihrer
Kompetenz zusätzliche solcher Einrichtungen zu genehmigen.
({0})
- Das ist einfach eine Tatsache. So mitreißend war das
noch nicht. Aber das kommt noch.
Ich persönlich hätte mir - das sage ich sehr deutlich durchaus eine einfachere Regelung vorstellen können,
nach der für Mitarbeiter der Drogenhilfe über eine
rechtliche Klarstellung eine Entkriminalisierung ihrer
praktischen Überlebenshilfe abgesichert worden wäre.
Wenn wir allerdings einen anderen Weg wählen, der
auch eine Reihe von Standards für den Betrieb von Drogenkonsumräumen regelt, dann auch deshalb, weil wir
jenseits von Parteigrenzen - möglichst zusammen mit
vielen Bundesländern - einen Konsens zum Betrieb von
diesen Einrichtungen schaffen wollen.
Weitere Regelungen des Gesetzes betreffen vor allem
die Einrichtung eines Substitutionsregisters - eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Mit Beschluß vom 19.
Dezember 1997 hat das der Bundesrat in einer Entschließung schon einstimmig gefordert.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich habe
eingangs ausgeführt, daß wir mit diesem Gesetz eine
grundsätzliche Wende in der Drogenpolitik einleiten
werden. Das heißt nicht, daß wir von den schon bisher
erfolgreich praktizierten Therapiemöglichkeiten Abstand
nehmen werden. Es gibt unzählige Wege in die Drogenabhängigkeit, es muß daher auch möglichst viele Wege
aus der Abhängigkeit geben.
Dazu zählen wir nicht nur die Substitution und die
neuen Wege wie den von uns initiierten Modellversuch
zur Originalstoffabgabe an Schwerstabhängige, sondern
selbstverständlich die gesamte Palette von niedrigschwelligen Hilfen bis hin zur abstinenzorientierten
Langzeittherapie. Wir werden auch im Bereich der Polizei und Justiz weiterhin dafür kämpfen, daß diejenigen,
die sich auf Kosten von Drogenabhängigen durch ein
dreckiges Geschäft bereichern, mit aller Härte des Gesetzes verfolgt werden.
Aber, meine Damen und Herren, das ist der Unterschied: Wir wollen nicht die Menschen, die krank sind,
kriminalisieren, sondern diejenigen, die sich auf Kosten
dieser Menschen bereichern.
({1})
Dabei wollen wir auch auf historische Erfahrungen
bauen. Es wird immer wieder - ich finde, zu Recht - auf
die Erfahrungen mit der Alkoholprohibition in den 20er
Jahre in den USA verwiesen. Ich finde, das ist ein gutes
Beispiel, wenn man sich vor Augen hält, daß 1932 der
damalige US-
Der Kampf gegen den Alkohol ist mit der Prohibition zu gewinnen. Wir brauchen nur härtere Gesetze, mehr Polizei und mehr Gefängnisse.
Ein Jahr später wurde das Alkoholverbot vom Nachfolgepräsidenten Franklin D. Roosevelt aufgehoben.
Diese Entscheidung war mithin ein wichtiger Schlag gegen das organisierte Verbrechen und hat die fatalen Folgen des unkontrollierbaren, von den Bedingungen des
Schwarzmarkts bestimmten Konsums von Alkohol stark
reduziert.
Jeder weiß, was damals passiert ist: Trotz des Verbotes, vielleicht sogar wegen des Verbots wurde gesoffen wie noch nie. Es gab Alkoholschmuggel und vor allen Dingen Schwarzbrennereien, was dazu geführt hat,
daß Menschen erblindeten, weil sie Methylalkohol getrunken hatten, und vieles andere mehr. Das alles waren
Folgen eines Schwarzmarktes, der bewußt geschaffen
wurde.
Ich will Alkohol nicht mit Opiaten gleichsetzen. Wir
wissen, daß beides psychoaktive Substanzen sind. Wir
wissen aber auch, daß es in der Wirkung Unterschiede
gibt. Das Prinzip, meine Damen und Herren, ist aber
dasselbe.
({0})
- Der Schwarzmarkt bleibt bestehen. Vielleicht helfen
Sie uns, ihn zu reduzieren. Ich sage ja, wir unternehmen
einen ersten Schritt.
Die Erfahrungen sollten uns jedenfalls nachdenklich
machen. Ich muß ganz deutlich sagen: Vor allen Dingen
Äußerungen bayerischer CSU-Kollegen bringen mich zu
der Überzeugung, daß sie bisher aus diesen Erfahrungen
nichts gelernt haben.
({1})
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren von der CSU ich weiß nicht, ob noch jemand von der CSU da ist -,
nicht unterstellen, daß Sie ein Alkoholverbot durchsetzen wollen, das kann man Ihnen wirklich nicht nachsagen. Sie glauben aber offensichtlich immer noch, daß
man mit repressiven Mitteln und bunten Werbekampagnen allein das Problem des illegalen Drogenkonsums in
den Griff bekommen kann.
Ich setze darauf, daß in allen Parteien die Vernunft in
der Drogenpolitik die Oberhand gewinnt. Die Politik
der Frankfurter CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth,
Äußerungen des zukünftigen saarländischen CDUMinisterpräsidenten Müller und Forderungen unseres
Abgeordnetenkollegen Hermann Kues deuten in diese
Richtung. Wie gesagt: Die Hoffnung ist da, allein der
Glaube fehlt mir im Moment noch.
Mir ist egal, aus welcher Motivation heraus sich Vernunft in der Drogenpolitik durchsetzt: ob aus christlicher
Nächstenliebe, humanitärer Gesinnung oder aus
schlichter pragmatischer Einsicht in das Notwendige.
Ich versuche, es einmal mit dem Altbundeskanzler Helmut Kohl zu beschreiben, der so treffend formulierte:
„Wichtig ist, was hinten rauskommt.“ Ich sage, es ist
nicht immer alles richtig, was hinten rauskommt. Aber
im Ernst, meine Damen und Herren: Ich bin mir sicher,
daß neue Wege in der Drogenpolitik konkrete Hilfe für
die Betroffenen bieten werden.
Ich appelliere deshalb an die Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen: Lassen Sie uns das Thema in Ruhe
miteinander besprechen! Widerstehen Sie der Versuchung, mit der Drogenpolitik auf dem Rücken der Betroffenen einen billigen Wahlkampf zu führen, wie Sie
das beispielsweise mit dem Staatsangehörigkeitsrecht
vollbracht haben! Ich lade alle Vernunftbegabten in Sachen Drogenpolitik ganz herzlich zu Gesprächen über
einen drogenpolitischen Grundkonsens ein. Ich halte
diesen für wichtig, weil wir nur gemeinsam im Interesse
der Abhängigen und Konsumenten vorankommen können. Ich denke schon, daß das Thema Drogenpolitik von
der tagespolitischen Konjunktur getrennt werden muß.
Ich bitte Sie deshalb, dem vorliegenden Gesetzentwurf zunächst die Möglichkeit der parlamentarischen
Beratung zu eröffnen, ihn dann weiterhin mit uns in den
parlamentarischen Beratungen zu qualifizieren und ihm
anschließend zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Wir haben heute den
Tag der Premieren. Herr Kollege Heil, auch für Sie war
das die erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
spreche ich Ihnen den herzlichsten Glückwunsch aus!
({0})
Beinahe sprachlos hat mich gemacht, daß Sie sage und
schreibe vier Minuten Redezeit nicht gebraucht haben.
Leider kann ich sie Ihnen nicht für die kommenden Debatten gutschreiben. Aber ein Extrakompliment an Sie,
daß Sie uns den Feierabend ein Stückchen nähergerückt
haben!
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
der Kollege Hubert Hüppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bald ein Jahr ist nun die rotgrüne
Bundesregierung im Amt. Seitdem werden uns in der
Drogenpolitik immer wieder neue Wege versprochen;
auch der Kollege Heil hat eben solche Versprechen gemacht. Dabei wurde und wird stets argumentiert, daß die
unionsgeführte Regierung mit ihrer Drogenpolitik gescheitert sei. Das ist eine Behauptung, die ich nicht teilen kann und die eigentlich auch Frau Nickels nicht teilen kann; denn sie schrieb im März dieses Jahres in ihrem Drogenbericht, daß Deutschland nach Finnland die
günstigsten Zahlen aufweist, was Heroinkonsum angeht.
Wir sind also in Europa die zweitbesten derer, bei denen
man die Zahlen vergleichen kann. Dann kann die Drogenpolitik der Vorgängerregierung nicht so schlecht gewesen sein. Wenn man sich angesichts dessen aber Länder, die wesentlich schlechtere Zahlen aufweisen, zum
Vorbild für neue Projekte nimmt, verwundert mich dies.
({0})
- Nein, diese Zahlen stammen ja aus Ihrem Ministerium,
und ich glaube nicht, Herr Kollege Heil, daß Sie Ihrer
Staatssekretärin in dieser Frage nicht trauen.
Zieht man heute nach fast einem Jahr eine drogenpolitische Bilanz, muß sie leider sehr mager ausfallen. Bisher rühmt sich die Regierung damit, daß die Position der
Drogenbeauftragten nun zum Gesundheitsministerium
und nicht mehr wie bisher zum Innenministerium gehört. Das ist übrigens eine Maßnahme, die ich immer befürwortet habe.
({1})
Aber ich muß auf der anderen Seite sagen, daß dies eher
ein symbolischer Akt ist, der weder der Prävention noch
dem Junkie auf der Straße hilft.
Die erste konkrete Maßnahme, die wir erleben durften, war, daß man sich aus der Aktion „Keine Macht den
Drogen“ zurückgezogen hat, um Geld zu sparen.
({2})
Darüber hinaus ist Ende Juli eine neue Broschüre mit
über 70 Seiten erschienen, die neben einem Interview
mit Frau Nickels, dem bereits vorher bekannten Drogenund Suchtbericht 1998, einigen leeren Seiten für Notizen
und einigen Allgemeinplätzen nichts Neues enthält.
Heute liegt uns nun der erste Gesetzentwurf der rotgrünen Bundesregierung zur Drogenpolitik vor, mit dem
das Betäubungsmittelgesetz geändert werden soll. Dieses Änderungsgesetz soll einerseits die rechtliche Absicherung von sogenannten Drogenkonsumräumen und
andererseits die Verbesserung der Substitutionspraxis
bewirken.
Meine Damen und Herren, ich begrüße an dieser
Stelle ausdrücklich, daß die Bundesregierung offensichtlich den Willen hat, die Substitutionspraxis mehr
in den Griff zu bekommen. Die dramatische Zunahme
der Todesfälle im Zusammenhang mit Methadon - man
muß sagen, daß die Zunahme der Gesamtzahl der Drogentoten im letzten Jahr fast ausschließlich auf diese
Todesfälle zurückzuführen ist -,
({3})
der offensichtlich immer größer werdende Schwarzmarkt in diesem Bereich und vor allem die fehlende
psychosoziale Begleitung der Patienten machen die
Notwendigkeit neuer Regelungen deutlich.
Daher sind wir bereit, die Einführung der Pflicht zur
Meldung von Methadonpatienten zu unterstützen und
somit Mehrfachverschreibungen zu verhindern. Dies gilt
natürlich auch für Maßnahmen, die dazu führen, daß
Substitutionsmittel nur noch von dafür besonders qualifizierten Ärzten verschrieben werden.
Ich gebe zu, daß die Vorgängerregierung in diesem
Bereich Fehler gemacht hat; auch das gehört zur Ehrlichkeit. Wenn man wirklich die Menschen im Blick hat,
muß man solche Fehlentwicklungen analysieren und
Änderungen auch dann zustimmen, wenn sie von einer
anderen Regierung vorgenommen werden.
({4})
Schwieriger wird es beim Thema Legalisierung von
sogenannten Drogenkonsumräumen. Ziel dieser Räume soll laut der oben erwähnten Drogenbroschüre sein,
Kontakte zu Abhängigen zu bekommen, um damit Wege
zu einer Therapie und einem drogenfreien Leben zu eröffnen. Ich bezweifle überhaupt nicht, daß die Antragsteller dieses Ziel haben, nur hat es mit der Realität
wenig zu tun. Wer sich die bereits existierenden Räume
- ich habe dies getan - zum Beispiel in Frankfurt und
anderswo anschaut, der weiß, wie hektisch es dort zugeht. Diese Hektik wird noch dadurch erhöht, daß der
Aufenthalt in Fixerstuben häufig zeitlich begrenzt ist.
Eine Beratung der Abhängigen ist schon deswegen
fast unmöglich, weil vor dem Druck - das ist ganz natürlich - die Gier nach der Droge im Vordergrund steht
und weil nach dem Druck unter dem Einfluß der Droge
kaum mehr Ansprechbarkeit besteht. Nicht zuletzt deswegen wird in Frankfurt ja auch kaum mehr der Ausstieg aus der Sucht als Ziel der Fixerstuben genannt.
Vielmehr wird das ordnungspolitische Interesse, nämlich die Junkies von den Geschäften wegzuhalten, in den
Vordergrund gestellt. Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Aber zur Ehrlichkeit gehört, daß man damit
auch zugibt, daß dies wenig mit Gesundheitspolitik zu
tun hat.
Da ich gerade bei dem Punkt Ehrlichkeit bin, kann
ich Frau Nickels nicht die Kritik ersparen, daß sie Drogentotenzahlen willkürlich für ihre Argumentation benutzt. Diese Zahlen sind gerade auch vom Kollegen Heil
erwähnt worden. Sie sagt in einer Pressemitteilung vom
28. Juli 1999, daß aus der Erfahrung etwa der Stadt
Frankfurt bekannt ist, daß erst die Substitution und die
Einrichtung der Drogenkonsumräume die hohe Zahl der
Drogentoten zu Beginn der 90er Jahre drastisch gesenkt
hätten.
Für Frankfurt wird die Zahl der Drogentoten für 1991
mit 183 - diese Zahl wurde ja schon genannt - und für
1995 mit 44 angegeben. Tatsache ist aber, daß bereits
bis 1994 die Zahl auf 43 Todesfälle gesunken ist. Die erste Fixerstube ist aber erst im November 1994 eingerichtet worden. Wahr ist auch, daß der drastische Rückgang der Zahl der Todesfälle vom Jahr 1992 auf das Jahr
1993 zu verzeichnen war. Dieser Rückgang von 124 auf
63 Fälle kam zeitgleich mit den sogenannten Rückbildungsmaßnahmen der offenen Drogenszene im November 1992. Das heißt: Nicht die Fixerräume haben den
Rückgang der Todeszahlen verursacht, sondern vor allem die repressive Vertreibungspolitik in Frankfurt.
Wahr ist darüber hinaus auch, daß die Zahlen in
Frankfurt im letzten Jahr wieder gestiegen sind. Auch in
Hannover hat sich die Zahl der Todesfälle nach Einrichtung der Fixerstuben um ein Drittel erhöht. Ich behaupte nicht, daß diese Entwicklung etwas mit diesen
Einrichtungen zu tun hat. Aber das Gegenteil zu behaupten, wie es in dieser Broschüre und gerade auch von
Ihnen, Herr Heil, getan worden ist, halte ich für unseriös.
Sieht man sich nun konkret den Gesetzentwurf an,
der angeblich Rechtsklarheit schaffen soll, so stellt man
sehr schnell fest, daß eher das Gegenteil erreicht wird.
Die Bundesregierung will sich nicht nur aus der Finanzierung der Fixerstuben heraushalten - es sollen alleine
die Länder und Kommunen zahlen -, sondern sie schafft
mit ihren vagen Formulierungen eher Rechtschaos. Es
wird noch nicht einmal definiert, welche Drogen zukünftig in diesen Räumen genommen werden dürfen.
Alles ist möglich: von Cannabis bis Crack.
Die Landesregierungen sollen zukünftig entscheiden,
wer was und unter welchen Umständen konsumieren
darf. Zwar werden sogenannte Mindeststandards aufgelistet, diese sind aber so dehnbar, daß selbst studentische Hilfskräfte nach einer Einweisung und zweiwöchiger Grundausbildung mit einem Telefonanschluß die
Voraussetzungen erfüllen könnten, wenn die Länder
keine höheren Anforderungen stellen.
Nach diesen Standards bleibt es jedem Land von
Hamburg bis Nordrhein-Westfalen selbst überlassen, ob
zum Beispiel ein Methadonpatient oder ein Minderjähriger Zutritt hat. Es kann also sein, daß ein 17jähriger in
Hamburg Zugang hat, in Niedersachsen jedoch nicht,
oder daß ein 20jähriger in Niedersachsen Heroin und
Kokain als Cocktail spritzen kann, in Hamburg aber leHubert Hüppe
diglich Heroin. Das würde einen drogenpolitischen Flikkenteppich schaffen. Dies verwundert um so mehr, weil
die Bundesregierung ja bundeseinheitliche Regelungen
zum Beispiel bezüglich des Besitzes einer geringen
Menge Cannabis schaffen möchte. Aber hier schafft
man genau das Gegenteil. Bei der allgemeinen Kassenlage läßt sich leicht voraussagen, daß die Gemeinsamkeit der bundesdeutschen Fixerstuben das minimale Begleit- und Beratungsprogramm sein wird.
Auch die Forderung des Gesetzentwurfes nach Dokumentation und Evaluation ist in keiner Weise ausgeführt. Eine reine Besucherstatistik würde diesem Kriterium bereits genügen.
Alles in allem entsteht bei mir der Eindruck, daß es
nur darum geht, die Szene zu überdachen, ganz nach
dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Das ist
meiner Meinung nach eher die Verabschiedung von
einem drogenpolitischen Gesamtkonsens, den Sie ja gerade noch eingefordert haben.
Es bleibt die Frage, wie und zu welchen Lasten demnächst diese Räume finanziert werden. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang an das spektakuläre Urteil von
Halle, durch das im Juli eine drogensüchtige Frau von
einer Haftstrafe verschont blieb mit der Begründung der
Richterin, daß im Süden Sachsen-Anhalts in Gefängnissen wegen Geldmangels keine Betreuung von Drogenkranken mehr erfolgen kann.
Wieso sollen unter hohem finanziellem Aufwand Fixerstuben eingerichtet werden, um angeblich anders nicht
erreichbare Süchtige zu erreichen, wenn gleichzeitig
rund um die Uhr erreichbaren Häftlingen die Betreuung
gestrichen wird?
({5})
- Nein, nein, es gibt Hunderte und Aberhunderte Menschen, die in Gefängnissen sind, nicht weil sie wegen
Drogenbesitzes dort hineingekommen sind, sondern weil
sie Beschaffungskriminalität verübt haben. Ich denke, es
wäre sehr gut, sie dann, wenn sie erreichbar sind, zumindest zu beraten, wenn man auf der anderen Seite
Hunderttausende von Mark für solche Räume ausgeben
will.
Meine Damen und Herren, statt auf Drogenakzeptanz
setzen wir weiter auf differenzierte Hilfe. Wir wollen
Wege aus der Sucht ausbauen, die vom niedrigschwelligen Bereich bis zur qualifizierten Therapie und Anschlußrehabilitation reichen. Statt suchterhaltender
Maßnahmen setzen wir auf Heilung, auch wenn dies
schwieriger, teurer und nicht so medienwirksam ist. Wir
streben ein klares Ziel an. Wir wollen niemanden aufgeben. Das ist wirklich humane Drogenpolitik.
({6})
Frau Kollegin Christa Nickels, Sie haben das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Herr Hüppe, ich traue meinen Ohren nicht. Ich bin
schon in der vierten Legislaturperiode hier in diesem
Parlament, und ich habe noch nie eine Rede von Ihnen
zum Bereich Drogen- und Suchtpolitik gehört, die dermaßen moderat war.
({0})
Ich finde, das ist ein großer Erfolg, ich glaube auch von
zehn, elf Monaten neuer Bundesregierung. Das freut
mich sehr, und ich denke, daran kann man bei allem,
was Sie einem da sonst noch unterjubeln wollen, anknüpfen. Wir haben an anderer Stelle, zum Beispiel im
Ausschuß, Gelegenheit, das einmal geradezurücken. Ich
habe jetzt nur sechs Minuten Redezeit.
Hier geht es nicht darum, die gesamte Palette der
Drogen- und Suchtpolitik zu betrachten, und es geht
auch nicht um einen Rechenschaftsbericht über zehn
Monate Drogen- und Suchtpolitik der Bundesregierung,
den ich gern hier im Parlament an dieser Stelle geben
würde, sondern es geht um einen einzigen Bereich.
Seit Jahren besteht ein dringender Handlungsbedarf
für die Gruppe von schwer beeinträchtigten Opiatabhängigen, die von den verschiedenen Therapie- und Hilfeangeboten und von niedrigschwelligen Hilfeangeboten
nicht erreicht werden. Diese Menschen leben in einem
Teufelskreis von Abhängigkeit, Beschaffungskriminalität und sozialer und gesundheitlicher Verelendung. So
ist gerade diese Gruppe von den Begleiterkrankungen,
wie zum Beispiel Hepatitis und HIV, schwer betroffen.
Das Anliegen der Schadensminimierung wird dadurch noch dringlicher, daß die offizielle Zahl der Drogentoten in diesem Jahr vom 1. Januar 1999 bis zum 31.
Juli 1999 auf 963 Fälle angestiegen ist. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 879 Fälle bekannt, und
das war auch schon ein Anstieg. Die Zahl steht für unsägliches Leid und fordert uns auf, für diesen betroffenen Kreis die Prävention, die Hilfe, aber auch die Schadensminimierung stärker als bisher in den Vordergrund
zu rücken.
Herr Hüppe, hier redet keiner davon, daß dieser Gesetzentwurf und diese Maßnahme der Überlebenshilfe
der Königsweg seien, sondern es handelt sich hier ganz
einfach um einen bisher in der Drogenhilfe fehlenden,
aber wichtigen Baustein, für den wir mit dem nunmehr
vorliegenden Dritten Gesetz zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes die rechtlichen Voraussetzungen
schaffen.
Aus Erfahrungen etwa der Stadt Frankfurt - das wurde hier auch schon gesagt - ist bekannt, daß erst mit Hilfe der Stubstitution und der Einrichtung von Drogenkonsumräumen - hier ist der Gesamtkontext zu sehen,
Herr Hüppe - in den 90er Jahren eine deutliche Reduzierung der Zahl der Drogentoten zu erreichen ist.
({1})
Die Auswirkungen sind so überzeugend, daß die bislang
vertretene These, die auch Sie bis Anfang dieses Jahres
immer noch öffentlich verkündet haben, dieser schwer
betroffenen Gruppe könne erst dann geholfen werden,
wenn sie ganz am Boden liege, unterlassener Hilfeleistung gleichkommt. Diesen Menschen müssen wir
helfen, auch mit diesem noch fehlenden Baustein, und
dürfen ihr Schicksal nicht erst dann beklagen, wenn sie
in der Drogentotenstatistik auftauchen.
({2})
Ich halte deshalb die rechtliche Absicherung der Drogenkonsumräume für eine unerläßliche Aufgabe, um die
Gesundheitsgefahren bis hin zu Todesrisiken für diese
Gruppe intravenös Drogenabhängiger zu verringern. Diese Gefahr erhöht sich aktuell durch den gestiegenen
Mischkonsum. Das ist eine neu auftretende Problematik,
die uns vor neue und sehr große Herausforderungen stellt.
Außerdem muß endlich Schluß damit sein, Herr Hüppe, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Drogenhilfeeinrichtungen mit einem Bein im Gefängnis stehen, wenn sie Überlebenshilfe leisten.
({3})
In diesem hochsensiblen Bereich wurde bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfes ein intensiver Dialog mit
den Fachverbänden, allen Bundesländern und Städten
geführt. Deren Bedenken und Vorschläge wurden aufgenommen. Darum enthält der Gesetzentwurf zehn
Mindestvoraussetzungen. Darum sind die notwendigen
gesundheitlichen Voraussetzungen in den Gesetzentwurf
geschrieben worden. Er ist aber etwas unkonkreter geworden, weil die Bundesländer, teilweise auch CDUgeführte Bundesländer, einen ausreichenden Spielraum
haben wollten. Wir haben die Bedenken und Vorschläge
aufgegriffen, weil uns daran gelegen ist, diesen Gesetzentwurf in einem möglichst breiten Konsens durchzubringen. Wir haben diesen grundsoliden Gesetzentwurf
also gründlich vorbereitet.
Zu den zehn Mindestanforderungen gehören unter
anderem die zweckdienliche sachliche Ausstattung, die
Gewährleistung medizinischer Notfallversorgung, Beratung zur Risikominderung, Vermittlung von weiterführenden Beratungs- und Therapieangeboten - alle Experten in Konsumräumen sagen, daß die Gelegenheit
von Betroffenen genutzt wird und Weitervermittlung
immer schon möglich war -, die Vorhaltung qualifizierten Personals
({4})
und verbindliche Formen der Zusammenarbeit mit der
Polizei und den Behörden.
Die Befürchtung, daß Einsteiger durch Drogenkonsumräume zu regelmäßigem Konsum verführt werden
könnten, ist durch die Erfahrung klar widerlegt. Einsteiger oder Nichtkonsumenten lassen sich in Drogenkonsumräumen schon heute nicht blicken. Denn dort zeigt
sich in aller Deutlichkeit das Elend der zur offenen Szene gehörenden opiatabhängigen Menschen. Das geht
einem an die Nieren; das hält ein gesunder Mensch sehr
schwer aus. Der Gesetzentwurf legt darüber hinaus fest,
daß Erst- und Gelegenheitskonsumenten nachprüfbar
keinen Zugang zu Drogenkonsumräumen haben dürfen.
Die Zusammenarbeit von Polizei, kommunalen Behörden und den Vereinen der Drogen- und Aidshilfe hat
bereits bei den bestehenden Drogenkonsumräumen zu
mehr öffentlicher Sicherheit in den betroffenen Städten
für Anwohner und Betroffene geführt. Der vorliegende
Gesetzentwurf fördert diese Partnerschaft, weil verbindliche Mindestvoraussetzungen festgeschrieben werden.
In den Regelungen der Landesregierungen kann dies
konkretisiert werden.
Der Gesetzentwurf stellt klar, daß der von einer Landesregierung genehmigte Betrieb eines Drogenkonsumraums und die damit zusammenhängenden Tätigkeiten
des Personals keine Straftaten sind. Das steht voll im
Einklang mit dem internationalen Suchtstoffrecht, was
hier unter anderem von Frau Ministerin Stamm in Frage
gestellt wurde. Dieses Suchtstoffrecht räumt den Staaten
ausdrücklich ein, daß ihre nationalen Drogengesetze
beim unbefugten Besitz für den persönlichen Verbrauch
an Stelle der Bestrafung unter anderem Maßnahmen zur
Behandlung, Aufklärung und Erziehung vorsehen können.
Besonders möchte ich noch darauf hinweisen, daß der
Gesetzentwurf keine Grundlage für einen Anspruch auf
Eröffnung eines Drogenkonsumraums darstellt. Über die
örtlich sinnvolle Eröffnung müssen vielmehr die Landesregierungen entscheiden. Der Gesetzentwurf enthält
die hierfür notwendigen Rahmenvorschriften, die eine
einheitliche und mit dem internationalen Suchtstoffrecht
kompatible Gestaltung von Drogenkonsumräumen in
Deutschland gewährleisten sollen.
Die Befürchtung der Stadt München, daß die dort im
Aufbau befindlichen Drogenkonsumräume nicht zustande kommen könnten, werden von mir geteilt. Es ist aber
Sache der bayerischen Staatsregierung, entsprechende
Schritte einzuleiten. Der Bund kann und will hier nicht
in die Länderkompetenzen eingreifen. Es ist jedoch zu
hoffen, daß sich auch dort die ausgewogenen gesundheitspolitischen und humanitären Gründe für eine solche
Hilfeeinrichtung durchsetzen.
Herr Hüppe, was die von Ihnen angesprochenen
Maßnahmen zur Qualifizierung und zur Sicherung der
Methadonsubstitution angeht, so handelt es sich um
die Umsetzung eines einstimmig gefaßten Bundesratsbeschlusses von 1997. Wenn Sie immer noch mit spitzer
Zunge, wenn auch gegenüber Ihren früheren Äußerungen deutlich abgeschwächt, sagen, das sei nötig, frage
ich mich, warum die alte Bundesregierung das nicht
umgesetzt hat. Wir tun das jetzt, weil es eine sinnvolle
Hilfemöglichkeit, die jetzt schon seit zehn Jahren in
Deutschland sehr viel Gutes geleistet hat, die Methadonsubstitution, weiter zu qualifizieren gilt. Wir setzen das
in diesem Gesetzentwurf um. Das ist aber beileibe nicht
die einzige Maßnahme in diesem Bereich. Ich glaube,
Sie haben wirklich Bedarf, einmal bei mir einen Kaffee
zu trinken, damit ich Ihnen genau erläutern kann, was
wir alles außer Gesetzesnovellen machen, die erst nach
gründlicher Erarbeitung eingebracht werden.
Danke schön.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hubert Hüppe das Wort.
Frau Kollegin, ich weiß
zwar, daß die Zeit schon sehr weit fortgeschritten ist,
möchte aber noch darauf hinweisen, daß ich es nicht als
gut empfinde - ich denke, ich bin Ihnen heute sehr weit
entgegengekommen; ich habe Ihnen auch gesagt, daß
ich die Methadon-Vereinbarung für richtig halte -, wenn
mir unterstellt wird - ich bin mit Namen angesprochen
worden -, daß ich ohne weiteres den Tod von Menschen
durch Drogen hinnähme. Dies ist nicht der Fall.
Ich habe mit sehr vielen Menschen über dieses Thema gesprochen. Ich weiß, was es nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Familien bedeutet, auch
für die Familien derer, die nicht durch Drogen sterben.
Ich möchte, daß zur Kenntnis genommen wird, daß es
mir mit dieser Sache sehr ernst ist, weil ich weiß, welches Elend die Droge verursacht.
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Nickels, bitte.
Herr Kollege Hüppe, lesen Sie das doch bitte im Protokoll nach! Ich habe Ihnen dies nicht unterstellt; das würde mir auch gar nicht einfallen. Ich habe nur generell
darauf hingewiesen, daß die Daten, Fakten und Erfahrungen mit den bestehenden Drogenkonsumräumen so
eindeutig sind, daß es unterlassener Hilfeleistung
gleichkäme, würde man nicht endlich diese rechtliche
Grauzone aufheben. Ich glaube, wenn Sie das Protokoll
lesen, werden Sie sehen, daß ich Ihnen persönlich das
nicht unterstellt habe.
({0})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Jahr
nach der Bundestagswahl 1998 legt die Bundesregierung
- endlich - einen Gesetzentwurf zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes vor. Es ist kein ganz neues Thema - das ist von Ihnen, Frau Nickels und Herr Heil, bereits gesagt worden -, mit dem sich dieser Gesetzentwurf beschäftigt. Es geht um die rechtliche Absicherung
der sogenannten Gesundheitsräume oder, wie Sie es
nennen, der Drogenkonsumräume.
Der ganz große Wurf ist dieser Gesetzentwurf meiner
Meinung nach nicht. Ich hätte erwartet, daß auch das aufgenommen würde, was in den letzten Jahren bereits durch
Bundesratsinitiativen in den Bundestag eingebracht worden ist: die rechtliche Ausgestaltung dessen, was in der
Schweiz und in anderen Ländern erprobt worden ist,
({0})
nämlich die ärztlich kontrollierte Abgabe von Heroin
mit wissenschaftlicher Begleitung und psychosozialer
Betreuung. Ich denke, es wäre gut, wenn sich auch die
Modellversuche, für deren Einführung die F.D.P. da, wo
es geeignete Rahmenbedingungen und richtige Vorgaben gibt, eintritt, auf einer rechtlichen Grundlage im
Betäubungsmittelgesetz wiederfänden.
Ich bin der Meinung, daß es ein wirklich entscheidender Schritt ist, ärztlich kontrolliert Heroin abzugeben. Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode
im Bundestag sehr intensiv mit den Schweizer Folgen
und den Bewertungen der Ergebnisse auseinandergesetzt. Wenn man in diese Richtung gehen möchte - das
gehört für die F.D.P. zur vierten Säule der Drogenpolitik, zur Überlebenshilfe -, dann ist es angesichts der
schwierigen Akzeptanz in unserer Gesellschaft notwendig, dieses Thema im Parlament zu behandeln und gesetzlich ausformuliert im Betäubungsmittelgesetz zu
verankern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Ja, freilich.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ist Ihnen
bekannt, daß wir nach vielen Verhandlungen in Koordinationsgruppen jetzt in der Situation sind, daß sich aus
sechs Städten verschiedener Bundesländer - das geschieht mit Unterstützung der jeweiligen Landesregierung; das betrifft auch die neue Regierung in Hessen etwa 700 Probanden angemeldet haben und wir gerade
dabei sind, den Ausschreibungstext für den Modellversuch „heroingestützte Behandlung“ zu formulieren, und
daß eine Gesetzesänderung früher nicht notwendig war,
weil schon der politische Wille fehlte? Das Projekt befindet sich bereits in der Umsetzungsphase.
Es gab gerade von den SPD- und GrünenLandesregierungen entsprechende gesetzliche Formulierungen, die über den Bundesrat in den Bundestag gelangten. Ich denke, das war keine reine Beschäftigungstherapie der Kollegen und Kolleginnen in Bonn. Man
hat damit auch eine gewisse Notwendigkeit verbunden.
Ich teile nicht die Auffassung, daß es so eindeutig ist,
daß man hier keine gesetzliche Grundlage braucht. In
dem vorliegenden Gesetzentwurf machen Sie anhand
von 10 Punkten eine sehr umfangreiche Vorgabe für den
Erlaß von Rechtsverordnungen. Zudem führen Sie die
kontrollierte Abgabe von Heroin ohne eine gesetzliche
Regelung und ohne den Umstand, daß wenigstens einigermaßen vergleichbare Vorgaben festgelegt werden,
ein. Ich halte das auch politisch für nicht richtig. Denn
Sie hätten den vorliegenden Gesetzentwurf ohne jegliche Schwierigkeiten um die Absicherung dieses Versuches anreichern können.
Frau Kollegin, es
gibt eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Nickels.
Bitte.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß es sich hier um
zweierlei Sachverhalte handelt, zum einen um die rechtliche Klarstellung von Drogenkonsumräumen im BtMG,
zum anderen um den Modellversuch einer heroingestützten Behandlung, und ist Ihnen bekannt, daß schon
damals Ihrerseits unserem Haus mitgeteilt worden ist,
daß man in diesem Bereich keine Gesetzesänderung
braucht, und daß die Bundesländer damals eine solche
für nötig erachteten, weil die damalige Bundesregierung
nicht bereit war, hier koordinierend tätig zu werden?
({0})
Frau Nickels, ich glaube, es ist bekannt - deshalb sage
ich das hier -: Die F.D.P. hat in der damaligen Koalition
eben nicht durchsetzen können, daß hier Veränderungen
vorgenommen werden. Wir als damalige Regierungsfraktion haben im Bundestag unsere Auffassung dazu sie war anders als die des Koalitionspartners - sehr klar
dargelegt. Sie selber haben ja in den letzten zehn Monaten erlebt, wie häufig das der Fall sein kann. Deshalb
war es klar, daß wir in der Koalition keine irgendwie geartete Änderung im Betäubungsmittelgesetz würden
durchsetzen können, und zwar weder eine Änderung zur
rechtlichen Absicherung der Gesundheitsräume noch
eine Änderung zu einer ärztlich kontrollierten Abgabe
von Heroin.
Ich weiß von vielen Stellungnahmen, die die Bundesregierung zu den Entwürfen des Bundesrates abgegeben
hat - ich meine nicht die von 1996, sondern die von
1995 und 1994 -, in denen wir mit Hilfe vorsichtiger
Formulierungen versucht haben, die Tür nicht so zuzuschlagen, daß es dann nicht wenigstens zu Beratungen
kommen konnte. Dann hat ja Gott sei dank in der letzten
Legislaturperiode, und zwar noch 1998, eine entsprechende Anhörung im Gesundheitsausschuß stattgefunden. Das, was dort zu den Drogenkonsumräumen gesagt worden ist, ist dann zu einem gewissen Teil in diesen Gesetzentwurf eingeflossen.
Ich halte es für richtig, daß die Unsicherheit, die gerade für die Betreiber und für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter dieser Einrichtungen besteht, beseitigt wird.
Denn zu Recht, Frau Nickels, haben Sie gesagt, daß die
strafrechtliche Verfolgung bisher immer mit einem Bein
vor der Tür stand, wenn hier eine andere Rechtsauffassung vertreten wurde als die, die noch in den meisten
Bundesländern herrschend ist.
Gerade weil die F.D.P. sagt: „Abhängigkeit ist eine
Sucht, ist eine Erkrankung“, halte ich es für notwendig,
diesen Weg als einen weiteren Schritt in der Drogenpolitik zu gehen. Ich halte es für wichtig, daß wir nicht
nur mit den Mitteln des Strafrechts, das in diesem Bereich keine spezial- und generalpräventive Wirkung entfalten kann, in der Drogenpolitik agieren, sondern daß
wir neben Repression, Therapie und Prävention auch
eine sogenannte vierte Säule, nämlich die Überlebenshilfe, stellen.
Schon vor vielen Jahren haben Polizeipräsidenten aus
mehreren Großstädten gefordert, der sich entwickelnden
offenen Drogenszene durch die Einrichtung solcher Gesundheits- oder Konsumräume - vergleichbar mit der
Schweiz - zu begegnen. Denn damit wird nicht nur die
Gesundheit der Bürger vor weggeworfenen Spritzen
oder anderen für den Drogenkonsum gebrauchten Utensilien besser geschützt. Es wird auch die Möglichkeit
eines risikoreduzierten und hygienisch optimierten Konsumes geschaffen. Außerdem wird der Zugang der Abhängigen zu anderen, niedrigschwelligen Angeboten erleichtert. Das war in meinen Augen eine sehr wichtige
Information, die anläßlich der Anhörung im Jahre 1998
von vielen Fachleuten gegeben wurde.
Das geltende Betäubungsmittelstrafrecht und die
hierzu ergangene Rechtsprechung kriminalisiert das
Verschaffen und Gewähren einer Gelegenheit zum Drogenkonsum. Gerade die intravenös Drogenabhängigen
werden auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich Heroin zu injizieren, zu einem entwürdigenden Spießrutenlauf durch öffentliche Anlagen und Plätze gezwungen. Deshalb ist diese gesetzliche Regelung notwendig.
Ob es wirklich ein so umfangreiches Paragraphenwerk
sein muß, sollte, denke ich, noch in den fachlichen Beratungen in den Ausschüssen unter die Lupe genommen
werden.
Die F.D.P. wird - das können Sie meinen Worten und
eigentlich auch den ganzen Debatten der letzten Legislaturperiode entnehmen - dieses Vorhaben grundsätzlich
positiv begleiten. Da der Teufel im Detail steckt, werden
wir im Interesse einer sachgerechten Änderung des Betäubungsmittelrechtes eigene Vorschläge in die Beratung einbringen.
Vielen Dank.
({0})
Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Auch wir werden den Gesetzentwurf der
Bundesregierung unterstützen. Er ist zweifellos ein
Schritt nach vorne, wobei ich die Kritik von Frau Leutheusser-Schnarrenberger unterstreichen möchte: Es ist
wirklich nur ein Schritt, und er fällt - da kann man sagen, was man will - hinter die Versprechungen, die SPD
und Bündnis 90/Die Grünen zur Wahl gemacht haben,
und auch hinter den Stand der Debatte, die wir bisher in
diesem Haus gehabt haben, weit zurück. Dennoch, so
denken ich und meine Fraktion, ist es wichtig, daß wir
endlich von der Drogenpolitik, die von Strafrecht und
Repression gezeichnet ist, wegkommen und daß wir das
Thema als ein soziales und medizinisches Problem behandeln.
Wir haben in der Vergangenheit bereits viele Debatten um die Legalisierung, um die Entkriminalisierung
und vor allen Dingen um das Schlagwort „Therapie
statt Strafe“ geführt. Nicht nur meine Fraktion, sondern
auch Abgeordnete anderer Fraktionen haben immer
wieder dafür gestritten, daß der repressiven Abschrekkungspolitik im Drogenbereich endlich ein Ende gemacht und für menschliche Verhältnisse gesorgt wird.
Dafür müssen die gesetzlichen Bestimmungen angepaßt
werden.
Der Gesetzentwurf ist, wie gesagt, ein Schritt in die
richtige Richtung. Auch ich war einigermaßen, Herr
Hüppe, über Ihre moderaten Töne erstaunt. Von Ihnen
habe ich bisher etwas anderes gehört. Ich wünschte, daß
in der gesamten Republik ein Nachdenken einsetzt - gerade in den Ländern, in denen die CDU/CSU an der Regierung ist. In Großstädten wie Hamburg und Frankfurt
gibt es heute bereits viele Fixerstuben. In Berlin ist gerade in den letzten Tagen von der Regierungspartei
CDU erklärt worden, sie werde weiterhin den repressiven Kurs fahren. Ich kann das wirklich nicht verstehen.
Es wird geschätzt, daß in Berlin über 8 000 Menschen
schwer drogenabhängig sind. Ich meine, es wäre ein erster Schritt, es den Drogenabhängigen zu ermöglichen,
mit ihrer Sucht in entsprechenden Räumen umzugehen.
Wie ich eben schon gesagt habe, reicht das allein natürlich bei weitem nicht aus.
Ich möchte darauf hinweisen - das ist heute schon
gesagt worden -, daß wir keineswegs einen starken
Rückgang der Zahl der Drogentoten haben. Ganz im
Gegenteil: Erst im vergangenen Jahr ist die Zahl wieder
um zehn Prozent angestiegen. Wir sind verpflichtet, eine
Drogenpolitik zu entwickeln, mit der den Menschen, die
schwerstabhängig sind, geholfen wird. Das bedeutet und das ist mein wesentlicher Kritikpunkt an dem Gesetzentwurf -, daß man nicht dabei stehenbleiben darf,
nur die formalen Bedingungen zu verändern. Wir müssen dahin kommen, daß die Leute kein gepanschtes
Zeug auf der Straße kaufen müssen und daß sie vernünftig aufgeklärt werden.
Wir werden in den nächsten Wochen einen eigenen
Antrag zur Drogenpolitik einbringen, der sich ganz besonders mit den Fragen der Entkriminalisierung in der
Drogenpolitik und der Legalisierung von Cannabisprodukten beschäftigen und der weitere konkrete Vorschläge zu harten Drogen machen wird.
Weil es so spät ist, soviel für heute. Vielen Dank für
Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Ge-
setzentwurfes auf der Drucksache 14/1515 an den in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschuß vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offen-
sichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Maritta Böttcher, Roland Claus,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Demokratisierung des Wahlrechts
- Drucksache 14/1126 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid ({1})
- Drucksache 14/1129 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({2})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die PDS-Fraktion
spricht die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit Freude habe ich vernommen, daß der Kollege Rezzo Schlauch vor zwei Tagen in der Festveranstaltung „50 Jahre Bundestag“ die
Passage zur Volksgesetzgebung in der Koalitionsvereinbarung nochmals dem Grunde nach bekräftigt hat.
Er sagte:
Wir wollen die demokratischen Beteiligungsrechte
der Bürgerinnen und Bürger stärken. Dazu wollen
wir auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des
Grundgesetzes einführen.
So hoffe ich doch, daß Sie sich, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Regierungsparteien, über unseren
Gesetzentwurf zur Volksgesetzgebung gefreut haben,
({0})
zumal Ihre Partei, Herr Kollege Ströbele, in der letzten
Wahlperiode selbst einen entsprechenden Vorschlag
gemacht hat. Ich bin mir sicher, daß unsere beiden Entwürfe die Diskussion um Notwendigkeit und Inhalt einer
bundesweiten Volksgesetzgebung, um ihre Verankerung
im Grundgesetz, um den möglichen Mißbrauch zu antidemokratischen Zwecken, um die Erweiterung des
Wahlrechts für ausländische Mitbürger und die Streichung der Fünfprozenthürde im Interesse einer Öffnung
der Demokratie befördern werden.
Aber - das betone ich ausdrücklich - genausowenig,
wie es zur Demokratie als Regierungsform eine progressive Alternative gibt, genausowenig gibt es eine Alternative zu ihrer ständigen Fortentwicklung. Genauso wie
parlamentarische Demokratie unerläßlich ist, ist ihre Ergänzung durch direkte Demokratie wie in Form der
Volksgesetzgebung unverzichtbar. Die bisherige Quarantäne plebiszitärer Demokratie im Grundgesetz ist
nach 50 Jahren an die Grenzen der Entwicklung von einer parlamentarischen Zuschauer- und Parteien- zu einer
auch modernen Teilhabe- und Bürgerdemokratie gestoßen. Mangelndes politisches Interesse, drastisch sinkende Wahlbeteiligungen und eine in der Tendenz abnehmende Zahl von Parlamentsparteien sind deutliche
Warnsignale nachlassender Bevölkerungsakzeptanz und
demokratischer Ausdünnung, die wir nicht ignorieren
dürfen. Dahinter verbergen sich nicht nur Glaubwürdigkeits- und Erscheinungsprobleme unserer Politik, sondern strukturelle Demokratiedefizite.
Einige unserer Vorschläge zur Überwindung dieser
Defizite liegen jetzt für die parlamentarische Diskussion
auf dem Tisch. Ziel unseres Entwurfs zur Volksgesetzgebung ist - aufbauend auf den Ländererfahrungen - ein
praktikables, unbürokratisches und zügiges dreistufiges
Volksgesetzgebungsverfahren. Die von uns vorgeschlagenen Beteiligungs- bzw. Zustimmungsquoren sind
für die Initiatoren erreichbar, sichern aber zugleich, daß
nur ernsthafte Anliegen erfolgreich betrieben werden
können. Die vorgesehene Stimmenverdopplung und die
Einführung eines Beteiligungsquorums von 25 Prozent,
gekoppelt mit einer qualifizierten Zweidrittelmehrheit,
bieten die Gewähr für qualifizierte, nur von Mehrheiten
getragene Grundgesetzänderungen.
Wir halten es für wichtig, diese außerparlamentarische Gesetzgebungsform möglichst frühzeitig an den
parlamentarischen Prozeß heranzuführen, indem die
Träger der jeweiligen Volksinitiative in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestages ein Anhörungsrecht
erhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
vom Bündnis 90/Die Grünen, mit der Unterstützung
dieses Gesetzgebungsvorhabens würden Sie auch bei Ihren Wählerinnen und Wählern sowie darüber hinaus
punkten. Denn laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage
- das wissen Sie auch selbst - im Auftrag der Zeitung
„Die Woche“ vom Januar dieses Jahres sprechen sich
sage und schreibe 70 Prozent der Bundesbürgerinnen
und -bürger für Volksentscheide auf Bundesebene aus.
Der von unserer Fraktion außerdem vorgelegte Entwurf zur Demokratisierung des Wahlrechts durch Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, die Einführung
des Ausländerwahlrechts auf Bundesebene, die Streichung der Fünfprozenthürde, die Verrechnung der
Überhangmandate mit Mandaten auf Landeslisten und
durch die Bestimmung der Kandidatenreihenfolge mittels Präferenzstimmen dient dazu, unser Wahlrecht den
tatsächlichen Wahlbedürfnissen der Bevölkerung anzupassen, ungerechtfertigte Bevorteilungen der großen
Parteien, die bereits den Grundsatz der Wahlgleichheit
in Frage stellen, zu beseitigen, und sie dient dazu, politische Pluralität zu befördern.
Wir wissen alle: Zu den größten Feinden der Demokratie gehören Gleichgültigkeit, Desinteresse und das
Gefühl der Ohnmacht gegenüber Politik. Demokratie
kann nur durch aktive, politisch gut informierte Bürger
auf breiter Basis leben und sich entwickeln.
Für eine gegenseitige sachdienliche Ergänzung von
parlamentarischen und außerparlamentarischen Demokratieformen müssen wir hier die Rahmenbedingungen
schaffen. Ihre Unterstützung dafür würde ich mir sehr
wünschen.
Danke schön.
({1})
Für die SPDFraktion spricht der Kollege Harald Friese.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Man muß sich
schon fragen, ob es Beschäftigungstherapie oder mangelnde Kreativität ist, wenn die PDS-Fraktion in jeder
Legislaturperiode die gleichen Anträge vorlegt; denn der
Antrag, der heute vorliegt, ist ein guter alter Bekannter
aus der 12. Legislaturperiode und aus der 13. Legislaturperiode. Wir haben schon fast Wetten abgeschlossen,
wann Sie auch in der 14. Legislaturperiode diesen Antrag stellen. Nun liegt er auf dem Tisch.
Aber ein bißchen politisches Kalkül ist, glaube ich,
schon dahinter, wenn Sie diese Anträge stellen. Wenn
ich die Debatten in der 12. und 13. Legislaturperiode lese, gewinne ich den Eindruck, Sie wollen eigentlich gar
keine Zustimmung. Ihnen ist nämlich viel lieber, zu sagen, die etablierten Parteien - da meinen Sie wohl uns seien gegen eine Demokratisierung des Wahlrechts, sie
seien gegen eine Herabsetzung des Wahlalters, sie seien
gegen ein Wahlrecht unserer ausländischen Mitbürger,
sie seien gegen die Streichung der Fünfprozentklausel
und sie seien gegen die stärkere Einflußnahme des Bürgers bei der Auswahl der Bundestagsabgeordneten.
Aber so einfach lasse ich Sie heute hier nicht heraus.
Es wird Ihnen auch im dritten Anlauf nicht gelingen,
sich sozusagen als der Gralshüter der parlamentarischen
Demokratie, als der Gralshüter des demokratischen
Wahlrechts und als der Gralshüter einer funktionierenden Parteiendemokratie darzustellen.
Ich sage Ihnen auch, warum Ihnen das nicht gelingen
wird. Sie haben ja Ihre Erfahrungen mit parlamentarischer Demokratie, mit einem demokratischen Wahlrecht
und mit einer funktionierenden Parteiendemokratie.
Sie sprechen von etablierten Parteien. Was mir daran
nicht gefällt, ist die unterschwellige Reminiszenz an eine
bestimmte Begrifflichkeit in der Weimarer Republik.
Sie sprechen auch davon, daß Partei- und Politikverdrossenheit ihre Ursache in der Fünfprozentklausel hätten,
weil dadurch die großen Parteien einen Vorteil hätten.
Das klingt wieder so nach Machtkartell der großen Parteien, weil es eine Fünfprozentklausel gibt. Sie wollen, wie
Sie in Ihrer Begründung schreiben - ich zitiere -,
ein System wirklich konkurrierender Parteien fördern und alle Parteien zum Dialog mit den Wählerinnen und Wählern zwingen.
Man sieht, Sie können sich aus Ihrer Vergangenheit
nicht so ganz lösen.
Ich mache Ihnen einen guten Vorschlag: Sie sollten
es den Parteien selber überlassen, wie sie Politik machen, wie sie den Dialog mit den Wählerinnen und
Wählern führen und wie sie den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern führen. Ich glaube, wir können dies
gesetzlich nicht regeln.
Wenn Sie Partei- und Politikverdrossenheit beklagen, habe ich außerdem den Eindruck: Dies ist ein typischer Antrag, der die Grundlage für Politik- und Parteiverdrossenheit ist: Man stellt populistische Forderungen
auf einem Politikfeld, wo es eigentlich sinnvoller und
besser wäre, weil es beim Wahlrecht um Grundsatzfragen der parlamentarischen Demokratie geht, den Konsens zwischen den Fraktionen in diesem Haus herbeizuführen.
Deshalb sage ich Ihnen: Wahlrecht hat den Rang von
Verfassungsrecht. Die SPD-Fraktion wird in dieser Diskussion einen anderen Weg gehen: Wir wollen danach
an die alte parlamentarische Tradition wieder anknüpfen, die leider in der letzten Legislaturperiode bei der
Frage der Überhangmandate und der Wahlkreiseinteilung nicht fortgesetzt wurde, diese grundsätzlichen Fragen zwischen den Fraktionen in diesem Hause einvernehmlich zu regeln.
Da wir das Bundeswahlgesetz wegen des letzten Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zur Frage der
Nachfolgeproblematik bei Überhangmandaten sowieso
ändern müssen, werden wir unsere eigenen Vorschläge
einbringen und im Rahmen dieser Diskussion überlegen,
welche Änderungen wir am Wahlrecht noch vornehmen
können.
In diesem Zusammenhang können wir über alles reden. Aber eins sage ich jetzt schon: Wir können nicht
allem zustimmen.
Ein Beispiel ist die Fünfprozentklausel. Sie ist für
uns die Kehrseite des Verhältniswahlrechtes - eine der
Grundlagen für die politische Stabilität in diesem Lande.
Sie ist für die SPD-Fraktion nicht disponibel.
Das Wahlrecht für ausländische Mitbürger zu fordern ist leicht. Bevor Sie so etwas fordern, sollten Sie
sich wirklich einmal zuerst Art. 38 des Grundgesetzes
und danach Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes anschauen. Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen,
daß eine Änderung des Wahlrechts gar nicht so einfach
möglich ist, wie Sie sich das vorstellen. Deshalb scheint
mir Ihre Forderung etwas populistisch zu sein.
Mit der Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre
hat die SPD-Fraktion - das sage ich ganz offen - ihre
Probleme, einmal deshalb, weil es dann unterschiedliche Altersstufen für das aktive und passive Wahlrecht
gibt. Zum anderen stellen wir uns die Frage: Ist es eigentlich sinnvoll, die Phase des jungen Menschen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden so stark zu verkürzen? Soll nicht der Jugendliche die Chance haben,
sich zuerst politisch zu orientieren, seine Meinung zu
bilden und auch das Recht auf Irrtum in Anspruch zu
nehmen? Wir sollten deshalb die Erfahrungen in den
Bundesländern gründlich prüfen, ob die Herabsetzung
des Wahlalters auf 16 Jahre tatsächlich das bewirkt hat,
was man sich davon versprochen hat, nämlich die Vergrößerung der politischen Partizipation von jungen
Menschen.
Bei der Einführung von Präferenzstimmen liegt das
Problem auf der Hand. Wenn sie eingeführt werden,
wird das Wahlrecht komplizierter, mit der Folge einer
erhöhten Zahl von ungültigen Stimmen. Dies kann nicht
das Ziel sein. Aber wir können über die Einführung von
Präferenzstimmen diskutieren.
Eine letzte Anmerkung zu diesem Komplex. Die Frage der Überhangmandate hängt mit der Einteilung der
Wahlkreise zusammen. Noch der alte Bundestag hat beschlossen, daß bei der nächsten Bundestagswahl eine
neue Wahlkreiseinteilung gilt. Dadurch wird sich das
Problem etwas reduzieren. Aber wir werden die Frage
des Ausgleichs und mögliche Lösungen diskutieren
müssen.
Wir werden zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
auch eigene Vorschläge einbringen. Ich wiederhole: Wir
werden die Vorschläge von allen Fraktionen unvoreingenommen in der festen Absicht prüfen, ob nicht ein
Konsens zwischen den Fraktionen in diesem politisch
sensiblen Bereich herbeigeführt werden kann.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Erwin Marschewski.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Häufig wird als Argument für die
Aufnahme zusätzlicher plebiszitärer Elemente in das
Grundgesetz - so war es auch in der heutigen Debatte angeführt, man könne damit der Politikverdrossenheit
entgegenwirken. Dabei wird eigentlich übersehen: Die
Möglichkeiten, über Wahlen und andere Beteiligungsrechte politisch Einfluß zu nehmen, sind heute so stark
ausgeprägt wie nie zuvor.
Politikverdrossenheit entsteht nach meiner Meinung
dadurch, daß Regierungshandeln und -versprechungen
Hoffnungen enttäuschen, zum Beispiel dadurch, daß jemand wie der Herr Bundeskanzler - ohne mit der Wimper zu zucken - von seinem Versprechen abrückt, auch
in Zukunft die Rentnerinnen und Rentner nettolohnbezogen an der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung teilhaben zu lassen.
Politikverdrossenheit entsteht auch, wenn ausgerechnet die PDS, die sich einen Wahlfälscher zum Ehrenvorsitzenden erkoren hat, nun in aller Breite von der Entwicklung einer Teilhabedemokratie fabuliert.
({0})
- Nein, das ist doch so. Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist nie billig, sondern wahr und richtig.
Um die richtige Entscheidung zu treffen, ist ein Blick
nach Weimar vonnöten. In der Zeit der Weimarer Republik wurde zwar nur relativ selten von der Möglichkeit plebiszitärer Entscheidungen Gebrauch gemacht.
Aber der permanente Druck plebiszitärer Entscheidungsmöglichkeiten, der von Nazis und Kommunisten
genutzt wurde und zu Gewalttaten auf den Straßen
Deutschlands führte, hat die Entwicklung einer stabilen
Demokratie verhindert. Aus eben diesen fürchterlichen
Entwicklungen in Deutschland hat der Parlamentarische Rat mit seinem strikten Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie die entscheidenden Konsequenzen
gezogen. Er hat im Grundgesetz bewußt auf Formen
unmittelbarer Demokratie verzichtet, von den Ausnahmen, Herr Kollege Friese, in Art. 28 und 29 des Grundgesetzes einmal abgesehen.
Über 40 Jahre später - nach der Wiedervereinigung
unseres Vaterlandes - hat die Gemeinsame Verfassungskommission von Bund und Ländern die Frage der
Aufnahme von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz wieder diskutiert und überprüft. Wir haben vor
ein paar Jahren gesagt, aus verfassungsrechtlichen und
aus verfassungspolitischen Gründen wollen wir auf solche Regelungen verzichten. Die Gründe für diese Entscheidung sind stichhaltig.
Erstens. Plebiszite verengen die Entscheidung
selbst über schwierige Probleme meist auf ein schlichtes
Ja oder Nein. Damit aber kann man den Herausforderungen einer modernen Gesellschaft mit ihren sehr komplexen Problemen nicht gerecht werden.
Zweitens. Plebiszite trennen, was nicht getrennt werden darf. Die Befugnis zur Entscheidung und die Verantwortung für die Umsetzung werden auseinandergerissen. Diese Trennung der Zuständigkeiten ermöglicht
den parlamentarischen Entscheidungsträgern die Flucht
aus der Verantwortung. Ich denke, die Politikverdrossenheit wird daher eher zunehmen.
Drittens. Plebiszite blenden auch allzuleicht die Allgemeinwohlorientierung aus: Oftmals geht es nämlich
lediglich um die Durchsetzung egoistischer Interessen
Einzelner. Mittels Volksbegehren sollen manchmal
Nachteile bestimmter Entscheidungen auf weniger gut
organisierte andere abgewälzt werden.
Viertens. Plebiszite führen überdies auch zum Verzicht auf die sachorientierte und rationale Problemlösungsfindung. Die in parlamentarischen Ausschüssen
mögliche differenzierte und komplexe
Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
- ich führe den
Satz noch zu Ende, dann sehr gern - Problemlösung
wird abgelöst durch oftmals emotionsüberlagerte und
damit meist eindimensionale Entscheidungen.
Bitte schön.
Herr
Marschewski, zu dieser späten Stunde möchte ich hier
eigentlich keine langen Reden halten; aber mir liegt
doch ein Problem auf der Zunge. Gehe ich recht in der
Annahme, daß Sie uns mit Ihren Unterschriftenaktionen,
sei es in der Rentenpolitik, sei es in der Ausländerpolitik, nahebringen wollten, daß Volkes Wille etwas anderes ist als das, was wir hier wollten?
({0})
Sehe ich es richtig, daß Sie uns damit eigentlich zeigen
wollten, daß die Teilnehmer der Unterschriftenaktion
die wahre Meinung des Volkes ausdrückten? Gleichzeitig versuchen Sie, uns zu erklären, daß das Volk auf
Grund der Komplexität der Materie gar nicht in der
Lage ist, so eine Entscheidung zu fällen, weil die Menschen darin überhaupt nicht bewandert sind? Ist das
nicht ein Widerspruch? Wie erklären Sie mir diesen
Widerspruch?
({1})
Frau Kollegin,
ich bin für diese Frage sehr dankbar. Wir wollten durch
diese Befragung der Bundesregierung aufzeigen, daß sie
am Volk völlig vorbeiregiert und eine Auffassung vertritt, die von niemandem oder höchstens von einem ganz
kleinen Prozentsatz in der Bevölkerung geteilt wird. Wir
wollten auf keinen Fall die parlamentarische Verantwortung ausschalten. Wir wollten ein zusätzliches Element einführen. Dies leistet die Volksbefragung nicht,
wohl aber die Unterschriftenaktion. Wir haben ganz bewußt keine Volksbefragung angestoßen. Das Parlament
soll sich weiterhin nicht vor der Verantwortung drücken
können; es soll Verantwortung tragen. Der Hauptsinn
unserer Unterschriftenaktion bestand darin, eine völlig
irrige Vorlage der Bundesregierung, die man am Ende
vier- oder fünfmal verändert hat, dem deutschen Volk
nahezubringen und das deutsche Volk zu fragen: Seid
ihr damit einverstanden? Das haben wir bewirkt. Was
wir getan haben, ist letzten Endes richtig gewesen. Ich
schlage vor, diesen Weg in Zukunft zu gehen.
({0})
Herr Kollege, es gibt
den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
In den fünf Minuten - mehr Zeit habe ich nicht - bitte ich, das, was ich
sagen wollte, zu Ende sagen zu dürfen. Wir können uns
über die restlichen Fragen im Innenausschuß, nachher
draußen, beim ZDF-Fest oder wo auch immer unterhalten.
Fünftens. Plebiszite sind oft nicht flexibel genug.
Denn aktuelle Entwicklungen lassen sich im Laufe parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen. Plebiszite dagegen können diese unmittelbare Dynamik niemals entfalten.
Wir sind gern bereit, erneut über Volksbegehren,
auch auf Bundesebene, zu beraten und alle Vorschläge
zu prüfen, bei denen sich die genannten Probleme vermeiden lassen. Übrigens, was die Gemeinsame Kommission des Parlaments anbetrifft: Da haben Sozialdemokraten in vielen Fragen, natürlich auch in Fragen der
Wahlkreise, zugestimmt. Wir sind gern bereit, darüber
zu reden. Die Diskussion darf allerdings nicht das Niveau der beiden PDS-Anträge haben.
Wer die Mehrkosten durch Streichungen beim Bundesnachrichtendienst - selbst Herr Ströbele wird das
heute nicht mehr fordern - oder, viel schlimmer, bei der
Aufarbeitung von SED-Verbrechen finanzieren will, der
macht eines klar: Es geht ihm in Wahrheit nicht um eine
Stärkung, sondern um eine Schwächung der Demokratie. Das wird es mit uns auf keinen Fall geben!
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin
Ekin Deligöz.
Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie zu dieser späten Stunde noch das Vergnügen haben, an dieser Debatte
teilzunehmen! Schreibfaulheit können wir unseren Kolleginnen und Kollegen von der PDS wahrhaftig nicht
vorwerfen.
({0})
Sie sind immer dabei, wenn es darum geht, neue Anträge zu stellen. Aber ein Urheberrecht auf das Thema
Demokratie haben sie nicht,
({1})
schon allein deshalb nicht, weil sich meine Partei seit
1983 um dieses Thema gekümmert hat und immer wieder daran arbeitet. Sie sind aber sicherlich ein Meister
darin, den besseren Teil mancher unserer Entwürfe abzuschreiben.
Immerhin geben uns ihre Vorschläge einen sehr guten
Anlaß, einmal über mehr Demokratie zu sprechen. Die
erste Parlamentswoche hier in Berlin und die 50-JahrFeier des Bundestages sind eine gute Gelegenheit, uns
darüber auszutauschen. Wenn es um Volksbegehren,
Volksentscheide und direkte Demokratie geht, denke ich
sehr oft an die vielen Aktionen, die meine Partei gestartet hat, vor allem auch für Volksentscheide gegen Atomanlagen. Wir haben schon zu Zeiten dafür gestritten und
sind dafür eingestanden, als es bei Ihnen noch hieß: Die
Partei hat immer recht.
({2})
Sie waren damals, das ist schon eine Weile her, eine reine Atompartei - neben vielen anderen unappetitlichen
Sachen, die Sie vertreten haben.
Die Grünen waren es, soweit ich mich erinnern kann,
die nach der Einheit gemeinsam mit den Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR und den Initiativen aus
dem Westen das Thema direkte Demokratie wieder in
die Debatte gebracht haben. Ich erinnere an den Entwurf
der ersten gesamtdeutschen Bürgerinitiative, das Verfassungskuratorium.
({3})
Über Ihren konkreten Gesetzesvorschlag bin ich ein
wenig enttäuscht, weil ich den fachlichen Zustand für
dürftig halte. So ganz scheint direkte Demokratie doch
nicht Ihr Thema zu sein. Seit über zehn Jahren diskutieren wir darüber und wissen mittlerweile, daß ein einfaches Bundesgesetz für diese Materie in Anlehnung an
Art. 20 des Grundgesetzes verfassungsmäßig nicht in
Frage kommt. Die grundlegenden Verfahrensschritte,
die Rechte der Initiativen und das Zustandekommen der
Gesetze müssen im Grundgesetz selbst geregelt werden.
Das geht nicht ohne eine Grundgesetzänderung,
sprich: ohne eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments.
Von daher können wir leider mit Ihrem Entwurf nicht
weiterarbeiten und ihn nicht einmal als Diskussionsgrundlage nehmen. Er ist für uns unbrauchbar, da er
Dinge durcheinanderwirft und lückenhaft ist.
Es fehlen unter anderem auch praktikable Regelungen
über die rechtliche Stellung der Initiativen, über die Bekanntgabe der Entwürfe und auch ein Ansatz zur Lösung
der schwierigen Aufgabe, wie man mit Mißbrauchsmöglichkeiten von direkter Demokratie umgeht, die ja
vorkommen können. Ich erinnere nur an Figuren wie
einen gewissen Herrn Frey. Wir müssen diesen Risiken
wirksam begegnen, ohne die direkte Demokratie gleich
mit auszuhebeln. Dieser Aufgabe dürfen auch Sie sich
nicht entziehen.
Nein, meine Damen und Herren, wir können die
PDS-Vorlage leider nicht zur Grundlage unserer Reformdiskussion machen. Nichtsdestotrotz gebe ich Ihnen
in einer Sache recht: Die Zeit drängt. Wir haben die Einführung von Elementen direkter Demokratie wie Volksbegehren und Volksentscheide in unseren Koalitionsvertrag aufgenommen und möchten auch bei dieser
Thematik endlich einmal vorankommen. Dazu brauchen
wir aber, wie gesagt, eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und auch im Bundesrat. Hier ergeht die Aufforderung an Sie von der Union, sich endlich einmal zu bewegen, Ihre Blockadehaltung aufzugeben, einen Schritt
auf uns zu zu tun und mit uns über Konzepte nachzudenken. Ich war sehr überrascht, daß Sie, Herr Marschewski, das hier schon so wunderbar angedeutet hatten. Ich fände es aber sehr gut, wenn Sie tatsächlich diese Blockadehaltung aufgeben würden. Ich fände es natürlich auch sehr schön, Sie nachher zum ZDF-Fest zu
begleiten, aber noch besser fände ich es, mich mit Ihnen
wirklich fachlich über direkte Demokratie zu unterhalten.
Es genügt tatsächlich nicht - das war ein Widerspruch, den Sie uns hier präsentiert haben -, Unterschriftenlisten auszulegen und diese dann als Volkes
Stimme hier einzubringen. Das Volk weiß genau, was es
will, und kann es selber sagen. Aber dazu brauchen wir
geregelte Verfahren. Dazu brauchen wir Volksbegehren
und Volksinitiative. Aber wir brauchen keine Politiker,
die glauben, sie könnten mit 100 Unterschriften hier die
Volksmeinung präsentieren.
({4})
Lassen Sie mich zu dem zweiten Gesetzentwurf,
dem Entwurf zur Reform des Wahlrechts nur soviel
sagen, daß auch wir sehr viel davon in unserem Programm aufgenommen haben, zum Beispiel die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre und das kommunale
Wahlrecht für ausländische Bürgerinnen und Bürger.
Leider brauchen wir auch hier in sehr vielen Fällen eine Grundgesetzänderung. Wir müssen auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit einbeziehen; das dürfen wir nicht einfach links liegenlassen.
Ich denke, sehr vieles von dem, was Sie aufgenommen
haben, sind gute Ideen, die aber leider nicht realisierbar
und schon gar nicht von den Koalitionsfraktionen alleine umzusetzen sind.
In diesem Sinne kann ich zum Schluß - meine Zeit ist
leider abgelaufen - nur an die Fraktionen im Bundestag
appellieren, sich mit uns gemeinsam an einen Tisch zu
begeben und tatsächlich über die Reformmaßnahmen zu
debattieren.
Danke schön.
({5})
Herr Kollege Rainer
Funke, Sie haben das Wort für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Gesetzentwürfe der PDS, die
hier so kritisiert werden, beinhalten grundlegende Fragen unseres Wahlrechts und Fragen hinsichtlich der
Möglichkeiten für mehr direkte Demokratie. Ob es allerdings weise ist, solche grundlegenden Fragen zu später Stunde und in einer halbstündigen Debatte abzuhandeln, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube, es geht Ihnen
genauso.
({0})
- Nein, das ist eine nicht sehr weise Entscheidung unserer Geschäftsführer. Ich glaube, daß solche wichtigen
Fragen in einem größeren Kreis diskutiert werden müssen.
Mir bleibt jetzt die Hoffnung, daß zumindest in den
Ausschußberatungen mehr Zeit für eine angemessene
Debatte verbleibt. In der Tat ist unser Wahlrecht verbesserungsfähig und -bedürftig. Die F.D.P. hat sich stets für
ein Präferenzstimmrecht in der Form des Kumulierens
und Panaschierens eingesetzt, um auf diese Weise dem
Wähler zu ermöglichen, die Reihenfolge der Kandidatinnen und Kandidaten beeinflussen zu können. Das
wird auch in einzelnen Ländern praktiziert. In Hessen
steht im Koalitionsvertrag, daß dieses Verfahren wiederaufgenommen werden soll.
Es kann auch keinem Zweifel unterliegen, daß Überhangmandate nur die beiden großen Volksparteien bevorzugen und demgemäß die kleineren Parteien
benachteiligen.
Über die Fünfprozentklausel kann, zumindest bei
der Europawahl, diskutiert werden. Schließlich ist das
Argument, daß die Fünfprozentklausel dazu beitragen
soll, die Regierungsfähigkeit sicherzustellen, zumindest
für das Europäi sche Parlament nicht durchgreifend,
denn hier sind die Kontrollinstanzen andere.
Ob Jugendliche heute tatsächlich reifer sind, wie Sie
das formuliert haben, und schon mit 16 Jahren wählen
sollten, muß sicherlich auch an Hand der bislang gemachten Erfahrungen in den Ländern und Kommunen
diskutiert werden.
Bereits in der letzten Legislaturperiode, am 29. Mai
1998, hat sich der Bundestag ausführlich über mit weiteren Möglichkeiten der direkten Demokratie auseinandergesetzt. Die vorgeschlagenen Institute Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid sind keineswegs
neu, und sie sind auch dem deutschen Staatsrecht - siehe
Weimarer Republik - nicht fremd. Ob sie im einzelnen
zweckmäßig sind, muß miteinander diskutiert werden.
In der Kommission zur Verfassungsreform - Sie haben
es erwähnt, Herr Marschewski; wir haben dort gemeinsam gesessen - haben diese Institute keine hinreichende
Mehrheit gefunden. Zum Teil waren es knappe Verhältnisse, es wurde aber keine Mehrheit gefunden. Man muß
dennoch erneut darüber diskutieren können; schließlich
wandeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Meine Fraktion würde zumindest eine Volksinitiative
und deren nähere rechtliche Ausgestaltung unterstützen.
Damit könnte der Bürger mehr Einfluß auf die Behandlung von wichtigen Themen im Bundestag gewinnen.
Mein Kollege Dr. Stadler hat mit Unterstützung der
F.D.P.-Fraktion in der letzten Legislaturperiode auch die
Möglichkeit der Einführung eines Referendums, bei
dem man mit Ja oder mit Nein stimmen kann - also ein
relativ einfaches Verfahren -, angeregt. Bei dieser Form
der Volksabstimmung würde das Parlament das Recht
erhalten, der Bevölkerung grundlegende Fragen von entscheidender politischer Bedeutung zur Entscheidung
vorzulegen. Auch hierzu muß im Ausschuß eine intensive Diskussion erfolgen. Wir sind dazu bereit. Wir
sollten diese Fragen auch mit den Ländern und auf der
Grundlage der von ihnen gemachten Erfahrungen diskutieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der
Kollege Peter Enders, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so, daß die
SPD schon seit Jahren - da sind wir nicht weit von den
Grünen entfernt - die Einführung von Volksentscheiden
für wichtige Themen fordert; ich erinnere auch an die
Gemeinsame Kommission. 1993 haben wir das noch
einmal zur Abstimmung gestellt und haben dabei verloren. Im Wahlprogramm der SPD für diese Bundestagswahl war es wieder aufgeführt. Es steht auch in der Koalitionsvereinbarung.
Wir sind im Prinzip dafür, weil das Bedürfnis nach
Teilhabe an der Gesetzgebung in der Bevölkerung
stark gestiegen ist. Ich beantworte die Frage danach, wie
diese Teilhabe ausgestaltet werden soll, anders als Herr
Marschewski, weil für mich auch eine Rolle spielt, was
in den 20er Jahren gewesen ist. Ich meine schon, daß die
in diesem Zusammenhang zu stellende Frage nach dem
nötigen Sachverstand der Bevölkerung heute anders zu
beantworten ist: Der Sachverstand ist gegeben. Von daher gehe ich sehr offen und sehr positiv an das Thema
heran. Ich persönlich habe noch einen anderen Grund,
dafür zu sein: Es gibt ja das Phänomen, daß eigentlich
kein Wähler immer hundertprozentig mit dem Programm der von ihm gewählten Partei einverstanden ist dies ist im übrigen auch bei keinem Mitglied dieser
Partei der Fall - und es insoweit zu Differenzierungen
kommt.
Jetzt kommen die Einwände. Erster Einwand: Nach
unserer Meinung sollte die Einführung plebiszitärer
Elemente als Ergänzung der repräsentativen Demokratie
verstanden werden. Volksentscheide sollen nicht die
Möglichkeit zur Aushöhlung des parlamentarischen Systems eröffnen. Den Eindruck macht jedoch dieser Entwurf. Wenn man den PDS-Antrag liest, merkt man sofort, daß die Verfasser nicht davon ausgehen, in der
nächsten Zeit - zumindest in der Bundespolitik - irgendwie Mehrheiten zu finden. Da wir alle wissen, daß
Volksbegehren und Volksentscheide im Normalfall
nicht ohne Parteien laufen, ist offenkundig, daß die PDS
mit diesen Gesetzentwürfen in der Tat zusätzlichen Einfluß erreichen will. Nun kann man darüber streiten, ob
der Gesetzentwurf und die Begründung voller handwerklicher Mängel ist oder ob dies Bösartigkeiten sind.
Ich will das an einigen Beispielen erläutern.
Erstens. In der Begründung ist von mangelnder Repräsentanz der Bürgerinnen und Bürger durch ihre
Abgeordneten die Rede. Ich finde, diese Aussage ist eine bodenlose Frechheit. Da kann ich mich in NordrheinWestfalen genauso wie in den neuen Bundesländern umschauen: Dies stimmt so einfach nicht. Ich meine, da haben Sie eine sehr schlechte Beobachtung gemacht.
Ein zweiter Punkt. Nach dem Entwurf der PDS können Volksinitiativen zu jedem möglichen Thema gestartet werden - sei es nun über Steuertarife, Beamtenbesoldung oder sogar die Ratifizierung von völkerrechtlichen Verträgen, wenn es also um Doppelbesteuerungsabkommen oder dergleichen geht. Sie hätten wenigstens
fordern sollen, zu haushaltswirksamen Gesetzen einen
Finanzierungsvorschlag zu erlangen; denn erfahrungsgemäß ist es so, daß ausgabewirksame Gesetze eher eine
Zustimmung als eine Ablehnung finden. Wozu führt
das? Letztendlich könnte eine Regierung ihren Haushalt
niemals konkret durchziehen. Die Verantwortlichkeit
würde verlorengehen. Zumindest in diesem Punkt sind
wir uns in der Ablehnung einig. Aus diesem Grund muß
man sehr genau hinschauen, was man regeln kann, welche Inhalte überhaupt zur Abstimmung gestellt werden
können.
({0})
- Sie können eine Frage stellen.
Drittens. Was mir an diesem Gesetzentwurf der PDS
am meisten mißfällt, sind die fehlenden Regelungen zu
Quoren. Höhere Quoren verhindern, daß sich Sonderinteressen von Minderheiten oder nur regional begrenzte
Interessen durchsetzen können. Deshalb ist es völlig inakzeptabel, wenn bei einem Volksbegehren eine Million
Wahlberechtigte ausreichend sind - ich rede jetzt nicht
von verfassungsändernden Initiativen -, wenn also beispielsweise die Zustimmung aus dem Bereich der PDSWähler vollkommen ausreichen würde. Für den Fall
eines anschließenden Volksentscheides zu einem nicht
verfassungsändernden Gesetz ist ein Quorum nicht einmal erwähnt. Das heißt, daß die Mehrheit bei einer noch
so geringen Beteiligung ausreichen würde. Wo bleibt da
die demokratische Entscheidung im Sinne einer Mehrheit der Bevölkerung?
Ich erinnere mich im übrigen an NordrheinWestfalen. Dort gab es Mitte der 70er Jahre kommunale
Neuordnungen. Wenn es in Wattenscheid und anderen
Städten ausgereicht hätte, die Mehrheit aus diesem Bereich zu erlangen, während sich die anderen zurücklehnten, hätten wir alle Entscheidungen des Landtags
über den Haufen werfen können.
({1})
- Gerade im Ruhrgebiet gab es ähnliche Dinge. Aber,
Herr Kollege Marschewski, Sie wären weder Fürst noch
König geworden.
({2})
Ich möche jetzt das Thema Geld ansprechen. Selbstverständlich sollen die Verbesserungen und Ergänzungen unserer Demokratie nicht an finanziellen Mitteln
scheitern. Trotzdem muß ich hier auf einige Punkte hinweisen. Die Zahlung einer pauschalen Kostenvergütung an den Trägerverein der Volksinitiative soll zwar
insbesondere für die Abgeltung der finanziellen Aufwendungen zur Information der Bürgerinnen und Bürger
geleistet werden, jedoch enthält der Gesetzentwurf keine
Pflicht zum Nachweis der Informierung der Bevölkerung über das Thema, über das informiert werden soll.
Das heißt, es soll ohne Nachweis gezahlt werden. Das
ist eigentlich unglaublich, und ich frage mich: Wollen
Sie die anderen Parteien über den Tisch ziehen? Zu dem
Thema, wie das Geld aufzubringen ist, hat bereits Herr
Marschweski etwas gesagt. Es ist unglaublich: Einsparungen bei der Gauck-Behörde und dem Verfassungsschutz vorzunehmen, um dies zu finanzieren, könnte Ihnen so passen.
Ich habe in diesem Haus bereits zum Thema Parteienfinanzierung gesprochen. Bei der damaligen Diskussion
um die Erhöhung der finanziellen Zuwendungen für die
Parteien - sie war in der Öffentlichkeit nicht unumstritten - haben Sie sich von der PDS vornehm zurückgehalten, während die demokratischen Parteien des Hauses diese Entscheidung mitgetragen haben.
Ich komme zum Schluß und möchte zusammenfassen. Alles in allem handelt es sich bei den beiden Gesetzentwürfen um typische PDS-Entwürfe: Sie werden
dem Parlament aus rein populistischen Gründen zur Entscheidung vorgelegt. Sie wollen sich wieder einmal medien- und publikumswirksam als Hüter des Volkes aufspielen.
Da Sie sich selbst als Nachfolgepartei der SED aufspielen, erinnere ich Sie an die Zustände, die es dort früher gegeben hat. Im Auskundschaften des Volkswillens
waren einige von Ihnen wirklich Weltmeister; aber die
Zeiten haben sich geändert.
({3})
- Sie können Fragen stellen; Sie können sich bei der
Präsidentin melden.
Ich kann nur eines sagen: Eine so komplizierte Frage
kann man nur konsensual lösen.
({4})
- Bei Herrn Gysi oder wem?
Herr Kollege Enders,
ich muß Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich habe noch 10 Sekunden.
Ich darf zum Schluß noch einmal sagen: Es gibt nur eine
Chance in dieser Angelegenheit, weil es in der Tat eine
Verfassungsänderung erfordert: Dies muß im Konsens
der Parteien hier im Haus durchgeführt werden. Es muß
gemeinsame Entwürfe geben, nicht aber solche Alleinritte, wie sie uns vorgelegt wurden. Aber wir werden in
den Ausschußberatungen noch darüber zu sprechen haben.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Norbert Röttgen,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wer Plebiszite fordert und
sich für sie stark macht, erweckt den Schein, er träte für
mehr Demokratie - Sie haben das auch gesagt -, für die
fortschrittlichere Demokratie ein. Es ist sicherlich auch
nicht falsch, das Ziel, sich in diesem Schein zu sonnen,
als ein parteitaktisches Motiv zu bezeichnen, wenn man
für Plebiszite öffentlich eintritt.
Ich bin allerdings davon überzeugt - wir führen heute
abend darüber eine vernünftige Diskussion, wenn sie
auch ein bißchen kurz und ein bißchen spät ist -, daß
dieser Schein trügt. Er ist übrigens auch schon demokratiegeschichtlich widerlegt. Die plebiszitäre Demokratie ist nicht die spätere, die fortentwickelte. Es gab
immer beide Elemente. Es gab zunächst auch plebiszitäre Elemente, die dann durch die repräsentative Demokratie überholt wurden.
Aber wenn wir wirklich - Herr Enders, Sie haben es
ja angesprochen - einen Konsens erzielen wollen, wenn
wir jedenfalls über diese Frage vernünftig diskutieren
wollen, dann müssen diejenigen, die plebiszitäre Elemente befürworten, die Frage wirklich beantworten, wie
sie es schaffen wollen, daß unter den heutigen Bedingungen, also unter den Bedingungen einer hochkomplexen, international verflochtenen Gesellschaft von
80 Millionen Menschen ein vernünftiger, rationaler öffentlicher Diskurs, eine vernünftige politische Entscheidungsfindung möglich sein soll. Diese Frage müssen Sie
ernsthaft beantworten. Sie dürfen auch nicht gedanklich
etwas konstruieren, sondern müssen es mit der Realität
konfrontieren. Daran hat es auch in der heutigen Debatte, wie ich meine, gemangelt.
Unter den Bedingungen, die ich eben genannt habe,
also denen der komplexen, international verflochtenen
Gesellschaft, wären plebiszitäre Elemente ein demokratischer Rückschritt unter den Gesichtspunkten der Rationalität der langfristigen Orientierung der politischen
Entscheidungsfindung.
Damit sage ich natürlich nicht, daß wir die perfekte
Demokratie hätten. Gerade diejenigen, die darauf verweisen, daß Plebiszite auf große Sympathie in der Bevölkerung stoßen, müssen ehrlich zugeben, daß diese
Sympathie bei vielen eine Kritik an unserer gegenwärtigen Parlamentspraxis ausdrückt. Das ist doch völlig klar.
Aber die Konsequenz kann eigentlich nicht systematischer Rückschritt sein, sondern die, daß wir unsere repräsentative Demokratie verbessern müssen. Diese Konsequenz müssen wir daraus ziehen.
({0})
Darum möchte ich auf die Kritikpunkte, die auch
der Kollege Marschewski hier vorgetragen hat, noch
einmal eingehen und an Sie appellieren, sie ernst zu
nehmen, wenn wir einen vernünftigen Dialog führen und
nicht populäre Forderungen in die Öffentlichkeit werfen
wollen. Sie müssen die Frage nach der Gefahr der Entrationalisierung der Politik beantworten. Wie wollen Sie
das rationalitätsstiftende Verfahren der parlamentarischen Beratung - mit Expertenanhörung, mit dem Versuch der Folgenabschätzung, mit Auseinandersetzung,
mit Kompromißsuche - durch eine Kommunikation
zwischen 80 Millionen Menschen ersetzen? Ich glaube,
daß das eine Illusion ist. Man kann das zwar gedanklich
konstruieren, aber nicht in der Wirklichkeit praktizieren.
Jedenfalls müssen Sie sagen, wie Sie es machen wollen,
wenn Sie es ernst meinen, damit das Plebiszit nicht zum
Instrument der großen Vereinfacher wird, die nur ja oder
nein kennen. Sie müssen sich mit der grundlegenden
Frage beschäftigen - Herr Marschewski hat es auch erPeter Enders
wähnt -, ob Sie die Anonymisierung von Verantwortung
wollen, die mit Plebisziten einhergeht? Denn wenn alle
entscheiden, entscheidet niemand mehr. Wer kritisiert
eigentlich den Volksentscheider? Noch wichtiger: Wer
korrigiert den Volksentscheider?
({1})
- Das Volk natürlich, in einem neuen Volksentscheid;
wer soll das auch sonst tun. Aber in welchen Zeitläuften
soll das geschehen? In fünf, zehn, 15 Jahren? Sie betonieren im Grunde durch Volksentscheide die politische
Entwicklung in einer Zeit, in der sich die Wirklichkeit
rasend schnell verändert.
Herr Kollege Röttgen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Ströbele?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege, wie paßt es dann in Ihre
Kritik - es ist ja auch eine Kritik der Entwürfe, die wir
vorgestellt haben -, daß auch in der parlamentarischen
Demokratie selbst wichtige Entscheidungen von wenigen getroffen und nur von wenigen durchschaut werden? Es sind allenfalls jene, die in einem Ausschuß sitzen und tatsächlich an Anhörungen teilnehmen; das
sind meistens weniger als 10 Prozent. Hingegen verlassen sich die anderen 90 Prozent in der Regel auf die
Entscheidungen oder den Rat der Kollegen und heben
dann die Hand oder werfen die Karte ein. Es treffen also nicht die 660 Volksvertreter eine inhaltliche Entscheidung nach guter Vorberatung, Anhörung usw.,
sondern eine Minderheit trifft die Entscheidung und die
anderen folgen ihr nur. Ähnlich wäre es bei einem Plebiszit doch auch.
Das bestätigt nur
meine Grundthese, daß wir es in vielen Fällen mit Sachverständigenthemen zu tun haben, bei denen selbst unter
denjenigen, die Politik als Beruf betreiben, also von
morgens bis abends dafür bezahlt werden - das können
wir von einem normalen Bürger nicht erwarten; es wäre
illusionär, dies zu erwarten -, wiederum die Experten
gefragt sind. Dies bestätigt im Grunde meine These, daß
es illusionär ist, solche Fragen etwa einem 80-Millionen-Volk vorzulegen.
Nun könnte man einwenden, es gehe ja nicht um das
Urheberrecht, das plebiszitär entschieden werden soll,
sondern es gehe um die großen Fragen, die in einer
Volksabstimmung entschieden werden sollen. Dies muß
aber nicht sein; es können auch, wie Herr Marschewski
gesagt hat, die lautstark vertretenen partiellen Interessen
sein. Aber in der Regel sind es sicher die großen Fragen
die in Volksabstimmungen entschieden werden. Bei diesen Fragen handelt es sich nicht um Expertenthemen,
sondern um Fragen, die in einer breiten Diskussion im
Parlament behandelt werden. Ich sehe mich durch Ihre
Kritik also eher bestätigt, als in meiner Auffassung erschüttert.
Ich will noch einen Punkt, den ich eben angesprochen
habe, vertiefen, indem ich auf die Entwicklungslinien,
die mit dieser Fragestellung verbunden sind, hinweise.
Dabei geht es auch um die Veränderung der ideellen
Grundlage der Demokratie bei Plebisziten. Jeder Abgeordnete ist dem Allgemeinwohl verpflichtet. Es wäre
neben der kommunalen auch eine bundespolitische Realität, daß mit Plebisziten partielle Interessen vertreten
werden. Sie werden häufig von lautstarken Minderheiten
artikuliert. Man braucht Geld, um so etwas erfolgreich
zu machen. Darin liegt eine große Gefahr. Ich glaube,
daß der Interessenlobbyismus in unserem Land stark ist
und daß die Allgemeinwohlorientierung eher unterstützt
werden muß. Plebiszite fördern eher die Vertretung partieller Interessen und drängen das Allgemeinwohl zurück.
Um es in dieser kleinen Runde am späten Abend
noch einmal zu sagen: Ich bin sehr dafür, daß wir vernünftig und nicht populistisch über diese Frage reden.
Wir müssen aber in diesem Zusammenhang auch über
die ernsthaften Schwierigkeiten diskutieren, die mit Plebisziten verbunden sind. Ansonsten ist diese Diskussion
nichts anderes als eine PR-Kampagne, was diejenigen,
die heute hier anwesend sind - so habe ich die Debattenbeiträge verstanden -, nicht wollen. Also muß schon
ein bißchen mehr Substanz geliefert werden.
Unsere Fraktion ist von der repräsentativen Demokratie, die verbesserungsbedürftig ist, sehr überzeugt.
Wir verschließen uns der Diskussion nicht, weisen jedoch auf fundamentale Gefahren hin, die durch die Einführung von plebiszitären Elementen entstehen können.
Die Diskussion darüber wollen wir aber gerne führen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf Drucksachen 14/1126 und 14/1129 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich möchte mich ausdrücklich bei all denjenigen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die bis zur
letzten Minute ausgeharrt haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. September 1999, 9 Uhr
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.