Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/1/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung nach Art. 56 des Grundgesetzes. Namens des Deutschen Bundestages und des Bundesrates begrüße ich alle Gäste aus dem In- und Ausland, die Besucher auf den Tribünen und die zahllosen Zuschauer an den Fernsehgeräten. Ich heiße Sie alle herzlich willkommen. ({0}) Besonders begrüße ich den scheidenden Bundespräsidenten, Herrn Professor Dr. Roman Herzog, und seine Frau Christiane Herzog. ({1}) Ebenso herzlich begrüße ich seinen Nachfolger Johannes Rau und seine Frau Christina. ({2}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verehrte Damen und Herren, heute morgen haben wir in einer langen und eindringlichen Debatte über 50 Jahre Demokratie in Deutschland diskutiert. Dabei stand der Abschied von Bonn im Mittelpunkt und der Dank für das, was von und in dieser Stadt in fünf Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland geleistet worden ist. Der Wechsel vom Rhein an die Spree steht schon in wenigen Tagen an. So ist diese gemeinsame Sitzung von Bundestag und Bundesrat zugleich die voraussichtlich letzte in diesem Plenarsaal. Wir haben uns hier zur Vereidigung und Amtseinführung des neugewählten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland versammelt. Gleichzeitig wollen wir Professor Roman Herzog danken, der nach fünf Jahren aus dem Präsidentenamt ausscheidet. Die Verabschiedung des bisherigen und die Amtseinführung des neuen Bundespräsidenten im Deutschen Bundestag in Bonn spiegelt jene Veränderungsprozesse wider, in denen wir seit 1990, dem Jahr der deutschen Einheit, stehen. Erinnern wir uns: Sie, sehr geehrter Herr Professor Herzog, wurden in der ersten gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat im Berliner Reichstagsgebäude am 1. Juli 1994 in Ihr Amt eingeführt. Als erstes der Verfassungsorgane haben Sie schon bald darauf Ihren Amtssitz nach Berlin verlegt. Ihr Nachfolger Johannes Rau wird als erster Bundespräsident von Anfang an im Schloß Bellevue amtieren. Gleichwohl haben sich beide, der bisherige wie der neugewählte Präsident, stets in besonderer Weise auch Bonn verbunden gefühlt. Wenn nun die Verabschiedung von Roman Herzog und die Amtseinführung von Johannes Rau im Rahmen der letzten Sitzung hier, im Bonner Plenarsaal, stattfinden, stiftet dies, so denke ich, eine Verbindung zwischen dem alten und dem neuen Parlaments- und Regierungssitz, eine Verbindung, der wir über den heutigen Dank an Bonn hinaus Bestand wünschen. ({3}) An die Spitze unseres Gemeinwesens haben die Väter und Mütter unserer Verfassung unseren Bundespräsidenten gestellt. Das höchste Staatsamt wird in besonderem Maße von der Persönlichkeit des Amtsinhabers geprägt. Sie, sehr geehrter Herr Professor Herzog, brachten hierfür eine Voraussetzung mit, die in dieser Form keiner Ihrer Vorgänger hatte. Als der Autor des maßgeblichen Verfassungskommentars zum Amt des Bundespräsidenten vermochten Sie die souveräne Kenntnis der Verfassungstheorie in die politische Praxis Ihrer Amtsführung einfließen zu lassen. Anders ausgedrückt: Bei schwierigen Fragen konnten Sie gewissermaßen mit sich selber zu Rate gehen. ({4}) Ich darf - sicher in unser aller Namen - feststellen: Diese ungewöhnliche Konstellation hat dem höchsten Amt in unserem Staat zusätzlichen Respekt verschafft. ({5}) In Ihrer Antrittsrede haben Sie 1994 klare Schwerpunkte gesetzt und sie in den folgenden Jahren - im ganz wörtlichen Sinne - abgearbeitet. Das Zueinanderführen der Menschen in Ost und West war Ihnen ein vordringliches und sehr persönliches Anliegen. Mit einer Vielzahl von Besuchen haben Sie, wie Sie gelegentlich humorvoll anmerkten, die ostdeutschen Landschaften, Städte und Gemeinden „durchpflügt“. Dabei ging es Ihnen vor allem um das Zuhören. Sie hatten stets ein offenes Ohr für die Probleme und Erfahrungen der Ostdeutschen. Damit haben Sie ein wichtiges Beispiel gesetzt, geht es doch darum, den oder die anderen mit ihren Lebensgeschichten ernst zu nehmen. Ihr Interesse, Ihre Offenheit und Einfühlsamkeit ist im Osten wie im Westen aufmerksam registriert worden. Dieses Engagement für das Zueinanderfinden der Deutschen wird von den Menschen nicht vergessen werden. Und noch wichtiger: Es hat Schule gemacht. Ihr besonderes Augenmerk galt der Notwendigkeit, veraltete Denkweisen und überkommene Strukturen zu verändern. Immer wieder machten Sie deshalb auf die Folgen der Globalisierung und des technologischen Wandels aufmerksam. Bildung und Ausbildung wieder zu dem ihnen gebührenden Stellenwert zu verhelfen war eine Ihrer gelungenen Anstrengungen, die sich aus dieser Überzeugung ergab. Bildung, die Sie immer in einem sehr umfassenden Sinne verstanden haben, ist unverzichtbare Voraussetzung für unser Zusammenleben, für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie wurden nicht müde, zu erklären, daß Bildung Voraussetzung für überzeugende, gelingende Zukunftssicherung ist. Nur wer bereit ist, stets weiter zu lernen, wer sich für Veränderung und Innovation offen zeigt, bleibt zukunftsfähig. Das gilt für den einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft insgesamt. In der immer enger zusammenrückenden Welt weisen diese Perspektiven über die Grenzen unseres Landes und unseres Kontinents hinaus. Diese Beziehungen zu unseren europäischen Nachbarn haben Sie umsichtig gepflegt und gefördert. Dabei lagen Ihnen enge Kontakte zu Osteuropa, namentlich zu Polen, besonders am Herzen. Dies ist auch von den Westeuropäern richtig verstanden worden: als das Ziel, das ganze Europa zusammenzuführen. Nur so können wir Deutsche unserer Verantwortung auch für andere Teile der Welt gerecht werden. Ihre Besuche auf den anderen Kontinenten unseres Globus, in Afrika und in Asien, im pazifischen Raum wie in Nord- und Südamerika haben dies immer wieder bewußt gemacht, den Gastgebern, aber auch uns selbst. In diesem Zusammenhang wird immer häufiger von der „einen Welt“ gesprochen. Sie, sehr geehrter Herr Professor Herzog, haben uns die Konsequenzen dieses Verständnisses vor Augen geführt. Leben in der einen Welt, das bedeutet, nicht mehr nebeneinander, sondern miteinander zu leben. Es bedeutet, aufeinander angewiesen zu sein. Wir müssen, so Ihre Aufforderung, begreifen, daß die globalen Probleme nur global, also gemeinsam gelöst werden können. In diesem Sinne - mit dem Ziel, Fremdheiten und Vorurteile abzubauen - haben Sie das Gespräch zwischen den Religionen und Kulturen gefordert und gefördert und als ein wichtiges Anliegen Ihrer Amtszeit begriffen und praktiziert. Dieser interkulturelle, auch interreligiöse Dialog kann nur gelingen - auch dies haben Sie immer wieder hervorgehoben -, wenn wir uns auf das Anderssein fremder Kulturen einlassen, was Offenheit, Sensibilität und Toleranz verlangt. Das Amt des Bundespräsidenten ist - wir wissen es in besonderer Weise dem geschriebenen und gesprochenen öffentlichen Wort verbunden. Wie kein anderes Amt eröffnet es die Chance, Denkanstöße zu geben und die Aufmerksamkeit auf Entwicklungen und Probleme zu lenken, die im gesellschaftlichen wie im politischen Bewußtsein nicht oder noch nicht so klar wie notwendig gesehen werden. Dies ist Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Herzog, auf unverwechselbare Weise gelungen. Sie haben so mit den Menschen gesprochen, daß Sie verstanden werden konnten. Die Klarheit und Eindringlichkeit Ihrer Sprache, Ihre ebenso präzisen wie prägnanten Formulierungen, Ihre Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte - für einen Juristen ja nicht selbstverständlich ({6}) zu übersetzen, haben die Distanz überwunden, die das höchste Staatsamt auch zu schaffen vermag. Das hat der Demokratie und der Würde Ihres Amtes gutgetan. Wir Politikerinnen und Politiker aller Parteien und auf allen Ebenen können uns daran wahrlich ein Beispiel nehmen. Allerdings, Ihren Humor und Ihre unverwechselbare Neigung zu milder Ironie wird wohl niemand wirklich nachahmen können. Aber gerade damit haben Sie dem höchsten Amt eine besondere Farbe gegeben, Ihren persönlichen Stempel aufgeprägt. ({7}) In allen diesen Aufgaben wurden Sie von Ihrer Frau Christiane unterstützt. Das Wort ist fast zu schwach. Sehr geehrte Frau Herzog, Sie haben sich engagiert, sich eingesetzt, sich bewährt, mit Leidenschaft gearbeitet und öffentlich gewirkt, als ob Sie selbst von der Bundesversammlung gewählt worden wären. ({8}) Sie waren sichtbar und wirklich die erste Frau in unserem Staat. Deshalb gebührt Ihnen persönlich unser besonderer Dank, unsere besondere Anerkennung. ({9}) Bei allem politischen Engagement haben Sie, sehr geehrter Herr Professor Herzog, die parteipolitische Neutralität Ihres Amtes gewahrt - aber nicht, indem Sie in der Sache selbst allen Meinungen gerecht zu werden suchten, sondern indem Sie durch Kritik, durch Anregungen einmal die eine, ein andermal die andere Seite besonders herausgefordert haben. Das ist eine wichtige, nachahmenswerte politische Kunst. Als heilsam werden es viele empfunden haben, vom Bundespräsidenten zu erfahren, daß es auch ein Leben neben der Politik gibt. Die Politik kann nicht alles, und sie ist auch nicht alles. ({10}) Der erste Bürger in unserem Gemeinwesen hat uns in den vergangenen fünf Jahren gezeigt, was es heißt, nah beim Leben der Menschen zu sein. Ihr Beispiel beweist, Präsident Wolfgang Thierse daß es sich lohnt, auf die Bürgerinnen und Bürger zuzugehen, sie anzuhören und zum persönlichen Engagement für die parlamentarische Demokratie zu ermutigen. In diesem Sinne, sehr geehrter Herr Professor Herzog, wird Ihre fünfjährige Amtszeit gewiß noch reiche Früchte tragen. Hierfür danken wir Ihnen sehr herzlich. Wir wünschen Ihnen, Ihrer Frau und Ihrer ganzen Familie für die Zukunft alles Gute und Gottes Segen. ({11}) Und nun zu Ihnen, Herr Rau; ({12}) denn es gehört sich, daß ich in dieser Stunde wenigstens ein paar Worte an Sie richte. Sie werden, sehr geehrter Herr Rau, heute Ihr Amt antreten, in das die Bundesversammlung Sie am 23. Mai gewählt hat. Dieses Amt steht auch für die Kontinuität der deutschen Demokratie, von der man ja nicht mehr sagen kann, daß sie ganz jung sei. Zugleich bedeutet jede Persönlichkeit, die dieses Amt antritt, einen Neuanfang, und das ist gut so. Es ist ein schöner Anfang, daß die Bundesversammlung offenbar eine Wahl getroffen hat, die mit der Wahl der Mehrheit der Menschen im vereinten Deutschland übereinstimmt; sie bringen Ihnen Vertrauen entgegen. Ich wünsche Ihnen im Namen aller, die hier versammelt sind, in diesem Sinne eine glückliche Hand. ({13}) Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, Herr Ministerpräsident Roland Koch.

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Meine Herren Präsidenten! Herr Bundestagspräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie werden verstehen, daß ich die ehrenvolle Aufgabe, in Namen des Bundesrates zu Ihnen zu sprechen, mit dem Zögern desjenigen beginne, der unter den Ministerpräsidenten an Lebensjahren und an Amtsjahren der mit Abstand jüngste ist. Aber vielleicht ermöglicht es gerade diese Tatsache, Empfindungen aus der Sicht der jedenfalls gerade noch jüngeren Generation Ihnen gegenüber, meine sehr verehrten Herren Präsidenten, zu formulieren. Der Bundespräsident übt ein Amt aus, das jenseits des politischen Alltags steht. Dennoch lassen sich mit jeder Präsidentschaft auch zeitgeschichtliche Veränderungen beschreiben. Sie, sehr geehrter Herr Präsident Herzog, waren der erste Präsident, der von Abgeordneten aus den alten und den jungen Bundesländern gemeinsam gewählt wurde. Ihre Amtszeit wird mit dem Prozeß des Zusammenwachsens unseres Landes eng verbunden bleiben. Dabei wollen wir uns - darauf haben Sie immer Wert gelegt - nicht selbst täuschen. Wir sind noch nicht vollständig zusammengewachsen. Aber Sie haben in einer sehr klaren und menschlichen Art Gräben zugeschüttet, Brücken gebaut und dort, wo Sie es für notwendig hielten, die Planung von Brücken von denen verlangt, die in der Verantwortung stehen. Als jemand, der in seinem Leben auch eine nennenswerte Zahl von Jahren einer Landesregierung angehört hat, bevor ihm andere hohe Ämter und dann das höchste Staatsamt übertragen wurden, haben Sie immer nach den Prinzipien des Föderalismus gelebt und gearbeitet. Für Sie als „überzeugten Bayern, der berufsbedingt viel in der Welt herumgekommen ist“ - so beschreiben Sie sich selbst -, zeichnet sich lebendiger Föderalismus dadurch aus, daß er den Menschen Zugehörigkeit und Heimat vermittelt. Dieser Föderalismus, in dem der Bund aus der Souveränität der Länder Gestaltungsrechte erhält und eben nicht die Länder von der Gewährung von Rechten durch den Bund abhängig sind, ist die Wurzel von Wachstum und Entwicklung in vielen Lebensbereichen. Das strikte Verlangen der Bürgerinnen und Bürger in den fünf neuen Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie im Ostteil Berlins nach Eigenständigkeit in ihren Bundesländern, das nach der Wende zum Ausdruck kam, ist ein Beweis dafür, daß es sich beim Föderalismus um eine Konstruktion unserer Verfassung handelt, die die Menschen ausdrücklich gewollt und gefordert und nicht nur hingenommen haben. Das ist für eine politische Struktur in unserer Zeit nun wirklich nicht selbstverständlich. Das föderale Prinzip hat sich in vielerlei Hinsicht bewährt. Das wird nicht heißen, daß alles unabänderlich festgeschrieben bleibt. Sie selbst waren häufig daran beteiligt und haben auch manches Mal angekündigt, sich möglicherweise weiter daran beteiligen zu wollen, über die Frage nachzudenken, wie - eventuell über eine Entflechtung von Aufgaben, Einnahmen und Ausgaben - das föderale Prinzip auch im 21. Jahrhundert und auf Dauer Bestand haben könnte. Bei einer solchen Neuvermessung staatlicher Aktivitäten wird es darauf ankommen, Denkblockaden aufzulösen, damit Veränderungen des Gewachsenen dort möglich sind, wo wir sie brauchen. Dazu haben Sie in der Vergangenheit manch offenes Wort gesagt. Es fügt sich, daß im Wechsel zu Herrn Bundespräsidenten Rau gerade in Ihrer Rede, die Sie zum 50jährigen Jubiläum des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahre 1996 im nordrhein-westfälischen Landtag gehalten haben, vieles zum Föderalismus zu lesen ist. Föderalismus und die Beseitigung von Denkblockaden sind zwei Stichworte, die mich ebenso wie Herrn Bundestagspräsidenten Thierse zu dem Thema führen, das Ihnen, zumindest in der zweiten Hälfte Ihrer Amtszeit, öffentlich sichtbar mehr am Herzen gelegen hat als jedes andere. Ich meine die Zukunft von Bildung und Ausbildung in Deutschland. Sie haben mit Ihren Positionen in dieser Frage durchaus in die Politik jedes einzelnen Bundeslandes eingewirkt. Die Bundesregierung soll so etwas nicht tun, sagen wir im Bundesrat. Aber der Bundespräsident kann, darf, ja vielleicht muß er in der Klammerfunktion, die er hat, gelegentlich sogar so agieren. Ich bin sicher, eine ganze Generation junger Menschen, Millionen von Eltern, aber auch viele andere, die von unserem Weg in die Wissensgesellschaft überzeugt sind, danken Ihnen für das Engagement, das Sie für dieses Feld gefunden haben, Herr Bundespräsident. ({0}) Präsident Wolfgang Thierse Sie haben eine Bresche für die Priorität von Bildung, für den Wiedereinzug von Qualitätsstandards geschlagen. Sie haben vielen Menschen Mut gemacht, den Wettbewerb aufzunehmen, eine mit Charakter und Selbstvertrauen, mit Wissen und Können und mit Leistungsbereitschaft und Hilfsbereitschaft ausgestattete neue Generation auf einen Spitzenplatz in der Welt vorzubereiten. Ohne einen Anspruch auf historische Bewertungen, vor denen wir uns alle stets hüten sollten, zu erheben, bin ich sicher, daß Sie zumindest auch als der „Bildungspräsident“ in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen werden. Dabei haben Sie ganz zweifellos gelegentlich die Grenzen der bloßen Repräsentation überschritten. In Ihrer bereits erwähnten Rede vor dem nordrheinwestfälischen Landtag haben Sie von dem „scharfen Schwert der Festrede“ gesprochen ({1}) und die Präsidialaufgabe als Verpflichtung zur Offenlegung von Problemen bei gleichzeitiger Zurückhaltung im Blick auf Lösungsvorschläge definiert. Mit Ihrer sogenannten Ruck-Rede im neuen Adlon in Berlin haben Sie dann diese Zurückhaltung etwas aufgegeben. Nicht etwa, daß daraus die Übernahme der Bundesregierung durch den Bundespräsidenten geworden wäre. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Dr. Roman Herzog, hat nie die Grenzen seines Amtes überschritten. Aber Sie hielten es für erforderlich, die endlose Debatte um Lösungsvorschläge durch die Bewertung der Lösungsvorschläge und die Forderung nach präziser Entscheidung zu beschleunigen. Sie haben die Bürgerinnen und Bürger darauf hingewiesen, daß diese Sachentscheidungen ohne ein klares Bild von der eigenen Zukunft nicht getroffen werden können. Zuerst müssen wir uns darüber klarwerden, in welcher Gesellschaft wir im 21. Jahrhundert leben wollen. Wir brauchen wieder eine Vision. Visionen sind nichts anderes als Strategien des Handelns. Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet. Sie können ungeahnte Kräfte mobilisieren. Ich erinnere nur an die Vitalität des American Dream, an die Vision der Perestroika, an die Kraft der Freiheitsidee im Herbst 1989 in Deutschland. So sagten Sie in Ihrer Rede. Der Diskussion um die Zukunft Deutschlands einen neuen, festen Ankerpunkt zu geben war das Ziel Ihrer Adlon-Rede, und Sie haben dieses Ziel erreicht. Keineswegs haben Sie alle Probleme in Deutschland mit dieser Rede gelöst, aber Sie haben es allen in Deutschland schwerer gemacht, an diesen Problemen vorbeizusprechen. Und das ist die Aufgabe des scharfen Schwertes des Wortes des Bundespräsidenten, wie Sie dies formuliert haben. ({2}) Meine Damen und Herren, die Kraft von Visionen wird durch Menschen vermittelt. Ihr Mut und Ihre Kraft zu Visionen, Herr Bundespräsident Herzog, hat vielen Menschen in diesem Land Mut zur Zukunft gegeben. Dafür danke ich Ihnen im Namen des Bundesrates und, ich denke, im Namen aller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ganz herzlich. ({3}) Verehrte Frau Herzog, unsere Verfassung sieht, wie bereits gesagt, eine besondere Rolle für den Ehepartner an der Seite des Staatsoberhauptes nicht ausdrücklich vor. Selbst in der Kommentarliteratur ist Näheres dazu nicht zu finden. Dennoch wissen wir alle, daß es diese Rolle gibt. Sie haben in großer Selbstverständlichkeit die Bürden mitgetragen, die mit diesem Amt verbunden sind. Wer Sie beobachtete, konnte auch vermuten, daß Sie es mit Freude getan haben. Sie haben Ihre Aufgabe an der Seite des Bundespräsidenten in vorbildlicher Weise erfüllt und haben sich gerade durch Ihr soziales Engagement bleibende Verdienste erworben, wobei viele Ihnen heute eigentlich zu versprechen haben, daß sie Sie weiter unterstützen werden; denn die Amtszeit des Bundespräsidenten endet, die Amtszeit etwa der Präsidentin der MukoviszidoseStiftung endet nicht. Das sei für alle, die dafür noch etwas tun wollen, gesagt. ({4}) Sie haben dabei Ihren eigenen Stil geprägt, der im Inund Ausland große Anerkennung gefunden hat. Im übrigen haben Sie - wenn Sie mir die Bemerkung erlauben begeisterten Hobbyköchen wie mir ein neues Stück präsidiales Selbstwertgefühl gegeben. ({5}) Auch Ihnen gebührt der Dank des Bundesrates, den ich an dieser Stelle aus ganzem Herzen ausspreche. ({6}) Herr Bundespräsident Rau, Ihnen wünschen der Bundesrat, alle Landesregierungen und - da bin ich sicher auch alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes eine glückliche Hand bei der Vertretung der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Wunsch schließt alle guten Wünsche für Ihre Frau ein, Sie in diesem herausfordernden Amt zu begleiten. Herr Bundespräsident, Sie waren fast drei Jahrzehnte lang Mitglied des Bundesrates, davon 20 Jahre Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie sind der erste Präsident, der es in seiner Amtszeit geschafft hat, zweimal Präsident des Bundesrates gewesen zu sein. Da nach unserer Verfassung die Befugnisse des Bundespräsidenten im Falle seiner Verhinderung durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen werden, läßt sich sicher insoweit schon von einer gründlichen Vorbereitung auf dieses Amt sprechen. ({7}) Es ist gut zu wissen, daß mit Ihnen ein überzeugter Föderalist Bundespräsident wird, der sicher auch in seinem neuen Amt der Rolle des Bundesrates und den Belangen der Länder besonderes Verständnis entgegenbringen wird. Präsident des Bundesrates Roland Koch Wie in meinem Dank an Präsident Herzog schon zum Ausdruck gebracht, ist das Amt des Bundespräsidenten auf moralische Autorität und prägende Kraft der Persönlichkeit ebenso angewiesen wie auf die Wirkung des Wortes. Sie haben sich durch Ihr bisheriges Wirken und auch auf Grund Ihres christlichen Menschenbildes mit hohem moralischen Anspruch Achtung und Sympathie erworben. Sie können den Menschen zuhören und sind auf Ausgleich bedacht. Wir wünschen uns, daß Sie wie Ihr Amtsvorgänger ein bürgernaher, volksverbundener Bundespräsident sein werden, ein bibelfester noch dazu. Meine Damen und Herren, in den Jahrzehnten nach uns werden Historiker diesen Tag auch als den tatsächlichen Wechsel von Bonn nach Berlin betrachten. Über die Frage, ob es dann eine Bonner oder eine Berliner Republik ist, wird viel gesprochen. Mit Ihnen, Herr Bundespräsident Rau, symbolisiert diesen Umzug ein Mann, der in Bonn über 30 Jahre Politik mitgestaltet hat. Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR strebten nach dieser Bonner Republik, als sie riefen: „Wir sind ein Volk“. Natürlich sind wir in 50 Jahren die Berliner Republik. Aber die Historiker werden, so hoffe ich, erkennen, daß sich dabei das Berlin des zentralistischen Preußens weit mehr gewandelt hat als der gelungene und gelebte Föderalismus der 50 Jahre Hauptstadt Bonn. In diesem Sinne sind Sie ein Botschafter auf dem Weg zwischen den beiden Hauptstädten in ihrer zeitgeschichtlichen Entwicklung. Herr Bundespräsident, ich schließe mit einer - aus meiner Sicht richtigen - Beschreibung der vor uns liegenden Herausforderungen aus dem Munde Ihres Amtsvorgängers Roman Herzog, wie er sie im Mai 1998 formuliert hat: Vor uns liegt ein neues Zeitalter, in dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß, ein Zeitalter, das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt, ein europäisches Zeitalter, in dem die neuen Institutionen in den Köpfen und Herzen der Bürger verankert sein müssen. Herr Bundespräsident Rau, wir wünschen Ihnen Erfolg. Auf unsere Hilfe können Sie bauen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Präsident Professor Roman Herzog, Sie haben das Wort. ({0}) Dr. Roman Herzog: Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Das ist also jetzt die Stunde des Abschiednehmens. Seit heute nacht, 0 Uhr, ist Johannes Rau Bundespräsident. Ich wünsche ihm und seiner Frau von dieser Stelle aus noch einmal von Herzen alles Gute für die kommenden Jahre. ({1}) An mir ist es jetzt, mich von den hier versammelten Mitgliedern beider Häuser, von der Bundesregierung, von den diplomatischen Vertretern von insgesamt 175 Staaten, ganz besonders aber von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu verabschieden. So, wie ich geartet bin, kann ich das nicht ohne jeden ironischen Rückblick auf jene Sorgen tun, die sich vor fünf Jahren viele im Hinblick auf meine damals bevorstehende Präsidentschaft gemacht haben. ({2}) Am harmlosesten war damals noch die tiefempfundene Sorge, ob ich mich immer korrekt und geschmackvoll genug kleiden würde. ({3}) Der Verdacht war bald entkräftet, da mich schon 1995 ein Institut, dessen Name mir freilich entfallen ist, zum bestgekleideten deutschen Politiker erklärte. ({4}) Ich habe das zwar schon damals für eine heillose Übertreibung gehalten, und heute, Herr Bundeskanzler, wäre ich ohnehin höchstens der zweiteleganteste; ({5}) aber ich muß schon sagen: Das entlastete mich von einer schwer auf mir lastenden Hypothek. ({6}) Länger muß wohl der Zweifel an meinem beruflichen Fleiß gewirkt haben, den der seinerzeitige Bundeskanzler mit Zitaten hervorgerufen hatte und der, wie es so geht, nach Leibeskräften kolportiert wurde. Es hat immerhin fast drei Jahre gedauert, bis die ersten nicht minder besorgten Fragen laut wurden, ob ich nicht eigentlich zuviel machte. ({7}) Auch das hat sich zwar wieder eingependelt; aber interessant war schon, wie es oft dieselben waren, die bald die eine, bald die andere Sorge drückte, gewissermaßen nach dem Motto: Hauptsache, ich habe eine Sorge; welche, ist nicht so wichtig. ({8}) Dann natürlich die Vokabel „unverkrampft“! ({9}) Ich weiß bis heute nicht, wer eigentlich damals auf die Idee gekommen ist, ich hätte dieses Wort ausgerechnet auf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit gemünzt. Mittlerweile ist aber wohl klar geworden, was ich wirklich gemeint hatte: die Abkehr von jeder gravitätischen Anwandlung, die den Träger eines so hohen Amtes mitunter wohl plagen mag, den völlig unprätentiösen Umgang mit unseren Partnern und Freunden in Präsident des Bundesrates Roland Koch aller Welt, die Klarheit und Wahrhaftigkeit im Denken und Reden, eine ziemlich unbekümmerte Vorurteilslosigkeit nach allen Seiten - ja und wohl auch ein bißchen von jener Chuzpe, aus der die bisherigen Sätze dieser Rede entsprungen sind. ({10}) Manch einer mag nun erwarten, daß ich Ihnen und dem deutschen Volke eine Art politisches Vermächtnis hinterlasse. Aber, meine Damen und Herren, das werde ich nicht tun, und zwar aus zwei Gründen. Erstens habe ich das, was mir besonders wichtig ist, schon am 24. Mai im Reichstag zum Ausdruck gebracht, zum 50. Geburtstag unseres Staates. Zweitens scheide ich, wie ich schon wiederholt gesagt habe, heute ja nur aus dem Amt und nicht aus dem Leben. ({11}) Ich behalte mir schon das Recht vor, auch in Zukunft zu sagen und vor allem zu schreiben, was ich für richtig halte. ({12}) Statt dessen möchte ich - und das nun im Ernst - ein paar Sätze darüber sagen, wie ich in diesen fünf Jahren mein Amt verstanden habe. Das läßt sich unter zwei Überschriften zusammenfassen: das Einende betonen und das Langfristige ins öffentliche Bewußtsein rufen. Das, was wir gemeinhin als „Politik“ bezeichnen, wird nach unserer Verfassung von Parlament und Regierung entschieden; und wenn sie es halbwegs gut machen, integrieren sie dadurch auch das Staatsvolk. Zu den eher rationalen Wurzeln dieser Integration gehört unter anderem die Überzeugung der Bürger, in einem halbwegs gerechten und guten Staat zu leben, gehören also Phänomene, die wir mit den Begriffen Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Menschenrechte zu bezeichnen pflegen. Sie alle haben - ob wir das wahrhaben wollen oder nicht - mehr oder weniger auch den allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstand zur Voraussetzung. So kommt es wohl nicht ganz von ungefähr, daß der Oberbegriff, der in diesem Zusammenhang immer häufiger gebraucht wird, die „Leistungsfähigkeit“ des Staates ist - nicht im Sinne finanzieller Leistungen, sondern im Sinne der Fähigkeit zu gestalten. Der Bürger vertraut sich dem Staat an, weil und insoweit er von ihm die Lösung jener Probleme erwartet, die er vor sich sieht und mit denen er selbst nicht fertig zu werden befürchtet. Parlament und Regierung integrieren heute also vorwiegend durch „politische Leistung“ oder - ich sage es deutlicher - durch eine überzeugende Sachpolitik. Die Dinge liegen um so besser, je weniger für andere, speziell für den Bundespräsidenten, Anlaß besteht, sich in die Entscheidungsprozesse beider Verfassungsorgane einzumischen. Nur stehen Parlament und Regierung dabei vor einer prinzipiellen Schwierigkeit: Die Regierung und die sie tragende Parlamentsmehrheit haben eben meist nicht das Volk, sondern bestenfalls die Hälfte des Volkes hinter sich. Daher können sie selbst durch die bestgemeinte Politik nicht nur integrieren, sondern werden zugleich stets auch polarisieren. Wir haben das in den vergangenen Jahren immer wieder erlebt und erleben es zur Zeit gerade wieder sehr deutlich. Die Summe der Zentripetalkräfte, die es in einer Gesellschaft gibt, muß aber größer sein als die Summe der Zentrifugalkräfte. Sonst ist das Gemeinwesen auf die Dauer nicht lebensfähig. ({13}) Das gilt in pluralistischen Gesellschaften ganz allgemein - auch dort, wo der Staat von Verfassungs wegen eigentlich gar nichts zu sagen hat. Da ist es gut, wenn es neben den politischen Organen noch eine Instanz gibt, die das betont, was die konkurrierenden, ja streitenden Gruppen trotz allem als das ihnen Gemeinsame besitzen. Das habe ich redlich versucht - nicht nur durch meine Reden zum demokratischen Staatsverständnis und nicht nur durch eine bewußt unverschnörkelte Rhetorik, sondern auch durch die Schwerpunkte, die ich bei Besuchen, bei Einladungen, bei Auszeichnungen und nicht zuletzt in Fernsehgesprächen zu setzen versucht habe, und vor allem durch geduldiges und ernsthaftes Zuhören, wo ein belehrendes Reden nur gestört hätte. Ich sage: Ich habe es versucht, besonders auch in den östlichen Bundesländern, die ich von hier aus noch einmal besonders grüße. Ob mir das gelungen ist, brauche ich gottlob nicht zu entscheiden. Das müssen andere tun. Dasselbe gilt natürlich für die zweite Grundlinie meiner Amtsführung: die Betonung des Langfristigen. In einer Massen- und vor allem Mediendemokratie wie der unseren gibt es unvermeidlich das, was man die Priorität des Kurzfristigen nennt. Die Fragen des jeweiligen Jahrfünfts entscheiden die Wahlen, sie beschäftigen fast ausschließlich die Medien und beherrschen infolgedessen vorzugsweise auch das Denken der politischen Eliten. Zwar sollte niemand behaupten, daß unsere führenden Politiker die langfristigen Trends, ihre Chancen und ihre Gefahren nicht im Blick hätten - das weiß ich aus unendlich vielen Gesprächen -, aber im Vordergrund steht für sie zwangsläufig das Kurzfristige, das sich in den obligaten 90-Sekunden-Statements unseres Fernsehens noch einigermaßen abhandeln läßt. Doch ich finde, auch hier muß es - nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch unter den obersten Staatsorganen - zumindest einen geben, der die langfristigen Entwicklungen vorrangig im Auge hat und der sie deutlicher ins öffentliche Bewußtsein hebt, als es den für die Tagespolitik Verantwortlichen möglich ist. Meine Reden zu Fragen der Wirtschafts-, Steuer- und Rechtsreform, zu Bildungsfragen, zur Einschätzung von Wissenschaft und Technik, zur Rolle von Softpower und Menschenrechten in der Außenpolitik, zur europäischen Integration und zum weltweiten Dialog der Kulturen sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Hier zeigt sich auch - das ist als Nachtrag zu meiner Kommentierung, in der das nicht steht, zu verstehen; das habe ich dazugelernt -, daß der deutsche Bundespräsident keineswegs Dr. Roman Herzog nur auf das Wort verwiesen ist, sondern auch durch konkrete Initiativen wirken kann. Ich erinnere hier nur an den von mir gestifteten Innovationspreis, an meine Mitwirkung an den verschiedensten Existenzgründerinitiativen und nicht zuletzt an die weltweite Initiative zum Dialog der Kulturen, der sich mittlerweile fast ein Dutzend Staatsoberhäupter aus westlichen und islamischen Staaten angeschlossen haben. Bei diesem Verständnis meines Amtes konnte es nicht ausbleiben, daß mein vorrangiger Ansprechpartner - das ist häufig mißverstanden worden - oft nicht die Staatsorgane waren, wie es manche Medien in ihrem Wunsch nach Konflikten wohl gerne gesehen hätten, sondern daß es die Gesellschaft der freien Bürger war. Auf diese freien Bürger, auf ihre Phantasie, auf ihre Kreativität und ihren Wagemut kommt es nämlich in einem freien Gemeinwesen vor allem anderen an. ({14}) In einem solchen Gemeinwesen genügt es meines Erachtens für den Präsidenten eben nicht, wie der Chor in der griechischen Tragödie um Staat und Politik zu kreisen und beider Handeln zu kommentieren. Die Staatsverliebtheit, die uns Deutsche wie im übrigen auch viele andere Europäer auszeichnet, steht ihm schon gar nicht an; denn der Staat ist in unserem Gesellschaftssystem bedeutend weniger als das, was wir Gemeinwesen nennen. Der Präsident hat für das Gemeinwesen insgesamt dazusein, so jedenfalls meine Auffassung von diesem Amt. ({15}) Deshalb habe ich auch stets darauf geachtet, mich als Bürger unter Bürgern zu bewegen. Unsere Mitbürger haben mich auch so verstanden. Ihr Zutrauen, ja die Zuneigung, die ich in diesen Tagen so sehr verspüre, ist Beweis dafür. Die Distanz, die auch nötig ist, habe ich zu wahren versucht. Ein Präsident zum Anfassen wollte ich nie sein, wohl aber ein Präsident zum Ansprechen und zum Verstehen. Ich hoffe, auch das ist mir einigermaßen geglückt. Natürlich haben sich in mir nicht alle wiederfinden können. Auch das gehört dazu. Ein Präsident soll schließlich reden, aber er soll nicht jedem nach dem Munde reden. Dafür hat der liebe Gott jedenfalls mir nicht die grauen Zellen gegeben und schon gar nicht die Kraft des Wortes und der Argumente. ({16}) Am Ende dieser fünf Jahre habe ich vielen Menschen und vielen Institutionen zu danken, den Regierungen, die in dieser Zeit Verantwortung für unser Land getragen haben und noch tragen, den übrigen Verfassungsorganen, den hohen Repräsentanten der Länder, den politischen Parteien, den Gewerkschaften und anderen großen Verbänden, den Kirchen und Religionsgemeinschaften und einer ganzen Reihe von Stiftungen, nicht zuletzt auch den zahllosen Bürgern, die mich durch Zuspruch und Kritik mitgetragen haben. Aber einem Menschen möchte ich namentlich Dank sagen. Das ist meine Frau, die heute schon erwähnt worden ist. ({17}) Sie wird mir zwar nachher vorhalten, das hätte ich auch unter vier Augen tun können - das Manuskript hat sie nicht gelesen - aber einmal mußte es, wie ich glaube, in der Öffentlichkeit geschehen, in die sie durch mein Amt zwangsläufig hineingezogen worden ist. Wir haben es in diesen Jahren so gehalten, wie wir es in unserer Ehe immer gehalten haben: Wir sind, soweit es sich irgendwie vertreten ließ, getrennt marschiert, aber wir haben vereint geschlagen - oft bis zu einem Grade, der manche besorgt fragen ließ, ob unsere Ehe denn überhaupt noch hinreichend glücklich sei. Meiner Frau hat diese Methode eine starke eigene Rolle und ein unbestreitbares Eigengewicht eingebracht. Aber sie hat ihr auch mehr Lasten aufgeladen, als ich ihr von Rechts wegen hätte zumuten dürfen; dessen bin ich mir sehr wohl bewußt. Doch auch unsere gemeinsame Vorstellung von einer guten Ehe will ich hier nennen: gleiche Rechte, ein gleiches Maß an Pflichten, große Selbständigkeit beider Partner in ihrer Arbeit - und dennoch am gleichen Strang ziehen. ({18}) Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie uns wirklich Abschied nehmen. Wir beide freuen uns darauf, ins Glied zurückzutreten und als freiere Bürger und Zeitgenossen ein freieres Leben als bisher zu führen, als einfache Glieder des deutschen Volkes, dem wir so gut gedient haben, wie es uns mit unseren Stärken und Schwächen eben möglich war, und das wir nicht aufhören werden zu lieben. Danke sehr. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

In Respekt vor Ihrer Leistung haben sich die Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates erhoben und damit im Namen des ganzen deutschen Volkes bekundet: Roman Herzog hat sich um unser Vaterland verdient gemacht. ({0}) Meine Damen und Herren, am 23. Mai dieses Jahres hat die Bundesversammlung Herrn Johannes Rau zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Herr Johannes Rau hat vor der Bundesversammlung diese Wahl angenommen und mit dem heutigen Tag das Amt des Bundespräsidenten angetreten. Nach Art. 56 des Grundgesetzes leistet der Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den vorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundespräsident, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten. Dazu bitte ich auch den Herrn Präsidenten des Bundesrates. ({1}) Dr. Roman Herzog Ich reiche Ihnen die Originalausgabe des Grundgesetzes und bitte Sie, den vorgeschriebenen Amtseid zu leisten.

Not found (Gast)

Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich stelle fest: Der Herr Bundespräsident hat den vorgeschriebenen Amtseid geleistet. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Amt und wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen für Sie und für unser Vaterland. ({0}) Das Wort hat nun der Herr Bundespräsident.

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Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Ich danke für die guten Wünsche, die ich heute von dieser Stelle aus mit auf den Weg bekommen habe. Ich empfinde sie ebenso als Ansporn und Ermutigung wie die große Mehrheit der vielen Briefe, die mich seit dem 23. Mai erreicht haben. Ich freue mich über das große Vertrauen, das viele in mich setzen. Das ist mir genauso ernsthafte Verpflichtung, wie ich für die kommenden Jahre kritische Wegbegleitung erbitte. Mein besonderer Dank gilt heute dem Mann, dessen Mitbewerber ich vor fünf Jahren war und dem ich heute nachfolge: Professor Dr. Roman Herzog. Lieber Herr Herzog, fünf Jahre lang haben Sie unser Land in aller Welt repräsentiert. Sie haben das auf Ihre unverwechselbare Art und Weise und mit Ihrem Temperament getan: mit klarer Sprache, direkt, ohne Schnörkel und unverblümt. Jeder konnte spüren, was Ihnen wichtig war, und auch, daß Sie sich selber nicht für am wichtigsten hielten. Dazu haben Sie mit Ihrem Witz und Ihrer Selbstironie beigetragen, auch heute wieder - Eigenschaften, die deutschen Hochschullehrern, zumal der Jurisprudenz, durchaus nicht allgemein nachgesagt werden. ({0}) Das, was Sie zur jüngeren deutschen und europäischen Geschichte gesagt haben, und auch, daß Sie zur richtigen Zeit und am richtigen Ort geschwiegen haben, hat das Vertrauen in unser Land gestärkt. Dafür danke ich Ihnen. Vor Ihnen liegen jetzt Jahre, in denen Sie sich wieder der Wissenschaft widmen wollen. Da darf man gespannt sein: Welche Konsequenzen werden die praktischen Erfahrungen des Bundespräsidenten Roman Herzog für den Grundgesetz-Kommentar des Staatsrechtlers Roman Herzog haben? Zuletzt haben Sie 1986 den Art. 54 unseres Grundgesetzes kommentiert, der die Aufgaben des Bundespräsidenten beschreibt. Ob wir mit einer baldigen Neukommentierung im Lichte eigener Erfahrungen rechnen dürfen? Herzlichen Dank sage ich auch Ihnen, liebe Frau Herzog. Ihnen ist es neben all den Aufgaben als Frau des Bundespräsidenten gelungen, mit großem Einsatz öffentliche Aufmerksamkeit für eine Krankheit zu wecken, die viele vorher nicht gekannt hatten, und dadurch vielen kranken Menschen zu helfen. Ganz besonders grüße ich von dieser Stelle aus auch zwei meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten: Richard von Weizsäcker, dem ich seit Jahrzehnten freundschaftlich verbunden bin, und meinen bergischen Landsmann Walter Scheel, der in der kommenden Woche seinen 80. Geburtstag feiern kann. ({1}) Meine Damen und Herren, heute in sechs Monaten schreiben wir den 1. Januar 2000. Das Jahr 2000 gewinnt in manchen öffentlichen Diskussionen einen Stellenwert, der ans Unwirkliche grenzt. Das gilt in anderer Weise auch für den Gebrauch des Begriffs Globalisierung. Wenn von Globalisierung die Rede ist, dann klingt das manchmal wie die Verheißung eines neuen Goldenen Zeitalters, manchmal aber auch, als würden alle Übel der Welt auf einen Begriff gebracht. Beides scheint mir falsch zu sein. Die Globalisierung bietet uns Deutschen und aller Welt große Chancen wenn wir sie recht verstehen und richtig gestalten. Tatsächlich ist Globalisierung ja nichts anderes als die Einsicht, daß wir in unserer e i n e n Welt stärker denn je voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind. Kein Land kann heute mehr sicher sein, daß eigene Fehler oder Fehler anderer nur deshalb ohne Folgen bleiben, weil es weit genug entfernt liegt, weil es wirtschaftlich leistungsfähiger, politisch einflußreicher oder militärisch stärker als andere ist. Weil uns das, was andere tun, selber mittelbar oder unmittelbar betrifft, kann es uns heute weniger denn je gleichgültig lassen, was in der Welt geschieht. Freilich: Nicht jedes Land hat politisch und auch nicht jedes Unternehmen hat wirtschaftlich das gleiche Gewicht. Einige können stärker dazu beitragen, daß alle Vorteile oder Nachteile haben. Man braucht kein Kenner und kein Liebhaber der Chaostheorie zu sein, um zu wissen, daß kleinste Veränderungen an einer Stelle ganz unvermutete und oft große Folgen an anderer Stelle haben. Die Globalisierung der Wirtschaft hat besondere Bedeutung. Sie stellt an uns alle die Frage neu nach dem richtigen Verhältnis zwischen privat bestimmtem wirtschaftlichen Handeln und demokratisch bestimmtem öffentlichen Handeln. Verantwortliche Politik muß dieses Verhältnis neu ordnen und muß die Frage beantworten, welche öffentlichen Aufgaben regional, welche national und welche nur international erfolgreich gelöst werden können. Dabei will, soweit ich sehe, niemand alte Schlachten schlagen. Daß der Markt als Mechanismus des Wirtschaftslebens allen anderen Prinzipien überlegen ist, wird nirgendwo und von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Ganz unterschiedliche Auffassungen gibt es aber darüber, was der Markt kann, welchen Rahmen er braucht und welche Grenzen ihm politisch gesetzt werden müssen. Genau darum - um nicht weniger und um nicht mehr - geht der wesentliche gesellschaftspolitische Streit nicht nur bei uns in der Bundesrepublik DeutschPräsident Wolfgang Thierse land. Darüber streiten Wissenschaftler und Politiker, Gewerkschafter, Unternehmer und Intellektuelle in Frankreich und in den Vereinigten Staaten von Amerika genauso wie in Japan und Großbritannien. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von den politischen Parteien Antworten darauf, wie privates Wirtschaften und öffentliche Verantwortung in Zeiten der Globalisierung im Interesse aller in ein neues Gleichgewicht gebracht werden können. Die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bei uns zu Hause und im Weltmaßstab gelöst werden soll, muß in ungezählten praktischen Fällen immer wieder neu beantwortet werden. Maßstäbe dafür bieten weder die Betriebswirtschafts- noch die Volkswirtschaftslehre. Es kommt darauf an, welches Bild vom Menschen und welches Bild vom Zusammenleben der Menschen wir haben. Das ist eine Frage, die jeden einzelnen angeht und die - bewußt oder unbewußt - unser Handeln prägt. Die Politik darf dieser Frage nicht ausweichen, weder durch Flucht in weltfremde Ideologien noch durch das Verstecken hinter angeblichen Sachzwängen. ({2}) In der Politik geht es nicht um letzte Wahrheiten, sondern um richtige Lösungen. Der politische Streit sollte jeweils um die Frage gehen, welcher Vorschlag der beste im Interesse aller oder im Interesse der vielen ist. Nur dann kann etwas von dem aufscheinen, was Hannah Arendt in die Worte gefaßt hat: „Politik ist angewandte Liebe zur Welt.“ ({3}) Wir politisch Verantwortlichen müssen die Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen. Wir dürfen sie weder in Angst und Schrecken versetzen noch in falscher Sicherheit wiegen. Sie wollen wissen, woran Sie sind. Sie haben Anspruch darauf zu erfahren, was die Politik will und worin sich die politischen Parteien unterscheiden. In der Demokratie ist es unerläßlich, daß die politischen Parteien deutlich machen: Es gibt Wege in die Zukunft, auch ganz unterschiedliche Wege, jenseits von Beliebigkeit und Prinzipienreiterei. In der Demokratie geht es nur in extremen Ausnahmefällen um „alles oder nichts“. Darum ist es bei aller Grundsatztreue besser, kleine Schritte wirklich zu gehen, als darüber zu klagen, daß sich die Menschen für den großen Wurf nicht begeistern können. Das bedeutet nicht, auf weitgesteckte Ziele zu verzichten. Im Gegenteil: Weil der Weg zu einem politischen Ziel oft um viele Ecken und über viele Umwege führt, sind Weitsicht und Vorausdenken besonders wichtig. Stärker denn je müssen wir daran denken, welche Folgen politische Entscheidungen von heute für das Leben künftiger Generationen haben. Es gibt einen Egoismus des Gegenwärtigen zu Lasten der Zukunft, den ich für nicht erlaubt halte, ({4}) für den wir alle aber Beispiele kennen. Wenn wir die Chancen der Globalisierung nutzen wollen, dann muß die Politik sie aktiv gestalten. Das gilt für die soziale und für die ökologische Dimension wirtschaftlichen Handelns genauso wie für die Gestaltung des technischen Fortschritts. Diesen Rahmen kann am besten eine demokratische und soziale Rechtsordnung setzen, die über den Nationalstaat hinausreicht. Wir müssen die politischen Konsequenzen aus der wirtschaftlichen Globalisierung ziehen. Die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe bleibt nach meiner Überzeugung, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist in erster Linie Aufgabe der Unternehmen. Die Politik muß für Angebot und Nachfrage den richtigen Rahmen setzen und die richtigen Impulse geben. Neue Arbeitsplätze entstehen nicht auf Knopfdruck, und es gibt für sie kein Patentrezept. Wir brauchen ein Bündel von Initiativen, damit alle, die arbeiten können, ihren Lebensunterhalt auch tatsächlich selber erarbeiten können. Wir brauchen mehr Gründungen, mehr Spitzentechnik und mehr Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wir brauchen intelligente Arbeitszeitregelungen, die auch längere Betriebszeiten mit kürzeren Arbeitszeiten verbinden. Wir brauchen geringere Lohnnebenkosten und weniger Überstunden. Keine Diskussion um das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ kann und darf verdecken, daß es für die allermeisten Menschen aus finanziellen, aber auch aus sozialen Gründen - keine Alternative zur Erwerbsarbeit gibt. ({5}) Für unsere Zukunft wird entscheidend sein, daß wir die Arbeit so organisieren und fortentwickeln, daß die Bedürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen des Wirtschaftens in Übereinstimmung gebracht werden. Die Arbeit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt ihr unmittelbar einen Wert. In ihr - das gibt ihr einen weiteren Wert entfalten sich aber auch menschliche Fähigkeiten. Darum hat Hans Küng recht, wenn er sagt: „Ohne sinnvolle Arbeit geht ein Stück Menschenwürde verloren.“ ({6}) Darum ist es alles andere als eine akademische Betrachtung, auf den Wert der Arbeit für das Selbstwertgefühl von Menschen und für den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft hinzuweisen. Wer in der Arbeit nur einen reinen Kostenfaktor sieht, dessen Preis soweit wie möglich gedrückt werden muß - so wichtig der Anteil der Löhne am wirtschaftlichen Prozeß auch ist -, der hantiert mit sozialem Sprengstoff und rüttelt an den Grundfesten unserer westlichen Zivilisation - ob ihm das bewußt ist oder nicht. ({7}) Es mag sein, daß wir auf lange Sicht eine neue Einstellung zur Arbeit bekommen. Bei tendenziell sinkender Arbeitszeit könnten mehr Menschen mehr Zeit finden für aktive Nachbarschaftshilfe, für ehrenamtliches Wirken in Vereinen, aber auch für die Pflege der Städte und die Bewahrung und Förderung von Kultur und Kunst, mehr Zeit auch für Eigenarbeit. Das wäre eine Gesellschaft, die einen stärkeren inneren Zusammenhalt haben könnte, als sie ihn zur Zeit hat, eine Gesellschaft, in der Gemeinsinn und Solidarität wieder einen höheren Stellenwert hätten. Wer mich kennt, weiß, daß ich dabei auch an die sinnstiftende Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften denke. Zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und nach dem Fall der Mauer sind wir immer noch auf der Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau Suche nach einer neuen Ordnung in Europa und weltweit. Es gibt die beiden Militärblöcke nicht mehr, die sich feindlich gegenüberstanden. Wir haben aber noch nicht die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung schaffen können, die notwendig wäre, damit Krieg jedenfalls in Europa kein Mittel der Politik mehr ist. Von einer neuen Weltfriedensordnung, die das Leitbild der globalen nachhaltigen Entwicklung aufnähme, sind wir noch weit entfernt. Vor 14 Wochen begann in Jugoslawien, was kaum jemand am Ende dieses Jahrhunderts noch für möglich und nötig gehalten hatte. Die NATO setzte zum erstenmal seit ihrer Gründung vor 50 Jahren militärische Mittel in Europa ein, die Bundeswehr nahm an den Kampfeinsätzen teil. Seit zwei Wochen schweigen die Waffen. Deutsche Soldaten wurden im Kosovo als Befreier begrüßt. Ich bin froh darüber, daß die Hoffnung auf ein Ende des Krieges, die ich am 23. Mai dieses Jahres geäußert hatte, in Erfüllung gegangen ist und daß es jetzt um dauerhafte Stabilität in Südosteuropa geht. Jetzt wird sich zeigen, daß der Friede der Ernstfall ist. ({8}) Über die rechtlichen, politischen, militärischen und moralischen Maßstäbe für die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland am Militäreinsatz gegen Serbien gab es eine ungewöhnlich ernsthafte Diskussion, in der dem jeweils Andersdenkenden weder Moral noch Vernunft bestritten worden sind. Ich gehöre zu denen, die mit zerrissenem Herzen gesagt haben: Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn mitten in Europa Terror und Vertreibung Platz greifen. In einem solchen extremen Ausnahmefall ist auch der Einsatz militärischer Gewalt gerechtfertigt. Das ist eine außergewöhnliche Belastung für die betroffenen Soldaten und für die politische und militärische Führung. Wie diese Verantwortung wahrgenommen wurde und wird, das hat das Ansehen unseres Landes in der Welt gemehrt. ({9}) Ich grüße die deutschen Soldaten, und ich grüße die Angehörigen der Hilfsorganisationen, die jetzt im Kosovo dafür arbeiten, daß Menschenwürde und Menschenrechte überall und für alle gelten, für Kosovaren und Serben, für Christen und Muslime. ({10}) Was können und was müssen wir aus der heutigen Situation im ehemaligen Jugoslawien für die künftige Politik lernen? Für mich lautet die wichtigste Lehre: Wir müssen durch vorbeugende Politik die falsche Alternative, daß wir Schuld auf uns laden durch Wegschauen oder daß wir Schuld auf uns laden durch den Einsatz militärischer Mittel, der auch völlig Unschuldige trifft, zu vermeiden suchen. ({11}) Eine solche Politik für das friedliche Zusammenleben der Menschen in ganz Europa muß mit Nachdruck für die Menschenrechte eintreten, bevor sie durch Vertreibung, Terror oder Mord mißachtet werden. ({12}) Wir brauchen eine Politik, die heute nicht Waffenlieferungen zuläßt, gegen deren Einsatz morgen interveniert werden muß. ({13}) Wir brauchen eine unmißverständliche Absage an alle Spielarten des Nationalismus. Nationalismus und Separatismus sind Zwillinge. Nationalismus hat nichts mit Vaterlandsliebe zu tun, sondern ist der Haß auf die Vaterländer anderer. Wozu dieser Haß führt, das erleben wir nicht erst in den vergangenen Monaten und nicht nur im ehemaligen Jugoslawien. Ich habe am 23. Mai an die Worte von Willy Brandt erinnert, daß wir ein Volk guter Nachbarn sein wollen. Wer hätte 1969 gedacht, daß wir uns heute darüber freuen können, mit allen unseren Nachbarn in einem Zustand zu leben, wie er meinen Vorstellungen von wirklicher Nachbarschaft entspricht? Diese Entwicklung ist wahrlich nicht allein deutsches Verdienst. Wir haben Grund, vielen dafür zu danken. Wir tun das am besten dadurch, daß wir weiter eine treibende Kraft im europäischen Einigungsprozeß sind. Gute Nachbarschaft - das ist heute europäische Innenpolitik. Gute Nachbarschaft brauchen wir aber auch im eigenen Land: zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher kultureller Traditionen und Glaubensüberzeugungen. Toleranz, meine Damen und Herren, ist kein Schwächeanfall der Demokratie, sondern ihr Lebensinhalt. ({14}) Mein Vorgänger, Herr Professor Herzog, hat dazu beigetragen, daß die Bildungspolitik wieder zu einem Thema geworden ist. Ich will das aufnehmen und kann dabei an vieles anknüpfen aus den Erfahrungen meiner früheren Arbeit. In der bildungspolitischen Diskussion geht es um ganz unterschiedliche Themen: um Klassenstärken und Lehrerversorgung, um Flexibilität und mehr Handlungsmöglichkeiten für die einzelnen Schulen, um Stundentafeln und die technische Ausstattung. All das ist wichtig, und ich verstehe gut, mit welchem Engagement darüber diskutiert und gestritten wird. Über all diese wichtigen Fragen, von der Organisation bis zu den materiellen Ressourcen, sollten wir aber das Wesentliche nicht aus dem Blick verlieren: Was sollen unsere Kinder lernen? Wie können wir die jungen Menschen heute am besten darauf vorbereiten und dazu befähigen, die Welt von morgen mitzugestalten und sich in ihr zurechtzufinden? Welches Wissen brauchen sie? Welche Fertigkeiten müssen sie beherrschen? Welche Einsichten und welche Orientierungsmaßstäbe brauchen sie für ein erfülltes Leben? Das sind Fragen, die noch zu selten gestellt werden, vielleicht auch deshalb, weil sie schwer zu beantworten sind. Keiner von uns weiß, wie die Welt von morgen aussehen wird. Wir wissen nur, daß vieles ganz anders sein wird als heute. Wir wissen aber nicht, was die Welt von morgen den Menschen abverlangen wird. Manche glauben, das seien vor allem technische und naturwissenschaftliche Kenntnisse; dafür gibt es gute Argumente. Andere fordern statt dessen eine Renaissance der Geistes- und der Sozialwissenschaften. Sie weisen darauf Bundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau hin - ich glaube, daß sie recht haben -, daß Bildung etwas anderes ist als Fachwissen allein und daß Informationen allein noch nicht Einsicht vermitteln. Wenn das richtig ist, dann sollten wir mehr über die Ziele sprechen, die wir in unseren Schulen erreicht sehen wollen, und erst danach über die Instrumente, die dafür am besten geeignet sind. ({15}) Wir sollten an dem Konsens festhalten - oder ihn neu begründen -, daß ein rohstoffarmes Land wie die Bundesrepublik Deutschland nur dann im Interesse aller erfolgreich sein kann, wenn wir in die Bildung, in die Ausbildung und in die Qualifikation der Menschen investieren. Investitionen in die Köpfe bringen dann die höchsten Erträge, wenn nicht auf kurze Sicht gerechnet und nicht nur auf bestimmte Segmente gesetzt wird. So wie vor 20 Jahren niemand in der Lage war, den genauen Bedarf an Ingenieuren oder Softwareentwicklern vorauszusagen, so wenig ist es heute möglich, vergleichbare Prognosen für die nächsten zwei Jahrzehnte zu machen. Wir wissen nur eines: Die intellektuellen Anforderungen, die fachlichen und die überfachlichen, werden nicht geringer werden, sondern weiter zunehmen. Auf diese absehbaren Veränderungen müssen wir die jungen Menschen von heute in unseren Schulen vorbereiten. Bildung und Wissen sind aber mehr als eine Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg. Wissen läßt sich büffeln, aber Begreifen braucht Zeit. Hubert Markl, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, den viele von uns kennen und schätzen, hat einmal zu Recht gefragt, was uns denn Wissensriesen hülfen, wenn sie die Gemüter von Zwergen hätten. ({16}) Meine Damen und Herren, je schnellebiger die Zeiten, um so wichtiger werden Orientierung und die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen dem, was früher war und heute überholt ist, und dem, was heute wie gestern gilt, weil es zeitlos ist. Wenn wir Werte und Tugenden einklagen oder den Mangel an Werten und Tugenden beklagen, dann leiden solche Diskussionen nach meiner Erfahrung häufig an zu hoher Abstraktion. Wo es um Prinzipien oder um noch Höheres geht, neigen wir dazu zu vergessen, wie wir leben, was uns prägt, was uns ermutigt oder entmutigt. Eine Gesellschaft, in der es schick ist, von allem den Preis zu kennen und von nichts den Wert, macht in Wirklichkeit Verluste. ({17}) Erhobene Zeigefinger und Moralpredigten können fehlende Vorbilder nicht ersetzen. Wenn wir unser Zusammenleben so gestalten, daß die Ehrlichen den Eindruck bekommen, sie seien die Dummen, dann ist es müßig, den Werteverlust auf Akademieveranstaltungen zu beklagen. ({18}) Wir sollten auch nicht von Werteverlust sprechen, wenn nicht Werte verlorengehen, sondern wenn sich nur die für uns gewohnte Form ändert, wie sie gelebt werden. Wir sollten das, was gesellschaftlich zu ordnen und zu regeln ist, so ordnen und regeln, daß wir Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität fördern. Eine Gesellschaft, in der alle nur ihre eigenen egoistischen Interessen verfolgen, mag auf Sicht erfolgreich sein; überlebensfähig ist sie nicht. ({19}) Eine Gesellschaft ist ja etwas anderes als die zufällige Ansammlung von Individuen, die ihrer Wege gehen. Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Solidarität - das sind Haltungen und Verhaltensweisen, die das Fundament jeder Gesellschaft sind und kein schmückendes Beiwerk. Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Solidarität sind nicht käuflich, aber sie sind unbezahlbar und weder durch Gesetz noch durch Verordnung zu erzwingen. Sie müssen praktisch gelebt werden. ({20}) Das soll niemanden an Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung hindern. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Lebensweg einer wachsenden Zahl von Menschen in unserem Land nicht mehr vom stummen Zwang der Verhältnisse bestimmt worden. Sie konnten die Chance nutzen, ihren eigenen Weg zu gehen. Das ist ein großer Fortschritt. Freie Entfaltung der Persönlichkeit ist aber etwas ganz anderes als eine Ego-Gesellschaft, die in die Selbstisolierung führt. Die Menschen wollen etwas leisten, und die Gesellschaft sollte Leistungen fordern und fördern. Aber man darf Menschen nicht überfordern. Das gilt in besonderer Weise für alle, die aus unterschiedlichen Gründen nichts, noch nichts, nur wenig oder nichts mehr leisten können. Kinder und Alte gehören ebenso dazu wie geistig und körperlich behinderte Menschen. Wenn wir von Leistung sprechen, sollten wir auch die nicht vergessen, die oft ganz viel leisten, deren Leistung aber in keiner Bilanz erscheint und nicht in den Größen des Bruttoinlandsprodukts ausgedrückt werden kann. Jede Gesellschaft braucht möglichst viele, die leistungsfähig und leistungswillig sind. Jede Gesellschaft braucht auch besondere Leistungsträger. Wenn wir der Vielfalt der tatsächlichen Leistungen gerecht werden wollen, brauchen wir einen breit angelegten Leistungsbegriff. Dann wird deutlich: Erfolgreiche Existenzgründer sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie ehrenamtliche Jugendtrainer. Chefärzte sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie Krankenschwestern. Innovative Forscher sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie engagierte Betriebsräte. Künstler und Schriftsteller, die unseren Blick schärfen und unseren Horizont erweitern, sind genauso gesellschaftliche Leistungsträger wie Wissenschaftler, die unseren medizinischen und technischen Blick erweitern. Meine Damen und Herren, manche von Ihnen werden wissen, daß ich als junger Mensch Anfang der 50er Jahren in die Politik gegangen bin, weil ich mich mit der deutschen Teilung nicht abfinden wollte. Gemeinsam mit Gustav Heinemann und Helene Wessel, mit Diether Posser, Erhard Eppler und vielen anderen war ich damals in der - nicht gerade erfolgreichen - GesamtdeutBundespräsident Dr. h. c. Johannes Rau schen Volkspartei. Dies Thema hat mich mein ganzes Leben lang nicht losgelassen; es hat mich weit über die politischen Aufgaben hinaus begleitet. Ich habe es darum als besonderes Glück empfunden, daß ich an dem Tag, als die Mauer fiel, am 9. November 1989, in Berlin und in Leipzig war. Ich habe am Abend des 9. November und in den beiden Tagen danach ganz unmittelbar das ungläubige Staunen, die unbeschreibliche Freude der Menschen über die neu gewonnene Freiheit, für die viele von ihnen Woche für Woche auf die Straße gegangen waren, miterleben können. Nach meiner Erfahrung tut es auch der Politik gut, wenn wir Verantwortliche das Staunen nicht verlernen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich ungeheuer viel verändert. Die Menschen in Brandenburg und in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern haben Grund, stolz zu sein auf große Erfolge beim Aufbau. Nicht jedes offenkundige Defizit und nicht jeder Mangel, nicht jedes große Problem, vor dem wir immer noch stehen, kann man als fehlende innere Einheit im vereinten Deutschland bezeichnen. Das ist ein Begriff, der zu Mißverständnissen verleiten kann. Unsere Aufgabe ist es nicht, daß sich die 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland möglichst schnell möglichst ähnlich werden. Sie sollen sich nicht nach einer zentral vorgegebenen Norm entwikkeln. Wir sollten vielmehr den Föderalismus lebendig erhalten und weiter stärken, weil aus der Vielfalt eine Stärke erwächst, von der alle Länder profitieren können. Worum es geht, das sind gleiche Lebenschancen für alle Frauen und Männer - unabhängig davon, ob sie im Norden oder Süden, im Westen oder Osten Deutschlands aufwachsen und leben. In unserer modernen Gesellschaft sind gleiche Lebenschancen für alle der Kern der Freiheitsfrage. Die kulturellen, die landsmannschaftlichen Unterschiede sollen bleiben, weil die Vielfalt uns reicher macht; aber die in 40 Jahren gewachsenen Nachteile der neuen Länder müssen ausgeglichen und überwunden werden. Wir brauchen im vereinten Deutschland genauso wie im europäischen Einigungsprozeß die Vielfalt in der Einheit. Dabei sollten wir auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer nicht vergessen, daß die Deutschen in der DDR ohne eigenes Verschulden die weitaus schwereren Lasten aus der deutschen Geschichte zu tragen hatten. Sie waren nicht dümmer und nicht fauler als die Deutschen im Westen, aber unter den gegebenen Bedingungen konnte ihre Leistungsfähigkeit und ihre Leistungsbereitschaft nicht die gleichen Früchte tragen. Vor wenigen Wochen haben wir an den 50. Jahrestag unseres Grundgesetzes erinnert. Wir sagen zu Recht, daß es die beste Verfassung ist, die sich die Deutschen je gegeben haben. Das gilt aber nur, wenn wir das Grundgesetz jeden Tag neu mit Leben erfüllen. Es ist Wegweiser und Maßstab für das politische Handeln aller. In den vergangenen Jahren sind wichtige Teile des Grundgesetzes verändert worden, weil sich die gesellschaftliche Wirklichkeit geändert hatte. Vielen sind diese Veränderungen schwergefallen, manchen sind sie zu weit gegangen. Um so weniger dürfen wir vergessen, daß es viele Felder gibt, in denen wir die Wirklichkeit noch entschlossener verändern müssen, damit sie sich dem annähert, was wir im Grundgesetz als unsere Ziele festgeschrieben haben: Die tatsächliche gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern gehört genauso dazu wie der nachhaltige Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen und der Auftrag, unsere Gesellschaft als soziale Demokratie zu gestalten. Gustav Heinemann hat immer noch recht, daß das Grundgesetz ein großes Angebot und keine Fessel ist. Jeder meiner Vorgänger hat in seiner Zeit dem Amt des Bundespräsidenten eine eigene Prägung gegeben. Das war so bei Theodor Heuss und bei Heinrich Lübke, bei Gustav Heinemann und Walter Scheel, bei Karl Carstens und Richard von Weizsäcker und bei Ihnen, lieber Herr Bundespräsident Herzog. Jeder hat seine besonderen Fähigkeiten und Gaben in das Amt einzubringen versucht, und doch waren sie alle Repräsentanten des ganzen Deutschlands. Ich sehe heute für das Amt des Bundespräsidenten eine doppelte Aufgabe: Er muß für die Deutschen sprechen, und er muß Minderheiten zur Sprache verhelfen. Ich will das mit meinen Gaben und auf meine Weise tun. Jeder soll wissen, daß ich Zuversicht und Kraft aus dem christlichen Glauben schöpfe und daß ich Respekt vor allen habe, die ihr Leben auf andere Fundamente gründen. Ich will zuhören, damit niemand ungehört bleibt. Ich will Gesprächsfäden neu knüpfen, wo sie abgerissen sind, zwischen Ost und West, zwischen Jung und Alt. Ich will zur Öffentlichkeit verhelfen, was in die gesellschaftliche Debatte gehört. Ich will alle - in Betrieben und Verwaltungen, in Hochschulen und Parteien, in Akademien und Bürgerinitiativen, in den Medien und Verbänden -, die an der Zukunft unseres Landes arbeiten, ermutigen. Ich wünsche mir, daß wir Deutsche unsere Zukunft in Europa und in der e i n e n Welt gemeinsam mit unseren Nachbarn und Partnern zuversichtlich und mutig gestalten - nicht kleinmütig und nicht übermütig. Das wird gelingen, wenn wir Selbstvertrauen und Verantwortung zusammenbringen und wenn alle die eigenen Chancen so nutzen, daß auch das allgemeine Wohl gemehrt wird. Ich danke Ihnen. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident. Wir singen nun gemeinsam unsere Nationalhymne. ({0}) Mit den besten Wünschen für Sie und für Deutschland schließe ich die gemeinsame Sitzung von Bundestag und Bundesrat. Wir sehen uns wieder in Berlin. Die Sitzung ist geschlossen. ({1})