Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!
Ich eröffne die letzte Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn - es ist die 50. Sitzung des Deutschen Bundestages - und begrüße Sie alle sehr herzlich.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich
folgendes bekannt: Gemäß § 93a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung können Mitglieder des Europäischen
Parlaments an den Sitzungen des Ausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union teilnehmen.
Zahl und Zusammensetzung sind in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen und müssen daher vom Plenum
festgestellt werden.
Die Fraktionen haben sich auf Grund der Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes nach der letzten
Wahl darauf verständigt, die Zahl auf insgesamt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen auf die CDU/CSU
sieben, auf die SPD fünf Mitglieder sowie auf Bündnis 90/Die Grünen und die PDS jeweils ein Mitglied.
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in der Zusatzpunktliste vorliegen, zu erweitern:
ZP3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Dringlichkeitsfragen 1 bis
4 in Drucksache 14/1298 zur Entwicklung des Nettorentenniveaus ({0})
ZP4 a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 59 zu Petitionen - Drucksache 14/1320 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 60 zu Petitionen - Drucksache 14/1321 -
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 61 zu Petitionen - Drucksache 14/1322 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 62 zu Petitionen - Drucksache 14/1323 -
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 63 zu Petitionen - Drucksache 14/1324 -
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 64 zu Petitionen - Drucksache 14/1325 -
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 65 zu Petitionen - Drucksache 14/1326 -
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 66 zu Petitionen - Drucksache 14/1327 ZP5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs
eines Dreiunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des
Lastenausgleichsgesetzes ({1}) - Drucksache
14/866 Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir die Debatte „50 Jahre Demokratie - Dank
an Bonn“ führen, müssen wir noch einige Abstimmungen und Überweisungen vornehmen. Ich rufe deshalb
zunächst den Tagesordnungspunkt 14 e auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsgesetzes ({2})
- Drucksachen 14/745, 14/1067 ({3})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4})
- Drucksache 14/1301 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Volker Kauder
Rainer Funke
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen
gleich zur Abstimmung über den von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Überweisungs-
gesetzes, Drucksachen 14/745, 14/1067 und 14/1301.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das Präsi-
dium hat keinen Zweifel an der Mehrheit. Der Gesetz-
entwurf ist damit angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 59 zu Petitionen
- Drucksache 14/1320 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 60 zu Petitionen
- Drucksache 14/1321 -
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 61 zu Petitionen
- Drucksache 14/1322 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 62 zu Petitionen
- Drucksache 14/1323 -
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 63 zu Petitionen
- Drucksache 14/1324 -
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 64 zu Petitionen
- Drucksache 14/1325 -
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 65 zu Petitionen
- Drucksache 14/1326 -
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 66 zu Petitionen
- Drucksache 14/1327 Sammelübersicht 59 auf Drucksache 14/1320: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 59 ist angenommen.
Sammelübersicht 60 auf Drucksache 14/1321: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Sammelübersicht 60 ist damit angenommen.
Sammelübersicht 61 auf Drucksache 14/1322: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Auch diese Sammelübersicht ist angenommen.
Sammelübersicht 62 auf Drucksache 14/1323: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Auch die Sammelübersicht 62 ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/1329. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Sammelübersicht 63 auf Drucksache 14/1324: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Auch die Sammelübersicht 63 ist angenommen.
Sammelübersicht 64 auf Drucksache 14/1325: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Auch die Sammelübersicht 64 ist angenommen.
Sammelübersicht 65 auf Drucksache 14/1326: Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist auch diese Sammelübersicht angenommen.
Wir kommen zur Sammelübersicht 66 auf Drucksache 14/1327: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Damit ist auch die Sammelübersicht 66 angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Dreiunddreißigsten Gesetzes
zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes
({13})
- Drucksache 14/866 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({14})
Finanzausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Nun, Kolleginnen und Kollegen, rufe ich Tagesordnungspunkt 12 auf:
Vereinbarte Debatte
„50 Jahre Demokratie - Dank an Bonn“
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Thierse.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dies ist unser letzter Tag in
diesem schönen Hause, einem Haus, das in seiner Transparenz, in seiner Helligkeit eine gute Heimstatt für unser
Parlament war und das in seiner architektonischen Gestalt ein überzeugendes Symbol der deutschen parlamentarischen Demokratie geworden ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag verläßt Bonn zu einem der glücklichsten Zeitpunkte der deutschen Geschichte. Wir blicken zurück
auf 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, auf 50 Jahre
auf dem Fundament einer stabilen Verfassung, des Bonner Grundgesetzes, auf 50 Jahre Frieden in Deutschland, auf zehn Jahre Mauerfall und neun Jahre deutsche
Einheit. Der heutige Tag ist Anlaß, daran zu erinnern,
daß all dies niemals selbstverständlich gewesen war und
ist.
Bei allem Streit, bei allen noch zu bewältigenden
Schwierigkeiten und großen Problemen der Gegenwart,
die Probleme der deutschen Einigung eingeschlossen,
Vizepräsidentin Anke Fuchs
habe ich - wenn ich das so persönlich sagen darf - immer noch ein Grundgefühl des Glücks, ein Gefühl, daß
deutsche Geschichte endlich einmal gut ausgehen
könnte.
Dieses Gefühl verbindet sich auch mit den Jahren in
Bonn. Die 50jährige Entwicklung Deutschlands nach
dem zweiten Weltkrieg bleibt ohne jeden Zweifel vor
allem auch mit dem Namen dieser Stadt verbunden. Der
Umzug des Deutschen Bundestags darf deshalb weder
Abkehr von der Politik noch Absage an die Politik bedeuten, die in Bonn gemacht worden ist.
({1})
Es geht doch nicht um Bonn gegen Berlin oder Bonner Politik gegen Berliner Politik. Es ist auch keine
Wanderung zwischen einer angeblich alten Republik
und einem neuen Deutschland, zwischen Föderalismus
und Zentralismus oder zwischen Souveränität und Sonderweg. Die Grundkoordinaten deutscher Politik verändern sich durch den Ortswechsel nicht.
Die in Bonn entwickelten demokratischen und föderalen Strukturen werden in Berlin fortleben, solange unser, der Demokraten aller Parteien und Fraktionen politischer Wille und das Engagement der Bürger immer wieder neu die Voraussetzungen dafür schaffen. Dafür treten wir ein.
200 zu 176 Stimmen - dies war vor 50 Jahren die
Entscheidung des Deutschen Bundestags zugunsten
Bonns als provisorischer Bundeshauptstadt, wie es damals ausdrücklich hieß. Bei aller Kritik an Bonn in den
darauffolgenden Jahren - sie begann beim Klima und
gipfelte im Pflichthaß auf Bonn, das ist bei Heinrich
Böll nachzulesen - sage ich: Bonn war die richtige Stadt
zum richtigen Zeitpunkt.
({2})
Sicherlich mag Bonn als die sprichwörtlich gewordene „kleine Stadt am Rhein“ provinziell und ziemlich unbekannt gewesen sein. Schließlich wurde erst zu Beginn
der 50er Jahre die erste Ampel in Bonn aufgestellt. Die
meisten Auslandskorrespondenten suchten ihren neuen
Dienstort zuerst einmal auf der Landkarte. Aber Bonn
war eben auch überschaubar und freundlich und verzichtete gelassen auf grandiose Gesten und Kulissen, auf
Pathos und Protzerei.
Nach der Nazidiktatur hat diese Stadt - so wie sie
war - geholfen, das Vertrauen in deutsche Politik im
In- und Ausland wiederherzustellen. Sie war bescheiden
und ruhig. Sie war ein Ort, um sich auf den richtigen
Weg zu besinnen - geschichtlich eher unbelastet, kulturell und wissenschaftlich pluralistisch: Karl Marx hat
hier studiert, Gottfried Benn hat hier gelehrt. Bonn erwies sich als die beste Wiege für die parlamentarische
Demokratie eines Landes, das nach Ende des zweiten
Weltkrieges neu aufgebaut werden mußte.
Nur Schritt für Schritt - daran können sich Ältere
noch erinnern - öffneten sich die Deutschen gegenüber
den neuen Institutionen der parlamentarischen, pluralistischen, sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie.
Nach der nationalsozialistischen Herrschaft wußten viele, daß diese Demütigung der Menschenwürde, diese
Verbrechen nie wieder geschehen dürften. Demokraten
waren sie damit immer noch nicht. Es war eine große
Leistung der Demokraten der ersten Stunde, hier in
Bonn Neugier und Interesse zu wecken. Die erste parlamentarische Debatte verfolgten Millionen von Bürgerinnen und Bürgern am Radio. Damit steht Bonn dauerhaft
für demokratischen, hoffnungsvollen Neuanfang.
Es hat von den Anfängen bis heute vorbildliche Debatten in Bonn gegeben. Ich erinnere an einige Sternstunden: die Debatten über die Westbindung der Bundesrepublik, über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, über die Todesstrafe, über die Nichtverjährung von NS-Verbrechen, über die paritätische
Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montanindustrie, über die Neuregelung des Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch im vereinten Deutschland und natürlich auch über den zukünftigen Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung.
Zu diesen Sternstunden trugen vor allem die politischen Hauptakteure der ersten Bonner Jahre bei: Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Theodor Heuss, Thomas Dehler, Heinrich von Brentano,
Franz Josef Strauß, Fritz Erler und Herbert Wehner. Ihre
Persönlichkeiten trugen dazu bei, das deutsche Parlament ins Zentrum des politischen Geschehens, der politischen Aufmerksamkeit zu rücken. Ihre Lebenserfahrungen prägten die gemeinsame klare und eindeutige
Absage an Extremisten und immer wieder auftauchende
ideologische Rattenfänger. Sie haben eine Kontinuität
begründet, von der unsere gemeinsame Republik bis
heute auch lebt und an der wir weiterzuarbeiten haben.
Schon als kleiner Junge - erlauben Sie mir diese persönliche Bemerkung - habe ich - gewiß zunächst eher
unfreiwillig, weil mein Vater darauf bestand - die Reden
aus dem Deutschen Bundestag am Radio über den Sender RIAS verfolgt. Sie wissen, er war in der DDR immer
gestört; also hatte eisige Ruhe zu herrschen. Aber genauso wie mein Vater und ich - wie gesagt, zunächst unfreiwillig - haben viele andere Bürgerinnen und Bürger aus der DDR die Chance genutzt, wenigstens mittelbar die parlamentarische Arbeit in Westdeutschland
zu erleben. Das galt für viele Menschen im Osten
Deutschlands. Aus Bonn - aus Bonn! - fand das demokratische Deutschland, fand die Alternative zu ideologischer Enge und Kleingeisterei zu uns in den anderen
deutschen Staat. Bonn war für uns, für viele Ostdeutsche
ein Symbol, ein Sehnsuchtsort für unsere Hoffnungen
auf demokratische Freiheit. Das wird unvergessen und
mit Bonn dauerhaft verbunden bleiben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute können wir
nicht ohne Stolz behaupten, Deutschland hat zunächst
und lange allein im Westen Deutschlands die Chance
des demokratischen Neuanfangs genutzt. Vielleicht steht
nun heute im Vordergrund, daß Demokratie auch sehr
mühsam sein kann. Entscheidungen zu treffen, zwischen
miteinander konkurrierenden Zielen abzuwägen, den
Konsens zwischen streitigen Positionen zu suchen - all
dies ist leichter gesagt als getan. Manchmal unbefriedigt,
aber mindestens ebenso oft erleichtert erkennt man, daß
es in der Demokratie eben nicht die eine, endgültige
Wahrheit gibt.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der
Erinnerung an die Erfolgsgeschichte der westdeutschen
Demokratie, die mit den Namen Bonns verbunden ist,
sollte eine Tatsache nicht vergessen werden: Die Zustimmung zur Demokratie im Westen Deutschlands ist
erst mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik
ganz allmählich gewachsen. Wenn jetzt mit dem Finger
auf die Ostdeutschen gezeigt wird, weil dort - erst oder
nur noch - ein Fünftel der Bürger die Demokratie für die
beste Staatsform hält, frage ich, warum den Ostdeutschen nicht auch die Zeit des Suchens und der Überzeugung gegönnt wird, die Menschen offensichtlich brauchen. Die Erfahrungen der Ostdeutschen mit der
Demokratie sind in den 90er Jahren fundamental anders
als die Erfahrungen der Westdeutschen damals. Das Ja
zur Demokratie muß heute erbracht werden angesichts
großer und schwer zu verkraftender Veränderungen, angesichts sozialer, wirtschaftlicher, kultureller Umbauprobleme, zäher Arbeitslosigkeit, sozialer Verunsicherung und eines Gefühls der Benachteiligung. Ob dies zu
Recht besteht oder nicht, ist dabei nicht ganz so wichtig.
Ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Demokratie stellt
sich da nicht von selbst ein. Die Mühen der Ebene
scheinen unüberwindbar. Freiheit erscheint als Widerspruch zur Sicherheit.
Wir haben als Parlament - diese Verpflichtung erwächst aus der Erinnerung an 50 Jahre in Bonn - die
Bringschuld einer Politik, die es erlaubt, Freiheit und
Gerechtigkeit als untrennbar miteinander verbunden zu
begreifen.
({4})
Wenn wir uns von der Bundeshauptstadt Bonn verabschieden, nehmen wir das als Auftrag und Herausforderung mit nach Berlin. Denn auch die andere wesentliche
Grundorientierung der deutschen Politik ist mit dem
Namen Bonn verbunden: die soziale Marktwirtschaft,
die andere, Ausländer zumal, nicht umsonst „rheinischen Kapitalismus“ nennen.
Meine Damen und Herren, deutsche Politik ist von
Bonn aus weltweit wieder anerkannt worden, vor allem
auch, weil sie in Bonn europäisch geworden ist. Die entscheidenden außenpolitischen Schritte, die Europa
weitestgehend Frieden und Stabilität garantiert haben,
wurden von hier aus mit initiiert. Als erstes nenne ich
die Aussöhnung mit Frankreich, dann den Erfolg des
Atlantischen Bündnisses, die Entspannungspolitik nach
Osten, die Auflösung der alten Feindbilder und den gesamteuropäischen Friedensprozeß auf der Grundlage der
KSZE-Schlußakte von Helsinki - all dies über die gesamte Zeit verbunden mit kontinuierlichen Schritten
europäischer Integration. Das sind Leistungen nicht nur
der Nachbarn in Europa, sondern auch der deutschen
Außenpolitik, die von Bonn aus betrieben worden ist
und die wir selbstverständlich in Berlin fortzusetzen haben.
Dies gilt auch für die deutsche Einheit. Ohne Bonn
kein Berlin. Bonn und seine Deutschlandpolitik, die als
europäische Aussöhnungs- und Friedenspolitik ausgerichtet war, hat den Weg für das geeinte Deutschland
geebnet. Mag es auch über die Jahre hinweg Streit im
einzelnen gegeben haben, die Grundorientierung auf
eine Politik der Wiedervereinigung, die in eine europäische Aussöhnungs- und Friedenspolitik eingebettet ist,
hat gegolten von Adenauer über Willy Brandt bis zu
Helmut Kohl. Das die gesamte Zeit über niemals offen
in Frage gestellte Selbstverständnis Bonns, ein Provisorium, eine provisorische Hauptstadt zu sein, hat die Tür
zur Einheit Deutschlands stets offengehalten.
Die Entscheidung für Berlin bedeutet Abschied von
Bonn. Das läßt sich nicht beschönigen. Aber diese Entscheidung enthält nicht eine Spur von Undank gegenüber Bonn oder von Ablehnung dieser Stadt oder ihrer
Menschen. Im Gegenteil: In Berlin müssen wir erst noch
beweisen, daß wir den letzten, den besten 50 Jahren
deutscher Geschichte weitere gute 50 Jahre, dieses Mal
für ganz Deutschland, hinzufügen können.
Wir Parlamentarier werden immer wieder Grund haben, an eine gute Zeit in Bonn, an den Ort und die Art
des Erwachsenwerdens der deutschen Demokratie zu
denken, auch - das sage ich als Berliner - an den im besten Sinne des Wortes gutbürgerlichen Stil ohne Pomp,
ohne Protz, ohne falsches Pathos. Wir sollten uns in
Berlin an diesen Stil erinnern, falls wir je Anfällen von
Wilhelminismus und ähnlichen Gefährdungen unterliegen sollten. Ich glaube es zwar nicht. Aber die Erinnerung an Bonn könnte immer hilfreich sein.
({5})
Die Politiker und die Menschen, die im unmittelbaren
und mittelbaren Umfeld gearbeitet haben, sind dank der
rheinischen Mentalität herzlich aufgenommen worden.
Ich erinnere mich jedenfalls mit großem Vergnügen und
mit wirklicher Dankbarkeit an meine ersten Tage und
Monate in Bonn vor neun Jahren. Es ist nicht selbstverständlich, daß man so empfangen wird.
Manch ein Bonner hat uns vorgelebt, was Geduld,
Gelassenheit und rheinischer Humor wert sind, gerade
auch unter den Mitarbeitern des Bundestages und der
Fraktionen, denen wir zu Dank verpflichtet sind, auch
für diese Haltung.
({6})
Ihnen, Frau Oberbürgermeisterin Dieckmann, möchte
ich stellvertretend für alle Menschen in dieser Stadt
heute versichern: Wir haben uns in Bonn und im Rheinland sehr wohlgefühlt. Bonn bleibt Bundesstadt mit
einer wohl einmaligen Vergangenheit und mit viel Zukunft.
({7})
Ich bin mir bewußt, daß der Deutsche Bundestag zu
dieser Zukunft einen Beitrag leisten kann, nämlich indem er die Zusagen einhält, die der Stadt gemacht worWolfgang Thierse
den sind. Ich sage ausdrücklich: Dank soll keine leere
Formel bleiben, sondern wir stehen zu unseren Verpflichtungen. Herzlichen Dank an Bonn!
({8})
Auf der Besuchertribüne haben einige Gäste Platz genommen, die ich herzlich begrüßen möchte, an der Spitze die Frau Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann.
({0})
Frau Oberbürgermeisterin, dies ist Ihr Tag: Dank an
Bonn. Wir grüßen mit Ihnen alle Bonnerinnen und Bonner und wünschen Ihnen für die neuen Herausforderungen alles Gute. Wir werden Bonn vermissen.
({1})
Wir freuen uns darüber, daß Altbundespräsident
Richard von Weizsäcker unter uns ist. Herzlich willkommen!
({2})
Ich begrüße viele Kolleginnen und Kollegen des
Bundestages. Stellvertretend für alle nenne ich die Vizepräsidenten Herrn Stücklen, Herrn Becker und Herrn
Cronenberg. Herzlich willkommen!
({3})
- Auch.
Nun erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr.
Helmut Kohl, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle spüren es in dieser Stunde: Es ist ein tiefer Einschnitt für
unser Land und auch für viele von uns in diesem Saal,
für viele, die uns zuschauen und hier in den letzten Jahrzehnten gearbeitet haben. Es gibt viele persönliche Erinnerungen. Es sind Erinnerungen im Guten und im weniger Guten. Aber es ist ein Stück der Geschichte unseres
Volkes. Jeder kann dies spüren.
Vor wenigen Wochen haben wir das 50jährige Jubiläum unseres Grundgesetzes gefeiert. In wenigen
Monaten begehen wir den zehnten Jahrestag des Falls
der Mauer. Beide Daten, der 23. Mai wie der 9. November, stehen in einem sehr engen Zusammenhang mit
dem heutigen Tag.
Das Parlament und die Bundesregierung kehren in
das wiedervereinte Berlin zurück. Beide Daten, so denke
ich, symbolisieren in einer herausragenden Weise die
Stationen des Weges unserer Nation von der erzwungenen Teilung bis zur Einheit in Frieden und Freiheit.
Meine Damen und Herren, dieser Weg ist Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. Bei all dem,
was unsere Biographien im einzelnen auch zu trennen
vermag, ist heute ein Tag des Rückblicks und des Ausblicks, für mich - und ich denke, auch für viele andere vor allem aber ein Tag der Dankbarkeit, daß uns das so
geschenkt wurde.
({0})
Wir nehmen heute als Parlament Abschied von Bonn.
Das bedeutet aber in keiner Weise eine Abkehr von den
Werten und den Grundentscheidungen unserer Verfassungsordnung. Zu dieser Grundentscheidung bekennt
sich die Mehrheit der Menschen - im Westen wie im
Osten unseres Vaterlandes. Deshalb - und es ist wichtig,
das auszusprechen - ist die Rückkehr von Parlament
und Regierung nach Berlin auch in gar keiner Weise
eine Restauration von etwas Vergangenem. Sie ist vielmehr die Krönung des jahrzehntelangen Strebens der
Deutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, nur noch
wenige können sich persönlich an die Zeit erinnern, als
ganz Deutschland von Berlin aus demokratisch regiert
wurde. Das ist bald 70 Jahre her. In den Jahrzehnten seit
1933 hat unser Land, hat Europa, hat die Welt beispiellose Tiefen und Höhen durchlebt. Unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gingen Kriege und Völkermord von Deutschland aus. Unter dem Terror des
Stalinismus mußten ungezählte Menschen leiden und
sterben. Die Brutalität und Aggressivität totalitärer Diktaturen kostete Millionen unschuldiger Opfer Leben,
Gesundheit, Heimat und Habe. Bis vor zehn Jahren
wurde den Völkern Mittel- und Osteuropas das Recht
auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung vorenthalten.
Wahr ist aber auch, daß wir Triumphe von Freiheit,
Menschenrechten und Selbstbestimmung erlebt haben friedliche Siege der Freiheit über die Diktatur, die viele
nicht für möglich gehalten hatten.
({1})
Vor zehn Jahren, zu Beginn des Sommers jenes Jahres, rechneten nur wenige damit, daß schon einige Monate später die Mauer fallen würde. Wer genau hinhörte
und hinsah, konnte die Vorboten eines politischen Erdbebens wahrnehmen: Das sowjetische Imperium bekam
immer größere Risse. Aber das, was dann in dieser so
kurzen Zeit tatsächlich geschah, hat so niemand vorausgesehen, auch wenn es jetzt gelegentlich Zeitgenossen
gibt, die es im nachhinein genau wußten.
Damals - auch das gehört zur Geschichte - hatten
nicht wenige in Deutschland und im Westen überhaupt
den Gedanken an die deutsche Einheit aufgegeben.
Nicht wenige haben ihn als unrealistisch abgeschrieben,
als störend und ärgerlich für das internationale Gleichgewicht verworfen. Auch daran muß heute erinnert werden, zumal es eine wichtige und glückliche Erfahrung
ist, daß sich Pessimisten und Defätisten leicht irren können.
({2})
Geirrt haben sich auch jene, die das Ziel der europäischen Einigung in all diesen Jahren immer wieder als
ein Hirngespinst abtaten. Nicht sie, sondern Visionäre
wie Robert Schuman, Winston Churchill, Alcide de
Gasperi, Paul-Henri Spaak und Konrad Adenauer haben
sich als die wahren Realisten erwiesen. Der Bau des
Hauses Europa war die wichtigste Konsequenz, die wir,
die Deutschen, aber auch wir, die Europäer, nach der
Barbarei der Nazizeit, nach 1945 aus dem Scheitern nationalstaatlicher Machtpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts ziehen konnten.
Wir dürfen nicht vergessen, daß ohne den Weg nach
Europa, daß ohne die europäische Integration die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaats im Herzen
des Kontinents den meisten unserer Nachbarn schwer
oder gar unerträglich erschienen wäre. Wir hätten sie
wahrscheinlich gar nicht erreicht; denn deutsche Einheit
und europäische Einigung - dieser Gedanke Adenauers
bleibt nicht nur in Erinnerung, sondern hat Gewicht für
die Zukunft - sind und bleiben die beiden Seiten einer
Medaille.
({3})
Entscheidend für Frieden und Freiheit auf unserem
Kontinent ist und bleibt auch in Zukunft die enge transatlantische Partnerschaft. Es waren neben unseren
europäischen Freunden und Verbündeten vor allem die
Vereinigten Staaten von Amerika, die im kalten Krieg
die Freiheit der Bundesrepublik und des Westteils von
Berlin garantierten. Es waren - was heute viele nicht
mehr wissen und manche auch nicht wissen wollen - die
Amerikaner, die mit ihrem Marshallplan den besiegten
Deutschen zu Hilfe kamen und damit der europäischen
Integration in einer ganz eigenen Weise wesentliche Impulse gaben.
({4})
Am Ende dieses Jahrhunderts gehen wir jetzt daran,
auch unsere östlichen Nachbarn in das europäische
Einigungswerk einzubeziehen. Wir alle wissen, daß der
Europäischen Union auf diesem Feld noch große Herausforderungen bevorstehen. Ich möchte uns allen aber
sagen: Lassen wir uns durch die Größe der Aufgabe
nicht entmutigen! Es gibt keine Alternative zu dieser
Politik.
({5})
Die Erfahrungen im Kosovo in diesen Wochen und Monaten haben das jedem deutlich gemacht. Wenn wir jetzt
nach Berlin umziehen, wollen wir in keinem Augenblick
vergessen, daß es vom Reichstag zur polnischen Grenze
gerade 80 Kilometer sind und daß der Beitritt Polens zur
NATO und zur Europäischen Union nicht nur im Interesse der polnischen Nation, sondern zutiefst auch im
Interesse der Deutschen liegt.
({6})
Wir kehren - wenn ich das so sagen darf - mit vielen
historischen Erfahrungen nach Berlin zurück. Deutschland, Europa und die Welt sind selbstverständlich nicht
mehr die gleichen wie vor 70 Jahren. Krieg und Nachkriegszeit haben gerade unser Land tiefgreifend verändert. Das sollten auch jene begreifen, die heute in einer
dümmlichen Weise von „Bonner Republik“ reden.
({7})
Bewußt oder unbewußt erwecken sie damit den Eindruck, als sei der Staat des Grundgesetzes eine abgeschlossene Episode, sozusagen eine Art kurzer historischer Ausnahmezustand, der jetzt zu Ende geht. Diese
Sicht ist falsch. Wir gehen nach Berlin, aber nicht in
eine neue Republik.
({8})
Schon deshalb sollten wir darauf verzichten, von „Berliner Republik“ zu reden.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfang
an nicht als westdeutscher Separatstaat betrachtet. Vor
allem Ihre Kritiker am rechten und linken Rand des
politischen Spektrums haben dies zwar immer wieder
behauptet. Aber in Wahrheit handelten die Väter und
Mütter unserer Verfassung - so schrieben sie es in die
Präambel - auch für jene Deutschen, „denen mitzuwirken versagt war“. Und gleich im ersten Artikel des
Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar.“ Dieses Bekenntnis zur Würde jedes einzelnen ist der Schlüssel zu allen anderen Werten unserer
Verfassung. Es stellt die unveräußerlichen Rechte jedes
einzelnen über alle politischen und ideologischen
Machtansprüche. Das Grundgesetz hat sie von Anfang
an für alle Deutschen eingefordert.
In späteren Jahren ist dann der gesamtdeutsche Anspruch des Grundgesetzes immer häufiger als eine Art
Anmaßung des Westens gegenüber dem Osten kritisiert
worden. Ich frage: Was wäre gewesen, wenn die Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone 1948/1949 hätten
mitwirken können? Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß unsere Verfassung dann nicht wesentlich anders
ausgesehen hätte; denn nach den Erfahrungen der Nazibarbarei wollten die Deutschen nie wieder unter einer
totalitären Diktatur leben. Sie lehnten die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ebenso ab wie das
Zwangssystem des Kommunismus, das sich in jener Zeit
in der Sowjetischen Besatzungszone verfestigte.
Wir Deutschen hatten die bittere Lektion gelernt, daß
Tyrannei in letzter Konsequenz Krieg bedeutet. Zunächst richtet sich die Gewalt im Innern gegen eigene
Bürger, und später - auch das zeigt die Erfahrung wendet sie sich oft nach außen, gegen die Nachbarvölker. Wir haben erfahren müssen, daß es ohne Freiheit
keine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit keinen Frieden geben kann.
({9})
Nach der politischen und moralischen Katastrophe
der Nazizeit verlangte unser Volk nach einer Ordnung
der Freiheit, wie sie nur der demokratische Rechtsstaat
garantieren kann. Nach schlimmen Erfahrungen mit der
Kriegswirtschaft wollten die Menschen eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Wettbewerb und
sozialen Ausgleich miteinander verband. Dies ist die
Grundidee der sozialen Marktwirtschaft und unseres
freiheitlichen Rechtsstaats. Sie hat ihren Siegeszug von
hier aus weit in die Welt angetreten.
Angesichts der schlimmen Auswüchse des Zentralismus wünschten die Menschen die Rückkehr zur Tradition des Bundesstaates. Er entspricht am besten der
historisch gewachsenen kulturellen Vielfalt unseres
Landes. Er ist im übrigen - bei all dem, was unbequem
im Alltag sein mag - eine wirksame Schranke gegen
Machtmonopole und Machtmißbrauch. Ich bin sicher
- das ist meine Erfahrung, die ich in einem langen politischen Leben gemacht habe -, daß das Ja zur föderalen
Ordnung ein Glücksfall für die Entwicklung unseres
Landes war und ist.
({10})
Dies alles waren Maßstäbe, die den Weg unserer
Bundesrepublik bis heute prägten und auch in Zukunft
prägen müssen. Auf diesem Fundament entstand eine
lebendige und stabile Demokratie, die in den Köpfen
und Herzen ihrer Bürger fest verankert ist und die sich
ihrer Feinde zu erwehren weiß. Stellvertretend für viele,
die den Grundstein zu diesem großen Werk gelegt haben, sollten wir gerade in dieser Stunde an Konrad Adenauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss denken. Sie
haben die Brücke vom kaiserlichen Deutschland in die
Nachkriegszeit geschlagen. Ihre Spuren in der Geschichte haben unser Land tief geprägt.
({11})
Unsere Verfassung ist aus gutem Grund nach der
Wiedervereinigung nicht zur Disposition gestellt worden, sondern behutsam angepaßt worden. Das Grundgesetz hat sich auf überzeugende Weise als tragfähige Basis unseres staatlichen Zusammenlebens bewährt. Was
viele vergessen: Es zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Offenheit aus, die es ermöglicht, neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen.
Untrennbar verknüpft mit der Entwicklung jener Zeit
ist der Name Ludwig Erhards, des Schöpfers der sozialen Marktwirtschaft. Freiheit und Verantwortung, Leistung und Solidarität, Erfolg und Mitmenschlichkeit sind
in der sozialen Marktwirtschaft eine ganz neuartige Verbindung eingegangen.
Im Blick auf die Diskussionen über Globalisierung
und gesellschaftlichen Wandel ist heute wieder einmal
auf der Suche nach der Zukunft von einem dritten Weg
in der Wirtschafts- und Sozialpolitik die Rede. Dabei
liegt die Lösung so nahe: Sie besteht in einer schöpferischen Übertragung der Prinzipien Ludwig Erhards auf
die Erfordernisse unserer Zeit. Das ist im übrigen die
Mitte, die manche vergeblich suchen werden.
({12})
Dazu sollte immer auch eine kluge politische Führung kommen, verantwortungsbewußte Unternehmer
und verantwortungsbewußte Gewerkschafter. Wir wissen: Es gibt beides. Es gibt Männer und Frauen in den
Gewerkschaften und in den Betrieben, die sich ihrer
Verantwortung bewußt sind. Aber es gibt auch andere,
die starren vor allem auf den Aktienkurs. Es gibt wiederum andere, die vergessen gelegentlich die Interessen
der wirklich Arbeitsuchenden. Auch das gehört zu dem,
was wir hier gestalten müssen.
({13})
Die Westintegration unseres Landes, für die wie
kein anderer Konrad Adenauer steht, führte das demokratische Deutschland in die europäisch-atlantische
Wertegemeinschaft. Sie bedeutete eine radikale Abkehr
von der damaligen „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und
West und von außenpolitischen Vorstellungen, wie sie
sich in Deutschland immer wieder entwickelt hatten,
von Vorstellungen, die allesamt gescheitert sind.
Bei fast allen im Bundestag vertretenen Parteien gilt
das Bündnis westlicher Demokratien mittlerweile als
„Kernpunkt deutscher Staatsräson“, wie ich es in meiner
Regierungserklärung 1982 formulieren durfte. Damals,
auf dem Höhepunkt der Debatte über die Stationierung
amerikanischer Mittelstreckenraketen, wurde dieser
Hinweis auf die Staatsräson heftig attackiert. Sie verstehen, daß ich mich in diesen Tagen daran erinnere. Ich
freue mich, daß inzwischen so viele, die einmal anders
dachten, heute genauso denken. Das tut mir wohl.
({14})
Es entspricht auch einer guten Bonner Tradition - die
wir mitnehmen wollen -, daß die demokratischen Parteien nach kürzeren oder längeren Perioden leidenschaftlicher Diskussionen über Grundfragen der Republik immer wieder zu einem Konsens gefunden haben.
Das galt ganz besonders in Augenblicken der Bewährung. Gerade an dieser Stelle möchte ich mit Respekt
Helmut Schmidt hervorheben. Vor gut 20 Jahren demonstrierte er durch besonnenes und mutiges Verhalten,
daß sich unser Rechtsstaat durch Terroristen nicht einschüchtern und nicht erpressen läßt. Das war eine wichtige Erfahrung, die wir auch in der Zukunft nicht vergessen dürfen.
({15})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vieles,
was zunächst heftig umstritten war, wurde dann zur gemeinsamen Überzeugung. Das gilt für die soziale Marktwirtschaft, für die NATO-Mitgliedschaft, für die Wiederbewaffnung in den 50er Jahren, für die Ostpolitik der
70er Jahre und die Deutschlandpolitik in den 80er Jahren. Demokratie lebt vom Wettbewerb der Ideen, der
Programme und der Personen. Sie lebt aber nicht zuletzt
von der Fähigkeit der Bürger und Parteien, sich auf das
Gemeinsame, auf das Wohl des Landes zu verständigen.
Konsensfähigkeit im Innern ist ja immer auch Voraussetzung für Verständigungsfähigkeit nach außen. Das
hat sich auch und gerade an unserem Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn gezeigt.
Nach ersten Ansätzen zu einer neuen Ost- und
Deutschlandpolitik unter Erhard und Kiesinger leitete
Willy Brandt mit den Verträgen von Moskau und WarDr. Helmut Kohl
schau ein neues und wichtiges Kapitel in unseren Beziehungen zur Sowjetunion und zu Polen ein. Der Grundlagenvertrag mit der DDR gab den innerdeutschen Beziehungen einen neuen Rahmen. Dieser Schritt war
richtig und notwendig, wenn auch in jenen Tagen sehr
umstritten.
({16})
Das Bild wäre aber nicht vollständig, wenn nicht hinzugefügt würde - ich tue das gerne -: Notwendig war auch
die Forderung der damaligen Opposition - ich nenne
hier Rainer Barzel und Franz Josef Strauß -, alles zu
unterlassen, was eine endgültige Anerkennung der deutschen Teilung bedeutet hätte. Die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts war hier von großer Bedeutung.
({17})
Bis auf den heutigen Tag erleben wir Vertreibung und
Flüchtlingselend. In den Ereignissen auf dem Balkan
zeigt sich in aller Grausamkeit, in welche Abgründe Unversöhnlichkeit zwischen Volksgruppen und Völkern
führen kann. So werden die Opfer von gestern zu Tätern
von heute. Vor dem Hintergrund der jetzigen Erfahrungen gehört in unsere Erinnerung die Integration von
12 Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen,
eine der größten Leistungen der Deutschen in diesem
Jahrhundert, die viel zuwenig gewürdigt wird.
({18})
Ausgezehrt, oftmals verhungert und verzweifelt kamen
sie in einem Trümmerhaufen, ihrer späteren neuen Heimat, an.
Stalin äußerte damals in Jalta die Hoffnung, die
Angst vor dem deutschen Revanchismus werde die Länder Mittel- und Osteuropas auf lange Sicht zu einem festen Block mit der Sowjetunion zusammenzwingen. Vor
allem setzte er darauf, daß die vielen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge einen sozialen Sprengstoff bilden
würden, der die damals gerade entstandene neue Bundesrepublik politisch destabilisieren und auf Dauer dem
Sog der in Europa übermächtigen Sowjetunion ausliefern müßte. Diese zynische Rechnung ging nicht auf.
Daran hatten die Heimatvertriebenen einen entscheidenden Anteil.
Schon im Jahre 1950 verabschiedeten sie ihre Stuttgarter Charta. Mit diesem großartigen Dokument schufen sie eine wesentliche Voraussetzung für das friedliche
Miteinander Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn. Sie wiesen feierlich jeden Gedanken an Vergeltung für millionenfach erlittenes Unrecht von sich - ich
zitiere -:
Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen
das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht
hat. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften
unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten
Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne
Furcht und Zwang leben können.
In diesen Tagen der schlimmen Auseinandersetzungen
im Kosovo kann man diese Haltung nur mit Bewunderung betrachten.
({19})
Die Vertriebenen - das forderte Kurt Schumacher
1949 vor der Bundestagswahl - müßten „Bestandteile
der deutschen Parteien und des politischen Lebens“
werden. Daß dies so gut gelang, verdanken wir nicht
zuletzt hervorragenden Führungspersönlichkeiten in den
Vertriebenenverbänden. Es waren oft kantige, nicht immer einfache, fast immer unbequeme Persönlichkeiten.
Sie haben die Arbeit und das Erscheinungsbild des
Deutschen Bundestages - auch das muß in dieser Stunde
erwähnt werden - ganz wesentlich mitgeprägt. Ich
nenne hier stellvertretend unsere früheren Bundestagskollegen Wenzel Jaksch und Herbert Czaja.
({20})
Über 40 Jahre lang hat das Grundgesetz in seiner Präambel „das gesamte Deutsche Volk … aufgefordert, in
freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit
Deutschlands zu vollenden“. Als bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 die Wählerinnen und Wähler in
der damaligen DDR zum erstenmal frei über die Zusammensetzung ihres Parlaments bestimmen durften,
gaben sie ein Votum mit einer beeindruckenden Klarheit
ab: Vier Fünftel stimmten für jene Parteien, die einen
baldigen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des
Grundgesetzes befürworteten. Dieses Ergebnis widerlegte all jene im In- und im Ausland, die bis dahin
geglaubt hatten, sie könnten den Wiedervereinigungsprozeß verlangsamen oder gar stoppen.
Die deutsche Einheit wurde dann am 3. Oktober 1990
erreicht - in Frieden, ohne Gewalt und Blutvergießen
und mit Zustimmung all unserer Nachbarn. Dies geschah vor allem auch mit Unterstützung der damaligen
Sowjetunion unter der Führung von Michail Gorbatschow und der Vereinigten Staaten von Amerika unter
der Führung von George Bush, die beide hier genannt
werden müssen.
({21})
An diesem Werk - ich sage dies mit Dankbarkeit hatten bei uns vor allem auch Hans-Dietrich Genscher,
Theo Waigel, Wolfgang Schäuble und Lothar de Maizière ganz wesentlichen Anteil.
({22})
40 Jahre war Deutschland in zwei Staaten geteilt doch die Einheit und die Zusammengehörigkeit der
Nation blieb gewahrt. Immer wieder zeigte sich, daß die
Mehrheit der Menschen in Ost und West nicht bereit
war, die Trennung als endgültiges Urteil der Geschichte
hinzunehmen. Ich erinnere an den Volksaufstand vom
17. Juni 1953 gegen Willkür und Unterdrückung. Die
Deutschen, die damals gegen das SED-Regime aufbeDr. Helmut Kohl
gehrten und von Panzern niedergewalzt wurden, forderten Freiheit und die Einheit des Vaterlandes.
Ich nenne den Bau der Berliner Mauer am 13. August
1961, der die politische Bankrotterklärung der SED
war.
({23})
Nur durch eine brutale Grenzbefestigung konnten die
Machthaber in Ostberlin die Menschen an ihrem selbstverständlichen Recht hindern, von Deutschland nach
Deutschland zu reisen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielen von uns sind
noch die bewegenden Bilder vor Augen, als Willy
Brandt im März 1970 Erfurt besuchte. Er wurde dort
von der Bevölkerung mit überwältigender Herzlichkeit
und mit großen Zeichen der Hoffnung empfangen. Im
September 1987, also 17 Jahre später, geriet der Aufenthalt von SED-Generalsekretär Honecker in der Bundesrepublik - entgegen den Absichten des Besuchers - zu
einer großen Demonstration des ungebrochenen Zusammenhalts aller Deutschen.
Ich konnte damals im Beisein von Erich Honecker,
erstmals vom Fernsehen in beiden Teilen Deutschlands
direkt übertragen, vor Millionen Fernsehzuschauern das
Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes noch einmal deutlich hervorheben und sagen:
Die Menschen in Deutschland leiden unter der
Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen
buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt.
Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen
wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen
Rechnung: Sie wollen zueinanderkommen können,
weil sie zusammengehören.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Damit begann
unser gemeinsamer Weg zur deutschen Einheit.
Das sind wenige Daten, aber sie raffen eine große
Epoche unserer Geschichte zusammen. Sie erzählen die
Geschichte eines Triumphes der Freiheit. Sie würdigen
aber ganz gewiß nicht hinreichend die innere Kraft und
den Mut der Menschen, die diesen Triumph überhaupt
erst möglich gemacht haben. Dazu gehören die Hunderttausende, die bei den machtvollen Manifestationen
in Leipzig, Ostberlin und anderswo im Gebiet der damaligen DDR der SED-Diktatur selbstbewußt erst „Wir
sind das Volk“ und dann „Wir sind ein Volk“ entgegengerufen haben. Sie haben sich nicht durch Gewaltandrohung einschüchtern lassen, sondern friedlich demonstriert, bis die Mauer fiel.
Und - auch das gehört in diese Stunde - wir erinnern
uns ebenso an jene Deutschen, die der kommunistischen
Diktatur versteckten, aber auch offenen Widerstand entgegengesetzt haben und dafür bitter bezahlen mußten:
mit Tod, mit Haft, mit Ausbürgerung, mit Ausgrenzung.
All diese Männer und Frauen haben zwischen 1945 und
1989 mit ihrem Eintreten für die Achtung der Menschenrechte einige der besten Kapitel in der Freiheitsgeschichte unserer Nation geschrieben. Darauf können
wir stolz sein.
({24})
So stehen wir in einer großen Traditionslinie, zu der
das Hambacher Fest von 1832 ebenso gehört wie die
Frankfurter Paulskirchen-Versammlung von 1848/49,
die Nationalversammlung in Weimar 1919, der deutsche
Widerstand gegen die Nazidiktatur und später der Neubeginn mit dem Parlamentarischen Rat in Bonn 1948/49.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir haben heute allen Grund, an diesem Tag der Stadt und der
Region Bonn für diesen Dienst an unserer Nation zu
danken.
({25})
In der deutschen Geschichte hat es viele politische Zentren gegeben. Bonn wird künftigen Generationen als
Wiege der zweiten deutschen Demokratie, des freiheitlichsten, humansten und sozialsten Staatswesens, das es
auf deutschem Boden je gegeben hat, in Erinnerung
bleiben. Die Bonnerinnen und Bonner können sicher
sein, daß der Beitrag ihrer Stadt zur Fortentwicklung unseres Landes auch in Zukunft gebraucht wird. Sie können sich darauf verlassen - das gehört für uns alle in
diese Stunde -, daß wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, zu unseren Zusagen gegenüber der
früheren Bundeshauptstadt stehen. Ich sehe mich auch
persönlich in der Pflicht, und ich hoffe, das gilt für Sie
alle, auch für die geschätzten Mitglieder des Bundesrates, wenn ich das in diesem Zusammenhang sagen darf.
({26})
In Bonn schlug fünf Jahrzehnte das Herz demokratischer Politik für Deutschland. Gemeinsam mit Berlin
war Bonn Schauplatz zahlreicher Entscheidungen, die
den Weg unseres Landes maßgeblich bestimmt haben.
Der Genius loci dieser Stadt hat einen gewichtigen Anteil daran, daß unsere Bundesrepublik stabil und erfolgreich werden konnte. Er bildete den idealen Nährboden
für eine politische Kultur, die in hohem Maße dazu beigetragen hat, unserem Land Vertrauen, Ansehen und
nicht zuletzt Sympathie in der Welt zurückzugewinnen.
Dazu gehören das gelassene Selbstbewußtsein dieser
traditionsreichen Stadt, die geistig-kulturelle Offenheit
der Universitätsstadt, die fröhliche Herzlichkeit der
Bonnerinnen und Bonner - dies sage ich bewußt - und
nicht zuletzt die charakteristische Atmosphäre von Bürgersinn und Toleranz, einer kräftigen Dosis Selbstironie
und der Abneigung gegen hohles Pathos. Das hat uns in
den Bonner Jahren viel geholfen.
({27})
Als deutscher und europäischer Strom symbolisiert der
Rhein Offenheit für neue Horizonte in Europa und der
Welt und nicht, wie manche meinen, Provinzialität und
Enge.
({28})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren - ({29})
- Herr Präsident, ich entschuldige mich ausdrücklich für
diese Verwechslung.
({30})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die deutschen Bundesländer verfügen heute über ein stark ausgeprägtes föderales Selbstbewußtsein. Auch daran hat
Bonn wesentlichen Anteil. Es ließ den Ländern und
ihren Hauptstädten den notwendigen Freiraum zur Entfaltung. Von hier ging zu keinem Zeitpunkt eine zentralistische Wirkung aus, die den blühenden Föderalismus
beeinträchtigt hätte. Das ist gut so. Das wollen wir so
beibehalten. Ich füge hinzu: Dies soll in Zukunft nicht
mehr, aber auch nicht weniger sein.
Bonn symbolisierte die politische Hinwendung zum
Westen auf glaubwürdige Weise. In seinem bewußt bescheidenen Auftreten war es die überzeugende Verkörperung eines Deutschlands, das jedem nationalistischen
Wahn, jedem imperialen Gehabe und jedem Streben
nach Vorherrschaft ein für allemal abgeschworen hatte.
Im wiedervereinten Deutschland und im zusammenwachsenden Europa müssen Parlament und Regierung
ihren Sitz dort haben, wo ihr geschichtlicher Standort
war, wo einst die Trennlinie zwischen Ost und West,
zwischen freiheitlicher Ordnung und kommunistischer
Diktatur verlief, wo die Wunde der Teilung mitten in
Deutschland und Europa schmerzte. Dies war, ist und
bleibt meine Überzeugung. Deswegen habe ich mit vielen Kolleginnen und Kollegen 1991 für den Umzug
nach Berlin gestimmt.
Im 21. Jahrhundert wird das wiedervereinte
Deutschland neuen Herausforderungen begegnen und
neuen Anforderungen genügen müssen, so zum Beispiel
im Blick auf seine Wettbewerbsfähigkeit oder seinen
Beitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit.
Jeder, der künftig von Berlin aus regiert, ist gut beraten, sich in die Kontinuität des in Bonn Geschaffenen
zu stellen. Es ist ein wahrlich kostbares Erbe, das Bonn
an Berlin weitergibt, ein Erbe mit Zukunft. Es zu pflegen ist uns allen aufgegeben. Auch in der Welt von
morgen sind die freiheitliche Demokratie und die soziale
Marktwirtschaft Grundlagen unseres Erfolgs für unsere
gemeinsame Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heute
nicht nur vor dem Umzug von Parlament und Regierung
nach Berlin, sondern auch vor dem Beginn eines neues
Jahrhunderts. Für mich und für viele von uns ist dies
Grund zur Dankbarkeit mit Blick zurück auf die zweite
Hälfte dieses Jahrhunderts. In den vergangenen 50 Jahren ist unser Land aufgeblüht und hat sich fest in die
Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien eingefügt.
Nach meiner festen Überzeugung haben dies einige politische Handlungsmaximen bewirkt, die ich von mir aus
als Wünsche an uns, an die Politik der künftig von Berlin aus regierten Bundesrepublik weitergeben möchte:
Erstens. Bewahren wir uns den Geist der Bescheidenheit und der Hilfsbereitschaft.
({31})
Zweifeln an der demokratischen Reife unserer Nation
müssen wir, nachdem die Ordnung des Grundgesetzes
schon ein halbes Jahrhundert Bestand hat, durchaus
selbstbewußt entgegentreten. Vergessen wir aber bitte
nicht, daß wir auch künftig das Vertrauen unserer Partner in besonderer Weise brauchen! Wir sind das Land
mit den meisten Grenzen und Nachbarn. Wir sind zudem
ein Land mit einer schwierigen Geschichte, um es
freundlich auszudrücken.
Im Bewußtsein dieser Tatsache sollten wir den kleinen Nachbarländern den gleichen Respekt erweisen wie
den großen.
({32})
Das ist nicht nur eine Frage des guten Stils, sondern eine
Frage der Klugheit.
({33})
Widerstehen wir vor allem der Versuchung, unseren
gewachsenen Einfluß, von dem alle wissen, selbstgefällig zur Schau zu stellen!
({34})
Zweitens. Bewahren wir uns den Geist demokratischer Gemeinsamkeit! Dies bedeutet ein klares Ja zur
leidenschaftlichen Debatte über den richtigen Weg für
unser Land - und ein ebenso klares Nein zum barbarischen Freund-Feind-Denken.
({35})
Demokratische Gemeinsamkeit verlangt die entschiedene Absage an jegliche Zusammenarbeit mit Radikalen
von rechts und links.
({36})
Zugleich fordert sie uns auf, die Wähler solcher Gruppierungen, insbesondere wenn es sich um junge Leute
handelt, für die demokratischen Parteien zurückzugewinnen.
Extremisten haben nur Unglück über unser Land gebracht. Sie haben in der Bundesrepublik auch künftig
keine Chance, wenn Demokraten sich standhaft weigern,
gemeinsame Sache mit ihnen zu machen.
({37})
Drittens. Vergessen wir bei aller Notwendigkeit des
Sparens nicht, daß Deutschland nur dann eine Zukunft
hat, wenn es sich immer auch als Kulturstaat begreift!
Wirtschaftliche und soziale Fragen - wir wissen es alle sind von überragender Bedeutung; das versteht sich von
selbst. Wir dürfen aber auf keinen Fall die geistigkulturelle Dimension der Zukunftssicherung vergessen.
Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, daß der
Kulturstaat Deutschland weiter ausgebaut wird. Die
Kultur ist ein Feld des Wettbewerbs der Nationen, wo
sich jeder Einsatz lohnt. Es gehört zum Kulturstaat, daß
der Staat eine offene Debatte über die großen Fragen unserer nationalen Identität ermöglicht, ohne die Bürger
auf ein bestimmtes Geschichtsbild festlegen zu wollen.
({38})
Das heißt für mich, daß Bund, Länder und Gemeinden die Pflege unseres reichen kulturellen Erbes nicht
einfach an den Markt delegieren dürfen. Private Stiftungen und privates Mäzenatentum sind im höchsten Maße
wünschenswert und förderungswürdig, und sie stehen
einer Gemeinschaft freier Bürger gut an.
({39})
Die Verantwortung des Staates werden sie jedoch nie
ganz ersetzen können. Das dürfen wir nicht vergessen.
({40})
Viertens. Bewahren wir uns das einzigartige Verhältnis von Staat und Kirche, wie es sich in den letzten
Jahrzehnten in der Bundesrepublik entwickelt hat! Auch
ein zunehmend säkularisiertes Land kann auf das öffentliche Wort und das mitmenschliche Engagement der
Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht verzichten.
({41})
Zu Recht ist immer wieder gesagt worden, daß der
freiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt,
die er selbst nicht garantieren kann. Dieser Grundkonsens ist nicht gegen die Vielfalt moderner Gesellschaften
gerichtet. Es ist genau umgekehrt: Er macht Pluralismus
erst möglich und lebensfähig.
Ich wünsche mir deshalb, daß sich die Kirchen trotz
mancher Schwierigkeiten die Kraft erhalten, Orientierung zu geben und Werte zu vermitteln. Und ich wünsche mir, daß sich Christen und Juden in Deutschland
auch in den kommenden Jahren verstärkt dem Dialog
mit unseren Mitbürgern muslimischen Glaubens widmen.
({42})
Fünftens. Bewahren wir uns die einzigartige Freundschaft mit unseren französischen Nachbarn.
({43})
Sie ist in Wahrheit eines der kostbaren „Geschenke“ der
Geschichte der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.
({44})
Deutschland und Frankreich bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Ohne ihr enges Zusammenwirken wird es
auch künftig keinen wesentlichen Fortschritt im europäischen Einigungsprozeß geben.
({45})
Beide Nachbarländer sind „dazu geschaffen, einander zu
ergänzen“ - so hat es Charles de Gaulle angesichts der
Gräber von Verdun ausgedrückt. Setzen wir diese
Freundschaft nicht aufs Spiel! Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen sind wirklich das Normale, im
privaten Leben wie im Leben der Völker. Aber sie dürfen nie ein Grund sein, die Fundamente unseres Miteinanders in Frage zu stellen.
Auch das kann man nicht oft genug sagen: Die
deutsch-französische Freundschaft schließt überhaupt
niemanden aus; sie ist gegen niemanden gerichtet. Lassen wir uns auch von niemandem einreden - wie das
immer wieder versucht wird und auch in Zukunft versucht werden wird -, daß wir Deutsche zwischen Paris
und Washington oder zwischen Paris und London zu
wählen hätten. Dies ist eine Politik des Gestern und
niemals unsere Politik heute und morgen.
({46})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Sie
mich an diesem für unser Land so wichtigen Tag zum
Schluß auch ein persönliches Wort gerade an die Jungen
richten. Sie, die Jungen unter uns, gehen in ein neues
Jahrhundert. Es wird ihr Jahrhundert sein. Es zu gestalten ist ihrer Generation aufgegeben. Wir, die Älteren,
haben versucht, mit unseren Möglichkeiten Mittel dafür
zu erarbeiten, daß dieses neue Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens und der Freiheit wird, ein Jahrhundert
der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen den
Völkern. Helfen Sie, die Jungen, mit, daß es so bleibt!
Denn was immer Sie aufbauen: Es wird nur Bestand
haben auf der Grundlage von Frieden und Freiheit.
Beides muß immer wieder neu erarbeitet und neu gesichert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns
allen, daß wir uns in Berlin beim Übergang in ein neues
Jahrhundert den Geist eines freiheitlichen Patriotismus
bewahren, der Vaterlandsliebe, europäische Gesinnung
und Weltbürgertum miteinander verbindet. Tun wir ganz
einfach unsere Pflicht! Stehen wir zu unseren Überzeugungen, und behalten wir Augenmaß, auch in schwierigen, turbulenten und unruhigen Zeiten. Seien wir gute
Nachbarn und verläßliche Partner. Bleiben wir deutsche
Europäer und europäische Deutsche. Dann haben wir
eine gute Aussicht auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit.
({47})
Das Wort hat nun
Kollegin Antje Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter
Herr Bundeskanzler Helmut Kohl, ich möchte mich bei
Ihnen für Ihre Rede bedanken, die ja so etwas wie ein
Manifest war. Ich möchte Ihnen sagen, daß Sie für uns
- in allem, aber insbesondere in der liberalen, föderalen,
europäischen Ausrichtung - immer so etwas waren wie
eine Verkörperung der Bonner Republik. Deswegen
haben wir Sie ja auch so genau studiert und Ihnen so
genau zugeschaut. Das gilt auch für die, die jetzt an der
Regierung sind.
({0})
50 Jahre Demokratie in Deutschland, das ist eine
atemberaubende Erfolgs- und Glücksgeschichte, ja,
manchmal geradezu ein Exportschlager, der in vielen
neuen Demokratien als Modell angefordert wird. Wie
macht man das, aus einem völlig zerstörten Land, das in
der ganzen Welt verachtet wurde, wieder ein blühendes
Gemeinwesen zu schaffen? Und wie baut man so dicht
an der Erfahrung äußerster Gewalt in Deutschland eine
der glücklichsten und längsten Epochen eines stabilen
Friedens auf?
Beginnen wir mit dem Grundgesetz, dem glücklichsten Geschenk an der Wiege dieser Republik. Welches
Bild vom Bürger hatten die Väter und Mütter des
Grundgesetzes, als sie die riesige Chance bekamen, ein
ganzes Land und seine innere Ordnung noch einmal neu
auf einem weißen Blatt Papier zu entwerfen? Die Essenz
des Grundgesetzes war ja nicht etwa eine Kopie des real
existierenden Bewußtseins der Menschen jener Jahre;
das Grundgesetz wurde gerade nicht dem halb- und vordemokratischen Bürger, dem traumatisierten Kriegsheimkehrer, dem ehemaligen Untertan der Diktatur auf
den Leib geschrieben. Nein, es wurde ein geradezu
großartiges Licht hinter diesen real existierenden Bürger
jener Jahre gestellt.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren frei
genug, sich von dem Bild von freien Bürgern in einer
freien Gesellschaft verführen zu lassen. Das war ein gewaltiges Vertrauen darein, was aus Menschen einmal
werden kann, wenn sie glückliche Umstände haben. Ungefähr eine solche Verfassung müßte man in Jugoslawien jetzt schreiben und den Menschen anbieten, die aus
dem Chaos und dem Trauma des Bürgerkriegs, der Vertreibungen und der Bombennächte auftauchen.
({1})
Übrigens, auch die überzeugende Leit- und Lockidee
des Marshallplans war gerade nicht das Geld, sondern
eben dieses Zutrauen, daß sich aus ehemaligen Nationalsozialisten und ihren Mitläufern wieder Demokraten
entwickeln können. Dieses Vertrauen, daß Menschen
wieder zu Demokraten werden können, ist unglaublich
mobilisierend.
Jede Verfassung gibt Auskunft darüber, welche Gefahren sie auf die Gesellschaft zukommen sieht. Um
einen Vergleich zu wählen: Die Zehn Gebote sahen folgende Bedrohung des menschlichen Gemeinwesens voraus: daß man falschen Göttern dient, daß die Bürger
untereinander in Streit geraten durch Lügen, Stehlen,
Eifersucht, daß die Alten nicht geachtet werden und daß
Eigentum nicht geschützt wird. Mordverbot und die
Heiligstellung des Gastrechtes sollten die Blutrache unterbinden. Das war damals die ganze Gefahrenanalyse.
Sie hielt jahrtausendelang menschliche Gemeinwesen im
inneren Gleichgewicht.
Die Gefahrenanalyse des Grundgesetzes kennt dies
alles ebenfalls. Aber nach ihr ist die Hauptgefahr der
totalitäre Staat, der den einzelnen nicht schützt und
nicht seine Würde verteidigt. Der Vorrang der Freiheit
und der Menschenwürde war die Hauptlehre aus der
Zeit der vergangenen Gewaltherrschaft. An dieser Grundidee ist in der Folgezeit der Bonner Republik festgehalten worden. Aber es wurde auch viel nachgebessert.
Die meisten Korrekturen erfolgten im Sinne der Gleichheit. Daß Männer und Frauen gleich sind, dafür hatten
sich schon die berühmten „vier Mütter des Grundgesetzes“ mit aller List und Energie sehr tapfer geschlagen.
Aber der Aspekt, daß nicht nur die Freiheit gegenüber
dem Staat zu verteidigen sei, sondern daß dieser Staat
selbst immer stärker Gleichheit unter den Menschen
herzustellen hat, der beschäftigte ganze Generationen
von Sozialpolitikern und ist heute übrigens eine der
Wurzeln immer komplizierterer Gesetzgebungsverfahren. Das hat den Staat gelegentlich auch überfordert und
die soziale Kompetenz der Zivilgesellschaft meines Erachtens unterschätzt.
({2})
Die zweite Gefahrenanalyse des Grundgesetzes bezieht sich auf den Krieg. Das Grundgesetz ist gegen den
Krieg, gegen den großen Zerstörer, mit jenem emphatischen „Nie wieder“ des politischen Widerstands und
der Überlebenden formuliert.
Daß es aber auch Bedrohungen des Menschen durch
seine eigenen kreativen Fähigkeiten, durch die Erfindungen seines Geistes oder durch die Praxis seiner Wirtschaftsform gibt, konnte damals noch nicht gesehen
werden. Daß auch der Frieden, die Industriegesellschaft
und der Wohlstand ihre Gefahren haben, gehört zu den
neuen Erkenntnissen, die wir gerade der Bonner Republik verdanken.
({3})
Das war die europäische Geburtsstunde des ökologischen Gedankens.
({4})
Die dritte Gefahrenanalyse entsprang dem Entsetzen
darüber, daß die Weimarer Republik nicht genügend
Demokraten zu ihrer Verteidigung gefunden hatte. Darum ist das Grundgesetz sehr vorsichtig und geradezu
skeptisch gegenüber Massenstimmungen und allen Elementen direkter Demokratie. Diese Ängstlichkeit hat
sich bis heute gehalten. Hierüber sollen und müssen wir
- nicht zuletzt nach dem Votum des letzten Bundespräsidenten - auf dem Weg nach Berlin nachdenken.
({5})
Eine bürgerliche Demokratie muß auch Zutrauen zur
Substanz der bürgerlichen Kultur haben und darauf vertrauen, daß sie hält. Spätestens seit den Errungenschaften der Bürgerrechtler aus der DDR steht die Forderung,
die Bürger in Sachfragen mit Plebisziten entscheiden zu
lassen, auf der Tagesordnung.
({6})
Allerdings - das wissen wir wohl - kann man diese
Forderung unter den Bedingungen der Mediendemokratie, die auch etwas Neues ist, nicht naiv und romantisch
aufstellen. Sie setzt voraus, daß bei Wählern wie Gewählten der Demokrat im Bürger den Populisten im
Bürger dauerhaft besiegen kann.
50 Jahre Demokratie in Bonn hieß im Inneren Freisein von Angst und im Äußeren wachsendes Vertrauen
in das Land. So sehr wir uns auch im Outfit geändert
haben - einmal ehrlich, welche parlamentarische Demokratie kann es sich denn leisten, in einer Politikergeneration vier Parlamentsgebäude zu besitzen und zu nutzen? -, hing doch das Vertrauen mit den handelnden Personen zusammen. Daß Konrad Adenauer die
Kriegsgefangenen nach Hause brachte, die Versöhnung
mit den Franzosen zu seiner Lebensaufgabe machte,
Deutschland in die Westintegration führte und trotzdem
noch Zeit für seine Rosen fand, schaffte demokratisches
Urvertrauen.
({7})
Willy Brandt, kniend vor dem Warschauer Getto,
das gehört zu den großen wichtigen Bildern dieses Jahrhunderts
({8})
ebenso wie das von Richard von Weizsäcker mit seiner
großen Rede zum 8. Mai, wie das von Hans-Dietrich
Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft und
Helmut Kohl tapfer die Nationalhymne gegen das Pfeifen vor dem Schöneberger Rathaus ansingend am Tag,
als die Mauer fiel. Die Tonlage war nicht ganz richtig,
aber die Haltung stimmte.
({9})
Dazu gehören auch Petra Kelly und Heinrich Böll in
Mutlangen. Die Erinnerung daran wird bleiben.
Die Geschichte der Bonner Republik ist vor allen
Dingen die Geschichte einer ganz großen Integrationsleistung. Sie integrierte - das ist schon gesagt worden 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Besten, was man Menschen anbieten kann, die Traumatisches erlebt haben, nämlich mit Freiheit und Zukunftschancen. Das hat allen genützt, und alle haben davon
profitiert. Die Vertriebenen haben daraus eine glückliche Zukunft gemacht, und dieses Land hat davon sehr
gewonnen.
({10})
Sie integrierte - auch das war sehr schwer - zum
zweiten ein ganzes Heer von schuldbeladenen und
schuldverhafteten Trägern und Mittätern des totalitären
NS-Regimes. Genau genommen haben wir in diesem
Land zwei Experimente mit der Integration von belasteten Mitbürgern gemacht und machen sie noch: zum
einen, indem 20 Jahre lang fast gar nicht nach ihren Taten gefragt wurde, zum anderen, indem wir nach der
Wende sehr genau über die begangenen Verbrechen und
die Mechanismen der Diktatur informiert haben. Was
wirklich stabilere Demokraten schafft, können wir heute
noch nicht deutlich entscheiden; ich melde da auch
Zweifel an. Das bleibt eine Frage, die vor allem in den
neuen Ländern zu beantworten ist.
Die dritte Integrationsleistung ist die Wiedereingliederung der starken außerparlamentarischen Opposition in den 60er Jahren und später in den Bogen der
parlamentarischen Demokratie. Entstanden aus einem
dramatischen Generationenriß und einer Aufkündigung
des gesellschaftlichen Konsenses war die 68er Bewegung am Ende bis hin zu den Grünen so etwas wie eine
„Resozialisierung“ einer ganzen Generation für den
parlamentarischen Weg. Dafür stehen wir. Auch das ist
eine Aufgabe, die uns bei der „verlorenen Generation“
in den neuen Ländern, die es auch gibt, noch bevorsteht
und die in Berlin zu leisten sein wird.
({11})
Die vierte Integration ist die von Millionen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Ich bin sehr
froh, daß wir nun endlich - Gott sei Dank noch in
Bonn - die als Gleiche akzeptieren, die längst Bürger
dieses Landes waren.
({12})
Die fünfte Integration ist die der neuen Länder in
unser Gemeinwesen. Wir wissen alle, daß es eine enorme, ungeheuer effiziente Leistung der Verwaltungen gegeben hat, die weitgehend gelungen ist. Die politische,
mentale, seelische Integration müssen wir in Berlin endgültig schaffen.
({13})
Willy Brandt, der über sein Leben den Satz „Man hat
sich bemüht“ setzen ließ, hat in einer Rede fast verwunDr. Antje Vollmer
dert gesagt: Uns ist doch Erstaunliches gelungen, wir
können auch gelegentlich auf manches stolz sein. - Stolz
bin ich auf die langsam und unaufhaltsam wachsende
Beteiligung der Frauen auch an den führenden Positionen in Staat und Gesellschaft, obwohl da unsere Phantasie noch nicht am Ende ist.
({14})
Stolz bin ich darauf, daß wir am Ende einer langen und
sehr scharfen ideologischen und gesellschaftlichen
Spaltung in Links und Rechts, während der nichts mehr
ging über diese Spaltung hinaus, heute von einer dialogfähigen Reformmehrheit in der Mitte der Gesellschaft reden können, die auch in der Lage ist, schwierige Reformen zu tragen. Stolz bin ich auch auf den Fußball der 80er Jahre, die Musik, Boris und Steffi und die
charakterliche Spannung zwischen ihnen sowie die neue
Heiterkeit des gesellschaftlichen Lebens. Stolz bin ich
auf unsere europäische Identität. Stolz bin ich darauf,
daß nichteheliche Kinder nicht mehr wissen, was dieser
Begriff eigentlich sagen soll. Stolz bin ich darauf - das
sage ich auch zu unseren und allen anderen „jungen
Wilden“, besonders denen in den Feuilletons -, daß ich
weiß, daß '68 zwar wichtig, aber doch nur eine Episode
war. Die zweite Gründung dieser Republik war eben
nicht 1968, sondern 1989. Das hat die Geschichte und
auch die Proportionen richtiggerückt.
({15})
Froh bin ich darüber, daß es uns nach Jahren des Terrors und des Deutschen Herbstes, in denen Politik nur
unter unglaublicher Sicherheitsbewachung und damit
verengt stattfinden konnte, doch gelungen ist, daß unsere
Politiker wieder frei in Fußgängerzonen flanieren können. Froh bin ich über den Gewaltverzicht der Terroristen sowie darüber, daß es Begnadigungen gegeben hat.
Froh bin ich darüber, daß selbst in Zeiten des Krieges
diese Gesellschaft den Krieg nicht will, daß sie ihn nicht
vorbereitet und daß sie seine moralische und religiöse
Überhöhung in Politikerreden nicht erträgt.
({16})
Wir haben auch viel Skurriles erlebt, auf das ich jetzt
nicht im einzelnen eingehen kann. Ich denke zum Beispiel daran, daß ein ganzes Parlament wegen einer
Buschhaus-Affäre aus den Ferien gerufen wurde, daß
aus einem Parlament wie diesem eine junge Abgeordnete wegen eines Hosenanzuges und ein späterer Minister wegen eines unziemlichen Ausdrucks getadelt
wurden. Das alles erspare ich mir jetzt.
Wir sind in Bonn hoffentlich endlich zu den Citoyens
geworden, um die wir die Franzosen, die Engländer und
die Amerikaner immer beneidet haben. Die Politik dieses Landes hat alle Voraussetzungen, in Berlin mit dem
richtigen Maß und mit der gebührenden Verantwortung,
aber auch mit gelegentlicher Ironie neu anfangen zu
können. Die Demokratie in Deutschland ist kein weißes
Blatt Papier mehr.
({17})
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gerhardt.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen in den letzten Tagen
ergangen ist. Ich jedenfalls habe mich mehrmals dabei
ertappt, daß ich länger und nachdrücklicher aus meinem
Büro auf den vorbeifließenden Rhein gesehen habe,
Eindrücke von vorbeifahrenden Schiffen, abends mit
Positionslichtern, verfestigen wollte und mich gefragt
habe, ob man in Berlin aus der ganz natürlichen Arbeitshaltung heraus wieder ein solches atmosphärisches
Bild gewinnen kann. Ich bin auch ganz anders um den
Bundestag herumgegangen und habe ganz anders Begegnungen mit Besuchergruppen vor dem Plenarsaal gesucht. Ich bin sehr bewußt an einige Orte in Bonn gegangen, die gewohnterweise Orte der Begegnungen unter uns gewesen sind - manchmal zuviel unter uns und
weniger mit anderen -, ich war in der Innenstadt, obwohl ich dort schon mehrmals war,
({0})
und habe versucht, noch einmal Dinge aufzunehmen und
mir darüber klarzuwerden, was die Stadt für mich ganz
persönlich eigentlich war.
Von ihrer Größenordnung her kann man übertragen,
was sie für uns war: Sie war ein Stück schattenspendende Institution in der Nachkriegsgeschichte, und sie war
die Verkörperung eines Maßes. Mit „Maß“ meine ich
nicht nur ein persönliches Maß, sondern auch ein zutiefst menschliches und ein politisches Maß. Ich habe
mich in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß
Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat gesagt hat,
daß dieses für die deutsche Politik nun sehr wichtig sei.
Er hat das in einigen Punkten zum Ausdruck gebracht:
Keine Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit,
Beendigung der Politik der nationalen Selbstvergewisserung, dem deutschen Volk den billigen Nationalismus
abgewöhnen.
Außerdem hat er einige Sätze geprägt, die für mich
ganz entscheidend sind und die beim Umzug nicht verlorengehen dürfen. Beim Umzug geht manchmal etwas
verloren, wie Sie aus Ihrem privatem Leben wissen. Bei
diesem Umzug darf die Substanz nicht verlorengehen.
Theodor Heuss hat formuliert: Bonn steht für das Vertrautwerden der politischen Eliten über die alten Ressentiments hinweg mit den wirklichen parlamentarischen Systemen des Westens.
({1})
Wenn ich von „politischer Elite“ und von „Ressentiments“ spreche, klingt das heute, im nachhinein betrachtet, so geschichtlich. Aber er hat das im ParlaDr. Antje Vollmer
mentarischen Rat, der hier getagt hat, so formuliert,
weil er das Scheitern der Weimarer Republik erlebt
hatte und die Ursachen und Gründe genau kannte. Ich
wiederhole es: das Vertrautwerden der politischen
Eliten mit den wirklichen parlamentarischen Systemen
des Westens.
Nach 1945 war eine erhebliche Integrationsleistung
zu vollbringen, es war viel Kraft erforderlich, um sich
über die eigenen Biographien der vergangenen zwölf
Jahre klarzuwerden. Erlauben Sie mir deshalb noch die
Bemerkung - ich bin dankbar, daß Bundestagspräsident
Thierse heute morgen bereits darauf hingewiesen hat -:
Uns in der alten Bundesrepublik Deutschland hat dabei
die positive wirtschaftliche Entwicklung, die mit dem
Namen Ludwig Erhards konzeptionell verbunden ist,
erheblich geholfen. Die Festigung der Demokratie ist
ohne Festigung der Lebensperspektiven für Menschen
schwierig. Das, was wir heute als Wirtschaftswunder
bezeichnen, hat einen außerordentlich hohen Anteil auch
an der Festigung der Demokratie gehabt. Deshalb muß
es eindeutig in unserem Interesse liegen, dieses Festigungswerk mit wirtschaftlichem Erfolg und Lebenszuversicht für die Menschen auch in den neuen Ländern zu
erhalten. Das ist keine Frage des Transfers. Das ist eine
Haltung, die wir einbringen müssen.
({2})
Deshalb gibt es so einen Ersatz für die alte Deutschlandpolitik, mit der wir uns immer auch kontrovers in
der alten Bundesrepublik Deutschland auseinandergesetzt haben. Ich glaube, daß wir dazu kommen sollten,
über Parteigrenzen hinweg dieses Thema der Festigung
und des ökonomischen Erfolges in den neuen Ländern
wirklich zu einer Frage der inneren Haltung zu machen.
Für mich ist das der moderne Kern der alten Deutschlandpolitik meiner Partei. Früher war sie durch eine
Grenze gehindert. Heute müssen wir anderes überwinden.
Bonn ist eigentlich ein bescheidener Name, wenn
man auf die Geburtsstunden freiheitlicher Ordnungen
blickt. Es gibt gewaltige Geburtsstunden freiheitlicher
Ordnungen, in denen sich diese berühmten Charms of
Liberty großartig entfalten. Nehmen Sie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Nehmen Sie die Entwicklungen, von denen Sie in Geschichtsbüchern lesen
können, am Vorabend der Französischen Revolution. Ja,
die Paulskirchenverfassungsdebatte hat für uns durchaus ein Stück vergleichbarer Atmosphäre.
Ich weiß nicht, ob man die parlamentarischen Beratungen bis zum Grundgesetz so einordnen kann. Aber in
ihrer Nachhaltigkeit, in ihrer Wirkung und in ihrer Festigung in einem Land, das in diesem Jahrhundert in seiner Geschichte nach allem anderen gesucht hat und mit
vielen politischen Kräften gesegnet war, die wirklich
nicht das gesucht haben, was das Grundgesetz beschreibt, ist das eine gewaltige Leistung.
Gerade dafür steht Bonn, eben auch in der Ausprägung der Individualrechte. Dieses Land hat sich in den
50 Jahren Geschichte schwergetan. Es hat bis heute immer noch nicht die Balance gefunden zwischen wirklicher Privatheit, zwischen wirklichen Individualrechten
und Staat. Die Teilung zwischen Staat und Privat muß
immer neu bestimmt werden. Sie stimmt auch so noch
nicht.
({3})
Es gibt eine überwiegende deutsche politische Kultur, die auf Staat setzt, die mit staatlichen Lösungen
kommt und in staatlichen Kategorien denkt. Dieses
Land muß immer noch sein inneres Gleichgewicht finden zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen
Staat und Privat.
({4})
Mit dem Namen Bonn verbunden sind auch Geschichten - ohne jetzt Namen zu nennen -, die dann zu
großen Skandalen aufliefen. Da hat sich gezeigt, daß der
Name Bonn, jedenfalls dieser Abschnitt der Geschichte,
auch dafür steht, daß sich in Deutschland eine kritische
Öffentlichkeit herausgebildet hat, und zwar nicht nur in
bezug auf das, was wir hier kontrovers debattieren;
vielmehr hat sich auch außerhalb dieses Raumes die Fähigkeit herausgebildet zu einer kritischen Beobachtung
von Politik, zu einer kritischen Begleitung, im entscheidenden Bereich sogar zu einer Medienlandschaft in
Deutschland, die fähig ist, ein Wächteramt mit anderen
zu übernehmen.
Das gehört zu Geschichten in diesem Jahrhundert, die
mit dem Namen Bonn verbunden sind und die in einer
Demokratie eben auch wichtig sind.
Bei dem bevorstehenden Umzug müssen wir darauf
achten, daß diese Grundachse nicht verschoben wird, die
dieses Land so erfolgreich gemacht hat. Das ist der Kern
des Auftrags.
({5})
Deshalb hat der ehemalige Bundeskanzler Kohl völlig recht. Ich stimme ihm voll zu. Es darf und kann für
uns keine Bonner Republik geben, und es kann auch
keine Berliner Republik geben. Es gibt eine Republik,
die der gelungene zweite Versuch der Deutschen in
diesem Jahrhundert ist, Demokratie dauerhaft zu verankern. Das muß in Berlin fortgesetzt werden. Ich
glaube sogar, daß die Stadt Berlin, die wir in ihrer
dynamischen Entwicklung so sehen und zu der wir uns
mit Spannung hinbegeben, diese Chance selbst sehen
muß.
Vorhin ist den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt
Bonn zu Recht gedankt worden. Es ist auf ihr Naturell
hingewiesen worden, das für mich - ich komme aus
Oberhessen - zu einer großen Bereicherung des Lebens
geworden ist.
Ich sage aber auch für Berlin: Hauptstadt ist man
nicht nur durch Beschluß des Bundestages oder weil das
verfassungsmäßig so sein sollte. Hauptstadt muß man
sein wollen, und Hauptstadt muß man auch gemeinsam
dort leben.
Ich freue mich auf Berlin. Wir haben die innere
Spannung dieser Stadt schon bei den vielen Besuchen in
den letzten Jahren erfahren. Wir trauen ihr eine ganz dynamische Entwicklung zu. Wir wissen auch, daß unsere
europäischen Nachbarn Berlin viel zutrauen. Sie schätzen Berlin als eine der großen europäischen Metropolen
- wenn nicht sogar als die große Metropole - der Zukunft ein. Sie erwarten von uns allerdings auch, daß
Berlin mit dem Umzug ein Stück Akzentsetzung und ein
Stück prägende Kraft gewinnt. Ich glaube, daß in Berlin
die Chancen größer als jedes Risiko sind. Wir sollten
unsere Nachbarn und die Erwartungen an uns nicht enttäuschen. Daß wir diese Chance haben, daß wir in Berlin
diese demokratische Substanz leben und praktizieren
können und daß wir dort - in dieser Stadt, in der manches auch schon gescheitert ist - dieses Stück demokratische Stabilität haben, daran hat Bonn, diese Stadt am
Rhein, ganz entscheidende Anteile. Aus diesem Grund
gilt unser Dank dieser Stadt.
({6})
Meine Damen und Herren, wir müssen sehen, daß
Parlament, Verfassung, unabhängige Institutionen, die
Debatten, die wir führen, das Bundesverfassungsgericht,
die Bundesbank oder jetzt auch schon die Europäische
Zentralbank und der föderative Staatsaufbau - also all
das, was wir als „balance of power“ brauchen, damit
Macht geteilt wird und sich keine Allmacht entwickelt -,
nicht alles sein kann. Das ist ein Gerüst. Zusätzlich
brauchen wir aber Bürgerinnen und Bürger, die die
Mitte, das Maß, Toleranz und Weitsicht sowie die Fähigkeit, andere anders sein zu lassen, als sie selbst sind,
haben. Institutionen und Verfassungen leben nicht, wenn
die mentale Verfassung der Gesellschaft nicht fähig ist,
sie zu leben. Deshalb ist eine geschriebene Verfassung
nicht ausreichend.
Bonn ist mit der geschriebenen Verfassung verbunden. Für ihre Dauerhaftigkeit brauchen wir aber die stetige Verankerung einer demokratischen mentalen Verfassung der Gesellschaft und der Politik der Bundesrepublik Deutschland. Das ist eine Aufgabe, die weitergeführt werden muß, die nie enden wird, die große Substanz hat und die vielleicht auch Berlin die Chance gibt,
nach vielen Rückschlägen in diesem Jahrhundert jetzt
endlich eine deutsche Hauptstadt zu sein, von der für
unsere Nachbarn Verläßlichkeit, für unsere Bürger
Sicherheit, für unser Land demokratische Stabilität und
für alle Welt Weltoffenheit und freundschaftliche Beziehungen ausgehen. Darauf darf sich Berlin mit uns
freuen. Wir wollen das Beste dafür tun, daß das gelingt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun
Kollegin Christa Luft.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus Ostdeutschland kommend
gehöre ich einer Generation an, die den größeren Teil
des Lebens in einem anderen politischen System verbracht und dort natürlich auch Prägungen erfahren hat.
Aber auch diese Generation hat jetzt nur noch dieses
eine Land. Daher möchte ich an einem Tage wie dem
heutigen wünschen, daß fortan weniger der Streit um
unsere getrennte Vergangenheit als vielmehr das Nachdenken über eine gemeinsame Zukunft im Mittelpunkt
steht.
({0})
Unterschiedliche Erfahrungen von Menschen in Ost und
West begreife ich als Reichtum, ja als eine Chance. In
diesem Land haben wir etwas in Europa Einmaliges, mit
dem wir Signale für das Zusammenwirken von Ost und
West aussenden können.
Als Wissenschaftlerin bin ich im Herbst 1989 für
mich selbst überraschend - mir hat das niemand an der
Wiege gesungen - auf die politische Bühne gekommen
und habe in der Modrow-Regierung Verantwortung getragen. Aus dieser Zeit resultiert meine unmittelbare Bekanntschaft mit der Bonner Republik und mit vielen
ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten. Wenn ich
mich richtig erinnere, waren die Gespräche damals unverkrampft; sie waren offen und von gegenseitiger
Achtung geprägt. Ich glaube, es ist eines Nachdenkens
darüber wert, weshalb das in den vergangenen Jahren
leider nicht mehr so war.
({1})
Wie viele meiner langjährigen Wissenschaftlerkolleginnen und -kollegen und - so glaube ich - wie die
Mehrheit meiner ostdeutschen Landsleute schätze ich
die Vorzüge von Demokratie und von Rechtsstaatlichkeit. Daher hatte und habe ich keine Schwierigkeiten,
mich zum Grundgesetz zu bekennen
({2})
und ausdrücklich zu seinem Friedensgebot sowie zu seiner von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes vorgesehenen offenen Wirtschaftsverfassung.
Übrigens sind besonders im Hinblick auf die Demokratisierung der Gesellschaft nicht erst mit der deutschen
Einheit, sondern schon zu Wendezeiten einige wichtige
substantielle Veränderungen auf den Weg gebracht worden. Ich nenne als Stichworte nur die Streichung der
führenden Rolle der Einheitspartei aus der Verfassung,
die Abschaffung der Zensur, die Vorbereitung demokratischer Wahlen unter Beteiligung der Opposition und die
Arbeit des Runden Tisches. Ich glaube, es ist ein Gebot
historischer Wahrheit, dieses Endjahr der DDR differenzierter zu betrachten, als das bis heute häufig geschieht;
({3})
denn es waren Kräfte aus allen politischen Parteien und
Organisationen daran beteiligt. Das sollte nicht vergessen werden.
Das Bekenntnis zum Grundgesetz schließt jedoch
nicht aus, sondern schließt ein, einige Entwicklungen in
diesem Lande nicht ohne Sorge zu verfolgen. Zum einen
- das nehmen vermutlich die ostdeutschen MitbürgerinDr. Wolfgang Gerhardt
nen und Mitbürger besonders sensibel wahr - gibt es
eine nicht zu übersehende Kluft zwischen dem Verfassungsanspruch und der Alltagsrealität in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Kluft zu schließen ist Aufgabe aller politischen Kräfte, damit Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit nicht beschädigt werden.
({4})
Zum anderen haben Forderungen besonders aus der
politischen Wendezeit nach Aufnahme plebiszitärer
Elemente in das Grundgesetz bislang kein Gehör gefunden. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches ist in
dieser und manch anderer Beziehung bisher leider Makulatur geblieben. Es macht keinen Sinn, die Forderung
nach Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz als eine extremistische Forderung zu bezeichnen.
Ich meine, daß uns der heute scheidende Bundespräsident und die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes mit ihren häufigen Aussagen zur Wichtigkeit plebiszitärer Elemente im Grundgesetz einen wichtigen Hinweis darauf gegeben haben, was dieses Parlament noch
zu leisten hat.
({5})
Für mich leitet sich daraus ab: Auch die Demokratie ist
nicht ein für allemal ein fertiges System; sie muß sich
Lernfähigkeit bewahren.
Es bedeutet keine Geringschätzung von Freiheit und
Demokratie, wenn laut Umfragen die Neubundesbürger
unter allen gesellschaftlichen Werten Gleichheit und
soziale Gerechtigkeit am meisten schätzen. Gleichheit
heißt für sie nicht Gleichmacherei. Worum es geht, ist
Chancengleichheit, ist Abbau von Ungleichbehandlung,
Leistung soll anerkannt werden. Da bleibt noch viel zu
tun. Auch das darf in einer Stunde wie der heutigen
nicht vergessen werden.
Das Jubiläum, das wir begehen, darf bei aller Feierlichkeit nicht über die Gefährdungen der Demokratie hinweggehen: Anhaltende Massenarbeitslosigkeit
und Perspektivlosigkeit ganzer Gruppen junger Leute
schränken für viele die Möglichkeiten kraß ein, demokratische Freiheitsrechte überhaupt wahrzunehmen.
Gefahrenpotentiale für die Demokratie liegen auch in
der Konzentration wirtschaftlicher Macht, in der Monopolisierung der Medien und im Lobbyismus.
({6})
Es gibt Probleme genug, die in Berlin verstärkt angegangen gehören.
Die Bonner Republik ist hier schon ausgiebig gewürdigt worden. Ich möchte zum Abschluß den Bonnerinnen
und Bonnern im Namen meiner ganzen Fraktion Respekt
entgegenbringen, insbesondere jenen, die uns hier bei der
parlamentarischen Arbeit beigestanden haben.
({7})
Uns sind die ehemaligen Bundeshauptstädter als aufgeschlossene, als weltoffene, als optimistische und als tolerante Menschen begegnet - Eigenschaften, die für die
Pflege der Demokratie unverzichtbar sind. Ich bin überzeugt, daß auch die Berlinerinnen und Berliner solche
Eigenschaften schätzen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat nun
der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen,
Wolfgang Clement.
Wolfgang Clement, Ministerpräsident ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Für mich ist es relativ leicht, an die
Adresse der Bonnerinnen und Bonner sowie aller anderen
Menschen in dieser Region zu sagen: Wir bleiben hier.
({1})
Ich bitte Sie, das nicht nur wörtlich - das ist für uns
Nordrhein-Westfälinger selbstverständlich -, sondern
auch politisch zu verstehen. Wir bleiben wirklich hier.
Deshalb will ich der Stadt und den hier lebenden Menschen gleich zu Anfang ein Kompliment machen, nämlich daß sie alles mit rheinischer Fröhlichkeit und Gelassenheit ertragen, auch all die Abschiede, die es in diesen
Tagen zu feiern gilt.
Was war der Reiz von Bonn? Der Reiz von Bonn war
und ist für die Politik, daß von ihr für nichts und niemanden eine Bedrohung ausgegangen ist. Diese Stadt
hat niemanden bedroht.
({2})
Das ist das Bild, das von dieser Stadt ausgegangen ist.
Deshalb war diese Stadt auch die beste Garantin der
föderalen Vielfalt, die wir in der Bundesrepublik
Deutschland entwickelt haben. Diese Vielfalt war eine
der wichtigsten Voraussetzungen auch für den ökonomischen Erfolg der Bundesrepublik Deutschland.
Bonn, das steht für 50 Jahre Bundesrepublik
Deutschland, die von sozialer Marktwirtschaft geprägt
waren. Wir haben das in rheinischen Kapitalismus übersetzt. Das bedeutet alles in allem 50 Jahre politische,
wirtschaftliche und soziale Stabilität. Ich möchte dies
auch zum Anlaß nehmen, um von Bonn aus, von Nordrhein-Westfalen aus sowohl diesem Parlament, den Vorgängerregierungen als auch all denen Dank zu sagen, die
dazu beigetragen haben, daß wir eine aus deutscher
Sicht fast unglaubliche Phase politischer, wirtschaftlicher und sozialer Stabilität erleben durften.
({3})
Diese gesellschaftliche Stabilität ist von Bonn aus zu
einem Markenzeichen der Bundesrepublik Deutschland
geworden, ein Markenzeichen, das diese Republik deutlich und überaus positiv von all ihren Vorgängerinnen
abhebt. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man sagt: Die
vergangenen 50 Jahre waren die bisher besten 50 Jahre
Deutschlands, jedenfalls aus der Sicht des Westens der
Bundesrepublik.
Die vergangenen 50 Jahre waren auch - so hat es
der Historiker Fritz Stern kürzlich formuliert - eine
Zeit der klar begrenzten Möglichkeiten, die man trotz
vieler Versäumnisse gut ausgenützt hat. Soweit diese
Begrenzungen außenpolitischer Art waren - sie gab es
ja -, sind sie inzwischen weitgehend entfallen. Bonn,
das steht jetzt auch für die Rückkehr in die volle internationale Verantwortung. Mit Blick auf das aktuelle
Reformpaket der Bundesregierung sage ich erst recht:
Bonn steht auch überzeugend für eine - so hat es Fritz
Stern ebenfalls formuliert - reformbereite deutsche
Republik.
({4})
Nirgendwo besser als in dieser Stadt und in der - das
muß man auch in Bonn wagen zu sagen - Region
Köln/Bonn konnte man in den letzten acht Jahren beobachten, wie Vergangenheit und Zukunft miteinander in
Einklang gebracht werden können, wenn der politische
Wille vorhanden ist, die gestellten Aufgaben - auch die
Aufgaben von morgen - tatsächlich anzupacken.
Der Beschluß des Deutschen Bundestages vor acht
Jahren war für uns hier, für die Menschen in dieser Region, ein Schock. Das ist angesichts der Leistungen, die
hier seither vollbracht worden sind, vielleicht nicht mehr
allen so vor Augen; aber damals, am 20. Juli 1991,
herrschte durchaus so etwas wie Weltuntergangsstimmung in der Region Bonn.
Das ist heute vorbei; es ist überwunden. Die ganz
überwältigende Mehrheit der Menschen in Bonn, im
Rhein/Sieg-Kreis, in der Region Köln/Bonn hat überaus
positive Zukunftserwartungen. Die Menschen in dieser
Region haben allen Grund dazu. Die Menschen in der
Region haben vor Augen, daß der Strukturwandel, den
wir hier beginnen mußten, tatsächlich greift und daß die
Ausgleichsvereinbarung von 1994 nicht Papier geblieben ist, sondern konsequent und verläßlich umgesetzt
wurde und wird.
Dafür möchte ich gern allen danken, die daran beteiligt waren und die daran weiter mitarbeiten.
({5})
Herr Dr. Kohl, dafür danke ich ausdrücklich der alten
Bundesregierung. Dafür danke ich der neuen Bundesregierung.
({6})
- Da sitzt der Kollege Verheugen. Herr Kollege, verlassen Sie sich darauf: Er ist mir wert genug.
({7})
Wenn ich weitere Regierungsmitglieder brauche, dann
finde ich sie immer. Ich habe sie auch in der Vergangenheit immer gefunden.
({8})
Ich danke der alten und der neuen Bundesregierung.
Ich tue das in dem Bewußtsein, daß es bei allem Bemühen um Fairneß mit der alten Bundesregierung nicht
immer leicht war. Das sage ich beispielsweise im Blick
auf Herrn Kollegen Waigel.
({9})
Wenn Herr Kollege Eichel hier wäre, dann würde ich
auch ihm sagen, daß es mit der neuen Bundesregierung
nicht einfacher geworden ist. Aber wir verlassen uns auf
die Zuverlässigkeit aller Beteiligten.
Die Entwicklung seit 1991 gibt uns in dem eingeschlagenen Kurs recht.
({10})
- Sie haben doch bisher nur Gutes erfahren. Ab und zu
einen kleinen Hinweis, daß auch Sie, Herr Kollege Waigel, recht kniepig waren, können Sie doch wirklich vertragen. Sie haben doch bei der Vereinbarung mit der
Stadt Bonn ebenfalls Ihre Probleme gehabt, genauso wie
der heutige Bundesfinanzminister.
Dennoch gibt uns die Entwicklung seit 1991 in dem
eingeschlagenen Kurs recht. In dieser Region Bonn sind
seit 1991 beinahe auf Heller und Pfennig 16 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden, weit überwiegend im
privaten Sektor. Das alles ist ein handfester, ein ganz
konkreter Beweis dafür, daß der Strukturwandel hier auf
einem sehr guten Weg ist. Die Bundesstadt Bonn hatte
1997 mit 143 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einen neuen Rekord. Kurz gesagt, Bonn hat sich
zu einem Wachstumszentrum entwickelt, wie es wenige Wachstumszentren in der Bundesrepublik Deutschland gibt.
In meinen Augen ist die Entwicklung in dieser Stadt
und in dieser Region der beste Beweis für einen gelungenen Strukturwandel. Allerdings hat der Strukturwandel von Beginn an auf höchstem Niveau stattgefunden und nicht, wie im Ruhrgebiet oder erst recht in Ostdeutschland, auf sehr viel niedrigerem, schwierigerem
Tableau. Der Strukturwandel ist auf hohem Niveau gelungen. Es ist sogar gelungen, das ökonomische Niveau
in der Stadt und in der Region noch zu steigern.
Ich sage für das Land Nordrhein-Westfalen und für
die Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Die weit
über eine Milliarde DM, mit der das Land den Ausbau
der Bundesstadt Bonn und der Region Köln/Bonn zu
einem Verkehrszentrum, zu einem Zentrum der Wissenschaft und Forschung, zu einem Zentrum der internationalen Begegnung unterstützt ist aus unserer Sicht gut
angelegtes Geld.
Wenn ich heute eine positive Zwischenbilanz für den
Ausgleich ziehe, dann sage ich in aller Deutlichkeit: Das
ist nicht von allein gekommen, das ist ein Ergebnis harMinisterpräsident Wolfgang Clement ({11})
ter Verhandlungen, die zu führen waren. Aber es ist
auch das Ergebnis des Willens zu unbürokratischer und
zielgerichteter Zusammenarbeit. Es gab in all den Jahren
und es gibt bis auf den heutigen Tag eine Zusammenarbeit über die Grenzen der Parteien in dieser gesamten
Region hinweg, eine Zusammenarbeit zwischen den
Ländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen und
den Städten und Gemeinden in dieser Region. Diese Zusammenarbeit ist überaus gut gelungen. Wir haben ein
überaus gutes Beispiel für andere gegeben.
({12})
Für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
will ich ebenso klar hinzufügen: Wir werden auf diesem
Weg, Frau Oberbürgermeisterin, weitergehen. Wir sehen
uns in der Pflicht für Bonn und für die Region. Wir werden an der Höhe der Mittel, die wir bisher für die Region und für die Stadt zur Verfügung gestellt haben, erst
recht in der Phase des Umbruchs festhalten. Wir wollen,
daß die Stadt und die Region auch in Zukunft zu den ersten Adressen in Deutschland und in Europa gehören.
Ich gehe ganz klar davon aus, daß diese Bereitschaft bei
allen Beteiligten vorhanden ist und daß vor allen Dingen
Abmachungen und Gesetze, gerade auch Abmachungen,
die in Gesetzen festgehalten wurden, wie beispielsweise
das Berlin/Bonn-Gesetz, eingehalten werden. Ich halte
das für selbstverständlich: pacta sunt servanda - das gilt
natürlich auch hier.
({13})
Sie tun gut daran, meine Damen und Herren, jetzt in
Berlin die Erfahrungen der ersten 50 Jahre nicht hinter
sich zu lassen, sondern konstruktiv weiterzuentwickeln.
Manche befürchten, die Bundesrepublik könnte zentralistischer werden. Ich will die Diskussionen von einst
nicht wieder aufnehmen. Auch für mich begründete diese Sorge mein Eintreten für Bonn. Wenn aber die deutsche Verfassung und der Staatsaufbau bei uns das nachvollziehen sollen, was uns die wirtschaftliche Entwicklung, die Europäisierung und die Globalisierung tatsächlich vorgeben, dann wird der Bundesrepublik
Deutschland gar nichts anderes übrigbleiben, als föderal
zu bleiben, Herr Dr. Kohl, bzw. aus meiner Sicht eher
noch föderaler zu werden, als sie heute ist. Dabei denke
ich besonders an die mit höchstem Tempo wachsenden
europäischen Verflechtungen, die das wirkliche Leben
der Menschen und der Unternehmen bei uns viel tiefer
prägen, als vielen von uns bewußt ist.
Der Umzug von Teilen der Bundesregierung nach
Berlin mag die Tonlage und den Blickwinkel der politischen Diskussionen verändern. Ich bin überzeugt, daß er
sie verändern wird. Das ändert aber nichts daran, daß
wir in einem außerordentlich dynamischen Prozeß der
Europäisierung leben und versuchen müssen, ihn mitzugestalten.
({14})
Nehmen Sie, meine Damen und Herren, unser Land
Nordrhein-Westfalen mit seinen Nachbarn, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, als ein Beispiel. Sie
könnten auch Baden-Württemberg, Brandenburg oder
Sachsen jeweils mit deren Nachbarn jenseits der Grenzen nehmen. Es bildet sich hier bei uns über bisherige
Grenzen hinaus eine nordwesteuropäische Region heraus, in der 44 Millionen Menschen leben, die ein Bruttoinlandsprodukt von fast 2 000 Milliarden DM erwirtschaften und damit 15 Prozent zur Wirtschaftsleistung
der Europäischen Union beisteuern. Eine Wirtschaftsregion hat sich hier herausgebildet, die sich viel rascher
und viel intensiver verflochten hat, als vielen von uns
bewußt ist. Es gibt hier beispielsweise Vorläufer gemeinsamer Tarifgebiete, die sich bald herausbilden können. Das ist das konkrete und das tatsächliche Europa.
Auch in dieser Kooperation zwischen den Regionen
über die bisherigen Grenzen hinaus liegen die Potentiale
für ein Deutschland, das die Strukturen der Industriegesellschaft hinter sich läßt und in die Wissensgesellschaft
des 21. Jahrhunderts hineinwächst.
Europas stärkster Trumpf sind seine gesellschaftliche,
seine kulturelle und seine politische Vielfalt, seine
Werte der Solidarität und des sozialen Zusammenhalts.
Wenn wir diese Trümpfe im nächsten Jahrhundert voll
ausspielen wollen, brauchen wir nicht mehr Zentralismus, sondern mehr Verantwortung vor Ort und starke
föderale Strukturen. Ich bin absolut sicher: Wir werden
sie bekommen.
Meine Damen und Herren, deshalb wird die Politik
von Berlin aus ihren Einfluß sehr viel mehr mit dem,
was in Brüssel gestaltet wird, teilen müssen. Über
50 Prozent der Entscheidungen, die die Bürgerinnen und
Bürger sowie die Unternehmen in unserem Lande betreffen, fallen heute in Brüssel. In manchen Sektoren
- von der Agrarwirtschaft ganz zu schweigen - liegt dieser Anteil in der Nähe von 100 Prozent. Das ist die
europäische Realität, in der wir leben. Von diesen Realitäten geht auch ein Land wie Nordrhein-Westfalen aus:
Es richtet den Blick sowohl nach Berlin als auch nach
Brüssel, auf Europa und auf unsere unmittelbaren Nachbarregionen jenseits der Grenzen. Das ist das Potential
dieses Landes.
Bonn ist ein Gewinn für die Bundesrepublik
Deutschland. Ich bin so überzeugt wie Sie - ich habe
das aus all Ihren Reden herausgehört -: Einen solchen
Gewinn verspielt man nicht. Diesen Schatz müssen wir
gemeinsam hüten und bewahren. Um dieser Aussage
mehr Gestalt zu geben, möchte ich sagen, daß dies natürlich auch für das - wie ich es empfinde - wunderbare, sehr leichte und transparente Parlamentsgebäude
gilt. Das gilt für das alte und neue Bundeshaus, für das
Wasserwerk und das gesamte Parlamentsviertel. Diesen vorhandenen Schatz müssen wir bewahren. Daraus
sollten wir in der Verantwortung des Bundes gemeinsam etwas Unveräußerliches und Unnachahmliches
machen.
({15})
Was in Ihrer Verantwortung hier geschaffen wurde, gibt
es sonst nirgendwo auf der Welt. Ich bin davon überzeugt, daß wir diese Verantwortung weiter tragen werden.
Ministerpräsident Wolfgang Clement ({16})
Wie die Diskussion zwischen den Parteien zeigt, gibt
es in der Politik Erblasten. Aber es gibt auch das kostbare Erbe. Was hier in der Stadt Bonn entstanden ist, ist
ein kostbares Erbe. Ich möchte Ihnen ans Herz legen,
daß wir dieses Erbe gemeinsam wahren und weitergeben.
Ich möchte von hier aus Dank sagen an die Bonnerinnen und Bonner, an die Stadt Bonn und an die, die
den bisherigen Regierungen und Abgeordneten über
viele Jahre Heimat gegeben haben.
Ich möchte aber auch einen Gruß nach Berlin senden.
Wir wünschen von hier aus Berlin alles Gute. Wir geben
den Staffelstab weiter und hoffen auf den gemeinsamen
Erfolg, der in Zukunft von Berlin aus mit all seiner Vielfalt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland und für
das gemeinsame Europa geschaffen wird.
Alles Gute für Berlin! Ein herzliches Glück auf!
({17})
Als nächster Redner
spricht nunmehr für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Michael Glos.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zuvorderst dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, dem wir es
verdanken, daß Berlin wieder deutsche Hauptstadt und
Sitz des Parlamentes sein kann, für eine große Rede
danken.
({0})
Wir nehmen heute Abschied von Bonn und ziehen in
den Reichstag nach Berlin. Bonn und Berlin sind Symbole der jüngeren deutschen Geschichte. Bonn steht für
den demokratischen Wiederaufbau und für die Rückkehr
der Deutschen in die Wertegemeinschaft des Westens.
Berlin, sowohl West-Berlin als auch der Ostteil, stehen
für den ungebrochenen Willen der Deutschen zur Einheit in Frieden und Freiheit.
({1})
Fünf Jahrzehnte Politik aus Bonn waren alles in
allem 50 gute Jahre für unser Vaterland. Mit dem Namen Bonn verbindet sich der längste von Frieden und
Freiheit geprägte Zeitabschnitt in der jüngeren deutschen Geschichte. Bismarcks Reich war lediglich ein
Lebensalter von 43 Jahren beschieden. Die Weimarer
Republik brachte es auf 14 Jahre. Das Tausendjährige
Reich ist nach 12 Jahren in Schutt und Asche gefallen.
Die mit dem Namen Bonn verknüpfte Bundesrepublik
Deutschland konnte dagegen ihren 50. Geburtstag in
Frieden, Freiheit, Wohlstand und in sozialer Sicherheit
feiern.
({2})
Unsere Aufgabe ist, diese Werte auch nach dem Umzug
vom Rhein an die Spree für die Zukunft sicherzustellen.
Es hat der Bundesrepublik Deutschland gutgetan, daß
in ihren Anfängen politische Entscheidungen nicht in
der unruhigen Atmosphäre einer Metropole gereift sind,
sondern in dieser schönen Stadt am Rhein. Bescheidenheit, Offenheit, Toleranz und rheinische Liberalität
zeichnen Bonn bis zum heutigen Tag aus. Ich bin sicher,
dies wird auch so sein, wenn der Bundestag und die
Regierung hier weggezogen sind.
({3})
Für die langjährige Gastfreundschaft sind wir der
Stadt Bonn sowie allen Bonnerinnen und Bonnern dauerhaft zu Dank verpflichtet. Deswegen sage ich im Gegensatz zu anderen: Ich weine der Stadt Bonn schon
Tränen nach. Mir tut es schon auch leid, daß wir nach
Berlin umziehen müssen. Aber wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß wir nach hinten schauen, hätte er uns
hinten Augen wachsen lassen. Ich sehe genauso zuversichtlich nach vorne, nach Berlin.
({4})
Die Bayern und hier insbesondere die CSU haben
sich in Bonn immer wohl gefühlt. Das mag sicher auch
von historischen Bezugspunkten herrühren, die Bayern
und das Rheinland miteinander verbinden. In Bonn haben die Bayern schon immer eine besondere Rolle gespielt. Als einst ein Kurfürst in Köln vom katholischen
ins protestantische Lager gewechselt ist, nahmen ihm
die Wittelsbacher dies übel
({5})
und zum Anlaß, die Godesburg zu stürmen und zurückzuerobern, Herr Westerwelle. Das sollten Sie wissen.
Aber ich möchte Sie an etwas anderes erinnern, nämlich daran, daß man im Rheinland in Erinnerung an diese Herrschaft lange gesagt hat: „Bei Kurfürst Clemens
August trug man blau und weiß und lebte wie im Paradeis.“
({6})
Ich will mir jetzt ersparen, alle bayerischen Beziehungen zu Berlin aufzuzählen. Jedoch auch an der Spree
waren die Bayern. Es war ja Kaiser Ludwig der Bayer,
der über die Mark Brandenburg geherrscht hat. Das ging
allerdings nicht allzu lange gut.
({7})
Das neue Herrschergeschlecht in der Mark Brandenburg
waren dann später die Nürnberger Burggrafen aus dem
Hause Hohenzollern. Inzwischen sind die Bayern so
liberal, daß sie die Franken voll dazurechnen. Bayern
hat dadurch den Vorteil, Brandenburg über uns Franken
reklamieren zu können. Insofern ziehen wir wieder auf
vertrautes Gelände.
Die CSU-Landesgruppe hat stets versucht, für die
Politik in Deutschland eine konstruktive Rolle zu spielen.
({8})
Ministerpräsident Wolfgang Clement ({9})
Wir haben unsere Möglichkeiten in Bayern für bürgerliche Mehrheiten voll ausgeschöpft. Wenn wir dies nicht
getan hätten, wären manche Regierungen, die zum Segen unseres Landes gewirkt haben, nicht möglich gewesen.
Historisch richtig war auch - wir werden dies in Zukunft fortsetzen -, mit der CDU eine Fraktionsgemeinschaft zu gründen, um die getrennt gewonnenen Kräfte
gemeinsam in die deutsche Politik einzubringen.
({10})
Daß die CSU sehr zum Gelingen der deutschen Politik
beigetragen hat, war von Anfang an Fakt; inzwischen ist
das historisch unbestritten. Franz Josef Strauß und die
CSU haben bei den Rhöndorfer Gesprächen die Voraussetzung für die kleine Koalition und damit für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft durch den fränkischen Bayern Ludwig Erhard geschaffen. Gleiches gilt
für die Westbindung Deutschlands sowie den Beitritt zur
nordatlantischen Allianz und zur Europäischen Gemeinschaft.
Franz Josef Strauß und Fritz Schäffer haben die Jahre
des Wiederaufbaus an entscheidender Stelle politisch
mitgestaltet. Später konnten politische Persönlichkeiten,
wie Richard Jaeger, Hermann Höcherl, Richard Stücklen, Werner Dollinger, Fritz Zimmermann, Theo Waigel
und Wolfgang Bötsch, um nur ein paar Namen zu nennen, dieses Werk fortsetzen. Alle haben sie in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland die
unverkennbare wie auch unverwechselbare Handschrift
der bayerischen CSU hinterlassen.
({11})
Diese Handschrift ist ebenfalls im Stadtbild Bonns hinterlassen worden. Auch im Stadtbild Berlin ist sie schon
zu sehen.
Ich möchte an dieser Stelle unseren Freund Oscar
Schneider erwähnen, der sein Engagement im Bereich
der Kunst, letztendlich auch durch die Mitgestaltung der
Kunsthalle in Bonn, sehr stark manifestiert hat. Herr
Bundeskanzler Kohl hat ihn immer zu Rate gezogen.
Angesichts dessen, daß wir nach Berlin ziehen und sich
auf dem Reichstag eine Kuppel befindet, auf die der Architekt, der sie eigentlich verhindern wollte, ganz besonders stolz ist, muß man auch noch einmal den Namen
Oscar Schneider
({12})
und den Kampf der CSU-Landesgruppe innerhalb und
außerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwähnen,
durch den der Bau dieser Kuppel letztendlich ermöglicht
worden ist. Insofern haben wir nicht nur politische, sondern auch optische Spuren hinterlassen, und tun dies
auch in Zukunft.
Bonn war nie ein Name für einen zentralistischen
Machtanspruch. Herr Bundeskanzler Kohl hat dies vorhin schon erwähnt. Bonn wurde zur Wiege des Föderalismus. Dieser Föderalismus hat ganz entscheidend zum
Aufstieg unseres Landes und zum Aufstieg der Demokratie in Deutschland beigetragen. Deswegen müssen
wir dieses Modell mit nach Europa nehmen und ein
föderalistisches Europa schaffen.
Unser Respekt, unsere Sympathie und unsere Zuneigung für das, was hier in Bonn in Jahrzehnten geschaffen worden ist, was wir in Jahrzehnten erfahren haben,
werden erhalten bleiben. Hierfür möchte ich den Bonnern im Namen aller Bayern ein herzliches „Vergelt's
Gott“ zurufen.
({13})
Ich möchte an dieser Stelle auch einmal ganz herzlich
allen dienstbaren Geistern danken, all denen, die bei uns
gearbeitet, die uns in unserer Arbeit unterstützt haben,
({14})
und zwar - stellvertretend für viele andere - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen und der
Abgeordneten, den Pförtnern, den Fahrern und den
Boten. Sie alle haben eine großartige Arbeit geleistet.
Zur Bonner Demokratie gehört das Bekenntnis zu
Europa. An unserer Verpflichtung zur Fortsetzung des
europäischen Einigungsprozesses darf sich auch nach
dem Umzug, nach einer weiteren räumlichen Entfernung
von Brüssel nichts ändern.
Ich möchte an dieser Stelle insbesondere die großartige Leistung von Theo Waigel erwähnen, der als einer
der Väter des Euro dafür gesorgt hat, daß in Europa
nicht zu verändernde Tatsachen geschaffen worden sind,
die dieses Europa festigen und zusammenschweißen.
({15})
Der Föderalismus steht für eine Dezentralisierung
politischer Entscheidungsprozesse, für eine breite Verteilung der Macht und für eine bürgerliche und vor allen
Dingen bürgernahe Politik. Deshalb wäre es kontraproduktiv, würde man in Deutschland einen Schritt zurück
in Richtung Zentralstaat machen. Wir werden auch in
Berlin dafür kämpfen, daß dies in Zukunft nicht geschehen wird.
Bonn ist eine sehr liebenswerte Stadt, in der ich
23 Jahre lang ausgesprochen gerne meine Arbeit als Abgeordneter meines unterfränkischen Wahlkreises getan
habe. - Wir Unterfranken sind sowieso ein Stück weit
Brücke zwischen Bayern und dem übrigen Deutschland. - Der Rhein und der Petersberg, das BeethovenHaus und - nicht zu vergessen - die Bayerische Vertretung mit ihrem legendären Bierkeller, der rheinische
Frohsinn und die Liberalität der Menschen sind mir sehr
ans Herz gewachsen.
Aus dem Provisorium Bonn ist in diesen 50 Jahren
ein Symbol demokratischer Tradition entstanden, das
weltweit Anerkennung und Bewunderung hervorgerufen
hat. Bonn steht für das, was unsere Nachbarn und Partner heute an Positivem mit der Bundesrepublik
Deutschland verbinden: historische Verantwortung, moralische Rückbesinnung auf christliche Grundsätze,
Fleiß und Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung
und Solidarität der Menschen, vor allen Dingen das unverbrüchliche Bekenntnis zu parlamentarischer Demokratie, freiheitlichem Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft sowie die Garantie für internationale Verläßlichkeit und Bündnistreue.
Auch wenn wir heute vor neuen Aufgaben und Herausforderungen stehen und wenn wir heute neue Antworten und Perspektiven aufzeigen müssen: Es darf
keine Berliner Republik geben - genausowenig wie es
eine Bonner Republik gegeben hat. Unser Land muß die
Bundesrepublik Deutschland bleiben, wie wir sie gebaut
haben und auch für die Zukunft bewahren wollen.
({16})
Mit bewundernswerter Gelassenheit haben die Menschen in dieser Region den sehr knappen Mehrheitsbeschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991
respektiert. Es ist bereits gesagt worden: Bonn braucht
Verläßlichkeit. Das sind wir dieser Stadt und diesen
Menschen schuldig. Ein herzliches Wort des Dankes für
50 Jahre gute Gastfreundschaft!
({17})
Ich gebe dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in
Bonn 50 Jahre lang unter dem Grundgesetz eine stabile
Demokratie erlebt. Den Verfassungsvätern und -müttern
ist 1949 ein großer Wurf gelungen. Sie haben den Rahmen gesteckt, in dem sich in fünf Jahrzehnten ein wirklich freiheitliches demokratisches Gemeinwesen entwickelt hat.
Zu unserem Glück gezwungen haben uns damals die
Alliierten. Auch ihnen sei hier und heute ausdrücklich
gedankt.
({0})
Auf ihre Veranlassung trat der Parlamentarische Rat
zusammen, kam es zu einer liberalen und demokratischen Verfassung. Die Alliierten haben sozusagen für
die Implementierung der Demokratie gesorgt, und das
mit großem Erfolg. Es ist geradezu ein Gütesiegel für
unsere Demokratie, daß es seit 1949 keine rechtsextreme
Partei mehr geschafft hat, in den Bundestag gewählt zu
werden. Bei den Bundestagswahlen haben die Bürger
und Bürgerinnen den Ideologen der Ungleichheit, der
Demokratiefeindlichkeit und des offenen Rassismus regelmäßig eine Abfuhr erteilt - etwas, worauf wir stolz
sein können.
({1})
Das Grundgesetz als Fundament unserer Demokratie
ist das klare und radikale Kontrastprogramm zum Nationalsozialismus: Unantastbarkeit der Menschenwürde
- nicht der Deutschenwürde -, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, Schutz von Ehe und
Familie vor staatlichen Eingriffen. Nach den zwölf Jahren des NS-Regimes waren dies damals wahrlich revolutionäre Grundsätze.
Doch seien wir ehrlich zu uns: Mit der Verkündung
des Grundgesetzes waren seine Verheißungen keineswegs automatisch durchgesetzt. Auch heute sind sie
noch längst nicht vollständig erfüllt. Bei vielen Freiheitsrechten und demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten haben es die Menschen erst nach und nach gewagt, sich diese überhaupt anzueignen. Man kann fast
sagen: 1949 war der Schuh für die gesellschaftliche
Wirklichkeit noch viel zu groß geschustert. Aber im
Laufe der Jahre sind die Deutschen langsam in das
Grundgesetz hineingewachsen.
Die äußeren Formen der Demokratie haben sich 1949
schnell etabliert, nach innen aber herrschten weiterhin
autoritäre Handlungsmuster vor. Die Politik hat das persönliche Leben der Menschen in einer Weise reglementiert, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann:
Vordemokratische Auffassungen von richtigen Lebensweisen, Sitte und Moral haben zwei Jahrzehnte lang die
Freiheitsversprechen des Grundgesetzes für viele Bürger
und Bürgerinnen praktisch außer Kraft gesetzt. Denken
Sie nur daran, daß laut BGB der Mann das Letztentscheidungsrecht in allen Familienfragen hatte, selbst
über das Vermögen der Frau! Denken Sie nur an das
Sittenstrafrecht vor 1969: Die sogenannte Kuppelei und
der Ehebruch wurden strafrechtlich verfolgt. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft galt als Konkubinat.
Homosexuelle hat das Grundgesetz 20 Jahre lang nicht
vor menschenrechtswidriger staatlicher Strafverfolgung
bewahrt.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist ein großer Schönheitsfleck auf unserer Demokratie, daß solche staatlichen Eingriffe in das Privatleben damals möglich waren, gebilligt vom Gesetzgeber, teilweise sogar mit dem
ausdrücklichen Segen des Bundesverfassungsgerichts
versehen. Es ist ein großer Erfolg unserer Demokratie,
daß eine solche Politik heute einfach nicht mehr denkbar
ist. Die Menschen würden es sich schlichtweg nicht gefallen lassen; die ehemals so obrigkeitstreuen Deutschen
haben nämlich den Genuß der Freiheit zu schätzen gelernt.
({3})
Zu dieser Zivilisierung, zur wachsenden Gelassenheit
in Fragen der Sitte und Moral hat sicher auch die Kulturgeographie beigetragen, die Lage des Dauerprovisoriums Bonn. Nehmen wir nur die rheinischen Lebensweisen „Lewe ond lewe losse“ und „Jeder Jeck ist anders“. Auch das hat, glaube ich, seine Auswirkungen auf
die Politik gehabt.
Gustav Heinemann hat es einmal so ausgedrückt, daß
die Demokratie an ihrem Umgang mit ihren Minderheiten gemessen werden müsse. Gleichheit vor dem Gesetz,
Diskriminierungs- und Willkürverbot - all das ist in
Art. 3 des Grundgesetzes geregelt. Dieser Art. 3 gehört
wahrlich zu den Preziosen unserer Verfassung. Deshalb
will ich bei diesem Kernstück der Demokratie kurz verweilen.
Meine Damen und Herren, die Menschen sind nicht
gleich; sie sind sehr verschieden. Sie haben ganz unterschiedliche Eigenschaften, unterschiedliche Weltanschauungen, Lebensentwürfe und Vorstellungen von
ihrem ganz persönlichen Glück. Gerade deshalb ist es so
wichtig, daß unsere Verfassung die Gleichheit vor dem
Gesetz als Norm gesetzt hat. Das ist von entscheidender
Bedeutung für ein friedliches Zusammenleben. Wir erleben es auch heute noch: Jedes Merkmal, das den einen
vom anderen unterscheidet, kann zu Anfeindung und
Ausgrenzung führen. Wie kaum ein anderer ist dieser
Art. 3 als Antwort auf die Verbrechen der Nazis formuliert worden. Er ist gleichsam ein verfassungsrechtliches
„Nie wieder!“.
Unsere Verfassung leitet von der Verschiedenheit der
Menschen Gleichheit in den Rechten ab, und nicht Unterschiedlichkeit. Diese Gleichheit ist das Gegenteil von
Gleichmacherei; sie ist Ausdruck des Respektes vor der
Würde jedes einzelnen Menschen. Der Verfassungsauftrag, die Gleichheit vor dem Gesetz auch in Rechtswirklichkeit umzusetzen, gilt auch heute unvermindert fort.
Um diesem Auftrag gerecht zu werden, haben wir uns
für diese Wahlperiode noch einiges vorgenommen: ein
Gleichstellungsgesetz für Frauen, ein Antidiskriminierungsgesetz, die eingetragene Partnerschaft.
({4})
Unsere Demokratie funktioniert nach dem Mehrheitsprinzip. Gerade deshalb ist der Schutz von Minderheiten
ein bleibender Auftrag für den Gesetzgeber.
Meine Damen und Herren, nochmals ein Blick zurück. Der kalte Krieg hat lange Zeit auch innenpolitisch
Vereisungen bewirkt. Der Kabarettist Georg Kreisler hat
das in den 50er Jahren so auf den Punkt gebracht:
In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein fürchtet
sich der Kommunist. Sollte man etwas weiter östlich sein, fürchtet sich, wer keiner ist.
Leider hatte die Bundesrepublik nicht immer die Größe,
der Diktatur in der DDR durch ein klares Bekenntnis zu
immer mehr Demokratie den Spiegel vorzuhalten. Man
griff beim Kampf der Systeme leider auch gelegentlich
zu so untauglichen Mitteln wie Parteienverboten und
Gesinnungsschnüffelei. Oder denken Sie an die Grundrechtseinschränkungen durch die sogenannten Notstandsgesetze. Die Notstandsgesetze haben in den 60er
Jahren die Gesellschaft heftig und tief gespalten - und
zwar ohne jede Not.
({5})
Ich erinnere auch an den unseligen sogenannten Radikalenerlaß. In den 70er Jahren diente die Formel von der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Kampfbegriff zur Ausgrenzung mißliebiger Kritiker. Anstatt
Menschen für die Demokratie zu begeistern, haben die
Adjektive „freiheitlich“ und „demokratisch“ bei vielen
jungen Leuten seinerzeit Angst und Schrecken erzeugt.
Das war ein Lehrbeispiel, wie man es nicht machen darf.
Man hat damit große Teile der kritischen Jugend für
lange Jahre eben dieser freiheitlich-demokratischen
Grundordnung von Grund auf entfremdet. Verfassungstreue kann man nicht mit dem Holzhammer erreichen,
sondern nur durch Diskussion und Überzeugungskraft.
({6})
Nun, unsere Demokratie hat auch diese Fehlentwicklungen überlebt und schließlich überwunden, ebenso wie die „Spiegel“-Affäre, die Flick-Affäre und vieles
mehr.
Ein wichtiger Garant unserer Freiheitsrechte und
Wächter der Demokratie war und ist das Bundesverfassungsgericht. In vielen Fällen schützte es den Bürger
vor Übergriffen des Gesetzgebers auf die Freiheitsrechte. Es wahrte ebenso die Rechte des Parlaments gegenüber der Exekutive und der parlamentarischen Minderheit gegenüber der Mehrheit.
Dennoch verdient auch das Verhältnis von Politik
und Rechtsprechung eine kritische Betrachtung. Wir
müssen uns als Abgeordnete fragen: Soll bei jedem
Streitfall, bei dem man im Parlament unterlegen ist, das
Verfassungsgericht angerufen werden? Dürfen wir uns
über das immer feinmaschigere Netz der Vorgaben vom
höchsten deutschen Gericht wundern, wenn wir uns
selbst nicht recht mäßigen können beim Gang nach
Karlsruhe?
({7})
Meine Damen und Herren, Demokratie lebt vom
Wandel, nicht nur bei Wahlen, sondern auch bei der
Verarbeitung gesellschaftlicher wie politischer Prozesse.
Demokratie bedarf der stetigen Fortentwicklung. Notwendig scheint mir deshalb auch eine Debatte über das
Bund-Länder-Verhältnis. In den letzten 50 Jahren
wurden die Länder als Gesetzgeber immer schwächer,
während das Bundesorgan Bundesrat mehr und mehr
Gewicht bekam. Der Bundesrat ist aber ein Organ der
Landesexekutiven, nicht der gewählten Volksvertretungen. Oft genug hat sich der Bund - auch mit Zustimmung der Landesregierungen - Zuständigkeiten auf
Kosten der Länder gesichert, aber dem Bundesrat im
Gegenzug die Zustimmungspflicht zugestanden. Diese
Entwicklung sollten wir hier im Hause einmal kritisch
bilanzieren.
Denn Demokratie braucht Transparenz und Verantwortlichkeit, die der Bürger auch zuordnen kann. Wenn
der Abgeordnete den Wählerinnen und Wählern im
Wahlkreis nicht mehr deutlich machen kann, wer für ein
bestimmtes Gesetz, für eine bestimmte politische Entscheidung eigentlich die Verantwortung trägt, dann verliert die repräsentative Demokratie ihre Akzeptanz bei
Volker Beck ({8})
den Bürgerinnen und Bürgern. Die Erneuerung der Demokratie, die Notwendigkeit, Menschen immer wieder
dafür zu begeistern, die Schaffung weiterer Beteiligungsmöglichkeiten - all das nehmen wir als Aufgabe
mit nach Berlin.
In Bonn feiern wir 50 Jahre Demokratie. In den neuen
Ländern hat das Grundgesetz erst vor neun Jahren Geltung erlangt. Den Menschen in Ostdeutschland wurde
die Demokratie nicht geschenkt, sie haben sie sich erkämpft. Ich bedauere es nach wie vor, daß so wenige
Gedanken aus der Demokratiebewegung der DDR in die
gesamtdeutsche Verfassung eingeflossen sind.
({9})
Wir haben eine Chance verpaßt: die Lebenserfahrung
der Bürger im Osten für einen gemeinsamen Verfassungsdiskurs besser zu nutzen. Das ist vielleicht auch
ein Grund dafür, daß - zumindest laut Meinungsumfragen - viele Menschen im Osten immer noch eine gewisse Fremdheit gegenüber den Werten der Demokratie und
Institutionen unseres Staates zeigen.
Diese Fehler dürfen wir uns bei der notwendigen
Diskussion um die Stärkung der Demokratie in der
Europäischen Union nicht noch einmal erlauben.
Schon die niedrige Wahlbeteiligung bei der Europawahl
zeigt uns, daß wir uns sehr anstrengen müssen, die Bürgerinnen und Bürger wieder für Europa und für die demokratische Auseinandersetzung zu gewinnen. Wir
brauchen eine europäische Grundrechtscharta und eine
Stärkung des Europäischen Parlaments. Bei diesen Diskussionen müssen wir die Bürgerinnen und Bürger breit
beteiligen. Es geht darum, wie wir ein demokratisches
Zusammenleben in Europa gestalten wollen. Deutschlands Zukunft liegt in Europa, Europas Zukunft liegt in
mehr Demokratie.
({10})
Meine Damen und Herren, zum Schluß ein Wort als
Wahlrheinländer. Wir brechen jetzt unsere Zelte in
Bonn ab. Mir als Kölner blutet das Herz.
({11})
Mich erfüllt am heutigen Tage Wehmut. Denn Bonn
war eine gute Wiege für die zweite deutsche Demokratie
und ist einfach auch eine sympathische Stadt.
({12})
Ich hoffe, wir nehmen etwas mit von der rheinischen
Gelassenheit und Leichtigkeit in das preußische Berlin.
Berlin ist eine neue Herausforderung an dieses Parlament und an uns Abgeordnete. Darauf bin ich trotz aller
Wehmut auch sehr gespannt.
Aber wenn wir demnächst häufig am Bahnhof Zoo
aus dem Zug aussteigen werden, dann sollten wir doch
gelegentlich an das zoologische Museum König in
Bonn denken. Dort hat unsere zweite deutsche Demokratie ihren Ausgang genommen, dort hat 1949 der Parlamentarische Rat zwischen ausgestopften Zebras und
Giraffen unsere Verfassung entworfen. Trotz aller Politikverdrossenheit: Auch nach 50 Jahren gibt es noch
eine ganze Menge junger Leute, die unser Bonner
Grundgesetz und unsere Demokratie einfach tierisch gut
finden.
Vielen Dank.
({13})
Meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich,
daß ich nunmehr auf der Tribüne des Deutschen Bundestages die ehemalige Präsidentin des Parlaments,
Annemarie Renger, herzlich begrüßen darf.
({0})
Nachdem bereits der Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen begrüßt wurde, darf ich nunmehr auch
den Bundestagspräsidenten Richard Stücklen hier auf
der Tribüne begrüßen.
({1})
Das Wort hat nunmehr der Kollege Dr. Guido
Westerwelle für die F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte
mich als Bonner Abgeordneter bei Ihnen, beim Haus
und beim Präsidium, sehr herzlich dafür bedanken, daß
Sie uns mit diesem Tag, auch mit der Vereidigung des
neuen Bundespräsidenten hier in Bonn, gewissermaßen
ein Abschiedsgeschenk machen. Ich habe gelesen, daß
das vom Regierenden Bürgermeister von Berlin sogleich
ein wenig neidisch beäugt wurde. Wir Rheinländer
sagen dazu: Man muß auch gönnen können. Deswegen
mein ganz herzlicher Dank als Bonner an Sie, daß Sie
uns diese Ehre geben.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Bonner
waren in den letzten 50 Jahren sehr gerne Gastgeber für
die Bundespolitik. Wir bleiben das auch weiterhin gerne.
Was nämlich vergessen wird, ist: Wir sind auch in
Zukunft Gastgeber für die Bundespolitik, wenn auch in
einem kleineren Rahmen.
Ich bin als Bonner sehr dankbar dafür, daß meine
Heimatstadt für mehr als 50 Jahre das Gesicht des demokratischen Deutschlands mit prägen durfte. Wenn der
Gastgeber ein gutes Verhältnis zu seinen Gästen hat,
fällt natürlich auch der Abschied schwer.
({1})
Deswegen gebe ich ganz offen zu, es schwingt viel
persönliche Melancholie mit. Ich weiß auch von vielen,
die hier ihre zweite Heimat gehabt haben, daß sie am
Volker Beck ({2})
heutigen Tag durchaus melancholisch sind. Man sieht
die Umzugskartons, fast an jeder Straße stehen Umzugswagen, und man sieht viele leergeräumte Gebäude.
Bei aller Freude, die mancher im Hinblick auf das neue
Großstadtleben haben mag, werden Sie verstehen: Wir
sind natürlich heute auch ein wenig melancholisch.
({3})
Deswegen sage ich ganz offen: Ich fand die Rede des
Altbundeskanzlers Helmut Kohl nicht nur im Hinblick
auf das, was er an Historischem gesagt hat, sehr bewegend, ich bin ihm auch dafür richtig dankbar, daß er die
passenden Dankesworte an Bonn gefunden hat. Ich
wünschte mir, auch der neue Bundeskanzler würde in
dieser Debatte das Wort ergreifen.
({4})
Das gehört sich so.
Man mag sich in dieser oder einer anderen Stadt
wohler fühlen, aber ich glaube, es ist nicht so toll - das
werden Sie mir nachsehen müssen -, daß an einem solchen Tag, bei einer solchen Debatte vom ganzen Kabinett nur ein Minister anwesend ist. Bei allem Respekt
vor den Staatssekretären - es sind alles großartige Persönlichkeiten -: Die Bundesregierung hätte an diesem
Tag wirklich stärker präsent sein können.
({5})
Das Umfeld, in dem Politik gemacht wird, bleibt nie
ohne Einfluß auf die Entscheidungen der Politik. Die
Bescheidenheit Bonns, das freiheitliche Klima unserer
Universitätsstadt und eine gewisse Portion rheinischen
Frohsinns haben auf die Bonner Politik im Positiven
abgefärbt.
Bonn hat sich weit über ein Provisorium hinaus entwickelt. Es hat der deutschen Politik meiner Einschätzung nach stets gutgetan, daß in Bonn nicht Politik
sozusagen aus dem Wartesaal betrieben wurde. Bonn hat
in diesen fünf Jahrzehnten - 40 Jahre davon zu Zeiten
der deutschen Teilung und nunmehr beinahe zehn Jahre
seit dem Fall der Mauer - selbst ein Gewicht in dieser
Republik bekommen.
Wenn nun die Bezeichnung „Bonner Republik“
verwendet wird, so ist dies für die Bonner nur sehr vordergründig schmeichelhaft; denn im Grunde genommen
soll mit diesem Begriff eine Tradition abgelegt und die
sogenannte Berliner Republik eingeläutet werden. Das
ist sehr gefährlich. Das ist weit mehr als Sprache. Das ist
Inhalt. Das ist Botschaft: gewissermaßen von der Weimarer Republik kommend über die Bonner Republik in
der Berliner Republik ankommend, als hätte Geschichte
einen Endpunkt, als sei die Bonner Republik so untergegangen, wie die Weimarer Republik untergegangen ist.
Als ein überzeugter Demokrat sage ich Ihnen: Ich hoffe,
daß uns allen gemeinsam bewußt ist: Die Bonner Republik - das unterscheidet sie von der Weimarer Republik
- ist nicht untergegangen und gescheitert. Sie wird nicht
abgelegt. Im Gegenteil, es wird darum gehen, das Beste
dieser Bonner Zeit nach Berlin mitzunehmen.
({6})
Das Deutschland, das mit Bonn verbunden wird, ist
das europäisch eingebundene, regional gegliederte und
demokratische Deutschland. Das sind die Charakteristika für die deutsche Politik in den letzten 50 Jahren gewesen, und das sollten sie auch in den nächsten 50 Jahren bleiben. Wer die Berliner Republik ausruft, stellt die
Grundkoordinaten, die sich in Bonn bewährt haben, in
Frage. Das ist ein Fehler.
({7})
- Das ist nicht nur an diejenigen adressiert, die das in
der Politik tun. Sehr viele Intellektuelle tun dies, sehr
viele Feuilletonisten schreiben so etwas. Ich möchte
nicht, daß sich diese Gedankenwelt in unserem täglichen
Sprachgebrauch ausdrückt.
({8})
Unsere Verfassung und unsere Republik bleiben die
gleichen. Neue Fragen werden mit unserer Verfassung,
dem bewährten Grundgesetz, beantwortet werden müssen. Das gilt für vieles gerade in Zeiten der Globalisierung.
In Berlin ist alles größer, manchmal geradezu pompös. Die Sprache spricht Bände. Bonn war stets die
Bundeshauptstadt. Berlin dagegen wird kurz Hauptstadt genannt. Das ist mehr als Semantik. Es ist zugleich
auch föderatives Selbstverständnis. Für mich ist Berlin
immer noch die Bundeshauptstadt, meine sehr geehrten
Damen und Herren.
({9})
Bonn hat nie den Rest der Republik zur Provinz werden
lassen. Auch Berlin darf nicht die anderen Teile
Deutschlands zur Provinz werden lassen.
({10})
Dieses kleine Bonn ist nicht provinziell. Maßvoll ist
nicht mäßig und erst recht nicht mittelmäßig. Im Gegenteil, es ist eine Tugend.
Ich habe in dieser Woche einen von mir sehr geschätzten Intellektuellen, einen Buchautoren, im Fernsehen gehört, der den Umzug mit den Worten kommentierte, jetzt ziehe der Bundestag zum Volk. Waren wir in
Bonn nicht beim Volk?
({11})
Kann man so tun, als bestünde das deutsche Volk nur
aus Großstädtern? Wer als Parlamentarier in Bonn das
Volk nicht treffen wollte, der wird es auch in Berlin
nicht finden.
({12})
Die Fußläufigkeit des Regierungssitzes in Bonn ist
oft belächelt und bespöttelt worden. Sie wird uns noch
fehlen: nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil die tatsächliche Nähe auch konfliktreduzierend gewirkt hat.
Man konnte sich in Bonn niemals lange aus dem Wege
gehen. Das zwang auch nach heftigem Streit zur rheinischen Lösung von manchem Problem.
({13})
Kurz gesagt: Ich hoffe, daß wir uns auch in Berlin die
rheinischen Tugenden, den Pragmatismus und die ausgeprägte Toleranzkultur, bewahren werden und daß wir
uns nicht nur in der „Ständigen Vertretung“ bei rheinischen Köstlichkeiten treffen werden. Die deutsche Politik muß auch in Berlin durch Bescheidenheit geziert
werden. Klaus Bölling hat wunderbar dazu geschrieben:
Bonn hat der Welt Vertrauen eingeflößt. In Bonn
hatte die „Wir sind wieder wer“-Mentalität niemals
eine Chance. Sie darf auch in Berlin keine bekommen.
({14})
Wir Bonner werden unsere Zukunft meistern und unsere Chancen nutzen. Die Bonner sind dem Bundestag
für 50 gute Jahre dankbar. Auch der Bundestag zeigt
heute seine Dankbarkeit, aber bitte nicht nur an diesem
Tag. Am überzeugendsten kann dieser Dank nun durch
die Sicherstellung von Planungssicherheit für die Bonnerinnen und Bonner in Stadt und Umland gezeigt werden. Dieselbe Einmütigkeit, mit der wir in dieser Debatte Bonn danken, ist auch nach dem Umzug bei der
Einhaltung der Bonn/Berlin-Vereinbarungen nötig.
Wir hoffen nicht, daß der Bundestag nach dem Umzug
gewissermaßen nach der Devise handelt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Erinnern Sie sich an Bonn, auch in
Berlin, und erinnern Sie sich in Berlin auch Ihrer Verantwortung gegenüber Bonn, meine sehr geehrten Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen!
({15})
Wenn uns in Berlin gelingt, was in Bonn gelang,
bleibt Deutschland auf einem guten Weg. Bonn wird Sie
vermissen, und ich bin sicher, Sie werden manches Mal
noch Bonn vermissen.
({16})
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Abgeordnete Angela Marquardt.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Westerwelle, so berechtigt Ihre Kritik an der Bundesregierung gewesen ist,
so kann ich, Frau Oberbürgermeisterin Dieckmann,
wenn ich mir den gesamten Saal ansehe,
({0})
hoffentlich davon ausgehen, daß es sich bei der Abwesenheit von Kolleginnen und Kollegen weniger um Undankbarkeit handelt als darum, daß diese in anderer
Form und an anderer Stelle - wahrscheinlich in der Stadt
- ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen.
({1})
Wie Sie wissen, hatte ich keine Möglichkeit, 50 Jahre
Bundesrepublik und damit Demokratie live zu erleben.
Dafür bin ich zu jung. Aus dem Osten komme ich auch
noch. Die BRD überkam mich erst 1989 mit der Wende.
Vielleicht überrascht es einige, aber ich habe den
Mauerfall und das Ende der DDR als ein sehr positives
Ereignis empfunden. Gerade für mich bedeutete das Abdanken des Politbüros einen enormen Zugewinn an persönlicher Freiheit und auch einen Zugewinn an Demokratie.
Wenn Sie mich heute fragen, was ich mit Bonn verbinde, dann ist es vor allem die große Demonstration
gegen die faktische Abschaffung des Asylrechts im
Jahre 1993.
({2})
Fast 350 000 Menschen waren auf der Straße und nahmen ihr Recht in Anspruch, laut nein zu sagen. Doch
was nutzte es? Eine übergroße Koalition strich, davon
unbeeindruckt, ein wesentliches Grundrecht aus der Verfassung.
Wenn wir heute 50 Jahre Demokratie feiern, dann
sage ich Ihnen: Dies waren und sind auch 50 Jahre der
Nichtachtung von außerparlamentarischer Opposition
und damit von einem wichtigen demokratischen Engagement der Bürgerinnen und Bürger.
({3})
Um so erstaunlicher ist es für mich, daß CDU/CSU gerade jetzt außerparlamentarischen Widerspruch pflegen,
ja fast schon plebiszitäre Elemente zumindest praktisch
einführen. Denn Helmut Kohl war es, der als Kanzler
sagte: „Die demonstrieren, wir regieren.“ Jede Form von
Arroganz der Macht läßt bei Engagierten Zweifel am
Sinn demokratischer Freiheiten wie dem Demonstrationsrecht aufkommen. Gerade dieses ist natürlich dennoch besonders schützenswert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute
über die Bundesrepublik reden, dann reden wir über
einen Staat, in dem es Menschen mit unterschiedlichen
Rechten gibt: Menschen, die wählen dürfen, und solchen, denen dies untersagt ist, Menschen, die hier leben
dürfen, und solchen, die an der Grenze zurückgewiesen
bzw. abgeschoben werden, und das nur, weil sie einen
falschen Paß haben. Wachsender Rechtsextremismus,
wachsender Rassismus in der Gesellschaft, die unmenschliche Flüchtlingspolitik und eine oft schweigende
Mehrheit, die rassistischen Pogromen wie zum Beispiel
in Rostock zuschaut - das alles ist wenig ermutigend.
Dennoch will ich meine Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß - nach 50 Jahren und mit dem Beginn der sogenannten Berliner Republik - die kommenden Jahre
der rechtlichen und faktischen Gleichstellung aller
Menschen gehören werden, so wie es in unserem
Grundgesetz vorgesehen ist. Das wäre für mich konseDr. Guido Westerwelle
quenter als ein billiger Kompromiß zur doppelten
Staatsbürgerschaft.
({4})
Aber zur Freiheit gehören auch soziale Gerechtigkeit
und Perspektiven für Jugendliche. Jeder Jugendliche
ohne Berufsausbildung, jeder Mensch ohne Arbeit kann
nur begrenzt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Deshalb ist die gesellschaftliche Realität nicht nur unsozial, sondern faktisch auch undemokratisch. Nicht nur
zwischen den materiellen Möglichkeiten der Kinder von
Bundestagsabgeordneten und der Kinder alleinerziehender Sozialhilfeempfängerinnen liegen mehr als tausend
Welten, sondern auch zwischen ihren realen Chancen,
an den gesellschaftlichen und damit an den demokratischen Mitgestaltungsmöglichkeiten teilzuhaben.
({5})
Gerade auch aus diesem Grunde möchte ich zum
Schluß die Gelegenheit nutzen, einmal nicht den Politikerinnen und Politikern zu danken, sondern all denen,
die draußen auf der Straße oder einfach mitten in der
Gesellschaft immer wieder den Mut und die Kraft finden, nein zu sagen, wenn es nein zu sagen gilt, denen,
die sich gegen Intoleranz und Krieg, gegen soziale Ungerechtigkeit und Sexismus engagieren.
Ich möchte den Menschen danken, die sich vergebens
auf Demonstrationen die Füße wundgelaufen haben, sich
in Bürgerinitiativen, in Antifa-Gruppen oder in gewerkschaftlichen Initiativen engagieren, allen, die sich nicht
damit begnügen wollen, alle vier Jahre wählen zu gehen.
Ohne diese Menschen, ohne diese außerparlamentarische Opposition wäre dieses Land und wäre die Demokratie ärmer.
Ob in Bonn oder in Berlin, wir Parlamentarierinnen
und Parlamentarier müssen uns bewußt sein, daß Demokratie Mitbestimmung heißt. Das sollte in allen gesellschaftlichen Bereichen gelten.
Danke.
({6})
Als nächste Rednerin spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Iris
Gleicke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Oberbürgermeisterin Bärbel
Dieckmann! Liebe Bonnerinnen und Bonner! Wir alle
haben Bonn dafür zu danken, daß es in den letzten
50 Jahren das Parlament und damit das Herzstück der
deutschen Demokratie beherbergt hat.
Aus meiner Perspektive, aus der Perspektive einer
ostdeutschen Abgeordneten, die dem Bundestag seit
1990 angehört, möchte ich es persönlicher formulieren:
Ich bin froh und dankbar dafür, daß ich hier in Bonn in
den vergangenen neun Jahren bei der Gestaltung der
Demokratie mitwirken durfte. Sicherlich war für uns
Ostdeutsche Bonn auch in den Jahrzehnten vor dem Fall
der Mauer ein Begriff. Bonn, das war für uns ein anderer
Name für die westdeutsche Demokratie und für die
westdeutsche Gesellschaft. Das Westfernsehen brachte
den „Bericht aus Bonn“ in die gute Stube, und nach jeder Wahl gab es die „Bonner Runde“.
Alles das, was da in der westdeutschen Hauptstadt
passierte, war für die meisten der DDR-Bürger sehr nah.
Trotzdem war es ganz weit weg und unerreichbar; denn
es gab ja eine unüberwindbare Grenze.
Wir hatten unsere eigene Hauptstadt. Sie lag in unserem eigenen Teil Deutschlands. Im Westen wurde sie
Ost-Berlin genannt. Auf den Schildern an den Transitstrecken stand: Berlin, Hauptstadt der DDR.
Bonn, das war damals für uns das andere, das Fremde. Es lag vor allem für die Jüngeren in einem unbekannten Land. Von diesem anderen Deutschland hatten
wir im Osten viele richtige, aber auch viele falsche Vorstellungen. Umgekehrt gab es auch hier im Westen viele
richtige und viele falsche Vorstellungen über das Land,
in dem wir gelebt haben.
Durch eine glückliche Wendung der Geschichte und
aus eigener Kraft haben wir Ostdeutschen die Diktatur
abgeschüttelt. Die Mauer ist gefallen. Die DDR gibt es
nicht mehr. Geblieben ist für uns alle die gemeinsame
Aufgabe, uns von unseren deutsch-deutschen Vorurteilen zu lösen. Erst wenn uns das gelungen ist - davon bin
ich überzeugt -, können und werden wir nicht mehr in
den Kategorien von Ost und West denken, fühlen und
handeln. Das geht nicht von gestern auf heute und nicht
von heute auf morgen. Das ist ein andauernder Prozeß.
Ich schließe nicht aus, daß es unseren Kindern und
Kindeskindern vorbehalten bleibt, die vielzitierte Mauer
in den Köpfen und damit die deutsche Teilung wahrhaftig zu überwinden. Aber daß es diese Perspektive gibt,
daß wir uns dieser Herausforderung gemeinsam stellen
dürfen, dazu hat diese kleine Stadt am Rhein einen großen, ihren eigenen Beitrag geleistet.
({0})
Auch für mich ganz persönlich hat die Stadt Bonn
eine wichtige, eine große Rolle bei der alltäglichen
Überwindung der Teilung Deutschlands gespielt. So
sehr wir Politiker uns auch abrackern: Der Politik wird
man vorwerfen, daß ihr etwas Abstraktes anhaftet. Menschen hingegen und ihre Beziehungen zueinander sind
immer sehr konkret.
Diese Einsicht habe ich für mich gewonnen, als ich
im Dezember 1990 als sehr junge Abgeordnete nach
Bonn kam und die Stadt und ihre Menschen kennenzulernen begann. Ich war damals gerade 26 Jahre alt und
habe mich hier ziemlich fremd, manchmal auch etwas
verloren gefühlt. Das ist nicht lange so geblieben, denn
ich habe in Bonn Hilfsbereitschaft, Wärme und Freundlichkeit gefunden: zunächst bei den Kolleginnen und
Kollegen - übrigens über die Parteigrenzen hinweg -,
sehr bald auch bei den Menschen, die in dieser Stadt
leben und arbeiten. Ich habe das Rheinland schätzen
gelernt, und zwar nicht nur die rheinische Frohnatur,
sondern auch die Leichtigkeit und freundliche Weltoffenheit, den Charme und die fast südländisch anmutende
Lebensweise.
({1})
In Bonn stellen die Gastwirte die Tische und Stühle auf
die Straßen und Plätze, sobald die Sonne anfängt zu
scheinen.
({2})
Man hat bisweilen vom „Raumschiff Bonn“ gesprochen, in dem den Politikerinnen und Politikern jeder Bezug zum realen Leben abhanden zu kommen droht. Da
mag ein bißchen dran sein, aber ich habe Bonn als Stadt
so nicht erlebt. Es fällt mir nicht ganz leicht, zu beschreiben, warum mir diese Stadt in den vergangenen
neun Jahren so ans Herz gewachsen ist. Es gibt so viele
Erinnerungen und Begegnungen, aus denen sich mein
Bonn zusammensetzt. Ich lasse in Bonn viel mehr zurück als nur einen leeren Sessel in diesem Plenarsaal.
Ich denke an die Freundschaften, die ich geschlossen
habe und die mir lieb und teuer sind. Ich denke daran,
daß mein Sohn einen Teil seiner Kindheit in Bonn erlebt
hat. Ich denke an unsere gemeinsamen Spaziergänge
von unserer Wohnung in der Nordstadt bis zum Graurheindorfer Hafen. Ich erinnere mich an lange Abende in
gemütlichen Kneipen und Weinstuben, wo ich mit Leuten ins Gespräch gekommen bin, die mir unverblümt ihre Meinung gesagt haben und mit denen ich mich nach
Herzenslust streiten konnte. Dabei ist es keineswegs
immer nur um Politik gegangen. Bisweilen waren diese
Abende so lang, daß es nicht immer ganz leicht war, am
nächsten Morgen pünktlich in der Arbeitsgruppe oder im
Plenum zu sein.
({3})
Unvergeßlich ist für mich meine erste Begegnung mit
Willy Brandt, den ich hier in Bonn kennenlernen durfte. Unvergeßlich sind die ersten Begegnungen mit anderen großen Politikerinnen und Politikern aus der Bonner
Bühne. Aber ebenso nachdrücklich bleiben mir die vielen kleinen freundlichen Begegnungen im Alltag mit
den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt in Erinnerung.
Ein unvergeßliches Erlebnis war meine nächtliche
Rundfahrt auf einem großen Löschwagen der freiwilligen Feuerwehr, von der ich bis heute nicht genau weiß,
ob sie so ganz legal war. Deshalb verrate ich auch nicht,
in welchem Bonner Ortsteil sie stattgefunden hat.
({4})
Auch die beiden Hochwasserkatastrophen, die ich
miterlebt habe, werde ich so schnell nicht vergessen.
Seitdem lege ich gesteigerten Wert auf ein Büro, das
nicht im Erdgeschoß liegt. Oder der Bonner Rosenmontagszug! Mehr als einmal habe ich an der Straße
gestanden, gemeinsam mit den anderen Jecken nach
Kammelle gerufen und das Prinzenpaar bejubelt. Wenn
ich dabei aus lauter Übermut statt „Bonn alaaf!“ „Slusia
helau!“ gerufen habe, weil das in meiner Heimatstadt
Schleusingen nun einmal so heißt und weil wir in Thüringen auch Karneval feiern, dann hat mir das niemand
übelgenommen.
({5})
Das will durchaus etwas heißen in einer Stadt, für die
der Karneval ein großes und wichtiges Ereignis und damit auch eine ernste Angelegenheit ist. Herr Westerwelle, zumindest bin ich nicht verprügelt worden!
Hier im Rheinland habe ich von den Bonnerinnen und
Bonnern gelernt, was „Leben und leben lassen!“ heißt.
Et kütt wie et kütt, und et hätt noch immer jootjejange!
({6})
Wohl auch deshalb konnte sich das politische Leben in
Bonn weitgehend unverkrampft entfalten. Wohl auch
deshalb hat Bonn dieser Demokratie so gutgetan. Ich bin
froh darüber, daß ich das parlamentarische Handwerk in
dieser Atmosphäre von Toleranz und Lebensfreude
erlernen durfte. Ich weiß von vielen Kolleginnen und
Kollegen, die ganz ähnliche Erfahrungen mit dieser
Stadt gemacht haben und denen es ähnlich geht wie mir.
Auch in ihrem Namen möchte ich der Stadt danken für
die schöne Zeit, die wir in ihr verbringen durften. Wir
werden Bonn vermissen.
({7})
In diesem Frühjahr sind mir die blühenden Bäume in
der Rheinaue besonders aufgefallen - und ganz besonders die wunderschönen roten Kastanien.
({8})
Ich habe beschlossen: Eine solche Kastanie will ich mir
zu Hause in meinen Garten pflanzen; sie soll in mir die
Sehnsucht an eine kleine große Stadt in Deutschland
wachhalten, die ein Teil meines Lebens und meiner
Heimat geworden ist.
Schönen Dank.
({9})
Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, den ehemaligen Oberbürgermeister von Bonn, Hans Daniels,
({0})
sowie den früheren Vizepräsidenten des Deutschen
Bundestages, Dr. Burkhard Hirsch, zu begrüßen.
({1})
Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang
Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Sichtweise, die eines Sozialisten aus der Altbundesrepublik, der
sich diese Republik aus der linken Opposition in Widerstand und in Gegensatz, in Ablehnung und Rebellion
angeeignet hat - also auf ganz andere Art und Weise -,
neben Ihre Äußerungen stellen. Ich sage bewußt „neben“ und nicht „an die Stelle“: Aneignung ist möglich
von oben, als Teil des Mainstream, der Mehrheit, die das
Land durch Gesetze, Entscheidungen und Verträge
prägt. Sie ist aber auch möglich - das ist mir wertvoll durch Widerspruch und Widerstand.
({0})
Herrschaft und Opposition, Mehrheit und Minderheit
sind - ob Sie es wollen oder nicht - miteinander im und
durch den Widerspruch verbunden. Sich darauf bewußt
einzulassen, den Widerspruch und die andere Seite zu
wollen und nicht als notwendiges Übel hinzunehmen davon ist unsere Demokratie und sind wir alle noch weit
entfernt.
({1})
Ich will zu den Namen, die hier genannt worden sind,
drei weitere Namen hinzufügen, die ebenfalls zu 50 Jahren Demokratie gehören: Heinz Renner, Bundestagsabgeordneter der KPD und ehemaliger Oberbürgermeister
der Stadt Essen. Er, Herbert Wehner und Konrad Adenauer waren als Kontrahenten in diesem ersten Parlament in einer Art und Weise verbunden, daß sie Parlamentsgeschichte geschrieben haben. Ferner will ich
nennen Klara Maria Faßbinder, die Unermüdliche der
Friedensbewegung, und Rudi Dutschke, den rebellischen
Geist der APO.
({2})
Für mich und viele meiner Generation waren die
Verdrängung des und das Schweigen über den Faschismus und den Krieg das, was zum Aufbegehren
provozierte. Es ist nach wie vor eine offene Wunde, daß
sich dieses Land so schwer damit getan hat und tut, sich
damit auseinanderzusetzen. Ich möchte den heutigen
Tag bewußt dazu nutzen, an Sie zu appellieren, den
heute noch lebenden Häftlingen der Konzentrationslager
und Zuchthäuser, den Widerstandskämpferinnen und
Widerstandskämpfern zu sagen: Wir danken euch für
eure wichtige Haltung und Leistung.
({3})
Unser Dank darf kein Opfer ausschließen, auch nicht die
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Ich bitte Sie
- ich betone das Wort „bitte“ -, den noch lebenden
Zwangsarbeitern endlich eine Regelung zukommen zu
lassen, die nicht neue Demütigung und Aufrechnung mit
sich bringt.
({4})
Ich will an die großen Auseinandersetzungen der
letzten 50 Jahre um die Wiederbewaffnung, um die
NATO-Mitgliedschaft, um den NATO-Doppelbeschluß,
um die Ostverträge und um die Berufsverbote sowie an
die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ erinnern. Prägend
für mich war der Widerstand gegen den Vietnamkrieg,
also der Sommer 1968. Die 68er waren mehr als nur der
Teil, der den langen Marsch durch die Institutionen antrat, um dann dort anzukommen, wo die Vorgänger bereits saßen. Liebe Antje Vollmer, die Geschehnisse des
Jahres 1968 sind nicht eine Episode; das Jahr 1968 hat
dieses Land so tief verändert und so demokratisiert, daß
Altbundeskanzler Kohl 16 Jahre seiner geistig-moralischen Wende brauchte, um das korrigieren zu wollen.
({5})
Viele Menschen haben die 50 Jahre Demokratie im
Alltag mitgeprägt, sie sind aus der Zuschauerrolle herausgetreten und haben sich eingemischt. Immer gab es
Alternativen, auch wenn sie sich nicht durchgesetzt
haben; das heißt aber dennoch nicht, daß diese Alternativen falsch waren.
All diese Personen und Ereignisse haben Bonn berührt, hier im Parlament und im Widerspruch zu seinen
Mehrheiten auf vielen großen Kundgebungen im Bonner
Hofgarten. Die Bonner haben daran nicht Schaden genommen. Sie haben es getragen, manchmal wohl auch
eher ertragen. Ihnen ist zu danken.
({6})
Ich komme zum Schluß. Unser Grundgesetz hat am
Widerstand und am Widerspruch auch keinen Schaden
genommen, im Gegenteil: Seine Forderungen und Möglichkeiten für alle Menschen, nicht nur für alle Deutschen - Eigentum verpflichtet; politisch Verfolgte erhalten Asyl; Unverletzlichkeit der Wohnung; Freiheit
der Presse; seine Weisheit, keine bestimmte Wirtschaftsordnung, auch nicht die kapitalistische, auch
nicht die der rheinischen Art, festzuschreiben und ein
Friedensgebot zu erlassen -, bleiben für mich Wesensgehalt von 50 Jahren Demokratie und Herausforderung
zugleich.
Schönen Dank.
({7})
Bevor
ich dem früheren Vizepräsidenten dieses Hauses, HansUlrich Klose, das Wort gebe, möchte ich auch die ehemalige Vizepräsidentin Lieselotte Funcke herzlich begrüßen.
({0})
Bitte schön, Herr Klose.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Heute abend wird
- wenn das Wetter mitspielt - auf dem Bonner Marktplatz das Bonner Konzert erklingen, ein Geschenk des
Bundestages an die Stadt Bonn. Es handelt sich um eine
Komposition von York Höller, Professor an der Musikhochschule in Köln, der sein Werk am vergangenen
Sonntag in einem kleinen Kreis vorgestellt hat. Der Titel
des Werkes lautet: Aufbruch. Das klingt optimistisch
und dynamisch. So wollte es der Autor, der aber bei der
Vorstellung seines Werkes doch zugeben mußte, daß
sich in seine Wahrnehmung des Umzugs von Parlament
und Regierung von Bonn nach Berlin starke melancholische Töne mischten; denn, so meinte er wörtlich, in
Bonn sei doch über 50 Jahre gute Politik gemacht worden.
Das bringt es, wie ich finde, auf den Punkt: „gute
Politik“ nicht in dem Sinne, daß alles, was hier gesagt,
entschieden und getan wurde, immer gut und angemessen war. Streit gab es genug, auch Fehler und Niederlagen, auch - ich rede jetzt von mir - persönliche Fehler
und Niederlagen. Gleichwohl bleibt richtig: Der zweite
demokratische Versuch auf deutschem Boden, der mit
dem Namen Bonn verbunden ist, hat sich zur Erfolgsgeschichte entwickelt.
({0})
Es waren 50 gute Jahre, wahrscheinlich die bisher besten
Jahre für die Deutschen: für die im Westen, die mehr
Glück hatten, aber auch für die im Osten, die lange getrennt von uns und unter weniger glücklichen Verhältnissen gelebt haben, bei denen aber das Wissen stärker
ausgeprägt war als bei uns Westdeutschen, daß wir ein
Volk sind und ein Volk sein wollten.
({1})
Die Wiedervereinigung des geteilten Landes war
ganz sicher der politisch glücklichste Tag der Bundesrepublik. Diese Überzeugung lasse ich mir von niemandem kaputtreden, weder von westdeutschen Miesmachern
({2})
noch von ostdeutschen DDR-Nostalgikern.
({3})
Die Wiedervereinigung war, so hat es Helmut Schmidt
formuliert, ein Glücksfall der deutschen Geschichte. Sie,
Herr Dr. Kohl, können für sich in Anspruch nehmen, die
Chance für solches Glück gesehen und ergriffen zu haben. Das ist Ihre große Leistung, für die wir Ihnen zu
danken haben, heute und in Zukunft.
({4})
Natürlich war die Einheit nicht Ihr Werk allein, das
Werk eines Mannes. Viele Menschen haben dazu beigetragen. Ich denke vor allem und zuerst an die vielen mutigen Menschen in Osteuropa, in Polen, in Ungarn, in
der Tschechoslowakei, und auch an die Menschen in
Ostdeutschland, die das SED-Regime in einer unblutigen Revolution abschüttelten - ein Ruhmesblatt in der
europäischen und deutschen Geschichte.
({5})
Daran sollten wir uns erinnern, wenn Verbindendes
klein- und Trennendes großgeredet wird, also heute.
Die Deutschen im Osten haben Grund, auf das, was
sie für uns alle erreicht haben, stolz zu sein. Aber auch
die Menschen im Westen haben viel erreicht, was vielleicht nur derjenige richtig ermessen kann, der den Krieg
und die unmittelbare Nachkriegszeit miterlebt hat. Die
Menschen im Westen haben mit materieller Hilfe der
Vereinigten Staaten von Amerika - wir sollten das nie
vergessen - ein Staatswesen geschaffen, das uns Deutschen die Rückkehr in den Kreis der Völker ebnete: demokratisch stabil, wirtschaftlich stark, nach innen liberal
und solidarisch, nach außen friedlich, verläßlich und berechenbar für Freunde und Partner. Dieser Staat, seine
Verfassung und die grundsätzliche Orientierung der
Politik haben in der eigenen Bevölkerung und bei den
Nachbarn der Deutschen, ohne deren Zustimmung und
ohne deren Mitwirkung die deutsche Einheit nicht möglich gewesen wäre - ich rede nicht nur von den großen
Nachbarn der Deutschen -, Vertrauen geschaffen.
({6})
Mit Konrad Adenauer hat es angefangen. Er verankerte die junge Bundesrepublik in der westlichen Staatengemeinschaft. Deutschland sollte Teil Westeuropas
sein - nicht Osteuropa und auch nicht Mitteleuropa. Die
potentielle Schaukellage der Deutschen, die in der Vergangenheit zu oft böse Konsequenzen hatte, sollte und
mußte ein für allemal geklärt werden. Adenauers Westpolitik war, wie wir uns erinnern, umstritten; aber sie
war konsequent und hat sich als historisch richtig erwiesen. Sozialdemokraten haben das - etwas verspätet - anerkannt.
Willy Brandt muß genannt werden, der - auf der Basis einer festen Verankerung im westlichen Bündnis eine Politik des Ausgleichs auch mit den osteuropäischen Nachbarn realisierte und dort nicht nur Vertrauen
schuf, sondern in der Konsequenz zur Auflösung des
Ost-West-Gegensatzes und zum Verfall der kommunistischen Herrschaft beitrug.
({7})
Auch die Ostpolitik war umstritten. Aber auch sie hat
sich in der geschichtlichen Praxis für uns Deutsche und
für ganz Europa bewährt. Die Union hat das - etwas
verspätet - anerkannt.
({8})
Das alles ist hier in Bonn bedacht, debattiert und entschieden worden - und vieles mehr: soziale Marktwirtschaft, Lastenausgleich, Gründung der Bundeswehr,
Notstandsgesetze, Asylfragen, Nachrüstung und die
neue Rolle der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung.
An Ludwig Erhard muß erinnert werden, der die
Wirtschaftsordnung der jungen Republik prägte, und an
Herbert Wehner, den wortgewaltigen - die Betonung
liegt auf dem zweiten Teil -,
({9})
der uns immer wieder ermahnte, die junge Bundesrepublik wie unseren Augapfel zu hüten.
({10})
An Helmut Schmidt muß erinnert werden, ohne den
Europa nicht so weit wäre, wie es ist. Und an HansDietrich Genscher, den Unermüdlichen, muß erinnert
werden, von dem es heißt, daß er sich auf dem Wege
über den Atlantik gelegentlich selber begegnete.
({11})
Es ist nicht möglich, allen, die dabei waren, gerecht
zu werden. Wir sind vielleicht noch zu nahe dran, um
die ersten 50 Jahre, die Bonner Jahre, abschließend beurteilen zu können.
Auch kritische Stimmen hat es immer gegeben: gegen
die - ich zitiere - „restaurative“ Politik der AdenauerZeit - von links; gegen die Dialog- und Annäherungspolitik meiner Partei, der SPD - von rechts; gegen das
System - von extrem rechts und extrem links, wie üblich
gemeinsam; gegen zuviel und zuwenig soziale Politik ein Streitthema, das uns, vor allem Sozialdemokraten
und Liberale, bis in diese Tage verfolgt und, da bin ich
sicher, weiter verfolgen wird. In Zeiten knapper Kassen
und globaler Standortwettbewerbe ist das ganz unvermeidlich.
Das alles und der tägliche normale Streit der Parteien
untereinander und innerhalb der Parteien darf uns aber
niemals den Blick verstellen für das, was wesentlich ist:
festzuhalten an der verfassungsmäßigen Ordnung und an
der Grundorientierung deutscher Politik. Verläßlichkeit
und Verantwortung - das sind die Stichworte.
({12})
Wir haben gelernt, daß wir nach der Wiedervereinigung international stärker gefordert sind als früher. Diesen Forderungen können und wollen wir uns nicht entziehen. Aber wir sollten uns auch nicht überheben.
Klaus Kinkels Wort von einer Politik der Zurückhaltung ist so schlecht nicht. Ich habe ihn gelegentlich zitiert, wie ich auch den Publizisten Klaus Segbers immer
wieder zitiere, der 1995 folgendes notiert hat:
Nicht alle Probleme dieser Welt, die einer Lösung
bedürfen, harren deutscher Einmischung.
({13})
Viele, auch mißliche, Zustände lassen sich ohnehin
nicht oder kaum beeinflussen. Die Gefahr der
Selbstüberforderung ist groß … Weder können die
Transformationsprozesse in Osteuropa von hier aus
über den Berg gebracht werden, noch die neuen
Fundamentalisten vom Maghreb bis zum Nahen
Osten überwunden werden … Die eigentliche Aufgabe der Politik, auch deutscher Außenpolitik,
scheint mir immer weniger in dem Anspruch zu bestehen, die Dinge zu ordnen und zu organisieren,
sondern darin, sich auf intelligente und sensible
Weise auf eine Situation einzurichten, die durch
notorische Instabilität gekennzeichnet bleibt.
Das ist, wie ich finde, eine sehr kluge und beachtenswerte Einschätzung unserer Lage und Möglichkeiten. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.
({14})
An der europäischen Ausrichtung unserer Außenpolitik sollten wir unbedingt festhalten. Sie hat uns bisher ganz überwiegend Vorteile gebracht. Die werden
nicht immer ganz so deutlich wahrgenommen, weil alle
EU-Regierungen dazu tendieren, schmerzhafte finanzielle Einschnitte in ihre nationalen Haushalte mit Europa zu begründen, was - vorsichtig formuliert - nicht
immer zutreffend ist. Der Effekt ist aber unübersehbar:
Die Europabegeisterung der Menschen hat abgenommen, was ich bedaure, denn ich sehe keine Alternative
zu einer betont europäischen Politik.
({15})
In dieser Einschätzung waren wir uns in diesem Hause
- von der PDS abgesehen - auch immer einig, und das
war und ist gut so. In Grundsatzfragen der außenpolitischen Orientierung muß es nicht ein Mindestmaß, sondern ein Höchstmaß an Konsens geben.
({16})
Noch eine Bemerkung zur Außenpolitik: Manchmal
hat man bei Reden zur Außenpolitik hier und anderswo
den Eindruck, es gehe den Deutschen in erster Linie um
das Wohl der ganzen Menschheit und nicht auch und in
erster Linie um die Wahrnehmung deutscher Interessen.
Ich verstehe das, füge aber hinzu: Es ist normal, Interessen zu haben und zu verfolgen, auch für Deutschland.
Sie zu definieren und durchzusetzen, wenn möglich, ist
nicht unanständig, sondern wird geradezu erwartet.
({17})
Daß wir aber, um unsere Ziele zu erreichen, mit anderen
kooperieren müssen, ist selbstverständlich. Wir können
es nur mit ihnen und unter Beachtung auch ihrer Interessen schaffen, weil wir zu klein sind, um mit der Robustheit der Vereinigten Staaten zu operieren, und zu groß,
als daß man uns bei solchen Versuchen einfach gewähren ließe. Den kooperativen Stil der deutschen Außenpolitik sollten wir deshalb beibehalten.
({18})
Worauf ich mit diesen drei Bemerkungen zur Außenpolitik hinaus will, ist klar. Ich gehe davon aus, daß der
Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach
Berlin eben nicht mit einem Paradigmenwechsel der
deutschen Politik, vor allem der Außenpolitik, einhergeht. Ich plädiere entschieden für Kontinuität.
Natürlich wird es Akzentverschiebungen geben. Berlin ist anders als Bonn, liegt im Osten der Republik, ist
viel größer. Den Problemen der Zeit und der Wirklichkeit begegnet man in einer solchen Stadt auf Schritt und
Tritt, während wir hier in Bonn, im Regierungs- und
Parlamentsviertel - zugegebenermaßen - in einer etwas
abstrakten Welt gearbeitet haben: wir hier drinnen und
die Menschen draußen. Das wird sich in Berlin hoffentlich ändern, und es wird die Politik verändern, aber nicht
im Grundsatz. Der ersten so erfolgreichen Bonner Etappe unseres demokratischen Wiederaufbaus wird - davon
bin ich überzeugt - eine ebenso erfolgreiche in Berlin
folgen. Das politische Klima in Berlin wird anders sein,
aber es bleibt die gleiche Republik: nicht die Bonner
Republik, keine Berliner Republik, sondern die Bundesrepublik Deutschland, unser aller gemeinsamer Staat.
({19})
Bleibt auch der Bonner Stil? Gab es so etwas wie
einen Bonner Stil? Ich glaube, schon. Bonn ist eine kleine Stadt und mit Berlin nicht vergleichbar. Das Flair
einer Weltstadt kann Bonn nicht bieten. Aber diese heitere, eher bescheidene rheinische Stadt bietet etwas, was
für uns alle, die wir hier gearbeitet haben, wichtig war:
Nähe. Hier in Bonn war alles nah beieinander. Man
konnte sich schnell zusammenfinden, begegnete sich
laufend, lernte sich schneller - nicht nur politisch, sondern auch persönlich - kennen. Wer an Wochenenden
hier blieb und auf den Bonner Markt ging, konnte sicher
sein, mindestens ein halbes Dutzend bekannter Gesichter
- Politiker, Journalisten und Verbandsvertreter - zu treffen. Da die gastronomischen Möglichkeiten nicht unbegrenzt waren und sind, traf man sich in Bonn auch außerhalb der Politik immer wieder.
Manch einem war das bisweilen ein bißchen zuviel.
Alles in allem hat es uns aber geholfen, freundlich und
kollegial miteinander umzugehen. Das soll niemand geringachten.
({20})
Man mag den Bonner Stil belächeln oder auch provinziell nennen: Er förderte die persönliche, sogar freundschaftliche Nähe quer durch die Parteien. Das hat der
Politik gutgetan; Bonn hat uns gutgetan.
({21})
Eben deshalb ist eine solche Rede, von der ich weiß,
daß sie meine letzte Parlamentsrede hier an diesem Pult
ist, eine zwiespältige Sache. Berlin wird spannend - gewiß. Ich freue mich auf Berlin. Aber - ich gebe es zu es mischt sich viel Melancholie in diese Freude. Das
Bonner Regierungsviertel, der alte Plenarsaal, unser geliebtes Wasserwerk, dieser wunderbare neue Plenarsaal,
der, wie ich finde, viel von dem ausdrückt, was Bonn
kennzeichnet - das alles wird mir fehlen. Aus dem Urlaub zurückzukommen und nicht mehr mit dem Fahrrad
zum Langen Eugen zu radeln, nicht mehr in mein Büro
in den 28. Stock hinaufzufahren - mit einem Fahrstuhl, an dessen Bummelzugqualität man sich gewöhnt
hatte -:
({22})
Noch kann ich es mir nicht richtig vorstellen. Von anderen Kolleginnen und Kollegen weiß ich, daß es ihnen
ebenso geht.
Da muß man durch. Auch die Bonner müssen da
durch. Sie schaffen das auch: aus eigener Kraft, unter
tatkräftiger Führung und mit unserer Hilfe, so wie wir es
versprochen haben. Daß wir uns an diese Versprechen
halten, zumindest das schulden wir der Stadt Bonn, die
uns so gastfreundlich und hilfreich aufgenommen hat, in
der es sich so angenehm lebt, in der ich gern lebe.
({23})
Dank, liebe Bärbel Dieckmann, an Bonn! Glück auf,
Herr Kollege Diepgen, für Berlin!
({24})
Ich freue
mich, daß wir an diesem historischen Tag so viele herausragende Persönlichkeiten als Besucher bei uns haben.
Deswegen möchte ich es nicht versäumen, noch den früheren polnischen Außenminister, Herrn Professor Wladyslaw Bartoszewski,
({0})
den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,
Herrn Professor Dr. Karl Lehmann,
({1})
den Metropoliten von Deutschland, Herrn Augoustinos
Labardakis,
({2})
und nicht zuletzt den früheren Fraktions- und Parteivorsitzenden der SPD, Herrn Hans-Jochen Vogel, zu begrüßen.
({3})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
gebe ich jetzt das Wort dem Regierenden Bürgermeister
von Berlin, Eberhard Diepgen.
Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister
({4}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klose hat eben
die Gefühlswelt, die für einen Umzug ganz typisch ist,
in treffender Weise beschrieben. Immer dann, wenn man
sich auf den Weg macht, die Möbel einzupacken und die
Bücher für eine neues Regal zu sortieren, blickt man ein
Stück zurück, und das ist immer mit Melancholie verbunden. Die Liebe zu dem Ort und zu dem Geschehen
kommt einem immer wieder in den Sinn. Gleichzeitig ist
Umzug auch mit Aufbruch, mit der Frage nach dem
Neuen verbunden. Es ist also eine Verknüpfung von
Rückblick und Ausblick.
In dieser Debatte möchte ich auch und gerade für
Berlin sowie für die Berlinerinnen und Berliner sehr
deutlich machen: Heute ist zunächst der Tag des Dankes. Ich danke der Bundesstadt Bonn, daß sie den freien
Teil Deutschlands in den Jahren der deutschen Spaltung
würdig repräsentiert hat.
({5})
Ich danke der Bonner Politik und auch der Stadt Bonn,
daß sie in der Zeit der Spaltung viele Zeichen der Solidarität gesetzt hat.
({6})
Ich stelle ausdrücklich fest: Ohne diese Zeichen der Solidarität hätte der Westteil der Stadt Berlin nicht in Freiheit und sozialer Sicherheit überlebt. Ich bedanke mich
dafür.
({7})
Ich will ebenso ausdrücklich hervorheben: Die Stadt
Bonn hat mit ihrem, wie hier immer formuliert wurde,
rheinischen Charme - ich würde sagen: mit Charme und
Frohsinn -, aber auch mit ihrer Ernsthaftigkeit dazu beigetragen, daß wir Deutsche in den letzten Jahrzehnten
viele Freunde bei unseren Nachbarn und in der ganzen
Welt gewonnen haben.
In dieser Debatte ist herausgestellt worden, was
auch in den letzten Tagen immer wieder formuliert
worden ist: Bonn steht für eine der glücklichsten Epochen in der deutschen Geschichte. Ich gestehe Ihnen:
Im ersten Augenblick habe ich bei dieser Formulierung
ein wenig gestockt. Was heißt „glücklichste Epoche
der deutschen Geschichte“? Was ist die deutsche Geschichte? Die 50 Jahre? Es sind 50 Jahre, die wir sehr
genau definieren müssen, nämlich als 40 Jahre der
Teilung und 10 Jahre des Zusammenwachsens. Zu den
40 Jahren der Teilung gehört auch das Zuchthaus von
Brandenburg. Zu den 40 Jahren der Teilung gehört all
das, was damals im Osten Deutschlands - zunächst in
der sowjetisch besetzten Zone, dann in der DDR - an
Unrecht geschehen ist. Aber - deswegen sage ich das
hier - auch diese 40 Jahre deutsche Geschichte der
beiden Staaten in Deutschland sind deutsche Geschichte und gemeinsame Geschichte,
({8})
mit all ihren Unterscheidungen, die man dabei definieren muß.
Herr Kollege Clement hat in seinem Redebeitrag darauf hingewiesen: Vorsicht bei den Formulierungen,
nicht nur durch die Brille des Westens schauen. Dennoch - deswegen greife ich das auf -: Wenn ich definiere, die Stadt Bonn stehe für eine der glücklichsten
Epochen der deutschen Geschichte, dann steht natürlich
am Ende auch das, was erreicht wurde. Herr Kollege
Klose hat soeben formuliert: Es war eine der glücklichsten Phasen der deutschen Geschichte - und der glücklichste Tag in seinem politischen Leben, wie er gesagt
hat -, als wir die Wiedervereinigung erreichen konnten.
Sie ist erreicht worden durch die Politik, die von Bonn
aus betrieben wurde. Das ist es, was hervorzuheben ist.
Ich schließe mich dem ausdrücklich an.
({9})
Sicherlich haben viele von Ihnen Verständnis für
einen zweiten Tag, den ich neben vielen glücklichen
Tagen, die ich im persönlichen Leben natürlich anders
definieren würde, erlebt habe: Für mich ist der glücklichste Tag der Tag der Wiedervereinigung. Ein weiterer sehr glücklicher Tag ist der Tag, an dem im Deutschen Bundestag entschieden wurde: Die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland ziehen wieder
nach Berlin.
Wenn nun der Bundestag und die Bundesregierung
ihren Sitz in der ungeteilten deutschen Hauptstadt nehmen, dann ist das ein sichtbares Symbol für die Wiedervereinigung. Berlin war während der Jahrzehnte der
Teilung ein Fokus für die deutsche Teilung. Seit zehn
Jahren ist es jetzt ein besonderes Symbol für die Aufgaben der Vereinigung, die Werkstatt. Für die Menschen
aus den neuen Bundesländern ist der Umzug von Parlament und Regierung sicherlich auch ein Schritt in Richtung auf die Menschen in den neuen Ländern. Auch das
gehört dazu.
Ich sage das deswegen, Frau Kollegin Dieckmann,
weil im Verständnis der deutschen Politik liegt und liegen muß: Es geht bei dieser Frage um den gemeinsamen
Aufbruch und die gemeinsame Verantwortung für die
Zukunft.
Wir wissen - das ist hier sehr deutlich geworden -:
Die Entscheidung über den Parlaments- und Regierungssitz ist vielen schwergefallen. Ich habe dafür Verständnis. Allerdings gehört es zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, daß der Weg nach Berlin
eigentlich vorgegeben war. Aber wir wollen nicht zurückblicken.
Ich möchte Ihnen, Frau Kollegin Dieckmann, und mit
Ihnen den Bürgerinnen und Bürgern von Bonn danken,
daß der Beschluß über den Umzug der Verfassungsorgane mit wachsender Gelassenheit, mit wachsendem
Selbstbewußtsein und mit wachsender Bereitschaft zur
Zusammenarbeit zwischen den Städten jetzt in die
Wirklichkeit umgesetzt wird. Bei Ihnen persönlich
möchte ich mich dafür bedanken, daß Sie in Ihrer Amtszeit mit Gelassenheit und in konstruktiver Form daran
mitgewirkt haben und daß damit jedenfalls ich eine gute
Zukunft der Region Bonn verbinde, die ich mir, Ihnen
und uns allen wünsche. Vor allen Dingen wünsche ich
uns eine dauerhafte und lebendige Verbundenheit zwischen beiden Städten.
({10})
Der Umzug - das ist hier herausgestellt worden - ist
kein Richtungswechsel in der Politik. In den letzten
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({11})
50 Jahren ist hier in Bonn eine gute demokratische Tradition gewachsen. Die werden wir alle gemeinsam in
Berlin fortsetzen. Die Stadt Berlin wird die Blicke der
Bundesrepublik und der Politik allerdings auch auf neue
Fragen und neue Probleme richten. Insofern besteht also
kein Richtungswechsel, aber es ist auch nicht nur ein
Ortswechsel. Denn der Umzug ist mit neuen Formen der
politischen Verantwortung verbunden. Ich weise nur auf
die Ausführungen von Helmut Kohl hin, der klar herausgestellt hat, was es bedeutet, wenn 80 Kilometer vom
Reichstag, vom Deutschen Bundestag entfernt die polnische Grenze liegt. Das schärft den Blick in den Osten
und auch in den Ostseeraum.
Berlin wird auch mit einem Aufbruch verbunden sein.
Das ist die Veränderung. Ich hoffe, daß die Verbindung
zwischen den Traditionen der Westbindung, der Öffnung nach Osten und der Modernisierung unseres Staates auch nach dem Umzug nach Berlin erhalten bleibt.
Berlin möchte dabei eine dienende Hauptstadt sein, die
die Nation zusammenführt und die Kräfte des Landes zu
gemeinsamem Nutzen bündelt. Wir wollen, daß sich
Berlin, Bundesregierung und Bundestag an den neuen
Wirkungsstätten zu Tatkraft und unverbrauchten Ideen
verbinden, die dem Land dann Schwungkraft verleihen.
Wir wollen der deutschen Politik in Berlin genausoviel
geben, wie wir empfangen haben und zu empfangen hoffen.
Ich danke Bonn für das, was von dieser Stadt ausgegangen ist. Zwischen Kiez und Kosmos werden Sie vieles von dem wiederfinden, was in Bonn gegenwärtig
war. Ich sage: Willkommen in Berlin, in einer Stadt, die
viel von dem aufnehmen wird, was beim Umzug nicht
verlorengehen darf.
Vielen Dank.
({12})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Nachdem der Deutsche Bundestag am 25. November
1997 beschlossen hat, nach der Sommerpause 1999
seine parlamentarische Arbeit in Berlin aufzunehmen,
und nachdem der Umbau des Reichstagsgebäudes abgeschlossen ist und ab Juli 1999 mit den Büros in den
Übergangsliegenschaften mit Bonn vergleichbare Raumverhältnisse hergestellt worden sind, kann ich das Einvernehmen des Hauses feststellen, daß die Voraussetzungen für die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages in Berlin, Platz der Republik, mit Wirkung zum
1. September 1999 gegeben sind.
Die gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages
und des Bundesrates gemäß Art. 56 des Grundgesetzes
für die Bundesrepublik Deutschland zur Vereidigung
des Bundespräsidenten findet um 13 Uhr statt.
Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages
berufe ich ein auf Mittwoch, den 8. September 1999,
10.45 Uhr in Berlin im Reichstagsgebäude.
Die Sitzung ist geschlossen.