Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/1/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ich eröffne die letzte Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn - es ist die 50. Sitzung des Deutschen Bundestages - und begrüße Sie alle sehr herzlich. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich folgendes bekannt: Gemäß § 93a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung können Mitglieder des Europäischen Parlaments an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union teilnehmen. Zahl und Zusammensetzung sind in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen und müssen daher vom Plenum festgestellt werden. Die Fraktionen haben sich auf Grund der Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes nach der letzten Wahl darauf verständigt, die Zahl auf insgesamt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen auf die CDU/CSU sieben, auf die SPD fünf Mitglieder sowie auf Bündnis 90/Die Grünen und die PDS jeweils ein Mitglied. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um weitere Punkte, die Ihnen in der Zusatzpunktliste vorliegen, zu erweitern: ZP3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Dringlichkeitsfragen 1 bis 4 in Drucksache 14/1298 zur Entwicklung des Nettorentenniveaus ({0}) ZP4 a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 59 zu Petitionen - Drucksache 14/1320 - b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 60 zu Petitionen - Drucksache 14/1321 - c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 61 zu Petitionen - Drucksache 14/1322 - d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 62 zu Petitionen - Drucksache 14/1323 - e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 63 zu Petitionen - Drucksache 14/1324 - f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 64 zu Petitionen - Drucksache 14/1325 - g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 65 zu Petitionen - Drucksache 14/1326 - h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 66 zu Petitionen - Drucksache 14/1327 ZP5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Dreiunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({1}) - Drucksache 14/866 Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor wir die Debatte „50 Jahre Demokratie - Dank an Bonn“ führen, müssen wir noch einige Abstimmungen und Überweisungen vornehmen. Ich rufe deshalb zunächst den Tagesordnungspunkt 14 e auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsgesetzes ({2}) - Drucksachen 14/745, 14/1067 ({3}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache 14/1301 - Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Volker Kauder Rainer Funke Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen gleich zur Abstimmung über den von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurf eines Überweisungs- gesetzes, Drucksachen 14/745, 14/1067 und 14/1301. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange- nommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das Präsi- dium hat keinen Zweifel an der Mehrheit. Der Gesetz- entwurf ist damit angenommen. Ich rufe die Zusatzpunkte 4 a bis 4 h auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 59 zu Petitionen - Drucksache 14/1320 - b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 60 zu Petitionen - Drucksache 14/1321 - c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 61 zu Petitionen - Drucksache 14/1322 - d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 62 zu Petitionen - Drucksache 14/1323 - e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 63 zu Petitionen - Drucksache 14/1324 - f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 64 zu Petitionen - Drucksache 14/1325 - g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 65 zu Petitionen - Drucksache 14/1326 - h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 66 zu Petitionen - Drucksache 14/1327 Sammelübersicht 59 auf Drucksache 14/1320: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 59 ist angenommen. Sammelübersicht 60 auf Drucksache 14/1321: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 60 ist damit angenommen. Sammelübersicht 61 auf Drucksache 14/1322: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Sammelübersicht ist angenommen. Sammelübersicht 62 auf Drucksache 14/1323: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch die Sammelübersicht 62 ist angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1329. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Sammelübersicht 63 auf Drucksache 14/1324: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch die Sammelübersicht 63 ist angenommen. Sammelübersicht 64 auf Drucksache 14/1325: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch die Sammelübersicht 64 ist angenommen. Sammelübersicht 65 auf Drucksache 14/1326: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch diese Sammelübersicht angenommen. Wir kommen zur Sammelübersicht 66 auf Drucksache 14/1327: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch die Sammelübersicht 66 angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Dreiunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({13}) - Drucksache 14/866 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({14}) Finanzausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun, Kolleginnen und Kollegen, rufe ich Tagesordnungspunkt 12 auf: Vereinbarte Debatte „50 Jahre Demokratie - Dank an Bonn“ Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Thierse.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist unser letzter Tag in diesem schönen Hause, einem Haus, das in seiner Transparenz, in seiner Helligkeit eine gute Heimstatt für unser Parlament war und das in seiner architektonischen Gestalt ein überzeugendes Symbol der deutschen parlamentarischen Demokratie geworden ist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag verläßt Bonn zu einem der glücklichsten Zeitpunkte der deutschen Geschichte. Wir blicken zurück auf 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, auf 50 Jahre auf dem Fundament einer stabilen Verfassung, des Bonner Grundgesetzes, auf 50 Jahre Frieden in Deutschland, auf zehn Jahre Mauerfall und neun Jahre deutsche Einheit. Der heutige Tag ist Anlaß, daran zu erinnern, daß all dies niemals selbstverständlich gewesen war und ist. Bei allem Streit, bei allen noch zu bewältigenden Schwierigkeiten und großen Problemen der Gegenwart, die Probleme der deutschen Einigung eingeschlossen, Vizepräsidentin Anke Fuchs habe ich - wenn ich das so persönlich sagen darf - immer noch ein Grundgefühl des Glücks, ein Gefühl, daß deutsche Geschichte endlich einmal gut ausgehen könnte. Dieses Gefühl verbindet sich auch mit den Jahren in Bonn. Die 50jährige Entwicklung Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg bleibt ohne jeden Zweifel vor allem auch mit dem Namen dieser Stadt verbunden. Der Umzug des Deutschen Bundestags darf deshalb weder Abkehr von der Politik noch Absage an die Politik bedeuten, die in Bonn gemacht worden ist. ({1}) Es geht doch nicht um Bonn gegen Berlin oder Bonner Politik gegen Berliner Politik. Es ist auch keine Wanderung zwischen einer angeblich alten Republik und einem neuen Deutschland, zwischen Föderalismus und Zentralismus oder zwischen Souveränität und Sonderweg. Die Grundkoordinaten deutscher Politik verändern sich durch den Ortswechsel nicht. Die in Bonn entwickelten demokratischen und föderalen Strukturen werden in Berlin fortleben, solange unser, der Demokraten aller Parteien und Fraktionen politischer Wille und das Engagement der Bürger immer wieder neu die Voraussetzungen dafür schaffen. Dafür treten wir ein. 200 zu 176 Stimmen - dies war vor 50 Jahren die Entscheidung des Deutschen Bundestags zugunsten Bonns als provisorischer Bundeshauptstadt, wie es damals ausdrücklich hieß. Bei aller Kritik an Bonn in den darauffolgenden Jahren - sie begann beim Klima und gipfelte im Pflichthaß auf Bonn, das ist bei Heinrich Böll nachzulesen - sage ich: Bonn war die richtige Stadt zum richtigen Zeitpunkt. ({2}) Sicherlich mag Bonn als die sprichwörtlich gewordene „kleine Stadt am Rhein“ provinziell und ziemlich unbekannt gewesen sein. Schließlich wurde erst zu Beginn der 50er Jahre die erste Ampel in Bonn aufgestellt. Die meisten Auslandskorrespondenten suchten ihren neuen Dienstort zuerst einmal auf der Landkarte. Aber Bonn war eben auch überschaubar und freundlich und verzichtete gelassen auf grandiose Gesten und Kulissen, auf Pathos und Protzerei. Nach der Nazidiktatur hat diese Stadt - so wie sie war - geholfen, das Vertrauen in deutsche Politik im In- und Ausland wiederherzustellen. Sie war bescheiden und ruhig. Sie war ein Ort, um sich auf den richtigen Weg zu besinnen - geschichtlich eher unbelastet, kulturell und wissenschaftlich pluralistisch: Karl Marx hat hier studiert, Gottfried Benn hat hier gelehrt. Bonn erwies sich als die beste Wiege für die parlamentarische Demokratie eines Landes, das nach Ende des zweiten Weltkrieges neu aufgebaut werden mußte. Nur Schritt für Schritt - daran können sich Ältere noch erinnern - öffneten sich die Deutschen gegenüber den neuen Institutionen der parlamentarischen, pluralistischen, sozialen und rechtsstaatlichen Demokratie. Nach der nationalsozialistischen Herrschaft wußten viele, daß diese Demütigung der Menschenwürde, diese Verbrechen nie wieder geschehen dürften. Demokraten waren sie damit immer noch nicht. Es war eine große Leistung der Demokraten der ersten Stunde, hier in Bonn Neugier und Interesse zu wecken. Die erste parlamentarische Debatte verfolgten Millionen von Bürgerinnen und Bürgern am Radio. Damit steht Bonn dauerhaft für demokratischen, hoffnungsvollen Neuanfang. Es hat von den Anfängen bis heute vorbildliche Debatten in Bonn gegeben. Ich erinnere an einige Sternstunden: die Debatten über die Westbindung der Bundesrepublik, über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, über die Todesstrafe, über die Nichtverjährung von NS-Verbrechen, über die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montanindustrie, über die Neuregelung des Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch im vereinten Deutschland und natürlich auch über den zukünftigen Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung. Zu diesen Sternstunden trugen vor allem die politischen Hauptakteure der ersten Bonner Jahre bei: Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Theodor Heuss, Thomas Dehler, Heinrich von Brentano, Franz Josef Strauß, Fritz Erler und Herbert Wehner. Ihre Persönlichkeiten trugen dazu bei, das deutsche Parlament ins Zentrum des politischen Geschehens, der politischen Aufmerksamkeit zu rücken. Ihre Lebenserfahrungen prägten die gemeinsame klare und eindeutige Absage an Extremisten und immer wieder auftauchende ideologische Rattenfänger. Sie haben eine Kontinuität begründet, von der unsere gemeinsame Republik bis heute auch lebt und an der wir weiterzuarbeiten haben. Schon als kleiner Junge - erlauben Sie mir diese persönliche Bemerkung - habe ich - gewiß zunächst eher unfreiwillig, weil mein Vater darauf bestand - die Reden aus dem Deutschen Bundestag am Radio über den Sender RIAS verfolgt. Sie wissen, er war in der DDR immer gestört; also hatte eisige Ruhe zu herrschen. Aber genauso wie mein Vater und ich - wie gesagt, zunächst unfreiwillig - haben viele andere Bürgerinnen und Bürger aus der DDR die Chance genutzt, wenigstens mittelbar die parlamentarische Arbeit in Westdeutschland zu erleben. Das galt für viele Menschen im Osten Deutschlands. Aus Bonn - aus Bonn! - fand das demokratische Deutschland, fand die Alternative zu ideologischer Enge und Kleingeisterei zu uns in den anderen deutschen Staat. Bonn war für uns, für viele Ostdeutsche ein Symbol, ein Sehnsuchtsort für unsere Hoffnungen auf demokratische Freiheit. Das wird unvergessen und mit Bonn dauerhaft verbunden bleiben. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute können wir nicht ohne Stolz behaupten, Deutschland hat zunächst und lange allein im Westen Deutschlands die Chance des demokratischen Neuanfangs genutzt. Vielleicht steht nun heute im Vordergrund, daß Demokratie auch sehr mühsam sein kann. Entscheidungen zu treffen, zwischen miteinander konkurrierenden Zielen abzuwägen, den Konsens zwischen streitigen Positionen zu suchen - all dies ist leichter gesagt als getan. Manchmal unbefriedigt, aber mindestens ebenso oft erleichtert erkennt man, daß es in der Demokratie eben nicht die eine, endgültige Wahrheit gibt. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der Erinnerung an die Erfolgsgeschichte der westdeutschen Demokratie, die mit den Namen Bonns verbunden ist, sollte eine Tatsache nicht vergessen werden: Die Zustimmung zur Demokratie im Westen Deutschlands ist erst mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik ganz allmählich gewachsen. Wenn jetzt mit dem Finger auf die Ostdeutschen gezeigt wird, weil dort - erst oder nur noch - ein Fünftel der Bürger die Demokratie für die beste Staatsform hält, frage ich, warum den Ostdeutschen nicht auch die Zeit des Suchens und der Überzeugung gegönnt wird, die Menschen offensichtlich brauchen. Die Erfahrungen der Ostdeutschen mit der Demokratie sind in den 90er Jahren fundamental anders als die Erfahrungen der Westdeutschen damals. Das Ja zur Demokratie muß heute erbracht werden angesichts großer und schwer zu verkraftender Veränderungen, angesichts sozialer, wirtschaftlicher, kultureller Umbauprobleme, zäher Arbeitslosigkeit, sozialer Verunsicherung und eines Gefühls der Benachteiligung. Ob dies zu Recht besteht oder nicht, ist dabei nicht ganz so wichtig. Ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Demokratie stellt sich da nicht von selbst ein. Die Mühen der Ebene scheinen unüberwindbar. Freiheit erscheint als Widerspruch zur Sicherheit. Wir haben als Parlament - diese Verpflichtung erwächst aus der Erinnerung an 50 Jahre in Bonn - die Bringschuld einer Politik, die es erlaubt, Freiheit und Gerechtigkeit als untrennbar miteinander verbunden zu begreifen. ({4}) Wenn wir uns von der Bundeshauptstadt Bonn verabschieden, nehmen wir das als Auftrag und Herausforderung mit nach Berlin. Denn auch die andere wesentliche Grundorientierung der deutschen Politik ist mit dem Namen Bonn verbunden: die soziale Marktwirtschaft, die andere, Ausländer zumal, nicht umsonst „rheinischen Kapitalismus“ nennen. Meine Damen und Herren, deutsche Politik ist von Bonn aus weltweit wieder anerkannt worden, vor allem auch, weil sie in Bonn europäisch geworden ist. Die entscheidenden außenpolitischen Schritte, die Europa weitestgehend Frieden und Stabilität garantiert haben, wurden von hier aus mit initiiert. Als erstes nenne ich die Aussöhnung mit Frankreich, dann den Erfolg des Atlantischen Bündnisses, die Entspannungspolitik nach Osten, die Auflösung der alten Feindbilder und den gesamteuropäischen Friedensprozeß auf der Grundlage der KSZE-Schlußakte von Helsinki - all dies über die gesamte Zeit verbunden mit kontinuierlichen Schritten europäischer Integration. Das sind Leistungen nicht nur der Nachbarn in Europa, sondern auch der deutschen Außenpolitik, die von Bonn aus betrieben worden ist und die wir selbstverständlich in Berlin fortzusetzen haben. Dies gilt auch für die deutsche Einheit. Ohne Bonn kein Berlin. Bonn und seine Deutschlandpolitik, die als europäische Aussöhnungs- und Friedenspolitik ausgerichtet war, hat den Weg für das geeinte Deutschland geebnet. Mag es auch über die Jahre hinweg Streit im einzelnen gegeben haben, die Grundorientierung auf eine Politik der Wiedervereinigung, die in eine europäische Aussöhnungs- und Friedenspolitik eingebettet ist, hat gegolten von Adenauer über Willy Brandt bis zu Helmut Kohl. Das die gesamte Zeit über niemals offen in Frage gestellte Selbstverständnis Bonns, ein Provisorium, eine provisorische Hauptstadt zu sein, hat die Tür zur Einheit Deutschlands stets offengehalten. Die Entscheidung für Berlin bedeutet Abschied von Bonn. Das läßt sich nicht beschönigen. Aber diese Entscheidung enthält nicht eine Spur von Undank gegenüber Bonn oder von Ablehnung dieser Stadt oder ihrer Menschen. Im Gegenteil: In Berlin müssen wir erst noch beweisen, daß wir den letzten, den besten 50 Jahren deutscher Geschichte weitere gute 50 Jahre, dieses Mal für ganz Deutschland, hinzufügen können. Wir Parlamentarier werden immer wieder Grund haben, an eine gute Zeit in Bonn, an den Ort und die Art des Erwachsenwerdens der deutschen Demokratie zu denken, auch - das sage ich als Berliner - an den im besten Sinne des Wortes gutbürgerlichen Stil ohne Pomp, ohne Protz, ohne falsches Pathos. Wir sollten uns in Berlin an diesen Stil erinnern, falls wir je Anfällen von Wilhelminismus und ähnlichen Gefährdungen unterliegen sollten. Ich glaube es zwar nicht. Aber die Erinnerung an Bonn könnte immer hilfreich sein. ({5}) Die Politiker und die Menschen, die im unmittelbaren und mittelbaren Umfeld gearbeitet haben, sind dank der rheinischen Mentalität herzlich aufgenommen worden. Ich erinnere mich jedenfalls mit großem Vergnügen und mit wirklicher Dankbarkeit an meine ersten Tage und Monate in Bonn vor neun Jahren. Es ist nicht selbstverständlich, daß man so empfangen wird. Manch ein Bonner hat uns vorgelebt, was Geduld, Gelassenheit und rheinischer Humor wert sind, gerade auch unter den Mitarbeitern des Bundestages und der Fraktionen, denen wir zu Dank verpflichtet sind, auch für diese Haltung. ({6}) Ihnen, Frau Oberbürgermeisterin Dieckmann, möchte ich stellvertretend für alle Menschen in dieser Stadt heute versichern: Wir haben uns in Bonn und im Rheinland sehr wohlgefühlt. Bonn bleibt Bundesstadt mit einer wohl einmaligen Vergangenheit und mit viel Zukunft. ({7}) Ich bin mir bewußt, daß der Deutsche Bundestag zu dieser Zukunft einen Beitrag leisten kann, nämlich indem er die Zusagen einhält, die der Stadt gemacht worWolfgang Thierse den sind. Ich sage ausdrücklich: Dank soll keine leere Formel bleiben, sondern wir stehen zu unseren Verpflichtungen. Herzlichen Dank an Bonn! ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Auf der Besuchertribüne haben einige Gäste Platz genommen, die ich herzlich begrüßen möchte, an der Spitze die Frau Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann. ({0}) Frau Oberbürgermeisterin, dies ist Ihr Tag: Dank an Bonn. Wir grüßen mit Ihnen alle Bonnerinnen und Bonner und wünschen Ihnen für die neuen Herausforderungen alles Gute. Wir werden Bonn vermissen. ({1}) Wir freuen uns darüber, daß Altbundespräsident Richard von Weizsäcker unter uns ist. Herzlich willkommen! ({2}) Ich begrüße viele Kolleginnen und Kollegen des Bundestages. Stellvertretend für alle nenne ich die Vizepräsidenten Herrn Stücklen, Herrn Becker und Herrn Cronenberg. Herzlich willkommen! ({3}) - Auch. Nun erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Helmut Kohl, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Helmut Kohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001165, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle spüren es in dieser Stunde: Es ist ein tiefer Einschnitt für unser Land und auch für viele von uns in diesem Saal, für viele, die uns zuschauen und hier in den letzten Jahrzehnten gearbeitet haben. Es gibt viele persönliche Erinnerungen. Es sind Erinnerungen im Guten und im weniger Guten. Aber es ist ein Stück der Geschichte unseres Volkes. Jeder kann dies spüren. Vor wenigen Wochen haben wir das 50jährige Jubiläum unseres Grundgesetzes gefeiert. In wenigen Monaten begehen wir den zehnten Jahrestag des Falls der Mauer. Beide Daten, der 23. Mai wie der 9. November, stehen in einem sehr engen Zusammenhang mit dem heutigen Tag. Das Parlament und die Bundesregierung kehren in das wiedervereinte Berlin zurück. Beide Daten, so denke ich, symbolisieren in einer herausragenden Weise die Stationen des Weges unserer Nation von der erzwungenen Teilung bis zur Einheit in Frieden und Freiheit. Meine Damen und Herren, dieser Weg ist Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. Bei all dem, was unsere Biographien im einzelnen auch zu trennen vermag, ist heute ein Tag des Rückblicks und des Ausblicks, für mich - und ich denke, auch für viele andere vor allem aber ein Tag der Dankbarkeit, daß uns das so geschenkt wurde. ({0}) Wir nehmen heute als Parlament Abschied von Bonn. Das bedeutet aber in keiner Weise eine Abkehr von den Werten und den Grundentscheidungen unserer Verfassungsordnung. Zu dieser Grundentscheidung bekennt sich die Mehrheit der Menschen - im Westen wie im Osten unseres Vaterlandes. Deshalb - und es ist wichtig, das auszusprechen - ist die Rückkehr von Parlament und Regierung nach Berlin auch in gar keiner Weise eine Restauration von etwas Vergangenem. Sie ist vielmehr die Krönung des jahrzehntelangen Strebens der Deutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit. Herr Präsident, meine Damen und Herren, nur noch wenige können sich persönlich an die Zeit erinnern, als ganz Deutschland von Berlin aus demokratisch regiert wurde. Das ist bald 70 Jahre her. In den Jahrzehnten seit 1933 hat unser Land, hat Europa, hat die Welt beispiellose Tiefen und Höhen durchlebt. Unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gingen Kriege und Völkermord von Deutschland aus. Unter dem Terror des Stalinismus mußten ungezählte Menschen leiden und sterben. Die Brutalität und Aggressivität totalitärer Diktaturen kostete Millionen unschuldiger Opfer Leben, Gesundheit, Heimat und Habe. Bis vor zehn Jahren wurde den Völkern Mittel- und Osteuropas das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung vorenthalten. Wahr ist aber auch, daß wir Triumphe von Freiheit, Menschenrechten und Selbstbestimmung erlebt haben friedliche Siege der Freiheit über die Diktatur, die viele nicht für möglich gehalten hatten. ({1}) Vor zehn Jahren, zu Beginn des Sommers jenes Jahres, rechneten nur wenige damit, daß schon einige Monate später die Mauer fallen würde. Wer genau hinhörte und hinsah, konnte die Vorboten eines politischen Erdbebens wahrnehmen: Das sowjetische Imperium bekam immer größere Risse. Aber das, was dann in dieser so kurzen Zeit tatsächlich geschah, hat so niemand vorausgesehen, auch wenn es jetzt gelegentlich Zeitgenossen gibt, die es im nachhinein genau wußten. Damals - auch das gehört zur Geschichte - hatten nicht wenige in Deutschland und im Westen überhaupt den Gedanken an die deutsche Einheit aufgegeben. Nicht wenige haben ihn als unrealistisch abgeschrieben, als störend und ärgerlich für das internationale Gleichgewicht verworfen. Auch daran muß heute erinnert werden, zumal es eine wichtige und glückliche Erfahrung ist, daß sich Pessimisten und Defätisten leicht irren können. ({2}) Geirrt haben sich auch jene, die das Ziel der europäischen Einigung in all diesen Jahren immer wieder als ein Hirngespinst abtaten. Nicht sie, sondern Visionäre wie Robert Schuman, Winston Churchill, Alcide de Gasperi, Paul-Henri Spaak und Konrad Adenauer haben sich als die wahren Realisten erwiesen. Der Bau des Hauses Europa war die wichtigste Konsequenz, die wir, die Deutschen, aber auch wir, die Europäer, nach der Barbarei der Nazizeit, nach 1945 aus dem Scheitern nationalstaatlicher Machtpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts ziehen konnten. Wir dürfen nicht vergessen, daß ohne den Weg nach Europa, daß ohne die europäische Integration die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaats im Herzen des Kontinents den meisten unserer Nachbarn schwer oder gar unerträglich erschienen wäre. Wir hätten sie wahrscheinlich gar nicht erreicht; denn deutsche Einheit und europäische Einigung - dieser Gedanke Adenauers bleibt nicht nur in Erinnerung, sondern hat Gewicht für die Zukunft - sind und bleiben die beiden Seiten einer Medaille. ({3}) Entscheidend für Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent ist und bleibt auch in Zukunft die enge transatlantische Partnerschaft. Es waren neben unseren europäischen Freunden und Verbündeten vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, die im kalten Krieg die Freiheit der Bundesrepublik und des Westteils von Berlin garantierten. Es waren - was heute viele nicht mehr wissen und manche auch nicht wissen wollen - die Amerikaner, die mit ihrem Marshallplan den besiegten Deutschen zu Hilfe kamen und damit der europäischen Integration in einer ganz eigenen Weise wesentliche Impulse gaben. ({4}) Am Ende dieses Jahrhunderts gehen wir jetzt daran, auch unsere östlichen Nachbarn in das europäische Einigungswerk einzubeziehen. Wir alle wissen, daß der Europäischen Union auf diesem Feld noch große Herausforderungen bevorstehen. Ich möchte uns allen aber sagen: Lassen wir uns durch die Größe der Aufgabe nicht entmutigen! Es gibt keine Alternative zu dieser Politik. ({5}) Die Erfahrungen im Kosovo in diesen Wochen und Monaten haben das jedem deutlich gemacht. Wenn wir jetzt nach Berlin umziehen, wollen wir in keinem Augenblick vergessen, daß es vom Reichstag zur polnischen Grenze gerade 80 Kilometer sind und daß der Beitritt Polens zur NATO und zur Europäischen Union nicht nur im Interesse der polnischen Nation, sondern zutiefst auch im Interesse der Deutschen liegt. ({6}) Wir kehren - wenn ich das so sagen darf - mit vielen historischen Erfahrungen nach Berlin zurück. Deutschland, Europa und die Welt sind selbstverständlich nicht mehr die gleichen wie vor 70 Jahren. Krieg und Nachkriegszeit haben gerade unser Land tiefgreifend verändert. Das sollten auch jene begreifen, die heute in einer dümmlichen Weise von „Bonner Republik“ reden. ({7}) Bewußt oder unbewußt erwecken sie damit den Eindruck, als sei der Staat des Grundgesetzes eine abgeschlossene Episode, sozusagen eine Art kurzer historischer Ausnahmezustand, der jetzt zu Ende geht. Diese Sicht ist falsch. Wir gehen nach Berlin, aber nicht in eine neue Republik. ({8}) Schon deshalb sollten wir darauf verzichten, von „Berliner Republik“ zu reden. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von Anfang an nicht als westdeutscher Separatstaat betrachtet. Vor allem Ihre Kritiker am rechten und linken Rand des politischen Spektrums haben dies zwar immer wieder behauptet. Aber in Wahrheit handelten die Väter und Mütter unserer Verfassung - so schrieben sie es in die Präambel - auch für jene Deutschen, „denen mitzuwirken versagt war“. Und gleich im ersten Artikel des Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieses Bekenntnis zur Würde jedes einzelnen ist der Schlüssel zu allen anderen Werten unserer Verfassung. Es stellt die unveräußerlichen Rechte jedes einzelnen über alle politischen und ideologischen Machtansprüche. Das Grundgesetz hat sie von Anfang an für alle Deutschen eingefordert. In späteren Jahren ist dann der gesamtdeutsche Anspruch des Grundgesetzes immer häufiger als eine Art Anmaßung des Westens gegenüber dem Osten kritisiert worden. Ich frage: Was wäre gewesen, wenn die Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone 1948/1949 hätten mitwirken können? Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß unsere Verfassung dann nicht wesentlich anders ausgesehen hätte; denn nach den Erfahrungen der Nazibarbarei wollten die Deutschen nie wieder unter einer totalitären Diktatur leben. Sie lehnten die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ebenso ab wie das Zwangssystem des Kommunismus, das sich in jener Zeit in der Sowjetischen Besatzungszone verfestigte. Wir Deutschen hatten die bittere Lektion gelernt, daß Tyrannei in letzter Konsequenz Krieg bedeutet. Zunächst richtet sich die Gewalt im Innern gegen eigene Bürger, und später - auch das zeigt die Erfahrung wendet sie sich oft nach außen, gegen die Nachbarvölker. Wir haben erfahren müssen, daß es ohne Freiheit keine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit keinen Frieden geben kann. ({9}) Nach der politischen und moralischen Katastrophe der Nazizeit verlangte unser Volk nach einer Ordnung der Freiheit, wie sie nur der demokratische Rechtsstaat garantieren kann. Nach schlimmen Erfahrungen mit der Kriegswirtschaft wollten die Menschen eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Wettbewerb und sozialen Ausgleich miteinander verband. Dies ist die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft und unseres freiheitlichen Rechtsstaats. Sie hat ihren Siegeszug von hier aus weit in die Welt angetreten. Angesichts der schlimmen Auswüchse des Zentralismus wünschten die Menschen die Rückkehr zur Tradition des Bundesstaates. Er entspricht am besten der historisch gewachsenen kulturellen Vielfalt unseres Landes. Er ist im übrigen - bei all dem, was unbequem im Alltag sein mag - eine wirksame Schranke gegen Machtmonopole und Machtmißbrauch. Ich bin sicher - das ist meine Erfahrung, die ich in einem langen politischen Leben gemacht habe -, daß das Ja zur föderalen Ordnung ein Glücksfall für die Entwicklung unseres Landes war und ist. ({10}) Dies alles waren Maßstäbe, die den Weg unserer Bundesrepublik bis heute prägten und auch in Zukunft prägen müssen. Auf diesem Fundament entstand eine lebendige und stabile Demokratie, die in den Köpfen und Herzen ihrer Bürger fest verankert ist und die sich ihrer Feinde zu erwehren weiß. Stellvertretend für viele, die den Grundstein zu diesem großen Werk gelegt haben, sollten wir gerade in dieser Stunde an Konrad Adenauer, Kurt Schumacher und Theodor Heuss denken. Sie haben die Brücke vom kaiserlichen Deutschland in die Nachkriegszeit geschlagen. Ihre Spuren in der Geschichte haben unser Land tief geprägt. ({11}) Unsere Verfassung ist aus gutem Grund nach der Wiedervereinigung nicht zur Disposition gestellt worden, sondern behutsam angepaßt worden. Das Grundgesetz hat sich auf überzeugende Weise als tragfähige Basis unseres staatlichen Zusammenlebens bewährt. Was viele vergessen: Es zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Offenheit aus, die es ermöglicht, neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Untrennbar verknüpft mit der Entwicklung jener Zeit ist der Name Ludwig Erhards, des Schöpfers der sozialen Marktwirtschaft. Freiheit und Verantwortung, Leistung und Solidarität, Erfolg und Mitmenschlichkeit sind in der sozialen Marktwirtschaft eine ganz neuartige Verbindung eingegangen. Im Blick auf die Diskussionen über Globalisierung und gesellschaftlichen Wandel ist heute wieder einmal auf der Suche nach der Zukunft von einem dritten Weg in der Wirtschafts- und Sozialpolitik die Rede. Dabei liegt die Lösung so nahe: Sie besteht in einer schöpferischen Übertragung der Prinzipien Ludwig Erhards auf die Erfordernisse unserer Zeit. Das ist im übrigen die Mitte, die manche vergeblich suchen werden. ({12}) Dazu sollte immer auch eine kluge politische Führung kommen, verantwortungsbewußte Unternehmer und verantwortungsbewußte Gewerkschafter. Wir wissen: Es gibt beides. Es gibt Männer und Frauen in den Gewerkschaften und in den Betrieben, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind. Aber es gibt auch andere, die starren vor allem auf den Aktienkurs. Es gibt wiederum andere, die vergessen gelegentlich die Interessen der wirklich Arbeitsuchenden. Auch das gehört zu dem, was wir hier gestalten müssen. ({13}) Die Westintegration unseres Landes, für die wie kein anderer Konrad Adenauer steht, führte das demokratische Deutschland in die europäisch-atlantische Wertegemeinschaft. Sie bedeutete eine radikale Abkehr von der damaligen „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und West und von außenpolitischen Vorstellungen, wie sie sich in Deutschland immer wieder entwickelt hatten, von Vorstellungen, die allesamt gescheitert sind. Bei fast allen im Bundestag vertretenen Parteien gilt das Bündnis westlicher Demokratien mittlerweile als „Kernpunkt deutscher Staatsräson“, wie ich es in meiner Regierungserklärung 1982 formulieren durfte. Damals, auf dem Höhepunkt der Debatte über die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, wurde dieser Hinweis auf die Staatsräson heftig attackiert. Sie verstehen, daß ich mich in diesen Tagen daran erinnere. Ich freue mich, daß inzwischen so viele, die einmal anders dachten, heute genauso denken. Das tut mir wohl. ({14}) Es entspricht auch einer guten Bonner Tradition - die wir mitnehmen wollen -, daß die demokratischen Parteien nach kürzeren oder längeren Perioden leidenschaftlicher Diskussionen über Grundfragen der Republik immer wieder zu einem Konsens gefunden haben. Das galt ganz besonders in Augenblicken der Bewährung. Gerade an dieser Stelle möchte ich mit Respekt Helmut Schmidt hervorheben. Vor gut 20 Jahren demonstrierte er durch besonnenes und mutiges Verhalten, daß sich unser Rechtsstaat durch Terroristen nicht einschüchtern und nicht erpressen läßt. Das war eine wichtige Erfahrung, die wir auch in der Zukunft nicht vergessen dürfen. ({15}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vieles, was zunächst heftig umstritten war, wurde dann zur gemeinsamen Überzeugung. Das gilt für die soziale Marktwirtschaft, für die NATO-Mitgliedschaft, für die Wiederbewaffnung in den 50er Jahren, für die Ostpolitik der 70er Jahre und die Deutschlandpolitik in den 80er Jahren. Demokratie lebt vom Wettbewerb der Ideen, der Programme und der Personen. Sie lebt aber nicht zuletzt von der Fähigkeit der Bürger und Parteien, sich auf das Gemeinsame, auf das Wohl des Landes zu verständigen. Konsensfähigkeit im Innern ist ja immer auch Voraussetzung für Verständigungsfähigkeit nach außen. Das hat sich auch und gerade an unserem Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn gezeigt. Nach ersten Ansätzen zu einer neuen Ost- und Deutschlandpolitik unter Erhard und Kiesinger leitete Willy Brandt mit den Verträgen von Moskau und WarDr. Helmut Kohl schau ein neues und wichtiges Kapitel in unseren Beziehungen zur Sowjetunion und zu Polen ein. Der Grundlagenvertrag mit der DDR gab den innerdeutschen Beziehungen einen neuen Rahmen. Dieser Schritt war richtig und notwendig, wenn auch in jenen Tagen sehr umstritten. ({16}) Das Bild wäre aber nicht vollständig, wenn nicht hinzugefügt würde - ich tue das gerne -: Notwendig war auch die Forderung der damaligen Opposition - ich nenne hier Rainer Barzel und Franz Josef Strauß -, alles zu unterlassen, was eine endgültige Anerkennung der deutschen Teilung bedeutet hätte. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war hier von großer Bedeutung. ({17}) Bis auf den heutigen Tag erleben wir Vertreibung und Flüchtlingselend. In den Ereignissen auf dem Balkan zeigt sich in aller Grausamkeit, in welche Abgründe Unversöhnlichkeit zwischen Volksgruppen und Völkern führen kann. So werden die Opfer von gestern zu Tätern von heute. Vor dem Hintergrund der jetzigen Erfahrungen gehört in unsere Erinnerung die Integration von 12 Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen, eine der größten Leistungen der Deutschen in diesem Jahrhundert, die viel zuwenig gewürdigt wird. ({18}) Ausgezehrt, oftmals verhungert und verzweifelt kamen sie in einem Trümmerhaufen, ihrer späteren neuen Heimat, an. Stalin äußerte damals in Jalta die Hoffnung, die Angst vor dem deutschen Revanchismus werde die Länder Mittel- und Osteuropas auf lange Sicht zu einem festen Block mit der Sowjetunion zusammenzwingen. Vor allem setzte er darauf, daß die vielen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge einen sozialen Sprengstoff bilden würden, der die damals gerade entstandene neue Bundesrepublik politisch destabilisieren und auf Dauer dem Sog der in Europa übermächtigen Sowjetunion ausliefern müßte. Diese zynische Rechnung ging nicht auf. Daran hatten die Heimatvertriebenen einen entscheidenden Anteil. Schon im Jahre 1950 verabschiedeten sie ihre Stuttgarter Charta. Mit diesem großartigen Dokument schufen sie eine wesentliche Voraussetzung für das friedliche Miteinander Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn. Sie wiesen feierlich jeden Gedanken an Vergeltung für millionenfach erlittenes Unrecht von sich - ich zitiere -: Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. In diesen Tagen der schlimmen Auseinandersetzungen im Kosovo kann man diese Haltung nur mit Bewunderung betrachten. ({19}) Die Vertriebenen - das forderte Kurt Schumacher 1949 vor der Bundestagswahl - müßten „Bestandteile der deutschen Parteien und des politischen Lebens“ werden. Daß dies so gut gelang, verdanken wir nicht zuletzt hervorragenden Führungspersönlichkeiten in den Vertriebenenverbänden. Es waren oft kantige, nicht immer einfache, fast immer unbequeme Persönlichkeiten. Sie haben die Arbeit und das Erscheinungsbild des Deutschen Bundestages - auch das muß in dieser Stunde erwähnt werden - ganz wesentlich mitgeprägt. Ich nenne hier stellvertretend unsere früheren Bundestagskollegen Wenzel Jaksch und Herbert Czaja. ({20}) Über 40 Jahre lang hat das Grundgesetz in seiner Präambel „das gesamte Deutsche Volk … aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Als bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 die Wählerinnen und Wähler in der damaligen DDR zum erstenmal frei über die Zusammensetzung ihres Parlaments bestimmen durften, gaben sie ein Votum mit einer beeindruckenden Klarheit ab: Vier Fünftel stimmten für jene Parteien, die einen baldigen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes befürworteten. Dieses Ergebnis widerlegte all jene im In- und im Ausland, die bis dahin geglaubt hatten, sie könnten den Wiedervereinigungsprozeß verlangsamen oder gar stoppen. Die deutsche Einheit wurde dann am 3. Oktober 1990 erreicht - in Frieden, ohne Gewalt und Blutvergießen und mit Zustimmung all unserer Nachbarn. Dies geschah vor allem auch mit Unterstützung der damaligen Sowjetunion unter der Führung von Michail Gorbatschow und der Vereinigten Staaten von Amerika unter der Führung von George Bush, die beide hier genannt werden müssen. ({21}) An diesem Werk - ich sage dies mit Dankbarkeit hatten bei uns vor allem auch Hans-Dietrich Genscher, Theo Waigel, Wolfgang Schäuble und Lothar de Maizière ganz wesentlichen Anteil. ({22}) 40 Jahre war Deutschland in zwei Staaten geteilt doch die Einheit und die Zusammengehörigkeit der Nation blieb gewahrt. Immer wieder zeigte sich, daß die Mehrheit der Menschen in Ost und West nicht bereit war, die Trennung als endgültiges Urteil der Geschichte hinzunehmen. Ich erinnere an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 gegen Willkür und Unterdrückung. Die Deutschen, die damals gegen das SED-Regime aufbeDr. Helmut Kohl gehrten und von Panzern niedergewalzt wurden, forderten Freiheit und die Einheit des Vaterlandes. Ich nenne den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961, der die politische Bankrotterklärung der SED war. ({23}) Nur durch eine brutale Grenzbefestigung konnten die Machthaber in Ostberlin die Menschen an ihrem selbstverständlichen Recht hindern, von Deutschland nach Deutschland zu reisen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielen von uns sind noch die bewegenden Bilder vor Augen, als Willy Brandt im März 1970 Erfurt besuchte. Er wurde dort von der Bevölkerung mit überwältigender Herzlichkeit und mit großen Zeichen der Hoffnung empfangen. Im September 1987, also 17 Jahre später, geriet der Aufenthalt von SED-Generalsekretär Honecker in der Bundesrepublik - entgegen den Absichten des Besuchers - zu einer großen Demonstration des ungebrochenen Zusammenhalts aller Deutschen. Ich konnte damals im Beisein von Erich Honecker, erstmals vom Fernsehen in beiden Teilen Deutschlands direkt übertragen, vor Millionen Fernsehzuschauern das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes noch einmal deutlich hervorheben und sagen: Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung: Sie wollen zueinanderkommen können, weil sie zusammengehören. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Damit begann unser gemeinsamer Weg zur deutschen Einheit. Das sind wenige Daten, aber sie raffen eine große Epoche unserer Geschichte zusammen. Sie erzählen die Geschichte eines Triumphes der Freiheit. Sie würdigen aber ganz gewiß nicht hinreichend die innere Kraft und den Mut der Menschen, die diesen Triumph überhaupt erst möglich gemacht haben. Dazu gehören die Hunderttausende, die bei den machtvollen Manifestationen in Leipzig, Ostberlin und anderswo im Gebiet der damaligen DDR der SED-Diktatur selbstbewußt erst „Wir sind das Volk“ und dann „Wir sind ein Volk“ entgegengerufen haben. Sie haben sich nicht durch Gewaltandrohung einschüchtern lassen, sondern friedlich demonstriert, bis die Mauer fiel. Und - auch das gehört in diese Stunde - wir erinnern uns ebenso an jene Deutschen, die der kommunistischen Diktatur versteckten, aber auch offenen Widerstand entgegengesetzt haben und dafür bitter bezahlen mußten: mit Tod, mit Haft, mit Ausbürgerung, mit Ausgrenzung. All diese Männer und Frauen haben zwischen 1945 und 1989 mit ihrem Eintreten für die Achtung der Menschenrechte einige der besten Kapitel in der Freiheitsgeschichte unserer Nation geschrieben. Darauf können wir stolz sein. ({24}) So stehen wir in einer großen Traditionslinie, zu der das Hambacher Fest von 1832 ebenso gehört wie die Frankfurter Paulskirchen-Versammlung von 1848/49, die Nationalversammlung in Weimar 1919, der deutsche Widerstand gegen die Nazidiktatur und später der Neubeginn mit dem Parlamentarischen Rat in Bonn 1948/49. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir haben heute allen Grund, an diesem Tag der Stadt und der Region Bonn für diesen Dienst an unserer Nation zu danken. ({25}) In der deutschen Geschichte hat es viele politische Zentren gegeben. Bonn wird künftigen Generationen als Wiege der zweiten deutschen Demokratie, des freiheitlichsten, humansten und sozialsten Staatswesens, das es auf deutschem Boden je gegeben hat, in Erinnerung bleiben. Die Bonnerinnen und Bonner können sicher sein, daß der Beitrag ihrer Stadt zur Fortentwicklung unseres Landes auch in Zukunft gebraucht wird. Sie können sich darauf verlassen - das gehört für uns alle in diese Stunde -, daß wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, zu unseren Zusagen gegenüber der früheren Bundeshauptstadt stehen. Ich sehe mich auch persönlich in der Pflicht, und ich hoffe, das gilt für Sie alle, auch für die geschätzten Mitglieder des Bundesrates, wenn ich das in diesem Zusammenhang sagen darf. ({26}) In Bonn schlug fünf Jahrzehnte das Herz demokratischer Politik für Deutschland. Gemeinsam mit Berlin war Bonn Schauplatz zahlreicher Entscheidungen, die den Weg unseres Landes maßgeblich bestimmt haben. Der Genius loci dieser Stadt hat einen gewichtigen Anteil daran, daß unsere Bundesrepublik stabil und erfolgreich werden konnte. Er bildete den idealen Nährboden für eine politische Kultur, die in hohem Maße dazu beigetragen hat, unserem Land Vertrauen, Ansehen und nicht zuletzt Sympathie in der Welt zurückzugewinnen. Dazu gehören das gelassene Selbstbewußtsein dieser traditionsreichen Stadt, die geistig-kulturelle Offenheit der Universitätsstadt, die fröhliche Herzlichkeit der Bonnerinnen und Bonner - dies sage ich bewußt - und nicht zuletzt die charakteristische Atmosphäre von Bürgersinn und Toleranz, einer kräftigen Dosis Selbstironie und der Abneigung gegen hohles Pathos. Das hat uns in den Bonner Jahren viel geholfen. ({27}) Als deutscher und europäischer Strom symbolisiert der Rhein Offenheit für neue Horizonte in Europa und der Welt und nicht, wie manche meinen, Provinzialität und Enge. ({28}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren - ({29}) - Herr Präsident, ich entschuldige mich ausdrücklich für diese Verwechslung. ({30}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, die deutschen Bundesländer verfügen heute über ein stark ausgeprägtes föderales Selbstbewußtsein. Auch daran hat Bonn wesentlichen Anteil. Es ließ den Ländern und ihren Hauptstädten den notwendigen Freiraum zur Entfaltung. Von hier ging zu keinem Zeitpunkt eine zentralistische Wirkung aus, die den blühenden Föderalismus beeinträchtigt hätte. Das ist gut so. Das wollen wir so beibehalten. Ich füge hinzu: Dies soll in Zukunft nicht mehr, aber auch nicht weniger sein. Bonn symbolisierte die politische Hinwendung zum Westen auf glaubwürdige Weise. In seinem bewußt bescheidenen Auftreten war es die überzeugende Verkörperung eines Deutschlands, das jedem nationalistischen Wahn, jedem imperialen Gehabe und jedem Streben nach Vorherrschaft ein für allemal abgeschworen hatte. Im wiedervereinten Deutschland und im zusammenwachsenden Europa müssen Parlament und Regierung ihren Sitz dort haben, wo ihr geschichtlicher Standort war, wo einst die Trennlinie zwischen Ost und West, zwischen freiheitlicher Ordnung und kommunistischer Diktatur verlief, wo die Wunde der Teilung mitten in Deutschland und Europa schmerzte. Dies war, ist und bleibt meine Überzeugung. Deswegen habe ich mit vielen Kolleginnen und Kollegen 1991 für den Umzug nach Berlin gestimmt. Im 21. Jahrhundert wird das wiedervereinte Deutschland neuen Herausforderungen begegnen und neuen Anforderungen genügen müssen, so zum Beispiel im Blick auf seine Wettbewerbsfähigkeit oder seinen Beitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit. Jeder, der künftig von Berlin aus regiert, ist gut beraten, sich in die Kontinuität des in Bonn Geschaffenen zu stellen. Es ist ein wahrlich kostbares Erbe, das Bonn an Berlin weitergibt, ein Erbe mit Zukunft. Es zu pflegen ist uns allen aufgegeben. Auch in der Welt von morgen sind die freiheitliche Demokratie und die soziale Marktwirtschaft Grundlagen unseres Erfolgs für unsere gemeinsame Zukunft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heute nicht nur vor dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin, sondern auch vor dem Beginn eines neues Jahrhunderts. Für mich und für viele von uns ist dies Grund zur Dankbarkeit mit Blick zurück auf die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts. In den vergangenen 50 Jahren ist unser Land aufgeblüht und hat sich fest in die Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien eingefügt. Nach meiner festen Überzeugung haben dies einige politische Handlungsmaximen bewirkt, die ich von mir aus als Wünsche an uns, an die Politik der künftig von Berlin aus regierten Bundesrepublik weitergeben möchte: Erstens. Bewahren wir uns den Geist der Bescheidenheit und der Hilfsbereitschaft. ({31}) Zweifeln an der demokratischen Reife unserer Nation müssen wir, nachdem die Ordnung des Grundgesetzes schon ein halbes Jahrhundert Bestand hat, durchaus selbstbewußt entgegentreten. Vergessen wir aber bitte nicht, daß wir auch künftig das Vertrauen unserer Partner in besonderer Weise brauchen! Wir sind das Land mit den meisten Grenzen und Nachbarn. Wir sind zudem ein Land mit einer schwierigen Geschichte, um es freundlich auszudrücken. Im Bewußtsein dieser Tatsache sollten wir den kleinen Nachbarländern den gleichen Respekt erweisen wie den großen. ({32}) Das ist nicht nur eine Frage des guten Stils, sondern eine Frage der Klugheit. ({33}) Widerstehen wir vor allem der Versuchung, unseren gewachsenen Einfluß, von dem alle wissen, selbstgefällig zur Schau zu stellen! ({34}) Zweitens. Bewahren wir uns den Geist demokratischer Gemeinsamkeit! Dies bedeutet ein klares Ja zur leidenschaftlichen Debatte über den richtigen Weg für unser Land - und ein ebenso klares Nein zum barbarischen Freund-Feind-Denken. ({35}) Demokratische Gemeinsamkeit verlangt die entschiedene Absage an jegliche Zusammenarbeit mit Radikalen von rechts und links. ({36}) Zugleich fordert sie uns auf, die Wähler solcher Gruppierungen, insbesondere wenn es sich um junge Leute handelt, für die demokratischen Parteien zurückzugewinnen. Extremisten haben nur Unglück über unser Land gebracht. Sie haben in der Bundesrepublik auch künftig keine Chance, wenn Demokraten sich standhaft weigern, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen. ({37}) Drittens. Vergessen wir bei aller Notwendigkeit des Sparens nicht, daß Deutschland nur dann eine Zukunft hat, wenn es sich immer auch als Kulturstaat begreift! Wirtschaftliche und soziale Fragen - wir wissen es alle sind von überragender Bedeutung; das versteht sich von selbst. Wir dürfen aber auf keinen Fall die geistigkulturelle Dimension der Zukunftssicherung vergessen. Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, daß der Kulturstaat Deutschland weiter ausgebaut wird. Die Kultur ist ein Feld des Wettbewerbs der Nationen, wo sich jeder Einsatz lohnt. Es gehört zum Kulturstaat, daß der Staat eine offene Debatte über die großen Fragen unserer nationalen Identität ermöglicht, ohne die Bürger auf ein bestimmtes Geschichtsbild festlegen zu wollen. ({38}) Das heißt für mich, daß Bund, Länder und Gemeinden die Pflege unseres reichen kulturellen Erbes nicht einfach an den Markt delegieren dürfen. Private Stiftungen und privates Mäzenatentum sind im höchsten Maße wünschenswert und förderungswürdig, und sie stehen einer Gemeinschaft freier Bürger gut an. ({39}) Die Verantwortung des Staates werden sie jedoch nie ganz ersetzen können. Das dürfen wir nicht vergessen. ({40}) Viertens. Bewahren wir uns das einzigartige Verhältnis von Staat und Kirche, wie es sich in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik entwickelt hat! Auch ein zunehmend säkularisiertes Land kann auf das öffentliche Wort und das mitmenschliche Engagement der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht verzichten. ({41}) Zu Recht ist immer wieder gesagt worden, daß der freiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Dieser Grundkonsens ist nicht gegen die Vielfalt moderner Gesellschaften gerichtet. Es ist genau umgekehrt: Er macht Pluralismus erst möglich und lebensfähig. Ich wünsche mir deshalb, daß sich die Kirchen trotz mancher Schwierigkeiten die Kraft erhalten, Orientierung zu geben und Werte zu vermitteln. Und ich wünsche mir, daß sich Christen und Juden in Deutschland auch in den kommenden Jahren verstärkt dem Dialog mit unseren Mitbürgern muslimischen Glaubens widmen. ({42}) Fünftens. Bewahren wir uns die einzigartige Freundschaft mit unseren französischen Nachbarn. ({43}) Sie ist in Wahrheit eines der kostbaren „Geschenke“ der Geschichte der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. ({44}) Deutschland und Frankreich bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Ohne ihr enges Zusammenwirken wird es auch künftig keinen wesentlichen Fortschritt im europäischen Einigungsprozeß geben. ({45}) Beide Nachbarländer sind „dazu geschaffen, einander zu ergänzen“ - so hat es Charles de Gaulle angesichts der Gräber von Verdun ausgedrückt. Setzen wir diese Freundschaft nicht aufs Spiel! Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen sind wirklich das Normale, im privaten Leben wie im Leben der Völker. Aber sie dürfen nie ein Grund sein, die Fundamente unseres Miteinanders in Frage zu stellen. Auch das kann man nicht oft genug sagen: Die deutsch-französische Freundschaft schließt überhaupt niemanden aus; sie ist gegen niemanden gerichtet. Lassen wir uns auch von niemandem einreden - wie das immer wieder versucht wird und auch in Zukunft versucht werden wird -, daß wir Deutsche zwischen Paris und Washington oder zwischen Paris und London zu wählen hätten. Dies ist eine Politik des Gestern und niemals unsere Politik heute und morgen. ({46}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, lassen Sie mich an diesem für unser Land so wichtigen Tag zum Schluß auch ein persönliches Wort gerade an die Jungen richten. Sie, die Jungen unter uns, gehen in ein neues Jahrhundert. Es wird ihr Jahrhundert sein. Es zu gestalten ist ihrer Generation aufgegeben. Wir, die Älteren, haben versucht, mit unseren Möglichkeiten Mittel dafür zu erarbeiten, daß dieses neue Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens und der Freiheit wird, ein Jahrhundert der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen den Völkern. Helfen Sie, die Jungen, mit, daß es so bleibt! Denn was immer Sie aufbauen: Es wird nur Bestand haben auf der Grundlage von Frieden und Freiheit. Beides muß immer wieder neu erarbeitet und neu gesichert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns allen, daß wir uns in Berlin beim Übergang in ein neues Jahrhundert den Geist eines freiheitlichen Patriotismus bewahren, der Vaterlandsliebe, europäische Gesinnung und Weltbürgertum miteinander verbindet. Tun wir ganz einfach unsere Pflicht! Stehen wir zu unseren Überzeugungen, und behalten wir Augenmaß, auch in schwierigen, turbulenten und unruhigen Zeiten. Seien wir gute Nachbarn und verläßliche Partner. Bleiben wir deutsche Europäer und europäische Deutsche. Dann haben wir eine gute Aussicht auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit. ({47})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Antje Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Bundeskanzler Helmut Kohl, ich möchte mich bei Ihnen für Ihre Rede bedanken, die ja so etwas wie ein Manifest war. Ich möchte Ihnen sagen, daß Sie für uns - in allem, aber insbesondere in der liberalen, föderalen, europäischen Ausrichtung - immer so etwas waren wie eine Verkörperung der Bonner Republik. Deswegen haben wir Sie ja auch so genau studiert und Ihnen so genau zugeschaut. Das gilt auch für die, die jetzt an der Regierung sind. ({0}) 50 Jahre Demokratie in Deutschland, das ist eine atemberaubende Erfolgs- und Glücksgeschichte, ja, manchmal geradezu ein Exportschlager, der in vielen neuen Demokratien als Modell angefordert wird. Wie macht man das, aus einem völlig zerstörten Land, das in der ganzen Welt verachtet wurde, wieder ein blühendes Gemeinwesen zu schaffen? Und wie baut man so dicht an der Erfahrung äußerster Gewalt in Deutschland eine der glücklichsten und längsten Epochen eines stabilen Friedens auf? Beginnen wir mit dem Grundgesetz, dem glücklichsten Geschenk an der Wiege dieser Republik. Welches Bild vom Bürger hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes, als sie die riesige Chance bekamen, ein ganzes Land und seine innere Ordnung noch einmal neu auf einem weißen Blatt Papier zu entwerfen? Die Essenz des Grundgesetzes war ja nicht etwa eine Kopie des real existierenden Bewußtseins der Menschen jener Jahre; das Grundgesetz wurde gerade nicht dem halb- und vordemokratischen Bürger, dem traumatisierten Kriegsheimkehrer, dem ehemaligen Untertan der Diktatur auf den Leib geschrieben. Nein, es wurde ein geradezu großartiges Licht hinter diesen real existierenden Bürger jener Jahre gestellt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren frei genug, sich von dem Bild von freien Bürgern in einer freien Gesellschaft verführen zu lassen. Das war ein gewaltiges Vertrauen darein, was aus Menschen einmal werden kann, wenn sie glückliche Umstände haben. Ungefähr eine solche Verfassung müßte man in Jugoslawien jetzt schreiben und den Menschen anbieten, die aus dem Chaos und dem Trauma des Bürgerkriegs, der Vertreibungen und der Bombennächte auftauchen. ({1}) Übrigens, auch die überzeugende Leit- und Lockidee des Marshallplans war gerade nicht das Geld, sondern eben dieses Zutrauen, daß sich aus ehemaligen Nationalsozialisten und ihren Mitläufern wieder Demokraten entwickeln können. Dieses Vertrauen, daß Menschen wieder zu Demokraten werden können, ist unglaublich mobilisierend. Jede Verfassung gibt Auskunft darüber, welche Gefahren sie auf die Gesellschaft zukommen sieht. Um einen Vergleich zu wählen: Die Zehn Gebote sahen folgende Bedrohung des menschlichen Gemeinwesens voraus: daß man falschen Göttern dient, daß die Bürger untereinander in Streit geraten durch Lügen, Stehlen, Eifersucht, daß die Alten nicht geachtet werden und daß Eigentum nicht geschützt wird. Mordverbot und die Heiligstellung des Gastrechtes sollten die Blutrache unterbinden. Das war damals die ganze Gefahrenanalyse. Sie hielt jahrtausendelang menschliche Gemeinwesen im inneren Gleichgewicht. Die Gefahrenanalyse des Grundgesetzes kennt dies alles ebenfalls. Aber nach ihr ist die Hauptgefahr der totalitäre Staat, der den einzelnen nicht schützt und nicht seine Würde verteidigt. Der Vorrang der Freiheit und der Menschenwürde war die Hauptlehre aus der Zeit der vergangenen Gewaltherrschaft. An dieser Grundidee ist in der Folgezeit der Bonner Republik festgehalten worden. Aber es wurde auch viel nachgebessert. Die meisten Korrekturen erfolgten im Sinne der Gleichheit. Daß Männer und Frauen gleich sind, dafür hatten sich schon die berühmten „vier Mütter des Grundgesetzes“ mit aller List und Energie sehr tapfer geschlagen. Aber der Aspekt, daß nicht nur die Freiheit gegenüber dem Staat zu verteidigen sei, sondern daß dieser Staat selbst immer stärker Gleichheit unter den Menschen herzustellen hat, der beschäftigte ganze Generationen von Sozialpolitikern und ist heute übrigens eine der Wurzeln immer komplizierterer Gesetzgebungsverfahren. Das hat den Staat gelegentlich auch überfordert und die soziale Kompetenz der Zivilgesellschaft meines Erachtens unterschätzt. ({2}) Die zweite Gefahrenanalyse des Grundgesetzes bezieht sich auf den Krieg. Das Grundgesetz ist gegen den Krieg, gegen den großen Zerstörer, mit jenem emphatischen „Nie wieder“ des politischen Widerstands und der Überlebenden formuliert. Daß es aber auch Bedrohungen des Menschen durch seine eigenen kreativen Fähigkeiten, durch die Erfindungen seines Geistes oder durch die Praxis seiner Wirtschaftsform gibt, konnte damals noch nicht gesehen werden. Daß auch der Frieden, die Industriegesellschaft und der Wohlstand ihre Gefahren haben, gehört zu den neuen Erkenntnissen, die wir gerade der Bonner Republik verdanken. ({3}) Das war die europäische Geburtsstunde des ökologischen Gedankens. ({4}) Die dritte Gefahrenanalyse entsprang dem Entsetzen darüber, daß die Weimarer Republik nicht genügend Demokraten zu ihrer Verteidigung gefunden hatte. Darum ist das Grundgesetz sehr vorsichtig und geradezu skeptisch gegenüber Massenstimmungen und allen Elementen direkter Demokratie. Diese Ängstlichkeit hat sich bis heute gehalten. Hierüber sollen und müssen wir - nicht zuletzt nach dem Votum des letzten Bundespräsidenten - auf dem Weg nach Berlin nachdenken. ({5}) Eine bürgerliche Demokratie muß auch Zutrauen zur Substanz der bürgerlichen Kultur haben und darauf vertrauen, daß sie hält. Spätestens seit den Errungenschaften der Bürgerrechtler aus der DDR steht die Forderung, die Bürger in Sachfragen mit Plebisziten entscheiden zu lassen, auf der Tagesordnung. ({6}) Allerdings - das wissen wir wohl - kann man diese Forderung unter den Bedingungen der Mediendemokratie, die auch etwas Neues ist, nicht naiv und romantisch aufstellen. Sie setzt voraus, daß bei Wählern wie Gewählten der Demokrat im Bürger den Populisten im Bürger dauerhaft besiegen kann. 50 Jahre Demokratie in Bonn hieß im Inneren Freisein von Angst und im Äußeren wachsendes Vertrauen in das Land. So sehr wir uns auch im Outfit geändert haben - einmal ehrlich, welche parlamentarische Demokratie kann es sich denn leisten, in einer Politikergeneration vier Parlamentsgebäude zu besitzen und zu nutzen? -, hing doch das Vertrauen mit den handelnden Personen zusammen. Daß Konrad Adenauer die Kriegsgefangenen nach Hause brachte, die Versöhnung mit den Franzosen zu seiner Lebensaufgabe machte, Deutschland in die Westintegration führte und trotzdem noch Zeit für seine Rosen fand, schaffte demokratisches Urvertrauen. ({7}) Willy Brandt, kniend vor dem Warschauer Getto, das gehört zu den großen wichtigen Bildern dieses Jahrhunderts ({8}) ebenso wie das von Richard von Weizsäcker mit seiner großen Rede zum 8. Mai, wie das von Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft und Helmut Kohl tapfer die Nationalhymne gegen das Pfeifen vor dem Schöneberger Rathaus ansingend am Tag, als die Mauer fiel. Die Tonlage war nicht ganz richtig, aber die Haltung stimmte. ({9}) Dazu gehören auch Petra Kelly und Heinrich Böll in Mutlangen. Die Erinnerung daran wird bleiben. Die Geschichte der Bonner Republik ist vor allen Dingen die Geschichte einer ganz großen Integrationsleistung. Sie integrierte - das ist schon gesagt worden 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene mit dem Besten, was man Menschen anbieten kann, die Traumatisches erlebt haben, nämlich mit Freiheit und Zukunftschancen. Das hat allen genützt, und alle haben davon profitiert. Die Vertriebenen haben daraus eine glückliche Zukunft gemacht, und dieses Land hat davon sehr gewonnen. ({10}) Sie integrierte - auch das war sehr schwer - zum zweiten ein ganzes Heer von schuldbeladenen und schuldverhafteten Trägern und Mittätern des totalitären NS-Regimes. Genau genommen haben wir in diesem Land zwei Experimente mit der Integration von belasteten Mitbürgern gemacht und machen sie noch: zum einen, indem 20 Jahre lang fast gar nicht nach ihren Taten gefragt wurde, zum anderen, indem wir nach der Wende sehr genau über die begangenen Verbrechen und die Mechanismen der Diktatur informiert haben. Was wirklich stabilere Demokraten schafft, können wir heute noch nicht deutlich entscheiden; ich melde da auch Zweifel an. Das bleibt eine Frage, die vor allem in den neuen Ländern zu beantworten ist. Die dritte Integrationsleistung ist die Wiedereingliederung der starken außerparlamentarischen Opposition in den 60er Jahren und später in den Bogen der parlamentarischen Demokratie. Entstanden aus einem dramatischen Generationenriß und einer Aufkündigung des gesellschaftlichen Konsenses war die 68er Bewegung am Ende bis hin zu den Grünen so etwas wie eine „Resozialisierung“ einer ganzen Generation für den parlamentarischen Weg. Dafür stehen wir. Auch das ist eine Aufgabe, die uns bei der „verlorenen Generation“ in den neuen Ländern, die es auch gibt, noch bevorsteht und die in Berlin zu leisten sein wird. ({11}) Die vierte Integration ist die von Millionen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Ich bin sehr froh, daß wir nun endlich - Gott sei Dank noch in Bonn - die als Gleiche akzeptieren, die längst Bürger dieses Landes waren. ({12}) Die fünfte Integration ist die der neuen Länder in unser Gemeinwesen. Wir wissen alle, daß es eine enorme, ungeheuer effiziente Leistung der Verwaltungen gegeben hat, die weitgehend gelungen ist. Die politische, mentale, seelische Integration müssen wir in Berlin endgültig schaffen. ({13}) Willy Brandt, der über sein Leben den Satz „Man hat sich bemüht“ setzen ließ, hat in einer Rede fast verwunDr. Antje Vollmer dert gesagt: Uns ist doch Erstaunliches gelungen, wir können auch gelegentlich auf manches stolz sein. - Stolz bin ich auf die langsam und unaufhaltsam wachsende Beteiligung der Frauen auch an den führenden Positionen in Staat und Gesellschaft, obwohl da unsere Phantasie noch nicht am Ende ist. ({14}) Stolz bin ich darauf, daß wir am Ende einer langen und sehr scharfen ideologischen und gesellschaftlichen Spaltung in Links und Rechts, während der nichts mehr ging über diese Spaltung hinaus, heute von einer dialogfähigen Reformmehrheit in der Mitte der Gesellschaft reden können, die auch in der Lage ist, schwierige Reformen zu tragen. Stolz bin ich auch auf den Fußball der 80er Jahre, die Musik, Boris und Steffi und die charakterliche Spannung zwischen ihnen sowie die neue Heiterkeit des gesellschaftlichen Lebens. Stolz bin ich auf unsere europäische Identität. Stolz bin ich darauf, daß nichteheliche Kinder nicht mehr wissen, was dieser Begriff eigentlich sagen soll. Stolz bin ich darauf - das sage ich auch zu unseren und allen anderen „jungen Wilden“, besonders denen in den Feuilletons -, daß ich weiß, daß '68 zwar wichtig, aber doch nur eine Episode war. Die zweite Gründung dieser Republik war eben nicht 1968, sondern 1989. Das hat die Geschichte und auch die Proportionen richtiggerückt. ({15}) Froh bin ich darüber, daß es uns nach Jahren des Terrors und des Deutschen Herbstes, in denen Politik nur unter unglaublicher Sicherheitsbewachung und damit verengt stattfinden konnte, doch gelungen ist, daß unsere Politiker wieder frei in Fußgängerzonen flanieren können. Froh bin ich über den Gewaltverzicht der Terroristen sowie darüber, daß es Begnadigungen gegeben hat. Froh bin ich darüber, daß selbst in Zeiten des Krieges diese Gesellschaft den Krieg nicht will, daß sie ihn nicht vorbereitet und daß sie seine moralische und religiöse Überhöhung in Politikerreden nicht erträgt. ({16}) Wir haben auch viel Skurriles erlebt, auf das ich jetzt nicht im einzelnen eingehen kann. Ich denke zum Beispiel daran, daß ein ganzes Parlament wegen einer Buschhaus-Affäre aus den Ferien gerufen wurde, daß aus einem Parlament wie diesem eine junge Abgeordnete wegen eines Hosenanzuges und ein späterer Minister wegen eines unziemlichen Ausdrucks getadelt wurden. Das alles erspare ich mir jetzt. Wir sind in Bonn hoffentlich endlich zu den Citoyens geworden, um die wir die Franzosen, die Engländer und die Amerikaner immer beneidet haben. Die Politik dieses Landes hat alle Voraussetzungen, in Berlin mit dem richtigen Maß und mit der gebührenden Verantwortung, aber auch mit gelegentlicher Ironie neu anfangen zu können. Die Demokratie in Deutschland ist kein weißes Blatt Papier mehr. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen in den letzten Tagen ergangen ist. Ich jedenfalls habe mich mehrmals dabei ertappt, daß ich länger und nachdrücklicher aus meinem Büro auf den vorbeifließenden Rhein gesehen habe, Eindrücke von vorbeifahrenden Schiffen, abends mit Positionslichtern, verfestigen wollte und mich gefragt habe, ob man in Berlin aus der ganz natürlichen Arbeitshaltung heraus wieder ein solches atmosphärisches Bild gewinnen kann. Ich bin auch ganz anders um den Bundestag herumgegangen und habe ganz anders Begegnungen mit Besuchergruppen vor dem Plenarsaal gesucht. Ich bin sehr bewußt an einige Orte in Bonn gegangen, die gewohnterweise Orte der Begegnungen unter uns gewesen sind - manchmal zuviel unter uns und weniger mit anderen -, ich war in der Innenstadt, obwohl ich dort schon mehrmals war, ({0}) und habe versucht, noch einmal Dinge aufzunehmen und mir darüber klarzuwerden, was die Stadt für mich ganz persönlich eigentlich war. Von ihrer Größenordnung her kann man übertragen, was sie für uns war: Sie war ein Stück schattenspendende Institution in der Nachkriegsgeschichte, und sie war die Verkörperung eines Maßes. Mit „Maß“ meine ich nicht nur ein persönliches Maß, sondern auch ein zutiefst menschliches und ein politisches Maß. Ich habe mich in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat gesagt hat, daß dieses für die deutsche Politik nun sehr wichtig sei. Er hat das in einigen Punkten zum Ausdruck gebracht: Keine Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit, Beendigung der Politik der nationalen Selbstvergewisserung, dem deutschen Volk den billigen Nationalismus abgewöhnen. Außerdem hat er einige Sätze geprägt, die für mich ganz entscheidend sind und die beim Umzug nicht verlorengehen dürfen. Beim Umzug geht manchmal etwas verloren, wie Sie aus Ihrem privatem Leben wissen. Bei diesem Umzug darf die Substanz nicht verlorengehen. Theodor Heuss hat formuliert: Bonn steht für das Vertrautwerden der politischen Eliten über die alten Ressentiments hinweg mit den wirklichen parlamentarischen Systemen des Westens. ({1}) Wenn ich von „politischer Elite“ und von „Ressentiments“ spreche, klingt das heute, im nachhinein betrachtet, so geschichtlich. Aber er hat das im ParlaDr. Antje Vollmer mentarischen Rat, der hier getagt hat, so formuliert, weil er das Scheitern der Weimarer Republik erlebt hatte und die Ursachen und Gründe genau kannte. Ich wiederhole es: das Vertrautwerden der politischen Eliten mit den wirklichen parlamentarischen Systemen des Westens. Nach 1945 war eine erhebliche Integrationsleistung zu vollbringen, es war viel Kraft erforderlich, um sich über die eigenen Biographien der vergangenen zwölf Jahre klarzuwerden. Erlauben Sie mir deshalb noch die Bemerkung - ich bin dankbar, daß Bundestagspräsident Thierse heute morgen bereits darauf hingewiesen hat -: Uns in der alten Bundesrepublik Deutschland hat dabei die positive wirtschaftliche Entwicklung, die mit dem Namen Ludwig Erhards konzeptionell verbunden ist, erheblich geholfen. Die Festigung der Demokratie ist ohne Festigung der Lebensperspektiven für Menschen schwierig. Das, was wir heute als Wirtschaftswunder bezeichnen, hat einen außerordentlich hohen Anteil auch an der Festigung der Demokratie gehabt. Deshalb muß es eindeutig in unserem Interesse liegen, dieses Festigungswerk mit wirtschaftlichem Erfolg und Lebenszuversicht für die Menschen auch in den neuen Ländern zu erhalten. Das ist keine Frage des Transfers. Das ist eine Haltung, die wir einbringen müssen. ({2}) Deshalb gibt es so einen Ersatz für die alte Deutschlandpolitik, mit der wir uns immer auch kontrovers in der alten Bundesrepublik Deutschland auseinandergesetzt haben. Ich glaube, daß wir dazu kommen sollten, über Parteigrenzen hinweg dieses Thema der Festigung und des ökonomischen Erfolges in den neuen Ländern wirklich zu einer Frage der inneren Haltung zu machen. Für mich ist das der moderne Kern der alten Deutschlandpolitik meiner Partei. Früher war sie durch eine Grenze gehindert. Heute müssen wir anderes überwinden. Bonn ist eigentlich ein bescheidener Name, wenn man auf die Geburtsstunden freiheitlicher Ordnungen blickt. Es gibt gewaltige Geburtsstunden freiheitlicher Ordnungen, in denen sich diese berühmten Charms of Liberty großartig entfalten. Nehmen Sie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Nehmen Sie die Entwicklungen, von denen Sie in Geschichtsbüchern lesen können, am Vorabend der Französischen Revolution. Ja, die Paulskirchenverfassungsdebatte hat für uns durchaus ein Stück vergleichbarer Atmosphäre. Ich weiß nicht, ob man die parlamentarischen Beratungen bis zum Grundgesetz so einordnen kann. Aber in ihrer Nachhaltigkeit, in ihrer Wirkung und in ihrer Festigung in einem Land, das in diesem Jahrhundert in seiner Geschichte nach allem anderen gesucht hat und mit vielen politischen Kräften gesegnet war, die wirklich nicht das gesucht haben, was das Grundgesetz beschreibt, ist das eine gewaltige Leistung. Gerade dafür steht Bonn, eben auch in der Ausprägung der Individualrechte. Dieses Land hat sich in den 50 Jahren Geschichte schwergetan. Es hat bis heute immer noch nicht die Balance gefunden zwischen wirklicher Privatheit, zwischen wirklichen Individualrechten und Staat. Die Teilung zwischen Staat und Privat muß immer neu bestimmt werden. Sie stimmt auch so noch nicht. ({3}) Es gibt eine überwiegende deutsche politische Kultur, die auf Staat setzt, die mit staatlichen Lösungen kommt und in staatlichen Kategorien denkt. Dieses Land muß immer noch sein inneres Gleichgewicht finden zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen Staat und Privat. ({4}) Mit dem Namen Bonn verbunden sind auch Geschichten - ohne jetzt Namen zu nennen -, die dann zu großen Skandalen aufliefen. Da hat sich gezeigt, daß der Name Bonn, jedenfalls dieser Abschnitt der Geschichte, auch dafür steht, daß sich in Deutschland eine kritische Öffentlichkeit herausgebildet hat, und zwar nicht nur in bezug auf das, was wir hier kontrovers debattieren; vielmehr hat sich auch außerhalb dieses Raumes die Fähigkeit herausgebildet zu einer kritischen Beobachtung von Politik, zu einer kritischen Begleitung, im entscheidenden Bereich sogar zu einer Medienlandschaft in Deutschland, die fähig ist, ein Wächteramt mit anderen zu übernehmen. Das gehört zu Geschichten in diesem Jahrhundert, die mit dem Namen Bonn verbunden sind und die in einer Demokratie eben auch wichtig sind. Bei dem bevorstehenden Umzug müssen wir darauf achten, daß diese Grundachse nicht verschoben wird, die dieses Land so erfolgreich gemacht hat. Das ist der Kern des Auftrags. ({5}) Deshalb hat der ehemalige Bundeskanzler Kohl völlig recht. Ich stimme ihm voll zu. Es darf und kann für uns keine Bonner Republik geben, und es kann auch keine Berliner Republik geben. Es gibt eine Republik, die der gelungene zweite Versuch der Deutschen in diesem Jahrhundert ist, Demokratie dauerhaft zu verankern. Das muß in Berlin fortgesetzt werden. Ich glaube sogar, daß die Stadt Berlin, die wir in ihrer dynamischen Entwicklung so sehen und zu der wir uns mit Spannung hinbegeben, diese Chance selbst sehen muß. Vorhin ist den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Bonn zu Recht gedankt worden. Es ist auf ihr Naturell hingewiesen worden, das für mich - ich komme aus Oberhessen - zu einer großen Bereicherung des Lebens geworden ist. Ich sage aber auch für Berlin: Hauptstadt ist man nicht nur durch Beschluß des Bundestages oder weil das verfassungsmäßig so sein sollte. Hauptstadt muß man sein wollen, und Hauptstadt muß man auch gemeinsam dort leben. Ich freue mich auf Berlin. Wir haben die innere Spannung dieser Stadt schon bei den vielen Besuchen in den letzten Jahren erfahren. Wir trauen ihr eine ganz dynamische Entwicklung zu. Wir wissen auch, daß unsere europäischen Nachbarn Berlin viel zutrauen. Sie schätzen Berlin als eine der großen europäischen Metropolen - wenn nicht sogar als die große Metropole - der Zukunft ein. Sie erwarten von uns allerdings auch, daß Berlin mit dem Umzug ein Stück Akzentsetzung und ein Stück prägende Kraft gewinnt. Ich glaube, daß in Berlin die Chancen größer als jedes Risiko sind. Wir sollten unsere Nachbarn und die Erwartungen an uns nicht enttäuschen. Daß wir diese Chance haben, daß wir in Berlin diese demokratische Substanz leben und praktizieren können und daß wir dort - in dieser Stadt, in der manches auch schon gescheitert ist - dieses Stück demokratische Stabilität haben, daran hat Bonn, diese Stadt am Rhein, ganz entscheidende Anteile. Aus diesem Grund gilt unser Dank dieser Stadt. ({6}) Meine Damen und Herren, wir müssen sehen, daß Parlament, Verfassung, unabhängige Institutionen, die Debatten, die wir führen, das Bundesverfassungsgericht, die Bundesbank oder jetzt auch schon die Europäische Zentralbank und der föderative Staatsaufbau - also all das, was wir als „balance of power“ brauchen, damit Macht geteilt wird und sich keine Allmacht entwickelt -, nicht alles sein kann. Das ist ein Gerüst. Zusätzlich brauchen wir aber Bürgerinnen und Bürger, die die Mitte, das Maß, Toleranz und Weitsicht sowie die Fähigkeit, andere anders sein zu lassen, als sie selbst sind, haben. Institutionen und Verfassungen leben nicht, wenn die mentale Verfassung der Gesellschaft nicht fähig ist, sie zu leben. Deshalb ist eine geschriebene Verfassung nicht ausreichend. Bonn ist mit der geschriebenen Verfassung verbunden. Für ihre Dauerhaftigkeit brauchen wir aber die stetige Verankerung einer demokratischen mentalen Verfassung der Gesellschaft und der Politik der Bundesrepublik Deutschland. Das ist eine Aufgabe, die weitergeführt werden muß, die nie enden wird, die große Substanz hat und die vielleicht auch Berlin die Chance gibt, nach vielen Rückschlägen in diesem Jahrhundert jetzt endlich eine deutsche Hauptstadt zu sein, von der für unsere Nachbarn Verläßlichkeit, für unsere Bürger Sicherheit, für unser Land demokratische Stabilität und für alle Welt Weltoffenheit und freundschaftliche Beziehungen ausgehen. Darauf darf sich Berlin mit uns freuen. Wir wollen das Beste dafür tun, daß das gelingt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Christa Luft.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus Ostdeutschland kommend gehöre ich einer Generation an, die den größeren Teil des Lebens in einem anderen politischen System verbracht und dort natürlich auch Prägungen erfahren hat. Aber auch diese Generation hat jetzt nur noch dieses eine Land. Daher möchte ich an einem Tage wie dem heutigen wünschen, daß fortan weniger der Streit um unsere getrennte Vergangenheit als vielmehr das Nachdenken über eine gemeinsame Zukunft im Mittelpunkt steht. ({0}) Unterschiedliche Erfahrungen von Menschen in Ost und West begreife ich als Reichtum, ja als eine Chance. In diesem Land haben wir etwas in Europa Einmaliges, mit dem wir Signale für das Zusammenwirken von Ost und West aussenden können. Als Wissenschaftlerin bin ich im Herbst 1989 für mich selbst überraschend - mir hat das niemand an der Wiege gesungen - auf die politische Bühne gekommen und habe in der Modrow-Regierung Verantwortung getragen. Aus dieser Zeit resultiert meine unmittelbare Bekanntschaft mit der Bonner Republik und mit vielen ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten. Wenn ich mich richtig erinnere, waren die Gespräche damals unverkrampft; sie waren offen und von gegenseitiger Achtung geprägt. Ich glaube, es ist eines Nachdenkens darüber wert, weshalb das in den vergangenen Jahren leider nicht mehr so war. ({1}) Wie viele meiner langjährigen Wissenschaftlerkolleginnen und -kollegen und - so glaube ich - wie die Mehrheit meiner ostdeutschen Landsleute schätze ich die Vorzüge von Demokratie und von Rechtsstaatlichkeit. Daher hatte und habe ich keine Schwierigkeiten, mich zum Grundgesetz zu bekennen ({2}) und ausdrücklich zu seinem Friedensgebot sowie zu seiner von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes vorgesehenen offenen Wirtschaftsverfassung. Übrigens sind besonders im Hinblick auf die Demokratisierung der Gesellschaft nicht erst mit der deutschen Einheit, sondern schon zu Wendezeiten einige wichtige substantielle Veränderungen auf den Weg gebracht worden. Ich nenne als Stichworte nur die Streichung der führenden Rolle der Einheitspartei aus der Verfassung, die Abschaffung der Zensur, die Vorbereitung demokratischer Wahlen unter Beteiligung der Opposition und die Arbeit des Runden Tisches. Ich glaube, es ist ein Gebot historischer Wahrheit, dieses Endjahr der DDR differenzierter zu betrachten, als das bis heute häufig geschieht; ({3}) denn es waren Kräfte aus allen politischen Parteien und Organisationen daran beteiligt. Das sollte nicht vergessen werden. Das Bekenntnis zum Grundgesetz schließt jedoch nicht aus, sondern schließt ein, einige Entwicklungen in diesem Lande nicht ohne Sorge zu verfolgen. Zum einen - das nehmen vermutlich die ostdeutschen MitbürgerinDr. Wolfgang Gerhardt nen und Mitbürger besonders sensibel wahr - gibt es eine nicht zu übersehende Kluft zwischen dem Verfassungsanspruch und der Alltagsrealität in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Kluft zu schließen ist Aufgabe aller politischen Kräfte, damit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht beschädigt werden. ({4}) Zum anderen haben Forderungen besonders aus der politischen Wendezeit nach Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz bislang kein Gehör gefunden. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches ist in dieser und manch anderer Beziehung bisher leider Makulatur geblieben. Es macht keinen Sinn, die Forderung nach Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz als eine extremistische Forderung zu bezeichnen. Ich meine, daß uns der heute scheidende Bundespräsident und die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes mit ihren häufigen Aussagen zur Wichtigkeit plebiszitärer Elemente im Grundgesetz einen wichtigen Hinweis darauf gegeben haben, was dieses Parlament noch zu leisten hat. ({5}) Für mich leitet sich daraus ab: Auch die Demokratie ist nicht ein für allemal ein fertiges System; sie muß sich Lernfähigkeit bewahren. Es bedeutet keine Geringschätzung von Freiheit und Demokratie, wenn laut Umfragen die Neubundesbürger unter allen gesellschaftlichen Werten Gleichheit und soziale Gerechtigkeit am meisten schätzen. Gleichheit heißt für sie nicht Gleichmacherei. Worum es geht, ist Chancengleichheit, ist Abbau von Ungleichbehandlung, Leistung soll anerkannt werden. Da bleibt noch viel zu tun. Auch das darf in einer Stunde wie der heutigen nicht vergessen werden. Das Jubiläum, das wir begehen, darf bei aller Feierlichkeit nicht über die Gefährdungen der Demokratie hinweggehen: Anhaltende Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit ganzer Gruppen junger Leute schränken für viele die Möglichkeiten kraß ein, demokratische Freiheitsrechte überhaupt wahrzunehmen. Gefahrenpotentiale für die Demokratie liegen auch in der Konzentration wirtschaftlicher Macht, in der Monopolisierung der Medien und im Lobbyismus. ({6}) Es gibt Probleme genug, die in Berlin verstärkt angegangen gehören. Die Bonner Republik ist hier schon ausgiebig gewürdigt worden. Ich möchte zum Abschluß den Bonnerinnen und Bonnern im Namen meiner ganzen Fraktion Respekt entgegenbringen, insbesondere jenen, die uns hier bei der parlamentarischen Arbeit beigestanden haben. ({7}) Uns sind die ehemaligen Bundeshauptstädter als aufgeschlossene, als weltoffene, als optimistische und als tolerante Menschen begegnet - Eigenschaften, die für die Pflege der Demokratie unverzichtbar sind. Ich bin überzeugt, daß auch die Berlinerinnen und Berliner solche Eigenschaften schätzen. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Clement. Wolfgang Clement, Ministerpräsident ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für mich ist es relativ leicht, an die Adresse der Bonnerinnen und Bonner sowie aller anderen Menschen in dieser Region zu sagen: Wir bleiben hier. ({1}) Ich bitte Sie, das nicht nur wörtlich - das ist für uns Nordrhein-Westfälinger selbstverständlich -, sondern auch politisch zu verstehen. Wir bleiben wirklich hier. Deshalb will ich der Stadt und den hier lebenden Menschen gleich zu Anfang ein Kompliment machen, nämlich daß sie alles mit rheinischer Fröhlichkeit und Gelassenheit ertragen, auch all die Abschiede, die es in diesen Tagen zu feiern gilt. Was war der Reiz von Bonn? Der Reiz von Bonn war und ist für die Politik, daß von ihr für nichts und niemanden eine Bedrohung ausgegangen ist. Diese Stadt hat niemanden bedroht. ({2}) Das ist das Bild, das von dieser Stadt ausgegangen ist. Deshalb war diese Stadt auch die beste Garantin der föderalen Vielfalt, die wir in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt haben. Diese Vielfalt war eine der wichtigsten Voraussetzungen auch für den ökonomischen Erfolg der Bundesrepublik Deutschland. Bonn, das steht für 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, die von sozialer Marktwirtschaft geprägt waren. Wir haben das in rheinischen Kapitalismus übersetzt. Das bedeutet alles in allem 50 Jahre politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität. Ich möchte dies auch zum Anlaß nehmen, um von Bonn aus, von Nordrhein-Westfalen aus sowohl diesem Parlament, den Vorgängerregierungen als auch all denen Dank zu sagen, die dazu beigetragen haben, daß wir eine aus deutscher Sicht fast unglaubliche Phase politischer, wirtschaftlicher und sozialer Stabilität erleben durften. ({3}) Diese gesellschaftliche Stabilität ist von Bonn aus zu einem Markenzeichen der Bundesrepublik Deutschland geworden, ein Markenzeichen, das diese Republik deutlich und überaus positiv von all ihren Vorgängerinnen abhebt. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man sagt: Die vergangenen 50 Jahre waren die bisher besten 50 Jahre Deutschlands, jedenfalls aus der Sicht des Westens der Bundesrepublik. Die vergangenen 50 Jahre waren auch - so hat es der Historiker Fritz Stern kürzlich formuliert - eine Zeit der klar begrenzten Möglichkeiten, die man trotz vieler Versäumnisse gut ausgenützt hat. Soweit diese Begrenzungen außenpolitischer Art waren - sie gab es ja -, sind sie inzwischen weitgehend entfallen. Bonn, das steht jetzt auch für die Rückkehr in die volle internationale Verantwortung. Mit Blick auf das aktuelle Reformpaket der Bundesregierung sage ich erst recht: Bonn steht auch überzeugend für eine - so hat es Fritz Stern ebenfalls formuliert - reformbereite deutsche Republik. ({4}) Nirgendwo besser als in dieser Stadt und in der - das muß man auch in Bonn wagen zu sagen - Region Köln/Bonn konnte man in den letzten acht Jahren beobachten, wie Vergangenheit und Zukunft miteinander in Einklang gebracht werden können, wenn der politische Wille vorhanden ist, die gestellten Aufgaben - auch die Aufgaben von morgen - tatsächlich anzupacken. Der Beschluß des Deutschen Bundestages vor acht Jahren war für uns hier, für die Menschen in dieser Region, ein Schock. Das ist angesichts der Leistungen, die hier seither vollbracht worden sind, vielleicht nicht mehr allen so vor Augen; aber damals, am 20. Juli 1991, herrschte durchaus so etwas wie Weltuntergangsstimmung in der Region Bonn. Das ist heute vorbei; es ist überwunden. Die ganz überwältigende Mehrheit der Menschen in Bonn, im Rhein/Sieg-Kreis, in der Region Köln/Bonn hat überaus positive Zukunftserwartungen. Die Menschen in dieser Region haben allen Grund dazu. Die Menschen in der Region haben vor Augen, daß der Strukturwandel, den wir hier beginnen mußten, tatsächlich greift und daß die Ausgleichsvereinbarung von 1994 nicht Papier geblieben ist, sondern konsequent und verläßlich umgesetzt wurde und wird. Dafür möchte ich gern allen danken, die daran beteiligt waren und die daran weiter mitarbeiten. ({5}) Herr Dr. Kohl, dafür danke ich ausdrücklich der alten Bundesregierung. Dafür danke ich der neuen Bundesregierung. ({6}) - Da sitzt der Kollege Verheugen. Herr Kollege, verlassen Sie sich darauf: Er ist mir wert genug. ({7}) Wenn ich weitere Regierungsmitglieder brauche, dann finde ich sie immer. Ich habe sie auch in der Vergangenheit immer gefunden. ({8}) Ich danke der alten und der neuen Bundesregierung. Ich tue das in dem Bewußtsein, daß es bei allem Bemühen um Fairneß mit der alten Bundesregierung nicht immer leicht war. Das sage ich beispielsweise im Blick auf Herrn Kollegen Waigel. ({9}) Wenn Herr Kollege Eichel hier wäre, dann würde ich auch ihm sagen, daß es mit der neuen Bundesregierung nicht einfacher geworden ist. Aber wir verlassen uns auf die Zuverlässigkeit aller Beteiligten. Die Entwicklung seit 1991 gibt uns in dem eingeschlagenen Kurs recht. ({10}) - Sie haben doch bisher nur Gutes erfahren. Ab und zu einen kleinen Hinweis, daß auch Sie, Herr Kollege Waigel, recht kniepig waren, können Sie doch wirklich vertragen. Sie haben doch bei der Vereinbarung mit der Stadt Bonn ebenfalls Ihre Probleme gehabt, genauso wie der heutige Bundesfinanzminister. Dennoch gibt uns die Entwicklung seit 1991 in dem eingeschlagenen Kurs recht. In dieser Region Bonn sind seit 1991 beinahe auf Heller und Pfennig 16 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden, weit überwiegend im privaten Sektor. Das alles ist ein handfester, ein ganz konkreter Beweis dafür, daß der Strukturwandel hier auf einem sehr guten Weg ist. Die Bundesstadt Bonn hatte 1997 mit 143 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einen neuen Rekord. Kurz gesagt, Bonn hat sich zu einem Wachstumszentrum entwickelt, wie es wenige Wachstumszentren in der Bundesrepublik Deutschland gibt. In meinen Augen ist die Entwicklung in dieser Stadt und in dieser Region der beste Beweis für einen gelungenen Strukturwandel. Allerdings hat der Strukturwandel von Beginn an auf höchstem Niveau stattgefunden und nicht, wie im Ruhrgebiet oder erst recht in Ostdeutschland, auf sehr viel niedrigerem, schwierigerem Tableau. Der Strukturwandel ist auf hohem Niveau gelungen. Es ist sogar gelungen, das ökonomische Niveau in der Stadt und in der Region noch zu steigern. Ich sage für das Land Nordrhein-Westfalen und für die Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Die weit über eine Milliarde DM, mit der das Land den Ausbau der Bundesstadt Bonn und der Region Köln/Bonn zu einem Verkehrszentrum, zu einem Zentrum der Wissenschaft und Forschung, zu einem Zentrum der internationalen Begegnung unterstützt ist aus unserer Sicht gut angelegtes Geld. Wenn ich heute eine positive Zwischenbilanz für den Ausgleich ziehe, dann sage ich in aller Deutlichkeit: Das ist nicht von allein gekommen, das ist ein Ergebnis harMinisterpräsident Wolfgang Clement ({11}) ter Verhandlungen, die zu führen waren. Aber es ist auch das Ergebnis des Willens zu unbürokratischer und zielgerichteter Zusammenarbeit. Es gab in all den Jahren und es gibt bis auf den heutigen Tag eine Zusammenarbeit über die Grenzen der Parteien in dieser gesamten Region hinweg, eine Zusammenarbeit zwischen den Ländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen und den Städten und Gemeinden in dieser Region. Diese Zusammenarbeit ist überaus gut gelungen. Wir haben ein überaus gutes Beispiel für andere gegeben. ({12}) Für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen will ich ebenso klar hinzufügen: Wir werden auf diesem Weg, Frau Oberbürgermeisterin, weitergehen. Wir sehen uns in der Pflicht für Bonn und für die Region. Wir werden an der Höhe der Mittel, die wir bisher für die Region und für die Stadt zur Verfügung gestellt haben, erst recht in der Phase des Umbruchs festhalten. Wir wollen, daß die Stadt und die Region auch in Zukunft zu den ersten Adressen in Deutschland und in Europa gehören. Ich gehe ganz klar davon aus, daß diese Bereitschaft bei allen Beteiligten vorhanden ist und daß vor allen Dingen Abmachungen und Gesetze, gerade auch Abmachungen, die in Gesetzen festgehalten wurden, wie beispielsweise das Berlin/Bonn-Gesetz, eingehalten werden. Ich halte das für selbstverständlich: pacta sunt servanda - das gilt natürlich auch hier. ({13}) Sie tun gut daran, meine Damen und Herren, jetzt in Berlin die Erfahrungen der ersten 50 Jahre nicht hinter sich zu lassen, sondern konstruktiv weiterzuentwickeln. Manche befürchten, die Bundesrepublik könnte zentralistischer werden. Ich will die Diskussionen von einst nicht wieder aufnehmen. Auch für mich begründete diese Sorge mein Eintreten für Bonn. Wenn aber die deutsche Verfassung und der Staatsaufbau bei uns das nachvollziehen sollen, was uns die wirtschaftliche Entwicklung, die Europäisierung und die Globalisierung tatsächlich vorgeben, dann wird der Bundesrepublik Deutschland gar nichts anderes übrigbleiben, als föderal zu bleiben, Herr Dr. Kohl, bzw. aus meiner Sicht eher noch föderaler zu werden, als sie heute ist. Dabei denke ich besonders an die mit höchstem Tempo wachsenden europäischen Verflechtungen, die das wirkliche Leben der Menschen und der Unternehmen bei uns viel tiefer prägen, als vielen von uns bewußt ist. Der Umzug von Teilen der Bundesregierung nach Berlin mag die Tonlage und den Blickwinkel der politischen Diskussionen verändern. Ich bin überzeugt, daß er sie verändern wird. Das ändert aber nichts daran, daß wir in einem außerordentlich dynamischen Prozeß der Europäisierung leben und versuchen müssen, ihn mitzugestalten. ({14}) Nehmen Sie, meine Damen und Herren, unser Land Nordrhein-Westfalen mit seinen Nachbarn, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, als ein Beispiel. Sie könnten auch Baden-Württemberg, Brandenburg oder Sachsen jeweils mit deren Nachbarn jenseits der Grenzen nehmen. Es bildet sich hier bei uns über bisherige Grenzen hinaus eine nordwesteuropäische Region heraus, in der 44 Millionen Menschen leben, die ein Bruttoinlandsprodukt von fast 2 000 Milliarden DM erwirtschaften und damit 15 Prozent zur Wirtschaftsleistung der Europäischen Union beisteuern. Eine Wirtschaftsregion hat sich hier herausgebildet, die sich viel rascher und viel intensiver verflochten hat, als vielen von uns bewußt ist. Es gibt hier beispielsweise Vorläufer gemeinsamer Tarifgebiete, die sich bald herausbilden können. Das ist das konkrete und das tatsächliche Europa. Auch in dieser Kooperation zwischen den Regionen über die bisherigen Grenzen hinaus liegen die Potentiale für ein Deutschland, das die Strukturen der Industriegesellschaft hinter sich läßt und in die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts hineinwächst. Europas stärkster Trumpf sind seine gesellschaftliche, seine kulturelle und seine politische Vielfalt, seine Werte der Solidarität und des sozialen Zusammenhalts. Wenn wir diese Trümpfe im nächsten Jahrhundert voll ausspielen wollen, brauchen wir nicht mehr Zentralismus, sondern mehr Verantwortung vor Ort und starke föderale Strukturen. Ich bin absolut sicher: Wir werden sie bekommen. Meine Damen und Herren, deshalb wird die Politik von Berlin aus ihren Einfluß sehr viel mehr mit dem, was in Brüssel gestaltet wird, teilen müssen. Über 50 Prozent der Entscheidungen, die die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen in unserem Lande betreffen, fallen heute in Brüssel. In manchen Sektoren - von der Agrarwirtschaft ganz zu schweigen - liegt dieser Anteil in der Nähe von 100 Prozent. Das ist die europäische Realität, in der wir leben. Von diesen Realitäten geht auch ein Land wie Nordrhein-Westfalen aus: Es richtet den Blick sowohl nach Berlin als auch nach Brüssel, auf Europa und auf unsere unmittelbaren Nachbarregionen jenseits der Grenzen. Das ist das Potential dieses Landes. Bonn ist ein Gewinn für die Bundesrepublik Deutschland. Ich bin so überzeugt wie Sie - ich habe das aus all Ihren Reden herausgehört -: Einen solchen Gewinn verspielt man nicht. Diesen Schatz müssen wir gemeinsam hüten und bewahren. Um dieser Aussage mehr Gestalt zu geben, möchte ich sagen, daß dies natürlich auch für das - wie ich es empfinde - wunderbare, sehr leichte und transparente Parlamentsgebäude gilt. Das gilt für das alte und neue Bundeshaus, für das Wasserwerk und das gesamte Parlamentsviertel. Diesen vorhandenen Schatz müssen wir bewahren. Daraus sollten wir in der Verantwortung des Bundes gemeinsam etwas Unveräußerliches und Unnachahmliches machen. ({15}) Was in Ihrer Verantwortung hier geschaffen wurde, gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Ich bin davon überzeugt, daß wir diese Verantwortung weiter tragen werden. Ministerpräsident Wolfgang Clement ({16}) Wie die Diskussion zwischen den Parteien zeigt, gibt es in der Politik Erblasten. Aber es gibt auch das kostbare Erbe. Was hier in der Stadt Bonn entstanden ist, ist ein kostbares Erbe. Ich möchte Ihnen ans Herz legen, daß wir dieses Erbe gemeinsam wahren und weitergeben. Ich möchte von hier aus Dank sagen an die Bonnerinnen und Bonner, an die Stadt Bonn und an die, die den bisherigen Regierungen und Abgeordneten über viele Jahre Heimat gegeben haben. Ich möchte aber auch einen Gruß nach Berlin senden. Wir wünschen von hier aus Berlin alles Gute. Wir geben den Staffelstab weiter und hoffen auf den gemeinsamen Erfolg, der in Zukunft von Berlin aus mit all seiner Vielfalt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland und für das gemeinsame Europa geschaffen wird. Alles Gute für Berlin! Ein herzliches Glück auf! ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als nächster Redner spricht nunmehr für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Michael Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zuvorderst dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, dem wir es verdanken, daß Berlin wieder deutsche Hauptstadt und Sitz des Parlamentes sein kann, für eine große Rede danken. ({0}) Wir nehmen heute Abschied von Bonn und ziehen in den Reichstag nach Berlin. Bonn und Berlin sind Symbole der jüngeren deutschen Geschichte. Bonn steht für den demokratischen Wiederaufbau und für die Rückkehr der Deutschen in die Wertegemeinschaft des Westens. Berlin, sowohl West-Berlin als auch der Ostteil, stehen für den ungebrochenen Willen der Deutschen zur Einheit in Frieden und Freiheit. ({1}) Fünf Jahrzehnte Politik aus Bonn waren alles in allem 50 gute Jahre für unser Vaterland. Mit dem Namen Bonn verbindet sich der längste von Frieden und Freiheit geprägte Zeitabschnitt in der jüngeren deutschen Geschichte. Bismarcks Reich war lediglich ein Lebensalter von 43 Jahren beschieden. Die Weimarer Republik brachte es auf 14 Jahre. Das Tausendjährige Reich ist nach 12 Jahren in Schutt und Asche gefallen. Die mit dem Namen Bonn verknüpfte Bundesrepublik Deutschland konnte dagegen ihren 50. Geburtstag in Frieden, Freiheit, Wohlstand und in sozialer Sicherheit feiern. ({2}) Unsere Aufgabe ist, diese Werte auch nach dem Umzug vom Rhein an die Spree für die Zukunft sicherzustellen. Es hat der Bundesrepublik Deutschland gutgetan, daß in ihren Anfängen politische Entscheidungen nicht in der unruhigen Atmosphäre einer Metropole gereift sind, sondern in dieser schönen Stadt am Rhein. Bescheidenheit, Offenheit, Toleranz und rheinische Liberalität zeichnen Bonn bis zum heutigen Tag aus. Ich bin sicher, dies wird auch so sein, wenn der Bundestag und die Regierung hier weggezogen sind. ({3}) Für die langjährige Gastfreundschaft sind wir der Stadt Bonn sowie allen Bonnerinnen und Bonnern dauerhaft zu Dank verpflichtet. Deswegen sage ich im Gegensatz zu anderen: Ich weine der Stadt Bonn schon Tränen nach. Mir tut es schon auch leid, daß wir nach Berlin umziehen müssen. Aber wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß wir nach hinten schauen, hätte er uns hinten Augen wachsen lassen. Ich sehe genauso zuversichtlich nach vorne, nach Berlin. ({4}) Die Bayern und hier insbesondere die CSU haben sich in Bonn immer wohl gefühlt. Das mag sicher auch von historischen Bezugspunkten herrühren, die Bayern und das Rheinland miteinander verbinden. In Bonn haben die Bayern schon immer eine besondere Rolle gespielt. Als einst ein Kurfürst in Köln vom katholischen ins protestantische Lager gewechselt ist, nahmen ihm die Wittelsbacher dies übel ({5}) und zum Anlaß, die Godesburg zu stürmen und zurückzuerobern, Herr Westerwelle. Das sollten Sie wissen. Aber ich möchte Sie an etwas anderes erinnern, nämlich daran, daß man im Rheinland in Erinnerung an diese Herrschaft lange gesagt hat: „Bei Kurfürst Clemens August trug man blau und weiß und lebte wie im Paradeis.“ ({6}) Ich will mir jetzt ersparen, alle bayerischen Beziehungen zu Berlin aufzuzählen. Jedoch auch an der Spree waren die Bayern. Es war ja Kaiser Ludwig der Bayer, der über die Mark Brandenburg geherrscht hat. Das ging allerdings nicht allzu lange gut. ({7}) Das neue Herrschergeschlecht in der Mark Brandenburg waren dann später die Nürnberger Burggrafen aus dem Hause Hohenzollern. Inzwischen sind die Bayern so liberal, daß sie die Franken voll dazurechnen. Bayern hat dadurch den Vorteil, Brandenburg über uns Franken reklamieren zu können. Insofern ziehen wir wieder auf vertrautes Gelände. Die CSU-Landesgruppe hat stets versucht, für die Politik in Deutschland eine konstruktive Rolle zu spielen. ({8}) Ministerpräsident Wolfgang Clement ({9}) Wir haben unsere Möglichkeiten in Bayern für bürgerliche Mehrheiten voll ausgeschöpft. Wenn wir dies nicht getan hätten, wären manche Regierungen, die zum Segen unseres Landes gewirkt haben, nicht möglich gewesen. Historisch richtig war auch - wir werden dies in Zukunft fortsetzen -, mit der CDU eine Fraktionsgemeinschaft zu gründen, um die getrennt gewonnenen Kräfte gemeinsam in die deutsche Politik einzubringen. ({10}) Daß die CSU sehr zum Gelingen der deutschen Politik beigetragen hat, war von Anfang an Fakt; inzwischen ist das historisch unbestritten. Franz Josef Strauß und die CSU haben bei den Rhöndorfer Gesprächen die Voraussetzung für die kleine Koalition und damit für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft durch den fränkischen Bayern Ludwig Erhard geschaffen. Gleiches gilt für die Westbindung Deutschlands sowie den Beitritt zur nordatlantischen Allianz und zur Europäischen Gemeinschaft. Franz Josef Strauß und Fritz Schäffer haben die Jahre des Wiederaufbaus an entscheidender Stelle politisch mitgestaltet. Später konnten politische Persönlichkeiten, wie Richard Jaeger, Hermann Höcherl, Richard Stücklen, Werner Dollinger, Fritz Zimmermann, Theo Waigel und Wolfgang Bötsch, um nur ein paar Namen zu nennen, dieses Werk fortsetzen. Alle haben sie in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland die unverkennbare wie auch unverwechselbare Handschrift der bayerischen CSU hinterlassen. ({11}) Diese Handschrift ist ebenfalls im Stadtbild Bonns hinterlassen worden. Auch im Stadtbild Berlin ist sie schon zu sehen. Ich möchte an dieser Stelle unseren Freund Oscar Schneider erwähnen, der sein Engagement im Bereich der Kunst, letztendlich auch durch die Mitgestaltung der Kunsthalle in Bonn, sehr stark manifestiert hat. Herr Bundeskanzler Kohl hat ihn immer zu Rate gezogen. Angesichts dessen, daß wir nach Berlin ziehen und sich auf dem Reichstag eine Kuppel befindet, auf die der Architekt, der sie eigentlich verhindern wollte, ganz besonders stolz ist, muß man auch noch einmal den Namen Oscar Schneider ({12}) und den Kampf der CSU-Landesgruppe innerhalb und außerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwähnen, durch den der Bau dieser Kuppel letztendlich ermöglicht worden ist. Insofern haben wir nicht nur politische, sondern auch optische Spuren hinterlassen, und tun dies auch in Zukunft. Bonn war nie ein Name für einen zentralistischen Machtanspruch. Herr Bundeskanzler Kohl hat dies vorhin schon erwähnt. Bonn wurde zur Wiege des Föderalismus. Dieser Föderalismus hat ganz entscheidend zum Aufstieg unseres Landes und zum Aufstieg der Demokratie in Deutschland beigetragen. Deswegen müssen wir dieses Modell mit nach Europa nehmen und ein föderalistisches Europa schaffen. Unser Respekt, unsere Sympathie und unsere Zuneigung für das, was hier in Bonn in Jahrzehnten geschaffen worden ist, was wir in Jahrzehnten erfahren haben, werden erhalten bleiben. Hierfür möchte ich den Bonnern im Namen aller Bayern ein herzliches „Vergelt's Gott“ zurufen. ({13}) Ich möchte an dieser Stelle auch einmal ganz herzlich allen dienstbaren Geistern danken, all denen, die bei uns gearbeitet, die uns in unserer Arbeit unterstützt haben, ({14}) und zwar - stellvertretend für viele andere - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen und der Abgeordneten, den Pförtnern, den Fahrern und den Boten. Sie alle haben eine großartige Arbeit geleistet. Zur Bonner Demokratie gehört das Bekenntnis zu Europa. An unserer Verpflichtung zur Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses darf sich auch nach dem Umzug, nach einer weiteren räumlichen Entfernung von Brüssel nichts ändern. Ich möchte an dieser Stelle insbesondere die großartige Leistung von Theo Waigel erwähnen, der als einer der Väter des Euro dafür gesorgt hat, daß in Europa nicht zu verändernde Tatsachen geschaffen worden sind, die dieses Europa festigen und zusammenschweißen. ({15}) Der Föderalismus steht für eine Dezentralisierung politischer Entscheidungsprozesse, für eine breite Verteilung der Macht und für eine bürgerliche und vor allen Dingen bürgernahe Politik. Deshalb wäre es kontraproduktiv, würde man in Deutschland einen Schritt zurück in Richtung Zentralstaat machen. Wir werden auch in Berlin dafür kämpfen, daß dies in Zukunft nicht geschehen wird. Bonn ist eine sehr liebenswerte Stadt, in der ich 23 Jahre lang ausgesprochen gerne meine Arbeit als Abgeordneter meines unterfränkischen Wahlkreises getan habe. - Wir Unterfranken sind sowieso ein Stück weit Brücke zwischen Bayern und dem übrigen Deutschland. - Der Rhein und der Petersberg, das BeethovenHaus und - nicht zu vergessen - die Bayerische Vertretung mit ihrem legendären Bierkeller, der rheinische Frohsinn und die Liberalität der Menschen sind mir sehr ans Herz gewachsen. Aus dem Provisorium Bonn ist in diesen 50 Jahren ein Symbol demokratischer Tradition entstanden, das weltweit Anerkennung und Bewunderung hervorgerufen hat. Bonn steht für das, was unsere Nachbarn und Partner heute an Positivem mit der Bundesrepublik Deutschland verbinden: historische Verantwortung, moralische Rückbesinnung auf christliche Grundsätze, Fleiß und Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung und Solidarität der Menschen, vor allen Dingen das unverbrüchliche Bekenntnis zu parlamentarischer Demokratie, freiheitlichem Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft sowie die Garantie für internationale Verläßlichkeit und Bündnistreue. Auch wenn wir heute vor neuen Aufgaben und Herausforderungen stehen und wenn wir heute neue Antworten und Perspektiven aufzeigen müssen: Es darf keine Berliner Republik geben - genausowenig wie es eine Bonner Republik gegeben hat. Unser Land muß die Bundesrepublik Deutschland bleiben, wie wir sie gebaut haben und auch für die Zukunft bewahren wollen. ({16}) Mit bewundernswerter Gelassenheit haben die Menschen in dieser Region den sehr knappen Mehrheitsbeschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 respektiert. Es ist bereits gesagt worden: Bonn braucht Verläßlichkeit. Das sind wir dieser Stadt und diesen Menschen schuldig. Ein herzliches Wort des Dankes für 50 Jahre gute Gastfreundschaft! ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in Bonn 50 Jahre lang unter dem Grundgesetz eine stabile Demokratie erlebt. Den Verfassungsvätern und -müttern ist 1949 ein großer Wurf gelungen. Sie haben den Rahmen gesteckt, in dem sich in fünf Jahrzehnten ein wirklich freiheitliches demokratisches Gemeinwesen entwickelt hat. Zu unserem Glück gezwungen haben uns damals die Alliierten. Auch ihnen sei hier und heute ausdrücklich gedankt. ({0}) Auf ihre Veranlassung trat der Parlamentarische Rat zusammen, kam es zu einer liberalen und demokratischen Verfassung. Die Alliierten haben sozusagen für die Implementierung der Demokratie gesorgt, und das mit großem Erfolg. Es ist geradezu ein Gütesiegel für unsere Demokratie, daß es seit 1949 keine rechtsextreme Partei mehr geschafft hat, in den Bundestag gewählt zu werden. Bei den Bundestagswahlen haben die Bürger und Bürgerinnen den Ideologen der Ungleichheit, der Demokratiefeindlichkeit und des offenen Rassismus regelmäßig eine Abfuhr erteilt - etwas, worauf wir stolz sein können. ({1}) Das Grundgesetz als Fundament unserer Demokratie ist das klare und radikale Kontrastprogramm zum Nationalsozialismus: Unantastbarkeit der Menschenwürde - nicht der Deutschenwürde -, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, Schutz von Ehe und Familie vor staatlichen Eingriffen. Nach den zwölf Jahren des NS-Regimes waren dies damals wahrlich revolutionäre Grundsätze. Doch seien wir ehrlich zu uns: Mit der Verkündung des Grundgesetzes waren seine Verheißungen keineswegs automatisch durchgesetzt. Auch heute sind sie noch längst nicht vollständig erfüllt. Bei vielen Freiheitsrechten und demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten haben es die Menschen erst nach und nach gewagt, sich diese überhaupt anzueignen. Man kann fast sagen: 1949 war der Schuh für die gesellschaftliche Wirklichkeit noch viel zu groß geschustert. Aber im Laufe der Jahre sind die Deutschen langsam in das Grundgesetz hineingewachsen. Die äußeren Formen der Demokratie haben sich 1949 schnell etabliert, nach innen aber herrschten weiterhin autoritäre Handlungsmuster vor. Die Politik hat das persönliche Leben der Menschen in einer Weise reglementiert, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann: Vordemokratische Auffassungen von richtigen Lebensweisen, Sitte und Moral haben zwei Jahrzehnte lang die Freiheitsversprechen des Grundgesetzes für viele Bürger und Bürgerinnen praktisch außer Kraft gesetzt. Denken Sie nur daran, daß laut BGB der Mann das Letztentscheidungsrecht in allen Familienfragen hatte, selbst über das Vermögen der Frau! Denken Sie nur an das Sittenstrafrecht vor 1969: Die sogenannte Kuppelei und der Ehebruch wurden strafrechtlich verfolgt. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft galt als Konkubinat. Homosexuelle hat das Grundgesetz 20 Jahre lang nicht vor menschenrechtswidriger staatlicher Strafverfolgung bewahrt. ({2}) Meine Damen und Herren, es ist ein großer Schönheitsfleck auf unserer Demokratie, daß solche staatlichen Eingriffe in das Privatleben damals möglich waren, gebilligt vom Gesetzgeber, teilweise sogar mit dem ausdrücklichen Segen des Bundesverfassungsgerichts versehen. Es ist ein großer Erfolg unserer Demokratie, daß eine solche Politik heute einfach nicht mehr denkbar ist. Die Menschen würden es sich schlichtweg nicht gefallen lassen; die ehemals so obrigkeitstreuen Deutschen haben nämlich den Genuß der Freiheit zu schätzen gelernt. ({3}) Zu dieser Zivilisierung, zur wachsenden Gelassenheit in Fragen der Sitte und Moral hat sicher auch die Kulturgeographie beigetragen, die Lage des Dauerprovisoriums Bonn. Nehmen wir nur die rheinischen Lebensweisen „Lewe ond lewe losse“ und „Jeder Jeck ist anders“. Auch das hat, glaube ich, seine Auswirkungen auf die Politik gehabt. Gustav Heinemann hat es einmal so ausgedrückt, daß die Demokratie an ihrem Umgang mit ihren Minderheiten gemessen werden müsse. Gleichheit vor dem Gesetz, Diskriminierungs- und Willkürverbot - all das ist in Art. 3 des Grundgesetzes geregelt. Dieser Art. 3 gehört wahrlich zu den Preziosen unserer Verfassung. Deshalb will ich bei diesem Kernstück der Demokratie kurz verweilen. Meine Damen und Herren, die Menschen sind nicht gleich; sie sind sehr verschieden. Sie haben ganz unterschiedliche Eigenschaften, unterschiedliche Weltanschauungen, Lebensentwürfe und Vorstellungen von ihrem ganz persönlichen Glück. Gerade deshalb ist es so wichtig, daß unsere Verfassung die Gleichheit vor dem Gesetz als Norm gesetzt hat. Das ist von entscheidender Bedeutung für ein friedliches Zusammenleben. Wir erleben es auch heute noch: Jedes Merkmal, das den einen vom anderen unterscheidet, kann zu Anfeindung und Ausgrenzung führen. Wie kaum ein anderer ist dieser Art. 3 als Antwort auf die Verbrechen der Nazis formuliert worden. Er ist gleichsam ein verfassungsrechtliches „Nie wieder!“. Unsere Verfassung leitet von der Verschiedenheit der Menschen Gleichheit in den Rechten ab, und nicht Unterschiedlichkeit. Diese Gleichheit ist das Gegenteil von Gleichmacherei; sie ist Ausdruck des Respektes vor der Würde jedes einzelnen Menschen. Der Verfassungsauftrag, die Gleichheit vor dem Gesetz auch in Rechtswirklichkeit umzusetzen, gilt auch heute unvermindert fort. Um diesem Auftrag gerecht zu werden, haben wir uns für diese Wahlperiode noch einiges vorgenommen: ein Gleichstellungsgesetz für Frauen, ein Antidiskriminierungsgesetz, die eingetragene Partnerschaft. ({4}) Unsere Demokratie funktioniert nach dem Mehrheitsprinzip. Gerade deshalb ist der Schutz von Minderheiten ein bleibender Auftrag für den Gesetzgeber. Meine Damen und Herren, nochmals ein Blick zurück. Der kalte Krieg hat lange Zeit auch innenpolitisch Vereisungen bewirkt. Der Kabarettist Georg Kreisler hat das in den 50er Jahren so auf den Punkt gebracht: In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein fürchtet sich der Kommunist. Sollte man etwas weiter östlich sein, fürchtet sich, wer keiner ist. Leider hatte die Bundesrepublik nicht immer die Größe, der Diktatur in der DDR durch ein klares Bekenntnis zu immer mehr Demokratie den Spiegel vorzuhalten. Man griff beim Kampf der Systeme leider auch gelegentlich zu so untauglichen Mitteln wie Parteienverboten und Gesinnungsschnüffelei. Oder denken Sie an die Grundrechtseinschränkungen durch die sogenannten Notstandsgesetze. Die Notstandsgesetze haben in den 60er Jahren die Gesellschaft heftig und tief gespalten - und zwar ohne jede Not. ({5}) Ich erinnere auch an den unseligen sogenannten Radikalenerlaß. In den 70er Jahren diente die Formel von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Kampfbegriff zur Ausgrenzung mißliebiger Kritiker. Anstatt Menschen für die Demokratie zu begeistern, haben die Adjektive „freiheitlich“ und „demokratisch“ bei vielen jungen Leuten seinerzeit Angst und Schrecken erzeugt. Das war ein Lehrbeispiel, wie man es nicht machen darf. Man hat damit große Teile der kritischen Jugend für lange Jahre eben dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung von Grund auf entfremdet. Verfassungstreue kann man nicht mit dem Holzhammer erreichen, sondern nur durch Diskussion und Überzeugungskraft. ({6}) Nun, unsere Demokratie hat auch diese Fehlentwicklungen überlebt und schließlich überwunden, ebenso wie die „Spiegel“-Affäre, die Flick-Affäre und vieles mehr. Ein wichtiger Garant unserer Freiheitsrechte und Wächter der Demokratie war und ist das Bundesverfassungsgericht. In vielen Fällen schützte es den Bürger vor Übergriffen des Gesetzgebers auf die Freiheitsrechte. Es wahrte ebenso die Rechte des Parlaments gegenüber der Exekutive und der parlamentarischen Minderheit gegenüber der Mehrheit. Dennoch verdient auch das Verhältnis von Politik und Rechtsprechung eine kritische Betrachtung. Wir müssen uns als Abgeordnete fragen: Soll bei jedem Streitfall, bei dem man im Parlament unterlegen ist, das Verfassungsgericht angerufen werden? Dürfen wir uns über das immer feinmaschigere Netz der Vorgaben vom höchsten deutschen Gericht wundern, wenn wir uns selbst nicht recht mäßigen können beim Gang nach Karlsruhe? ({7}) Meine Damen und Herren, Demokratie lebt vom Wandel, nicht nur bei Wahlen, sondern auch bei der Verarbeitung gesellschaftlicher wie politischer Prozesse. Demokratie bedarf der stetigen Fortentwicklung. Notwendig scheint mir deshalb auch eine Debatte über das Bund-Länder-Verhältnis. In den letzten 50 Jahren wurden die Länder als Gesetzgeber immer schwächer, während das Bundesorgan Bundesrat mehr und mehr Gewicht bekam. Der Bundesrat ist aber ein Organ der Landesexekutiven, nicht der gewählten Volksvertretungen. Oft genug hat sich der Bund - auch mit Zustimmung der Landesregierungen - Zuständigkeiten auf Kosten der Länder gesichert, aber dem Bundesrat im Gegenzug die Zustimmungspflicht zugestanden. Diese Entwicklung sollten wir hier im Hause einmal kritisch bilanzieren. Denn Demokratie braucht Transparenz und Verantwortlichkeit, die der Bürger auch zuordnen kann. Wenn der Abgeordnete den Wählerinnen und Wählern im Wahlkreis nicht mehr deutlich machen kann, wer für ein bestimmtes Gesetz, für eine bestimmte politische Entscheidung eigentlich die Verantwortung trägt, dann verliert die repräsentative Demokratie ihre Akzeptanz bei Volker Beck ({8}) den Bürgerinnen und Bürgern. Die Erneuerung der Demokratie, die Notwendigkeit, Menschen immer wieder dafür zu begeistern, die Schaffung weiterer Beteiligungsmöglichkeiten - all das nehmen wir als Aufgabe mit nach Berlin. In Bonn feiern wir 50 Jahre Demokratie. In den neuen Ländern hat das Grundgesetz erst vor neun Jahren Geltung erlangt. Den Menschen in Ostdeutschland wurde die Demokratie nicht geschenkt, sie haben sie sich erkämpft. Ich bedauere es nach wie vor, daß so wenige Gedanken aus der Demokratiebewegung der DDR in die gesamtdeutsche Verfassung eingeflossen sind. ({9}) Wir haben eine Chance verpaßt: die Lebenserfahrung der Bürger im Osten für einen gemeinsamen Verfassungsdiskurs besser zu nutzen. Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, daß - zumindest laut Meinungsumfragen - viele Menschen im Osten immer noch eine gewisse Fremdheit gegenüber den Werten der Demokratie und Institutionen unseres Staates zeigen. Diese Fehler dürfen wir uns bei der notwendigen Diskussion um die Stärkung der Demokratie in der Europäischen Union nicht noch einmal erlauben. Schon die niedrige Wahlbeteiligung bei der Europawahl zeigt uns, daß wir uns sehr anstrengen müssen, die Bürgerinnen und Bürger wieder für Europa und für die demokratische Auseinandersetzung zu gewinnen. Wir brauchen eine europäische Grundrechtscharta und eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Bei diesen Diskussionen müssen wir die Bürgerinnen und Bürger breit beteiligen. Es geht darum, wie wir ein demokratisches Zusammenleben in Europa gestalten wollen. Deutschlands Zukunft liegt in Europa, Europas Zukunft liegt in mehr Demokratie. ({10}) Meine Damen und Herren, zum Schluß ein Wort als Wahlrheinländer. Wir brechen jetzt unsere Zelte in Bonn ab. Mir als Kölner blutet das Herz. ({11}) Mich erfüllt am heutigen Tage Wehmut. Denn Bonn war eine gute Wiege für die zweite deutsche Demokratie und ist einfach auch eine sympathische Stadt. ({12}) Ich hoffe, wir nehmen etwas mit von der rheinischen Gelassenheit und Leichtigkeit in das preußische Berlin. Berlin ist eine neue Herausforderung an dieses Parlament und an uns Abgeordnete. Darauf bin ich trotz aller Wehmut auch sehr gespannt. Aber wenn wir demnächst häufig am Bahnhof Zoo aus dem Zug aussteigen werden, dann sollten wir doch gelegentlich an das zoologische Museum König in Bonn denken. Dort hat unsere zweite deutsche Demokratie ihren Ausgang genommen, dort hat 1949 der Parlamentarische Rat zwischen ausgestopften Zebras und Giraffen unsere Verfassung entworfen. Trotz aller Politikverdrossenheit: Auch nach 50 Jahren gibt es noch eine ganze Menge junger Leute, die unser Bonner Grundgesetz und unsere Demokratie einfach tierisch gut finden. Vielen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, daß ich nunmehr auf der Tribüne des Deutschen Bundestages die ehemalige Präsidentin des Parlaments, Annemarie Renger, herzlich begrüßen darf. ({0}) Nachdem bereits der Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen begrüßt wurde, darf ich nunmehr auch den Bundestagspräsidenten Richard Stücklen hier auf der Tribüne begrüßen. ({1}) Das Wort hat nunmehr der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die F.D.P.-Fraktion.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich als Bonner Abgeordneter bei Ihnen, beim Haus und beim Präsidium, sehr herzlich dafür bedanken, daß Sie uns mit diesem Tag, auch mit der Vereidigung des neuen Bundespräsidenten hier in Bonn, gewissermaßen ein Abschiedsgeschenk machen. Ich habe gelesen, daß das vom Regierenden Bürgermeister von Berlin sogleich ein wenig neidisch beäugt wurde. Wir Rheinländer sagen dazu: Man muß auch gönnen können. Deswegen mein ganz herzlicher Dank als Bonner an Sie, daß Sie uns diese Ehre geben. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Bonner waren in den letzten 50 Jahren sehr gerne Gastgeber für die Bundespolitik. Wir bleiben das auch weiterhin gerne. Was nämlich vergessen wird, ist: Wir sind auch in Zukunft Gastgeber für die Bundespolitik, wenn auch in einem kleineren Rahmen. Ich bin als Bonner sehr dankbar dafür, daß meine Heimatstadt für mehr als 50 Jahre das Gesicht des demokratischen Deutschlands mit prägen durfte. Wenn der Gastgeber ein gutes Verhältnis zu seinen Gästen hat, fällt natürlich auch der Abschied schwer. ({1}) Deswegen gebe ich ganz offen zu, es schwingt viel persönliche Melancholie mit. Ich weiß auch von vielen, die hier ihre zweite Heimat gehabt haben, daß sie am Volker Beck ({2}) heutigen Tag durchaus melancholisch sind. Man sieht die Umzugskartons, fast an jeder Straße stehen Umzugswagen, und man sieht viele leergeräumte Gebäude. Bei aller Freude, die mancher im Hinblick auf das neue Großstadtleben haben mag, werden Sie verstehen: Wir sind natürlich heute auch ein wenig melancholisch. ({3}) Deswegen sage ich ganz offen: Ich fand die Rede des Altbundeskanzlers Helmut Kohl nicht nur im Hinblick auf das, was er an Historischem gesagt hat, sehr bewegend, ich bin ihm auch dafür richtig dankbar, daß er die passenden Dankesworte an Bonn gefunden hat. Ich wünschte mir, auch der neue Bundeskanzler würde in dieser Debatte das Wort ergreifen. ({4}) Das gehört sich so. Man mag sich in dieser oder einer anderen Stadt wohler fühlen, aber ich glaube, es ist nicht so toll - das werden Sie mir nachsehen müssen -, daß an einem solchen Tag, bei einer solchen Debatte vom ganzen Kabinett nur ein Minister anwesend ist. Bei allem Respekt vor den Staatssekretären - es sind alles großartige Persönlichkeiten -: Die Bundesregierung hätte an diesem Tag wirklich stärker präsent sein können. ({5}) Das Umfeld, in dem Politik gemacht wird, bleibt nie ohne Einfluß auf die Entscheidungen der Politik. Die Bescheidenheit Bonns, das freiheitliche Klima unserer Universitätsstadt und eine gewisse Portion rheinischen Frohsinns haben auf die Bonner Politik im Positiven abgefärbt. Bonn hat sich weit über ein Provisorium hinaus entwickelt. Es hat der deutschen Politik meiner Einschätzung nach stets gutgetan, daß in Bonn nicht Politik sozusagen aus dem Wartesaal betrieben wurde. Bonn hat in diesen fünf Jahrzehnten - 40 Jahre davon zu Zeiten der deutschen Teilung und nunmehr beinahe zehn Jahre seit dem Fall der Mauer - selbst ein Gewicht in dieser Republik bekommen. Wenn nun die Bezeichnung „Bonner Republik“ verwendet wird, so ist dies für die Bonner nur sehr vordergründig schmeichelhaft; denn im Grunde genommen soll mit diesem Begriff eine Tradition abgelegt und die sogenannte Berliner Republik eingeläutet werden. Das ist sehr gefährlich. Das ist weit mehr als Sprache. Das ist Inhalt. Das ist Botschaft: gewissermaßen von der Weimarer Republik kommend über die Bonner Republik in der Berliner Republik ankommend, als hätte Geschichte einen Endpunkt, als sei die Bonner Republik so untergegangen, wie die Weimarer Republik untergegangen ist. Als ein überzeugter Demokrat sage ich Ihnen: Ich hoffe, daß uns allen gemeinsam bewußt ist: Die Bonner Republik - das unterscheidet sie von der Weimarer Republik - ist nicht untergegangen und gescheitert. Sie wird nicht abgelegt. Im Gegenteil, es wird darum gehen, das Beste dieser Bonner Zeit nach Berlin mitzunehmen. ({6}) Das Deutschland, das mit Bonn verbunden wird, ist das europäisch eingebundene, regional gegliederte und demokratische Deutschland. Das sind die Charakteristika für die deutsche Politik in den letzten 50 Jahren gewesen, und das sollten sie auch in den nächsten 50 Jahren bleiben. Wer die Berliner Republik ausruft, stellt die Grundkoordinaten, die sich in Bonn bewährt haben, in Frage. Das ist ein Fehler. ({7}) - Das ist nicht nur an diejenigen adressiert, die das in der Politik tun. Sehr viele Intellektuelle tun dies, sehr viele Feuilletonisten schreiben so etwas. Ich möchte nicht, daß sich diese Gedankenwelt in unserem täglichen Sprachgebrauch ausdrückt. ({8}) Unsere Verfassung und unsere Republik bleiben die gleichen. Neue Fragen werden mit unserer Verfassung, dem bewährten Grundgesetz, beantwortet werden müssen. Das gilt für vieles gerade in Zeiten der Globalisierung. In Berlin ist alles größer, manchmal geradezu pompös. Die Sprache spricht Bände. Bonn war stets die Bundeshauptstadt. Berlin dagegen wird kurz Hauptstadt genannt. Das ist mehr als Semantik. Es ist zugleich auch föderatives Selbstverständnis. Für mich ist Berlin immer noch die Bundeshauptstadt, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({9}) Bonn hat nie den Rest der Republik zur Provinz werden lassen. Auch Berlin darf nicht die anderen Teile Deutschlands zur Provinz werden lassen. ({10}) Dieses kleine Bonn ist nicht provinziell. Maßvoll ist nicht mäßig und erst recht nicht mittelmäßig. Im Gegenteil, es ist eine Tugend. Ich habe in dieser Woche einen von mir sehr geschätzten Intellektuellen, einen Buchautoren, im Fernsehen gehört, der den Umzug mit den Worten kommentierte, jetzt ziehe der Bundestag zum Volk. Waren wir in Bonn nicht beim Volk? ({11}) Kann man so tun, als bestünde das deutsche Volk nur aus Großstädtern? Wer als Parlamentarier in Bonn das Volk nicht treffen wollte, der wird es auch in Berlin nicht finden. ({12}) Die Fußläufigkeit des Regierungssitzes in Bonn ist oft belächelt und bespöttelt worden. Sie wird uns noch fehlen: nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil die tatsächliche Nähe auch konfliktreduzierend gewirkt hat. Man konnte sich in Bonn niemals lange aus dem Wege gehen. Das zwang auch nach heftigem Streit zur rheinischen Lösung von manchem Problem. ({13}) Kurz gesagt: Ich hoffe, daß wir uns auch in Berlin die rheinischen Tugenden, den Pragmatismus und die ausgeprägte Toleranzkultur, bewahren werden und daß wir uns nicht nur in der „Ständigen Vertretung“ bei rheinischen Köstlichkeiten treffen werden. Die deutsche Politik muß auch in Berlin durch Bescheidenheit geziert werden. Klaus Bölling hat wunderbar dazu geschrieben: Bonn hat der Welt Vertrauen eingeflößt. In Bonn hatte die „Wir sind wieder wer“-Mentalität niemals eine Chance. Sie darf auch in Berlin keine bekommen. ({14}) Wir Bonner werden unsere Zukunft meistern und unsere Chancen nutzen. Die Bonner sind dem Bundestag für 50 gute Jahre dankbar. Auch der Bundestag zeigt heute seine Dankbarkeit, aber bitte nicht nur an diesem Tag. Am überzeugendsten kann dieser Dank nun durch die Sicherstellung von Planungssicherheit für die Bonnerinnen und Bonner in Stadt und Umland gezeigt werden. Dieselbe Einmütigkeit, mit der wir in dieser Debatte Bonn danken, ist auch nach dem Umzug bei der Einhaltung der Bonn/Berlin-Vereinbarungen nötig. Wir hoffen nicht, daß der Bundestag nach dem Umzug gewissermaßen nach der Devise handelt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Erinnern Sie sich an Bonn, auch in Berlin, und erinnern Sie sich in Berlin auch Ihrer Verantwortung gegenüber Bonn, meine sehr geehrten Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen! ({15}) Wenn uns in Berlin gelingt, was in Bonn gelang, bleibt Deutschland auf einem guten Weg. Bonn wird Sie vermissen, und ich bin sicher, Sie werden manches Mal noch Bonn vermissen. ({16})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht nun die Abgeordnete Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Westerwelle, so berechtigt Ihre Kritik an der Bundesregierung gewesen ist, so kann ich, Frau Oberbürgermeisterin Dieckmann, wenn ich mir den gesamten Saal ansehe, ({0}) hoffentlich davon ausgehen, daß es sich bei der Abwesenheit von Kolleginnen und Kollegen weniger um Undankbarkeit handelt als darum, daß diese in anderer Form und an anderer Stelle - wahrscheinlich in der Stadt - ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. ({1}) Wie Sie wissen, hatte ich keine Möglichkeit, 50 Jahre Bundesrepublik und damit Demokratie live zu erleben. Dafür bin ich zu jung. Aus dem Osten komme ich auch noch. Die BRD überkam mich erst 1989 mit der Wende. Vielleicht überrascht es einige, aber ich habe den Mauerfall und das Ende der DDR als ein sehr positives Ereignis empfunden. Gerade für mich bedeutete das Abdanken des Politbüros einen enormen Zugewinn an persönlicher Freiheit und auch einen Zugewinn an Demokratie. Wenn Sie mich heute fragen, was ich mit Bonn verbinde, dann ist es vor allem die große Demonstration gegen die faktische Abschaffung des Asylrechts im Jahre 1993. ({2}) Fast 350 000 Menschen waren auf der Straße und nahmen ihr Recht in Anspruch, laut nein zu sagen. Doch was nutzte es? Eine übergroße Koalition strich, davon unbeeindruckt, ein wesentliches Grundrecht aus der Verfassung. Wenn wir heute 50 Jahre Demokratie feiern, dann sage ich Ihnen: Dies waren und sind auch 50 Jahre der Nichtachtung von außerparlamentarischer Opposition und damit von einem wichtigen demokratischen Engagement der Bürgerinnen und Bürger. ({3}) Um so erstaunlicher ist es für mich, daß CDU/CSU gerade jetzt außerparlamentarischen Widerspruch pflegen, ja fast schon plebiszitäre Elemente zumindest praktisch einführen. Denn Helmut Kohl war es, der als Kanzler sagte: „Die demonstrieren, wir regieren.“ Jede Form von Arroganz der Macht läßt bei Engagierten Zweifel am Sinn demokratischer Freiheiten wie dem Demonstrationsrecht aufkommen. Gerade dieses ist natürlich dennoch besonders schützenswert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute über die Bundesrepublik reden, dann reden wir über einen Staat, in dem es Menschen mit unterschiedlichen Rechten gibt: Menschen, die wählen dürfen, und solchen, denen dies untersagt ist, Menschen, die hier leben dürfen, und solchen, die an der Grenze zurückgewiesen bzw. abgeschoben werden, und das nur, weil sie einen falschen Paß haben. Wachsender Rechtsextremismus, wachsender Rassismus in der Gesellschaft, die unmenschliche Flüchtlingspolitik und eine oft schweigende Mehrheit, die rassistischen Pogromen wie zum Beispiel in Rostock zuschaut - das alles ist wenig ermutigend. Dennoch will ich meine Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß - nach 50 Jahren und mit dem Beginn der sogenannten Berliner Republik - die kommenden Jahre der rechtlichen und faktischen Gleichstellung aller Menschen gehören werden, so wie es in unserem Grundgesetz vorgesehen ist. Das wäre für mich konseDr. Guido Westerwelle quenter als ein billiger Kompromiß zur doppelten Staatsbürgerschaft. ({4}) Aber zur Freiheit gehören auch soziale Gerechtigkeit und Perspektiven für Jugendliche. Jeder Jugendliche ohne Berufsausbildung, jeder Mensch ohne Arbeit kann nur begrenzt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Deshalb ist die gesellschaftliche Realität nicht nur unsozial, sondern faktisch auch undemokratisch. Nicht nur zwischen den materiellen Möglichkeiten der Kinder von Bundestagsabgeordneten und der Kinder alleinerziehender Sozialhilfeempfängerinnen liegen mehr als tausend Welten, sondern auch zwischen ihren realen Chancen, an den gesellschaftlichen und damit an den demokratischen Mitgestaltungsmöglichkeiten teilzuhaben. ({5}) Gerade auch aus diesem Grunde möchte ich zum Schluß die Gelegenheit nutzen, einmal nicht den Politikerinnen und Politikern zu danken, sondern all denen, die draußen auf der Straße oder einfach mitten in der Gesellschaft immer wieder den Mut und die Kraft finden, nein zu sagen, wenn es nein zu sagen gilt, denen, die sich gegen Intoleranz und Krieg, gegen soziale Ungerechtigkeit und Sexismus engagieren. Ich möchte den Menschen danken, die sich vergebens auf Demonstrationen die Füße wundgelaufen haben, sich in Bürgerinitiativen, in Antifa-Gruppen oder in gewerkschaftlichen Initiativen engagieren, allen, die sich nicht damit begnügen wollen, alle vier Jahre wählen zu gehen. Ohne diese Menschen, ohne diese außerparlamentarische Opposition wäre dieses Land und wäre die Demokratie ärmer. Ob in Bonn oder in Berlin, wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen uns bewußt sein, daß Demokratie Mitbestimmung heißt. Das sollte in allen gesellschaftlichen Bereichen gelten. Danke. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als nächste Rednerin spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Iris Gleicke.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann! Liebe Bonnerinnen und Bonner! Wir alle haben Bonn dafür zu danken, daß es in den letzten 50 Jahren das Parlament und damit das Herzstück der deutschen Demokratie beherbergt hat. Aus meiner Perspektive, aus der Perspektive einer ostdeutschen Abgeordneten, die dem Bundestag seit 1990 angehört, möchte ich es persönlicher formulieren: Ich bin froh und dankbar dafür, daß ich hier in Bonn in den vergangenen neun Jahren bei der Gestaltung der Demokratie mitwirken durfte. Sicherlich war für uns Ostdeutsche Bonn auch in den Jahrzehnten vor dem Fall der Mauer ein Begriff. Bonn, das war für uns ein anderer Name für die westdeutsche Demokratie und für die westdeutsche Gesellschaft. Das Westfernsehen brachte den „Bericht aus Bonn“ in die gute Stube, und nach jeder Wahl gab es die „Bonner Runde“. Alles das, was da in der westdeutschen Hauptstadt passierte, war für die meisten der DDR-Bürger sehr nah. Trotzdem war es ganz weit weg und unerreichbar; denn es gab ja eine unüberwindbare Grenze. Wir hatten unsere eigene Hauptstadt. Sie lag in unserem eigenen Teil Deutschlands. Im Westen wurde sie Ost-Berlin genannt. Auf den Schildern an den Transitstrecken stand: Berlin, Hauptstadt der DDR. Bonn, das war damals für uns das andere, das Fremde. Es lag vor allem für die Jüngeren in einem unbekannten Land. Von diesem anderen Deutschland hatten wir im Osten viele richtige, aber auch viele falsche Vorstellungen. Umgekehrt gab es auch hier im Westen viele richtige und viele falsche Vorstellungen über das Land, in dem wir gelebt haben. Durch eine glückliche Wendung der Geschichte und aus eigener Kraft haben wir Ostdeutschen die Diktatur abgeschüttelt. Die Mauer ist gefallen. Die DDR gibt es nicht mehr. Geblieben ist für uns alle die gemeinsame Aufgabe, uns von unseren deutsch-deutschen Vorurteilen zu lösen. Erst wenn uns das gelungen ist - davon bin ich überzeugt -, können und werden wir nicht mehr in den Kategorien von Ost und West denken, fühlen und handeln. Das geht nicht von gestern auf heute und nicht von heute auf morgen. Das ist ein andauernder Prozeß. Ich schließe nicht aus, daß es unseren Kindern und Kindeskindern vorbehalten bleibt, die vielzitierte Mauer in den Köpfen und damit die deutsche Teilung wahrhaftig zu überwinden. Aber daß es diese Perspektive gibt, daß wir uns dieser Herausforderung gemeinsam stellen dürfen, dazu hat diese kleine Stadt am Rhein einen großen, ihren eigenen Beitrag geleistet. ({0}) Auch für mich ganz persönlich hat die Stadt Bonn eine wichtige, eine große Rolle bei der alltäglichen Überwindung der Teilung Deutschlands gespielt. So sehr wir Politiker uns auch abrackern: Der Politik wird man vorwerfen, daß ihr etwas Abstraktes anhaftet. Menschen hingegen und ihre Beziehungen zueinander sind immer sehr konkret. Diese Einsicht habe ich für mich gewonnen, als ich im Dezember 1990 als sehr junge Abgeordnete nach Bonn kam und die Stadt und ihre Menschen kennenzulernen begann. Ich war damals gerade 26 Jahre alt und habe mich hier ziemlich fremd, manchmal auch etwas verloren gefühlt. Das ist nicht lange so geblieben, denn ich habe in Bonn Hilfsbereitschaft, Wärme und Freundlichkeit gefunden: zunächst bei den Kolleginnen und Kollegen - übrigens über die Parteigrenzen hinweg -, sehr bald auch bei den Menschen, die in dieser Stadt leben und arbeiten. Ich habe das Rheinland schätzen gelernt, und zwar nicht nur die rheinische Frohnatur, sondern auch die Leichtigkeit und freundliche Weltoffenheit, den Charme und die fast südländisch anmutende Lebensweise. ({1}) In Bonn stellen die Gastwirte die Tische und Stühle auf die Straßen und Plätze, sobald die Sonne anfängt zu scheinen. ({2}) Man hat bisweilen vom „Raumschiff Bonn“ gesprochen, in dem den Politikerinnen und Politikern jeder Bezug zum realen Leben abhanden zu kommen droht. Da mag ein bißchen dran sein, aber ich habe Bonn als Stadt so nicht erlebt. Es fällt mir nicht ganz leicht, zu beschreiben, warum mir diese Stadt in den vergangenen neun Jahren so ans Herz gewachsen ist. Es gibt so viele Erinnerungen und Begegnungen, aus denen sich mein Bonn zusammensetzt. Ich lasse in Bonn viel mehr zurück als nur einen leeren Sessel in diesem Plenarsaal. Ich denke an die Freundschaften, die ich geschlossen habe und die mir lieb und teuer sind. Ich denke daran, daß mein Sohn einen Teil seiner Kindheit in Bonn erlebt hat. Ich denke an unsere gemeinsamen Spaziergänge von unserer Wohnung in der Nordstadt bis zum Graurheindorfer Hafen. Ich erinnere mich an lange Abende in gemütlichen Kneipen und Weinstuben, wo ich mit Leuten ins Gespräch gekommen bin, die mir unverblümt ihre Meinung gesagt haben und mit denen ich mich nach Herzenslust streiten konnte. Dabei ist es keineswegs immer nur um Politik gegangen. Bisweilen waren diese Abende so lang, daß es nicht immer ganz leicht war, am nächsten Morgen pünktlich in der Arbeitsgruppe oder im Plenum zu sein. ({3}) Unvergeßlich ist für mich meine erste Begegnung mit Willy Brandt, den ich hier in Bonn kennenlernen durfte. Unvergeßlich sind die ersten Begegnungen mit anderen großen Politikerinnen und Politikern aus der Bonner Bühne. Aber ebenso nachdrücklich bleiben mir die vielen kleinen freundlichen Begegnungen im Alltag mit den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt in Erinnerung. Ein unvergeßliches Erlebnis war meine nächtliche Rundfahrt auf einem großen Löschwagen der freiwilligen Feuerwehr, von der ich bis heute nicht genau weiß, ob sie so ganz legal war. Deshalb verrate ich auch nicht, in welchem Bonner Ortsteil sie stattgefunden hat. ({4}) Auch die beiden Hochwasserkatastrophen, die ich miterlebt habe, werde ich so schnell nicht vergessen. Seitdem lege ich gesteigerten Wert auf ein Büro, das nicht im Erdgeschoß liegt. Oder der Bonner Rosenmontagszug! Mehr als einmal habe ich an der Straße gestanden, gemeinsam mit den anderen Jecken nach Kammelle gerufen und das Prinzenpaar bejubelt. Wenn ich dabei aus lauter Übermut statt „Bonn alaaf!“ „Slusia helau!“ gerufen habe, weil das in meiner Heimatstadt Schleusingen nun einmal so heißt und weil wir in Thüringen auch Karneval feiern, dann hat mir das niemand übelgenommen. ({5}) Das will durchaus etwas heißen in einer Stadt, für die der Karneval ein großes und wichtiges Ereignis und damit auch eine ernste Angelegenheit ist. Herr Westerwelle, zumindest bin ich nicht verprügelt worden! Hier im Rheinland habe ich von den Bonnerinnen und Bonnern gelernt, was „Leben und leben lassen!“ heißt. Et kütt wie et kütt, und et hätt noch immer jootjejange! ({6}) Wohl auch deshalb konnte sich das politische Leben in Bonn weitgehend unverkrampft entfalten. Wohl auch deshalb hat Bonn dieser Demokratie so gutgetan. Ich bin froh darüber, daß ich das parlamentarische Handwerk in dieser Atmosphäre von Toleranz und Lebensfreude erlernen durfte. Ich weiß von vielen Kolleginnen und Kollegen, die ganz ähnliche Erfahrungen mit dieser Stadt gemacht haben und denen es ähnlich geht wie mir. Auch in ihrem Namen möchte ich der Stadt danken für die schöne Zeit, die wir in ihr verbringen durften. Wir werden Bonn vermissen. ({7}) In diesem Frühjahr sind mir die blühenden Bäume in der Rheinaue besonders aufgefallen - und ganz besonders die wunderschönen roten Kastanien. ({8}) Ich habe beschlossen: Eine solche Kastanie will ich mir zu Hause in meinen Garten pflanzen; sie soll in mir die Sehnsucht an eine kleine große Stadt in Deutschland wachhalten, die ein Teil meines Lebens und meiner Heimat geworden ist. Schönen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den ehemaligen Oberbürgermeister von Bonn, Hans Daniels, ({0}) sowie den früheren Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Burkhard Hirsch, zu begrüßen. ({1}) Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Sichtweise, die eines Sozialisten aus der Altbundesrepublik, der sich diese Republik aus der linken Opposition in Widerstand und in Gegensatz, in Ablehnung und Rebellion angeeignet hat - also auf ganz andere Art und Weise -, neben Ihre Äußerungen stellen. Ich sage bewußt „neben“ und nicht „an die Stelle“: Aneignung ist möglich von oben, als Teil des Mainstream, der Mehrheit, die das Land durch Gesetze, Entscheidungen und Verträge prägt. Sie ist aber auch möglich - das ist mir wertvoll durch Widerspruch und Widerstand. ({0}) Herrschaft und Opposition, Mehrheit und Minderheit sind - ob Sie es wollen oder nicht - miteinander im und durch den Widerspruch verbunden. Sich darauf bewußt einzulassen, den Widerspruch und die andere Seite zu wollen und nicht als notwendiges Übel hinzunehmen davon ist unsere Demokratie und sind wir alle noch weit entfernt. ({1}) Ich will zu den Namen, die hier genannt worden sind, drei weitere Namen hinzufügen, die ebenfalls zu 50 Jahren Demokratie gehören: Heinz Renner, Bundestagsabgeordneter der KPD und ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt Essen. Er, Herbert Wehner und Konrad Adenauer waren als Kontrahenten in diesem ersten Parlament in einer Art und Weise verbunden, daß sie Parlamentsgeschichte geschrieben haben. Ferner will ich nennen Klara Maria Faßbinder, die Unermüdliche der Friedensbewegung, und Rudi Dutschke, den rebellischen Geist der APO. ({2}) Für mich und viele meiner Generation waren die Verdrängung des und das Schweigen über den Faschismus und den Krieg das, was zum Aufbegehren provozierte. Es ist nach wie vor eine offene Wunde, daß sich dieses Land so schwer damit getan hat und tut, sich damit auseinanderzusetzen. Ich möchte den heutigen Tag bewußt dazu nutzen, an Sie zu appellieren, den heute noch lebenden Häftlingen der Konzentrationslager und Zuchthäuser, den Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern zu sagen: Wir danken euch für eure wichtige Haltung und Leistung. ({3}) Unser Dank darf kein Opfer ausschließen, auch nicht die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Ich bitte Sie - ich betone das Wort „bitte“ -, den noch lebenden Zwangsarbeitern endlich eine Regelung zukommen zu lassen, die nicht neue Demütigung und Aufrechnung mit sich bringt. ({4}) Ich will an die großen Auseinandersetzungen der letzten 50 Jahre um die Wiederbewaffnung, um die NATO-Mitgliedschaft, um den NATO-Doppelbeschluß, um die Ostverträge und um die Berufsverbote sowie an die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ erinnern. Prägend für mich war der Widerstand gegen den Vietnamkrieg, also der Sommer 1968. Die 68er waren mehr als nur der Teil, der den langen Marsch durch die Institutionen antrat, um dann dort anzukommen, wo die Vorgänger bereits saßen. Liebe Antje Vollmer, die Geschehnisse des Jahres 1968 sind nicht eine Episode; das Jahr 1968 hat dieses Land so tief verändert und so demokratisiert, daß Altbundeskanzler Kohl 16 Jahre seiner geistig-moralischen Wende brauchte, um das korrigieren zu wollen. ({5}) Viele Menschen haben die 50 Jahre Demokratie im Alltag mitgeprägt, sie sind aus der Zuschauerrolle herausgetreten und haben sich eingemischt. Immer gab es Alternativen, auch wenn sie sich nicht durchgesetzt haben; das heißt aber dennoch nicht, daß diese Alternativen falsch waren. All diese Personen und Ereignisse haben Bonn berührt, hier im Parlament und im Widerspruch zu seinen Mehrheiten auf vielen großen Kundgebungen im Bonner Hofgarten. Die Bonner haben daran nicht Schaden genommen. Sie haben es getragen, manchmal wohl auch eher ertragen. Ihnen ist zu danken. ({6}) Ich komme zum Schluß. Unser Grundgesetz hat am Widerstand und am Widerspruch auch keinen Schaden genommen, im Gegenteil: Seine Forderungen und Möglichkeiten für alle Menschen, nicht nur für alle Deutschen - Eigentum verpflichtet; politisch Verfolgte erhalten Asyl; Unverletzlichkeit der Wohnung; Freiheit der Presse; seine Weisheit, keine bestimmte Wirtschaftsordnung, auch nicht die kapitalistische, auch nicht die der rheinischen Art, festzuschreiben und ein Friedensgebot zu erlassen -, bleiben für mich Wesensgehalt von 50 Jahren Demokratie und Herausforderung zugleich. Schönen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bevor ich dem früheren Vizepräsidenten dieses Hauses, HansUlrich Klose, das Wort gebe, möchte ich auch die ehemalige Vizepräsidentin Lieselotte Funcke herzlich begrüßen. ({0}) Bitte schön, Herr Klose.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute abend wird - wenn das Wetter mitspielt - auf dem Bonner Marktplatz das Bonner Konzert erklingen, ein Geschenk des Bundestages an die Stadt Bonn. Es handelt sich um eine Komposition von York Höller, Professor an der Musikhochschule in Köln, der sein Werk am vergangenen Sonntag in einem kleinen Kreis vorgestellt hat. Der Titel des Werkes lautet: Aufbruch. Das klingt optimistisch und dynamisch. So wollte es der Autor, der aber bei der Vorstellung seines Werkes doch zugeben mußte, daß sich in seine Wahrnehmung des Umzugs von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin starke melancholische Töne mischten; denn, so meinte er wörtlich, in Bonn sei doch über 50 Jahre gute Politik gemacht worden. Das bringt es, wie ich finde, auf den Punkt: „gute Politik“ nicht in dem Sinne, daß alles, was hier gesagt, entschieden und getan wurde, immer gut und angemessen war. Streit gab es genug, auch Fehler und Niederlagen, auch - ich rede jetzt von mir - persönliche Fehler und Niederlagen. Gleichwohl bleibt richtig: Der zweite demokratische Versuch auf deutschem Boden, der mit dem Namen Bonn verbunden ist, hat sich zur Erfolgsgeschichte entwickelt. ({0}) Es waren 50 gute Jahre, wahrscheinlich die bisher besten Jahre für die Deutschen: für die im Westen, die mehr Glück hatten, aber auch für die im Osten, die lange getrennt von uns und unter weniger glücklichen Verhältnissen gelebt haben, bei denen aber das Wissen stärker ausgeprägt war als bei uns Westdeutschen, daß wir ein Volk sind und ein Volk sein wollten. ({1}) Die Wiedervereinigung des geteilten Landes war ganz sicher der politisch glücklichste Tag der Bundesrepublik. Diese Überzeugung lasse ich mir von niemandem kaputtreden, weder von westdeutschen Miesmachern ({2}) noch von ostdeutschen DDR-Nostalgikern. ({3}) Die Wiedervereinigung war, so hat es Helmut Schmidt formuliert, ein Glücksfall der deutschen Geschichte. Sie, Herr Dr. Kohl, können für sich in Anspruch nehmen, die Chance für solches Glück gesehen und ergriffen zu haben. Das ist Ihre große Leistung, für die wir Ihnen zu danken haben, heute und in Zukunft. ({4}) Natürlich war die Einheit nicht Ihr Werk allein, das Werk eines Mannes. Viele Menschen haben dazu beigetragen. Ich denke vor allem und zuerst an die vielen mutigen Menschen in Osteuropa, in Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, und auch an die Menschen in Ostdeutschland, die das SED-Regime in einer unblutigen Revolution abschüttelten - ein Ruhmesblatt in der europäischen und deutschen Geschichte. ({5}) Daran sollten wir uns erinnern, wenn Verbindendes klein- und Trennendes großgeredet wird, also heute. Die Deutschen im Osten haben Grund, auf das, was sie für uns alle erreicht haben, stolz zu sein. Aber auch die Menschen im Westen haben viel erreicht, was vielleicht nur derjenige richtig ermessen kann, der den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit miterlebt hat. Die Menschen im Westen haben mit materieller Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika - wir sollten das nie vergessen - ein Staatswesen geschaffen, das uns Deutschen die Rückkehr in den Kreis der Völker ebnete: demokratisch stabil, wirtschaftlich stark, nach innen liberal und solidarisch, nach außen friedlich, verläßlich und berechenbar für Freunde und Partner. Dieser Staat, seine Verfassung und die grundsätzliche Orientierung der Politik haben in der eigenen Bevölkerung und bei den Nachbarn der Deutschen, ohne deren Zustimmung und ohne deren Mitwirkung die deutsche Einheit nicht möglich gewesen wäre - ich rede nicht nur von den großen Nachbarn der Deutschen -, Vertrauen geschaffen. ({6}) Mit Konrad Adenauer hat es angefangen. Er verankerte die junge Bundesrepublik in der westlichen Staatengemeinschaft. Deutschland sollte Teil Westeuropas sein - nicht Osteuropa und auch nicht Mitteleuropa. Die potentielle Schaukellage der Deutschen, die in der Vergangenheit zu oft böse Konsequenzen hatte, sollte und mußte ein für allemal geklärt werden. Adenauers Westpolitik war, wie wir uns erinnern, umstritten; aber sie war konsequent und hat sich als historisch richtig erwiesen. Sozialdemokraten haben das - etwas verspätet - anerkannt. Willy Brandt muß genannt werden, der - auf der Basis einer festen Verankerung im westlichen Bündnis eine Politik des Ausgleichs auch mit den osteuropäischen Nachbarn realisierte und dort nicht nur Vertrauen schuf, sondern in der Konsequenz zur Auflösung des Ost-West-Gegensatzes und zum Verfall der kommunistischen Herrschaft beitrug. ({7}) Auch die Ostpolitik war umstritten. Aber auch sie hat sich in der geschichtlichen Praxis für uns Deutsche und für ganz Europa bewährt. Die Union hat das - etwas verspätet - anerkannt. ({8}) Das alles ist hier in Bonn bedacht, debattiert und entschieden worden - und vieles mehr: soziale Marktwirtschaft, Lastenausgleich, Gründung der Bundeswehr, Notstandsgesetze, Asylfragen, Nachrüstung und die neue Rolle der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung. An Ludwig Erhard muß erinnert werden, der die Wirtschaftsordnung der jungen Republik prägte, und an Herbert Wehner, den wortgewaltigen - die Betonung liegt auf dem zweiten Teil -, ({9}) der uns immer wieder ermahnte, die junge Bundesrepublik wie unseren Augapfel zu hüten. ({10}) An Helmut Schmidt muß erinnert werden, ohne den Europa nicht so weit wäre, wie es ist. Und an HansDietrich Genscher, den Unermüdlichen, muß erinnert werden, von dem es heißt, daß er sich auf dem Wege über den Atlantik gelegentlich selber begegnete. ({11}) Es ist nicht möglich, allen, die dabei waren, gerecht zu werden. Wir sind vielleicht noch zu nahe dran, um die ersten 50 Jahre, die Bonner Jahre, abschließend beurteilen zu können. Auch kritische Stimmen hat es immer gegeben: gegen die - ich zitiere - „restaurative“ Politik der AdenauerZeit - von links; gegen die Dialog- und Annäherungspolitik meiner Partei, der SPD - von rechts; gegen das System - von extrem rechts und extrem links, wie üblich gemeinsam; gegen zuviel und zuwenig soziale Politik ein Streitthema, das uns, vor allem Sozialdemokraten und Liberale, bis in diese Tage verfolgt und, da bin ich sicher, weiter verfolgen wird. In Zeiten knapper Kassen und globaler Standortwettbewerbe ist das ganz unvermeidlich. Das alles und der tägliche normale Streit der Parteien untereinander und innerhalb der Parteien darf uns aber niemals den Blick verstellen für das, was wesentlich ist: festzuhalten an der verfassungsmäßigen Ordnung und an der Grundorientierung deutscher Politik. Verläßlichkeit und Verantwortung - das sind die Stichworte. ({12}) Wir haben gelernt, daß wir nach der Wiedervereinigung international stärker gefordert sind als früher. Diesen Forderungen können und wollen wir uns nicht entziehen. Aber wir sollten uns auch nicht überheben. Klaus Kinkels Wort von einer Politik der Zurückhaltung ist so schlecht nicht. Ich habe ihn gelegentlich zitiert, wie ich auch den Publizisten Klaus Segbers immer wieder zitiere, der 1995 folgendes notiert hat: Nicht alle Probleme dieser Welt, die einer Lösung bedürfen, harren deutscher Einmischung. ({13}) Viele, auch mißliche, Zustände lassen sich ohnehin nicht oder kaum beeinflussen. Die Gefahr der Selbstüberforderung ist groß … Weder können die Transformationsprozesse in Osteuropa von hier aus über den Berg gebracht werden, noch die neuen Fundamentalisten vom Maghreb bis zum Nahen Osten überwunden werden … Die eigentliche Aufgabe der Politik, auch deutscher Außenpolitik, scheint mir immer weniger in dem Anspruch zu bestehen, die Dinge zu ordnen und zu organisieren, sondern darin, sich auf intelligente und sensible Weise auf eine Situation einzurichten, die durch notorische Instabilität gekennzeichnet bleibt. Das ist, wie ich finde, eine sehr kluge und beachtenswerte Einschätzung unserer Lage und Möglichkeiten. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. ({14}) An der europäischen Ausrichtung unserer Außenpolitik sollten wir unbedingt festhalten. Sie hat uns bisher ganz überwiegend Vorteile gebracht. Die werden nicht immer ganz so deutlich wahrgenommen, weil alle EU-Regierungen dazu tendieren, schmerzhafte finanzielle Einschnitte in ihre nationalen Haushalte mit Europa zu begründen, was - vorsichtig formuliert - nicht immer zutreffend ist. Der Effekt ist aber unübersehbar: Die Europabegeisterung der Menschen hat abgenommen, was ich bedaure, denn ich sehe keine Alternative zu einer betont europäischen Politik. ({15}) In dieser Einschätzung waren wir uns in diesem Hause - von der PDS abgesehen - auch immer einig, und das war und ist gut so. In Grundsatzfragen der außenpolitischen Orientierung muß es nicht ein Mindestmaß, sondern ein Höchstmaß an Konsens geben. ({16}) Noch eine Bemerkung zur Außenpolitik: Manchmal hat man bei Reden zur Außenpolitik hier und anderswo den Eindruck, es gehe den Deutschen in erster Linie um das Wohl der ganzen Menschheit und nicht auch und in erster Linie um die Wahrnehmung deutscher Interessen. Ich verstehe das, füge aber hinzu: Es ist normal, Interessen zu haben und zu verfolgen, auch für Deutschland. Sie zu definieren und durchzusetzen, wenn möglich, ist nicht unanständig, sondern wird geradezu erwartet. ({17}) Daß wir aber, um unsere Ziele zu erreichen, mit anderen kooperieren müssen, ist selbstverständlich. Wir können es nur mit ihnen und unter Beachtung auch ihrer Interessen schaffen, weil wir zu klein sind, um mit der Robustheit der Vereinigten Staaten zu operieren, und zu groß, als daß man uns bei solchen Versuchen einfach gewähren ließe. Den kooperativen Stil der deutschen Außenpolitik sollten wir deshalb beibehalten. ({18}) Worauf ich mit diesen drei Bemerkungen zur Außenpolitik hinaus will, ist klar. Ich gehe davon aus, daß der Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin eben nicht mit einem Paradigmenwechsel der deutschen Politik, vor allem der Außenpolitik, einhergeht. Ich plädiere entschieden für Kontinuität. Natürlich wird es Akzentverschiebungen geben. Berlin ist anders als Bonn, liegt im Osten der Republik, ist viel größer. Den Problemen der Zeit und der Wirklichkeit begegnet man in einer solchen Stadt auf Schritt und Tritt, während wir hier in Bonn, im Regierungs- und Parlamentsviertel - zugegebenermaßen - in einer etwas abstrakten Welt gearbeitet haben: wir hier drinnen und die Menschen draußen. Das wird sich in Berlin hoffentlich ändern, und es wird die Politik verändern, aber nicht im Grundsatz. Der ersten so erfolgreichen Bonner Etappe unseres demokratischen Wiederaufbaus wird - davon bin ich überzeugt - eine ebenso erfolgreiche in Berlin folgen. Das politische Klima in Berlin wird anders sein, aber es bleibt die gleiche Republik: nicht die Bonner Republik, keine Berliner Republik, sondern die Bundesrepublik Deutschland, unser aller gemeinsamer Staat. ({19}) Bleibt auch der Bonner Stil? Gab es so etwas wie einen Bonner Stil? Ich glaube, schon. Bonn ist eine kleine Stadt und mit Berlin nicht vergleichbar. Das Flair einer Weltstadt kann Bonn nicht bieten. Aber diese heitere, eher bescheidene rheinische Stadt bietet etwas, was für uns alle, die wir hier gearbeitet haben, wichtig war: Nähe. Hier in Bonn war alles nah beieinander. Man konnte sich schnell zusammenfinden, begegnete sich laufend, lernte sich schneller - nicht nur politisch, sondern auch persönlich - kennen. Wer an Wochenenden hier blieb und auf den Bonner Markt ging, konnte sicher sein, mindestens ein halbes Dutzend bekannter Gesichter - Politiker, Journalisten und Verbandsvertreter - zu treffen. Da die gastronomischen Möglichkeiten nicht unbegrenzt waren und sind, traf man sich in Bonn auch außerhalb der Politik immer wieder. Manch einem war das bisweilen ein bißchen zuviel. Alles in allem hat es uns aber geholfen, freundlich und kollegial miteinander umzugehen. Das soll niemand geringachten. ({20}) Man mag den Bonner Stil belächeln oder auch provinziell nennen: Er förderte die persönliche, sogar freundschaftliche Nähe quer durch die Parteien. Das hat der Politik gutgetan; Bonn hat uns gutgetan. ({21}) Eben deshalb ist eine solche Rede, von der ich weiß, daß sie meine letzte Parlamentsrede hier an diesem Pult ist, eine zwiespältige Sache. Berlin wird spannend - gewiß. Ich freue mich auf Berlin. Aber - ich gebe es zu es mischt sich viel Melancholie in diese Freude. Das Bonner Regierungsviertel, der alte Plenarsaal, unser geliebtes Wasserwerk, dieser wunderbare neue Plenarsaal, der, wie ich finde, viel von dem ausdrückt, was Bonn kennzeichnet - das alles wird mir fehlen. Aus dem Urlaub zurückzukommen und nicht mehr mit dem Fahrrad zum Langen Eugen zu radeln, nicht mehr in mein Büro in den 28. Stock hinaufzufahren - mit einem Fahrstuhl, an dessen Bummelzugqualität man sich gewöhnt hatte -: ({22}) Noch kann ich es mir nicht richtig vorstellen. Von anderen Kolleginnen und Kollegen weiß ich, daß es ihnen ebenso geht. Da muß man durch. Auch die Bonner müssen da durch. Sie schaffen das auch: aus eigener Kraft, unter tatkräftiger Führung und mit unserer Hilfe, so wie wir es versprochen haben. Daß wir uns an diese Versprechen halten, zumindest das schulden wir der Stadt Bonn, die uns so gastfreundlich und hilfreich aufgenommen hat, in der es sich so angenehm lebt, in der ich gern lebe. ({23}) Dank, liebe Bärbel Dieckmann, an Bonn! Glück auf, Herr Kollege Diepgen, für Berlin! ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich freue mich, daß wir an diesem historischen Tag so viele herausragende Persönlichkeiten als Besucher bei uns haben. Deswegen möchte ich es nicht versäumen, noch den früheren polnischen Außenminister, Herrn Professor Wladyslaw Bartoszewski, ({0}) den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Herrn Professor Dr. Karl Lehmann, ({1}) den Metropoliten von Deutschland, Herrn Augoustinos Labardakis, ({2}) und nicht zuletzt den früheren Fraktions- und Parteivorsitzenden der SPD, Herrn Hans-Jochen Vogel, zu begrüßen. ({3}) Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich jetzt das Wort dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen. Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister ({4}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Klose hat eben die Gefühlswelt, die für einen Umzug ganz typisch ist, in treffender Weise beschrieben. Immer dann, wenn man sich auf den Weg macht, die Möbel einzupacken und die Bücher für eine neues Regal zu sortieren, blickt man ein Stück zurück, und das ist immer mit Melancholie verbunden. Die Liebe zu dem Ort und zu dem Geschehen kommt einem immer wieder in den Sinn. Gleichzeitig ist Umzug auch mit Aufbruch, mit der Frage nach dem Neuen verbunden. Es ist also eine Verknüpfung von Rückblick und Ausblick. In dieser Debatte möchte ich auch und gerade für Berlin sowie für die Berlinerinnen und Berliner sehr deutlich machen: Heute ist zunächst der Tag des Dankes. Ich danke der Bundesstadt Bonn, daß sie den freien Teil Deutschlands in den Jahren der deutschen Spaltung würdig repräsentiert hat. ({5}) Ich danke der Bonner Politik und auch der Stadt Bonn, daß sie in der Zeit der Spaltung viele Zeichen der Solidarität gesetzt hat. ({6}) Ich stelle ausdrücklich fest: Ohne diese Zeichen der Solidarität hätte der Westteil der Stadt Berlin nicht in Freiheit und sozialer Sicherheit überlebt. Ich bedanke mich dafür. ({7}) Ich will ebenso ausdrücklich hervorheben: Die Stadt Bonn hat mit ihrem, wie hier immer formuliert wurde, rheinischen Charme - ich würde sagen: mit Charme und Frohsinn -, aber auch mit ihrer Ernsthaftigkeit dazu beigetragen, daß wir Deutsche in den letzten Jahrzehnten viele Freunde bei unseren Nachbarn und in der ganzen Welt gewonnen haben. In dieser Debatte ist herausgestellt worden, was auch in den letzten Tagen immer wieder formuliert worden ist: Bonn steht für eine der glücklichsten Epochen in der deutschen Geschichte. Ich gestehe Ihnen: Im ersten Augenblick habe ich bei dieser Formulierung ein wenig gestockt. Was heißt „glücklichste Epoche der deutschen Geschichte“? Was ist die deutsche Geschichte? Die 50 Jahre? Es sind 50 Jahre, die wir sehr genau definieren müssen, nämlich als 40 Jahre der Teilung und 10 Jahre des Zusammenwachsens. Zu den 40 Jahren der Teilung gehört auch das Zuchthaus von Brandenburg. Zu den 40 Jahren der Teilung gehört all das, was damals im Osten Deutschlands - zunächst in der sowjetisch besetzten Zone, dann in der DDR - an Unrecht geschehen ist. Aber - deswegen sage ich das hier - auch diese 40 Jahre deutsche Geschichte der beiden Staaten in Deutschland sind deutsche Geschichte und gemeinsame Geschichte, ({8}) mit all ihren Unterscheidungen, die man dabei definieren muß. Herr Kollege Clement hat in seinem Redebeitrag darauf hingewiesen: Vorsicht bei den Formulierungen, nicht nur durch die Brille des Westens schauen. Dennoch - deswegen greife ich das auf -: Wenn ich definiere, die Stadt Bonn stehe für eine der glücklichsten Epochen der deutschen Geschichte, dann steht natürlich am Ende auch das, was erreicht wurde. Herr Kollege Klose hat soeben formuliert: Es war eine der glücklichsten Phasen der deutschen Geschichte - und der glücklichste Tag in seinem politischen Leben, wie er gesagt hat -, als wir die Wiedervereinigung erreichen konnten. Sie ist erreicht worden durch die Politik, die von Bonn aus betrieben wurde. Das ist es, was hervorzuheben ist. Ich schließe mich dem ausdrücklich an. ({9}) Sicherlich haben viele von Ihnen Verständnis für einen zweiten Tag, den ich neben vielen glücklichen Tagen, die ich im persönlichen Leben natürlich anders definieren würde, erlebt habe: Für mich ist der glücklichste Tag der Tag der Wiedervereinigung. Ein weiterer sehr glücklicher Tag ist der Tag, an dem im Deutschen Bundestag entschieden wurde: Die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland ziehen wieder nach Berlin. Wenn nun der Bundestag und die Bundesregierung ihren Sitz in der ungeteilten deutschen Hauptstadt nehmen, dann ist das ein sichtbares Symbol für die Wiedervereinigung. Berlin war während der Jahrzehnte der Teilung ein Fokus für die deutsche Teilung. Seit zehn Jahren ist es jetzt ein besonderes Symbol für die Aufgaben der Vereinigung, die Werkstatt. Für die Menschen aus den neuen Bundesländern ist der Umzug von Parlament und Regierung sicherlich auch ein Schritt in Richtung auf die Menschen in den neuen Ländern. Auch das gehört dazu. Ich sage das deswegen, Frau Kollegin Dieckmann, weil im Verständnis der deutschen Politik liegt und liegen muß: Es geht bei dieser Frage um den gemeinsamen Aufbruch und die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft. Wir wissen - das ist hier sehr deutlich geworden -: Die Entscheidung über den Parlaments- und Regierungssitz ist vielen schwergefallen. Ich habe dafür Verständnis. Allerdings gehört es zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, daß der Weg nach Berlin eigentlich vorgegeben war. Aber wir wollen nicht zurückblicken. Ich möchte Ihnen, Frau Kollegin Dieckmann, und mit Ihnen den Bürgerinnen und Bürgern von Bonn danken, daß der Beschluß über den Umzug der Verfassungsorgane mit wachsender Gelassenheit, mit wachsendem Selbstbewußtsein und mit wachsender Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen den Städten jetzt in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Bei Ihnen persönlich möchte ich mich dafür bedanken, daß Sie in Ihrer Amtszeit mit Gelassenheit und in konstruktiver Form daran mitgewirkt haben und daß damit jedenfalls ich eine gute Zukunft der Region Bonn verbinde, die ich mir, Ihnen und uns allen wünsche. Vor allen Dingen wünsche ich uns eine dauerhafte und lebendige Verbundenheit zwischen beiden Städten. ({10}) Der Umzug - das ist hier herausgestellt worden - ist kein Richtungswechsel in der Politik. In den letzten Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen ({11}) 50 Jahren ist hier in Bonn eine gute demokratische Tradition gewachsen. Die werden wir alle gemeinsam in Berlin fortsetzen. Die Stadt Berlin wird die Blicke der Bundesrepublik und der Politik allerdings auch auf neue Fragen und neue Probleme richten. Insofern besteht also kein Richtungswechsel, aber es ist auch nicht nur ein Ortswechsel. Denn der Umzug ist mit neuen Formen der politischen Verantwortung verbunden. Ich weise nur auf die Ausführungen von Helmut Kohl hin, der klar herausgestellt hat, was es bedeutet, wenn 80 Kilometer vom Reichstag, vom Deutschen Bundestag entfernt die polnische Grenze liegt. Das schärft den Blick in den Osten und auch in den Ostseeraum. Berlin wird auch mit einem Aufbruch verbunden sein. Das ist die Veränderung. Ich hoffe, daß die Verbindung zwischen den Traditionen der Westbindung, der Öffnung nach Osten und der Modernisierung unseres Staates auch nach dem Umzug nach Berlin erhalten bleibt. Berlin möchte dabei eine dienende Hauptstadt sein, die die Nation zusammenführt und die Kräfte des Landes zu gemeinsamem Nutzen bündelt. Wir wollen, daß sich Berlin, Bundesregierung und Bundestag an den neuen Wirkungsstätten zu Tatkraft und unverbrauchten Ideen verbinden, die dem Land dann Schwungkraft verleihen. Wir wollen der deutschen Politik in Berlin genausoviel geben, wie wir empfangen haben und zu empfangen hoffen. Ich danke Bonn für das, was von dieser Stadt ausgegangen ist. Zwischen Kiez und Kosmos werden Sie vieles von dem wiederfinden, was in Bonn gegenwärtig war. Ich sage: Willkommen in Berlin, in einer Stadt, die viel von dem aufnehmen wird, was beim Umzug nicht verlorengehen darf. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Nachdem der Deutsche Bundestag am 25. November 1997 beschlossen hat, nach der Sommerpause 1999 seine parlamentarische Arbeit in Berlin aufzunehmen, und nachdem der Umbau des Reichstagsgebäudes abgeschlossen ist und ab Juli 1999 mit den Büros in den Übergangsliegenschaften mit Bonn vergleichbare Raumverhältnisse hergestellt worden sind, kann ich das Einvernehmen des Hauses feststellen, daß die Voraussetzungen für die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages in Berlin, Platz der Republik, mit Wirkung zum 1. September 1999 gegeben sind. Die gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates gemäß Art. 56 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland zur Vereidigung des Bundespräsidenten findet um 13 Uhr statt. Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich ein auf Mittwoch, den 8. September 1999, 10.45 Uhr in Berlin im Reichstagsgebäude. Die Sitzung ist geschlossen.