Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
1. Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Aussprache bis 18 Uhr dauern. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zunächst zum Themenbereich Wirtschaft und neue Länder.
Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 sowie
den Zusatzpunkt 1 auf:
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Uwe-Jens Rössel, Dr. Christa Luft, Maritta Böttcher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Novellierung des Gesetzes über die Feststellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen ({0}) und des Zuordnungsergänzungsgesetzes ({1})
- Drucksache 14/17 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuß
ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Ansiedlung einer Airbus-Fertigungsstätte in
Mecklenburg-Vorpommern
- Drucksache 14/25 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({3})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuß
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Matthias Wissmann von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat mit
seiner Regierungserklärung hohe Anforderungen an die
Phantasie der Mitglieder des Bundestages gestellt,
({0})
denn viel Konkretes zur Wirtschaftspolitik war nicht zu
hören.
Zusammengeführt hat die rotgrüne Koalition der
Wille zur Macht. Jetzt sind Sie - wie wir in Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, gespürt haben - in
dem Dilemma, was Sie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik konzeptionell Richtiges mit der neugewonnenen
Macht anfangen sollen. Besonders deutlich wird dieses
Dilemma in der Personalkonstellation. Mittlerweile
kennen wir mindestens fünf, die den Anspruch erheben,
Wirtschaftspolitik für Deutschland zu gestalten:
({1})
Da ist der Kanzler; da ist sein Adlatus in Gestalt von
Minister Hombach; da ist sein Überschatten in Gestalt
des Finanzministers und SPD-Chefs Oskar Lafontaine;
und dann gibt es zwei Persönlichkeiten mit dem Namen
Müller - den neuen Wirtschaftsminister und die Ehefrau
von Oskar Lafontaine.
({2})
Meine Damen und Herren, zur Zeit bildet sich folgender Eindruck heraus: In diesem Fünferkreis ist einer
für die harten Fakten der Wirtschafts- und Finanzpolitik
zuständig - das ist Oskar Lafontaine -, und drei - der
Bundeskanzler, sein Adlatus Hombach und möglicherweise auch Sie, Herr Müller - sollen diese veraltete
Wirtschaftspolitik mit modernen Vokabeln möglichst
günstig verkaufen. Mit diesen Inszenierungen Eindruck
zu machen , wie es Ihnen im Wahlkampf - das muß man
Ihnen zubilligen- geglückt ist, wird Ihnen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, wenn sie so falsch bleibt, wie
sie angelegt ist, mit Sicherheit nicht über eine ganze
Wahlperiode gelingen.
({3})
Die Leitidee Ihrer Wirtschaftspolitik, Herr Bundeskanzler - das wissen Sie, wie wir gespürt haben -,
müßte eigentlich sein, so zu tun, als wäre Bewegung in
der Sache, aber im wesentlichen an der bewährten Wirtschaftspolitik der früheren Regierung so wenig wie
möglich zu ändern. Denn gerade die Ergebnisse des
letzten Jahres sind offensichtlich gut: 0,7 Prozent Preissteigerungsrate - das ist eine Preisstabilität wie selten
zuvor -, im Vergleich zum Vorjahr 400 000 Arbeitslose
weniger - selten hatten wir einen so starken Rückgang
der Arbeitslosigkeit in nur einem Jahr - und 2,5 bis
3 Prozent reales Wirtschaftswachstum. Die deutsche
Wirtschaft ist hinter den USA und Japan international
die Nummer drei. Beim Export sind wir - mit wieder
steigender Tendenz - sogar die Nummer zwei.
Eigentlich sollte die neue Regierung dankbar sein,
daß sie unter so günstigen Bedingungen starten kann.
Doch statt einfach und pragmatisch zu regieren, beginnen Sie unter der Federführung Oskar Lafontaines, Ladenhüter aus den 70er Jahren in den Mittelpunkt Ihrer
Politik zu stellen: stärkerer staatlicher Einfluß und
überall, wo möglich, Umverteilung. Schon tauchen
wieder die alten Theorien auf, die in unserem Land in
den 70er und zu Beginn der 80er Jahre große wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten bereitet haben.
({4})
Wenn man den offiziellen und inoffiziellen Mitgliedern dieser Regierung glauben darf, so hofft Rotgrün in
der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf das große Geldausgeben. Die verlockende Vorstellung, es müsse nur
mehr Geld unters Volk kommen und dann würden sich
die Probleme des Arbeitsmarkts von selbst lösen, hat
sich aber auch schon in der Vergangenheit als die
Münchhausen-Geschichte der modernen Wirtschaftspolitik erwiesen. Sich auf diese Weise am eigenen Schopf
aus dem Sumpf zu ziehen ist leider mangels festen
Grundes immer schon zum Scheitern verurteilt gewesen.
({5})
Überlegungen, verstaubte Ideen aus der Ideenkiste
von Lord Keynes wiederzubeleben, sind nicht nur Gegenstand von gelehrigen Aufsätzen und von Talk-ShowRunden der Familie Lafontaine,
({6})
sondern sie sind bedauerlicherweise inzwischen auch in gefährlicher Art - zu realer Politik von Rotgrün geworden.
({7})
Unübersehbar sind die Alarmsignale, die Ihre Regierung in die Wirtschafts- und Finanzwelt aussendet. Nur
mühsam läßt sich der Grundsatzkonflikt zwischen dem
Finanzminister und der Spitze der Deutschen Bundesbank und der Spitze der Europäischen Zentralbank verschleiern. Während für unsere Währungshüter - Gott sei
Dank - Geldwertstabilität nach wie vor höchste Bedeutung hat, sieht man das am Kabinettstisch wohl
deutlich lockerer. Ich kann nur sagen: Keynes läßt grüßen. Auch er ist gefährlich leichtfertig mit der Inflation
umgegangen. Für ihn war sie Korrekturfaktor für die
Löhne. Die Arbeitnehmer sollten kräftige nominale
Lohnerhöhungen bekommen. Über die Inflation wurde
die reale Kaufkraft dann wieder kaputtgemacht. Das
nannte Keynes Geldillusion.
Doch wir wissen heute, daß sich die Menschen nicht
täuschen lassen und daß sich auch die Wirtschaftskreisläufe durch falsche Theorien nicht positiv beeinflussen
lassen. Wenn Inflation wieder zum realen Faktor in der
deutschen Wirtschaftspolitik wird, dann muß jeder Unternehmer und jeder Gewerkschafter seine Vorstellungen von zukünftigen Preisen und Löhnen mit einem
satten Inflationsaufschlag versehen. Löhne und Preise
schaukeln sich dann wieder aneinander auf. Die Inflationsangst nährt die Inflation.
Die Hinnahme weichen Geldes als Mittel der Wirtschaftspolitik hat Deutschland in den 70er Jahren in die
Massenarbeitslosigkeit geführt, bei gleichzeitig galoppierender Preisentwicklung. Der Satz von Helmut
Schmidt, daß ihm 5 Prozent Inflation lieber seien als
5 Prozent Arbeitslosigkeit, wurde von der Realität bitter
eingeholt. Noch 1973 gab es 270 000 Erwerbslose.
Schon zehn Jahre später, am Ende der Ära Schmidt, gab
es - ohne die Herausforderung der Wiedervereinigung,
ohne die heute vorhandene Verknüpfung der Weltmärkte - allein in Westdeutschland 2,3 Millionen Erwerbslose.
({8})
In den 70er Jahren lag die Inflationsrate bei durchschnittlich über 5 Prozent, in der Spitze sogar bei
7 Prozent. Schmidt hatte Inflation und Arbeitslosigkeit
gleichermaßen erreicht.
Der Streit zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung in der Wirtschaftspolitik ist kein reiner Theorienstreit. Die keynesianische Wirtschaftstheorie hat nicht
nur in der Praxis versagt. Sie ist auch eine unehrliche
Theorie, weil sie darauf setzt, daß die Menschen die Gesetzmäßigkeiten, die der Wirtschaft zugrunde liegen,
nicht erkennen. Eine Politik, Herr Bundeskanzler, die
darauf setzt, die Menschen zu täuschen, darf keine neue
Chance in Deutschland erhalten.
({9})
Sie hat sich in der Vergangenheit nicht bewährt, und sie
wird sich auch in Zukunft nicht bewähren.
Wenn Ihr Finanzminister für die gesamte Bundesregierung daran festhält, dann paßt das Wort Generationswechsel auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik
noch weniger als auf jedes andere Thema. Gegenwärtig
müssen alle - nicht nur in Deutschland; schauen Sie sich
die Wirtschaftspresse in Amerika, in Frankreich, in
London an - den Eindruck haben, diese Regierung habe
zwar neue Gesichter, aber mindestens in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ein völlig veraltetes, unmodernes Konzept.
({10})
Meine Damen und Herren, wenn wir zu einer höheren
Preissteigerungsrate kommen, dann betrifft das vor allem den ganz normalen Bürger, den sogenannten kleinen
Mann, der Monat für Monat mit dem auskommen muß,
was er auf dem Gehaltszettel hat, und das Wenige, was
ihm am Monatsende bleibt, aufs Sparbuch bringt. Fein
heraus ist nur der, der sein Vermögen in Aktienpaketen
oder Immobilien angelegt hat,
({11})
denn sie behalten ihren Wert auch dann, wenn das Geld
an Wert verliert.
Wir halten diese Konzeption für falsch. Auch Ihre
Steuerkonzeption setzt auf Massenkaufkraft, auf die
Erzeugung einer künstlichen Nachfrage, die die Preise in
die Höhe treiben wird. Was nützen ein paar Mark fünfzig an Steuerersparnis für den Normalbürger, wenn er
dann an der Ladentheke höhere Preise zahlt und über
Energiesteuern in starkem Maße zur Kasse gebeten
wird? Dann wird er unter dem Strich nicht mehr, sondern weniger Geld übrig haben.
({12})
Die „Süddeutsche Zeitung“, nicht gerade im Verdacht, es mit der neuen Regierung schlecht und mit der
neuen Opposition gut zu meinen, hat vor wenigen Tagen
geschrieben, die Steuerkonzeption der neuen Regierung
sei mit Verteilungszielen überladen, sie führe zu einer
neuen Komplizierung statt zu einer wirklichen Vereinfachung. Professor Rose von der Universität Heidelberg,
einer unserer angesehenen Steuer- und Finanzrechtler,
hat gesagt, dieses Steuerkonzept sei in Wahrheit „Raubrittertum gegenüber dem Mittelstand“.
({13})
Meine Damen und Herren, wenn es uns gemeinsam
darum gehen muß, trotz einer um 400 000 geringeren
Zahl von Arbeitslosen weitere Schritte zur Beschäftigungssicherung und zur weiteren Reduzierung der Arbeitslosigkeit zu unternehmen, dann gibt es doch nur ein
wirkliches Grundgesetz: Neun von zehn neuen Arbeitsplätzen kommen aus kleineren und mittleren Betrieben. Wir haben heute im Westen Deutschlands gegenüber 1982 noch etwa 1,3 Millionen Arbeitsplätze mehr.
Neun von zehn kommen aus kleinen und mittleren Betrieben. Sie können rechnen, wie Sie wollen, über eines
ist sich die gesamte deutsche Finanz- und Steuerfachwelt einig, und jeder Bürger, der rechnen kann, kann es
nachvollziehen: Ihr Steuerkonzept belastet unter dem
Strich genau die kleinen und mittleren Betriebe, die neue
Arbeitsplätze schaffen sollen, wesentlich mehr. Das ist
Gift für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Gift für
die Konjunktur!
({14})
Meine Damen und Herren, völlig planlos stehen neben den Steuerreformplänen die neuen Ökosteuern. Mit
einer Steuer- und Finanzpolitik zur Schaffung von mehr
Arbeitsplätzen hat das wenig zu tun. Wir müssen wissen, diese Ökosteuerpläne sind auch höchst unsozial und
familienfeindlich. Die Regierung will, daß mit dem Geld
aus der Ökosteuer die Rentenversicherungsbeiträge gesenkt werden. Davon profitiert ja wohl vor allem derjenige, der ein hohes sozialversicherungspflichtiges Einkommen hat. Draufzahlen wird die Familie, bei der eine
größere Wohnung geheizt werden muß, bei der die
Waschmaschine ständig läuft, bei der an jedem Morgen
viel Wasser verbraucht werden muß, bei der mittags zu
Hause gekocht wird, bei der ein Familienmitglied im
Dienste von Familie und Kindern mit dem Auto unterwegs ist.
Die Wahrheit ist: Ihr Ökosteuerplan ist kein Plan für
mehr Ökologie, sondern ein Plan, der gerade Familien
mit Kindern in erheblichem Maße zur Kasse bitten wird.
Deswegen können wir solchen Plänen nicht zustimmen.
({15})
Meine Damen und Herren, wie man ökologisch richtig handeln kann, haben wir in der letzten Wahlperiode
an zwei Beispielen bewiesen: Wir haben eine Gebühr
für Lkws auf deutschen Autobahnen, die eine sinnvolle
ökologische Lenkungsfunktion wahrnimmt, und die
emissionsbezogene Kfz-Steuer eingeführt. Seitdem
sind 500 000 Katalysatoren neu eingebaut worden. Die
Luft wird weniger verpestet. Wir haben nichts gegen
intelligente Ideen und europäisch abgestimmte ökologische Impulse,
({16})
aber mit Konzeptionen wie einer Schröpfsteuer zu Lasten der Familien und neuen Verkomplizierungen des
Steuerrechts auf Grund höchst unklarer Definitionen in
bezug auf die Frage, welche Betriebe energieintensiv
und welche nicht energieintensiv sind, werden wir nicht
gemeinsame Sache machen.
({17})
Meine Damen und Herren, wirtschafts- und finanzpolitisch sind Sie auf einem mehr als fragwürdigen Weg.
Die „Zeit“, gegenüber der neuen Regierung bisher nicht
sehr kritisch, sondern höchst freundlich eingestellt, hat
heute ihren Leitartikel zu Ihrer Regierungskonzeption,
Herr Bundeskanzler, mit dem Satz überschrieben:
Der Fehlstart
Schröder wird nie wieder so stark sein wie jetzt.
Warum macht er nichts daraus?
Herr Bundeskanzler, wenn Sie den Ideen von Oskar
Lafontaine,
({18})
wie sie in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt sind,
die auf einer falschen Theorie aufbauen und zu falschen
praktischen Resultaten führen, folgen, dann erreichen
Sie in unserem Land nicht weniger Arbeitslosigkeit,
nicht mehr Investitionen und nicht neue Wettbewerbsfähigkeit, sondern Sie bewirken das Gegenteil. Wir brauchen die weitere marktwirtschaftliche Erneuerung.
Wir brauchen die Aufnahme der Ideen Ludwig Erhards,
die uns, mit neuen Impulsen versehen, als Brücke ins
21. Jahrhundert dienen können. Wir brauchen weniger
und nicht mehr Staat. Wir brauchen eine wirkliche Entlastung aller, der Bürger und der Unternehmen. Am wenigsten brauchen wir ein so veraltetes Wirtschafts- und
Finanzkonzept für Deutschland wie Ihres.
Herr Bundeskanzler, ich hätte Ihnen lieber in meiner
Rede zur Wirtschaftspolitik gesagt: Gut, daß Sie modernisieren.
({19})
Die gesamte Wirtschafts- und Finanzwelt ist sich darüber einig, daß Sie in der Sache leider das falsche Konzept haben. Leider haben Sie auch bei der Auswahl der
Personen höchst fragwürdige Impulse gesetzt. Daß Ihnen Herr Stollmann von der Fahne gegangen ist, zeigt ja
nur, daß einer, der moderne Auffassungen vertritt, mit
Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik nichts zu tun haben
will.
({20})
Das Wort hat nun
der Bundesminister Werner Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Wirtschaftspolitik ist für mich weit weniger eine
Frage von rechts oder links als vielmehr eine Frage von
falsch oder richtig, von zukunftslos oder zukunftsfähig.
({0})
Ich will eine Wirtschaftspolitik betreiben, die möglichst
alle von Ihnen unterstützen können und unterstützen
werden.
({1})
Sofort nach Arbeitsbeginn habe ich den Dialog mit
den Wirtschaftsverbänden begonnen. Sie haben mir
bis zu 30 Seiten lange Ausarbeitungen mit Vorschlägen
gegeben, was nun alles dringend geändert werden muß.
Mein einfaches Fazit nach 14 Tagen lautet: Die Verbände sehen die Wirtschaft hart am Abgrund. Sie sagen,
zuletzt sei die Lage so dramatisch schlecht geworden,
daß es nur noch zwei Perspektiven gebe: endgültiger
Absturz oder Wiederaufstieg. Diese Bundesregierung
setzt auf Wiederaufstieg.
({2})
Die nationalen und internationalen Wertpapierbörsen
vertrauen der neuen Bundesregierung präzise seit dem
Wahltag.
({3})
Sehr bewußt hat nach der Wahl, ausweislich des
Vorwortes, Herr Henkel ein Buch mit dem sehr bezeichnenden Titel „Jetzt oder nie“ präsentiert.
({4})
Ich wünsche mir sehr, daß sich auch die Wirtschaftsverbände an diese Devise „Jetzt oder nie“ halten.
({5})
Dazu biete ich den Verbänden eine sachliche, zukunftsorientierte und vor allem auch redliche Zusammenarbeit an. Denn ich bin mit den Wirtschaftsverbänden einig, daß wir dringend einiger Grundsatzreformen
bedürfen, zum Beispiel bei den Unternehmenssteuern,
um ein Steuersystem wie in den westlichen Konkurrenzländern zu bekommen. Diese Bundesregierung wird
entsprechend handeln. Sie hat versprochen, was seit
Jahrzehnten jede Vorgängerregierung hätte tun können:
schrittweise Herbeiführung der Grenzsteuersätze von
35 Prozent.
({6})
Im Gegenzug sollen die Gewinne schrittweise einer
breiteren Versteuerung zugeführt werden. Niedrigere
Grenzsteuersätze sind vernünftig und richtig, gerade
auch um ausländische Investoren in Deutschland wieder
verstärkt zurückzugewinnen.
({7})
Angesichts der vielen, nicht immer ganz redlichen
Kritik bitte ich zu beachten, es gilt jetzt nicht mehr, was
viel zu lange galt: Eine Reform wird vorgeschlagen, beredet, zerredet, und am Ende bleibt alles beim alten, so
schlecht es auch war.
({8})
Die Wirtschaft darf davon ausgehen, daß diese Bundesregierung grundlegende Reformen nicht nur will,
sondern sie endlich durchführt,
({9})
und zwar nicht etwa, um die Wirtschaft und die Gesellschaft zu ärgern, sondern um sie in eine sichere Zukunft
zu führen.
({10})
- Haben Sie Angst vor einer sicheren Zukunft?
({11})
Das gilt auch für die sogenannte Ökosteuer. Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft, die marktgesetzlich peu à peu an Substanz verliert. Der Faktor Arbeit ist
sehr teuer geworden. Der Faktor Kapital steht im internationalen Wettbewerb. Diese beiden Faktoren Kapital
und Arbeit sind nicht mehr so stabil in den Prozeß
der sozialen Marktwirtschaft eingebunden, wie es eine
sichere Zukunft erfordert.
Tatsächlich besteht aber jeder Produktionsprozeß aus
drei Faktoren: Arbeit, Kapital und Natur - Natur in
Form von Boden, Luft, Wasser oder auch zum Beispiel
Energie. Man kann auch diesen dritten Faktor als Quelle
der Staatsfinanzierung benutzen, also zum Beispiel den
Energieverbrauch besteuern. Dafür trete ich ein, vorausgesetzt, diese zusätzliche Steuereinnahme wird voll von
der Belastung der Faktoren Kapital und Arbeit abgezogen, jetzt vor allem von den Kosten des Faktors Arbeit
im Prozeß.
({12})
Ich darf Ihnen versichern: Die Bundesregierung wird
bei dieser Reform umsichtig vorgehen. Sie wird beispielsweise darauf achten, daß keine internationalen
Wettbewerbsnachteile und auch keine unzumutbaren
Härten für die Betriebe entstehen.
Bei meinem ersten Gespräch mit Wirtschaftsverbänden hörte ich zur Ökosteuer nur Kritik. Am Ende stand
das vermeintlich stärkste Argument: Wenn die Ökosteuer wirklich Lenkungswirkung entfaltet, dann zerbröselt die Steuerbasis. Dem entgegne ich: Wenn das eines
ferneren Tages auf Grund der Besteuerung des Naturverbrauchs eintritt, dann passiert genau das, was bei den
Faktoren Arbeit und Kapital in den letzten Jahren zunehmend schon passiert ist.
Der fundamentale Unterschied ist: Es muß mit aller
Macht verhindert werden, daß sich die Einbindung von
Kapital und Arbeit in das System der sozialen Marktwirtschaft weiter lockert. Denn das wäre eine immer gefährlicher werdende negative Entkoppelung. Wenn sich
der Wirtschaftsprozeß aber längerfristig vom zunehmenden Naturverbrauch entkoppelt, so ist das eine
sehr positive und sehr wünschenswerte Entkoppelung.
({13})
Die Bewertung der Natur als eigenständigen Faktor
bewirkt ein neues Denken mit vielen Chancen für die
Renaissance der sozialen Marktwirtschaft.
Auch vor diesem Hintergrund ist es kein gesellschaftspolitischer Zufall, daß eine Partei Regierungsverantwortung trägt, die sich als Anwalt der Natur bildete,
als die wenigen Anwälte der Natur in den anderen Parteien noch milde belächelt wurden. Ich sehe der Zusammenarbeit mit den Grünen mit sehr viel Zuversicht
entgegen.
({14})
Manche erwarten - vielleicht sogar mit Vorfreude -, daß
diese Zusammenarbeit schwierig wird, zum Beispiel auf
dem Feld der Energiepolitik. Das sehe ich zur Zeit nicht
so.
({15})
Aber ich will Ihnen die Vorfreude nicht nehmen; sie
bleibt im Leben oft das einzige.
({16})
Lassen Sie mich am Beispiel Kernenergie erklären,
wie ich mir die Kooperation mit der Wirtschaft vorstelle.
Die Wirtschaft forderte das Offenhalten aller Energieoptionen, insbesondere der Kernenergieoption, und
Teile der Politik schlossen sich dieser Forderung an.
Dann fragte die Politik die Wirtschaft: Was wollt ihr
denn konkret dafür tun? Die Antwort der Wirtschaft
lautete: jedenfalls auf Jahrzehnte hin kein Kernkraftwerk
bauen.
Ich will für Forderungen der Wirtschaft, wenn sie
stimmig sind, dann gerne den Kopf hinhalten - auch in
sehr streitigen Kontroversen -, wenn ich zuvor sichergestellt habe, daß die Wirtschaft mich hernach nicht mehr
im Regen stehen lassen kann.
({17})
Nochmals beispielhaft: Wenn ein Kernkraftwerksbetreiber von mir das Durchsetzen einer Laufzeit von 60
Jahren fordert, dann würde ich ihm am liebsten erst
einmal die Garantie abnehmen, daß er dieses Kernkraftwerk dann auch zwangsweise 60 Jahre betreibt. Ich
weiß, das geht nicht. Aber wir sind uns alle einig: Die
Frage wäre vom Tisch.
Ich möchte also redlichen Klartext. Die Bundesregierung wird nach einem Jahr das Betreiben von Kernkraftwerken hierzulande per Gesetz entschädigungsfrei
in einen vernünftigen Auslaufprozeß überführen, der
einigen zentralen Kriterien genügt:
Erstens. Die deutsche Energieversorgung bleibt vorausschauend versorgungssicher und international wettbewerbsfähig.
Zweitens. Die Kapitalkraft der deutschen Energieversorger bleibt erhalten und wird für eine neue Investitionsoffensive genutzt.
Drittens. Die Energieversorgung bekommt zunehmend zukunftsfähige Strukturen.
Viertens. Die Energieversorger und der Handel mit
Energie gewinnen wieder eine breite gesellschaftliche
Akzeptanz.
({18})
Es ist meine ganz feste Absicht, das vorzulegende
Kernenergiebeendigungsgesetz zu einem besonders guten Beispiel der Kooperation von Wirtschaft und Politik
zu machen.
Das neue Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie wird dafür sorgen, daß der Wettbewerb als
Motor von Innovationen und Investitionen funktionsfähig bleibt. Hier spielen in meinem Geschäftsbereich
auch das Bundeskartellamt und die Regulierungsbehörde
für Telekommunikation und Post eine weiterhin unverzichtbare Rolle.
Innovationen werden darüber hinaus mit unserer Forschungs- und Technologiepolitik gezielt gefördert und
vorangetrieben. Die Außenwirtschaftsabteilung meines
Hauses wird sich auch künftig dafür einsetzen, daß die
Märkte weltweit offen bleiben. Das BMWi wird die Außenwirtschaftsförderung weiter modernisieren. Die effiziente Hilfestellung für deutsche Unternehmen auf allen
Märkten ist unverzichtbarer Teil unserer Wirtschaftspolitik.
({19})
Daß Arbeitsplätze entstehen, ist das überragende
Ziel unserer Politik für das Handwerk, den Mittelstand
und die Industrie - und das alles namentlich in den neuen Bundesländern. Dafür werde ich in den fünf Europäischen Räten - für den Binnenmarkt, für Verbraucher, für
Energie, für Industrie und für Telekommunikation - aktiv eintreten.
In der Mittelstandspolitik sind mir folgende Aspekte
besonders wichtig: die verbesserte Finanzierung innovativer Vorhaben mit Risikokapital zum Beispiel durch
Wagnisfonds, ein besseres Klima für Existenzgründer,
auch an Schulen und Hochschulen, das Einrichten gezielter Starthilfen und die Bündelung und Konzentration
der bisher doch sehr verzettelten Mittelstandsförderung.
({20})
Positive Auswirkungen auf die Investitionsbereitschaft von kleinen und mittleren Unternehmen erwarte
ich von einer Zinssenkung bei den ERP-Förderkrediten.
Ich habe deshalb entschieden, daß die Zinssätze für neue
ERP-Kredite ab sofort um einen halben Prozentpunkt
auf 4,25 Prozent bzw. in den neuen Ländern auf
3,75 Prozent zurückgenommen werden.
({21})
Bei innovativen Vorhaben sind die Konditionen zum
Teil noch günstiger.
Im Mittelstand entstehen viele neue Arbeitsplätze im
Bereich der neuen Techniken, der Information und
Kommunikation. Nirgendwo sehen wir das zur Zeit
deutlicher als bei den privaten Telefondienstleistern.
Den Wettbewerb brauchen wir dort auch in Zukunft. Es
darf aber nicht zu einer Schieflage zwischen den Unternehmen kommen, die in eigene Netze investieren, und
denen, die diese Netze lediglich zur Durchleitung ihrer
Gesprächsminuten nutzen.
({22})
Die Nutzungsentgelte müssen stimmen. Hier ist die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation am
Ball. - Eine differenzierte Regulierung der Nutzungsentgelte will ich für die Zukunft nicht ausschließen.
Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie zu stärken ist ein wichtiges Element meiner Aufgaben. In der
Luft- und Raumfahrt kommt es jetzt darauf an, die Integration in Europa weiter voranzutreiben und die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern, auch durch
nachhaltige Förderung. Im Schiffbau gilt es, die internationalen Wettbewerbsverzerrungen abzubauen und die
Forschung auszubauen.
Industriepolitik heißt für mich vor allem, branchenübergreifende Standortbedingungen für die deutsche Industrie zu verbessern. Der Technologiepolitik kommt
dabei eine besondere Rolle zu. Ich will sie konzeptionell
auf Zukunftstechnologien und die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen ausrichten.
({23})
In der Außenwirtschafts- und in der Handelspolitik
werde ich auf eine neue, umfassende multilaterale Verhandlungsrunde unter dem Dach der WTO hinwirken.
Die Werbung für unser Land als Ziel ausländischer Direktinvestitionen soll verstärkt werden.
Meine Damen und Herren, allen Kritikern und
Zweiflern möchte ich deutlich sagen: Hier steht der
Bundeswirtschaftsminister. Sie werden sich noch freuen
über das, was alles die Mitarbeiter des Wirtschafts- und
Technologieministeriums in den nächsten vier Jahren an
Initiativen entfalten werden - für die Industrie, den
Mittelstand, das Handwerk, für Produzenten und Konsumenten, kurzum: für die Wirtschaft und die Menschen
in unserem Lande. Wir werden neue Wege wagen und
Zukunft gewinnen.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort hat der
Kollege Paul Friedhoff, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung nach Kräften versucht, der deutschen
Wirtschaft die Besorgnis zu nehmen, hier insbesondere
den mittelständischen Unternehmen. Dies ist ihm
gründlich mißlungen, wie die Reaktionen in der Öffentlichkeit zeigen.
Herr Minister Müller, auch Ihre Bekenntnisse zur Zukunft und zum Aufstieg sind schöne Worte. Wir werden
aber konkrete Taten sehen müssen. Das, was wir bislang
dazu gehört haben, wird dem, was Sie hier gesagt haben,
nicht gerecht.
({0})
Von dem, was Sie zur Telekommunikation gesagt
haben, glaube ich nicht, daß es ermutigende Worte für
Unternehmensgründer gerade in diesem Bereich waren,
nämlich in dem Bereich von Dienstleistungen. Sie sollten sich noch einmal gut überlegen, was auf diesem Gebiet in Ihrem Hause offensichtlich angedacht wird.
({1})
In vielen kleinen und mittleren Unternehmen geht
nämlich schon wenige Tage nach der Amtsübernahme
von Rotgrün mehr die Angst um. Wenn ich „in den kleinen und mittleren Unternehmen“ sage, dann meine ich
nicht nur die Unternehmer selbst, sondern auch die Beschäftigten, denn deren Arbeitsplätze sind von der Wettbewerbsfähigkeit dieser Betriebe abhängig, und die
scheint nicht gestärkt zu werden. Statt dessen hat der
Bundeskanzler jede Warnung vor den verheerenden
Folgen Lafontainescher Wirtschaftspolitik wieder einmal in rhetorische Heißluft aufgelöst. Der angebliche
Schröder-Aufschwung entpuppt sich schon in den ersten
Tagen als ziemlich lahme Ente. Das Problem des Kanzlers ist, daß selbst die begabtesten politischen Darsteller
auf Dauer der harten ökonomischen Realität nicht ausweichen können.
({2})
Konkrete wirtschaftspolitische Antworten sind gefragt. Die hören wir aus dem Regierungslager bisher nur
vom Finanzminister, der die Richtlinienkompetenz
schnellstens an sich gezogen hat. Wo bleibt das Machtwort des Bundeskanzlers, wenn Herr Lafontaine die Unabhängigkeit der Zentralbank in Frage stellt und den
Mittelstand mit seinen Steuerplänen an die Wand
drückt?
({3})
Sind das die Zeichen der Neuen Mitte? Die rotgrüne
Bundesregierung vollzieht gerade einen grundlegenden
Kurswechsel der Wirtschaftspolitik, sozusagen einen Paradigmenwechsel. Wir stehen vor einem elementaren
Bruch mit den Traditionen der sozialen Marktwirtschaft.
Ich will das an drei Punkten festmachen.
Erstens. Die Unabhängigkeit der Bundesbank ist vor
dem Hintergrund von zwei Inflationen in diesem Jahrhundert immer ein Fixpunkt deutscher Nachkriegspolitik
gewesen. Eine stabile Währung ist Grundvoraussetzung
für solides Wirtschaftswachstum, für soziale Sicherheit
der Bürgerinnen und Bürger und für mehr Beschäftigung. Eine laxe Geldpolitik führt hingegen allenfalls zu
konjunkturellem Strohfeuer und dann geradewegs in die
Inflation.
({4})
Die Inflation trifft gerade die Schwächeren in der Bevölkerung. Deshalb ist die Lafontainesche Inflationspolitik zutiefst unsozial.
({5})
Für die F.D.P. war der Abschied von der D-Mark nur
unter der Voraussetzung strikter Geldwertstabilität akzeptabel. Der Euro muß genauso hart werden wie die DMark.
({6})
Dafür haben wir Deutschen jahrelang in Europa geworben, und wir haben unsere europäischen Partner überzeugen können. Doch jetzt setzt die rotgrüne Bundesregierung die Stabilität des Euro leichtfertig aufs Spiel.
Wirtschaftspolitische Reformen setzt sie nicht fort, sie
dreht vielmehr zurück. Statt dessen will sie lieber die
Geldversorgung politisch manipulieren. Inflation statt
Reformen, das ist letztendlich das wirtschaftspolitische
und währungspolitische Kredo der rotgrünen Bundesregierung. Deshalb attackiert das Lafontainesche Küchenkabinett die Bundesbank in einer Weise, die ohne Beispiel ist.
({7})
Deutschland war bisher der politische Garant für die
Unabhängigkeit der EZB und die Stabilität des Euro.
Soll es nun damit vorbei sein? Meine Damen und Herren, die deutsche Öffentlichkeit muß jetzt wachsam sein.
Wir brauchen eine Protestbewegung gegen die drohende
rotgrüne Destabilisierung des Euro.
({8})
Zweitens. Nie zuvor ist eine Bundesregierung mit einem derart mittelstandsfeindlichen Wirtschaftsprogramm angetreten.
({9})
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Zeche für die sogenannte Steuerreform wird natürlich von
den kleinen und mittleren Unternehmen bezahlt werden.
Die Verteuerung der Energiekosten wird diese Betriebe
belasten. Eine adäquate Kompensation ist nicht in Sicht.
Es wird zur Hatz auf sogenannte Scheinselbständige geblasen, um Löcher in der Rentenversicherung zu stopfen, die die rotgrüne Regierung durch die Rücknahme
der Rentenreform selber aufreißt. Aus diesem Grund
werden auch die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse drastisch eingeschränkt. So wird der deutschen
Wirtschaft gerade im Kleingewerbe und bei den Dienstleistungen eine unverzichtbare Flexibilitätsreserve genommen.
Meine Damen und Herren von der rotgrünen Bundesregierung, so machen Sie Beschäftigungschancen zunichte. Sie sind gerade dabei, ein gigantisches Programm zur Förderung der Schwarzarbeit aufzulegen.
({10})
Wir haben den Kündigungsschutz reformiert und damit vor allem den kleinen Betrieben geholfen. Rotgrün
nimmt die Reform zurück. Wir haben die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall reformiert, und damit zu einer
massiven Kostenentlastung für die deutschen Unternehmen beigetragen. Rotgrün nimmt die Reform zurück.
Wir haben eine demographische Formel in die Rentenversicherung eingeführt, um die Lohnzusatzkosten seriös zu senken und die Renten auf Dauer sicher zu machen. Rotgrün nimmt die Reform zurück.
({11})
Damit wird kein Arbeitsloser in Deutschland neue Beschäftigung finden. Mehr Menschen werden um ihren
Arbeitsplatz fürchten müssen.
({12})
Drittens: Das Bundeswirtschaftsministerium, meine
Damen und Herren, hat seit der Zeit Ludwig Erhards
eine zentrale ordnungspolitische Funktion innerhalb der
Bundesregierung und darüber hinaus. Das war für die
Gegner der sozialen Marktwirtschaft schon immer ein
Ärgernis. Aus diesem Grund hat der Finanzminister einen strategischen Schlag gegen das Ministerium geführt.
Wichtige Bereiche werden aus dem Ministerium herausgelöst und in das Finanzministerium übertragen. Damit
wird das marktwirtschaftliche Wächteramt des Wirtschaftsministeriums untergraben, und der Weg wird frei
für Dirigismus und staatliche Ausgabenprogramme. Zugleich wird eine Art Nebenkanzleramt für Herrn Lafontaine geschaffen.
({13})
Ich will im Namen meiner Fraktion den Mitarbeitern
des Wirtschaftsministeriums danken, die wegen ihrer
marktwirtschaftlichen Überzeugung das Haus verlassen
müssen oder ins Abseits gestellt werden. Das gilt insbesondere für Herrn Staatssekretär a. D. - so muß ich jetzt
sagen - Klaus Bünger und für Herrn Professor Schatz,
den früheren Vizepräsidenten des Kieler Instituts für
Weltwirtschaft, die aus dem Ministerium ausscheiden
müssen, um dem neuen Vulgär-Keynesianismus nicht
im Wege zu stehen.
({14})
Meine Damen und Herren, der keynesianische
Staatsinterventionismus wird heute nur noch von wenigen Außenseitern unter den Ökonomen als tragfähiges
Konzept betrachtet. Keynes hatte seine Theorien im übrigen unter dem Eindruck der extremen Deflation Ende
der 20er, Anfang der 30er Jahre verfaßt. Damals sank
das Preisniveau in Deutschland Jahr für Jahr um durchschnittlich 7 Prozent; das Bruttosozialprodukt ging um
durchschnittlich 4 Prozent zurück. Die damalige volkswirtschaftliche Situation auf die Gegenwart zu übertragen ist völlig absurd. Die Konjunktur in Europa und den
USA ist bisher trotz Asien- und Rußlandkrisen stabil
und die Geldpolitik alles andere als restriktiv.
Meine Damen und Herren, es gibt keine allgemeine
Nachfrageschwäche in Deutschland. Die Probleme auf
dem Arbeitsmarkt sind nicht durch zu hohe Zinsen verursacht. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt hängen mit
den hohen Kosten für den Faktor Arbeit zusammen und
vor allem damit, daß der Arbeitsmarkt durch Staatseingriffe und das Tarifkartell fast zu Tode reguliert worden
ist.
({15})
Diese Strukturprobleme sind nur durch einen marktwirtschaftlichen Reformkurs für mehr Wettbewerbsfähigkeit zu beheben.
({16})
Davon aber will die rotgrüne Bundesregierung nichts
wissen. Die Folgen für den Arbeitsmarkt werden verheerend sein.
Unter diesem Vorzeichen kann auch das vieldiskutierte Bündnis für Arbeit nur ein Fehlschlag werden. Es
müßte bedeuten: Senkung der Arbeitskosten und Deregulierung der Arbeitsmärkte. Die rotgrüne Regierung
macht gerade das Gegenteil. Es müßte bedeuten: lohnpolitische Zurückhaltung, um den Produktivitätsfortschritt für Neueinstellungen nutzen zu können. Aber der
neue Finanzminister und die Gewerkschaften verkünden
schon seit Monaten das Ende der Bescheidenheit. Ein
Bündnis für Arbeit müßte bedeuten: Reform der Flächentarife, um den Betrieben mehr Gestaltungsspielraum zu geben. Aber davon sind wir weiter entfernt
denn je.
Die rotgrüne Koalition hat den Bürgern viel versprochen, vor allem einen spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit. Mit dieser Reformverweigerung wird der Abbau
der Arbeitslosigkeit nicht gelingen.
({17})
Sie verderben es sich mit denen, die Arbeitsplätze schaffen. Mit denen müssen Sie aber zusammenarbeiten, denn
nur, wenn sie die Arbeitsplätze schaffen, können Sie Ihre Versprechen auch erfüllen.
({18})
Meine Damen und Herren, mit Blick auf die verheerende Kehrtwende in der deutschen Wirtschaftspolitik
wird in diesen Wochen ständig über den neuen Finanzminister gesprochen und geschrieben. Dabei hat
Deutschland auch einen neuen Wirtschaftsminister.
Wir haben ihn ja eben hier erlebt. Müller heißt er, mit
Vornamen übrigens Werner und nicht etwa Christa.
({19})
Man muß das immer wieder sagen, auch wenn Ihnen das
nicht paßt. Es ehrt Herrn Jost Stollmann, daß er schließlich doch noch erkannt hat, auf welches Spielchen er
sich mit Rotgrün eingelassen hätte.
({20})
Er hätte aber gut daran getan, vorher einmal das SPDProgramm wirklich zu lesen. Herr Minister Müller hat es
nach eigenem Bekunden gelesen, und er betont gern,
wie gut er sich mit Finanzminister Lafontaine versteht.
({21})
Ich zitiere ihn aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Dienstag dieser Woche: „Wir verstehen uns
prima, lachen auch viel miteinander.“
({22})
Wir gönnen es Ihnen ja, Herr Minister, wenn Ihr
menschliches Harmoniebedürfnis durch den Finanzminister befriedigt wird. Aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß diese Harmonie vielleicht etwas
mit der völligen Entmachtung des Wirtschaftsministeriums zu tun haben könnte? Alle Vorhaben des Hauses,
so hört man jetzt aus dem Wirtschaftsministerium, sollen eng mit dem Kanzleramt abgestimmt werden, wobei
es keine Konfrontation mit dem Finanzministerium geben dürfe. Ist Ihnen wirklich nicht bewußt, Herr Minister Müller, welche klägliche Nebenrolle Ihnen in diesem Spiel dann zugestanden wird, daß Sie in die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik als derjenige Minister eingehen werden, der für den Abgesang auf die
große Tradition Ludwig Erhards stehen wird?
({23})
Drohende Gefährdung der Geldwertstabilität, Raubzug gegen die kleinen und mittleren Betriebe, Wende zu
einer neuen Politik des Staatsinterventionismus: Bekommen Kanzler und Wirtschaftsminister eigentlich
nicht mit, was in der Wirtschaftspolitik hier jetzt wirklich angerichtet wird? Soll das die Politik der Neuen
Mitte sein? Oder: Wo ist der Kanzleramtsminister Hombach? Schreibt er gerade an einem neuen Buch über die
Angebotspolitik? Ich bin einmal gespannt, was dabei
alles noch herauskommt.
Besonders gespannt darf man ja auch auf die konkreten Entscheidungen in der Energiepolitik sein. Im Kern
geht es der neuen Regierung offenbar dabei um drei
Dinge: erstens Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes
mit dem Ziel der Beschränkung des Wettbewerbs, der
nun einmal eingetreten ist, zweitens Verteuern von
Energie durch Einführung von Ökosteuern und drittens
schnellstmöglicher Ausstieg aus der Kernenergie. Im
Ergebnis führen diese Maßnahmen zu Mehrbelastungen
für sämtliche Energieverbraucher, für die Industrie, für
den Mittelstand und für die privaten Haushalte, mit all
den negativen Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und die Arbeitsplätze in Deutschland.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik der
rotgrünen Bundesregierung wird gerade den neuen
Ländern schweren Schaden zufügen. Denn die neuen
Bundesländer werden ihren wirtschaftlichen Aufbauprozeß nur dann verstetigen können, wenn die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Engagement verbessert werden. Die bisher geleistete Aufbauarbeit war eine
beispiellose Gemeinschaftsleistung der Menschen in den
alten und in den neuen Bundesländern. Jetzt brauchen
die neuen Länder die Freiheit, um ihre Leistungskraft
auch ausspielen zu können. Das rotgrüne Experiment
wird diese Freiheit nicht zulassen. Deshalb ist dieses
Experiment für Deutschland so fatal, für die neuen wie
für die alten Bundesländer, für die Bürger und für die
Unternehmen, für die Rentner und die Sparer und vor
allem für die, die keine Arbeit haben, die Arbeitslosen.
Ich danke Ihnen.
({24})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers und
auch Ihre Rede, Herr Bundeswirtschaftsminister Müller,
haben deutlich gemacht: Wir haben nicht nur eine neue
Regierung, sondern wir bekommen auch eine neue, moderne und vor allen Dingen unideologische Wirtschaftspolitik.
({0})
Ich wünsche Ihnen, Herr Minister Müller, eine glückliche Hand und viel Erfolg bei der Führung Ihres umstrukturierten Hauses, in dem - zumindest war das zu lesen - künftig nicht mehr Beethovens Neunte, sondern
seine Chorphantasie Opus 80 zu hören sein wird, bei der
Sie sowohl den Taktstock führen, als auch die richtigen
Töne anschlagen wollen - bei großem Chor und hoffentlich nicht mit allzu vielen externen Solisten. Also
viel Erfolg bei den konzertierten Aktionen, die Sie vorhaben!
({1})
Sie haben wiederholt betont, daß Sie fest auf dem
Boden der sozialen Marktwirtschaft stehen. Ich glaube,
das ist ein guter Ausgangspunkt. Also machen wir uns
auf, gemeinsam Neuland zu beschreiten, beginnen wir
eine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik! Da Sie
auch an der Abwicklung der Kernenergie beteiligt sind,
haben wir gleich am Anfang eine große, anspruchsvolle
gemeinsame Aufgabe.
Während von Ihrem Vorgänger nur der Satz hängenbleiben wird, daß die Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet, wollen wir als rotgrüne Koalition den Beweis
antreten, daß auch Ökologie in der Wirtschaft stattfindet.
Wir brauchen den Aufbruch eines klassischen Industrielandes auf der Basis ökologischer Innovationen.
Denn nur durch nachhaltiges Wirtschaften werden wir
auf Dauer den gesellschaftlichen Wohlstand sichern
können, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören.
({2})
Unsere Koalition beginnt ihre Arbeit in einer sehr
schwierigen weltwirtschaftlichen Situation. Auch wenn
die Krisen in Asien, Rußland, Lateinamerika nicht
mehr die Schlagzeilen beherrschen, bewältigt sind sie
damit noch nicht. Die Weltbörsen scheinen zwar zur
Normalität überzugehen; die Politik aber kann es nicht.
Absatz und Gewinn vieler deutscher Unternehmen sind
von den weltwirtschaftlichen Turbulenzen betroffen.
Der Export ist ins Stottern geraten und mit ihm die zaghafte konjunkturelle Entwicklung.
Manch einer sieht diese deflationären Tendenzen aus
Südostasien bereits nach Amerika bzw. Europa überschwappen. Das scheint mir allerdings übertrieben zu
sein. Wir haben in Europa kein sinkendes Preisniveau.
Wir haben zwar stellenweise ein zu geringes, aber dennoch klar erkennbares Wachstum und eine hinreichende
Ausweitung der Geldmenge. Zudem gibt es im Zuge der
Zinskonvergenz einen ständigen Prozeß der Zinssenkung in Europa. Insofern schießen die diesbezüglichen
Ideen der letzten Tage über das Ziel hinaus.
Wenn auch die Gefahr einer deflationären Entwicklung gering ist, treffen uns diese Turbulenzen in einer
Situation, die von schwacher Binnenkonjunktur und einer unakzeptabel hohen und verfestigten Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. Unsere Antwort auf das verschlechterte Weltwirtschaftsklima muß deswegen eine
starke, europäisch ausgerichtete Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sein. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die planmäßige und möglichst störungsfreie Einführung eines stabilen Euro.
Früher wurden den neuen Bundesregierungen die ersten hundert Tage als Schonzeit angerechnet. Aber diese
alten Gepflogenheiten scheinen nicht mehr zu gelten.
Heute hat man eher den Eindruck, daß etliche Kritiker
den Abschlußtermin des Wahlkampfes verpaßt haben.
({3})
Doch mit oder ohne Schonzeit: Diese Regierung schont
sich nicht. Oder haben Sie, meine Damen und Herren,
die Sie in 16 Jahren mit vier Regierungsbildungen beauftragt wurden, schon einmal erlebt, daß eine Regierung so schnell im Amt war, so zügig ihre Arbeit aufgenommen hat und so schnell die ersten Schritte in die
Wege geleitet hat?
({4})
- Ob Ihnen das gefällt, ist eine andere Frage.
Wir stimmen durchaus mit solchen Meinungen wie
der von Herrn Schleyer, dem Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, überein, der
sagt: Die Politik darf sich nicht noch weiter vom Ziel
entfernen, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Weil die alte Koalition dabei völlig versagt hat, ist sie
doch abgewählt worden.
({5})
Sie haben doch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit
versagt, am Ende sogar vor ihr kapituliert. Mit Sozialabbau, mit Deregulierung, mit Privatisierung waren diese
Probleme eben nicht zu lösen. Von tatsächlicher Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Rahmensetzung war
jedenfalls nicht allzuviel zu merken.
Die Massenarbeitslosigkeit und die uneingelösten
Versprechen beim Aufbau Ost waren doch - neben dem
Wunsch nach einem Kanzlerwechsel - die eigentlichen
Hauptgründe für diese Wahlniederlage. Genau hier, bei
diesen Erwartungen, wollen wir unsere Schwerpunkte
setzen. Deswegen hat die neue Bundesregierung gleich
an den Anfang ein Bündnis für Arbeit und Ausbildung gesetzt. Walter Riester hat schon gestern die wesentlichen Punkte betont: ein Sofortprogramm, das
100 000 Jugendliche in Arbeit und Ausbildung bringen
wird, Ausbildungsplatzgarantie, neue Spielräume für
Arbeitszeitverkürzung und eine Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten von momentan 42,3 Prozent auf
unter 40 Prozent durch eine ökologische Steuerreform.
Ich habe ein Zitat von Herrn Peter Repnik vom
19. Mai 1995 gefunden:
Eine umweltorientierte Strukturreform des Steuersystems eröffnet für die Unternehmen langfristige
Wachstumschancen.
Vor Jahren haben Sie es doch noch gewußt! Wieso ist
dieses Wissen plötzlich verschüttgegangen?
({6})
Es ist also völlig unvernünftig, wenn Hundt und Henkel
und Stumpfe und Stihl jetzt Front gegen die Ökosteuer
machen. Ich glaube, hier haben wir viel Überzeugungsund Aufklärungsarbeit zu leisten. Diese Verbandsvertreter reden momentan gegen ihre eigenen Interessen.
({7})
Die Perspektive liegt in der Kombination von Arbeit und Umwelt. Wir führen kein neues Abkassieroder Umverteilungsinstrument ein. Wir wollen umsteuern und nicht so weiterrudern wie Sie in der Wirtschaftspolitik. Das ist der eigentliche Punkt.
({8})
Hier wird eine Offensive für neue Märkte, für neue
Produkte, für neue Arbeitsplätze eröffnet, wenn Sie so
wollen: auch für neue Berufsbilder. Deutschland kann
und wird und muß ein Testmarkt für Energieeinspartechnologien und regenerative Energien werden. Ich appelliere hier deutlich an die Wirtschaft: Nehmen Sie die
Signale ernst und stellen Sie sich darauf ein, daß erfolgreiches Wirtschaften in Zukunft mehr und mehr ökologisches, also nachhaltiges Wirtschaften sein wird. Das
wird sich für Sie lohnen.
({9})
Die Steuerentlastungsgesetze der rotgrünen Regierung dienen der Verbesserung von Wachstum und BeWerner Schulz ({10})
schäftigung. Die Investitionskraft der Unternehmen wird
gestärkt und die Binnennachfrage belebt. Auch wenn
Ihnen das zuwenig erscheint: Es ist eine seriöse Steuerentlastung und eben nicht die Petersberger Wundertüte,
die Sie ausschütten wollten. Wir haben keinen vollen
Jackpot geerbt, sondern leider nur die altbekannte Waigel-Melodie: „Wenn der Topf aber nun ein Loch hat ...“
Das ist die Situation. Wir haben eine Steuerreform vor,
die der derzeitigen Haushaltslage gerecht wird.
Abgesehen davon, daß die alte Regierung leider nicht
den Mut hatte, Ostdeutschland als Niedrigsteuergebiet
einzustufen, bringt diese Steuerreform vor allen Dingen
den neuen Bundesländern klare Vorteile, weil damit arbeitsplatzschaffende Investitionen gefördert werden.
Ich will allerdings nicht verschweigen, sondern kritisch anmerken, daß wir mit der Streckung von Steuerabschreibungsmöglichkeiten bei Baudenkmälern und der
Streichung bei der Altbausanierung Gefahr laufen, einen
wichtigen Prozeß zu verlangsamen: den der Stadterneuerung und Wohnungsmodernisierung, was der ohnehin
angeschlagenen ostdeutschen Bauindustrie nicht gerade
zugute kommen wird. Denn wenn der Aufbau Ost in
der Vergangenheit sichtbar wurde, dann durch die Erneuerung der Städte und Kommunen.
Ich komme aus Leipzig, einer Stadt, die offenbar
mehr Baudenkmäler hat als ganz Nordrhein-Westfalen,
wie ich überraschenderweise aus dem SchleußerMinisterium gehört habe. Das sollten wir aber nicht als
Zumutung begreifen, sondern als eine Herausforderung,
eine Chance. Die deutsche Einheit hat uns die Möglichkeit gegeben, diese Kleinodien zu erhalten. Das kann
doch nicht nur Herr Dr. Jürgen Schneider kapiert haben.
Leipzig hat noch immer die größten Gründerzeitquartiere Europas. Hier läuft allerdings ein Wettlauf
zwischen Erhalt und Zerfall. Nichts ist so gut, daß es
nicht nachgebessert werden kann. In dieser Hinsicht
müssen wir uns die Steuerreform noch einmal genau anschauen.
({11})
- Wir haben ein konstruktives Arbeitsverhältnis, das
auch Korrekturen zuläßt, Herr Ramsauer.
Wenn wir schon Steuerabschreibungs- und Steuersparmodelle ausdünnen, dann sollten wir auf zielgenauere Investitionen achten und bei dieser Gelegenheit vielleicht eine klare Trennung zwischen Steuer- und Förderrecht im Wohnungsbau schaffen.
({12})
In den vergangenen acht Jahren ist in den neuen Bundesländern viel erreicht worden. Die Ostdeutschen haben auf allen Gebieten beeindruckende Aufbauleistungen erbracht. Die Bürger Westdeutschlands und auch die
Bundesregierung - ich sage das ganz bewußt: auch die
Bundesregierung - haben das wirksam unterstützt. Ich
habe das trotz der Kardinalfehler in den ersten Jahren
der deutschen Einheit immer zu würdigen gewußt ganz im Gegensatz zu manchen aus der PDSOpposition, die jetzt Regierungsverantwortung in
Mecklenburg-Vorpommern übernommen haben und
dort vielleicht auf ihre eigenen Schadenshinterlassenschaften stoßen werden.
Wir werden die Aufbauhilfen fortsetzen. Doch damit
können und werden wir uns nicht zufriedengeben. Spätestens seit 1996 stagniert der wirtschaftliche Aufholprozeß Ostdeutschlands.
Das Bruttoinlandsprodukt verharrt bei 56 Prozent, die
Arbeitsproduktivität bei knapp 60 Prozent, und auch der
Kapitalstock wächst nicht mehr schneller als der westdeutsche. Gerade die Unterkapitalisierung Ostdeutschlands ist ja ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit.
Wir werden deswegen den Aufbau Ost ohne Wenn
und Aber fortsetzen. Wir machen aber keine unhaltbaren
Versprechungen. Die neue Bundesregierung wird nicht
mit der vollen Gießkanne über die Landschaften gehen
können und die in den Sand gesetzten Projekte zum
Blühen bringen. Doch wenn wir von den neuen Bundesländern sprechen, dann sollten wir dafür sorgen, daß
sie die modernsten, daß sie die zukunftsfähigsten Bundesländer werden. Nur dann macht der Begriff Sinn.
Deswegen sind bessere Bedingungen für Investitionen
und Innovationen für den Osten von besonderer Bedeutung. Wir haben das im Koalitionsvertrag durch ein spezielles Programm „Zukunft Ost“ unterstrichen.
Meine Damen und Herren, ich glaube nicht an die
Mauer in den Köpfen. Wir müssen eher das Brett davor
abstreifen. Wir können die mentalen Unterschiede nur
überwinden und produktiv machen, wenn wir aufeinander zugehen. Deswegen begrüße ich die Ankündigung
des Bundeskanzlers, daß das Kabinett regelmäßig in den
neuen Ländern tagen wird, daß der Anspruch „Chefsache“ dahin gehend eingelöst wird und Gestaltungskraft
bekommt, daß der Chef vor Ort sagt, was Sache ist, daß
wir uns nicht bei Problembetrachtungen aufhalten, sondern Problemlösungen anbieten. Wir werden Ihnen dabei helfen, wir werden Sie dabei unterstützen, daß das
eine Erfolgstournee wird, daß die Leute erkennen: Hier
ist eine handlungsfähige, eine leistungsfähige Regierung
im Amt, die sich um die angestauten Probleme im Osten
kümmern wird. Ich begrüße das sehr.
({13})
Wir, die Koalitionsfraktionen, haben dazu einen Ausschuß eingerichtet, der sich um die Angelegenheiten der
neuen Bundesländer kümmern wird. Wir hätten ihn
schon vor acht Jahren gebraucht, Herr Schäuble; wir wären vielleicht an mancher Stelle weiter, wenn wir diesen
Ausschuß gehabt hätten. Denn der Aufbau Ost ist eben
nicht nur ein Problem von Transferleistungen und Infrastrukturprojekten. Vielmehr ist es auch eine Frage, wie
wir die kulturellen Besonderheiten, wie wir die Lebenserfahrungen, wie wir die Wertevorstellungen in Ost und
West zusammenbringen und wie wir sie produktiv machen. In diesem Sinne ist Wirtschaftspolitik eben auch
Gesellschaftspolitik.
Werner Schulz ({14})
Alle Akteure in unserem Land müssen ihre eigenen
Interessen zurückstellen, damit die notwendigen Reformen gelingen. Das ist so bei der Steuerreform, dem
Bündnis für Arbeit und Ausbildung, dem Aufbau Ost
und der Ökosteuer. Wir werden diese Reformen nur bekommen, wenn einige bereit sind, auf ihre Maximalpositionen zu verzichten. Dann werden unter dem Strich
alle profitieren.
Die neue Bundesregierung ist entschlossen, den wirtschaftlichen Rahmen zu setzen, um die Massenerwerbslosigkeit abzubauen, um Investitionen und Innovationen in Gang zu bringen. Wenn ich mich recht entsinne, hat auch Kurt Biedenkopf einmal formuliert, daß
die ökologischen Grundlagen des Wirtschaftens als ein
Ziel der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung festgeschrieben werden sollten. Es ist uns Bündnisgrünen gelungen und es der Wille der rotgrünen Koalition, den
ökologischen Strukturwandel zu einer Richtschnur des
wirtschaftlichen Handelns der neuen Mehrheit zu machen. Das ist ein wichtiger Paradigmenwechsel, den wir
jetzt in die praktische Politik umsetzen.
({15})
Das Wort hat nun
der Kollege Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte
Damen und Herren! Folgt man den Worten des Bundeskanzlers, so sind wir von einem „Standort“ jetzt in einen
„Bewegungsort“ geraten. Es ist sicher, daß man einen
solchen Wechsel nur unter der Voraussetzung begrüßen
kann, Bewegung findet tatsächlich statt und die Richtung stimmt. Beides ist aber - das will ich hier deutlich
sagen - bei der Wirtschaftspolitik bisher noch höchst
ungewiß, zumindest wenn man die Probleme der Unternehmen und Existenzgründer nicht nur durch eine fiskalische Brille betrachtet.
Da setzt meine Kritik an der Regierungserklärung an.
Es ist alles zu sehr aus der fiskalischen Sicht betrachtet
worden. Wenn es dabei bliebe, wäre das schon der Anfang vom Ende des beschworenen wirtschaftspolitischen
Aufbruchs oder Wiederaufstiegs. Der Herr Bundeskanzler referierte ausgiebig über Steuerreformen und
Lohnnebenkosten. Die dabei vorgestellten Konzepte
sind entgegen allen Ankündigungen teils unausgegoren,
teils unökologisch, teils unsozial und damit letztlich
auch wirtschaftspolitisch noch fragwürdig.
({0})
Sie folgen der schon seit Jahren schmerzhaft widerlegten
Philosophie des Steuerns durch Steuern.
Wirtschaftspolitik soll wieder gemacht werden, wurde gesagt. Die Regierungserklärung und die Koalitionsvereinbarung erlauben bisher aber nur einen Schluß ich verstehe die Aufregung des Kollegen Wissmann
überhaupt nicht -: Es ist alter Wein in neuen Schläuchen. Herr Kollege Wissmann, was ist denn falsch an
den Überschriften „moderne Mittelstandspolitik“, „weniger Bürokratie“, „schnellere Innovation“, „besserer
Zugang zu neuen Technologien“, „effizientere Vermarktung“ und „Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten“?
All diese Fertigstücke waren auch schon in den verschiedenen Programmen und Erklärungen der alten Regierung enthalten. Das Problem sind doch nicht die
Überschriften, sondern es liegt darin, wie man diese
Überschriften ausfüllt. Dazu gibt es bisher noch keine
Kritik, weil noch keine Zeit war, sie auszufüllen.
({1})
Dabei hat der Bundeskanzler durchaus recht: Seine
Koalition hat kein wohlbestelltes Haus übernommen.
Deshalb müßte eine neue Architektur und nicht nur ein
bloßer Anstrich zu erwarten sein.
Eines wundert mich nicht: Der Bundeskanzler hat
von der Kreativität und der Innovationsfreude der Existenzgründer und Mittelständler geschwärmt. Gerade
damit jedoch glänzte seine Fraktion in der letzten Wahlperiode nicht. Eher rochen die wirtschaftspolitischen
Vorstellungen und Vorschläge die der SPD, nach noch
mehr Bürokratie und weniger Effizienz. Ich bin der
Meinung, Sie haben jetzt die große Chance, endlich den
Gegenbeweis anzutreten.
({2})
Die PDS wird ihre seit Sommer 1997 auf dem Tisch
liegenden Vorschläge zum radikalen Umbau der Förderkulisse neu einbringen. Ich freue mich, daß der Bundeswirtschaftsminister das Unwesen im Fördermittelbereich
angreifen will. Wirtschaftsförderung muß endlich bei
denjenigen ankommen, die sie tatsächlich brauchen: bei
den eigenkapitalschwachen Existenzgründern und den
Kleinunternehmern.
({3})
Sie muß sich endlich allein an dem Kriterium orientieren, das sie gerechtfertigt erscheinen läßt: an der Zahl
dauerhafter, soziale Sicherheit schaffender Arbeitsplätze.
({4})
Herr Kollege Schwanhold, am Montag haben mich 30
Mittelständler aus Thüringen besucht. Sie hatten sich
spontan zusammengefunden und einen Bus gechartert,
um denen in Bonn - so drückten sie es aus -, also uns,
ihre Existenzängste nahezubringen. Es war eine Menge
Frust aus dem Kreis derjenigen, die vom Wort her im
Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stehen, über Zahlungsmoral, Kammerbürokratie, Auftragsvergabe und
Wirtschaftskriminalität zu hören. Ich bin sicher, Herr
Kollege Schwanhold, daß Ihnen Ihr Referent das Bild
genauso geschildert hat; denn er hat nach mir mit Ihnen
gesprochen.
Am Dienstag - der Kanzler beschwor gerade die
Neue Mitte - wurde einer der Teilnehmer der Montagsrunde aus der „alten Mitte“ buchstäblich ausgeschlossen.
Dem 58jährigen Isolierungsmeister aus Schmiedefeld
am Rennsteig flatterte ein Brief des Amtsgerichts
Meiningen ins Haus: Gesamtvollstreckung über das eigene Vermögen. Das ist sein kleines Haus.
Werner Schulz ({5})
Seine fünf Beschäftigten arbeiten gerade im Emsland
- das nur zum Thema Mobilität und ökologischer Umbau -, und er hatte ihnen pünktlich den Lohn gezahlt
- Stichwort: Binnennachfrage -, aber der Innungskrankenkasse Südostthüringen fehlen mittlerweile 26 000 DM
an Sozialabgaben. Der vermeintliche Abgabenhinterzieher rennt jedoch selbst seit Februar über 22 000 DM und
seit August/September weiteren 9 000 DM einer Suhler
Firma hinterher. Für die hatte er als Subunternehmer
Aufträge in der Kyffhäuser-Kaserne in Bad Frankenhausen, in Sozialwohnungen in Schleusingen und im Frankfurter Römer ausgeführt. Als er am Dienstag Nachmittag
in der Suhler Firma erneut anrief, meldet sich dort nur
noch der Sequester. Nur am Rande sei erwähnt, daß der
Mann darüber hinaus seit 1994 weitere 70 000 DM an
Außenständen aus massenlosen Konkursen abschreiben
mußte.
Ich meine, es ist wichtig, auf Messen und in Diskussionen immer wieder auf erfolgreiche Mittelständler zu
zeigen. Wir dürfen uns aber nicht vormachen, daß nur
der erfolgreiche Mittelständler den Mittelständler verkörpert. Wir müssen uns auch und gerade um die kleinen und kleinsten Existenzen kümmern.
({6})
Ich habe diesen makaberen Fall ausgebreitet, weil er
mittlerweile auch im Westen und nicht nur im Osten,
wie der Bundeskanzler am Dienstag zum Thema Eigenkapital und Zahlungsmoral vielleicht angenommen hat,
symptomatisch ist. In ihm bündeln sich brennende Probleme, ohne deren Lösung die wirtschaftliche Gesundung zu vergessen ist. Sie wurden in der Regierungserklärung entweder gar nicht oder nur in Halbsätzen gestreift
({7})
- ich nenne jetzt die Punkte; Sie wissen doch gar nicht,
was ich sagen will -: Justizreform gerade im Wirtschafts- und Vertragsrecht - das können Sie nachlesen -,
das Generalunternehmerunwesen in der öffentlichen
Auftragsvergabe und Veränderungen zum Beispiel im
BGB und Strafrecht, um der grassierenden Zahlungsunmoral wieder Herr zu werden.
Es reicht nicht aus, eine neue Gründerzeit auszurufen
und eine Neue Mitte zu beschwören. Die alte Regierung
hat Rechtssicherheit - den Blutkreislauf des wirtschaftlichen Organismus - fatal vernachlässigt. Ohne dessen
sofortige Operation droht der Kollaps. Sie können gar
nicht so viele neue Existenzen fördern, wie bestehende
sonst zugrunde gehen, abgesehen davon, daß dann auch
die Lebenserwartung der Neulinge miserabel wäre und
daß Pleiten keine abstrakten statistischen Größen, sondern konkrete Schicksale sind. Wer „Deutschlands Kraft
vertrauen“ will, wie es das Motto der Regierungserklärung besagt, der muß überhaupt erst wieder Vertrauen
bei den Menschen in aufgestellte Normen schaffen.
Dies gilt gerade auch für die neuen Länder: Hier trieb
die abgewählte Regierung besonders viel Schindluder.
Außer neuen Namen und Amtsbezeichnungen hat aber
auch Rotgrün hier bisher noch nichts Konkretes angeboten. Wie wollen Sie Förderpräferenzen, Infrastruktur
und Innovationsfähigkeit in Ostdeutschland anders sichern, als es in der Kohl-Ära geschah? Denn diese
Überschriften sind ja schon seit langem sattsam bekannt.
Die PDS wird unter diese Überschriften, wie seit Jahren,
Texte setzen, die Vorschläge zum Handeln beinhalten.
Wir hoffen, daß Sie sich, meine Damen und Herren
auf den Koalitionsbänken, auf diesen Wettbewerb im
Interesse vieler Menschen mit uns einlassen. Nehmen
Sie unseren heutigen Antrag zur Airbus-Ansiedlung in
Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise als Angebot
einer vertrauensbildenden Maßnahme. Es ist schon ein
Unding, daß ein designierter Bundeskanzler den Osten
zur Chefsache erklärt und im gleichen Atemzug als
Noch-Ministerpräsident die Chancen eines ostdeutschen
Fertigungsstandortes verschlechtert, so wie es im Oktober geschah. Man kann zum Kollegen Kohl stehen, wie
man will, aber so etwas wäre beim Altbundeskanzler
nicht passiert.
({8})
Wir bieten Ihnen von der neuen Koalition die Chance,
diese Irritation nun auszuräumen. Dazu müssen Sie sich
nicht einmal bewegen.
Sollten Sie es aber in der Wirtschaftspolitik ansonsten
nicht tun,
({9})
so werden wir demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten Sie in den nächsten Jahren schon auf Trab bringen, damit - um ein Wortspiel Ihres Kanzlers aufzugreifen - aus dem „Standort“ tatsächlich ein „Lebensort“
mit neuer „Lebensart“ wird.
({10})
Das Wort hat nun die
Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wenn ich in meinem Wahlkreis gefragt werde, was denn „da oben in Bonn“ mein Aufgabengebiet sei, dann habe ich bisher immer sehr gern und
- das muß ich sagen - mit einem gewissen Stolz gesagt:
({0})
Ich kümmere mich um die Wirtschaftspolitik. Heute
könnte man jedoch schnell in den Verdacht kommen,
daß man für Messeeröffnungen und Spatenstiche zuständig ist.
({1})
Da ist mit einem einzigartigen Vorgang von jemandem das Wirtschaftsministerium ausgehöhlt worden, um
jemandem seine Machtkompetenz zu erweitern - die
wichtigste Abteilung mit Grundsatzreferaten ist in das
Finanzministerium verlegt worden -, und derjenige, den
das betrifft, hält es nicht einmal für wert, bei dieser Debatte dabeizusein.
({2})
Nichtsdestoweniger werden wir Wirtschaftspolitiker
von der Union es uns nicht nehmen lassen, zukünftig
Wirtschaftspolitik, wie wir sie verstehen, in ihrer Gesamtheit zu machen.
Herr Minister Müller, Sie sind wirklich nicht zu beneiden. - Aber ich sehe, daß es dem Minister nicht mehr
wert ist, der Debatte zu folgen.
({3})
Man hat das Gefühl, daß er in wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen seine Meinung nicht äußern darf. Sie
sind an eine rotgrüne Koalitionsvereinbarung gebunden
und müssen gegenüber gestandenen Unternehmern alte
Thesen aus den 70er Jahren vertreten.
Wie schwer Sie es haben, hat jeder bemerkt, der Ihr
Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 5. November 1998 gelesen hat. Darin sagen Sie unter anderem: Bei der Diskussion über Nachfrage- und Angebotspolitik stehe ich „zwischen Baum und Borke“: Weiter
antworten Sie auf die Frage, was Sie denn von der Reform der 620-DM-Jobs halten, da seien Sie „etwas hinund hergerissen“. Zu der Liberalisierung des Energiemarktes - ein Thema, bei dem Sie ja ein Experte sein
sollen -, sagten Sie: „Da habe ich ... zwei Seelen in meiner Brust.“ Das sind Aussagen, die zeigen doch, welche
Qual es sein muß, in einer rotgrünen Regierung Wirtschaftspolitik machen zu müssen.
({4})
Aber die Schizophrenie steckt dabei im System: Da
wird im Wahlkampf der unternehmerische Mittelstand
als Neue Mitte hofiert. Den Selbständigen und Freiberuflern wird eine heile Welt versprochen. Doch was passiert, kaum daß die Wahl vorbei ist? Es wird bei denjenigen abkassiert, die Arbeitsplätze und Lehrstellen
schaffen sollen; es wird der Entwurf einer sogenannten
Steuerreform präsentiert, der eine Mehrbelastung der
Unternehmen in verschiedenen Stufen vorsieht; verteilungspolitische Wohltaten werden nahezu ausschließlich
über die Steuergelder der Unternehmen finanziert; dem
Mittelstand wird die Liquidität entzogen, die er momentan so dringend braucht; und Investitionen werden
erschwert.
({5})
Ich nenne nur ein Beispiel: die Streichung der Teilwertabschreibungen. Das trifft doch gerade unseren
mittelständischen Einzelhandel, der es zur Zeit zusammen mit der Bauwirtschaft am schwersten hat. Einzelhändler sollen den Wertverlust ihres Warenbestandes
nicht mehr in den Büchern berücksichtigen dürfen!
({6})
Denn eine Handelsware hat im Jahre 1998 nicht mehr
unbedingt den gleichen Wert wie 1997; vielleicht ist sie
nur noch einen Bruchteil wert. Das ist Realität und kein
„Abschreibungskunststück“, wie Sie es behaupten. Sie,
meine Damen und Herren, besteuern in der Zukunft
Scheingewinne. Auch das muß man ganz klar und deutlich sagen.
({7})
Der stärkste Hammer ist der sprachliche Mißbrauch,
der mit dem Begriff Ökologie getrieben wird. Dieser
Begriff wird nur zur Gewinnung von zukünftigen Steuereinnahmen mißbraucht. Das ist ein besonders übler
Streich, den man dem Mittelstand spielt. Bei vielen
Handwerksbetrieben machen die Energiekosten schon
heute bis zu 11 Prozent ihrer Gesamtkosten aus. Das ist
oftmals mehr als in der energieintensiven Industrie - in
der chemischen Industrie sind es zum Beispiel nur
3,7 Prozent. Das sind dann die Unternehmen, für die es
Ausnahmeregelungen geben soll. Damit wird die Ökosteuer zu einer „Handwerks-Sondersteuer“.
({8})
Eine Differenzierung zwischen energieintensiv und
nicht energieintensiv ist willkürlich und wird auch nicht
der individuellen Situation der Unternehmen gerecht.
Außerdem ist fraglich, ob nicht sogar ein Verstoß gegen
EU-Richtlinien gegeben ist, weil ein neuer Subventionstatbestand geschaffen wird - unabhängig davon, daß
ausländische Unternehmen, die energieintensiv arbeiten,
zukünftig einen riesengroßen Bogen um unser Deutschland machen werden.
({9})
Das Motto der Politik der neuen Regierung ist mit
„Mehr Staat, weniger Markt“ treffend umschrieben. Mit
sozialer Marktwirtschaft hat das - obwohl Sie es immer
gerne behaupten - nichts mehr zu tun.
({10})
Anstatt Marktkräften freien Raum zu geben - was dringend notwendig wäre -, machen Sie weiterhin Ihre Umverteilungspolitik, wie wir es von Ihnen schon immer
gewohnt waren.
({11})
Aber es reicht Ihnen ja nicht, daß die neue Regierung
ihre nachfrageorientierten Experimente in der Steuerund Abgabenpolitik durchführt; es geht ja sogar so weit,
daß der Herr Finanzminister und sein Staatssekretär den
Tarifparteien ganz offiziell das Motto vorgeben: „Jetzt
macht in eurer Lohnpolitik einmal ein Ende der Bescheidenheit.“ Das heißt, zu den Fehlentscheidungen bei
Steuern, Sozialversicherungen und Arbeitsrecht drohen
auch noch tarifpolitische Fehlentscheidungen hinzuzukommen.
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, es ist doch
blauäugig zu glauben, daß man eine Wirtschaft nur mit
Konsum ankurbeln könnte.
({12})
Wer sagt denn den Menschen, daß sie jetzt nur deutsche
Produkte kaufen können? Haben wir in unseren Läden
denn nur deutsche Produkte? Wenn Sie das aber nicht
sagen, profitieren viele, viele andere - nicht nur die
deutsche Wirtschaft. Die entscheidende Größe für wirtschaftlichen Aufschwung ist Investieren und nicht nur
Konsumstimulierung.
({13})
Aber gerade bei den Investitionsbedingungen wird von
der jetzigen Regierung der Rotstift angesetzt. Da ist es
nur eine Frage der Zeit, bis die Investitionstätigkeit in
unserem Land einbrechen und der Aufschwung am Arbeitsmarkt ein jähes Ende finden wird.
Meine Damen und Herren, der Standort Deutschland
geht schwierigen Zeiten entgegen.
({14})
Das Wort hat der
Kollege Ernst Schwanhold, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Wirtschaftsminister Müller, auch ich möchte Ihnen nach Ihrer Rede,
in der Sie Ihre Grundkonzeptionen dargelegt haben, unsere Unterstützung aus der Fraktion der SPD zusagen.
Wir halten Ihre Konzeption für eine gute und vertrauensvolle Basis.
({0})
Die neue Regierung hat eine Aufgabe, die von besonderer Bedeutung ist: die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Hier hat sie das Erbe, welches die alte Regierung uns
hinterlassen hat, abzuarbeiten. Annähernd 4 Millionen
Arbeitslose sind nach wie vor ein Skandal in dieser Gesellschaft, der beseitigt werden muß.
({1})
Die Wirtschafts- und Technologiepolitik hat dafür eine Schlüsselrolle. Der Bundeskanzler hat die Herausforderungen an die Wirtschaftspolitik deshalb in das Zentrum seiner Regierungserklärung gestellt und hervorgehoben: Es ist endlich an der Zeit, daß wieder Wirtschaftspolitik gemacht wird. Sie ist in den vergangenen
Jahren zu wenig und wenn, dann falsch gemacht worden.
({2})
Das ist gleichermaßen Aufforderung und Selbstverpflichtung für die neue Bundesregierung. Es ist Aufforderung an die Tarifpartner, im Dialog an der Formulierung einer neuen Wirtschaftspolitik mitzuwirken. Es ist
Selbstverpflichtung der Bundesregierung, um die Versäumnisse von CDU/CSU und F.D.P. aus der Vergangenheit schnellstmöglich zu überwinden. Die Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben die Aufgabe, dies mit ganzer Kraft zu unterstützen. Ich selber und
wir als SPD-Bundestagsfraktion werden den Dialog mit
der Wirtschaft fortsetzen, so wie wir dies in der Vergangenheit getan haben.
({3})
Markt und Wettbewerb sind Grundlage unserer
Wirtschaftsordnung. Dazu steht die Bundesregierung,
dazu stehen die sie tragenden Fraktionen. Mit diesem
Bekenntnis ist aber nur der Ausgangspunkt für die Aufgaben der Wirtschaftspolitik beschrieben.
Die Weiterentwicklung und die Neubelebung von der
sozialen zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft ist
die Aufgabe der nächsten Jahre. Die soziale Marktwirtschaft braucht einen Ordnungsrahmen, um ihre Zielsetzungen zu verwirklichen, Wohlstand für alle zu schaffen. In einer Zeit mit zunehmender weltwirtschaftlicher
Verflechtung, steigendem Wettbewerbsdruck und hohen
Arbeitslosenzahlen heißt dies: Anreize für die Schaffung
neuer Arbeitsplätze setzen und Rahmenbedingungen zur
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit schaffen. Genau mit
dieser Zielsetzung tritt die neue Bundesregierung an.
Die Ausgangslage ist allerdings schwierig. Die alte
Bundesregierung hat in den 16 Jahren eine unverantwortlich hohe Staatsverschuldung aufgetürmt. Das
schränkt die Handlungsspielräume ein. Die Asienkrise,
die Krise in Lateinamerika und die Krise in der ehemaligen Sowjetunion dämpfen die Wachstumserwartungen
der exportorientierten Volkswirtschaften, insbesondere
die der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben in den
letzten Jahren diese Krisen nachdrücklich unterschätzt
und ignoriert.
({4})
Es wird notwendig sein, wieder mit makropolitischen
Maßnahmen diesem Übel und diesen Schwierigkeiten zu
begegnen. Wir brauchen eine Stütze der Volkswirtschaft. Die Stützen der Volkswirtschaften und der weltweiten wirtschaftlichen Tätigkeit werden Europa und
Amerika sein; deshalb ist Kooperation zwischen Europa
und Amerika in besonderem Maße notwendig. Der neue
Wirtschaftsminister wird viel zu tun haben, um diesen
Dialog zu beleben und zu gemeinsamen und abgestimmten Maßnahmen zu kommen.
Zum einen geht es darum, im nationalen und im internationalen Rahmen die Wirtschafts-, Finanz- und
Geldpolitik besser abzustimmen; sie müssen sich in der
Zielsetzung gegenseitig verstärken, mehr Arbeitsplätze
zu schaffen. Die Nutzung von Spielräumen, insbesondere zur Senkung der Realzinsen, ist wichtig, solange die
Preisstabilität nicht gefährdet wird. Bei den Realzinsen
gibt es deutliche Spielräume. Diese zu nutzen ist durchaus ein Ziel, welches auch öffentlich diskutiert werden
muß. Die erste Maßnahme ist ausdrücklich begrüßenswert.
({5})
Darüber hinaus brauchen wir eine verstärkte Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf europäischer Ebene. Nur so kann der Euro ein Erfolg werden,
der den Binnenmarkt vollendet. Schließlich muß eine
Harmonisierung der Steuersätze in der EU dem unsinnigen Steuersenkungswettlauf ein Ende bereiten. Es
kommt eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik
hinzu, die sich auch Projekte vornimmt, zum Beispiel
den Ausbau der transeuropäischen Netze. Wie soll eigentlich sonst die Weiterentwicklung des europäischen
Integrationsprozesses vorangetrieben werden?
({6})
Im nationalen Rahmen stehen drei Aufgaben im Vordergrund: Erstens gilt es, dem Mittelstand neue Zukunftsperspektiven zu eröffnen,
({7})
zweitens brauchen wir eine Offensive für neue Technologien, und drittens muß es darum gehen, in der Außenwirtschaftspolitik neue Akzente zu setzen. - Herr Kollege Hirche, Herr Kollege Rexrodt, ich weiß gar nicht,
was die Zwischenrufe sollen. In Scharen sind Ihnen die
Mittelständler bei den letzten Wahlen weggelaufen. Das
taten sie doch nicht wegen der glänzenden Erfolge Ihrer
Politik, sondern weil Sie sie vernachlässigt haben.
({8})
Moderne Mittelstandspolitik wird sich am Dialog mit
den Unternehmen orientieren. Diesen Dialog haben wir
in der vergangenen Periode begonnen, und wir werden
ihn in dieser Periode fortsetzen. In dieser Legislaturperiode ist es die Aufgabe der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, die Neue Mitte, die eine Schlüsselstellung in der Gesetzgebungspolitik und in der Regierungspolitik hat, zu stärken. Dies unterstütze ich ausdrücklich. Hierzu gehören die folgenden Schwerpunkte:
Erstens. Die Entlastung des Mittelstandes durch eine
Steuerreform und die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ist bereits angelegt worden. Dabei haben wir
sehr genau die einzelnen Instrumente auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Dies ist geschehen und geschieht
weiterhin. Die mittelständische Wirtschaft ist beschäftigungsintensiver und wird deshalb zu den Profiteuren der
Steuer- und Abgabenreform gehören.
({9})
Die Mittelstandsförderung muß gebündelt werden.
Wenige Programme, nicht 670, dafür aber mit mehr Effizienz - das ist unsere Devise. Konkret bedeutet das
wenige Förderbausteine, die kombiniert werden können,
um vor allem die Eigenkapitalbasis, die Innovationsfähigkeit und die Existenzgründung in der mittelständischen Wirtschaft zu erleichtern. Zur Stärkung des Mittelstandes wird auch die Steuerreform beitragen. Die
Senkung auf 43 Prozent für alle gewerblichen Einkünfte
ist ein Schritt in die richtige Richtung, über den Sie
16 Jahre lang geredet haben, bei dem Sie aber nichts zustande gebracht haben.
({10})
Zweitens. Die Schaffung eines neuen Gründerklimas
und einer Aufbruchstimmung ist eine weitere vordringliche Aufgabe. Dies gilt insbesondere für die neuen
Bundesländer, wobei ich allerdings darauf hinweisen
will, daß auch die Bestandspflege für die Unternehmen
von besonderer Bedeutung ist, die bei ihrer Etablierung
in den Märkten Finanzierungsschwierigkeiten haben.
({11})
Die Selbständigenquote in Deutschland liegt bei
rund 10 Prozent. Es muß das Ziel sein, mit dem internationalen Maßstab Schritt zu halten. Wir brauchen eine
Selbständigenquote von 14 bis 15 Prozent. Dies ist eine
starke Aufgabe, der wir uns in den nächsten Jahren verpflichtet fühlen.
({12})
Zur Mobilisierung von Chancenkapital werden wir
die gesetzlichen Rahmenbedingungen verbessern. Wir
fordern ausdrücklich die Banken und Sparkassen auf,
auch in den Regionen dafür den institutionellen Rahmen
zu bieten und sich neuen Produktideen zu öffnen und
nicht immer nur die Frage nach der Sicherheit „über die
feuchte Wiese“, also im Hinblick auf Grundstücke, zu
stellen. Die Beurteilung von neuen Produkt- und Geschäftsideen ist wichtige Aufgabe auch des Bankensystems; es muß sich dieser Aufgabe verstärkt stellen.
({13})
Drittens. Wir brauchen eine Umorientierung der Forschungsförderung auf eine breite, anwendungsorientierte
Förderung von neuen Technologien. Hierzu gehört ein
besserer und intelligenterer Transfer von Wissen und
neuen Technologien von den Hochschulen und Forschungseinrichtungen in die mittelständischen Unternehmen. Es ist geradezu schlimm, daß wir nur
30 Prozent der Grundlagenforschung in Produkte und
Geschäftsideen umsetzen. „Mehr, besser und schneller“
lautet die Aufgabe anwendungsorientierter Forschungsförderung bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in Geschäftsideen und Produkte.
Viertens. Mittelstandsfreundliche Antrags- und Genehmigungsverfahren sind notwendig. Dies geht nur mit
dem Abbau von Bürokratien und mit der Schaffung eines schlanken Staates. Übrigens läßt dieser schlanke
Staat auch für viele Selbständige und Freiberufler Betätigungsmöglichkeiten für neue Geschäftsideen. Dies
wird neue Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft schaffen
und insgesamt zur Entlastung am Arbeitsmarkt beitragen.
Fünftens. Wir brauchen die Sicherung der Qualität
von Handwerksleistungen. Der Große Befähigungsnachweis ist und bleibt Voraussetzung für die Selbständigkeit im Handwerk. Der Meisterbrief hat sich bewährt. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich einen
Dank an die vielen Handwerksmeisterinnen und -meister
richten, die sich in der Vergangenheit in besonderem
Maße der Ausbildung junger Menschen zugewandt und
dabei eine erhebliche Leistung gebracht haben.
({14})
Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung
wird auch in Zukunft zu dem Großen Befähigungsnachweis stehen. Gleichwohl gibt es Probleme beim Generationenwechsel in bestehenden Betrieben und bei Existenzgründungen. Deshalb wollen wir eine berufsbegleitende Erlangung des Meisterbriefes in begründeten
Ausnahmefällen, die allerdings weiter als zum gegenwärtigen Zeitpunkt gefaßt sein müssen, möglich machen. Der große Befähigungsnachweis bleibt allerdings
die Regel.
Ich will auch ein Wort an die Handwerkskammern
richten, die sich über die in der Industrie entstandenen
Arbeitsplätze im Bereich des Trockenbaus beklagen und
diese an den Pranger stellen: Es sollten nicht, wie dieses
zur Zeit geschieht, durch Wettbewerb zwischen Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern
Arbeitsplätze vernichtet werden. Die Zugehörigkeit zu
einer Kammer kann nicht zur Richtschnur für die Entscheidung zur Schaffung neuer Arbeitsplätze werden.
Hier ist mehr Toleranz und mehr Miteinander gefordert.
({15})
Der Förderung neuer Technologien muß in der
Wirtschaftspolitik eine herausragende Bedeutung zukommen. Unsere Volkswirtschaft ist mit Spitzenprodukten in den industriellen Leitbranchen des 20. Jahrhunderts stark geworden: Im Automobilbau, in der chemischen Industrie, beim Maschinenbau und bei der
Elektrotechnik standen und stehen wir an der Spitze.
Diese Technologien müssen auch mit Blick auf das
21. Jahrhundert ausgebaut und modernisiert werden,
damit wir unsere Stellung in diesen Bereichen halten.
Wir wollen diese Bereiche um moderne Verkehrstechnologien für Schiene und Straße zur Sicherung von umweltgerechter Mobilität im Inland und zur Sicherung der
Exportstärke deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten ergänzen.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir aber
verstärkt auf die Zukunftstechnologien setzen. Wir wollen die Wachstumspotentiale der Bio- und Gentechnologie ausschöpfen. Sie schaffen zukunftssichere Arbeitsplätze in Deutschland. Sie bringen einen Innovationsschub bei der Entwicklung neuer Medizinprodukte und
tragen zur Lösung des Welternährungsproblems bei. Zu
den Zukunftsbranchen gehören auch Güter und Dienstleistungen für den Umweltschutz. Hier geht es um neue
Werkstoffe, Technologien zur Energieeinsparung, produktintegrierten Umweltschutz und vieles mehr.
Auch die Informations- und Kommunikationstechnologie kann einen wesentlichen Beitrag zu Verbesserungen im Bereich der Umwelt leisten. Umweltschutz
und Wachstum auch bei neuen Technologien werden
zwei Seiten einer Medaille sein. Wir werden sie zueinanderführen müssen und dürfen sie nicht als Gegensatz
verstehen. Darin drückt sich moderne Wirtschaftspolitik
aus.
({16})
Die Ausgangslage der deutschen Wirtschaft ist in bezug auf die Substanz der Unternehmen gut. Ehrgeizige
Ziele in der deutschen Umweltpolitik haben dafür gesorgt. Mit der ökologischen Steuerreform werden wir
zusätzliche Anreize für technologische Innovationen
schaffen.
In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die
Bedeutung des Dienstleistungssektors für die Schaffung von Arbeitsplätzen hervorheben. Mit der Einrichtung von Dienstleistungsagenturen können wir der bestehenden Nachfrage ein bezahlbares Angebot gegenüberstellen. Aus Gründen des Erhalts und der Schaffung
von Arbeitsplätzen sollten wir auch mehr Aufmerksamkeit auf den Sektor Fremdenverkehr und Tourismus lenken. Hier arbeiten etwa 2 Millionen Menschen, die einen
beachtlichen Teil unseres Sozialproduktes erwirtschaften.
Schließlich benötigen wir in Ergänzung hierzu eine
moderne Außenwirtschaftspolitik aus einem Guß. Die
Instrumente der deutschen Außenwirtschaftspolitik müssen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern gebündelt werden. Das schafft mehr Transparenz für die Beteiligten und stärkt die Effizienz der eingesetzten Mittel.
Hier werden die Außenhandelskammern eine wichtige
Funktion übernehmen, die es auszubauen gilt. Wir werden sehr schnell in einen intensiven Dialog mit allen
Beteiligten treten, um ein zukunftsfähiges Konzept für
eine gebündelte Außenwirtschaftspolitik zu formulieren.
Unsere Leitlinien dafür sind: besserer Zugang für den
Mittelstand zu den Zukunftsmärkten, Bündelung der
Aktivitäten im Außenwirtschaftsbereich und Schaffung
der institutionellen Strukturen.
Darüber hinaus wird die neue Bundesregierung ihren
Beitrag zur Stärkung der internationalen Kooperation
durch konstruktive Mitarbeit in den internationalen Organisationen leisten. Wir wollen dabei Impulse geben
für eine Stärkung der Welthandelsorganisation und ihrer
Entscheidungskompetenzen, für die Einrichtung eines
Frühwarnsystems bei Turbulenzen auf den internationalen Finanz- und Währungsmärkten und zur Entwicklung
verbindlicher Vereinbarungen für eine wirksamere Banken- und Börsenaufsicht im internationalen Rahmen.
Die Bundestagsfraktion, Herr Minister Müller, wird
Ihnen dabei verläßlicher Partner und, wo nötig, auch
fordernder und selbstbewußter Antrieb sein.
({17})
Das Wort hat nun die
Kollegin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Frau Wöhrl, mit großer Verwunderung habe ich vorhin zur Kenntnis genommen, daß Sie nunmehr
der Meinung sind, wir würden die Ökologie mißbräuchlich zur Kostensenkung verwenden. Ich möchte Ihnen
dazu sagen, daß wir das Abgabengleichgewicht zwiErnst Schwanhold
schen der Belastung des Faktors Arbeit und der Belastung des Faktors Umwelt herstellen und dadurch Anreize schaffen, um in Schlüssel- und Zukunftstechnologien
zu investieren.
Darüber hinaus möchte ich Sie, Frau Kollegin Wöhrl,
daran erinnern, daß Ihre Regierung seit Anfang der 90er
Jahre bis zum 27. September dieses Jahres die Mineralölsteuer um über 20 Pfennig erhöht hat, aber mitnichten
um ökologisch umzusteuern. Sie haben versucht, damit
Ihre unsolide Haushaltspolitik zu kompensieren, und
nichts anderes.
({0})
Verehrter Herr Kollege Wissmann und Herr Kollege
Friedhoff, ich habe mich sehr gewundert, wieviel Angst
in Ihren Beiträgen heute morgen zum Vorschein kam,
nur weil eine kluge, kreative, charmante und gutaussehende Frau, die Ehefrau des Herrn Finanzministers, mit
ihm in der Öffentlichkeit auftritt. Vielleicht täte es auch
Ihrer Kreativität gut und würde Ihren Strukturkonservatismus etwas zurückdrängen, wenn auch Sie mit Ihren
Frauen in der Öffentlichkeit auftreten würden.
({1})
Herr Minister Müller, wir teilen Ihre Position „Jetzt
oder nie“. Wir brauchen Reformen in der Wirtschaftspolitik. Wir freuen uns auf eine gedeihliche Zusammenarbeit.
Moderne Wirtschaftspolitik muß heute - das ist die
zentrale Herausforderung - die Voraussetzung dafür
schaffen, daß die Balance zwischen moderner Wertschöpfung, sozialer Integration, ökologischer und finanzpolitischer Nachhaltigkeit und politischer Demokratie gefunden wird. Wir werden die Rahmenbedingungen für einen Ausgleich schaffen, damit die Balance
zwischen Freiheitswerten, Gleichheitswerten, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und einer neu definierten
Solidarität und Nachhaltigkeit gefunden wird.
Eine der Voraussetzungen für die Herstellung dieser
Balance ist die Demokratisierung von Politik. Meine
sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU
und F.D.P., jeder Wissenschaftler sagt Ihnen heute: Es
muß mit dieser Schützengräbenpolitik Schluß sein. Beenden Sie endlich die ideologische Debatte „Angebot
versus Nachfrage“! Diese Debatte ist von vorgestern,
verstaubt und hilft nicht weiter. Spätestens Ihre Politik
hat das gezeigt. Wir brauchen eine intelligente Mischung aus Angebot und Nachfrage - Punkt.
({2})
Wir brauchen eine Verantwortungsdemokratie. Wir
brauchen ein Bündnis für Arbeit, wie es der Arbeitsminister gestern dargestellt hat. Dieses Bündnis ist nicht
nur ein Instrument und ein Konzept, sondern es ist auch
der Ausdruck einer neuen politischen Kultur, für die
diese Koalition steht.
Der Kernmotor der deutschen Wirtschaft - auch das
hat der Herr Minister gesagt - ist der Mittelstand. Er
hat die Ausbildungs- und Arbeitsplätze in der Vergangenheit nicht nur erhalten, sondern auch neue geschaffen. Wir werden die Rahmenbedingungen für unseren
Mittelstand, um den uns ganz Europa beneidet, verbessern. Das heißt konkret: Wir werden mit einem Bürokratie-TÜV endlich Ernst machen. Wir werden das
Wirrwarr von Verordnungen und Gesetzen lichten, das
Sie aufgebaut haben. Wir werden die Anzahl der Fördertöpfe reduzieren, indem wir sie zusammenfassen.
Wir werden damit die Voraussetzungen für wirtschaftliche Aktivität und für Wettbewerbsfähigkeit in diesem
Land verbessern.
Wir werden die Eigenkapitalsituation der kleinen
und mittleren Unternehmen verbessern, die sich in den
letzten Jahren systematisch zu Lasten von Investitionen,
Innovationen und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen verschlechtert hat. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten, daß im Kontext der Unternehmensteuerreform eine
Tarifabsenkung bei der Besteuerung des Gewerbeertrags
auf 35 Prozent erfolgt und daß bis dahin der Verlustrücktrag zur Entlastung der kleinen und mittleren Unternehmen erhalten bleibt.
({3})
Wir werden im Kontext des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes endlich die Voraussetzung dafür schaffen, daß alle Kapitalanlageformen steuerlich gleichgestellt werden. Wir müssen für die Generation der Erben
Anreize schaffen, damit sie endlich in Produktivkapital
und Arbeitsplätze investieren. Nur so werden wir Gemeinwohlinteressen und Renditeerwartungen perspektivisch koppeln können. Dafür stehen wir.
({4})
Wir werden die Voraussetzung dafür schaffen, daß
Aktienkapital breiter gestreut wird. Wir werden die Voraussetzung dafür schaffen - dafür steht diese Koalition -,
daß der Dialog zwischen Wirtschaft und Wissenschaft
verbessert wird, und zwar nicht nur mit den Herren
Henkel, Stihl und Schleyer. Wir werden mit der neuen
Generation in den Verbänden und mit der Wissenschaft
zu sprechen haben, um zu einer stärkeren Koppelung
zwischen den Zukunftstechnologien und den wirtschaftlichen Akteuren zugunsten von mehr Existenzgründungen, auch aus der Hochschule heraus, und zugunsten
eines humankapitalintensiven Dienstleistungsbereichs zu
kommen.
({5})
Meine Damen und Herren, wir werden die Rahmenbedingungen für Investitionen verstetigen und somit Anreize für Investitionen schaffen. Wir werden sehr genau
zu prüfen haben, ob die Verfaßtheit der Industrie- und
Handelskammern in Form der Zwangsmitgliedschaft
und der Zwangsbeiträge heute noch zeitgemäß ist. Wir
werden zu prüfen haben, ob es nicht klüger wäre, die
IHKen zugunsten von mehr Dienstleistungsorientierung
Margareta Wolf ({6})
umzustrukturieren, um für den Mittelstand eine gute
Vertretung zu schaffen und ihn somit zu stärken.
({7})
Anschließend an das, was Sie, Herr Kollege Schwanhold, in Ihrer Rede gesagt haben, möchte ich feststellen:
Wir müssen auch prüfen, ob die Handwerksordnung
noch zeitgemäß ist, ob sie Gewerbefreiheit - dies ist ein
zentraler Grundstein der sozialen Marktwirtschaft - tatsächlich garantiert, ob sie dienlich ist, Qualitätssicherung und Gewerberechtsvereinfachung innerhalb von
Europa zu fördern, oder ob sie das in ihrer jetzigen Verfaßtheit nicht tut.
({8})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Hinsken?
Von meinem alten Freund Hinsken gerne.
({0})
Verehrte Frau Kollegin
Wolf, ich nehme Ihnen ja ab, daß Sie der Meinung sind,
daß man die Meisterprüfung als Eingangsvoraussetzung dafür, sich selbständig zu machen, nicht mehr
braucht. Sie haben diese Linie immer vertreten. Heißt
das, daß Sie sich bei den Koalitionsverhandlungen dahin
gehend durchgesetzt haben, daß man die Meisterprüfung
als Eingangsvoraussetzung für die Selbständigkeit zukünftig nicht mehr braucht? Ich kann mir nicht vorstellen - da kann ich dem Kollegen Schwanhold überhaupt
nicht folgen -, daß, wenn jemand weiß, daß über Ausnahmetatbestände die Möglichkeit gegeben ist, sich
trotzdem selbständig zu machen, davon nicht ausgiebig
Gebrauch gemacht wird.
Verehrter Herr Kollege Hinsken, ich erwarte schon von einem Oppositionspolitiker - zudem
von einem ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretär -,
daß er die Koalitionsvereinbarung der neuen Regierung
gelesen hat. Dort können Sie nachlesen, daß wir die
Voraussetzungen für mehr Selbständigkeit im Handwerk
verbessern werden, daß wir berufsbegleitend die Möglichkeit eröffnen, die Meisterprüfung zu machen. Kollege Schwanhold hat sich mit dem Satz durchgesetzt - das
haben Sie soeben schon gehört -: Der große Befähigungsnachweis bleibt erhalten.
Zusammengefaßt heißt dies nichts anderes, als daß
wir uns im Zuge der Europäisierung des Gewerberechtes
und im Zuge einer neuen Existenzgründungswelle im
Handwerk dafür einsetzen werden, den Zugang zum
Handwerk zu erleichtern. Sie kennen meine Vorstellung:
Wir müssen überlegen, ob wir das nicht so wie die Franzosen tun, indem wir zum Beispiel die nicht gefahrgeneigten Berufe vom Zwang der Meisterprüfung als Voraussetzung für Selbständigkeit befreien und sagen, man
könne den Meister als eine Art Qualitätssiegel machen.
Dies könnte, wie ich meine, zum Beispiel für den Beruf
des Maskenbildners bzw. der Maskenbildnerin gelten,
der jetzt Bestandteil der Handwerksrolle B ist.
Wir wollen diesen Bereich auf der europäischen Ebene zugunsten einer Qualitätssicherung ein wenig deregulieren. Wir wollen natürlich nicht, daß das nicht vorhandene Handwerksrecht Spaniens in Europa Referenzrecht wird. Wir wollen mehr Anreize schaffen für Existenzgründungen, und zwar gerade im klassischen
Dienstleistungsbereich rund ums Haus. Sie können das
in unserer Koalitionsvereinbarung nachlesen.
({0})
- Er stellt immer zwei Fragen. Das kennen wir schon.
Bitte.
Frau Kollegin Wolf,
Sie haben ein bißchen herumgeeiert und meine eigentliche Frage nicht beantwortet.
({0})
Deckt sich Ihre Meinung - Sie sind ja jetzt Mitglied der
Regierungskoalition - auch mit der Meinung des neuen
Wirtschaftsministers Herrn Müller - können Sie dahin
gehend auch eine Aussage treffen? -, was indirekt bedeuten würde, daß der große Befähigungsnachweis, die
Meisterprüfung, an der er festhalten möchte, als Eingangsvoraussetzung für den Handwerksberuf in Zukunft
unterlaufen wird.
({1})
Herr Hinsken, ich bin sicher, daß Herr Minister Müller nicht nur die soziale Marktwirtschaft vertritt, sondern auch die Koalitionsvereinbarung. Ihre
Einlassung beweist nichts anderes, als daß Sie noch immer nicht gelernt haben zuzuhören. Ich habe nicht rumgeeiert,
({0})
sondern Ihnen die Breite des Themas dargestellt.
({1})
Sie benehmen sich heute wieder wie in der Vergangenheit, nämlich so, als sei die Bundesrepublik
Deutschland eine Insel innerhalb Europas und der große
Befähigungsnachweis der Nachweis, der uns in Europa
ökonomisch ausweist. Ich möchte Sie doch bitten, auch
Margareta Wolf ({2})
einmal einen Blick auf die anderen Länder zu werfen.
Gucken Sie einmal, ob es nicht Flexibilisierungsmöglichkeiten gibt, die zu mehr Arbeitsplätzen führen! Dieser große Befähigungsnachweis, über den man anscheinend nicht reden kann, ist für Sie ja eine Art Bibel. Wir
aber haben darüber geredet. Wir haben eine Koalitionsvereinbarung, die es ermöglicht, die Debatte mit dem
Handwerk weiter zu führen. Ich bin mir sicher, daß wir
im Ergebnis Erfolg haben werden; das bedeutet: mehr
Arbeitsplätze und mehr Innovation im Handwerk.
({3})
Noch eine abschließende Bemerkung, Herr Kollege
Hinsken: Die letzte Novelle zur Handwerksordnung, an
der Sie mitgearbeitet haben - Sie haben das durchaus
ordentlich getan -, hat dazu geführt, daß heute die Informationselektroniker, die neuen Dienstleister im Bereich Software/Hardware, Klagen des ZDH am Hals haben, sie müßten die Meisterprüfung als Eingangsvoraussetzung haben. In Norddeutschland gibt es zwei solcher
Klagen; hier geht es um Büroinformationselektroniker,
und diese sind meisterpflichtig.
30 Prozent der neuen Jobs entstehen gerade in diesem
Bereich. Wenn Sie jetzt den Meistertitel zur Pflichtvoraussetzung für die Selbständigkeit machen wollen, dann
zerstören Sie Existenzen, die von Ausgründungen aus
den Unis herrühren und natürlich über betriebswirtschaftliche Erfahrungen verfügen. Ich hielte es für irrsinnig, diese jetzt zu einer Nachausbildung und -prüfung
zu verpflichten, sie meisterpflichtig zu machen, um den
Meistertitel und damit den Einflußbereich des ZDH zu
stärken.
Herr Hinsken, ich bedanke mich für Ihre Fragen. Sie
können sich jetzt wieder hinsetzen.
({4})
- Entschuldigen Sie, wieso bin ich oberlehrermäßig?
Das bin ich überhaupt nicht.
({5})
- Herr Ramsauer, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden.
Ich möchte abschließend sagen, daß diese neue Bundesregierung für eine Modernisierung der Wirtschaft
steht. Sie steht für eine Entlastung der Umwelt. Sie wird
die Modernisierung und die Entlastung der Umwelt miteinander verbinden. Meine Damen und Herren, sehen
Sie sich Mercedes-Benz an oder die vielen kleinen und
mittleren Unternehmen. Dann werden Sie wissen: Eine
Verbindung zwischen Wirtschaft und Umweltschutz bedeutet tatsächlich eine Kostensenkung in der Industrie.
Ich habe gestern ein sehr spannendes Buch gelesen,
das sich hauptsächlich darauf bezieht, daß Umweltschutz eine Kostensenkung nach sich zieht. Das Nachwort in diesem Buch hat der ehemalige Finanzminister
Theo Waigel geschrieben. Ich freue mich weiterhin auf
eine konstruktive und fruchtbare Auseinandersetzung,
einen Dialog mit Ihnen, meine Damen und Herren von
der Opposition.
Ich bedanke mich.
({6})
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Bundeskanzler, Sie
haben wiederholt erklärt, Ostdeutschland zur Chefsache
machen zu wollen. Das ist fürwahr ein hoher Anspruch.
Die PDS-Fraktion sieht jedoch gerade beim Thema Ostdeutschland weiße Flecken, und das sowohl in Ihrer Regierungserklärung als auch in der Koalitionsvereinbarung. Sie wird deshalb nicht nachlassen, im Interesse der
Menschen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg Veränderungen einzufordern, damit das industrielle, soziale
und kulturelle Gefälle zwischen Ost und West in unserem Lande rasch behoben wird.
({0})
Mit der bloßen Umformulierung von „Aufbau Ost“
aus den Zeiten von Altbundeskanzler Kohl in „Zukunft
Ost“ jetzt wird jedenfalls noch keine neue Politik installiert. Die Koalitionsvereinbarung sieht nämlich weder
eine spezielle Wirtschaftsförderung Ost vor, noch gibt es
Bestrebungen zur Klärung von Eigentumsfragen, die es
zuhauf gibt, zugunsten der Ostdeutschen. Nicht einmal
zu einem Satz für die Sicherung der Ergebnisse der Bodenreform konnte sich Rotgrün durchringen. Das ist angesichts der politischen und juristischen Brisanz dieses
Problems sehr enttäuschend.
({1})
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die
ostdeutschen Kommunen nicht nur - wie geschehen de jure, sondern auch de facto zur kommunalen Selbstverwaltung zu führen? Wir meinen: Nichts Konkretes
ist bisher bekanntgeworden. Da beißt die Maus wohl
keinen Faden ab. Die teilweise stark rückläufige Auftragslage kleiner und mittlerer Unternehmen resultiert zu
einem hohen Grade aus mangelnder Handlungsfähigkeit
der vielerorts finanziell arg angeschlagenen Kommunen.
Die Folge wiederum sind Negativwirkungen auf den
Arbeitsmarkt, auf Existenzgründungen und die Unternehmensentwicklung, Stichwort Insolvenz. Sicher muß
ein ganzes Paket von Maßnahmen geschnürt werden,
damit Städte und Gemeinden ihrer Funktion als Hauptauftraggeber für den Bau, für Handwerk und Gewerbe
gerecht werden können. Vordringlich ist für uns eine
Reform der Kommunalfinanzierung, die mit der Steuerreform korrespondieren muß. Dies ist bislang nicht zu
erkennen.
Für ebenso unerläßlich halten wir, daß die ostdeutschen Kommunen endlich vollständig über die ihnen zuMargareta Wolf ({2})
stehenden Vermögenswerte wie Flurstücke, Gebäude,
Unternehmen und ähnliches verfügen können. Acht Jahre nach der staatlichen Einheit waren Ende Oktober
1998 noch immer 21,6 Prozent der Anträge der Kommunen auf Zuordnung dieser Vermögenswerte von den
zuständigen Bundesbehörden nicht entschieden worden.
Dazu kommen viele Ungereimtheiten und offene Fragen
bei der Vermögenszuordnung. Für all das trägt - das
will ich deutlich sagen - die abgewählte Bundesregierung die Verantwortung. Die Zeit für eine Korrektur ist
auch hier überreif.
({3})
Daher hat die PDS-Fraktion den vorliegenden Antrag
auf Drucksache 14/17 eingebracht. Bei Verwirklichung
des Antrags entstünden in Ostdeutschland nachweisbare
Impulse für kommunale Handlungsfähigkeit und regionale Wirtschaftsentwicklung, nachweisbare Impulse für
den Arbeitsmarkt.
Wir beantragen: Erstens soll die Zuordnung entsprechender Vermögenswerte an die Kommunen, von wenigen begründeten Ausnahmefällen abgesehen, im wesentlichen bis zum 31. Dezember 1999 zum Abschluß
gebracht werden. Altfinanzminister Waigel - ich will
das hier sagen, er ist anwesend - wollte das offensichtlich erst am Sankt-Nimmerleins-Tag erledigen.
({4})
Zweitens soll den ostdeutschen Städten, Gemeinden
und Landkreisen das Recht eingeräumt werden, bei den
zuständigen Bundesbehörden bereits abgelehnte Anträge
bis zum 31. Mai nächsten Jahres noch einmal stellen zu
können. Das ist schon deshalb notwendig, weil nicht jeder Ablehnungsgrund heute noch auffindbar ist. Es ist
viel Unordnung in diesen Gremien vorhanden.
Drittens sollen die Städte, Gemeinden und Landkreise
einen angemessenen finanziellen oder naturellen Ausgleich für teilweise zu ihren Lasten erfolgte Privatisierungen erhalten. Bei der Ausgestaltung dieser Entschädigungsregelungen haben wir ausdrücklich die Vorschläge des Bundesrates berücksichtigt. Wir haben keine
Maximalforderungen erhoben, sondern uns auf das
Machbare konzentriert.
Wir fordern die neue Bundesregierung darüber hinaus
auf, dafür Sorge zu tragen, daß die kommunalen Spitzenverbände endlich im Verwaltungsrat der BvS vertreten sind.
({5})
Der Altfinanzminister hatte das abgelehnt und damit
Sachverstand aus dem Verwaltungsrat der Treuhandnachfolgerin ausdrücklich ausgesperrt.
Es wäre gut, wenn der vorliegende Antrag 14/17 der
PDS-Fraktion im Parlament auf eine große Zustimmung
stoßen würde. Er konzentriert sich auf das jetzt Notwendige - wir haben die Zeitschiene berücksichtigt -, und er
ist machbar. Im Interesse der Herstellung der inneren
Einheit Deutschlands werben wir daher ausdrücklich um
Zustimmung für unseren Antrag und eine baldige Behandlung.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun
Bernhard Vogel, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen.
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}):
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Am vergangenen Freitag sind anläßlich des turnusmäßigen Wechsels im Präsidentenamt
im Bundesrat lesenswerte Reden über die Zukunft des
Föderalismus und eine Neugestaltung des Zusammenwirkens von Bund und Ländern gehalten worden. Es war
für mich außerordentlich erfreulich, wie lückenlos der
neue Bundesratspräsident die Initiative der vier süddeutschen Länder aufgegriffen hat, auch wenn er sie nicht
erwähnt hat.
Bei der gleichen Gelegenheit hat Bundeskanzler
Schröder dem Bundesrat seine Aufwartung gemacht,
sich selbst für seine Amtsführung als Bundesratspräsident gelobt und dem Inhalt der Initiative dem Grunde
nach ebenfalls zugestimmt.
Wir alle wollen weg vom Beteiligungsföderalismus.
Wir wollen zu einer stärkeren Eigenverantwortung der
Länder und zu einer Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern.
({1})
Im Geiste dieser Revitalisierung des Föderalismus
erlaube ich mir, als Ministerpräsident eines der deutschen Länder in der Debatte zur Regierungserklärung
des Bundeskanzlers hier im Bundestag das Wort zu
nehmen. Ich tue das insbesondere als Ministerpräsident
eines jungen Landes. Denn noch immer sind die neuen
Länder mehr als die alten auf die volle Unterstützung
der ganzen Bundesrepublik angewiesen.
({2})
Ich tue das im Wissen, daß wir auf Sie, meine Damen
und Herren, auf den Deutschen Bundestag und auf die
Bundesregierung, angewiesen sind.
In den letzten Monaten war viel vom Aufbau Ost die
Rede. Der Aufbau Ost solle erste, solle allererste, solle
absolute Priorität haben. Ich begrüße das ausdrücklich.
Ich möchte allerdings hinzufügen, daß der Aufbau Ost
diese absolute Priorität bei Bundeskanzler Kohl zu jeder
Zeit und uneingeschränkt hatte.
({3})
Kein westdeutscher Politiker war in den letzten Jahren
häufiger in den neuen Ländern und war über die Situation in den neuen Ländern besser informiert als er. Mein
Wunsch ist, daß sich daran auch in Zukunft nichts ändert, daß der Aufbau Ost Chefsache bleibt.
({4})
Ich begrüße die Absicht der neuen Regierung, regelmäßig in den neuen Ländern gemeinsame Kabinettssitzungen mit den Landesregierungen abzuhalten. Ich lade,
Herr Bundeskanzler Schröder, die Bundesregierung ein,
zur ersten Sitzung nach Thüringen zu kommen. Dann
sehen Sie nämlich, was alles möglich ist. In anderen
Ländern sehen Sie auch, was alles unmöglich ist.
({5})
Ich sehe in diesem Gedanken der Kabinettssitzungen eine zeitgerechte Weiterführung der vielen Kanzlerrunden
„Aufschwung Ost“ und der unzähligen Regionalkonferenzen, die die Bundesregierung bisher im Osten abgehalten hat.
Im übrigen schließe ich mich der Ansicht meines
brandenburgischen Kollegen an. Wir Ministerpräsidenten der neuen Länder werden in besonderer Weise darüber zu wachen haben, daß die angekündigte Prioritätensetzung auch durchgehalten wird. Wer, wenn nicht
wir, die Ministerpräsidenten der neuen Länder, hat diesbezüglich die Wächterfunktion? Wir werden sie gemeinsam wahrnehmen.
({6})
Meine Damen und Herren, unsere drängendste Sorge
ist nach wie vor die hohe Arbeitslosigkeit, auch wenn
wir sichtbare Erfolge haben. Im Oktober ist die Zahl der
Arbeitslosen im Freistaat Thüringen, bezogen auf die zivilen Erwerbspersonen, auf 13,4 Prozent gefallen. Sie
liegt damit um 4,1 Prozent unter der Quote des Oktobers
im Vorjahr. Wir haben damit die niedrigste Quote unter
allen neuen Ländern.
({7})
Wir haben sogar das erste alte Land eingeholt. Das freut
uns natürlich insgeheim ganz besonders.
({8})
Wer aber mehr Arbeitsplätze schaffen will, der muß
die politischen Rahmenbedingungen für eine gute wirtschaftliche Entwicklung sichern.
({9})
Das Rückgrat dafür bildet der Solidarpakt aus dem Jahre 1993, der uns bis 2004 den wirtschaftlichen Aufbau in
den neuen Ländern finanziell sichert. Aber Überlegungen, wie es danach weitergehen soll, müssen jetzt einsetzen. Brüssel hat zugesichert, daß die neuen Länder
Ziel-1-Gebiet bleiben. Aber die Höhe der Förderung
durch die Europäische Union ab dem Jahr 2000 ist
noch nicht festgestellt. Hier drängt die Zeit. Wir haben
November 1998. Es ist nicht mehr lange hin bis zum
1. Januar 2000.
Von existentieller Bedeutung für die ostdeutsche
Landwirtschaft ist der weitere Umgang mit der Agenda 2000. Die drohende Schlechterstellung der Landwirte
in den neuen Ländern muß abgewendet werden.
({10})
Der Mittelstand ist für den wirtschaftlichen Aufbau
in den jungen Ländern von besonderer, von zentraler
Bedeutung. Er muß steuerlich entlastet werden. Seine
steuerliche Belastung und seine Belastung durch zu hohe
Lohnnebenkosten müssen abgebaut werden. Gerade
darum frage ich mich angesichts der weitgehend noch
nebulösen steuerpolitischen Vorstellungen der Bundesregierung: Was ist denn eigentlich Ihr Ziel? Ich frage
mich, wie man Lohnnebenkosten senken will, indem
man Energiesteuern erhöht. Wenn man Quersubventionierung will, soll man das bitte auch klar sagen und
nicht Kostensenkungen vorspiegeln, die nur durch
Strukturreformen zu haben wären.
({11})
Die geplante Energiesteuererhöhung trifft in besonderer Weise die jungen Länder. Schon der Wegfall des
Kohlepfennigs hat unsere Situation einseitig verschlechtert. Wer weiß, wie vieler Anstrengungen es bedarf, ausländische Investoren für die jungen Länder zu
gewinnen, der muß darauf achten, daß sich unsere Rahmenbedingungen nicht durch noch höhere Energiepreise
weiter verschlechtern.
({12})
Im Zweifelsfalle stimme ich Herrn Kollegen Clement
zu, wenn er fordert, den gesamten gewerblichen Bereich - nicht nur die sogenannten energieintensiven Betriebe - von zusätzlichen Steuerbelastungen auszunehmen.
({13})
Wo Clement recht hat, hat er recht, und da muß man ihn
unterstützen. Wenn es schon nicht gelingt, alle gewerblichen Betriebe - nicht nur die energieintensiven - auszunehmen, dann möge man wenigstens alle Betriebe in
den neuen Ländern ausnehmen, wenn der Aufbau Ost
wirklich Vorrang haben soll.
({14})
In der Regierungserklärung ist die Finanzierung der
aktiven Arbeitsmarktpolitik auf bisherigem Niveau
zugesagt worden. Im Entwurf des Bundeshaushalts 1999
der alten Regierungskoalition sind Ausgaben des Bundes für die Arbeitsförderung in gleicher Höhe wie in
diesem Jahr vorgesehen. Damit ist Vorsorge getroffen,
daß die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitsmarktpolitik
auf hohem Niveau fortführen kann. Hier können wir Sie
nur auffordern: Bleiben Sie dabei; führen Sie das fort,
was im Haushaltsentwurf der alten Regierung vorgesehen ist.
({15})
Von zentraler Bedeutung für den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung der neuen Länder ist die Verbesserung der Infrastruktur. Die entsprechenden Aussagen
der Koalitionsvereinbarung haben bei uns erhebliche
Unruhe verursacht. Die Regierungserklärung allerdings
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({16})
schweigt zu diesem Thema. Ich gehe folglich davon aus,
daß die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, die inzwischen alle begonnen worden sind und in die erhebliche Investitionen geflossen sind, nicht in Frage gestellt
und auch nicht einer neuerlichen langwierigen Überprüfung unterzogen werden.
({17})
Die von mir geführte Thüringer Koalition ist sich in diesem Punkt völlig einig: Autobahnen und ICE-Trassen
sind Lebensadern, ohne deren Ausbau die Entwicklung
in Thüringen und in den neuen Ländern insgesamt auf
das nachhaltigste beeinträchtigt würde.
({18})
Gerade weil gegenwärtig alles von einer Revitalisierung des deutschen Föderalismus spricht: Das Herzstück
der Länderzuständigkeit ist und bleibt die Bildungsund Kulturpolitik. Wir können nicht am Freitag die
Eigenständigkeit der Länder betonen und am Dienstag
auf den Hinweis verzichten: Bildung und Kultur sind
selbstverständlich Ländersache und sollen Ländersache
bleiben.
({19})
Ganz in diesem Geist hat sich Thüringen dafür eingesetzt, daß Weimar Kulturstadt Europas 1999 wird zum ersten Mal eine Stadt in den neuen Ländern, zum
erstenmal eine Stadt mit nur 60 000 Einwohnern. Die
Vorbereitungen sind weit fortgeschritten. Im Jahr des
250. Geburtstages Johann Wolfgang von Goethes, 80
Jahre nach der Verabschiedung der Weimarer Verfassung, 50 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes und zehn Jahre nach dem Fall der Mauer laden
wir Europa nach Weimar und nach Thüringen ein.
({20})
Unsere Bewerbung war erfolgreich, weil Weimar und
Thüringen nicht alleine standen, sondern weil wir von
der Bundesregierung unterstützt wurden. Wir sind dankbar, daß sich der Bund als Gesellschafter an der Weimar 1999 GmbH beteiligt und einen finanziellen Beitrag
leistet. Natürlich freue ich mich, wenn der Bundeskanzler den Anteil des Bundes erhöhen will und etwa bereit
ist, ihn auf die Höhe des Anteils des Freistaats Thüringen zu steigern.
Meine Damen und Herren, die in Weimar ausgearbeitete Verfassung war eine der freiheitlichsten Verfassungen der Welt. Daß die Weimarer Republik dennoch
gescheitert ist, lag nicht an Weimar, sondern daran, daß
es nicht genügend Demokraten gab, die bereit waren, die
Demokratie gegen Extremisten zu verteidigen. Die Lehre daraus hat Theodor Heuss gezogen: „Keine Freiheit
den Feinden der Freiheit“.
({21})
Meine Damen und Herren, wir werden mit dem Umzug nach Berlin die Zeit des Provisoriums in Bonn beenden und die innere Einheit auch durch die Rückkehr
in die wiedervereinigte deutsche Hauptstadt sichtbar
machen. Aber für mich endet damit nicht die „Bonner
Demokratie“, und für mich beginnt damit nicht die
„Berliner Republik“.
({22})
Denn die Werte unserer Demokratie und das Grundgesetz verändern sich nicht. Beides zieht mit um nach
Berlin
({23})
und wird nicht hier belassen.
({24})
Gerade weil ich Weimar, weil ich aber auch Buchenwald vor Augen habe, möchte ich alles dafür tun, daß
der Freistaat Thüringen ein verläßliches Glied der Bundesrepublik Deutschland bleibt.
Herzlichen Dank.
({25})
Das Wort hat der
Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Vogel, ich
darf mich im Namen der Bundesregierung für Ihre
freundlichen Worte und für die Einladung herzlich bedanken. Ich bin mir sicher, daß es zwischen der neuen
Bundesregierung und Ihnen, Ihrer Staatsregierung, aber
auch den anderen Landesregierungen der neuen Länder
zu einer guten und zügigen Zusammenarbeit kommen
wird. Herzlichen Dank!
({0})
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat in
seiner Regierungserklärung am Dienstag darauf hingewiesen, daß die schonungslose Beurteilung der Lage
Voraussetzung für die Modernisierung unseres Landes
ist. Tatsache ist: Die Ostdeutschen haben gerade in den
letzten Jahren spezielle Erfahrungen mit Dichtung und
Wahrheit in der Politik gemacht. Sie haben deshalb einen besonderen Anspruch darauf, daß die Probleme
beim Namen genannt werden. Die neue Bundesregierung kann und wird daher nicht das Blaue vom Himmel
versprechen. „Blühende Landschaften“ sind diesmal
nicht im Angebot.
({1})
Dazu sind die Probleme viel zu vielschichtig.
({2})
Notwendig sind vielmehr Anstrengung, Fleiß und vor
allem auch viel Zeit. Deshalb müssen am Anfang Realismus, Ehrlichkeit und Klarheit stehen. Dieser RealisMinisterpräsident Dr. Bernhard Vogel ({3})
mus wird von den Menschen in den neuen Bundesländern erwartet, nicht leere Versprechungen, die in den
letzten Jahren vor allen Dingen gegenüber den Ostdeutschen gemacht worden sind. Das muß angenommen
werden. Das muß diese Bundesregierung mit Handeln
untersetzen. Darum wird es gehen.
({4})
Zweifellos sind wir in den vergangenen acht Jahren
ein gutes Stück vorangekommen. Wer das bestreiten
wollte - ich werde dies im Gegensatz zur alten Bundesregierung niemandem im Haus, egal ob er auf der Oppositions- oder auf der Regierungsseite sitzt, absprechen -,
würde weder den erheblichen solidarischen Leistungen
der Westdeutschen für den Aufbau Ost noch den gewaltigen Anstrengungen der Menschen in den neuen Bundesländern gerecht.
Dennoch gehört es zum Realismus, daß die neuen
Bundesländer noch für eine beträchtliche Weile auf die
Unterstützung und die Solidarität des ganzen Landes
angewiesen sind. Noch ist kein selbsttragender Aufschwung in den neuen Ländern zustande gekommen.
Die Wachstumsraten sind in den letzten Jahren in den
Keller gegangen. Sie sind unter die der alten Bundesländer zurückgefallen. Der ökonomische Spalt beginnt sich
wieder zu öffnen. Noch sind viele Unternehmen in den
neuen Ländern nicht wettbewerbsfähig und auch nicht
kapitalstark genug. Noch sind Ost und West von gleichwertigen Lebensbedingungen weit entfernt.
Unser gemeinsames Ziel sollte deshalb sein, den
Aufbau Ost auch als eine Chance zu begreifen, um neue
Wege zu gehen, die ökonomischen und ökologischen
Vorbildcharakter für unser gesamtes Land haben.
({5})
Wir werden - wie in der Koalitionsvereinbarung angekündigt - ein Aufbauprogramm „Zukunft Ost“ auf
den Weg bringen. Aber wir kündigen Konzepte nicht
nur an; wir handeln auch sofort und entschlossen und
räumen Stolpersteine aus dem Weg, die die alte Bundesregierung hinterlassen hat. So werden wir für die neuen
Bundesländer innerhalb von zwei Monaten mehr auf den
Weg bringen, als die alte Bundesregierung im gesamten
letzten Jahr für die neuen Bundesländer auf den Weg
gebracht hat.
({6})
Zu diesem Auftakt gehört erstens das Sofortprogramm, mit dem wir einhunderttausend Jugendliche so
schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigung
bringen werden. Dabei entfällt ein Schwerpunkt des
Programms auf Ostdeutschland; denn die Mittel werden
dort eingesetzt werden, wo die Not am größten ist. Dieses Programm wollen wir durch die Fortschreibung der
Gemeinschaftsinitiative Ost flankieren; denn auch hier
brauchen wir Klarheit, brauchen wir Stetigkeit. Auch
dies kann nicht von Jahr zu Jahr erneut in Frage gestellt
werden.
({7})
Zu diesem Auftakt gehört zweitens die aktive Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die vor der
Wahl von der alten Bundesregierung kurzfristig hochgefahren wurde, ohne daß sie im Sinne einer Anschlußfinanzierung - Herr Ministerpräsident, hier habe ich eine
etwas andere Auffassung in der Sache - für das Folgejahr sichergestellt worden wäre. Das werden wir korrigieren. Wir werden das verstetigen. Die aktive Arbeitsmarktpolitik für 1999 wird auf hohem Niveau verstetigt.
Dafür haben wir die Voraussetzungen im Etat der Bundesanstalt für Arbeit bereits geschaffen; denn auch hier
muß schnell gehandelt werden, damit im nächsten Jahr
Klarheit für Ostdeutschland besteht.
({8})
Zum Auftakt gehört drittens, die Treuhandnachfolge
im nächsten Jahr nicht einfach auslaufen zu lassen. Die
Treuhandnachfolge ist keine Dauereinrichtung; ich will
das in aller Deutlichkeit sagen. Aber wir wollen eine sichere Begleitung der ehemaligen Treuhandunternehmen
entsprechend den gesetzlichen Vorgaben auch weiterhin
gewährleisten.
Herr Staatsminister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
Gleich. - Maßstab ist der gesetzliche Auftrag, der hier
beschlossen worden ist. Wir müssen ökonomische Solidität in den Unternehmen erzeugen. Das geht nicht mit
der Stoppuhr in der Hand. - Bitte.
Herr Kollege Schwanitz, wir
haben uns im Wahlkampf ja einige Male getroffen. Bei
Ihnen im Vogtland und bei mir in Ostsachsen ist die Arbeitslosigkeit gleich groß. Was wollen Sie zur Verstetigung des aktiven Arbeitsmarktes in bezug auf die
Sachleistungen tun? Denn momentan besteht das Problem, daß die 300 Millionen DM, die in diesem Jahr als
Sachleistungen gezahlt wurden, auslaufen. Sie müssen
bis Ende dieses Jahres ausgegeben und abgerechnet sein.
Danach sterben die ABM weg, wenn nur noch die
Lohnkosten getragen werden. Dazu würde ich gerne etwas Konkretes hören; denn danach werde ich aus dem
Wahlkreis gefragt.
Herr Abgeordneter, wir sind uns völlig darüber im klaren, daß das Sachleistungsproblem in den neuen Bundesländern ganz besonders drängend ist, vor allen Dingen weil die alte Bundesregierung 1997 durch ihre massive Streichungskampagne vielen Beschäftigungsgesellschaften die Grundlage entzogen hat. Deswegen muß die
Verstetigung mit einer Sicherstellung von Sachleistungen einhergehen. Sie können sicher sein, daß wir uns
dieses Problemes annehmen werden.
({0})
Zu diesen Vorhaben gehört viertens ein klares Wort
zum Solidarpakt von 1993, das die in den neuen Ländern entstandene Verunsicherung beseitigt. Der Solidarpakt wird das finanzielle Rückgrat des wirtschaftlichen
Aufbaus der neuen Länder bleiben. So ist zum Beispiel
auch der Versuch der alten Bundesregierung, Sonderzuweisungen von 800 Millionen DM aus dem Finanzausgleich zu streichen, mit dieser neuen Bundesregierung
vom Tisch. Solche Strategien werden wir nicht weiterverfolgen.
({1})
Zum Auftakt gehört fünftens, die Ende 1998 auslaufende Regelung zum Investitionsvorrang für Ostdeutschland weiter zu verlängern. Damit schaffen wir
Planungssicherheit, um insbesondere Investitionen in
den Wohnungsbau, in den Kommunen nicht länger zu
gefährden. Auch hier ist dringender Handlungsbedarf
gegeben. Es muß schnell gehandelt werden. Wir werden
das vordringlich bis zum Jahresende leisten.
({2})
In diesen vordringlichen Bedarf gehört sechstens: Die
Befristung der Finanzhilfen für die ostdeutschen
Krankenkassen ist vom Tisch und damit auch der ursprünglich von Bayern thematisierte Versuch der Regionalisierung von Krankenversicherungen. Auch hier entsteht Planungssicherheit, übrigens auch für ostdeutsche
Unternehmungen, die vor dem Hintergrund der hohen
Lohnnebenkosten arge Befürchtungen vor einer solchen
Strategie haben.
Siebentens: Wir beseitigen die von der Europäischen
Kommission angedrohte Blockade beim Investitionszulagengesetz. An dieser Stelle will ich an die jetzige
Opposition ein Wort richten: Sie haben mit dem Investitionszulagengesetz in den zurückliegenden Wochen und
Monaten massivst Wahlkampf gemacht und es als ein
Herzstück Ihrer Leistungen für die ostdeutschen Länder
und für den Aufbau Ost präsentiert. Dabei hatten Sie bereits das Schreiben, in dem die EU-Kommission nur eine
Teilgenehmigung des Gesetzes vorgesehen hat, bereits
in der Tasche. Sie haben nicht reagiert. Sie haben die
Fristen verstreichen lassen. Wir werden das auf den Weg
bringen, damit dieses Gesetz EU-konform in Kraft treten
und vollzogen werden kann.
({3})
Meine Damen und Herren, das Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik, die Regelung der Treuhandnachfolgefrage, Klarheit beim Solidarpakt, die Verlängerung beim
Investitionsvorrang, Sicherheit für die ostdeutschen
Krankenkassen und pünktlicher Start des Investitionszulagengesetzes, das sind sieben wichtige Punkte für die
neuen Länder, die Sie ausgesessen haben oder zum Teil
politisch nicht wollten und die wir noch bis zum Jahresende angehen werden. Das ist in der Tat ein klares Signal und ein guter Start der neuen Bundesregierung gegenüber den neuen Ländern.
({4})
Die Schwerpunkte unserer Politik für Ostdeutschland
werden im Aufbauprogramm „Zukunft Ostdeutschland“
zusammengeführt. Sie reichen von einer verläßlichen
Fortsetzung der Aufbauhilfen und der Verstärkung von
Zielgenauigkeit und Effizienz über den Ausbau der ostdeutschen Forschungslandschaft, über die Fortentwicklung der öffentlichen Infrastrukturprogramme bis hin zur
Sicherung fairer Rahmenbedingungen für die ostdeutsche Landwirtschaft. Im übrigen: Selbstverständlich
steht das, was in der gemeinsamen Erklärung zur Bodenreform vereinbart worden ist, in keiner Weise zur
Disposition.
({5})
Dabei werden wir sowohl neue Vorschläge unterbreiten als auch Fehler der alten Bundesregierung korrigieren. Ich will dafür zwei Beispiele geben: Bei der
Forschungsförderung für die Industrie hatte die alte
Bundesregierung ihre Zusage nicht eingehalten, die Hilfen auf hohem Niveau fortzusetzen. Die mittelfristige
Finanzplanung, die ich vorgefunden habe, sah hier eine
deutliche Absenkung nach 1999 vor. Der frühere Forschungsminister hat es sogar fertiggebracht, das Programm „Forschungskooperation“ nur bis Ende September dieses Jahres zu finanzieren und es dann ohne Vorankündigung einzustellen.
({6})
Ich kann die Klagen der ostdeutschen Unternehmen, die
auf Stetigkeit und Verläßlichkeit gehofft haben, sehr gut
verstehen. Mit uns wird eine solche Politik, die die Interessen der ostdeutschen Unternehmen ignoriert, nicht
fortgesetzt werden.
({7})
Die Bedeutung der Modernisierung der Infrastruktur für Investionen und Arbeitsplätze in Ostdeutschland
kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Deshalb
werden wir einen weiteren Schwerpunkt setzen und zum
Beispiel die Verkehrprojekte Deutsche Einheit zügig
weiterentwickeln.
({8})
Deswegen wird das Kabinett - so wie angekündigt - alle
zwei Monate in Ostdeutschland vor Ort gehen; es wird
nicht über die Menschen regieren,
({9})
sondern Probleme mit den Menschen besprechen und
konstruktiv und pragmatisch vorgehen. Das ist unser
Ansatz.
({10})
Zur inneren Einheit der Deutschen gehören jedoch
nicht nur Zahlen und Fakten, die man in Mark und Pfennig ausweisen kann. Zur inneren Einheit gehört auch die
wechselseitige Akzeptanz des jeweils anderen; denn die
innere Einheit ist nicht dadurch zu erreichen, daß sich
die Ostdeutschen möglichst vollständig den westdeutschen Normen und Wertevorstellungen anpassen. Die
Einheit in Vielfalt ist unser Ziel. Deshalb zollt die Bundesregierung den Lebensleistungen und Biographien der
Menschen im Osten Achtung und Respekt. Sie bereichern den Erfahrungsschatz unseres Volkes.
Das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und
West kann nur gelingen, wenn Trennendes abgebaut und
Verletzendes beseitigt wird. Ich will deshalb, daß die
Mängel bei der Anerkennung und Rehabilitierung
ehemals politisch Verfolgter in der DDR endlich beseitigt werden.
({11})
Sie wissen: Das ist eine lange Herzensangelegenheit
vieler hier im Haus und ist in den letzten acht Jahren regelmäßig gescheitert. Jetzt haben wir andere Mehrheitsverhältnisse, jetzt muß es endlich zu einer Verbesserung
dieser Situation kommen.
({12})
Das gilt aber auch für die Fortsetzung der Aufarbeitung der Geschichte und für die wichtige Tätigkeit der
Behörde für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR, der sogenannten Gauck-Behörde.
({13})
Diese Beiträge sind wichtig; denn nicht Verdrängen oder
Verklären der Vergangenheit, sondern nur eine offensive
Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte
wird uns die Räume für die Auseinandersetzung und für
die Wege in die Zukunft öffnen.
({14})
Ich will ferner, daß die Regelungen über die Anerkennung von Berufsabschlüssen, über Titel und Ämter
auf den Prüfstand kommen, damit geklärt wird, inwieweit ostdeutsche Lebensleistungen durch das bisherige
Recht im vereinigten Deutschland angemessen gewürdigt werden. Schließlich streite ich dafür, das seit der
Einheit gewohnte Vokabular einem kritischen Blick zu
unterwerfen; denn auch ein Begriff wie Transferleistungen sollte künftig nicht länger überfrachtet und politisch
instrumentalisiert werden.
({15})
Ich fordere Sie auf und biete Ihnen an, über all diese
Dinge gemeinsam mit uns konstruktiv zu streiten, unabhängig davon, ob Sie in der Koalition oder in der Opposition stehen. Diese Ungerechtigkeiten, die teilweise
auch als Verletzungen empfunden werden, im Konsens
oder im Streit gemeinsam zu beseitigen, nur dies wird
uns bei der inneren Einheit weiterführen.
Herr Staatsminister,
achten Sie auf die Zeit, bitte.
Ja. - Die innere Einheit bleibt eine der zentralen innenpolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Diese innere Einheit erfordert die ökonomische Emanzipation des
Ostens. Dies erfordert eine Solidarität im Föderalismus
und eine Schwerpunktsetzung in der Bundespolitik.
Hierfür treten wir ein.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention - das sind drei Minuten - erteile ich Frau Cornelia Pieper das Wort.
Sehr geehrter Herr
Staatsminister Schwanhold! Ich habe Ihren Ausführungen sehr aufmerksam zugehört.
({0})
- Schwanitz. Aber von Schwanitz bis Schwanhold ist
der Abstand in der Tat nicht weit. - Ich habe Ihre Ausführungen sehr aufmerksam verfolgt. Ich stelle mit Befriedigung fest, daß die SPD im Jahre acht der deutschen
Einheit das Thema „Aufbau Ost“ entdeckt hat.
({1})
Was mich gewundert hat, ist, daß Sie, Herr Staatsminister, nicht für blühende Landschaften in den neuen
Bundesländern sprechen. Meine Fraktion und ich gehören auch nicht zu denjenigen, die blühende Landschaften
versprochen haben, aber wir sollten alle Kraft darauf
verwenden, daß blühende Landschaften in den neuen
Bundesländern entstehen. Das gehört letztendlich auch
zu Ihrer Aufgabe.
({2})
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat den Aufbau Ost
zur Chefsache gemacht. Ich hoffe, daß das auch Chefsache bleibt. Chefsache heißt für mich in erster Linie, sich
um die Arbeitsplätze der Menschen in den neuen Bundesländern zu kümmern. Die Arbeitslosigkeit ist dort
doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern.
({3})
Sie legen Prioritäten auf den zweiten Arbeitsmarkt.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine aktive Mittelstandsförderung gerade auch für die neuen Bundesländer, um
Arbeitsplätze schaffen zu können.
({4})
Es sind keine Illusionen, wie der Bundeskanzler gestern
sagte, die Sie sich machen; aber es sind falsche Hoffnungen, die Sie sich letztendlich machen, wenn Sie
glauben, mit dem zweiten Arbeitsmarkt die Probleme
lösen zu können.
Wir brauchen eine aktive Mittelstandspolitik. Da
werden Sie mit der Ökosteuerreform nichts erreichen.
Sie wissen genau wie ich, daß die Energie- und Strompreise in den neuen Bundesländern höher sind als in den
alten Bundesländern, die Strompreise um zwei oder drei
Pfennig pro Kilowattstunde höher. Wenn Sie jetzt mit
einer ökologischen Steuerreform hier noch draufsatteln,
dann wird das zarte Pflänzchen „Mittelstand“ in den
neuen Bundesländern vernichtet. Das kann man nicht
wollen, wenn man den Aufbau Ost vorantreiben will.
Wir brauchen hier klare Konzepte für Steuersenkungen. Die F.D.P. hat dazu immer konkrete Vorschläge
gemacht. Das vermisse ich von Ihrer Seite. Wie wollen
Sie sonst den Mittelstand weiterhin unterstützen? Da ist
nichts von Ihrer Seite zu erkennen. Hier sind Sie zum
Handeln aufgefordert.
Was den Ausbau der Infrastruktur anbelangt: Wie
stehen Sie zu der Position Ihres Koalitionspartners, der
immer wieder gefordert hat, Haushaltsmittel für den
Bundesfernstraßenbau zu streichen? In der letzten Legislaturperiode waren das immerhin 3 Milliarden DM.
Investitionen für den Ausbau der Infrastruktur in den
neuen Bundesländern sind Grundvoraussetzung dafür,
daß Investitionen getätigt werden und daß Arbeitsplätze
entstehen können. Wie wollen Sie hier einen Schub initiieren, damit Arbeitsplätze entstehen, damit Investitionen kommen und damit verhindert wird, daß Umgehungsstraßen und Autobahnen in den neuen Bundesländern nicht gebaut werden? Hier fehlt mir ein klares Bekenntnis auch seitens Ihres Koalitionspartners. Ihr Wort
habe ich wohl gehört; allein, mir fehlt der Glaube. Herr
Staatsminister, Sie sind hier aufgefordert, sich dazu
konkreter zu äußern und zu handeln. Sie sind nicht aufgefordert, nur zu verkünden, daß Sie als Staatsminister
den Aufbau Ost wollen, der dann letztendlich mit der
Ökosteuer im Abbruch Ost landet.
({5})
Herr Staatsminister
Schwanitz, möchten Sie antworten? - Bitte sehr.
Frau Kollegin Pieper, ich habe Ihnen sieben konkrete
Punkte genannt, die wir bis zum Jahresende umsetzen
werden. Das ist schon einmal ein Ansatz.
({0})
Sie können das gern noch einmal im Protokoll nachlesen. Vielleicht haben Sie nicht richtig zugehört. Das ist
in Ordnung. Ich glaube, das ist ein ordentlicher Fahrplan, für den wir uns sehen lassen können, insbesondere
vor dem Hintergrund der Zeit, die wir seit der Regierungsübernahme für diese Dinge zur Verfügung hatten.
({1})
Eine weitere Bemerkung zu den blühenden Landschaften. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre hier schon
über blühende Landschaften gesprochen worden ist. Es
ist nicht die Frage, ob man eine Verbesserung anstrebt,
sondern ob man sie den Menschen mit einem Zeithorizont von drei bis vier Jahren leichtfertig verspricht und
damit Probleme zudeckt. Das werden wir nicht tun,
meine Damen und Herren.
({2})
Frau Kollegin Pieper, wir machen uns keine Illusionen, daß man in Ostdeutschland das Problem des Arbeitsplatzmangels mit dem zweiten Arbeitsmarkt lösen
könnte. Das ist nicht der Punkt. Aber Sie haben als
Koalitionspartner gemeinsam mit Ihrem Banknachbarn
im letzten Jahr arbeitsmarktpolitische Instrumente zu
wahltaktischen Instrumenten verkommen lassen. Das ist
die Hinterlassenschaft, mit der wir umgehen müssen.
({3})
Wir lassen die Menschen nicht einfach im Regen stehen.
Zum Schluß zur Steuersenkungsfrage. Frau Pieper,
wir setzen jetzt die Körperschaftsteuer auf 35 Prozent
fest.
({4})
Das habe ich bei Ihnen in den 16 Jahren nicht erlebt.
({5})
Damit haben wir eine enorme Senkung der Steuern: Daß
man das in vier Jahren machen kann, sollten Sie für sich
als Ansporn nehmen.
({6})
Ich erteile nun Herrn
Dr. Michael Luther, CDU/CSU-Fraktion, das Wort, bitte
sehr.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Aufbau Ost
ist jetzt Chefsache - wie man leicht sieht.
({0})
Am Dienstag habe ich die Debatte aufmerksam verfolgt:
Auch in der zweistündigen Regierungserklärung war die
Chefsache dem Chef nur fünf Minuten wert. Ich glaube,
daß diesem wichtigen Thema - der inneren Einheit
Deutschlands - mehr Aufmerksamkeit gebührt hätte.
({1})
- Der Chef ist vielleicht trotzdem da; das kann ja sein.
({2})
Zur Infrastruktur. Dazu steht in der Regierungserklärung - lassen Sie mich auf ein paar Dinge kurz eingehen -: Infrastruktur, Ausbau des Telefonnetzes, Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ - das waren Themen in den letzten Jahren. Es ist Gewaltiges erreicht
worden, und diese Anstrengungen müssen fortgesetzt
werden; das ist unstrittig. Etwas anderes steht auch nicht
in der Regierungserklärung; das ist gut so. Ich hoffe nur,
daß die angedachte Überarbeitung der Verkehrswegepläne vor dem Hintergrund von Bemerkungen, die da
lauten, weniger sei mehr, nicht im Endeffekt dazu führen wird, daß in den neuen Bundesländern nicht mehr,
sondern weniger für die Infrastruktur getan wird. Das
wäre katastrophal.
({3})
In den letzten Jahren waren Modernisierung und Sanierung zentrale Themen. Ich sage es deutlich: Wer es
sehen will, kann es sehen: Es gibt die blühenden Landschaften.
({4})
Und nun das „Neue“ der neuen Bundesregierung: Sie
wollen die Anstrengungen zur Sanierung und Gestaltung
der Städte fortsetzen. Ich finde, das ist eine tolle Idee.
Sicherlich haben Sie in der Regierungskoalition lange
darüber nachgedacht, bis Sie darauf gekommen sind.
Zum wirtschaftlichen Aufbau: In Ostdeutschland entsteht eine moderne Industrie. Darüber sind sich Experten
einig. Es gab und gibt eine riesige Zahl von neuen Unternehmen. Das war nur mit Hilfe von Fördermitteln
möglich. Nun möchte die Bundesregierung - man höre! - die Förderpräferenz für die neuen Bundesländer
sichern. Ich finde das gut. Allerdings sei die ironische
Frage erlaubt: Vor wem wollen Sie die Förderpräferenz
sichern? Genauer betrachtet scheint diese Frage auch
nicht unberechtigt zu sein, nämlich wenn man die Vielzahl von teuren Wahlversprechen und die ungeklärten
Finanzierungsfragen berücksichtigt. Aufbau Ost kostet
Geld. Herr Schwanitz, Sie werden darauf zu achten haben, daß dieses Geld im Bundeshaushalt auch zur Verfügung steht.
({5})
Ich hoffe, daß es Ihnen gelingt.
Zum Thema zweiter Arbeitsmarkt: Er muß auf hohem
Niveau bleiben. Ich freue mich, daß Sie die Mittel dafür
verstetigen wollen. Neu ist der Gedanke allerdings nicht.
Im Gegenteil: Wenn ich die Formulierungen aus der Regierungserklärung - Herr Schwanitz, in Ihrem Beitrag
haben Sie das wiederholt - ganz genau betrachte, habe
ich sogar Sorge. Ich will es einmal auf den Punkt bringen. Sie unterstellen für das Jahr 1998 WahlkampfABM, was - und das wissen Sie alle ganz genau - nicht
stimmt. Die Crux der Behauptung ist allerdings, daß Sie
als das stetige Maß eine Ebene ansetzen wollen, die
niedriger ist als die des Jahres 1998. Ich glaube, ABM
muß auf dem finanziellen Niveau des Jahres 1998 fortgesetzt werden. Darauf haben Sie zu achten.
({6})
Resümee: Wer von der „Chefsache“ Aufbau Ost neue
Ideen erwartet hat, der wurde getäuscht. Herr Schwanitz,
ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie können auf unsere
Unterstützung zählen; denn der Aufbau Ost ist uns Herzensanliegen. Sie werden in dieser Koalition auf unsere
Unterstützung angewiesen sein.
({7})
Das hat Ihre in manchen Phasen sehr mutlose Rede zu
dem Thema „Aufbau Ost“ und zu dem Thema „blühende Landschaften“ zum Ausdruck gebracht.
Sie sollten sich in der Zukunft bemühen, ein Stück
bei der Wahrheit zu bleiben. Ich denke zum Beispiel an
das Thema Investitionszulagengesetz. Wir in der Regierungskoalition haben das in der letzten Legislaturperiode als wichtiges und richtiges Mittel, als Anschlußregelung für das Fördergebietsgesetz auf den Weg gebracht. Es ist gut, daß es dieses Instrument gibt. Ich hoffe, daß Sie nicht versuchen, es zu kassieren, sondern es
weiterhin anwenden.
({8})
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu anderen Themen machen.
Zum Thema Steuerreform: In seiner Regierungserklärung hat der Bundeskanzler auf die schwache Eigenkapitalbasis der Unternehmen in den neuen Bundesländern hingewiesen. Er hat - zu Recht - festgestellt, daß
die Eigenkapitalbasis gestärkt werden muß. Glauben
Sie, daß Ihnen das mit Ihrer Steuerreform gelingt? Unternehmen brauchen zur Eigenkapitalbildung Gewinne.
Wenn Sie die Gewinne aber durch Steuern deutlich
schmälern, dann kann niemand Eigenkapital bilden. Sie
brauchen dieses Geld für die vielen Experimente, die Sie
vorhaben; ich weiß das. Doch was bedeutet das für die
eigenkapitalschwachen Unternehmen in den neuen Bundesländern? Sie werden diese Unternehmen in ganz besonderer Weise treffen.
Zum Thema Ökosteuer: Einerseits - das ist allen klar
- ist das Einkommensniveau der Arbeitnehmer und der
Rentner in den neuen Bundesländern besonders niedrig;
andererseits müssen, dem starken wirtschaftlichen Wandel geschuldet, die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern viel flexibler sein und viel mehr pendeln als die
Menschen in den alten Bundesländern. Deshalb wird die
ökologische Steuerreform die Bürger in den neuen
Bundesländern in besonderem Maße treffen. Bei niedrigerem Einkommen nutzt auch niemandem eine Steuerreform, durch die er weniger Steuern bezahlt. Aber höhere
Energie- und Benzinsteuern werden die neuen Bundesländer treffen, und zwar die einfachen Menschen mit
kleinem Einkommen.
({9})
Diese Politik schadet den Menschen, sie schadet der
Kaufkraft, und was der Kaufkraft schadet, das schadet
natürlich auch dem Mittelstand in den neuen Bundesländern.
Zum Thema Strompreis: In den neuen Bundesländern
ist er besonders hoch, weil die Stromversorgungsbasis in
den vergangenen Jahren grundlegend modernisiert werden mußte. Diese Tatsache ist schon heute für die Unternehmen in den neuen Bundesländern schwerwiegend.
Wir haben das immer festgestellt. Wenn Sie diesen Unternehmen mit der Ökosteuer nun noch eine zusätzliche
Energiesteuer aufdrücken wollen, dann wird es für sie
gefährlich, dann werden sie in ihrem Bestand gefährdet,
und dann wird so mancher auch auf Neuinvestitionen
verzichten müssen. Lassen Sie mich hier aus der
„Volksstimme“ vom 3. November 1998 zitieren:
Der Wernigerröder Zylinderkopfhersteller Rautenbach hat ein Investitionspaket von 40 Mio. DM für
die Produktion eines Motorblocks aus Aluminium
gestoppt.
„Insbesondere die von der rot-grünen Bundesregierung angekündigte Energiepreiserhöhung bedeutet
für unser Unternehmen eine dramatisch nicht hinnehmbare Verschlechterung im internationalen
Wettbewerb“, so der Geschäftsführer.
({10})
Das ist keine Folge der Politik der alten Regierung,
sondern eine Folge des Hickhacks, der Diskussionen, die
in den letzten 14 Tagen in Deutschland durch die heutige Regierungskoalition geführt wurden. Ergebnis ist
Verunsicherung bei Investoren, Verunsicherung an einer
Stelle, an der es uns gelungen ist, langsam das Vertrauen
in die Solidität des wirtschaftlichen Aufbaus in den
neuen Bundesländern zu wecken.
({11})
Sie zerstören diese Vertrauensbasis.
Ich fordere Sie deshalb auf: Verzichten Sie auf die
Ökosteuer für die neuen Bundesländer gänzlich!
({12})
Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung.
Ich zitiere aus Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler - er ist leider nicht anwesend -:
Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus der
DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozialdemokraten die friedliche Revolution mitgestaltet
haben, . . .
Ich halte das für einen dreisten Versuch, die Geschichte
zu fälschen.
({13})
In unserer Fraktion sitzen Vera Lengsfeld, Arnold Vaatz
und Günter Nooke. Sie haben 1989 bei der friedlichen
Revolution in der DDR ihren Kopf hingehalten.
({14})
Sie haben für die deutsche Einheit gestritten, die wir
1990 erreicht haben. Im Gegenzug hat der damalige Ministerpräsident und heutige Bundeskanzler Gerhard
Schröder gemeinsam mit seinem heutigen Finanzminister, Herrn Lafontaine, im Bundesrat gegen die deutsche Einigung gestimmt. Das ist geschichtliche Wahrheit.
({15})
Ich bin mir sicher: Wenn damals die SPD Regierungsverantwortung getragen hätte, hätten wir heute
keine deutsche Einheit.
({16})
Dann wäre heute die Staatsbürgerschaft der DDR anerkannt, und dann könnten wir nur noch auf die doppelte
Staatsbürgerschaft hoffen.
({17})
Das Wort hat nun
unsere Kollegin Sabine Kaspereit von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Ausgang der Bundestagswahl am 27. September muß allen in diesem Hause
zu denken geben, den Verlierern ebenso wie den Siegern. Das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger in
den neuen Ländern macht deutlich, daß Versprechungen, die nicht eingehalten werden, eine schwere Hypothek sind. An dieser Hypothek tragen nicht nur diejenigen, die die Versprechungen abgegeben haben - sie haben ja die Quittung dafür bekommen -, sondern trägt
auch die neue Regierung, die diese Hypothek nun abtragen muß. Auf der neuen Bundesregierung lastet eine
enorme Erwartungshaltung. Staatsminister Schwanitz
hat mir das Wort aus dem Mund genommen. Im übrigen
freue ich mich, daß Regierung und Fraktion hier wirklich mit einer Stimme sprechen. Es ist besonders wichtig, eine ehrliche Politik zu machen und keine falschen
Versprechungen.
({0})
In den vergangenen Jahren ist manches in Ostdeutschland erreicht worden. Die infrastrukturellen
Voraussetzungen wurden entscheidend verbessert. Die
Produktivität stieg von gut 30 auf jetzt 60 Prozent, auch
die Bruttoeinkommen stiegen von 47 auf jetzt durchschnittlich 74 Prozent, die Renten verdreifachten sich.
In dieser Hinsicht wurde viel geleistet, und wir stellen
nicht in Abrede, daß die alte Bundesregierung ihren
Anteil an diesem Erfolg hat. Aber es ist vor allem - das
möchte ich ganz klar sagen - ein Erfolg und ein
Verdienst der Menschen in den neuen Bundesländern,
die mit ihrem Leistungswillen entscheidend dazu beigetragen haben.
({1})
Das schöpferische Potential der Menschen ist ein Pfund,
mit dem wir wuchern wollen, können und müssen. Die
Menschen sind der positivste Standortfaktor.
({2})
In unserer Bestandsaufnahme müssen wir aber auch
feststellen, daß die Transformation von einer zentral
gelenkten Staatswirtschaft in eine wettbewerbsfähige
Marktwirtschaft in den neuen Ländern noch nicht gelungen ist. Konkret bedeutet das für die wirtschaftliche
Entwicklung in Ostdeutschland im achten Jahr der deutschen Einheit, daß die Wirtschaftsleistung je Einwohner
erst an die Hälfte des westdeutschen Wertes herankommt, daß die Industrieproduktion je Einwohner lediglich ein Drittel der alten Länder erreicht, daß sich die
ostdeutschen Wachstumsraten deutlich verlangsamt
haben und daß Investitionen vor allen Dingen im kommunalen Bereich rückläufig sind. Das bedeutet auch,
daß der Kapitalstock je Einwohner weit unter demjenigen in den alten Bundesländern liegt, daß die Ertragslage bei der Mehrzahl ostdeutscher Betriebe nach
wie vor unbefriedigend ist und daß sich die hohen Gebühren für Energie und Abwasser als Standortnachteil
erweisen.
Die Integration der neuen Länder in die internationale
Arbeitsteilung rückt die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen und ihrer Produkte und Dienstleistungen in den Mittelpunkt des Interesses. Es kommt
nun darauf an, sich auf überregionalen und internationalen Märkten zu behaupten. Aber eine Exportquote von
15 Prozent kann nicht befriedigen und ist dafür verantwortlich, daß das Wachstum in den neuen Ländern zurückbleibt.
Neben den von mir genannten Schwierigkeiten hat
die ostdeutsche Wirtschaft nach wie vor mit zentralen
Problemen zu kämpfen. Besonders schwerwiegend ist
die dünne Eigenkapitaldecke, die die Unternehmen sofort in Existenznot bringt, wenn sie kurzfristig weniger
Aufträge oder hohe Außenstände haben.
({3})
Ob neugegründet, privatisiert oder reprivatisiert - die
Betriebe hatten bisher überhaupt noch keine Chance, eine Eigenkapitaldecke zu bilden.
({4})
Die industrielle Basis ist trotz einiger Leuchttürme zu
schmal. Deshalb müssen wir eine offensive und gezielte
Ansiedlungspolitik betreiben, die auch für die Zukunft
trägt. Natürlich muß letztlich jedes Unternehmen seine
Standortentscheidung selbst treffen. Die Politik kann
Standortentscheidungen nur über Rahmenbedingungen
beeinflussen, die einen Standort für ein Unternehmen
attraktiv machen. Die Landesregierungen der neuen
Länder leisten auf diesem Gebiet Pionierarbeit. Wir
müssen sie dabei vor allem auf dem Feld der Entbürokratisierung unterstützen.
({5})
Es sind doch weniger die Steuern, die bei einer Standortentscheidung eine Rolle spielen; vor allen Dingen
Genehmigungszeiten, Grundstückspreise, eine kalkulierbare Förderung und die Qualifikation der Arbeitskräfte bestimmen die Entscheidung eines potentiellen
Investors, nach Ostdeutschland zu gehen oder wegzubleiben.
Zum Stichwort Qualifikation: Daß die Regierung
Kohl es zugelassen hat, daß die industrienahe Forschung
in einem brutalen Ausmaß kaputtgemacht wurde,
({6})
gehört ebenfalls zu dieser Hypothek, von der ich anfangs
sprach.
({7})
Wir werden erhebliche Anstrengungen machen müssen,
damit Forschung und Entwicklung durch ihre Impulse
wieder zur wirtschaftlichen Gesundung in den neuen
Ländern beitragen können.
Untrennbar mit der wirtschaftlichen Lage ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbunden. Im Januar
werden wir wahrscheinlich erleben, daß die Zahl der
Arbeitslosen im Osten erneut ansteigt. Dann laufen
nämlich die berüchtigten Wahl-ABM aus. Ich höre
schon jetzt, wie dann die rechte Seite dieses Hauses in
Häme ausbrechen und Rotgrün die Verantwortung dafür
zuschieben wird. Ich verspreche Ihnen: Diese Häme
wird auf Sie selbst zurückfallen.
({8})
Ihre Arbeitsmarktpolitik nach dem Berg-und-TalbahnPrinzip hat unter anderem das Wahlverhalten der Ostdeutschen entscheidend mitbestimmt; denn die Ostdeutschen haben erkannt, welches Spiel die alte Bundesregierung mit den Hoffnungen der Menschen getrieben
hat.
Hoffnungen setzen Vertrauen voraus. Für uns, meine
Damen und Herren, ist das Vertrauen der Menschen eine
Verpflichtung, die wir ernst zu nehmen haben. Die aus
enttäuschtem Vertrauen gewachsene Verunsicherung bei
der ostdeutschen Bevölkerung mündet in ein sich vertiefendes Mißtrauen in die Politik. Neben der Angleichung
der Lebensverhältnisse ist die Überwindung dieses
Mißtrauens eine der wesentlichen Voraussetzungen auf
dem Weg zur wirklichen Einheit Deutschlands.
({9})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Grund?
Bitte.
Frau Kollegin Kaspereit, Sie sprachen ABM-Geschenke zur Wahl
({0})
und eine Häme an, die vermutlich ausbrechen würde,
wenn die Zahl der ABM zurückgefahren würde. Würden
Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß im Haushaltsentwurf
1999, den die alte Bundesregierung vorgelegt hat, Mittel
für den zweiten Arbeitsmarkt in derselben Höhe wie in
diesem Jahr eingestellt waren,
({1})
so daß wir ohne weiteres die Zahl der ABM gehalten
hätten und auch den finanziellen Spielraum gehabt hätten, die Förderung auf demselben Niveau weiterzuführen. Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß im Haushaltsentwurf für 1998 der Zuschuß für die Bundesanstalt
für Arbeit so großzügig bemessen war, daß Sie ungefähr
5 Milliarden DM zur Verfügung haben, um, wie Sie es
ja jetzt auch tun, ein Sofortprogramm aufzulegen, ohne
eine Mark neu aufnehmen zu müssen. Das ist Ausdruck
der soliden Finanzierung der alten Bundesregierung. Vor
diesem Hintergrund hätte das Geld ausgereicht, alles auf
demselben Niveau weiterzuführen. Sie können das ohne
weiteres machen. Sie müssen nur denselben Betrag einstellen.
({2})
Herr Grund, ich nehme Ihre Feststellung zur Kenntnis. Aber Sie wissen genauso
wie ich, daß Sie mit Ihrem Vorgehen auf 1999 vorgegriffen haben. Insofern hat sich der Betrag schon entsprechend verringert.
({0})
Wir müssen das Versprechen halten, den wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutschlands als gesamtdeutsche Aufgabe höchster Priorität voranzutreiben, um dem Ziel der
Verwirklichung der deutschen Einheit näherzukommen.
Es geht darum, unsere gemeinsame Kraft darauf zu
richten, die soziale und wirtschaftliche Spaltung zwischen Ost und West zu überwinden und die solidarische
Hilfe für Ostdeutschland auf verläßlicher Grundlage
konsequent fortzuführen. Dafür hat Gerhard Schröder neben einer vernünftigen Wirtschafts- und Steuerpolitik
- bereits wichtige Weichen gestellt.
Aus dem Ergebnis des vorläufigen Kassensturzes
wissen wir erstens, daß die finanzielle Lage keine
bedeutenden Spielräume bietet. Wir wissen zweitens,
daß frühere Versäumnisse oder falsche Weichenstellungen nicht einfach ungeschehen gemacht werden können.
Wir wissen drittens: Die ökonomische Leistungsfähigkeit ist der Dreh- und Angelpunkt. Wir können uns
einen rückläufigen Saldo bei Unternehmensgründungen
und einen ansteigenden Saldo bei Insolvenzen volkswirtschaftlich einfach nicht leisten, weil dies alle anderen Anstrengungen in Frage stellen würde. Das ist der
Grund dafür, daß die Neue Mitte für uns keine leere
Worthülse ist.
Die Neue Mitte steht für Solidarität, Innovation, Verantwortung und Unternehmerlust, wie Bundeskanzler
Schröder in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck
gebracht hat. Wir wissen, daß diese Neue Mitte in Ostdeutschland ein zartes Pflänzchen ist, das erst wachsen
muß. Förderung von Existenzgründern, Bereitstellung
von - wir nennen es - Chancenkapital, Stärkung der Eigenkapitalbasis, Absatzförderung, Beratung und nicht
zuletzt eine anständige Unternehmerkultur wie die Einhaltung von Zahlungsfristen sind für dieses Wachsen
und Gedeihen unverzichtbar.
Der Koalitionsvertrag und die Regierungserklärung
des neuen Kanzlers beweisen, daß die neuen Bundesländer bei der jetzigen Koalition gut aufgehoben sind.
({1})
Erste Projekte sind bereits auf den Weg gebracht:
Erstens. Die finanzielle Ausstattung der verschiedenen Förderinstrumentarien spricht für sich.
Zweitens. Wir stellen die Planungssicherheit bei den
ostdeutschen Arbeitsbeschaffungen auf eine verläßliche
Grundlage.
Drittens. Unser Sofortprogramm für 100 000 Arbeitsplätze, um die Jugendarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, ist ein Programm, das vor allem in den neuen
Ländern Perspektiven für junge Menschen schaffen soll.
({2})
Wir können doch nicht tatenlos zusehen, daß Jugendliche in Null-Bock-Mentalität und Extremismus abdriften,
weil ihnen mangels Arbeit und Ausbildung keine Leistung abgefordert werden kann. Wir können die Jugendlichen nicht dafür verantwortlich machen, daß sie nicht
zur Leistung bereit sind, wenn ihnen die Möglichkeit
fehlt, ihren Leistungswillen beweisen zu können.
({3})
Viertens. Die Sicherung und Neustrukturierung der
Altlastensanierung ist eine wichtige Voraussetzung für
die Neuansiedlung von Unternehmen.
Fünftens. Darüber hinaus werden Instrumentarien
entwickelt, die die Strompreise in den neuen Ländern die Strompreise sind heute ja schon sehr oft angesprochen worden - an das Westniveau heranführen sollen;
denn es ist nicht länger zu verantworten, daß die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern höhere
Strompreise als die in den alten Bundesländern zahlen.
({4})
Auch diese Maßnahme erleichtert Investitionen. Durch
diese moderne Energiepolitik wird eine zukunftsfähige
Energieversorgung sichergestellt, die hilft, die Standortnachteile zu beseitigen.
Aus all dem, worüber ich gesprochen habe, wird
deutlich, daß Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.
Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit kann es eigentlich niemanden in Erstaunen versetzen, daß die
Krankenkassen in Ostdeutschland ein erhebliches Einnahmeproblem haben. Deshalb müssen wir bei den Reformen auf dem Gebiet der gesetzlichen Krankenversicherung sorgfältig darauf achten, daß die Finanzierung
in den neuen Ländern gesichert ist.
({5})
Auch ist es nicht hinnehmbar, daß es vor allem im
Osten eine wachsende Zahl von Arbeitsverhältnissen auf
520-DM-Basis gibt, die in mehrfacher Hinsicht sozial
völlig ungesichert sind.
({6})
Hier muß dem Mißbrauch Einhalt geboten werden, weil
die Allgemeinheit doppelt belastet wird: erst durch Mindereinnahmen in den Sozialkassen und im nächsten
Schritt durch die Ausgaben für die soziale Sicherung der
betroffenen Menschen.
Zum Stichwort Landwirtschaft: Wir werden auch in
diesem Bereich sorgfältig auf die Wettbewerbsfähigkeit
unserer Betriebe achten müssen, dies vor allem vor dem
Hintergrund der Europapolitik.
Ich habe nur einige der Probleme der neuen Länder
angesprochen. Aber aus den genannten Beispielen wird
wohl deutlich, daß wir in dieser Wahlperiode viel zu tun
haben werden. Ich freue mich darüber, dies nicht mehr
nur aus der Oppositionsrolle heraus tun zu müssen.
({7})
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der neuen
Opposition, gute Ideen zur Verwirklichung der inneren
Einheit Deutschlands haben, so sind Sie herzlich eingeladen, konstruktiv mitzuarbeiten, so wie auch wir es in
der Opposition getan haben.
({8})
Gute Ideen haben jetzt eine weitaus größere Chance
umgesetzt zu werden.
({9})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/17 und 14/25 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung betreffend den Antrag der PDS zum
Vermögenszuordnungsgesetz auf Drucksache 14/17 soll
beim Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Themenbereichen Inneres,
Recht und Kultur. Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Pau, Ulla Jelpke, Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Abschaffung des Flughafenverfahrens ({0})
- Drucksache 14/26 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({1})
Rechtsausschuß
Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Dr. Jürgen Rüttgers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute
über die Regierungserklärung und die Koalitionsvereinbarung in den Bereichen Inneres und Recht. Wir haben
während des Wahlkampfes vom jetzigen Bundeskanzler
des öfteren folgenden Spruch gehört: „Wir wollen nicht
alles anders machen, aber vieles besser.“
({0})
Wer die Aussagen zur Innen- und Rechtspolitik gehört
hat, wer nachgelesen hat, was in der Koalitionsvereinbarung dazu steht, und wer den verpatzten Start auf sich
wirken läßt, der ist geneigt, dem Bundeskanzler zu empfehlen, den Satz ein klein wenig zu verändern, gleichsam nach dem Motto: Wir wollen nicht alles besser machen, aber vieles anders. Das scheint mir der Kern der
Aussagen zur Innen- und Rechtspolitik zu sein.
({1})
Folgendes ist bisher zu beobachten: ein verpatzter
Start, eine mißlungene Steuerreform, Krach mit der
Bundesbank, außenpolitische Fehlleistungen in Polen
und Frankreich, Versprechungen in Milliardenhöhe und
ein Innenminister, dessen Positionen und Äußerungen so
klar sind wie Druckerschwärze. Da wird gemeldet, der
Innenminister sei für die Freigabe weicher Drogen.
Das wird dann sofort dementiert. Eine Freigabe, heißt
es, sei zur Zeit nicht denkbar. Aber er sei bereit, seine
bisherige Haltung zu überprüfen. Was denn nun, Herr
Schily? Ja oder nein?
Da lobt Herr Schily die Arbeit der Gauck-Behörde für
die „Festigung der Demokratie und das Zusammenführen unseres Volkes“ und kündigt zugleich eine aufgabenkritische Diskussion über die Behörde an. Was denn
nun, Herr Schily? Wird die Stasi-Überprüfung eingeschränkt, oder wird sie fortgeführt, ja oder nein?
({2})
Da wird die PDS im Verfassungsschutzbericht 1997
im Kapitel „Linksextremistische Bestrebungen“ aufgeführt und beschrieben. Angesichts der Tatsache, daß die
SPD in Mecklenburg-Vorpommern mit dieser Partei
koaliert, fällt Herrn Schily nur ein, das sei eine etwas
vertrackte Situation. Sind Sie nun der Verfassungsminister, Herr Schily, ja oder nein?
({3})
Da hält Herr Schily laut „Spiegel“ die doppelte
Staatsangehörigkeit für gerade einmal hinnehmbar.
Wenige Sätze weiter preist er das neu konzipierte
Staatsangehörigkeitsrecht als „Reformwerk von historischen Dimensionen“. Was denn nun, Herr Schily? Hinnehmbar oder historisch? Ja oder nein?
({4})
So etwas kommt, wenn man sich im Wahlkampf bis
an die Grenze der Möglichkeiten verbiegt. So etwas
kommt, wenn man in der eigenen Partei keine Mehrheit
hat.
Herr Schily, Sie haben bei Ihrer Amtseinführung gesagt, niemand müsse sich Sorge machen, daß es erstmals
gelungen sei, den scheidenden Innenminister zu klonen.
Ich kann Sie da wirklich beruhigen. Diese Angst haben
wir nicht. Klonen hat nämlich etwas mit identisch zu
tun. War Manfred Kanther klar, so sind Sie unklar. War
die Innen- und Rechtspolitik der alten Regierung eindeutig, so ist sie jetzt mehrdeutig.
({5})
Ebenso ist das innenpolitische Rezept der SPD: gleichsam „Schily con carne“, aber ohne Fleisch, ohne Grundsätze und mit jeder Menge roter Soße.
({6})
Meine Damen und Herren, da lese ich in der Koalitionsvereinbarung, Alltagskriminalität solle bürokratiearm bestraft werden. Ist das eigentlich ein neuer Begriff
für die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten? Die
Herausnahme von Bagatelldelikten aus dem Strafrecht
führt nur zu noch mehr Kriminalität. Das Rechtsbewußtsein nimmt erheblichen Schaden, wenn man diese Delikte nur deshalb nicht mehr strafrechtlich verfolgt, weil
sie massenhaft begangen werden. Die Konsequenzen
wären verheerend: Hemmschwellen werden gesenkt,
Rechtsbrecher werden ermutigt, kriminelle Karrieren
werden gefördert - ein eindeutig falsches Signal gerade
auch angesichts der in den letzten Jahren gestiegenen
Jugend- und Kinderkriminalität.
({7})
Da spricht der Bundeskanzler von der Härte gegen
das Verbrechen und der Härte gegen seine Ursachen.
Dann aber muß er auch sagen: Wehret den Anfängen!
Die Anfänge sind die oft geduldeten Verwahrlosungen
in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Verwahrlosungen
auf den Plätzen und Straßen unserer Städte durch Drogenszene und Alkoholismusmilieus, durch Vandalismus
und Schmierereien. Wir wollen keine Gewöhnung an
Ordnungswidrigkeiten, an Ladendiebstahl und Drogenkonsum. Am Ende steht nämlich eher mehr Kriminalität
und nicht weniger Kriminalität.
({8})
Deshalb ist es auch falsch, die Strafverfolgung auf den
kriminellen Drogenhandel zu beschränken. Auch der
Besitz von Drogen muß strafbar bleiben. Die Beschaffungskriminalität läßt sich nur dann wirksam bekämpfen, wenn nicht nur gegen Drogenhändler, sondern auch
gegen Drogenbesitzer konsequent strafrechtlich vorgegangen wird.
({9})
Meine Damen und Herren, genauso unklar wie bei
der inneren Sicherheit bleibt die Koalitionsvereinbarung
bei der Ankündigung, für gleichgeschlechtliche Paare
ein Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu schaffen. Unklar ist, warum ein solches
Rechtsinstitut nur für gleichgeschlechtliche Paare eingerichtet wird.
({10})
Notarielle Verträge kann man schon heute schließen.
Warum wird so etwas, wenn man schon so denkt, wie
Sie es tun, nicht auch für nichteheliche heterosexuelle
Paare eingerichtet? Wie soll dies eigentlich in der Praxis
funktionieren? Soll der Standesbeamte neben dem Heiratsbuch auch noch ein Partnerschaftsbuch führen? Wird
demnächst auch das Ende solcher Partnerschaften vergleichbar einer Ehescheidung registriert? Gelten die
gleichen Folgen wie bei einer Ehescheidung? Wenn
nicht: Warum werden Ehepaare, die sich scheiden lassen, anders behandelt? Was bleibt eigentlich noch vom
„besonderen Schutz“ von „Ehe und Familie“, den das
Grundgesetz garantiert? Das alles ist unklar und unausgegoren.
Meine Damen und Herren, nachdem die alte Bundesregierung wichtige Schritte auf dem Weg zu schnelleren
Verwaltungs- und Gerichtsverfahren und zu einem
schlanken Staat durchgesetzt hat, kündigt nun die neue
Bundesregierung eine umfassende Justizreform an. Wir
begrüßen dieses Vorhaben. Die Bundesregierung kann
dabei auf erfolgreiche Vorarbeiten aus der vergangenen
Legislaturperiode zurückgreifen. Verschlankung der Justizorganisation, Verringerung der Zahl der Gerichtszweige sowie Zusammenführung von Verfahrensordnungen, Entlastung der Justiz durch Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung, Reduzierung der Kontrolldichte richterlicher Tätigkeiten durch Abschaffung
der zweiten Tatsacheninstanz und Erweiterung des verwaltungsbehördlichen Beurteilungsspielraums - das alles sind Vorschläge der Sachverständigenkommission
„Schlanker Staat“ aus der letzten Legislaturperiode. Wir
sind bereit, an einer solchen Justizreform mitzuarbeiten.
Das gleiche gilt übrigens für die Überprüfung von Verfahrensabläufen und die Verringerung der Regelungsdichte.
Für uns bedeutet Staatsmodernisierung im Kern eine kritische Überprüfung und definitive Rücknahme
vieler staatlicher Zuständigkeiten, Aufgaben und Verfahren. Es geht um ein neues Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Eigenverantwortung und staatlicher
Lenkung. Dabei ist das Zukunftsbild für die CDU/CSUFraktion eine öffentliche Verwaltung, die deutlich weniger Aufgaben wahrnimmt und sich zugunsten privater
Initiativen und Eigenverantwortung zurücknimmt. Wir
wollen einen modernen öffentlichen Dienst. Das bezieht
sich nicht nur auf die Effizienz der Abläufe, sondern
auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre
berufliche Stellung im öffentlichen Dienst.
Sie haben also grundsätzlich unsere Zustimmung zu
dem Ziel. Wir haben aber erhebliche Bedenken, ob nicht
doch, wie so häufig in der Koalitionsvereinbarung und
der Regierungserklärung, nur Überschriften gesetzt werden. Ich sage Ihnen: Mit einer besonderen Stabsstelle
beim BMI, beim Bundesminister des Innern, werden Sie
sich nicht aus der Affäre ziehen können. Wir erwarten
konkrete Schritte - und das schnell. Die Meßlatte liegt
hoch. Die alte Bundesregierung hat von den 600 Behörden des Bundes - man höre und staune - bereits ein
Viertel abgebaut. Der Bund hat heute weniger Personal
als vor der Wiedervereinigung. Die Bundesverwaltung
wurde um 70 000 Stellen reduziert, was einem Einsparvolumen von 5,4 Milliarden DM alleine im Jahr 1998
gleichkommt.
({11})
Wenn der ÖTV-Vorsitzende Mai angesichts des Regierungswechsels jetzt davon spricht, das sei das Ende
des Konzepts „Schlanker Staat“, dann nährt das unsere
Zweifel - ich begrüße den Vorsitzenden des Innenausschusses, Herrn Penner; ich freue mich, daß Sie sich hier
vorne so angenehm unterhalten
({12})
- ich muß reden, deshalb finde ich es prima, daß Sie so
aufmerksam zuhören -, daß Sie Ihre Überschriften
wirklich ernst meinen. Gleiches gilt für die vielen Ankündigungen neuer staatlicher Aktivitäten in der Koalitionsvereinbarung. Im Kern - davon bin ich fest überzeugt - glauben Sie immer noch an den alten Übervater
Staat, der lenkt, der regelt und belohnt. Da mag Herr
Hombach sich noch so abstrampeln, am Schluß werden
doch wieder die alten Etatisten in der SPD gewinnen.
Warten Sie ab! Das kommt so. Das sage ich voraus.
({13})
All das sagt etwas über Ihr Staatsverständnis aus.
Das gilt auch - und vielleicht sogar besonders - für
die angekündigte Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Nun will ich, meine Damen und Herren, zuerst
einmal sagen: Die Ausländer- und die Asylpolitik ist ein
ganz schwieriges Feld. Ich gebe auch gerne zu, daß die
alte Koalition in diesem Bereich unterschiedliche Auffassungen hatte.
({14})
Aber bei allen unterschiedlichen Auffassungen ist eines
wichtig: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land,
und das soll so bleiben.
({15})
7,3 Millionen EU-Bürger und Ausländer leben auf Dauer in Deutschland, und sie sind Teil unserer Gesellschaft. Herr Schily, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,
wenn Sie sagen, wir brauchen uns nicht ständig selbst
anzuklagen, daß hier die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Da haben Sie recht.
Aber die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit ist nicht ein Thema wie jedes andere. Anders als
im Steuerrecht, anders als im Strafrecht sind die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und ein Automatismus bei der Einbürgerung von in Deutschland geborenen Kindern eben nicht mehr revidierbar. Selbst in
problematischen Fällen, wenn ein Bürger ausländischer
Herkunft wiederholt straffällig geworden ist, kann die
Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht wieder rückgängig gemacht werden. Das verbietet Art. 16 des
Grundgesetzes ausdrücklich. Insofern kommt es schon
darauf an, genau zu überlegen, was man da macht.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion läßt sich bei ihrer
Politik von drei Zielen leiten. Das ist einmal die Identität,
zweitens die Toleranz und drittens die Integration. Das
heißt konkret: Erstens. Wir wollen, daß die Zugangsbegrenzung für Ausländer, die nach Deutschland kommen
wollen, weiter so eng wie möglich gestaltet bleibt.
({16})
Zweitens. Wir wollen das Mögliche tun, um die in
Deutschland rechtmäßig lebenden Ausländer in unsere
Gesellschaft zu integrieren. Drittens. Wir halten die regelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit für falsch.
({17})
Kurt Biedenkopf, meine Damen und Herren, hat Anfang September in der Debatte hier im Bundestag gesagt, daß eine Politik scheitern muß, die von einer falschen Sicht der Wirklichkeit ausgeht.
({18})
Wie ist denn die Wirklichkeit in diesem Bereich? Da
wird zum Beispiel behauptet, die doppelte Staatsangehörigkeit sei international üblich. Wahr aber ist: Mit der
Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit geht Deutschland einen Sonderweg.
({19})
Zwei Drittel der europäischen Staaten verlangen als
Voraussetzung für die Einbürgerung die Aufgabe der
bisherigen Staatsangehörigkeit.
({20})
Die Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist Weltrechtsstandard. Selbst die so integrationsfreudigen skandinavischen Länder lehnen sie für Ausländer auf ihrem Territorium ab. Auch in Deutschland ist sie, anders als das
behauptet wird, bisher die Ausnahme. Nur 0,72 Prozent
der im Bundesgebiet lebenden Deutschen haben eine
weitere Staatsangehörigkeit.
Da wird behauptet, das Abstammungsprinzip sei
wilhelminisch - so in der Regierungserklärung - und
entspreche nicht dem europäischen Standard. Wahr aber
ist: Von den 43 europäischen Staaten kennt überhaupt
nur ein Land, nämlich Irland, das Territorialprinzip in
reiner Form. In abgeschwächter Form findet es sich in
weiteren sechs Staaten. Die restlichen 36 Staaten kennen
nur das Abstammungsprinzip.
Nun mag manchem, meine Damen und Herren, diese
Diskussion abstrakt vorkommen, aber sie ist hochsensibel. 1997 wurden bundesweit knapp 83 000 Ausländer
eingebürgert; von 1991 bis 1997 insgesamt 412 000.
Rund 56 Prozent - das sind rund 4 Millionen Ausländer - erfüllen nach den Zahlen des Ausländerzentralregisters die zeitliche Einbürgerungsvoraussetzung eines
mindestens achtjährigen Inlandsaufenthalts. Es wird
doch wohl niemand, der die Wirklichkeit kennt, behaupten wollen, sie alle seien in die deutsche Gesellschaft integriert.
Damit, meine Damen und Herren, stellt sich für mich
die zentrale Frage: Dient die Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsbürgerschaft der Integration der hier
lebenden Ausländer? Ich meine, nein.
({21})
Durch die doppelte Staatsangehörigkeit wird die Integration ausländischer Mitbürger nicht gefördert, sondern erschwert. Integration heißt, sich mit diesem Land,
mit seiner Geschichte, mit seiner Zukunft zu identifizieren. Integration heißt, Teil der Gesellschaft zu sein. Integration heißt, Rechte und Pflichten anzunehmen. Integration heißt, die deutsche Sprache zu sprechen. - Denn,
meine Damen und Herren, Kommunikation ist wichtig,
damit unsere Gesellschaft zusammenhält. - Integration
heißt, sich mit unserer Gesellschaft und Verfassungsordnung zu identifizieren. Deshalb, meine Damen und
Herren, kann Integration nicht alleine durch einen Hoheitsakt, nicht alleine durch die Übergabe des deutschen
Passes erreicht werden. Die Staatsbürgerschaft steht am
Ende und nicht am Anfang der Integration.
({22})
Die Koalitionsvereinbarung, meine Damen und Herren, verwechselt Ursache und Wirkung, und sie enthält
kein Wort darüber, welche Kriterien für den Nachweis
der Integration vorliegen müssen. Der Bundeskanzler
will anscheinend das volle Bürgerrecht verleihen, selbst
wenn keine Integration in unsere Gesellschaft erfolgt ist.
Oder wie versteht man den Satz in der Regierungserklärung: „Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür
seine ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen
müssen.“? Muß denn wenigstens ein Deutscher in
Deutschland Wurzeln haben, oder reicht die halbe
Loyalität? Soll es in Zukunft viele Deutsche geben, die
nur die halbe Loyalität schulden?
Wer zwei Pässe hat, kann, je nach Bedarf, mal so und
mal so optieren. Je nach Gelegenheit kann der deutsche
oder der ausländische Paß benutzt werden. In beiden
Staaten kann man wählen bzw. gewählt werden. Im
Ausland kann der Schutz von zwei Staaten in Anspruch
genommen werden.
({23})
Es erhöhen sich visumsfreie Reisemöglichkeiten. Vorteile bestehen im Steuerrecht, im Gewerberecht, im
Schulrecht, im Familienrecht, im Niederlassungsrecht.
Meine Damen und Herren, eine solche Privilegierung
- auch der entsprechende Verdacht dazu reicht - kann
nicht zur politisch unverzichtbaren Zustimmung der
deutschen Bevölkerung zur Integration der hier lebenden
Ausländer beitragen. Sie wird, so fürchte ich, eher für
zusätzliche lrritationen und Verwerfungen sorgen. Das
Bild einer Zweiklassengesellschaft droht - mit verhängnisvollen Folgen für Toleranz und Integration. Denn das
ist offenkundig: Auch nur der Verdacht, daß hier eine
bestimmte Bevölkerungsgruppe privilegiert wird, fördert
nicht Toleranz und Aufnahmebereitschaft, sondern beschädigt sie. Schon deshalb ist eine doppelte Staatsangehörigkeit der falsche Weg.
({24})
Meine Damen und Herren, wir werden über die weiteren Einzelheiten Ihrer Pläne noch diskutieren. Ich biete
Ihnen aber eines an: Lassen Sie uns das Thema Integration nicht auf das Thema Staatsangehörigkeit verengen.
Lassen Sie uns eine gemeinsame große Anstrengung von
Bund, Ländern und Kommunen unternehmen, um diejenigen zu integrieren, die in Deutschland leben und bleiben wollen und die noch nicht integriert sind.
Dann müssen wir aber, meine Damen und Herren, dafür Sorge tragen, daß es in Deutschland keine Schulklassen mehr gibt, in denen mehr als die Hälfte der Kinder
ausländischer Herkunft ist. Dann müssen wir dafür sorgen, daß mehr Lehrer für einen besseren Sprachunterricht zur Verfügung stehen, wie das etwa in Bayern bereits durchgesetzt ist. Dann müssen wir dafür sorgen,
daß nicht 17,6 Prozent der ausländischen Jugendlichen
ohne Hauptschulabschluß bleiben, daß nur 43 Prozent
der jungen Ausländer eine Lehre machen - gegenüber
zwei Dritteln der deutschen Jugendlichen. Dann müssen
wir dafür sorgen, daß es in unseren Städten keine Gettos
gibt.
Von all dem, meine Damen und Herren, ist in der
Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung
nichts zu lesen, kein Wort über das eigentliche Problem
der Integration. Aber hier gibt es die Möglichkeit, konkret etwas für die Integration zu tun.
({25})
Lassen Sie mich abschließend noch zu einem weiteren Thema kommen, das weit über den Komplex der
Integration hinausgeht. Ich meine die Einführung des
kommunalen Wahlrechts für hier lebende Ausländer, unabhängig davon, ob sie aus Ländern der Europäischen Union kommen oder nicht. Eine Grundgesetzänderung in dieser Frage ist mit der CDU/CSU-Fraktion
nicht zu machen. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht gehören zusammen, wie es auch das Bundesverfassungsgericht gesagt hat.
({26})
Dieses Thema geht über die reine Frage des Wahlrechts
hinaus. Das kommunale Wahlrecht für Angehörige von
Staaten außerhalb der Europäischen Union erschwert
auch die weitere europäische Einigung. Gleiches, so befürchte ich, gilt auch für die doppelte Staatsbürgerschaft
als Regelform. Was werden denn unsere europäischen
Partner sagen, wenn die Gewährung der doppelten
Staatsangehörigkeit dazu führt, daß mit ihr auch ein
Aufenthaltsrecht in ihren Ländern eingeräumt wird? Wie
wollen Sie eine gemeinsame europäische Flüchtlingsund Migrationspolitik durchsetzen, wenn Sie vorher nationale Alleingänge veranstalten? Wie wollen Sie von
anderen Ländern einen wirksamen Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union vor illegalen Einwanderern und Schleuserbanden verlangen, wenn Sie vorher
nicht mit ihnen reden? Was Sie vorhaben, erschwert die
europäische Einigung.
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat in
seiner Regierungserklärung einen Satz gesagt, der
mich - ich sage das ganz offen - hat schaudern lassen.
({27})
Der Satz lautet:
Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie
uns . . . um so besser trauen können, je mehr wir
Deutschen selbst unserer . . . Kraft vertrauen.
Es waren in der Vergangenheit immer die gefährlichen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein,
die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben.
Dieser Satz steht im unmittelbaren Kontext zu den Aussagen über die Ausländerpolitik. Was hier ohne europäische Abstimmung als nationaler Alleingang angekündigt
wird, ist ein deutscher Sonderweg und vielleicht - deshalb finde ich den Satz so schlimm - wieder eine Kraftmeierei, die zu einer gefährlichen Schieflage in Europa
führt.
({28})
Was Sie hier beginnen, ist ein gefährliches Spiel, das mit
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zu machen ist.
({29})
Ich erteile das Wort
dem Bundesinnenminister Otto Schily.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Zu meiner Amtseinführung hat
mir ein guter Freund ein im Jahre 1795 erschienenes
Buch geschenkt, das den Titel trägt: ,,Über die politische
Staatskunst“. Der Untertitel lautet: ,,Zur Belehrung und
Beruhigung für alle die geschrieben, welche bei der jetzigen Kannegießerei über Staatsglückseligkeit, Staatsverfassung, Regierung, Regenten und Untertanen eigentlich nicht wissen, woran sie sind.“
({0})
Meine heutigen Ausführungen sollen dazu beitragen,
daß alle wissen können, woran sie sind, auch Herr Kollege Rüttgers, der offenbar noch nicht den richtigen
Durchblick gewonnen hat.
({1})
Der weite Bereich der Innenpolitik - das möchte ich
an den Anfang stellen - bedarf in besonderem Maße einer nüchternen, sachlichen Betrachtung und eines behutsamen, jedoch zugleich konsequenten Vorgehens, zumal
Themen wie Kriminalität oder der rechtliche Status der
in unserem Land lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländischer Herkunft keine abstrakten Fragen darstellen, sondern Probleme, mit denen die Menschen im
Alltag unmittelbar konfrontiert sind; es sind Probleme,
die auch in die Gefühlswelt der Menschen hineinwirken.
Ich hoffe sehr, daß wir uns alle in diesem Hause darauf
verständigen können, den in unserer Gesellschaft durchaus vorhandenen Grundkonsens über Fragen der inneren Sicherheit zu bewahren und Vorhaben auf diesem sensiblen Feld in Zukunft möglichst in großer Gemeinsamkeit voranzubringen.
({2})
In der vergangenen Legislaturperiode ist das in großem Umfang gelungen. Die Kolleginnen und Kollegen
der Opposition lade ich jedenfalls ausdrücklich ein, sich
auch in Fragen der inneren Sicherheit konstruktiv an der
Gestaltung einer neuen Politik zu beteiligen. Auch konstruktive Kritik ist selbstverständlich willkommen.
An erster Stelle unserer Innenpolitik steht der Schutz
der Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt, Kriminalität und Extremismus. Aus den im Grundgesetz verbürgten Grundrechten auf Leben, körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit folgt
die damit untrennbar verbundene fundamentale Verpflichtung des Staates, seine Bürgerinnen und Bürger
davor zu schützen, Opfer von Gewalt und anderen Kriminalitätsformen zu werden.
({3})
- Das habe ich immer so gesehen, Herr Breuer.
Die Menschen haben ein Recht darauf, ihr Leben
friedlich und unbehelligt von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht zu führen. Nur ein Staat, der seiner friedenswahrenden und schützenden Aufgabe nachkommt, wird
mit der Zustimmung und mit dem aktiven Eintreten seiner Bürgerinnen und Bürger für ihn rechnen können.
({4})
In seiner Vorlesung zur Rechtsphilosophie im Jahre
1824 hat Hegel dazu folgendes gesagt:
So ist erreicht, daß das Individuum hier die Beschützung, den Schutz für die Ausübung seiner
Rechte findet, es findet diese beachtet von oben,
und so knüpft sich sein partikuläres Interesse an die
Erhaltung des Ganzen.
Die Legitimität eines Staates hängt daher - nach den
Worten Hegels - sehr wesentlich davon ab, ob er seiner
Schutzfunktion gerecht wird. Ein Staat, der von seinen
Bürgerinnen und Bürgern lediglich als überdimensionierte Regulierungsbehörde wahrgenommen wird, die zu
überhöhten Preisen schlechte Leistungen bietet, wird
weder den Verstand, geschweige denn die Herzen seiner
Bürgerinnen und Bürger erreichen können.
({5})
Das Gewaltmonopol des Staates, dessen friedenstiftende Funktion von niemandem in Zweifel gebracht
werden darf, erfordert diese Legitimität und hat deshalb
nicht nur Eingriffsrechte zum Inhalt, sondern auch
Handlungspflichten im Sinne eines wirksamen Schutzes
der Allgemeinheit und des einzelnen.
Die entschlossene Bekämpfung der Kriminalität
auf nationaler, zunehmend aber auch auf internationaler
Ebene muß daher eine Schwerpunktaufgabe der Innenpolitik bleiben.
({6})
Dabei bieten im internationalen Bereich die bevorstehende EU-Präsidentschaft und die bereits bestehende
Schengen-Präsidentschaft viele Handlungsmöglichkeiten, die genutzt werden müssen.
In einem demokratischen Rechtsstaat gilt ebenso
selbstverständlich, daß Kriminalitätsbekämpfung nur auf
der Grundlage und im Rahmen rechtsstaatlicher Grundsätze stattfindet. Im Gegensatz zu totalitären Staaten
setzt der demokratische Rechtsstaat durch Verfassung
und Gesetz seinen Befugnissen Grenzen und garantiert
die Kontrolle durch unabhängige Gerichte. Dem liegt
die Erkenntnis zugrunde, daß Freiheit und Sicherheit
sich wechselseitig bedingen.
({7})
Wir sollten uns davor hüten, die Gewährleistung der inneren Sicherheit als Einbuße an Freiheit mißzuverstehen.
({8})
Wer Kriminalität erfolgreich bekämpfen will, muß
sich ein möglichst genaues Bild von der Sicherheitslage
verschaffen. Dazu reichen nach unserer Überzeugung
die bisher verwendeten Datensammlungen, insbesondere
die Polizeiliche Kriminalstatistik, nicht aus.
({9})
Wir werden statt dessen einen periodischen Sicherheitsbericht erstellen, der auf wissenschaftlich fundierter
Grundlage eine Beurteilung der Kriminalitätsentwicklung in unserem Lande und der entsprechenden Gefahrenpotentiale und damit zugleich eine zielgenauere Bekämpfungsstrategie ermöglicht.
({10})
Wir werden Sicherheitsdefizite, soweit sie vorhanden
sind, nicht dadurch zu beseitigen versuchen, daß wir
ständig neue Gesetze beschließen. Wir setzen vielmehr
darauf, die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten
entschlossen und konsequent zu nutzen.
({11})
Jedoch muß auch das materielle Strafrecht im Bereich
der Wirtschafts- und der Umweltkriminalität verschärft
werden, um besorgniserregenden Entwicklungen auf
diesem Gebiet entgegenzuwirken.
({12})
Auch das Waffenrecht werden wir neu regeln.
Im internationalen Vergleich kann sich Deutschland
rühmen, eines der sichersten Länder der Welt zu sein.
({13})
Das verdanken wir nicht zuletzt der guten Arbeit von Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei. Das ist Grund genug, allen, die in diesen wichtigen Institutionen ihre
Pflicht tun, unsere besondere Anerkennung und unseren
Dank auszusprechen.
({14})
Der Slogan „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ ist,
wie ich finde, zu Unrecht verspottet worden.
({15})
Die Menschen - und es sind viele -, die in einer konkreten Notsituation auf die Unterstützung der Polizei
angewiesen waren, wissen den Polizeibeamten als
Freund und Helfer durchaus zu schätzen. Der neue Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinnrath, hat in einem Aufsatz für das „Deutsche Allgemeine
Sonntagsblatt“ mit Recht auf die guten Erfahrungen hingewiesen, die man mit dem partnerschaftlichen Konzept
des „neighborhood policing“ oder auch mit dem Konzept des „problem-oriented policing“, also der problemorientierten Polizeiarbeit, in der US-amerikanischen
Stadt San Diego gemacht hat. Man sollte sich in den
USA die richtigen Vorbilder suchen, meine Damen und
Herren.
({16})
Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, daß
sich gerade die Polizeigewerkschaften stets uneingeschränkt für die strikte Einhaltung rechtsstaatlicher
Grundsätze bei der Polizeiarbeit eingesetzt haben. Auch
das trägt zur Akzeptanz der schwierigen Tätigkeit der
Polizei in der Bevölkerung in erheblichem Maße bei.
({17})
Die Polizei ist auf gute Zusammenarbeit mit dem privaten Sicherheitsgewerbe angewiesen. Das private Sicherheitsgewerbe erfüllt wichtige Aufgaben. Wir halten
es aber für geboten, daß die Befugnisse und die notBundesminister Otto Schily
wendige Qualifikation im privaten Sicherheitsgewerbe
gesetzlich klar geregelt werden, um keine Grauzonen
entstehen zu lassen.
({18})
Ebenso wichtig - wenn nicht sogar wichtiger - wie
der entschlossene Einsatz repressiver Mittel gegen aktuelle Kriminalität ist die Prävention. Der Grundsatz, daß
Vorsorge allemal besser ist als Nachsorge, gilt auch im
Bereich der Politik der inneren Sicherheit.
({19})
Prävention - das ist oft gesagt worden - ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das heißt konkret, daß
alle gesellschaftlichen Kräfte und jeder einzelne an dieser Aufgabe mitwirken muß: die Länder, der Bund, die
Kommune, die Polizei, die gemeinnützige Organisation,
die Familie, die Schule.
({20})
Die Sicherheitspartnerschaften verschiedener Aufgabenträger auf allen staatlichen Ebenen, auf seiten des Bundes
unter Einbeziehung des Bundesgrenzschutzes, müssen
verstärkt werden. Wir werden nach weiteren Möglichkeiten Ausschau halten, um technische und organisatorische
Prävention auszubauen und zu verbessern.
Ein besonderes Gewicht hat die soziale Prävention.
Das Beste, was sich diese Regierung vorgenommen hat,
ist in dieser Hinsicht das Programm zur Schaffung von
Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Jugendliche.
({21})
Wie sollen Jugendliche die Regeln einer Gesellschaft
akzeptieren lernen, wenn die Gesellschaft für sie weder
eine verläßliche Perspektive in Form von Ausbildungsund Arbeitsplätzen noch genügend Kultur- und Freizeiteinrichtungen bereithält? Hier für Abhilfe zu sorgen
ist jeder Anstrengung wert, wenn wir nicht unsere Zukunft verspielen und die Jugend unserem Staat entfremden wollen.
({22})
Ich unterstreiche an dieser Stelle noch einmal, daß
nach meinem Verständnis auch die Kultur eines Landes
eine zentrale Bedeutung im Sinne von Prävention zur
Verhinderung von Fehlentwicklungen Jugendlicher hat.
({23})
Ich wiederhole bewußt den von mir erwähnten Satz:
Wer Musikschulen schließt, schadet der inneren Sicherheit.
({24})
- Ich freue mich, daß dieser Satz auch den Beifall der
Opposition findet.
Diese Behauptung wird - das ist für einige vielleicht
eine Überraschung - auch durch die Erfahrung in einer
großen Kommune, nämlich in London, bestätigt, über
die Yehudi Menuhin berichtet hat: In einem Distrikt von
London, der bisher zu den Problembezirken hinsichtlich
der Jugendkriminalität zählte, ist die Gewaltbereitschaft
der Jugendlichen im Vergleich zu anderen Distrikten
deutlich zurückgegangen, weil es dort ein breites Angebot zur musischen Betätigung für Jugendliche gibt. Das sollte uns zu denken geben.
({25})
Damit Erfahrungen auf dem Gebiet der Kriminalprävention ausgetauscht und wissenschaftlich aufgearbeitet
werden können, um zu einer Gesamtstrategie zu gelangen, werden wir ein „Deutsches Forum für Kriminalprävention“ gründen.
Den inneren Frieden wahren und die innere Sicherheit gewährleisten können wir nur, wenn der innere Zusammenhalt der Gesellschaft nicht verlorengeht. Dazu
gehört auch, daß wir den Bürgerinnen und Bürgern ausländischer Herkunft, die schon seit langer Zeit bei uns
leben und in beträchtlichem Umfang - das sollten wir
nie vergessen - zum Wohlstand und Gedeihen unseres
Landes beitragen, die volle Integration in unseren Staat
ermöglichen.
({26})
Wir werden daher, was längst überfällig ist und was Sie
leider über viele Jahre hin nicht geschafft haben, das
Staatsangehörigkeitsrecht grundlegend reformieren.
({27})
Wir bringen damit das Staatsangehörigkeitsrecht auf
ein modernes europäisches Niveau, das dem aufgeklärten Staats- und Verfassungsverständnis des beginnenden
neuen Jahrhunderts entspricht.
({28})
Es ist ein Vorhaben von wahrhaft historischen Dimensionen. Unsere Gesellschaft beweist sich damit als freiheitliche, tolerante und weltoffene Ordnung.
({29})
Sie, Herr Rüttgers, haben insofern eine völlig rückwärtsgewandte Sichtweise.
({30})
Ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht kann sein
Integrationsziel nur dann erreichen - das lehrt die Erfahrung -, wenn das Entstehen einer doppelten Staatsbürgerschaft hingenommen wird. Das Entstehen einer doppelten Staatsbürgerschaft ist gewiß kein eigenständiges
Ziel in dem Sinne, daß wir möglichst viele doppelte
Staatsbürgerschaften herbeiführen wollen. Jedoch darf
das Entstehen einer doppelten Staatsbürgerschaft nicht
länger ein Integrationshindernis sein.
({31})
Ich weiß, daß es gegen doppelte Staatsbürgerschaften
durchaus ernstzunehmende Einwände gibt. Wir werden
uns mit diesen Einwänden in den Ausschußberatungen
gründlich auseinanderzusetzen haben. Die Kritiker sollten jedoch nicht übersehen, daß bereits durch eine große
Anzahl von binationalen Ehen doppelte Staatsbürgerschaften entstehen, ohne daß das zu irgendwelchen
Schwierigkeiten geführt hätte.
({32})
Die CSU muß daran erinnert werden, daß sie in einem
Nachbarstaat, in Polen, durchaus für doppelte Staatsbürgerschaften eintritt. Ihre Haltung ist daher mit der Logik
nicht in Einklang zu bringen.
({33})
Integration kann allerdings nur gelingen, wenn auch
die Zuwanderer zu Integrationsleistungen bereit sind.
Dazu gehört die Respektierung unserer Verfassungsund Rechtsordnung ebenso wie - das halte ich für völlig
selbstverständlich; ich weiß gar nicht, warum man darüber noch ins Grübeln kommt - das Erlernen der deutschen Sprache.
({34})
Wer sich in einem Land länger aufhalten will, muß sich
auch der Kommunikationsmöglichkeiten versichern.
({35})
- Es ist eine ganz andere Frage, ob man das ins Gesetz
schreiben muß. Das halte ich allerdings nicht für notwendig.
({36})
Vielmehr müssen wir die notwendigen Angebote machen. Das ist Integration.
({37})
Herr Rüttgers, Integration ist übrigens ein Prozeß. Auch
ein deutsches Kind kommt nicht integriert auf die Welt.
({38})
Vielmehr wird es dadurch, daß es in Deutschland aufwächst, in die Gesellschaft integriert.
({39})
Allgemein werden die Probleme im Zusammenhang
mit Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen und
Migration an Bedeutung zunehmen. Die Zuwanderung
nach Westeuropa erreichte durch den Zusammenbruch
der osteuropäischen Staatensysteme und den Krieg auf
dem Balkan quantitative Dimensionen, die seit dem
Zweiten Weltkrieg nicht mehr dagewesen sind. Insgesamt verließen nahezu 10 Millionen Menschen in einem
Zeitraum von fünf Jahren ihre Heimat, von denen etwa
4 Millionen nach Westeuropa kamen.
Die neue Bundesregierung steht zu ihrer Verpflichtung, politisch Verfolgten Zuflucht zu gewähren und
Bürgerkriegsflüchtlingen vorübergehend Schutz zu bieten. Wir orientieren unsere Politik auch an den Fakten.
Zu diesen gehört die Tatsache, die leicht einzusehen ist,
daß Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten Ziel
von Zuwanderern geworden ist. Daß Sie davor immer
Ihre Augen verschlossen haben, zeigt Ihre Realitätsfremdheit.
({40})
Sicherlich kann Zuwanderung zu nicht unerheblichen Belastungen und Konflikten führen. Wir sollten
dabei aber nicht den Blick dafür einbüßen, daß Zuwanderung auch erhebliche positive Auswirkungen hat, in
demographischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht.
({41})
Ich empfehle Ihnen, einmal die Aufsätze von Professor
Werner Weidenfeld nachzulesen, damit auch Sie diese
Erkenntnis gewinnen können.
({42})
- Ja, Sie wissen das am allerbesten, Herr Marschewski,
schon aus Ihrer Familiengeschichte. Das stimmt.
({43})
In Europa, insbesondere in Mitteleuropa, haben stets
Migrationsbewegungen stattgefunden, die in aller Regel
zur Belebung und Auffrischung von Kultur und Gesellschaft beigetragen haben. Wenn wir über Fragen der
Migration und der Aufnahme von Flüchtlingen sprechen, sollten wir aber bei nüchterner und realitätsbezogener Betrachtungsweise auch anerkennen, daß Belastungsgrenzen nicht überschritten werden dürfen.
Herr Bundesminister
Schily, darf ich Sie auf folgendes hinweisen: Sie dürfen
zwar als Mitglied der Bundesregierung so lange sprechen, wie Sie mögen, gleichwohl war vereinbart, daß die
Zeit auf die Redezeit der Fraktion angerechnet wird. Ich
möchte Sie nur darauf hinweisen.
Ich bitte um
Nachsicht. Ich werde versuchen, meine Ausführungen
zu kürzen, aber sie enthalten einige Aspekte, die ich
auch im Interesse der Klarheit, die Herr Rüttgers von
mir eingefordert hat, vortragen muß. Ich bitte um Verständnis. Ich mache jetzt von der Möglichkeit eines Regierungsmitglieds, länger zu sprechen, ausnahmsweise
Gebrauch. Ich bitte wirklich um Verständnis, wenn das
den Ablauf ein wenig belastet. Ich halte es aber für notwendig, daß diese Dinge angesprochen werden.
({0})
Wer die Zuwanderung grundsätzlich bejaht, muß
auch die Zuwanderungssteuerung bejahen. Wir werden die Ausländer- und Flüchtlingspolitik in manchen
Einzelfragen überprüfen, neu justieren und flexibler gestalten. Ich warne aber vor illusionären Erwartungen, die
wir nicht erfüllen können, wenn wir nicht die gesetzlichen Steuerungsmöglichkeiten für den Zuzug völlig außer Kraft setzen wollen.
Deutschland hat im europäischen Vergleich eine
überproportional große Anzahl von Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylsuchenden aufgenommen. Wir müssen
darauf bestehen, daß es in Europa zu einer gerechteren
Lastenverteilung kommt. Die Flüchtlings- und Migrationspolitik muß ohnehin im europäischen Rahmen harmonisiert werden. Wir werden die österreichischen Bemühungen im Rahmen der österreichischen Präsidentschaft unterstützen und ihnen jede Hilfe angedeihen lassen.
Ich werde jetzt nur noch einige Stichworte nennen,
damit ich die Redezeit nicht zu sehr überziehe. Ich bin
auf die Modernisierung der Bundesverwaltung angesprochen worden. Ich muß mich auf den Hinweis beschränken, daß das für uns eine vorrangige Aufgabe ist.
Herr Kollege Rüttgers, Sie haben dazu einige Fragen gestellt. Wir werden bei anderer Gelegenheit die Möglichkeit haben, diese zu vertiefen. Ich werde darauf zurückkommen.
Ich halte es für notwendig, daß ich wegen der Aktualität noch kurz auf folgende Frage eingehe.
({1})
- Richtig. - Der Innenminister ist bekanntermaßen Verfassungsminister - Herr Rüttgers hat mit Recht darauf
hingewiesen - und hat deshalb dafür zu sorgen, daß die
Verfassung und die Verfassungsordnung vor verfassungsfeindlichen extremistischen Bestrebungen geschützt wird. Dieser Verantwortung wird auch die neue
Bundesregierung, der neue Bundesinnenminister gerecht
werden.
Bestrebungen der genannten Art zu beobachten ist
Aufgabe des Verfassungsschutzes in Bund und Ländern.
Zu den Beobachtungsobjekten gehört unter anderem die
PDS. Für einige Aufregung, auch bei Herrn Rüttgers,
hat meine Ankündigung gesorgt, die Fortsetzung der
Beobachtung der PDS zu überprüfen. Ich verstehe Ihre
Aufgeregtheit nicht. Es gehört zu meinen selbstverständlichen Pflichten, auf Grund der Erkenntnisse des
Verfassungsschutzes ständig zu überprüfen, ob und in
welchem Ausmaß die Beobachtung einer Organisation
zulässig und notwendig ist.
({2})
In der Tat besteht bei der PDS auf Grund aktueller
Äußerungen aus deren Leitungsbereich ebenso wie auf
Grund ihrer veränderten Rolle als Fraktion im Bundestag sowie als Mitträger einer Landesregierung Überprüfungsbedarf. Ich gehe selbstverständlich davon aus,
daß in die mecklenburg-vorpommersche Landesregierung nur Mitglieder aufgenommen werden, die unsere
verfassungsmäßige Ordnung achten und nicht in Frage
stellen.
Leider sind Äußerungen aus der Führungsebene der
PDS zwiespältig. Der Parteivorsitzende Bisky fordert im
„Neuen Deutschland“ vom 9. November 1998 ein neues
Parteiprogramm und bekräftigt laut „Neues Deutschland“, alles in der Partei gehöre auf den Prüfstand, von
der Programmatik bis zur Parteistruktur.
Andererseits erklärt Frau Pau, so schreibt es die
„Junge Welt“ vom 9. November 1998, die Partei stehe
auf dem Boden des Grundgesetzes. Die Systemfrage
wolle die PDS aber nicht fallenlassen. Dazu paßt dann
der im Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums für 1997 wiedergegebene Ratschlag von Herrn
Brie als Leiter der Grundsatzkommission, die PDS müsse endlich erkennen, welche Chancen für sie im Grundgesetz lägen. Sie müsse sich dessen Instrumentarium aneignen und lernen, darauf zu spielen.
Das sind mindestens mißverständliche Bekundungen.
Es ist Sache der PDS, ihre veränderte Rolle im politischen Gefüge Deutschlands zu definieren sowie Klarheit
und Eindeutigkeit zu schaffen.
({3})
Ich fordere die PDS ausdrücklich dazu auf, uns unmißverständlich zu erklären, ob sie als eine neue demokratische Kraft mit all ihren Organisationen und Gremien auf dem Boden des Grundgesetzes steht und die freiheitlich-demokratische Grundordnung ohne Wenn und
Aber achten und verteidigen will oder ob sie zumindest
in Teilen weiterhin kommunistische Bestrebungen
duldet und auf lange Sicht danach trachtet, das System
und das Wesen unserer freiheitlich-demokratischen
Grundordnung zu verändern.
Deshalb haben Sie, meine Damen und Herren von der
PDS, es selber in der Hand, ob die Weichen für oder gegen eine Fortsetzung der Beobachtung gestellt werden.
Meine Entscheidung auf Bundesebene werde ich auf
Grund des Berichts treffen, den ich vom Bundesamt für
Verfassungsschutz angefordert habe, und natürlich im
Einvernehmen mit meinen Kollegen in den Bundesländern.
Der Zeitrahmen läßt es, wie gesagt, nicht zu, auf alle
innenpolitische Projekte und Vorhaben im Detail einzugehen. Ich möchte aber zum Schluß betonen, daß uns die
Förderung des Breitensports und des Spitzensports das bin ich schon meinem Kollegen Beucher schuldig ein besonderes Anliegen sein wird.
({4})
Für uns hat der Sport einen besonderen Stellenwert;
denn er leistet nicht nur einen grundlegenden Beitrag für
eine aktive, sinnvolle Freizeitgestaltung; vielmehr ist er
zugleich ein unverzichtbares Element aktiver Gesundheitsvorsorge.
({5})
Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich den Titel
eines im Jahre 1795 erschienenen Buches zitiert. Lassen
Sie mich am Ende meiner Ausführungen einen Satz aus
Friedrich Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ zitieren, die ebenfalls im Jahr 1795
veröffentlicht wurden. Es heißt dort:
Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen
wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz
geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große
Schicksal der Menschheit verhandelt wird.
Ja, auch unsere Politik ist - wenn auch nur ein kleiner - Teil des Schicksals der Menschheit. Viele Erwartungen sind an uns gerichtet. Wir versprechen Ihnen,
diese Erwartungen nach Kräften zu erfüllen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich darf nun wieder
die Einhaltung der Redezeit anmahnen und erteile Herrn
Dr. Westerwelle das Wort.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns
heute morgen mit Fragen der Wirtschaftspolitik auseinandergesetzt. Sie haben zur Kenntnis genommen, daß
die Fraktion der Freien Demokraten mit dieser Politik
nicht einverstanden ist. Aber wir verstehen unsere Rolle
in diesem Hause als die einer konstruktiven Opposition.
Das heißt, wir werden als Opposition nicht eine fundamentale Blockade veranstalten, wir werden nicht ablehnen um der Ablehnung willen. Wir werden mit Sicherheit das unterstützen, was auch aus unserer Sicht unterstützenswert ist.
({0})
Was die Vereinbarungen zur Innen- und Rechtspolitik
angeht, so erlauben wir Liberale uns eine differenzierte
Bewertung. Wir finden, daß das, was in der Koalitionsvereinbarung festgelegt und in der Regierungserklärung
vom Bundeskanzler vorgetragen wurde, sehr wohl Licht
und Schatten hat. Ich will mit dem Bereich anfangen,
von dem wir hoffen, daß wir dort gemeinsam zu Mehrheiten hier im Hause gelangen können: Das ist die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts.
({1})
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß in der letzten Legislaturperiode zwischen den Koalitionsparteien
CDU/CSU und F.D.P. keine Einigung über eine Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts zustande gekommen ist.
({2})
Wir haben jetzt in der Opposition nicht nur die Freiheit,
sondern auch eine Verpflichtung. Wir haben den Auftrag unserer Wählerinnen und Wähler, das, was wir versprochen haben, auch durchzusetzen. Wir wollen, daß
das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert wird und daß es
auf die Höhe unserer Zeit kommt. Deswegen bieten wir
Ihnen gemeinsame Gespräche an. Ich appelliere auch an
die Kolleginnen und Kollegen aus der Union, mit denen
wir in der letzten Legislaturperiode in weiten Bereichen
einig waren, mitzuwirken. Die Modernisierung des
Staatsangehörigkeitsrechts ist eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit.
Sie darf unsere Gesellschaft nicht spalten; sie muß sie
einen, meine Damen und Herren.
({3})
Eines macht aus der Sicht der Freien Demokraten Herr Kollege Rüttgers, in diesem Punkt haben wir einen
ganz klaren Dissens - keinen Sinn. Sie sagen, Sie wollen
keine Gettos. Wenn man keine Gettoisierung in den
Städten will, dann sagt man das zu Recht. Aber dann
man muß vorher die Gettoisierung in den Köpfen der
Kinder verhindern! Deswegen sollten diese integriert
groß werden.
({4})
Die Staatsbürgerschaft ist eines der wesentlichsten Fundamente. Die Staatsbürgerschaft beschreibt Rechte und
Pflichten. Eine Änderung dieses Fundaments muß losgelöst von parteipolitischen Denkbarrieren möglich sein.
Das sage ich in beide Richtungen.
Meine Damen und Herren, wir als F.D.P. rufen dazu
auf, in diesem Hause über die Parteigrenzen hinweg eine
Initiative für eine verbesserte Integration der in
Deutschland geborenen Kinder zu schaffen. Denn es
geht um diese Kinder - nicht darum, daß mehr Ausländer nach Deutschland kommen sollen. Es geht darum,
daß die Kinder, die in Deutschland geboren werden und
von denen wir wissen, daß sie immer in Deutschland leben werden, integriert und nicht mit einer ausländischen,
mit einer ausgegrenzten Identität groß werden.
({5})
Der Paß ist natürlich nur die eine Seite der Medaille.
Das weiß doch jeder, der sich mit der Materie beschäftigt. Die Sprache, die Bereitschaft, sich auf die kulturellen Eigenheiten einzulassen, und das Bekenntnis zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie
sie im Grundgesetz steht - das alles gehört selbstverständlich dazu. Aber der Paß ist sehr wohl auch eine
Antwort auf die gesellschaftliche Realität. Heute haben
wir eine gesellschaftliche Realität, die das Ergebnis der
Entwicklungen in den 50er und 60er Jahren ist. Sie
können den Kindern, die heute in Deutschland geboren
werden, die deutsch als Muttersprache sprechen und
die Sprache ihrer Eltern allenfalls mit einem deutschen
Akzent beherrschen, den deutschen Paß nicht verwehren.
({6})
Wir brauchen jede Möglichkeit, um die Integration voranzubringen, denn sonst schaffen wir den sozialpolitischen Sprengstoff in unserer Gesellschaft, der sich
schon in wenigen Jahren bitterbös rächen wird.
({7})
Allerdings möchte ich Ihnen folgendes sagen, was Ihre Vereinbarung angeht. In unserer Fraktion haben wir
uns sehr genau mit dem, was Sie - was die doppelte
Staatsangehörigkeit angeht - in der Koalitionsvereinbarung stehen haben, und dem, was der Bundeskanzler in
seiner Regierungserklärung gesagt - oder besser: nicht
gesagt - hat, auseinandergesetzt. Das ist ein spannender
Unterschied. Wenn man das, was Herr Kollege Rüttgers
gesagt hat, wörtlich nimmt - auch er hat von der doppelten Staatsangehörigkeit als Regelfall gesprochen -,
dann sehe ich Möglichkeiten der Einigung und Möglichkeiten zur Brückenbildung. Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall - für alle und auf Dauer - ist
eben nicht eine Maßnahme der Integration. Deswegen
schlagen wir Ihnen vor: Lassen Sie uns in Deutschland
nicht eine doppelte Staatsangehörigkeit für alle auf Dauer einführen; lassen Sie vielmehr die Kinder, die hier
geboren werden, mit einem deutschen Paß groß werden.
Wenn sie volljährig sind, dann müssen sie sich zwischen
der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern und der Staatsangehörigkeit der Deutschen entscheiden. Das ist ein fairer
Interessensausgleich, der auf Dauer allen Seiten mehr
hilft als die doppelte Staatsangehörigkeit.
({8})
Wer andererseits schon jetzt ankündigt, eine Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts notfalls per
Verfassungsklage zu bekämpfen, wird dieser Integrationsaufgabe nicht gerecht.
Wir werden Änderungsanträge einbringen; wir werden in den Ausschüssen Gelegenheit haben, über diese
Fragen zu reden. Das herrschende Recht würde das Optionsmodell, das wir vorschlagen, in keiner Weise verhindern. Natürlich ist es möglich, einer volljährigen Person die Entscheidung über ihre Staatsangehörigkeit abzuverlangen.
({9})
Ich will einen zweiten Bereich herausgreifen, der
vom Kollegen Rüttgers - nicht von Herrn Schily - erwähnt wurde und der ganz zweifelsohne von der Bundesjustizministerin noch angesprochen werden wird,
nämlich die Aufwertung der nichtehelichen, der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Die Zahl der
nichtehelichen Lebensgemeinschaften hat sich im früheren Bundesgebiet zwischen 1972 und 1995 verzehnfacht. Es gibt längst viele große Städte, in denen die
Mehrheit der Menschen nicht mehr in der klassischen
Familie, in der klassischen Ehe zusammenlebt, in denen
es neue Verantwortungsgemeinschaften gibt. Politik beginnt mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit.
({10})
Es geht nicht darum, ob wir das gut oder schlecht finden. In dieser Frage wird jeder Abgeordnete möglicherweise eine eigene Meinung haben. Aber die Realität
muß zur Kenntnis genommen werden. Wir sollten diese
neuen Verantwortungsgemeinschaften nicht gegen Ehe
und Familie ausspielen. Wir sollten begreifen: Wenn
Menschen in jeder denkbaren Form von Lebensgemeinschaft Verantwortung füreinander übernehmen, dann
verdient das die Anerkennung des Staates und rechtfertigt, daß Diskriminierung aufgehoben wird.
({11})
Das gesellschaftliche Bewußtsein hat sich doch verändert. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften galten
zu meiner Schulzeit noch als studentisches Konkubinat.
Heute finden Sie nichteheliche Lebensgemeinschaften - ({12})
- Frau Kollegin Beck, ich habe von meiner Schulzeit
gesprochen. Ich möchte Sie um eines bitten: Machen Sie
keinen weiteren Zwischenruf, sonst könnte ich an der
Stelle eine ungalante Antwort geben.
({13})
- Ihr habt gar nicht gehört, was gesagt wurde.
Entscheidend ist - mit allem Ernst und ohne Frotzelei -, daß wir feststellen, wie sich heute die gesellschaftliche Realität und auch die Wert- und Moralvorstellungen verändert haben und verändern müssen. Das Prinzip
der Subsidiarität in der katholischen Soziallehre bedeutet, daß man zunächst einmal die Verantwortung bei der
Bürgergesellschaft sucht und sich erst anschließend an
den Staat wendet. Es ist keine Abwertung von Ehe und
Familie, wenn künftig neue Verantwortungsgemeinschaften in Deutschland nicht mehr diskriminiert werden.
({14})
Im übrigen möchte ich auch darauf aufmerksam machen: Es ist nicht in Ordnung, wenn wir an dieser Stelle
- das halte ich für wichtig - den Eindruck erwecken, daß
man das an anderer Stelle vertraglich regeln könnte. Das
ist eben nicht möglich. Der Unterschied zwischen den
nichtehelichen und den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften liegt nämlich auf der Hand. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften haben die Möglichkeit
des Ehevertrages. Für die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften sollte die Möglichkeit des Instituts
einer eingetragenen Partnerschaft geschaffen werden.
({15})
Das ist kein Werteverfall. Wenn in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft ein Partner für seinen tödlich erkrankten Partner Verantwortung übernimmt und ihn bis zum Schluß pflegt, dann ist das kein
Werteverlust, sondern eine Wertegewinn in unserer Gesellschaft.
({16})
Herr Minister Schily, ich will aber auch noch auf eine
Sache zu sprechen kommen, mit der ich mich nicht einverstanden erklären kann. Sie haben das Verhältnis von
Sicherheit und Freiheit mit Worten von Hegel beschrieben. Wer wollte dem nicht zustimmen? Aber ich
glaube, daß Sie sich hier doch einen sehr schlanken
Fuß gemacht haben, was die Frage der PDS angeht. Es
ist schon bemerkenswert - dahinter stecken System und
Methode -, daß Sie in der Koalitionsvereinbarung
nur noch davon sprechen, den Rechtsextremismus
zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit zu machen. Da
heißt es:
Die neue Bundesregierung wird die politische Auseinandersetzung mit und die Bekämpfung von
Rechtsextremismus zu einem Schwerpunkt machen.
Das ist sehr wohl ein Unterschied zur früheren Politik
der Bundesregierung. Wir haben uns immer als wehrhafte Demokratie verstanden. Extremismus von rechts
und von links, meine Damen und Herren, muß in diesem
Lande politisch bekämpft werden; beides bedroht Freiheit.
({17})
Deswegen ist es kein Zufall, was Sie gesagt haben,
auch wenn Sie heute hier die erste Absetzbewegung gemacht haben. Sie haben am Montag in Berlin gesagt, es
sei eine „vertrackte Situation“, wenn die PDS wie in
Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligt
sei und andererseits vom Verfassungsschutz beobachtet
werde. Aber die Antwort auf dieses Problem, auf diese
„vertrackte Situation“, kann nicht sein, jetzt die PDS aus
Gründen politischer Opportunität aus der Beobachtung
herauszunehmen.
({18})
Sie dürften dann nicht mit dieser Partei in MecklenburgVorpommern koalieren. Das muß die Antwort eines
wirklich freiheitlich denkenden Menschen sein.
({19})
Aber in Wahrheit stecken dahinter System und Methode.
Da wird etwas vorbereitet, übrigens ganz ähnlich wie bei
der Diskussion um die Bundesbank. Da wird ein Stein
ins Wasser geworfen, und die Wellen sind wohlkalkuliert.
Deswegen möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, was
die Vorstandssprecherin der Grünen heute um 12 Uhr
über die Agenturen hat laufen lassen. Frau Röstel springt
Herrn Kollegen Schily bei; in dieser Agenturmeldung
heißt es, die Grünen-Sprecherin Gunda Röstel habe sich
gegen die weitere Beobachtung der PDS durch den Verfassungsschutz ausgesprochen.
({20})
- Sie mögen dabei klatschen, und ich kann verstehen,
warum Sie klatschen: weil Sie die PDS längst auch in
diesem Hause als Ihre stille Machtreserve einkalkuliert
haben.
({21})
Das ist der Grund für die Entwicklung, die Sie mit Herrn
Schily begonnen haben.
({22})
Das ist doch auch der Grund, meine Damen und Herren, warum wir hier immer wieder erleben, wie dann
auch tatsächlich eine Erosion des Rechtsstaates stattfindet. Übrigens ist sehr bemerkenswert, daß bei der Frage
der Rechtspolitik ausgerechnet von Ihnen angemahnt
wird, daß das Bürgerrechtsprofil hochgehalten wird. Das
ist schon arg drollig. Sie sitzen in Nordrhein-Westfalen
in einer Landesregierung, die de facto das Justizministerium abschaffen will. Sie sitzen in MecklenburgVorpommern in einer Landesregierung, die das Justizministerium abschaffen will. Wir als Liberale sagen:
Wir brauchen die Unabhängigkeit der Justiz. Justizministerien sind nicht irgendwelche Anhängsel der Landesverwaltungen. Wenn Sie eine echte Bürgerrechtsund Rechtsstaatspartei wären, dann würden Sie dafür
sorgen, daß das Gewaltenteilungsprinzip an dieser Stelle
nicht durch die Zusammenlegung des Innen- und des
Justizressorts kaputtgemacht wird.
({23})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage?
Ja, klar.
Bitte schön.
Gehen Sie mit mir in der Auffassung einig,
daß ein Justizministerium Teil der Exekutive ist und daß
das mit Gewaltenteilung überhaupt nichts zu tun hat?
({0})
Nein, damit bin
ich nicht einverstanden, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die Aufgabe des Justizministeriums ist
auch eine Aufsicht, mindestens eine Dienstaufsicht, über
die Justiz und die entsprechenden weiteren Behörden.
Wohin die andere Entwicklung führt, können Sie an dem
erkennen, was ich als Bonner Abgeordneter anläßlich
der Kundgebungen und Demonstrationen an einem
Samstag erlebt habe.
({0})
- Entschuldigen Sie, wenn Sie mir eine Zwischenfrage
stellen, dann sind Sie doch zweifelsohne auch an der
Antwort interessiert. Oder haben Sie sie nur rhetorisch
gestellt? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.
Der Punkt, über den wir hier reden, ist doch, daß es
dort Probleme gegeben hat, weil Kompetenzen miteinander in Schwierigkeiten geraten sind. Daraus kann man
entnehmen, daß sich so etwas, wenn es realisiert würde,
nicht bewähren kann. Wir erleben nämlich, daß auf der
einen Seite die Strafverfolgungsbehörden und auf der
anderen Seite Polizeibeamte stehen. Gleichzeitig erleben
wir, wie eine Vermischung der politischen Aufgaben erfolgt. Ich will es ganz klar sagen: Ich habe geradezu mit
Erschrecken zur Kenntnis genommen, was grüne Politiker bei dieser Demonstration wörtlich - gemäß den Aussagen von Journalisten in Zeitungsberichten - gesagt
haben.
({1})
- Entschuldigen Sie bitte, ich antworte Ihnen noch.
({2})
- Wer sich in die Gefahr einer Zwischenfrage begibt,
der kann darin auch umkommen.
Gleichwohl sind
dabei auch die Zeiten ein wenig zu beachten, Herr Kollege.
Ich bin sofort fertig. Ich mache nur noch zwei Anmerkungen hierzu.
Es kann doch nicht akzeptiert werden, was zwei
Journalisten dort gehört haben. Sie berichten, daß Polizeibeamte von Politikern Ihrer Partei, den Grünen, mit
den Worten eingeschüchtert worden sind: Wenn hier
nicht gleich etwas passiert, dann haben Sie 1 000 Leute
aus der Bonner Beethovenhalle hier. - Dort fand ja bekanntlich der Parteitag der Grünen statt. Herr Appel
wird mit der Äußerung zitiert: Wenn ihr das nicht laßt,
kündigen wir die Koalition in Düsseldorf. - Wer auf
diese Art und Weise Strafverfolgung behindert und daran mitwirkt, daß gewaltbereite Autonome nicht festgenommen werden können, der hat nun wirklich jeden Anspruch verloren, in diesem Hohen Hause als Rechtsstaatspartei aufzutreten oder sich so darzustellen.
({0})
Nun ist Ihre Redezeit aber abgelaufen.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat die
Kollegin Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Integration ist ein Anspruch und eine Anstrengung, zu der es keine Alternative gibt. Dies ist die
Quintessenz des Memorandums meiner Vorgängerin
im Amt der Ausländerbeauftragten, Frau SchmalzJacobsen. Ich möchte an das politische Vermächtnis, in
dem sich übrigens alle meine Amtsvorgängerinnen und
-vorgänger einig waren, anschließen: erleichterte Einbürgerung, rechtliche Gleichstellung und soziale Integration.
Diese neue Bundesregierung wird den Reformstau
der Ära Kohl in der Integrationspolitik endlich auflösen. Diese neue Bundesregierung hat sich nämlich entschieden, mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht
endlich den Anschluß an die modernen Gesellschaften
des 20. Jahrhunderts zu suchen und auch den Menschen
die vollen Bürgerrechte anzubieten, denen sie in den
letzten 20 Jahren gezielt vorenthalten wurden.
({0})
„No taxation without representation“ - wir alle kennen diesen Kernsatz der amerikanischen Revolution.
Dieses Demokratiegebot muß endlich auch in Deutschland beim Übergang ins nächste Jahrtausend gelten.
({1})
Diese Bundesregierung wird endlich das anerkennen,
was die alte Bundesregierung zum Tabu machen wollte:
die Unumkehrbarkeit des Zuwanderungsprozesses der
letzten Jahrzehnte.
({2})
Auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, es nicht hören wollen: Deutschland ist während der
Zeit, in der Sie Regierungsverantwortung trugen, ein Zuwanderungsland geworden. Die Entscheidungen in den
50er und 60er Jahren, Menschen hierherzubitten, um bei
uns, aber vor allem auch für uns zu arbeiten, waren eben
keine Entscheidungen auf Zeit. Wir haben nicht Gäste,
sondern neue Bürgerinnen und Bürger angeworben. Es
handelt sich jetzt um Menschen, die hier schon seit Jahrzehnten leben und hier ihren Lebensmittelpunkt haben,
deren Kinder hier geboren sind, die Deutsch sprechen und
deren Heimat Deutschland ist. Wer hier auf Dauer lebt,
der muß auch dazugehören können. Er braucht alle
Rechte, um dieses Land mitgestalten zu können.
({3})
Nichts ist verheerender, als die bestehende Realität
nicht zur Kenntnis zu nehmen. Genau das hat die alte
Bundesregierung getan, indem sie die neuen Bürgerinnen und Bürger als Inländer ohne Paß im Gästestatus zu
halten versucht hat. Die Botschaft, die dabei herauskam,
war: Wir wollen euch nicht; wir wollen euch bestenfalls
nur halb. Das ist eine Zurückweisung. Zurückweisung
ruft zwangsläufig Abschottung hervor. Wir wollen aber
Abschottung weder von der Seite der Mehrheitsbevölkerung noch von der Seite der zugewanderten Menschen.
Wir wollen Integration.
({4})
Die erleichterte Einbürgerung bedeutet in der Tat
auch die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit. Wir alle wissen, wie schwer es ist, den Paß zurückzugeben, nicht nur
weil dieser Vorgang den emotionalen Abschied von der
Heimat bedeutet, sondern weil er auch bedeutet, daß die
Rückkehrmöglichkeit verschlossen ist. Es gibt keinen
rationalen Grund, diese Hürde aufzubauen.
Es ist infam - Herr Schäuble hat dies leider vor zwei
Tagen in diesem Hause noch einmal getan -, im Zusammenhang mit der doppelten Staatsbürgerschaft
von „Rosinenpickerei“ zu sprechen. Damit, Herr
Schäuble - ich sage das auch an die Adresse der
CDU/CSU-Fraktion -, wird ein sehr gefährlicher Weg
der Diffamierung beschritten.
Die CDU kann nicht das Wort von der Globalisierung
immer im Munde führen, wenn sie sich auf der anderen
Seite den Realitäten eines modernen Staatsbürgerschaftsrechts verschließt. Sie fordern einerseits flexiblere Arbeitsmärkte und auch eine größere grenzüberschreitende Mobilität, andererseits beharren Sie aber auf
dem Blutrecht als Grundlage für die Staatsangehörigkeit.
Globalisierung relativiert die Nationalstaatlichkeit, was
allerdings neues Denken im Staatsbürgerschaftsrecht erfordert.
Ich empfehle den Blick über die Grenzen. England
und Frankreich haben das moderne Staatsbürgerschaftsrecht. Als Grundlage dient die Hinnahme der doppelten
Staatsbürgerschaft. Schauen Sie bitte in diesem Zusammenhang auch nach Holland. Holland hat im Jahre 1996
18 Prozent der türkischen Bevölkerung eingebürgert,
während wir in diesem Zeitraum nur 1,6 Prozent einbürgern konnten.
Einwanderer sind zugleich Auswanderer. Auch dieser
Satz meiner Vorgängerin ist richtig, denn Zuwanderung
bedeutet auch, Altes loszulassen und aufzugeben und die
Verfassungsgrundsätze dieses Staates zu akzeptieren.
Dieser Satz bedeutet auf der Seite der Mehrheitsbevölkerung, das andere, das Ungewohnte zu akzeptieren und als
Bereicherung anzuerkennen, auch wenn es Konflikte gibt.
({5})
Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Herausforderung. Sie ist nicht konfliktfrei, aber sie ist eben auch eine Bereicherung und ein Schritt in eine offene und zivile
Gesellschaft.
Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine kurze Bemerkung. Eine offene Gesellschaft muß auch den
Schutzsuchenden ihre Türe öffnen. Die neue Bundesregierung wird sich mit Nachdruck - der Innenminister hat
diesen Punkt schon erklärt - für eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik einsetzen.
Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische
Menschenrechtskonvention müssen dabei unser Maßstab
sein.
({6})
Ziel dieser Regierung ist es, die internationalen Standards für Flucht und Asyl zur Meßlatte zu machen. Es
wird sehr bald über eine Altfallregelung zu reden sein,
die das bedrohliche Hin und Her, die Angst vor Abschiebung, das tägliche Gefühl der Unsicherheit für
diejenigen Menschen beendet, denen der Weg in die
Heimat versperrt ist.
({7})
Eine den Bedürfnissen der Menschen entsprechende
Härtefallregelung muß endlich Perspektiven für die eröffnen, die durch die Maschen einer in der Konsequenz
manchmal unbarmherzigen Bürokratie gefallen sind,
({8})
denen aber aus humanitären Gründen das Bleiben hier
ermöglicht werden muß. Dazu gehören auch die vielen
Fälle von Kirchenasyl, hinter denen Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern stehen, die sich humanitären Grundsätzen verpflichtet fühlen. Dazu gehört auch die Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund.
({9})
Marieluise Beck ({10})
Dazu gehört übrigens auch die Überprüfung des
Flughafenverfahrens, dieses unwürdigen Procedere, das
Schutzsuchende oft in die Verzweiflung treibt.
({11})
Der Krieg in Bosnien hat über 300 000 Menschen zu
uns getrieben. Viele Deutsche waren bereit, diese Menschen aufzunehmen. An dieser Bereitschaft wird die
neue Bundesregierung mit ihrer Flüchtlings- und Asylpolitik anknüpfen.
({12})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Der Bundeskanzler hat in Anlehnung an
Willy Brandt mehr Demokratie angemahnt. Es wurde
mit Blick auf die bisherigen Vorgänge von einem
schlechtbestellten Haus gesprochen, das Ihnen hinterlassen wurde. Bei Letzterem wurde in den Debatten der
vergangenen zwei Tage vor allen Dingen immer das Finanzierungsproblem angesprochen.
Aber auch in Ihrem Ressort, Herr Innenminister,
bleibt sehr viel zu bestellen, um das Haus Bundesrepublik noch bewohnbarer zu machen.
({0})
Gerade auch im Bereich des Inneren brauchen wir einen
deutlichen Politikwechsel weg von der staatsfixierten
Law-and-order-Politik Ihres Vorgängers
({1})
hin zu einer bürgerrechtlich orientierten Politik.
({2})
So richtig es ist, den Umweltverbänden Klagemöglichkeiten einzuräumen, so richtig es ist, eine Verknüpfung von Sozial- und Innenpolitik zu fordern, und so
richtig es ist, ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Staatsbürgerschaft zu ermöglichen, ist festzustellen: Das alles reicht nicht aus. Es reicht meiner
Fraktion nicht; aber es reicht auch dem Forum für Menschenrechte nicht, wie dessen Dreizehn-Punkte-Katalog,
der uns in dieser Woche auch hier erreichte, belegt. Ich
vermute, es reicht auch dem einen oder anderen grünen
Kollegen nicht. Oder, Kollege Ströbele, hat sich so viel
an Ihren Forderungen verändert, die wir im Wahlkampf
noch gemeinsam vertreten haben?
({3})
Deshalb kündige ich Ihnen schon heute Initiativen der
PDS-Fraktion zur Verbesserung des Datenschutzes, zur
Rücknahme der Antiterrorgesetze und zur Errichtung
höherer Hürden bei der Telefonüberwachung an. Denn
bürgerrechtlich orientierte Politik enthält nicht nur Ansprüche an Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem
Staat. Sie bedeutet vor allem auch Schutz von Bürgerinnen und Bürgern vor Begehrlichkeiten des Staates.
Schutz und Unterstützung des Staates brauchen aber
auch Flüchtlinge, die sich bis in die Bundesrepublik
durchgeschlagen haben. Die Vereinbarungen der neuen
Koalition auf dem Feld der Flüchtlings- und Asylpolitik sind unzureichend. Das meinen nicht nur wir. Auch
„Pro Asyl“ hat als Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisation die rotgrünen Verabredungen zu Recht heftig
kritisiert.
Die SPD will nicht zulassen, daß am sogenannten
Asylkompromiß gerüttelt wird. Sie weigert sich, nichtstaatliche Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen. Dabei wissen Sie doch ganz genau, daß unser Asylrecht
nicht ausreicht, um zum Beispiel Frauen aus Afghanistan oder Flüchtlingen aus Algerien Schutz zu gewährleisten.
({4})
Auch das Asylbewerberleistungsgesetz ist der neuen
Koalition offenbar keine Kritik mehr wert, obwohl
hiermit - zumindest die Grünen sollten sich daran erinnern - Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge unter
das Existenzminimum und oftmals in die Illegalität getrieben werden. Wir wollen, daß es so schnell wie möglich abgeschafft wird, und werden hier eine entsprechende Initiative einbringen.
({5})
Das betrifft auch die Flughafenregelung. Sie gehört
nicht überprüft, Frau Kollegin Beck; sie gehört tatsächlich abgeschafft.
({6})
Ich möchte Sie daran erinnern, daß allein in diesem Jahr
elf Menschen während dieses Flughafenverfahrens versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Was muß denn
noch passieren, um diese entwürdigende Regelung abzuschaffen? Sie haben die Chance, in diesem Bereich etwas zu tun. Wir haben einen entsprechenden Antrag
eingebracht. Sie müssen nur noch zustimmen.
({7})
Ein Wort an Sie, Herr Innenminister, und auch an die
Kolleginnen und Kollegen der Grünen: Die Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts ist zweifellos ein Schritt in
die richtige Richtung, aber ein zu kurzer. Was nämlich
ist mit den Kindern von Angehörigen der zweiten Generation, die als Jugendliche eingewandert sind? Was ist
vor allen Dingen mit den Kindern all der Vietnamesinnen und Vietnamesen und der anderen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR?
Diese Kinder bleiben Ausländerinnen und Ausländer,
obwohl sie hier geboren wurden, und müssen die mühsame Einwanderungsprozedur durchlaufen.
Wir begrüßen die Einführung des kommunalen
Wahlrechts für Menschen aus Nicht-EU-Staaten. Wenn
Sie allerdings mehr Demokratie wagen wollen, dann beantworten Sie mir doch eine Frage: Warum sollen sogeMarieluise Beck ({8})
nannte Drittausländer auf kommunaler Ebene zwar über
den Bau von Schulen mitbestimmen dürfen, nicht aber
darüber, was dann in diesen Schulen gelehrt wird, weil
das wiederum Ländersache ist?
({9})
Ein weiterer Punkt: Wir fordern nach wie vor die Einführung eines Niederlassungsrechts, das hier lebenden
Nichtdeutschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Bürgerrechte verleiht. Das bezieht sich nicht nur auf
das Wahlrecht, sondern schließt auch ein, daß diese
Menschen vor Abschiebung geschützt werden.
Da Regieren offensichtlich zuweilen vergeßlich
macht: Ich habe vergeblich nach dem Einwanderungsgesetz gesucht, das die bündnisgrüne Fraktion noch vor
Wochen so heftig gefordert hat. Ich vermute, daß hier in
dieser Frage selbst die F.D.P. aktiver werden wird als
die Fraktionen, die die derzeitige Regierung stützen.
Nun zu etwas, was heute schon viele Emotionen hervorgerufen hat. Ich entnahm der Presse und Ihren heutigen Ausführungen, Herr Innenminister, daß Sie Überprüfungsbedarf haben - und das aus unterschiedlichen
Gründen, zum Beispiel weil die Überwachung der PDS
durch den Verfassungsschutz vertrackt sei, da die PDS
seit neuestem in Mecklenburg-Vorpommern mitregiert.
Ich halte diese Argumentation allerdings für wenig demokratisch, unterstellt sie doch, Oppositionsparteien
dürfe man überwachen, aber bei Regierungsparteien
schicke sich das nicht.
({10})
Ich sage Ihnen aber auch: Wenn Sie den Verfassungsschutz schon aus den Fängen der CDU und der politischen Wunschvorstellung befreien wollen - ich kenne
die Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung, die auf dieser Grundlage entstanden sind -, dann haben Sie nicht
nur meine Zustimmung. Wenn Sie dieses Instrument allerdings endgültig auflösen, dann finden Sie meinen
Beifall.
Im übrigen: Herr André Brie ist schon seit längerer
Zeit nicht mehr der Chef der Grundsatzkommission.
Wenigstens so viel sollten doch Ihre Zuarbeiter aus dem
Bereich Verfassungsschutz wissen.
({11})
Und was das Grundgesetz und die Systemfrage anbetrifft: Wo steht eigentlich im Grundgesetz, daß Kapitalverwertung tatsächlich über Menschenrechte und Bürgerinteressen geht? Spätestens hier muß sich die Politik
einmischen, wenn der Markt blind ist.
({12})
Da haben wir sogar eine gemeinsame Grundlage: In Ihrem und in meinem Parteiprogramm ist der demokratische Sozialismus d i e Zielvorstellung.
({13})
Noch ein Punkt: Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung versprochen, die Gesellschaft zusammenzuführen und die tiefe soziale, geographische
und gedanklich kulturelle Spaltung zu überwinden und
sich dabei den realen Problemen zu stellen. Ich prophezeie uns allen: Mit dem Umzug nach Berlin werden wir
den Problembeladenen in dieser Gesellschaft, dem Zusammenkommen und manchmal auch Zusammenprallen
von Ost und West näherkommen. Insofern verstehe ich
nicht, Herr Innenminister, warum Sie sich diese Problembeladenen durch eine Bannmeile vom Hals halten
wollen. Wir haben seinerzeit nicht für den Umzug gestimmt, um dann in dieser Stadt Sondergebiete für Bundespolitiker zu schaffen.
({14})
Wir wollen vielmehr dorthin, wo Herausforderungen
und Defizite am meisten zu spüren sind.
({15})
Ein allerletzter Punkt: Im Zusammenhang mit dem
Parlaments- und Regierungsumzug hat der Bundeskanzler völlig zu Recht gesagt, daß dies nicht der Ausstieg aus der historischen Verantwortung sein darf. Deshalb bitte ich schon heute: Lassen Sie sich uns gemeinsam der Verantwortung für eine würdige Debatte und
Entscheidung zum Holocaust-Mahnmal in der Stadt
Berlin stellen. Das wird kein Berliner Mahnmal. Das
wird das Mahnmal, welches uns nicht nur erinnert, sondern uns den Weg tatsächlich erhobenen Hauptes, aber
auch mit der Scham, die wir empfinden müssen und
sollen, in die Berliner Republik ebnet. Lassen Sie uns
gleichzeitig möglichst schnell Regelungen für die
Zwangsarbeiter finden, denn hier geht es schon längst
nicht mehr um eine parteipolitische Debatte, sondern
hier zählt jeder Tag für die Betroffenen.
Frau Kollegin,
der letzte Satz ist jetzt sehr lang geworden.
Ich bedanke mich.
({0})
Frau Kollegin
Pau, das war, glaube ich, Ihre erste Rede im Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen, daß Sie es schon hinter sich haben.
({0})
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Herta
Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie
haben ganz recht, man muß sich ordentlich anziehen,
wenn man als Bundesministerin der Justiz hier an das
Rednerpult tritt, Herr Marschewski.
({0})
Ich bin ganz Ihrer Meinung, das ist völlig in Ordnung.
Lassen Sie mich anfangen, meine Damen und Herren!
Vor einigen Tagen haben Journalisten mit Lob für die
jetzige Regierung angemerkt, sie habe es binnen ganz
weniger Tage geschafft, die „Rechtspolitik aus ihrem
Dornröschenschlaf“ zu wecken. Ich glaube, das war
nicht nur eine freundliche Feststellung, sondern das ist
auch inhaltlich richtig. In der Rechtspolitik wird es jetzt
interessanter. Ich freue mich auf die Diskussion mit
Ihnen, mit Ihnen von der CDU/CSU, auch mit Ihnen,
Herr Rüttgers, ebenso wie mit Ihnen von der F.D.P.Opposition. Die Unterschiede zwischen Ihnen beiden
sind heute schon sehr deutlich geworden. Wenn man die
dritte Oppositionsfraktion, die PDS, noch hinzunimmt,
kann man sagen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition: Wir haben eine interessante Wegstrecke vor uns.
({1})
Das Urteil, Herr Rüttgers, das Sie über die bisherige
Politik im Rechts- und Innenbereich abgegeben haben,
war bei aller Wertschätzung gegenüber meinem Vorgänger, Herrn Professor Schmidt-Jortzig - Sie wissen,
daß ich Sie ausgesprochen schätze -, aber nicht ganz so
positiv, wie Sie meinen. Wenn Sie heute Bürgerinnen
und Bürger, Richterinnen und Richter und andere
Rechtsanwender fragen, dann sagen die Ihnen halt auch:
Diese Politik sei hektisch und ohne klare Linie gewesen.
Sie stöhnen darüber, daß sie zuviel Gesetze, zuviel unklare Gesetze bekommen haben, denen dann die Einzelkorrektur sehr häufig auf dem Fuß folgte. Sie beklagen
dann sehr deutlich, das habe nicht nur die Qualität der
Arbeit behindert, Zeit und Geld gekostet, sondern natürlich auch die Motivation beeinträchtigt. Schon deshalb
müssen wir das ändern. Wir brauchen die Arbeit und die
Motivation der Richterinnen und Richter zur Durchsetzung unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaats
unter den heutigen Bedingungen nötiger denn je.
({2})
Ich werde deshalb versuchen, Sie auch hier im Bundestag immer wieder daran zu erinnern, daß wir lieber
weniger und bessere Gesetze machen und daß wir - das
finde ich sehr gut; vielen Dank auch für die Zustimmung, lieber Herr von Stetten - Gesetzesinitiativen nicht
als Einzelkorrekturen immer klein-klein aufeinander
folgen lassen. Das war übrigens der Grund, warum ich
es gut gefunden habe, daß der Bundesrat in seiner letzten Sitzung die beiden Einzelinitiativen zum Sexualstrafrecht aus dem Lande Bayern zurückgestellt hat.
Auch in solchen Fällen nützen Lippenbekenntnisse allein nicht, wir müssen uns nach unseren Grundsätzen
richten.
({3})
Die neue Bundesregierung wird im Bereich der
Rechtspolitik die politischen Ziele vorgeben. Dafür haben wir am 27. September die Mehrheit bekommen. Dafür sind wir verantwortlich. Unsere Schwerpunkte in
diesem Bereich sind einmal der Schutz der Schwächeren durch Recht. Das hat schon Friedrich Schiller - er
ist heute schon einmal zitiert worden - vorgedacht, indem er sagte: „Das Gesetz ist der Freund des Schwachen.“ Das hat unser Grundgesetz aufgenommen, das ist
die Tradition großer Rechtspolitiker von Gustav Heinemann bis Hans-Jochen Vogel. Wir werden diesen
Grundsatz wieder durchsetzen.
({4})
Meine Damen und Herren, unser zweiter Schwerpunkt, nämlich das Bündnis gegen Gewalt, hat viel
damit zu tun. Hier geht es darum, Opfern von Kriminalität zu helfen, Opferzeugen und dann auch Zeugen zu
schützen. Es geht aber auch um den Schutz von Kindern,
Frauen, Älteren, Behinderten und Minderheiten.
({5})
Unser dritter Schwerpunkt betrifft die grundlegende
Reform der Justiz, die bisher auch schon versucht wurde - insofern hat Herr Rüttgers völlig recht -, wobei
aber nicht erreicht wurde, für die Zukunft das Erfordernis der Klarheit, der Zügigkeit, der Effizienz mit Rechtsstaatlichkeit und Transparenz zu verbinden. Wir brauchen das aber, jetzt an der Schwelle zu einer immer größeren Integration in die Europäische Union. Ich sage Ihnen: Wir werden das mit Macht vorantreiben. Ich erbitte
hier Ihre Unterstützung.
Ihre Unterstützung erbitte ich auch für den vierten
Schwerpunkt, nämlich die Erweiterung und Veränderung des Sanktionensystems, und für den fünften, nämlich die Stärkung von Gleichstellung, Teilhabe und
Bürgerrechten bei uns im Land und in der Europäischen Gemeinschaft.
({6})
Wir geben als Mehrheit in diesem Haus die Ziele vor.
Wir werden aber auch die Wege vorschlagen. Bezüglich
dieser Wege bitten wir um eine Diskussion mit Kritik, je
sachlicher und je schärfer, desto besser. Wir bitten um
Anregungen und Diskussionen, weil wir glauben, daß
wir auf diesem Wege einen Fehler der Rechtspolitik der
vergangenen Jahre vermeiden können. Dort wurde immer nach dem Konsens, nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht. Wir wollen nicht diesen kleinsten
gemeinsamen Nenner, sondern wir wollen das beste Ergebnis in allen Punkten erreichen.
({7})
Unsere Regierung ist jetzt 16 Tage im Amt. Bis zum
Ablauf der ersten 100 Tage werden wir, werde ich Ihnen
Eckpunkte für einige dieser Schwerpunkte vorlegen. Ich
freue mich, Herr Westerwelle, daß auch Sie angedeutet
haben, daß Sie zusammen mit unserer Koalition dafür
sorgen wollen, daß wir die Schaffung rechtlicher Möglichkeiten für homosexuelle Paare, die auf Dauer zusammenleben wollen und die sich in Zukunft mit Rechten und Pflichten als Lebenspartnerschaft eintragen
lassen wollen, durchsetzen.
Ich möchte gerne die wenigen Minuten, die ich heute
noch spreche, dazu nutzen, auf einiges einzugehen, was
in den letzten Tagen - wahrscheinlich, weil man die
Konzepte nicht so genau kannte - schon im Vorfeld abwehrend gesagt wurde. Zur Justizreform: Sie ist notwendig. Ich glaube, das wird kaum mehr bestritten. Ich
freue mich, daß auch die Justizministerkonferenz des
Bundes und der Länder mit übergroßer Mehrheit gesagt
hat, wir brauchen sie, und wir sollen sie gemeinsam machen. Das heißt gleichzeitig, meine Damen und Herren:
Gemeinsamkeit in der Rechtspolitik aus Bund und Ländern ist angesagt, auch bei der Frage der Dreistufigkeit.
Bei ihr geht es uns darum, daß nach der außergerichtlichen Streitschlichtung, die wir, glaube ich, auch im
Bundestag gemeinsam wollen, die Eingangsgerichte in
die Lage versetzt werden, die umfassende rechtliche und
tatsächliche Prüfung vorzunehmen, so daß der Streitfall
dort so ausführlich gewürdigt werden kann, wie die
Bürgerinnen und Bürger das wollen und brauchen.
Wenn uns das gelingt, können wir die zweite Instanz
darauf konzentrieren, konkrete Fehler zu korrigieren.
Dann kann die dritte Instanz auf die Wahrung der
Rechtseinheitlichkeit und der Grundsatzrevision konzentriert werden. Wir möchten das gerne. Wir werden
selbstverständlich, weil das notwendig ist, großzügige Übergangsfristen mit einplanen, aber wir werden
auch weitere bisherige übergangsweise vorgesehene
Schritte der Rechtspflegeentlastung an diesem Ziel ausrichten.
Wir können damit eine Menge an Fehlentwicklungen
verbessern. Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, daß
heute nahezu die Hälfte der erstinstanzlichen Urteile
auch dann, wenn sie grob falsch sein sollten, gar nicht
mehr korrigiert werden können. Das ärgert die Bürger.
Das führt unter anderem auch dazu, daß das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall als Instanzersatz mißbraucht wird, und dessen Arbeit, also die Arbeit der Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter, brauchen
wir wahrhaftig an anderer Stelle.
({8})
Was wir in der Tat nicht wollen, meine Damen und
Herren, ist, kleine Einheiten bei den Gerichten zu zerschlagen. Das kommt nicht in Frage. Ich bin der Auffassung: Kleine Einheiten - das zeigen die Untersuchungen - sind effizienter als die großen. Wir alle wissen,
daß die Länder diejenigen sind, die darüber bestimmen,
ob es kleinere oder größere Einheiten gibt. Ich will Sie
deswegen, meine Damen und Herren aus den Reihen der
CDU/CSU-Opposition, für den Fall, daß Sie das ernst
meinen, nur davor warnen, daß der Vorwurf des Zentralismus hier auf Ihre Länder zurückfiele und daß er mit
unseren Reformvorstellungen etwa soviel zu tun hat wie
eine Lokomotive mit einem Taschentuch, nämlich gar
nichts.
({9})
Übrigens, verehrter Herr Geis, eine Kommission
werden wir auch nicht einsetzen,
({10})
und zwar deshalb nicht, weil man Kommissionen immer
dann einsetzt, wenn man nach langer Zeit möglichst
nichts erreichen will. Wir wollen etwas erreichen.
({11})
- Nein, verehrter Herr Geis, Sie waren es. Vielleicht lesen Sie das noch einmal nach. Ich glaube, die Amnesie
greift gerade bei Ihnen noch nicht so um sich, als daß
Sie das nicht korrigieren könnten.
({12})
Lassen Sie mich noch einen zweiten Punkt nennen;
ich meine die Frage der Gewaltbekämpfung. Die Ächtung der Gewalt als Erziehungsmittel steht ganz oben
auf unserer Tagesordnung.
({13})
Wir werden dieses Ziel verfolgen, übrigens nicht deswegen, weil wir allen Eltern, jeder Mutter oder jedem
Vater, denen in einer Streßsituation einmal die Hand
ausgerutscht ist, den Staatsanwalt in das Haus schicken
wollen oder werden. Das werden wir nicht tun. Aber
wir müssen völlig klarmachen, daß Gewalt kein Erziehungsmittel sein kann, daß besonders viele Gewalttäter
als Kinder geschlagen wurden, daß sich das Übel der
Gewalt vererbt und daß wir damit Schluß machen müssen. Das ist ein Teil der praktischen Prävention, die wir
brauchen.
({14})
Wir werden auch den Schutz von Kindern und den
Schutz von geschlagenen Frauen durchsetzen. Hier gilt
der Grundsatz: Der Schläger geht, und die Geschlagene
bleibt, wenn es um die Wohnungszuweisung geht.
({15})
Gewalt gegen Ältere, Gewalt gegen Behinderte, Gewalt
gegen Minderheiten werden wir bekämpfen, und dazu
fordern wir auch Sie ausdrücklich auf.
({16})
Lassen Sie mich dazu noch ein kleines Beispiel bringen:
Kein Mensch versteht, warum eine Vergewaltigung, die
doch noch viel verwerflicher ist, wenn sie an einer Frau
begangen wird, die geistig behindert ist, nach unserem
Strafrecht geringer bestraft werden soll. Das müssen wir
ändern.
({17})
Wir haben das schon häufiger angemahnt. Das muß sein.
Ich werde heute zu der Frage kurzer Freiheitsstrafen,
des Sanktionensystems und etwa zu Fragen der europäischen Justizzusammenarbeit nichts mehr sagen, obwohl
auch diese Punkte extrem wichtig und Reformen notwendig sind. Ich denke, wir werden in den kommenden
vier Jahren eine Menge miteinander zu diskutieren haben. Wir werden Ihnen zunächst einige Vorschläge vorlegen, wie das im einzelnen genau aussehen soll. Im übrigen halten wir es mit Gustav Radbruch, der die Arbeit
von Rechtspolitikern einmal mit einer Bauhütte verglichen hat. Sie gibt es, wie wir wissen, an Domen und anderen großartigen Bauwerken. Ihre Arbeit hört nie auf;
sie haben die spezielle Aufgabe, zu erhalten und zu erneuern. Bei uns, in der Bauhütte des Rechts, in der
Rechtspolitik, die wir vorhaben, ist Erneuerung angesagt. Dazu bitte ich um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesinnenminister Schily, Ihr Wunsch in Ehren, daß Sie
viele Themen der Innenpolitik im Konsens angehen
wollen. Ich möchte für unsere Seite die grundsätzliche
Bereitschaft zum Gespräch signalisieren. Aber ich füge
hinzu: Wir haben sehr viele Vorbehalte angesichts der
diesbezüglichen Koalitionsvereinbarungen und Ihrer ersten Äußerungen in der Öffentlichkeit.
Wenn ich an Ihre Erklärung denke, die Sie hier zur
Frage der Überwachung der PDS abgegeben haben,
dann meine ich: Da werden Sie wohl kaum auf Zustimmung von uns rechnen können. Dies ist mehr als
schwach. Sie argumentieren, es ist vertrackt, daß man
jemanden überwacht, der in einem Land Teil einer Regierungskoalition ist. Es leuchtet mir überhaupt nicht
ein, was Sie damit erreichen wollen.
Das gleiche gilt für Ihren Vorschlag, man könne hier
im Parlament Fragen stellen. Sie tun so, als sei die Kontrolle durch ein Verfassungsschutzorgan durch Fragen
im Parlament zu ersetzen - als gäbe es irgendeinen
Dummen, der auf irgendwelche Fragen so antworten
würde, daß er sich mit seinen Antworten selbst in Verdacht bringt.
({0})
Ich halte dies für einen völlig falschen Ansatz.
Herr Kollege Westerwelle, einen Hinweis möchte ich
Ihnen schon geben: Sie können ja glauben, daß diejenigen, die F.D.P. wählten, damit auch die Frage der
Staatsangehörigkeit entschieden haben. Aber jeder
weiß, es gab auch andere entscheidende Kriterien. Ich
finde es nicht redlich, wenn hier der Eindruck erweckt
wird - Sie haben formuliert, man dürfe „den deutschen
Paß nicht weiter verwehren“ -, das alte Staatsbürgerschaftsrecht und die damit einhergehende Einbürgerungspraxis habe irgend jemandem etwas verwehrt.
({1})
Wir beziehen uns ja entscheidend auf die Einbürgerung der Türken in Deutschland. Ich rate Ihnen dringend: Gehen Sie einmal der Frage nach, welche Rechte
die 50 000 Deutschen, insbesondere die Frauen, in der
Türkei haben. Was haben sie für Erbrechte, was für
Bürgerrechte, welche Chancen haben sie im Fall des
Ablebens des türkischen Ehepartners? - Dann reden wir
noch einmal über Integration von Minderheiten in unserem Lande.
Meine Damen und Herren, die Frau Ausländerbeauftragte hat hier und heute den Begriff der „Unumkehrbarkeit der Zuwanderung“ gebraucht. Im Zusammenhang damit wurde mit keiner Silbe auf die Rückkehr von
Bürgerkriegsflüchtlingen eingegangen; weder in der
Koalitionsvereinbarung noch in sonstigen Erklärungen
der neuen Regierung findet sich dazu etwas. Wer wie
Sie angesichts von 7,3 Millionen Ausländern in diesem
Lande davon spricht, man müsse nun die Tore öffnen,
ist, so glaube ich, auf einem falschen Weg, letztlich auf
dem Weg in eine andere Republik. Sie tun so, als ob der
Paß nur Integrationsmittel ist. Er kann hilfreich sein,
wenn er am Ende des Integrationsprozesses gewährt
wird. Aber wenn man so tut, als liege in der Verweigerung des Passes der Casus knacktus für mangelnde Integration, dann liegt man mit Sicherheit falsch.
Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar
Punkte aus der Rechtspolitik aufnehmen; zunächst Herr Rüttgers hat es bereits erwähnt - zur Leitlinie der
Koalitionsvereinbarung, Alltagskriminalität „bürokratiearm“ zu bestrafen. Allein die Wortwahl „Alltagskriminalität“ ist schon bedenklich, ähnlich wie der Begriff
„Bagatelldelikt“.
({2})
Es gab in der Presse Berichte, Sie wollten den Ladendieb dadurch strafen, daß Sie ihm den doppelten Warenwert als Strafe abverlangen. Damit reduzieren Sie die
Abschreckung und schaffen nur Anreize: Wenn Sie solche Wege beschreiten, wird Ladendiebstahl zum Roulettespiel. Ich glaube, daß Sie ohne die Abschreckung
einer wirklichen Strafe keinen Erfolg haben werden.
Es heißt darüber hinaus, Drogenkonsum und Drogenbesitz werden künftig straffrei gestellt. Damit geben Sie
Anreiz zum Konsum. Sie erreichen mit staatlicher Heroinabgabe nur eines: daß die Abhängigen in ihrer
Sucht gestärkt werden. Auch im Ausland hat man bewiesen, daß nicht alle Abhängigen in ein kontrolliertes
Programm einbezogen werden können. Das wird andere
Wege der Beschaffung - mit der Folge steigender Kriminalität - öffnen.
Die Kinder- und Jugendkriminalität braucht eine
starke Prävention und eine konsequente Verfolgung. Dafür sind in der Jugendsozialarbeit viele Modellprojekte
der Prävention notwendig, wie sie z. B. in Bayern an den
Schulen gemacht werden.
Ich freue mich, daß Sie die Sicherheitspartnerschaften fördern wollen. Ich halte das für einen richtigen
Weg. Aber Sie dürfen nicht darin fortfahren, die Kleinkriminalität, die immer am Anfang steht, kleinzureden,
und Sie dürfen die Abschreckung durch Strafe, ein Element der Prävention, nicht negieren.
Meine Damen und Herren, ein Wort fehlt in den bisherigen Akten zur Koalitionsvereinbarung: Mit keinem
Wort mehr ist von Ausländerkriminalität die Rede. Dies
kann man bedauern. Aber es ist im Sinne der neuen
Bundesregierung logisch. Denn Ihre Pläne zur doppelten Staatsangehörigkeit haben deutlich gemacht, daß
Sie von einer großen Einbürgerungswelle ausgehen, daß
Sie letztlich Millionen von Menschen - denkt man an
die Jugendlichen - die deutsche Staatsbürgerschaft aufdrängen wollen.
({3})
Was machen Sie in den Fällen - das steht mit keiner
Silbe in dem Gesetzentwurf -, in denen Eltern diese
Staatsangehörigkeit gar nicht wollen?
({4})
Sie negieren, daß es eine breite Integrationsleistung der
deutschen Bevölkerung gegeben hat und daß zum Integrieren der Wille der Ausländer gehört, die integriert
werden sollen.
({5})
Wenn ich auf diesen Willen abstelle, muß ich sagen, daß
Aufenthaltsdauer und Geburtsort nicht der maßgebende
Anknüpfungspunkt sind.
Der Innenminister hat hier gesagt, daß Sprachkenntnisse der Einzubürgernden selbstverständlich sind, daß
er aber dagegen ist, das in das Gesetz hineinzuschreiben.
Wie wollen Sie dann die Sprachkenntnisse einbeziehen?
Wo ist Ihr Konzept, um die dann entstehenden Loyalitätskonflikte zu lösen?
({6})
Wer zwei Pässe hat, hat natürlich zwei Möglichkeiten.
({7})
Er kann wirklich - wie Herr Schäuble gesagt hat - Rosinen picken. Es gibt genügend praktische Fälle, die das
zeigen; es gibt genügend Menschen, die sich darauf berufen.
Wie lösen Sie den Familiennachzug bei Doppelstaatlern? Jetzt beginnt in der Wissenschaft eine breite
Diskussion darüber, wie groß die Zuwanderung bei einer
Doppelstaatlichkeit von derzeitigen Ausländerfamilien
sein wird.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen voraus: Mit
den geplanten Gesetzen wird Deutschland als Zuwanderungsland attraktiver. Sie erreichen eine Sogwirkung.
({8})
Die Aufnahmefähigkeit Deutschlands wird überstrapaziert. Wir haben Schulklassen mit einem Ausländeranteil
von 50 Prozent, zum Teil von 90 Prozent.
({9})
All dies wird hier negiert. Sie arbeiten - das sage ich in
aller Deutlichkeit - gegen die Bevölkerung und ihre
Meinungsbildung.
({10})
Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall ist mit
Sicherheit der falsche Ansatz. Damit negiere ich nicht,
daß es in der Praxis derzeit viele funktionierende Fälle
der Doppelstaatsangehörigkeit gibt.
({11})
- Ja, 500 000 mögen es sein. - Wie man dies als Argument für die Einführung der Regeldoppelstaatsangehörigkeit bringen kann, ist mir schleierhaft.
Meine Damen und Herren, ein Punkt ist allerdings
mehr als bedenklich. In Ihrer Koalitionsvereinbarung
sagen Sie expressis verbis, Sie wollen den Rechtsextremismus bekämpfen. Mit keiner Silbe sprechen Sie mehr
vom Linksextremismus.
({12})
Der wird einfach totgeschwiegen. Im Gegenteil: Sie
wollen die PDS sogar aus der Beobachtung nehmen.
({13})
Die Regelung, die Sie im Bereich der Zuwanderung
treffen - eine neue Altfallregelung -, steht extrem im
Widerspruch zu dem, was wir auf der letzten Innenministerkonferenz gemeinsam getragen und gemeinsam als
letzte Altfallregelung festgehalten haben. Hier wird eine
neue zusätzliche Instanz im Asyl- und Flüchtlingswesen
eingeführt: Härtefallregelung. Es läuft letztlich auf die
Härtefallkommissionen des Landes NRW hinaus eine weitere Instanz. Das heißt im Ergebnis: eine weitere
staatliche Ebene zur Prüfung von Zuwanderung. Sie
belohnen durch Altfallregelungen letztlich die ganz Raffinierten, die nach Ablehnung untertauchen. Ich halte
dies für eine komplette Fehlentwicklung.
({14})
Meine Damen und Herren, der letzte Punkt betrifft
die eingetragene Lebenspartnerschaft. Ich glaube,
Frau Ministerin, daß das bei weitem kein europäischer
Standard ist. Selbst in Frankreich wird derzeit heftig
darüber gestritten. Sie haben ja mitbekommen, daß es
dort bisher an einer parlamentarischen Mehrheit für die
eingetragene Lebenspartnerschaft fehlt.
Ich kann mir nicht erklären, wie Sie erreichen wollen,
daß heterosexuelle Partnerschaften diese neue Institution
nicht nutzen werden. Sie bekommen dann logischerweise zwei Ebenen: eine, wenn Sie so wollen, halbe Ehe
und eine Ehe und dazwischen die Verfassung. Dann aber
gegen Adoption zu sein ist genauso unlogisch. Entweder
- oder. Deswegen halte ich die gesamte Regelung der
Lebenspartnerschaft für mehr als bedenklich.
({15})
Meine Damen und Herren, 70 Prozent der in Europa
Lebenden haben keine solche Regelung. Wieso Sie in
Europa Vorreiter sein und eine europäische Regelung
einführen wollen und sich dabei auf Standards in Europa
berufen, ist mir unerklärlich.
Wer wie die Frau Ausländerbeauftragte Beck hier
von der Unumkehrbarkeit der Zuwanderung spricht und
offensichtlich keinen Beauftragten für die Rückführung
der Bosnienflüchtlinge ernennen will, der lädt zu noch
mehr Zuwanderung und zu noch mehr Attraktivität ein.
({16})
- Dann müssen Sie, Frau Beck, abgewogener formulieren. Sie haben hier von der Unumkehrbarkeit der Zuwanderung gesprochen, die Sie erreichen wollen. Dies
ist der falsche Weg.
({17})
Wir sind in der Tat der Meinung, daß Bürgerkriegsflüchtlinge nur auf Zeit hier sein sollen und nach Ende
ihres Bürgerkriegs eine Rückführung ermöglicht und
durchgesetzt werden muß. Mit keiner Silbe ist bisher auf
dieses Thema in diesem Hause eingegangen worden.
Deswegen fürchte ich, daß in der Innen- und Rechtspolitik eine andere Republik auf uns zukommt, die wir
in der Opposition mit Ihnen mit Sicherheit nicht wollen
und auch nicht mittragen werden.
Herzlichen Dank!
({18})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Westerwelle
das Wort.
Frau Präsidentin!
Herr Kollege Zeitlmann, Sie haben mich selber angesprochen. Ich habe mich noch einmal kurz zu Wort gemeldet, weil Sie mir die Empfehlung gegeben haben, ich
möge mich doch einmal über das Staatsangehörigkeitsrecht in der Türkei informieren.
Natürlich weiß ich, wie die Rechte der Deutschen und
die Rechte von Ausländern in der Türkei sind. Aber ich
bin nicht für die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Deutschland, um der Türkei einen Gefallen zu tun, sondern um unserer deutschen Gesellschaft
einen Gefallen zu tun.
({0})
Ebenfalls das
Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Ekin
Deligöz. Danach können Sie antworten, Herr Zeitlmann.
Herr
Zeitlmann, auch ich komme aus Bayern. Zu meinem
größten Bedauern muß ich leider feststellen, daß den
schwächer strukturierten Gebieten Bayerns entgangen zu
sein scheint, daß das türkische Staatsrecht immer noch
in der Türkei abgestimmt wird und nicht in Deutschland.
Wir sind hier im Deutschen Bundestag, und wir machen
hier die deutschen Gesetze und nicht die in der Türkei.
Daher verstehe ich nicht, daß Sie ausgerechnet das als
Beispiel anführen.
Zu Ihrem Spruch, die Staatsbürgerschaft stehe am
Ende der Integration, möchte ich anmerken, daß Ihnen
da etwas entgangen zu sein scheint. Die doppelte
Staatsbürgerschaft kann nur der Anfang der Integration in Deutschland sein, in der Situation, wie wir sie zur
Zeit vorfinden. Die doppelte Staatsbürgerschaft kann nur
eine Brücke zur Integration sein. Diese Brücke brauchen
die Menschen.
({0})
- Es gibt durchaus Menschen, die solche Brücken nicht
brauchen. Ich habe nur den deutschen Paß, und mir genügt das auch. Aber es gibt nun einmal Menschen, die
auch andere Gefühle und Bindungen haben, die wir beachten müssen. Zum guten Ton der Politik gehört auch
die Art und Weise, wie man auf die Gefühle der Menschen eingeht und nicht nur auf irgendwelche statistischen Zahlen.
({1})
Ihren Spruch, Deutschland sei kein Zuwanderungsland, verstehe ich nicht. Ich habe bereits im Wahlkampf
nicht verstanden, warum Sie sich mit solchen Sachen
aufhalten. Es geht nun einmal um eine Tatsache. Sie
müssen sich nur die Zahlen ansehen, um zu erkennen,
daß Deutschland längst ein Zuwanderungsland ist. Wir
können uns noch einmal fünf Stunden darüber unterhalten. Das würde uns alle nicht weiterbringen. Wichtig
aber ist nicht, was Sie sagen, sondern wichtig ist, was de
facto stattfindet und wie wir mit diesen Tatsachen umgehen.
Ich komme zu Ihren Bedenken bezüglich der Loyalität. Ich denke, es ist nicht wichtig, loyal zu irgendeinem
Land zu sein. Wenn es darauf ankommt, dann steht im
Vordergrund die Loyalität zu einer Verfassung. Ich kann
Ihnen zusichern, daß die Migrantinnen und Migranten,
die hier in Deutschland aufwachsen und hier leben, diese
Loyalität längst zeigen und auch vorweisen, nämlich die
Loyalität zu unserer demokratischen Verfassung.
Auf Grund dessen kann es passieren, daß so ein
Mensch wie ich heute hier an diesem Mikrofon stehen
und reden kann. Anders würde es nämlich gar nicht gehen.
({2})
Herr Kollege
Zeitlmann.
Herr Westerwelle, ich möchte Sie nur auf etwas hinweisen: Ich befinde mich hier im deutschen Parlament und fühle mich
auch für die deutschen Mitbürger in der Türkei verantwortlich. Deswegen will ich auch im Interesse der deutschen Bevölkerung klar sagen: Solange es ein mit uns
befreundetes Land gibt, das die Minderheitenrechte so
traktiert wie die Türkei, glaube ich, daß es in der deutschen Öffentlichkeit schon eine höhere Akzeptanz gäbe,
wenn wir einen Gleichschritt zwischen dem wagen würden, was die Türkei den Deutschen in der Türkei gestattet, und dem, was wir gestatten.
Ich will damit nicht hinter die jetzige Rechtslage zurück, aber ich meine: Man kann den Fortschritt in der
Einbürgerung in der Vergangenheit nicht negieren; da
gab es Fortschritte. Aber es gab umgekehrt in der Türkei
nur relativ wenige Fortschritte für die deutsche Minderheit. Dies kann man nicht negieren.
Frau Kollegin, Sie hätten mich völlig falsch verstanden, wenn Sie glauben, daß ich gegen eine Einbürgerung
von Ausländern bin. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil:
Wir haben in der Vergangenheit zahlreiche Liberalisierungen, beispielsweise bei den Gebühren und den Fristen der Einbürgerung, eingeführt. Sie können aber nicht
negieren, daß die doppelte Staatsangehörigkeit letztlich
Loyalitätskonflikte zur Folge hat. Das ist unbestreitbar,
dazu gibt es viele Beispiele.
Ich habe vor mir das Schreiben eines Schulrektors
liegen, der davon berichtet, daß ein türkisches Elternpaar
22 Jahre lang in Deutschland lebt und sich bis heute
weigert, irgendein Wort Deutsch zu sprechen, geschweige denn zu lernen. Nach Ihren Definitionen der
Frist werden Sie diese Menschen einbürgern. Das will
ich nicht. Ich will eine Einbürgerung der Integrationswilligen, aber nicht der Integrationsunwilligen.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Herr Zeitlmann, bei dem Wettbewerb um das rückschrittlichste Staatsbürgerschaftsrecht auf dieser Welt
bietet diese Koalition und diese Bundesregierung einfach nicht mit. Wir wollen die Türkei mit auf den Weg
nach Europa zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit
und Modernität nehmen.
({0})
Wir orientieren uns deshalb nicht an deren Rechtsstandards, sondern wollen sie einladen, sich an den unseren
zu orientieren.
Die Rechtspolitik hat in den letzten Jahren hier im
Hause ein Schattendasein gefristet. „Nur nicht auffallen“
war die Devise. Rotgrün gibt dieser Rechtspolitik jetzt
nicht nur ein neues Gesicht, sondern auch ein neues
Gewicht. Ich hoffe, daß das nicht ohne Folgen für die
Diskussion um die Kabinettszuschnitte in den Ländern
bleibt.
Wir wollen den Rechtsstaat erneuern und ihm neue
Kraft geben. Rechtspolitik soll nicht länger rein technokratisch begriffen werden. Das Justizministerium soll
wieder deutlich mehr sein als nur das Notariat der Bundesregierung.
({1})
Es geht nicht darum, lediglich Paragraphen zu verwalten, sondern gesellschaftliche Entwicklungen aufzunehmen und rechtlich zu gestalten.
Wir streben eine neue politische Kultur an, wir wollen Beteiligung, Kritik und Einmischung. Wir wollen lebendige Demokratie und den ernsthaften Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Deshalb finden Sie im
Koalitionsvertrag mehrere Bündnisangebote in die Gesellschaft: für eine zivile Gesellschaft, gegen eine Kultur
der Gewalt, für Integration, gegen Ausgrenzung, für
Demokratie und Toleranz und gegen Extremismus und
Gewalt.
Unsere Dialogfähigkeit werden wir auch bei der angestrebten Justizreform unter Beweis stellen. Wir wollen die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen für eine bürgernahe und bürgerfreundliche Justiz
schaffen. Der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum
Recht soll vereinfacht und die Verfahren sollen transparenter werden. Wir wollen das mit einer Stärkung der
Eingangsinstanz und einer Schaffung der Dreistufigkeit
erreichen, die jedoch bei der rechtsstaatlichen Qualität
keine Abstriche machen darf.
({2})
Die frühzeitige Einbeziehung der Länder und der betroffenen Berufsverbände in diese Diskussion ist für uns
eine Selbstverständlichkeit. Wir wollen auch die Chance
ergreifen, eine Wende in der Kriminalpolitik einzuleiten.
Es ist an der Zeit, dem Begriff Prävention endlich Leben einzuhauchen. Deshalb bin ich für die Worte des
Bundeskanzlers dankbar, der gesagt hat, wir wollen
nicht nur hart gegen das Verbrechen, sondern auch hart
gegen die Ursachen von Kriminalität sein. Das ist ganz
entscheidend.
({3})
Viel zu lange wurden Rechtsstaatlichkeit und effiziente Kriminalpolitik polemisch als Gegensatzpaar aufgebaut. Das ist grundfalsch; denn Rechtsstaat, Gerechtigkeit und ein effizienter Schutz gegen das Verbrechen
gehören zusammen und widersprechen sich nicht. Bei
einer rational betriebenen Kriminalpolitik, wie sie auch
der Bundesinnenminister vorgeschlagen hat, und mit einem Sicherheitsbericht, der uns schlauer macht, wie wir
eine solche Politik gestalten können, haben Sie uns auf
Ihrer Seite.
Wir werden auch das Projekt der Sanktionenrechtsreform unterstützen, weil wir meinen, daß es hier einen
erheblichen Modernisierungsbedarf gibt. Mit Geld- und
Freiheitsstrafen werden wir den Ansprüchen an ein modernes Strafrecht nicht gerecht. Wir entsozialisieren die
Täter auf Dauer. Durch Kurzzeitstrafen verlieren sie Arbeitsplatz und Wohnung auf Dauer. Wir wollen ein
Sanktionsrecht, das die Resozialisierung gerade im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität stärker
betont, auch durch den Täter-Opfer-Ausgleich und durch
die Einführung von gemeinnützigen Arbeiten als neuer
Sanktionsform. Darüber werden wir im nächsten Jahr sicherlich auch mit Ihnen von der Opposition streiten. Wie
man sieht, sind Ihre Reihen auch beim Thema der Alltagskriminalität nicht so geschlossen. Herr Scholz hat
unseren Vorschlag zur doppelten Schadenswiedergutmachung beim Ladendiebstahl aufgegriffen. Darüber können Sie mit uns reden. Es geht nicht um Entkriminalisierung; vielmehr geht es um eine vernünftige
Ahndung von Vergehen.
({4})
Wir wollen die Stellung von Opfern bei Straftaten
stärken. Die Interessen der Opfer wurden in der Vergangenheit immer nur dann herangezogen, wenn es darum
ging, Einschränkungen der Bürgerrechte verdächtiger
erscheinen zu lassen. Diese Instrumentalisierung von
Opferinteressen wird es mit unserer Bundesregierung
nicht geben. Wir werden den Opferschutz in vielen Bereichen ausbauen. Wir werden Schutzkonzepte gegen
Gewalt im sozialen Nahraum entwickeln, die Wiedergutmachung stärken, den Täter-Opfer-Ausgleich ausbauen und die Subjektstellung der Opfer im Strafverfahren stärker hervorheben.
Rotgrün stellt sich den Herausforderungen der Zukunft. Wir vergessen aber auch nicht die Verpflichtungen aus der Vergangenheit. Wir werden für die Verbesserung der Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus sorgen. Wir wollen, daß
die Diskussion über das Holocaust-Mahnmal im Bundestag geführt wird. Das ist keine Frage der Exekutive.
Hier ist der Ort, wo diese Frage entschieden werden
muß und wo man sich der Geschichte stellt.
({5})
Wir ziehen die Lehren aus der Vergangenheit. Der
Kanzler hat in seiner Regierungserklärung wie Sie, Frau
Ministerin, die Funktion des Rechts als Schutz für die
Schwächeren betont. Deshalb will die Koalition auch
Minderheiten besser schützen. Wir werden ein Gesetz
gegen Diskriminierung auf den Weg bringen und klarstellen, daß niemand auf Grund seiner Behinderung, seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner ethnischen Zugehörigkeit oder seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf. Das ist kein deutscher Sonderweg. In
vielen Ländern Europas gibt es Gesetze gegen Diskriminierung von Minderheiten. An diesen guten europäischen Standard wollen wir endlich anschließen.
Wir werden auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften endlich rechtlich anerkennen. Es wird
die Möglichkeit der amtlichen Eintragung geschaffen.
Schwule und lesbische Paare werden vom Staat offiziell
und rechtlich anerkannt. Manche Kollegen von der
CDU/CSU haben deshalb schon vorsorglich den Untergang des Abendlandes ausgerufen. Heute gab es ja auch
einige sehr lustige Beiträge zu dieser Frage. Ich kann Sie
nur fragen, meine Damen und Herren: Geht's nicht auch
ein bißchen weniger schrill?
({6})
Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Wenn wir
homosexuellen Paare gleiche Rechte und Pflichten verschaffen, dann nehmen wir doch damit niemandem etwas weg. Warum sollte dadurch die Ehe herabgewürdigt
oder gar gefährdet werden? Das ist doch blanker Unsinn.
({7})
Es geht darum, daß wir endlich zur Kenntnis nehmen:
Auch in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften
wird füreinander Verantwortung übernommen, wird zueinander gestanden und werden familiäre Leistungen erbracht. Das muß der Staat anerkennen. 62 Prozent der
Bevölkerung tun es ohnehin schon. Dies haben sie in
einer Meinungsumfrage zum Ausdruck gebracht.
Zum Schluß will ich Ihnen noch einen interessanten
Satz aus dem „Spiegel“ vorlesen, der in den letzten Wochen unsere neue Regierung nicht gerade immer mit Lob
überschüttet hat:
Die Koalitionsvereinbarungen über doppelte Staatsbürgerschaft und die Gleichstellung von homosexuellen Lebensgemeinschaften beweisen, daß die
Regierungspartner den Weg zurück zum Bürger
schon eingeschlagen haben.
Genauso ist es; genau dort wollen wir hin, zur Bürgerin
und zum Bürger.
({8})
Deshalb ein letzter Satz: All diese Reformprojekte
Das war jetzt
schon der letzte Satz.
- werden unser Land verändern. Es wird offener und
toleranter werden. Rechtspolitisch ist Rotgrün auf einem
guten Weg, endlich den Anschluß an die europäische
Moderne zu finden.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! „Die Bundesregierung wird eine
umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vornehmen.“ Dieser Satz ist Bestandteil einer Koalitionsvereinbarung, die fast auf den Tag genau vor vier Jahren
Volker Beck ({0})
von den Kollegen Kohl, Waigel und Kinkel unterzeichnet wurde. Einer von ihnen sitzt hier.
({1})
Zwei sogar? Um so besser; neuerdings in neuer
Funktion.
Ich habe die Debatte über die Regierungserklärung
des Bundeskanzlers in den vergangenen Tagen sehr
aufmerksam verfolgt. Gewiß hatte und hat manches
scharfe Wort, das aus den Reihen der Opposition an die
Regierung gerichtet wurde, etwas damit zu tun, daß Sie,
meine Damen und Herren, zum Teil Ihre neue Rolle
noch nicht so recht gefunden haben.
({2})
Ich halte das übrigens für durchaus nachvollziehbar.
Für nicht nachvollziehbar halte ich allerdings, woher
Sie, meine Damen und Herren auf der rechten Seite des
Mittelgangs sofern man angesichts Ihrer geschrumpften
Reihen noch von einem Mittelgang sprechen kann - ({3})
- Ich höre gerade das Wort Drittelgang. Ich denke, wenn
Sie so weitermachen, wird es in vier Jahren so sein, daß
Sie noch ein wenig enger zusammenrücken dürfen.
({4})
- Warten wir es ab!
({5})
Die schrumpfen, rücken aber nicht zusammen, das
stimmt.
Woher Sie die Kühnheit nehmen, einer Regierung,
die gerade einmal zwei Wochen im Amt ist, Vorhaltungen über angeblich nicht erfüllte Versprechungen zu
machen, kann ich mir nicht erklären.
({6})
Wer nämlich in der Zeit der eigenen Regierungsverantwortung nachweislich nicht dazu in der Lage oder nicht
willens war, eigene Beschlüsse in die Tat umzusetzen,
sollte an dieser Stelle allemal etwas bescheidener auftreten.
({7})
- Sie sind aber nicht an meiner Stelle.
({8})
Die Wählerinnen und Wähler haben sich am
27. September dieses Jahres für ein Ende des politischen
Stillstandes in unserem Land entschieden. Das gilt auch
für die Innenpolitik und insbesondere für die Frage der
Zukunft des Miteinanders in der Bundesrepublik
Deutschland. Viel zu lange war eine Mehrheit in diesem
Hause nicht dazu bereit, die Lebenswirklichkeit in
Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. Zu dieser Lebenswirklichkeit gehört nun einmal, daß es Millionen
von Mitbürgerinnen und Mitbürgern gibt, die dauerhaft
in Deutschland leben, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen. Das sind Menschen, die in
Deutschland arbeiten, die Steuern und Sozialabgaben
zahlen und die Teil unserer Gesellschaft sind. Es muß
im Interesse aller Demokraten liegen, diese Menschen
besser als bisher in unser Gemeinwesen zu integrieren.
({9})
- Auf Dauer verträgt es unser Land nicht, wenn große
Teile der Bevölkerung von wesentlichen Mitteln demokratischer Teilhabe ausgeschlossen bleiben und damit
gewissermaßen Bürger zweiter Klasse sind.
({10})
Ich hoffe sehr und habe die große Bitte, daß wir bei
der künftigen Debatte über Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht - ein Staatsbürgerschaftsrecht, das der
Wirklichkeit in diesem Lande gerechter werden muß auf eines verzichten, nämlich auf die ideologische Befrachtung des Themas.
({11})
Auf jeden Fall; da haben Sie recht, Herr Westerwelle.
Wer die Realität nicht wahrhaben will, tut sich selbst,
vor allem aber den Menschen - allen Menschen, die in
diesem Land leben - keinen Gefallen.
({12})
Wer nicht sehen will, was ist, begibt sich in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit. Jeder, der eine gedeihliche gemeinsame Zukunft der Menschen in diesem
Land will, tut gut daran, die Dinge so zu sehen, wie sie
sind. Es ist nicht eine Frage der Wahrnehmung, sondern
eine Tatsache, daß es einen unumkehrbaren Zuwanderungsprozeß gegeben hat, und es ist nicht eine Frage der
Wahrnehmung, sondern eine Tatsache, daß dieser Zuwanderungsprozeß Folgen hatte und hat - eine davon
steht übrigens heute vor Ihnen.
({13})
Wenn wir im Koalitionsvertrag nun klare Schritte in
Richtung eines modernen Staatsangehörigkeitsrechtes
vereinbart haben, dann haben wir das getan, weil die
Zeit reif dafür ist, im Interesse des inneren Zusammenhaltes dieses Landes endlich auch gesetzgeberisch
Schlußfolgerungen aus der Realität zu ziehen. Es wäre
schlicht absurd, wenn wir heute, da die Nachfahren der
Einwanderer von einst bereits in dritter und vierter Generation hier heranwachsen, weiter daran festhielten, sie
als Ausländer zu behandeln. Sie sind im Grunde keine
Ausländer, und künftig werden sie es auch formal nicht
sein.
({14})
Wir werden die Grundlage dafür schaffen, daß Kinder
ausländischer Eltern mit der Geburt in Deutschland
grundsätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten,
({15})
unter Bedingungen, die wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Das ist ein überaus wichtiger und längst
überfälliger Schritt.
Zugleich wollen wir, daß unter der Voraussetzung
von Unterhaltsfähigkeit und Straflosigkeit einen Einbürgerungsanspruch erhält, wer als Ausländerin oder
Ausländer rechtmäßig mindestens seit acht Jahren in
Deutschland lebt. Dabei wollen wir bewußt darauf verzichten, den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft
von der Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft abhängig zu machen.
Richard von Weizsäcker - ein Herr, auf den Sie
möglicherweise hören - hat in seiner Zeit als Bundespräsident vor sechs Jahren dazu klare Worte gefunden ich zitiere ihn -:
Würden wir denen, die es wünschen, den Zugang
zur deutschen Staatsangehörigkeit erleichtern, und
sei es neben ihrer bisherigen, dann würden wir ihre
Lebenslage verbessern und unser Zusammenleben
fördern.
({16})
Genau darum geht es: die Lebenslage der Betroffenen zu
verbessern und unser gemeinsames Zusammenleben zu
fördern.
Ich muß zum Schluß kommen. Ich habe die herzliche
Bitte, daß wir in diesem Sinne gemeinsam bei den
kommenden Beratungen über die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts konstruktiv zusammenarbeiten.
„Die Bundesregierung wird eine umfassende Reform
des Staatsangehörigkeitsrechts vornehmen.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und F.D.P., das
ist ein Satz von Ihnen, der vier Jahre alt ist. Es ist jetzt
Zeit, ihn mit Leben zu erfüllen. Machen Sie mit, und
lassen Sie uns die entsprechenden Beschlüsse mit großer
Mehrheit fassen; denn die Sache, um die es geht, ist viel
zu wichtig, als daß wir es zulassen dürfen, sie parteipolitischem Gezänk und der Kleinkariertheit anheimfallen zu lassen.
Vielen Dank.
({17})
Lieber Herr
Kollege Edathy, Sie haben gehört: Das Haus hat Ihnen
mit Beifall zu Ihrer ersten Rede schon gratuliert. Auch
ich gratuliere Ihnen; das ist hier so Brauch.
Mit Ihnen möchte ich auch alle anderen Jungfernredner bitten, ein bißchen auf die Zeit zu achten. Wir sind
in dieser Hinsicht ziemlich eingeschränkt. Es gibt da
vorne ein Zeichen, an dem man sehen kann, daß die Zeit
abgelaufen ist.
({0})
Ich erteile als nächstem Redner dem Abgeordneten
Norbert Lammert das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neue Bundesregierung hat zur Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes das Amt eines Staatsministers für
kulturelle Angelegenheiten als besonderen Beauftragten
des Bundeskanzlers eingerichtet.
({0})
Er soll laut Regierungserklärung - ich zitiere Impulsgeber und Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein und sich auf internationaler,
aber vor allem auf europäischer Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur verstehen.
({1})
Dafür gibt es durchaus beachtliche Argumente.
({2})
Die meisten sind allerdings nicht einmal neu.
Bislang ist diese Ankündigung die einzige konkrete
Absicht bzw. Initiative der neuen Bundesregierung in
diesem Bereich geblieben. Damit verbunden ist die seit
Wochen medienwirksam angekündigte dringliche Beförderung dieses Beauftragten des Bundeskanzlers zum
leibhaftigen Staatsminister, die nur durch eine förmliche
Änderung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der
Parlamentarischen Staatssekretäre möglich ist. Daß dies
der dringlichste Beitrag zur Förderung von Kunst und
Kultur in Deutschland sei, glauben wir allerdings nicht.
({3})
Ich möchte zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit in
diesem Aufgabenbereich einige wenige orientierende
Bemerkungen für meine Fraktion machen.
Erstens. Wir werden an der beabsichtigten bzw. vollzogenen Neuordnung der Bundeskompetenzen im Kulturbereich konstruktiv mitarbeiten. Dies gilt selbstverständlich in besonderer Weise für den neuen Bundestagsausschuß für Kultur und Medien als parlamentarische Korrespondenz zur veränderten Kompetenzverteilung in der Exekutive.
Zweitens. Wir werden nicht zuletzt den kulturpolitisch unauflöslichen Zusammenhang zwischen innerer
und auswärtiger Kulturpolitik im Auge behalten, und
zwar völlig unbeschadet der Ressortzuständigkeiten.
Das eine kann offensichtlich nicht gänzlich losgelöst
vom anderen verfolgt werden.
Drittens. Wir werden jede unnötige Auseinandersetzung mit den Ländern über ihre Kulturverantwortung
vermeiden. Eine Konfrontation zwischen Bund und
Ländern nutzt weder dem Bund noch den Ländern, aber
sie schadet Kunst und Kultur. An dieser Stelle füge ich
hinzu: Den Begriff „Kulturhoheit“ verwende ich bewußt
und grundsätzlich nicht. Kunst und Kultur sind weder
eine hoheitliche Aufgabe des Staates, noch steht diesem
die Hoheit über die Kultur zu.
({4})
Ein Staat, der diesen Anspruch erheben wollte, hätte als
Kulturstaat abgedankt.
({5})
Viertens. Die kulturelle Präsenz des Bundes in
Bonn wie in Berlin ist eine besondere Herausforderung,
der sich Parlament wie Regierung widmen müssen. Das
Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als
Kulturstaat muß in der Hauptstadt noch mehr als anderswo sichtbar und erlebbar sein. Dem hat die frühere
Bundesregierung unter Führung von Helmut Kohl mit
der Bereitstellung von Kulturfördermitteln für Berlin in
Höhe von jährlich mehr als 400 Millionen DM Rechnung getragen. Ich möchte heute schon darauf hinweisen, daß dies mehr ist, als die Regierung Schmidt zuletzt
für die gesamte Kulturförderung des Bundes im Inland
ausgegeben hat, und daß diese Mittel im übrigen allein
ein Drittel der gesamten Fördermittel darstellen, die wir
im Bereich der Kulturförderung im ganzen Land zur
Verfügung haben.
Deswegen weise ich darauf hin, daß von vornherein
auch festgehalten werden muß, daß sich die Kulturförderung nicht auf diese beiden besonders wichtigen Aufgaben reduzieren läßt. Es gibt in der sogenannten Provinz
viele herausragende Kulturstätten und Ereignisse von
nationaler und von internationaler Bedeutung, die unsere
Aufmerksamkeit und Unterstützung in einer ähnlichen
Weise verdienen.
({6})
Fünftens. In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers heißt es:
Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin
wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondern unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debatte hier im Deutschen Bundestag. Diese
Entscheidung wird wegen der besonderen, nicht nur
kulturpolitischen Bedeutung eine der wichtigsten
und zugleich schwierigsten Entscheidungen der
neuen Legislaturperiode in diesem Bereich sein, gerade weil es beachtliche Argumente für wie gegen
die bislang vorgestellten Entwürfe gibt, die wir allesamt ernst nehmen müssen.
({7})
Die Ankündigung des Bundeskanzlers, daß die gesuchte „würdige Lösung ... in ein Gesamtkonzept für die
Gedenkstätten in Deutschland eingebettet“ werden muß
- was ich persönlich nicht für zwingend halte -, macht
diese Entscheidung nicht leichter, zumal sie das Risiko
einer weiteren Vertagung überfälliger Beschlüsse erhöht. Schon gar nicht glaube ich, daß dies ein Ort sein
muß, zu dem man gerne hingeht. Es gibt aber kein überzeugendes Argument dafür, vor der Schwierigkeit der
Aufgabe zu kapitulieren. Der angemessene Ort für die
notwendige Entscheidung ist der Deutsche Bundestag.
({8})
Sechstens. Die ungewöhnlich lange Amtszeit von
Bundeskanzler Kohl war auch eine Zeit ungewöhnlichen
kulturpolitischen Engagements des Bundes.
({9})
- Wir kommen auf den Sachverhalt zurück.
({10})
Ich sage Ihnen voraus, daß die Vergnüglichkeit beim
Vergleich der einen mit der anderen Zahl von Monat zu
Monat rapide zurückgehen wird.
Diese Zeit eines ungewöhnlichen kulturpolitischen
Engagements des Bundes ist trotz vieler herausragender
Einzelbeiträge nicht immer auffällig gewesen; aber dieses Engagement war beispielhaft und hat Maßstäbe für
die Zukunft gesetzt. Dazu gehören in Bonn das Haus der
Geschichte und die Kunst- und Ausstellungshalle des
Bundes. Dazu gehört in Berlin das Deutsche Historische
Museum, nicht zuletzt auch die Neugestaltung der Neuen Wache.
Insgesamt haben sich die Aufwendungen des Bundes
für Kunst und Kultur in der Amtszeit von Helmut Kohl
verdreifacht. Zur Erhaltung gefährdeter kultureller Substanz in den neuen Ländern und zur Modernisierung der
notwendigen Infrastruktur für kulturelle Bildung sind
allein zwischen 1991 und 1994 über 3 Milliarden DM
zur Verfügung gestellt worden. Wir werden darauf achten, daß dies so bleibt oder wenigstens nicht die Auffälligkeit der Inszenierung stärker und die Förderung geringer wird.
({11})
Siebtens. Wir werden allen Versuchen und Versuchungen widerstehen und entgegentreten, die Breitenkultur und die künstlerische Avantgarde in Literatur,
bildender Kunst, Schauspiel, Tanz und Musik gegeneinander auszuspielen.
({12})
Das eine ist so unverzichtbar wie das andere. Sowohl
das eine als auch das andere haben Anspruch auf Respekt und Förderung. Dabei sind allerdings die höchst
unterschiedlichen Voraussetzungen zu berücksichtigen
bzw. gegebenenfalls zu schaffen, die kulturelle und
künstlerische Entwicklung in dem einen wie in dem anderen Bereich erlauben.
Achtens. Auch die Medien - die alten wie die neuen
- sind nicht nur ein wesentlicher Faktor wirtschaftlicher
Entwicklung, sondern tragen bewußt oder unbewußt erheblich zur kulturellen Entwicklung und zur gesellschaftlichen Identität bei.
({13})
Der vor wenigen Tagen verstorbene bedeutende deutsche Soziologe Niklas Luhmann hat in seinen zahlreichen Studien immer wieder darauf hingewiesen, daß
Presse und elektronische Medien lediglich das vermitteln, was die Gesellschaft als Realität annehme. Damit
müssen wir uns noch mehr als bisher auseinandersetzen:
Die Wirklichkeit wird über die Medien wahrgenommen
- einschließlich der Annahme, daß das, was die Medien
vermitteln, die Wirklichkeit sei.
Abschließend lassen Sie mich sagen: Der Zweck der
Kulturpolitik ist Kultur, nicht Politik.
({14})
Dieser Anspruch ist leichter zu formulieren als umzusetzen, aber an diesem Anspruch wollen wir uns und
andere messen lassen.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Beauftragte der Bundesregierung für Kunst,
Kultur und Medien, Michael Naumann.
Dr. Michael Naumann, Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien
({0}): Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Lammert, ich freue
mich, in Ihnen einen Bündnispartner gefunden zu haben.
Ich stehe allerdings auch nicht an, darauf hinzuweisen,
daß ich den Ruf nach einer Debatte, um zu einer Entscheidung über das Holocaust-Mahnmal zu kommen,
jahrelang vermißt habe. Aber er gehört in der Tat hierher.
Der Bundestag hat zum erstenmal in seiner Geschichte einen Kulturausschuß eingerichtet. Er hat dies
getan, weil dem Bund im Laufe der Jahre eine Fülle
kulturpolitischer Aufgaben zumal im außenpolitischen
und, wenn Sie so wollen, im innereuropäischen Raum
zugewachsen ist. Ihren Lösungen kann größere parlamentarische Kontrolle und Öffentlichkeit nur gut bekommen. Meine Mitarbeiter und ich freuen uns auf die
Zusammenarbeit.
Das Parlament ist der repräsentative Souverän. Darum ist es richtig, daß in einer symbolisch so wesentlichen Frage wie derjenigen des geplanten HolocaustMahnmals die Abgeordneten des deutschen Volkes das
letzte Wort haben.
({1})
Alle diejenigen, die eine feste Meinung in dieser ernsten
Angelegenheit hegen, bitte ich, sich mit moralischen
Urteilen über jene zurückzuhalten, die unentschieden
oder anderer Überzeugung sind.
({2})
Zur Debatte steht auch nicht das Gedenken an den
millionenfachen Mord an Europas Juden, sondern vielmehr der ästhetische Gestus der Erinnerung an seine
Unbeschreiblichkeit. Eiferndes Insistieren auf eigenen
Positionen ist der Sache nicht angemessen. Es gibt kein
Monopol des Trauerns oder des korrekten Gedenkens.
Wohl aber gibt es die Pflicht, nie zu vergessen, was
Furchtbares einmal geschehen ist.
({3})
Die verblendete Machtentfaltung Deutschlands hat
zweimal schweres Unglück über unser Land, über Europa, über die ganze Welt gebracht. Die Hoffnung mancher Künstler und Dichter, der Schauspieler, Regisseure
und Komponisten, ein schöpferisches Leben in - mit
Thomas Mann gesprochen - „machtgeschützter Innerlichkeit“ zu führen, wurde mißbraucht, betrogen und als
vordemokratische Illusion entlarvt. Kein Zweifel, daß
bedeutende Köpfe deutscher Kultur, daß Philosophen,
Künstler und Autoren über Jahrzehnte hinweg an dem
folgenschweren Werk der nationalen Selbstblendung ihren Anteil hatten.
Deutsche Politikgeschichte ist immer auch deutsche
Kulturgeschichte mit all ihren Brüchen und dunklen
Epochen. Weil diese Dekulturationsphasen deutscher
Geschichte so eng mit machtbesessenem, politischem
Zentralismus, mit den Herrschaftsträumen von Diktaturen verbunden sind, können die Segnungen unseres
kulturellen und politischen Föderalismus nicht laut genug gepriesen werden.
({4})
Dieser Föderalismus ist das Signum unserer Kulturpolitik und wird es selbstverständlich auch unter dieser Regierung bleiben.
({5})
Wenn wir unter Kultur nicht mehr, aber auch nicht
weniger verstehen als den Spiegel, den wir uns selbst
vorhalten, um zu verstehen, wer wir sind, was wir können, wohin wir wollen, so wissen wir auch, daß dieser
Spiegel stumpfe Stellen aufweist. Doch blind ist er
nicht.
Kultur ist niemals das Kraftzentrum sogenannter nationaler Normalität. Vielmehr ist sie der Name für alle
Formen von Zweifel, von kritischer Überwindung des
jeweils Normalen, der Name für geistige Innovation, für
satirisches Gelächter - auch in diesem Haus -, für intellektuelle Herausforderungen, aber doch auch für Trost,
für Entspannung und für alle Formen jener bisweilen
diskriminierten Unterhaltung, deren Preis ja nicht automatisch Verdummung heißen muß. In einem Satz: Kultur ist die schönste Form politischer Freiheit in einer
demokratisch verfaßten Gesellschaft.
({6})
Nicht nur wir Sozialdemokraten wissen, daß ein Land
an seiner Seele Schaden nähme, lebte es wohlbehütet für
die Mehrung seines Wohlstands allein. Politik ohne
Kultur ist unfrei, sprachlos und ohne Sinn.
({7})
Kultur ist auch kein Standortfaktor, wie es uns der
neue Sprachgebrauch weismachen will. Vielmehr sind
es die Künste, die unser Leben aus dem Werktagsland
der Notwendigkeit hinausführen können. Das richtige
Leben werden wir jedenfalls nicht auf unseren Kontoauszügen entdecken können. Doch niemand wird behaupten, daß es sich in einem Land voller sozialer Probleme und wirtschaftlicher Ängste unbeschädigt entfalten könnte.
Die Bundesregierung hat die mannigfachen Aufgaben
ihrer eigenen Kultur- und Medienpolitik im Namen von
Effektivität und Transparenz gebündelt, nicht um in
Konkurrenz zur Kulturhoheit der Länder und Kommunen - das ist inzwischen ein Verfassungsbegriff, Herr
Lammert; ich teile aber völlig Ihre Meinung, daß der
Begriff der Hoheit aus der Barockzeit stammt - zu treten, sondern - im Gegenteil - um sie dort zu stärken, wo
es möglich ist.
({8})
Mit Nachdruck werden wir uns für eine Neuorganisation der Kulturförderung Berlins einsetzen. Wir werden auch die guten Versprechen der vorherigen Regierung einlösen, die kulturellen Einrichtungen der Bundesstadt Bonn zu fördern in Dankbarkeit für ihre unvergleichliche Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte
({9})
und in Respekt - das lassen Sie einen Kölner sagen vor der großen kulturellen Tradition der Region.
({10})
Seit mehr als einem Jahr diskutieren wir nun in
Deutschland die Silhouette der zukünftigen Berliner
Republik. Noch ist es eine Silhouette, auch von jenen
hochgehalten, die gerne die Gefahren eines autoritären
Zentralismus beschwören, weil sie sich so gerne gruseln
wollen. Für die Kulturpolitik unserer Regierung umkreist dieser Begriff die Hoffnung auf ein Hauptstadtleben, das bereits heute in seiner Vielfalt von Museen,
Theatern, Galerien, Opern, Orchestern, freien Bühnen
und einer sehr kreativen Off-Szene ebenso ungewöhnlich wie repräsentativ für Deutschlands kulturelles
Selbstverständnis ist. Berlin braucht, um seine kulturelle
Vielfalt auszuleben, den Umzug nicht. Das ist auch ohne
uns möglich.
({11})
Berlin war stets eine Stadt gleichsam transitorischer
Kultur. Hier trafen und treffen sich die Künstler Ostund Westeuropas. Hier stellt sich Deutschland dem
Ausland vor - und umgekehrt. Wir werden die vertraglich festgelegte Unterstützung kultureller Einrichtungen
Berlins durch die Gewährung von Bundesmitteln fortsetzen und diese im nächsten Haushaltsjahr verdoppeln.
Berlin ist der Sitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie ist ein Kronjuwel bundesdeutscher Kulturförderung. Unter neuer Leitung wird sie die Herausforderung
einer wohl nötigen internen organisatorischen Modernisierung annehmen.
Alle Kulturpolitik handelt direkt oder indirekt vom
Erinnern. Ein Land, das sich täglich neu erfinden will,
wird sich schnell selbst vergessen. Wir wollen die Vorstellungen des Deutschen Bundestages zur Pflege von
Gedenkstätten ernst nehmen. Dies umfaßt neben ehemaligen Konzentrationslagern auch die Pflege der sowjetischen Ehrenmale und Soldatenfriedhöfe.
({12})
Dazu hat sich die Bundesrepublik vertraglich verpflichtet. Die Menschen, die dort liegen, wollten nicht in
Deutschland sterben.
Der Vorwurf einer sanften Kolonialisierung, der dem
Westen Deutschlands aus den neuen Ländern entgegenweht, ist ernst zu nehmen. Mit der gebotenen Zurückhaltung, aber auch mit dem notwendigen finanziellen Aufwand wird die Bundesregierung das kulturpolitische Engagement jener Region Deutschlands verstärken,
in der über Jahrhunderte hinweg zum Beispiel unser bestes musikalisches Erbe gepflegt wurde und in der sich trotz totalitärer Kulturkontrolle - über mehr als 50 Jahre
hinweg eine widerstandsfähige, kraftvolle Musik, Kunst
und Dichtung entwickelten.
({13})
Weimar mag für manchen ein angestaubter deutscher
Goethe-Mythos sein. Aber hinter allem historischen
Mißbrauch - und den gab es im Dritten Reich - leuchtet
doch die Wahrheit auf, daß in diesem Städtchen die
schönste deutsche Prosa und die leichteste Lyrik entstanden.
({14})
Als europäische Kulturhauptstadt 1999 wollen wir
Weimar feiern und verstehen und seine stadtgewordene
Literaturgeschichte neu lieben lernen.
({15})
Bundesbeauftragter Dr. Michael Naumann
Mit dem Außenminister sind wir uns einig, daß ich
im Ministerrat für Kultur und Medien der Europäischen
Union in enger Kooperation mit den Ländern - das versteht sich von selbst - die deutsche Verhandlungsführung übernehmen werde. Wir wollen dort in kulturpolitischen Angelegenheiten mit einer Stimme sprechen - und
bisweilen auch fechten -, zum Beispiel in den Bereichen
europäische Filmförderung und Medienpolitik.
({16})
Die Bundesregierung weiß, daß die europäische Idee
nicht in einer gemeinsamen Währung kulminiert, sondern in einer besseren Kenntnis unserer vielfältigen nationalen Kulturen verwirklicht wird, in einem niemals
abgeschlossenen Prozeß.
({17})
Dieser Prozeß sollte geprägt sein von Neugier, Toleranz
und darin begründeter Friedfertigkeit.
({18})
Meine Damen und Herren, Europa ist keine Utopie
mehr. Freilich gilt es auch, ganz enorme eurozentralistische, bürokratische Zumutungen abzuwehren. Die Qualität des deutschen Buch- und Verlagsgewerbes ist einmalig auf der Welt. Es muß vor den Anfechtungen einer
entfesselten Marktwirtschaft geschützt werden.
({19})
Dasselbe gilt nicht nur für die sogenannte Buchindustrie,
sondern auch für die, die sie tragen, nämlich für die
Autorinnen und Autoren dieses Landes.
({20})
Diese Regierung verteidigt im Hinblick auf den Maastrichter Vertrag aus kulturellen Gründen - nicht aus
kommerziellen Gründen - den gebundenen Ladenpreis.
({21})
Von daher ist es übrigens gut, einen ehemaligen Buchhändler als Außenminister an seiner Seite zu wissen,
wenn er auch gerade irgendwo sitzt und liest.
({22})
So wie der Buchhandel, die Bibliotheken und die
Verlage das Nervensystem unseres Geisteslebens bilden,
so sind die Medien unsere Augen. Was sie sehen, aber
auch, was sie nicht sehen, bestimmt fast unmittelbar unser Bewußtsein. Hüten wir uns vor Kommunikationsmonopolen!
({23})
Die Erhaltung der grundgesetzlich garantierten Kunst-,
Informations- und Meinungsfreiheit sollte unsere Arbeit bestimmen.
({24})
Vor uns liegen gesetzgeberische Initiativen von der
die Kultur fördernden Reform des Spenden- und Stiftungsrechts bis hin zu einer Regelung der offenen Fragen um die sogenannte Beutekunst. Die Bundesregierung plant, eine Stiftung „Künstler und Autoren im Exil“
ins Leben zu rufen.
({25})
Wir wollen bedrängten Autoren, Malern, und Komponisten, Regisseuren und Schauspielern in Zusammenarbeit
mit Amnesty International und Writers in Prison eine sichere Bleibe hier für eine Frist von mindestens einem
Jahr ermöglichen. Dies tun wir auch in dankbarer Erinnerung an jene Nationen, an der Spitze England, die
Niederlande, Frankreich und die Vereinigten Staaten,
die in diesem Jahrhundert verfolgten deutschen Künstlern Asyl gewährten.
({26})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. Ich
bin während des Wahlkampfs immer wieder nach meiner Vision gefragt worden. Ich habe stets geantwortet,
daß sich unser Land vor Kulturpolitikern mit Visionen
hüten möge, da jene dazu neigen, sie alsbald verwirklichen zu wollen.
({27})
Nichts entspräche meinem Kulturverständnis weniger
als die Vorstellung eines Politikers - und säße er im
Kanzleramt - mit absolutem Geschmack. Wehe uns,
wenn er ihn durchsetzen will!
({28})
Unser aller Aufgabe ist es, auf Bundes- und Landesebene sowie auf kommunaler Ebene dem kraftvollen
vielfältigen, dem respektlosen frechen, dem dokumentierenden, dem bewahrenden, aber auch dem umstürzenden, dem phantasievollen und komödiantischen Kulturleben Deutschlands den finanziellen und gesetzlichen
Schutz zu gewähren, den es benötigt.
({29})
Diese Koalition hat den kulturpolitischen Auftrag, den
die Wähler ihr ganz offensichtlich erteilt haben, angenommen. Ich wünschte mir, er würde auch von der Opposition akzeptiert.
Ich danke Ihnen.
({30})
Herr Naumann, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses zu
Ihrer ersten Rede gratulieren; das haben wir faktisch bereits getan.
({0})
Bundesbeauftragter Dr. Michael Naumann
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Cem Özdemir das
Wort.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine spannende Debatte zur Innen- und
Rechtspolitik. Sie haben viele Ziele, die sich die neue
Koalition vorgenommen hat, gehört, unter anderem das
Ziel, bei der Informationsfreiheit den preußischen Obrigkeitsstaat hinter uns zu lassen und die Demokratie in
der Politik nicht darauf zu beschränken, daß man alle
vier Jahre ein Kreuzchen an der richtigen oder an der
falschen Stelle macht und im übrigen die Vorturner in
der Politik aus dem Fernsehsessel verfolgt. Wir wollen
den mündigen Bürger, dessen Meinung auch zwischen
den Wahlterminen gefragt ist. Seine Mitwirkung liegt
uns sehr am Herzen, und deshalb freue ich mich darüber,
daß diese Koalition Volksabstimmungen und Volksbefragungen in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen
hat.
Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, daß wir in dieser Frage auf Ihre Unterstützung angewiesen sind, weil das Grundgesetz dafür geändert werden muß. Ich hoffe, daß wir dies gemeinsam
tun. Ich glaube nämlich, daß es unser aller Anliegen sein
muß, die Politikverdrossenheit - das Gefühl vieler Menschen in der Bevölkerung, daß man in der Politik nicht
mitwirken, nicht mitgestalten kann, daß der Bürger nicht
gefragt ist - zu bekämpfen. Ich appelliere an Sie, die
Grundgesetzänderung zusammen mit uns zu bewerkstelligen, damit wir mehr Elemente direkter Demokratie
durchsetzen können. Wir müssen die Bürgermeinung auf
allen Ebenen stärker miteinbeziehen.
({0})
Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, der heute
in der Diskussion eine wichtige Rolle gespielt hat - die
Opposition hat das heftig attackiert -: die Frage des
Staatsbürgerschaftsrechtes. Ich möchte, bevor ich
meine Meinung dazu sage, etwas zitieren:
Das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik
Deutschland muß grundlegend novelliert werden.
Der Grundsatz der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit muß in den Fällen, in denen das Gesetz
Rechtsansprüche auf Einbürgerung einräumt, aufgegeben werden. Außerdem muß das Recht auf
Erwerb der Staatsangehörigkeit für hier geborene
Ausländer der zweiten und folgenden Generation
verankert werden.
Sie werden sich fragen, von wem dieses subversive Gedankengut stammt. Ich kann es Ihnen sagen: von der
F.D.P.
({1})
Das ist das F.D.P.-Programm des Jahres 1994. Genau
das, was Sie dort gesagt haben, wird diese Koalition
verwirklichen. In einem Punkt gehen wir nicht einmal so
weit, wie Sie es damals gefordert haben. Sie wissen, wir
haben uns da nicht durchsetzen können. Was das Geburtsrecht, das die zweite Generation automatisch bekommt, angeht, haben wir einen Kompromiß gefunden.
Deswegen bin ich mir sehr sicher, daß die F.D.P. in dieser Frage zustimmen wird und daß sie sich nicht hinter
das Argument flüchten wird, daß die Optionslösung
darin nicht enthalten ist. Die Optionslösung, das wissen
Sie, Kollege Westerwelle, war der Versuch eines Kompromisses, der nicht zustande kam, weil die Union nicht
mitgemacht hat. Ihre ursprüngliche Position war dieselbe, wie wir sie haben: Das ist die Einführung des Geburtsrechtes, ist die Verkürzung der Fristen. Diese Koalition wird das machen.
({2})
Sie können beweisen, ob Sie nur Luftblasen verbreitet
haben oder ob es Ihnen wirklich um die Sache geht.
Diese Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat
eine gute Nachricht für alle Sportfans, eine gute Nachricht für alle Fußballfans. Bei uns werden zukünftig die
JJs, die Giovannis, die Mullahs und die Mustafas in der
deutschen Nationalmannschaft für Deutschland hoffentlich Tore schießen. Wir werden aufhören mit dem Unsinn, daß Kinder, die bei uns geboren sind, nur deshalb,
weil ihre Eltern woanders herkommen, nicht in der deutschen Nationalmannschaft spielen, sondern in der holländischen, in der türkischen oder sonstwo. Zukünftig
werden sie mit unserem Staatsangehörigkeitsrecht in unserer Nationalmannschaft spielen.
({3})
Das sollte Sie, wenn Sie Sportsfreunde sind wie wir,
bewegen, daß Sie sich gemeinsam mit uns darüber freuen. Das kann dem deutschen Fußball nur guttun, wenn
wir uns die WM in Erinnerung rufen. Auch deswegen ist
es überfällig, daß wir das neue Staatsangehörigkeitsrecht
bekommen.
({4})
Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Argument eingehen, das in der Debatte eine wichtige Rolle gespielt
hat. Verschiedentlich wurde von den Kollegen von der
Union die Frage angesprochen, warum denn Kinder,
wenn sie hier geboren sind, automatisch den Paß bekommen sollen, ohne gefragt zu werden. Ich sage Ihnen:
Es war Absicht, daß wir das gemacht haben. Wir haben
lange darüber debattiert, ob wir diesen Punkt mit hineinnehmen wollen. Ich will Ihnen nun das Argument nennen. Ich glaube, Sie werden dann verstehen, warum wir
das gemacht haben.
Stellen Sie sich einmal den Fall vor, den Sie zitiert
haben. Der fundamentalistische Vater sagt: Meine
Tochter soll keinen deutschen Paß bekommen, wer
weiß, auf welche dummen Ideen sie kommt. - Genau
um diese Fälle geht es uns. Diese Tochter muß den deutschen Paß bekommen. Wenn sie hier geboren ist, gehört
sie zu unserer Gesellschaft dazu - und das vielleicht
auch im Konflikt mit ihren Eltern.
({5})
Vizepräsident Dr. Antje Vollmer
Das Kindeswohl und das Interesse dieser Gesellschaft,
unserer Gesellschaft ist manchmal wichtiger als das Interesse mancher Eltern.
Gerade wir als rotgrüne Regierung können deshalb
mit um so mehr Glaubwürdigkeit sagen: Integration ist
keine Einbahnstraße. Zur Integration gehört das, was wir
machen werden: das neue Staatsangehörigkeitsrecht.
Weiterhin gehört aber auch dazu, daß dieses Gesetz auch
angenommen wird, daß Gebrauch von der Einbürgerung
gemacht wird, daß sich die Migrantinnen und Migranten
- ich rede vor allem von der zweiten und der dritten Generation - stärker um die deutsche Sprache bemühen.
Hier werden wir Angebote machen. Diese Angebote
müssen aber auch angenommen werden.
Wir werden aber auch eines klarmachen. Der Kalif
von Köln, beispielsweise der Herr Kapplan, der nicht
nur uns Sorgen macht, sondern auch vielen Muslimen in
dieser Gesellschaft Ängste bereitet, wird nicht mit der
Toleranz dieser Regierung rechnen können.
({6})
Wer hier Extremismus und Terrorismus betreibt oder
von deutschem Boden aus fremde Länder, zum Beispiel
die Türkei, bedroht, wie das die PKK und andere Organisationen machen, der muß wissen, daß wir die Einhaltung der Gesetze dieser Republik für alle einfordern
werden. Deswegen glaube ich, daß wir mit mehr
Glaubwürdigkeit auf die Nichtdeutschen werden zugehen können.
({7})
Lassen Sie mich, weil meine Redezeit fast abgelaufen
ist, zum Schluß noch auf einen Punkt eingehen, der in
dieser Koalitionsvereinbarung eine wichtige Rolle spielt.
Ich glaube, daß dieser Punkt das Gesicht dieser Republik
nachhaltig verändern wird, und zwar zum Positiven verändern wird. Wir müssen auch in der Drogenpolitik
dringend einen Paradigmenwechsel hinbekommen. Wir
müssen zum Ziel haben, daß die Zahl der Drogentoten
abnimmt. Jedes Jahr muß sich der Minister hier hinstellen können und sagen können: dieses Jahr haben wir
weniger Drogentote als letztes Jahr. Das muß das Ziel
der Bundesregierung sein.
Wir gehen davon aus, daß Drogenabhängige kranke
Menschen sind. Das sind für uns keine Straftäter. Wir
müssen mit diesen Menschen umgehen wie mit kranken
Menschen. Darum werden wir auch hier die Politik der
Regierung ändern. Wir werden das, was Ihre Kommunalpolitiker, was viele Polizeipräsidenten seit Jahren gefordert haben und zum Teil praktizieren, endlich legalisieren. Mit uns wird es Gesundheitsräume geben. Wir
werden die Drogenabhängigen von der Straße holen.
Wir werden dafür sorgen, daß die Beschaffungskriminalität zurückgeht. Das heißt, das Sicherheitsbedürfnis der
Bürger wird ernstgenommen. Auf der anderen Seite
werden wir dazu beitragen, daß Kriminalität, daß organisierte Kriminalität in Form des Drogenhandels massiver bekämpft wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was das britische
Oberhaus, die Lords mit den weißen Perücken, sicherlich nicht mit Cannabisnebel umschwebt, beschlossen
hat, sollte auch uns recht und billig sein. Das britische
Oberhaus hat beschlossen, daß Cannabis dort, wo es dazu dient, zur Schmerztherapie eingesetzt zu werden, legalisiert wird. Ich glaube, auch uns würde ein solcher
Beschluß gut zu Gesicht stehen.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler.
({0})
- Das stimmt. Sie hatten sich vorhin zu einer Kurzintervention gemeldet. - Sie kommen danach an die Reihe,
Frau Kenzler. - Bitte!
Ich will ganz kurz
darauf erwidern, weil Sie uns in bezug auf die Wahlaussage des Jahres 1994 angesprochen haben. Es gibt auch
noch eine Wahlaussage von 1990 und eine von 1987.
Ich kenne sie. Ich empfehle Ihnen die Wahlaussage des
Jahres 1998. Denn die Abgeordneten der Freien Demokratischen Partei, die hier sitzen, haben diese Wahlaussage als Geschäftsgrundlage den Wählerinnen und
Wählern angeboten, die uns gewählt haben. Das sind
etwas mehr als 3 Millionen gewesen.
Darin können Sie ziemlich klar lesen, wie wir das sehen, indem wir nämlich sagen: Zwischen dem 18. und
dem 25. Lebensjahr müssen sich die Jugendlichen endgültig für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Ich finde, wir sollten uns auf der Grundlage
der geltenden Programme unterhalten. Wir haben nämlich auch, wie wahrscheinlich bei jedem hier - diese
Diskussion gab es auch in der Union; wir erinnern uns
der gemeinsamen Gespräche mit den sogenannten jungen Wilden in der letzten Legislaturperiode - ({0})
- Ich sage „sogenannt“, weil ich persönlich der Meinung
bin, daß man mit 40 nicht mehr als jung durchgeht. Das
gilt für alle.
({1})
Mit 36 auch nicht mehr. Da brauchst du keine Angst zu
haben.
Aber noch einmal im Ernst: Ich glaube, das ist genau
der Punkt: Wir sollten auch sehen, was sich hier getan
hat. Das Problem ist: Die doppelte Staatsangehörigkeit
als Regelfall für alle verlangt eben dann keine bewußte
Integrationsentscheidung der Betroffenen. Diese bewußte Integrationsentscheidung der Betroffenen wollen
wir. Wir wollen uns an beide Seiten wenden. Die deutsche Gesellschaft sagt jenen, die hier geboren sind: Ihr
gehört dazu. Wir wollen euch integriert sehen. Aber wir
erwarten umgekehrt auch, daß die andere Seite sich mit
einer bewußten Integrationsentscheidung in unsere Gesellschaft begibt.
({2})
Herr Özdemir.
Ich
glaube, die jungen Wilden in der Union sind früh gealtert, aber das tut nichts zur Sache.
({0})
Ich bestreite nicht, daß es bei der doppelten Staatsbürgerschaft sicherlich ein Vermittlungsproblem in der
Gesellschaft gibt. Ich glaube, es ist das größte im ganzen
Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts. Es gibt Umfragen in der Bevölkerung, die besagen, daß das Geburtsrecht von einem großen Teil der Bevölkerung akzeptiert
wird und daß auch die Verkürzung der Fristen von einem sehr großen Teil der Bevölkerung akzeptiert wird.
Bei der doppelten Staatsbürgerschaft - das will ich
Ihnen gerne zugestehen - haben viele das Gefühl, daß
Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft mehr Rechte
bekommen als ein Deutscher. Das muß man ernst nehmen, da muß man argumentieren. Ich glaube aber, man
kann auch argumentieren.
Viele glauben oder gehen davon aus, daß ein Doppelstaatsbürger sich hier bestimmten Dingen entziehen
kann. Dem ist aber nicht so. Das muß man in aller Deutlichkeit klarmachen. Wer hier Doppelstaatsbürger ist, ist
vor deutschen Gerichten deutscher Staatsbürger.
({1})
Er ist hier wehrpflichtig, er ist schulpflichtig, für ihn
gelten alle Bestimmungen dieser Republik.
Ich nenne jetzt einmal einen Punkt, der in der Öffentlichkeit gar nicht diskutiert wird: Er hat deswegen sogar
praktische Nachteile. Wenn Sie einmal mit Richtern
sprechen, werden sie Ihnen sagen: Bisher mußte sich der
deutsche Richter beim Fall eines türkischen Staatsbürgers, der sich hier scheiden lassen will, in das türkische
Scheidungsrecht einarbeiten und muß die Ehe dieses
Mannes nach türkischem Recht scheiden. Wenn ich türkischer Mann wäre und mich scheiden lassen wollte,
würde ich das türkische Scheidungsrecht bevorzugen. Er
wird sich aber zukünftig als deutscher Staatsbürger
- Gott sei Dank, sage ich und unterstreiche das - nach
deutschem Scheidungsrecht scheiden lassen müssen. Es
gibt also auch durchaus viele Nachteile für Menschen
mit doppelter Staatsbürgerschaft.
Für uns gilt: Wer die doppelte Staatsbürgerschaft hat,
wer den deutschen Paß hat, der ist Bürger unseres Landes und unterliegt unseren Gesetzen.
Zum Schluß noch ein Satz. Es war die Ausländerbeauftragte der vorherigen Regierung, Frau SchmalzJacobsen, die gesagt hat: Wir haben 1,8 Millionen Doppelstaatsbürger. Sie hat auch gesagt, um welche Gruppen es sich handelt. Der größte Teil davon sind Deutsche, die Aussiedler, die aus Kasachstan, aus Rußland zu
uns kommen. Der zweitgrößte Teil entfällt auf binationale Ehen. Jede sechste neu geschlossene Ehe in
Deutschland ist eine binationale. Ich kenne viele in unseren Reihen, die in einer binationalen Ehe leben und
die mir nach jeder Rede sagen: Herr Özdemir, wir wissen selber, daß wir in dieser Frage Quatsch erzählen, der
mit der Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Deshalb sollten wir das etwas niedriger hängen. Ich
glaube, die Geschichte wird uns recht geben.
({2})
Jetzt hat die
Abgeordnete Evelyn Kenzler das Wort.
({0})
Ich bitte um Ruhe, damit die Kollegin - es ist ihre erste
Rede - zu Wort kommen kann.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Wenn auch weder die Koalitionsvereinbarung noch die Regierungserklärung ein
in sich geschlossenes, konsequentes Reformpaket auf
rechtspolitischem Gebiet erkennen lassen, sind zumindest jedoch im Vergleich zur vorherigen Wahlperiode
mehrere Projekte, so zum Beispiel im Bereich der Justiz,
der Volksgesetzgebung auf Grundgesetzebene, im Arbeits- und Mietrecht, erkennbar. Ob es sich hierbei jedoch tatsächlich um Reformen handeln wird, ist nicht in
erster Linie vom Umfang, sondern vielmehr vom Inhalt
abhängig. Eine Strafrechtsreform, die die Law-andorder-Politik der Vergangenheit einfach weiterschreibt
und die Rechte von Beschuldigten wie von Verteidigern
abbaut, oder eine Justizreform, die einseitig zu Lasten
der Normadressaten geht und das Berufungsrecht stark
einschränkt, wird die PDS keinesfalls mittragen.
Wir werden die neue Justizministerin mit ihren vor
der Wahl und auch heute gemachten Aussagen, daß sie
der Rechtspolitik endlich wieder eine eigenständige
Bedeutung beimessen sowie mittels des Rechts und
auf rechtsförmigem Wege soziale, demokratische und
rechtsstaatliche Grundsätze mit Leben erfüllen will, sehr
genau beim Wort nehmen.
Ein, wie es Heribert Prantl in der „Süddeutschen
Zeitung“ unlängst ausdrückte, Versickern der Rechtspolitik als ausschließlich rechtsformaler Erfüllungsgehilfin
anderer Politikressorts darf es nicht geben. Die PDSFraktion wird sich deshalb für eine Demokratisierung
des Straf- und Strafverfahrensrechts, gegen eine weitere
Grundrechtsaushöhlung, für deren Ausbau, für eine umfassende Volksgesetzgebung im Grundgesetz, für eine
Reform der Justiz unter Beachtung der vorgenannten
Maßstäbe, für mieterfreundlichere Regelungen, aber
auch - und das nicht an letzter Stelle - für eine unverzügliche Beendigung der noch immer bestehenden
Schlechterstellung der ostdeutschen Bevölkerung auf einigen Rechtsgebieten vehement einsetzen.
({0})
Mit einigem Wohlgefallen - nicht mit Genugtuung konnte ich der Regierungserklärung entnehmen, daß außergerichtliche Konfliktregulierungsmodelle, ein dreistufiger Gerichtsaufbau und die Umsetzung der Forderung nach größerer Verständlichkeit und Überschaubarkeit des Rechts auf den Weg gebracht werden sollen.
Das sind Punkte, die ostdeutsche Juristen seit Jahren als
positive Erfahrungen ihres Berufslebens in der DDR in
die Reformdebatte des bundesdeutschen Rechts einbringen.
({1})
Herr Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungserklärung am Dienstag mehrfach bekundet, daß er
die innere Einheit Deutschlands voranbringen will. Ohne
jedoch die juristische Benachteiligung der Ostdeutschen
vor allem auf den Gebieten des Rentenrechts, des
Grundstückseigentums und des Strafrechts zu beseitigen - das ist längst überfällig -, wird es eine solche Einheit auf absehbare Zeit nicht geben.
({2})
Vergebens haben auch die Wähler der SPD in den
neuen Bundesländern in den vergangenen Wochen, seit
der Wahl, auf Aussagen zu mehr Rechtssicherheit von
Grundstückseigentümern und -nutzern, auf zumindest
ein Einfrieren der überhöhten Nutzungsentgelte, auf eine
Schließung der Versorgungslücken, auf eine Abschaffung des unseligen Rentenstrafrechts und auf eine Beendigung der politischen Strafverfolgung gewartet.
({3})
Wo sind hier die Stimmen der 57 SPD-Abgeordneten
aus den neuen Bundesländern? Wo bleiben die berechtigten Interessen der ostdeutschen Grundstücksnutzer
und -eigentümer? Wo bleibt das Signal, dem Mißbrauch
des Sozialrechts im Rentenbereich ein Ende zu machen
und das bewährte Prinzip politischer Wertneutralität auf
diesem Gebiet einzuhalten? Wo bleibt das Signal der
längst überfälligen Versöhnung auf strafrechtlichem Gebiet?
So wie es kein Zeichen gibt, die Benachteiligung im
Renten- und Grundstücksrecht zu beenden, so gibt es
bisher leider auch keinen Hinweis, etwa zum 50. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes die nach
der Vereinigung in Gang gesetzte politische Strafverfolgung zu beenden. Hören Sie, meine Damen und Herren
von der SPD-Fraktion, auf die klugen Äußerungen Ihres
Parteikollegen Egon Bahr, daß der Versuch, Geschichte
durch Gerichte aufarbeiten zu wollen, nicht zum Ziel
führen kann.
({4})
Die PDS wird nicht zusehen, wenn auch nach dem
Regierungswechsel weiterhin vor allem die DDRGeneration mit diffizilen rechtlichen Methoden bestraft
wird, die ihre überwiegende Lebensleistung in der DDR
erbracht und die schwere Hypothek des Nationalsozialismus abgetragen hat. Sie haben jetzt die Chance, dieser
rechtsstaatswidrigen Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Verspielen Sie sie nicht wie die Regierungskoalition vor
Ihnen!
Danke.
({5})
Frau Kollegin,
auch Ihnen möchte ich - es gibt viele, bei denen das
heute der Fall ist - zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/26 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Themenbereich Bildung,
Wissenschaft und Forschung. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gerhard
Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst die Gelegenheit nutzen, Frau Bundesministerin Bulmahn herzlich zur Berufung ins Bundeskabinett zu gratulieren.
({0})
Frau Kollegin Bulmahn hat sich lange im Bereich von
Bildung und Forschung engagiert. Wir wissen, daß uns
in unseren Auffassungen einiges trennt; wir wissen aber
auch, daß es Gemeinsamkeiten gibt. Deshalb haben wir
uns vorgenommen, mit Ihnen, Frau Bundesministerin,
konstruktiv zusammenzuarbeiten.
({1})
Ich kann Ihnen bei dieser ersten Debatte über unser
gemeinsames Thema allerdings nicht nur gratulieren;
denn man hat Ihrem Ressort leider einige wichtige
Kompetenzen genommen. Ich finde es schon schade,
daß der Bildungs-, vor allem aber der Forschungsteil des
Ministeriums herangezogen wurden, um die Plünderung
des Wirtschaftsministeriums durch den Bundesfinanzminister wieder einigermaßen auszugleichen.
Meine Damen und Herren, trotz der jetzt nicht mehr
so weitreichenden Kompetenzen spielt dieses Ministerium eine große Rolle bei der Sicherung des Wohlstandes in unserem Land. Wenn wir auf die letzten Jahrzehnte zurückschauen, dann können wir feststellen, daß
es uns lange Zeit, über Jahrzehnte hinweg, möglich war,
für überlegene technische Produkte, die wir auf dem
Weltmarkt angeboten haben, höhere Preise durchzusetzen. Was neu ist: Andere sind technisch besser geworden, haben uns eingeholt
({2})
und leider Gottes - Kollege Tauss, darin werden wir uns
einig sein - in einigen Spitzentechnologien auch überDr. Evelyn Kenzler
holt. Deshalb stehen wir in einem harten Preiswettbewerb.
Die exportierende Industrie hat reagiert, hat hart rationalisiert. Leider bedeutet dies nicht nur eine Steigerung des Umsatzes, sondern auch den Abbau von Personal. Die zu hohe Arbeitslosigkeit in unserem Land hat
hier eine wesentliche Ursache.
({3})
Es gibt deshalb zwei Ansätze, um die Beschäftigungsprobleme in unserem Land zu lösen: Wir können weiter
versuchen, Produktionskosten zu senken - auch als Staat
müssen wir dazu unseren Beitrag leisten -, oder wir
nehmen die Möglichkeit wahr, neue technologische
Vorsprünge zu erringen.
({4})
Wir - und vor allem der bisherige Bundesminister
Rüttgers - haben uns bemüht, im Bereich der Innovationen in den letzten Jahren voranzukommen. Wir haben knappe staatliche Mittel auf wichtige Zukunftstechnologien konzentriert. Ich nenne zum Beispiel die Informationstechnologie. Vor allem aber erinnere ich daran, daß es Herrn Rüttgers gelungen ist, die Bio- und
Gentechnologie wieder nach Deutschland zu holen.
({5})
Wir haben für mehr Wettbewerb der außeruniversitären Forschungseinrichtungen gesorgt, die Bedingungen
für die Gründung innovativer Unternehmen verbessert,
ihnen den Zugang zu Risikokapital erleichtert - ein Problem, das noch nicht abschließend und befriedigend gelöst ist. Wir haben gemeinsam mit den Ländern den
Technologietransfer besser organisiert, weil wir in
Deutschland - das wissen wir alle - Probleme haben, die
durchaus vorhandenen Forschungsergebnisse relativ
schnell in neue Produkte umzusetzen, wie das in anderen
Ländern geschieht.
Die Ergebnisse, auf denen Sie aufbauen können, Frau
Ministerin, sind beachtlich. Die Hälfte unserer industriellen Produktion entfällt inzwischen auf FuE-intensive
Industrien. Bei den fortgeschrittenen Technologien waren wir schon immer besonders stark. Ich habe schon
erwähnt: Defizite gab es vor allem bei den Spitzentechnologien. Nur im Umweltbereich haben wir ausreichende Weltmarktanteile. Wir glauben aber, daß wir auch
hier erfolgreich waren. Die Wachstumsraten im HighTech-Bereich in Deutschland sind außergewöhnlich
stark: Im Jahr 1996 stiegen die Ausfuhren um
13 Prozent.
Diese kurze Bilanz belegt, glaube ich, daß Innovation
in Deutschland nicht erst mit dem Datum begann, zu
dem die neue Bundesregierung ihr Amt angetreten hat. Frau Ministerin Bulmahn, ich habe Ihre Antrittsrede im
Ministerium nachgelesen und festgestellt, daß Sie betont
haben, daß Sie gerade im Bereich der Forschungspolitik
auf Bewährtem aufbauen können. Auch ich glaube, daß
es hier durchaus eine Chance für Gemeinsamkeiten gibt.
Wir sind auch gemeinsam der Überzeugung, daß es
notwendig ist, die Mittel für Forschung und Bildung
aufzustocken. Dies ist uns über viele Jahre hinweg nicht
gelungen; das müssen wir zugeben. Die Kostenexplosion im Bereich der sozialen Sicherungssysteme war zu
groß. Der Bundesrat hat uns auch nicht gerade geholfen,
in diesen Bereichen zu sparen, um Mittel umzuschichten.
({6})
Dazu haben Sie also Ihren Beitrag geleistet. Sobald sich
die Situation etwas entspannt hatte, hat die alte Bundesregierung für den Haushalt 1999 einen Entwurf vorgelegt, nach dem die Mittel um eine halbe Milliarde DM
aufgestockt werden sollten.
Heute warte ich darauf, zu erfahren, wie die konkreten Pläne der Bundesregierung in diesem Bereich ausschauen. Ich bin momentan noch ein bißchen verwirrt.
Im Wahlprogramm ist angekündigt worden - die Frau
Ministerin hat damals in einer Debatte gesagt: Das steht
nicht unter Finanzierungsvorbehalt -, daß der gesamte
Bildungs- und Forschungsetat in wenigen Jahren verdoppelt werden soll.
({7})
Im „Spiegel“ habe ich im Juli aber gelesen, daß der
Haushaltsexperte Diller das gar nicht für finanzierbar
hält.
({8})
Dann habe ich in die Koalitionsvereinbarung geschaut
und keine konkrete Festlegung gefunden. Daher war ich
überrascht - ich wollte schon sagen: Wahlbetrug! -, als
der Herr Bundeskanzler vorgestern angekündigt hat, er
wolle die Investitionen in diesen Bereichen verdoppeln.
Herr Tauss, ich hoffe, Sie wissen: Das bedeutet für die
nächsten fünf Jahre im Schnitt jährlich 3 Milliarden DM
mehr.
({9})
Wenn ich irgendwann einmal in einer Zeitung lesen
würde, daß Sie irgendwo einsparen, dann würde ich Ihnen glauben, daß Sie wirklich bereit sind umzuschichten. Aber ich lese immer nur, daß Sie Sparmaßnahmen
zurücknehmen wollen. Mir ist völlig schleierhaft, wie
Sie dieses Versprechen erfüllen wollen. Deshalb bitte
ich um Verständnis, daß Lob und Anerkennung allein
für die Absichtserklärung, die Sie bisher vorgelegt haben, in diesem Bereich nicht möglich sind.
({10})
Meine Damen und Herren, ich habe es schon angedeutet: Wenn man die Koalitionsvereinbarung und das
letzte Wahlprogramm der SPD liest, muß man feststellen, daß sie in einer für die SPD neuen Sprache geschrieben sind. Es ist viel von Leistung die Rede; es ist
viel von Innovation die Rede. Wenn das nicht nur Lippenbekenntnisse sind, dann - ich wiederhole das - gibt
es eine Chance, daß wir viele Gemeinsamkeiten haben
werden.
Ich habe in einem Punkt aber noch Zweifel, nämlich
ob es allen in der SPD und vor allem bei den Grünen
gelingt, ihr Mißtrauen gegen bestimmte Großtechnologien abzubauen. Ich höre, Sie wollen neue Arbeitsplätze
Dr. Gerhard Friedrich ({11})
schaffen. In dem Bereich, in dem ich wohne, ist die
Kernenergie angesiedelt. Dort wollen Sie offensichtlich
zunächst einmal Arbeitsplätze vernichten, wofür ich
auch als bisheriger Umweltpolitiker kein Verständnis
habe.
Beim Transrapid habe ich festgestellt, daß Sie sich
nicht ganz einig waren. Einige von Ihnen haben sich zu
dieser neuen Verkehrstechnik offensichtlich nur deshalb
bekannt, weil sie hoffen, daß dieses Projekt an der Finanzierung scheitert.
Alle Warnlampen leuchten auf, wenn ich lese, daß
Sie das technische Konzept des Forschungsreaktors
München II in Frage stellen wollen. Dieses technische
Konzept wurde jahrelang diskutiert und vom Wissenschaftsrat einstimmig gebilligt. Man kann darüber streiten, ob es beim Einsatz von niedrig angereichertem Uran
den gleichen wissenschaftlichen Nutzen gibt. Das können wir ein anderes Mal austragen. Dazu reicht heute
nicht die Zeit.
Jedenfalls ist sicher, daß es, wenn Sie hier ganz neue
technische Konzepte umsetzen wollen, eine jahrelange
neue Planungs- und Genehmigungsphase geben wird.
Der Wissenschaftsrat hat uns mitgeteilt, daß wir unsere
Spitzenstellung in der Materialforschung ohnehin schon
verloren haben. Deshalb legen wir Wert darauf, daß diese neue Neutronenquelle - ich als Bayer lege besonderen Wert darauf - zum frühestmöglichen Zeitpunkt zur
Verfügung steht.
Im Bildungsbereich sind wir vor allem für zwei Sektoren zuständig: die Hochschulpolitik und die berufliche
Bildung. Ich sehe, die Zeit reicht gerade noch für einige
Anmerkungen zur Hochschulpolitik. Wir haben durch
die Novelle zum Hochschulrahmengesetz die Weichen
gemeinsam in vielen Bereichen neu gestellt. Wir wollen
eine stärkere Profilierung der einzelnen Hochschulen,
mehr Wettbewerb und eine Verstärkung des Leistungsprinzips. Wir haben bei den Diskussionen der
letzten beiden Jahre festgestellt, daß dies auch bedeutet,
besondere Leistungen im Bereich der Lehre besonders
zu honorieren. Deshalb möchte ich anmerken, daß wir
die Absicht unterstützen, auch das Dienstrecht für das
Hochschulpersonal neu zu gestalten.
({12})
Zu den Studiengebühren kann ich feststellen: Wir in
unserer Fraktion wollen keine generelle Einführung von
Studiengebühren. Dazu fehlen zur Zeit auch alle Voraussetzungen, zum Beispiel ein Stipendiumwesen, das
sicherstellt, daß nicht soziale Barrieren den Hochschulzugang erschweren.
Eine andere Frage ist, ob wir den Ländern Vorschriften machen sollten. Wir haben schon rechtliche Zweifel,
ob der Bund den Ländern vorschreiben kann, wie sie
eigene Einrichtungen, nämlich Hochschulen, finanzieren
sollen. Herr Bundeskanzler, Sie waren ja Ministerpräsident. Sie hätten sich früher solche Vorschriften verbeten.
Ich habe neulich gelesen, daß auch der frühere bildungspolitische Sprecher der SPD, Herr Glotz, gesagt hat, er
kann sich nicht vorstellen, daß sich große Länder wie
Bayern oder Nordrhein-Westfalen - er hat also nicht nur
ein unionsgeführtes Land genannt - vorschreiben lassen,
wie sie ihre Hochschulen finanzieren.
Ich habe nur noch für einen letzten Satz Zeit.
Herr Friedrich, darf
ich Sie daran erinnern, daß Sie Ihre Redezeit schon ein
Stück überschritten haben?
Ja,
danke. Ich war ohnehin gerade schon beim Einpacken,
Frau Präsidentin.
Ich darf Ihnen versichern: Diese Bevormundung der
Länder lehnen wir auch in Zukunft schlicht ab.
Vielen Dank.
({0})
Es spricht jetzt die
Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung ({0}): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Bildung und Forschung haben endlich
wieder die Bedeutung in der Bundesregierung, die ihnen
zukommt.
({1})
Deshalb, Herr Friedrich, bedanke ich mich ausdrücklich
bei Ihnen für das Angebot einer konstruktiven Zusammenarbeit. Bildung und Forschung brauchen eine konstruktive Zusammenarbeit. Bildung und Forschung
brauchen auch verläßliche Rahmenbedingungen. Deswegen komme ich gerne auf dieses Angebot zurück.
Bildung und Forschung haben deshalb wieder Bedeutung in der Bundesregierung, weil wir wissen, daß
Bildung und Forschung das Fundament für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unseres
Landes legen. Wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die Verdoppelung der Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung angekündigt hat, dann
ist das mehr als ein Symbol.
({2})
Es ist ein Signal. Es ist die Aussage: Bildung und Forschung sind die Antwort dieser Bundesregierung auf die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Der Bund ist
nur ein Akteur, das wissen wir. Er braucht Mitspieler in
den Ländern und in der Wirtschaft, vor allem aber bei
den Frauen und Männern, die dieses Feld bestellen.
Meine Damen und Herren, wir wollen ein Klima des
geistigen Aufbruchs in Deutschland schaffen, ein Klima,
in dem Bildung, Wissenschaft und Forschung neue EntDr. Gerhard Friedrich ({3})
faltungsmöglichkeiten erhalten, und dabei strukturelle
Verkrustungen aufbrechen.
({4})
Unser Ziel ist, der jungen Generation wie der Gesellschaft insgesamt neue Wege zu aktivem Handeln, zu Innovation und zu Verantwortung zu eröffnen.
({5})
Wenn sich die Investitionen des Bundes in Forschung
und Bildung in den nächsten fünf Jahren verdoppeln,
dann brauchen wir eine übergreifende Strategie. Wir
werden deshalb einen offenen Dialog mit den Ländern
führen, damit wir in einer gemeinsamen Anstrengung
Bildung und Forschung die angestrebte neue Priorität
geben können. Ebenso erwarten wir und werden alles
dafür tun, daß sich die Europäische Union stärker für
diese Zukunftsaufgaben engagiert.
An dieser Stelle habe ich die dringende Bitte an die
Wirtschaft: Investieren Sie noch stärker in Bildung und
Ausbildung! Erhöhen Sie Ihre Aufwendungen für Forschung und Entwicklung!
({6})
Worum geht es? Deutschland braucht eine neue Bildungsreform, die Leistung und Kreativität fördert und
Chancengleichheit sichert. Dabei ist Kooperation gefragt
und nicht gegenseitige Schuldzuweisungen. Ich bin davon überzeugt, daß wir eine nationale Debatte über Bildungsfragen brauchen. Ich biete den Ländern und den
Sozialpartnern an, ein zeitlich befristetes Forum „Bildung“ zu schaffen, das Elemente einer Grundbildung in
einer Wissensgesellschaft identifiziert und zur Sicherung eines international an der Spitze liegenden Leistungsstandards in Bildung und Weiterbildung beiträgt.
({7})
Die junge Generation braucht Perspektiven und Orientierungen für die Zukunft. Eine gute Bildung und
Ausbildung sind dafür die entscheidende Grundlage. Es
geht darum, den jungen Menschen wieder Perspektiven
zu eröffnen und ihnen auch die individuellen Lebenschancen zu sichern. Ich werde meinen Teil dazu beitragen, daß allen Jugendlichen, die ausgebildet werden
wollen, ein qualifizierter Ausbildungsplatz angeboten
wird.
({8})
Junge Menschen dürfen nicht länger auf der Straße
stehen. Sie brauchen echte Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Mit dem 100 000-Plätze-Programm pakken wir es an und reden nicht nur darüber.
({9})
Wir brauchen mehr betriebliche Ausbildungsplätze
für eine wachsende Zahl von Schulabgängern, die bessere Berufswahlchancen haben müssen. In einem Bündnis
für Arbeit und Ausbildung muß es uns gelingen, gemeinsam mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften
die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen der jungen
Generation langfristig zu sichern. Das gilt im übrigen
auch für die jungen Menschen mit schlechteren Startchancen.
({10})
Junge Frauen müssen - ich finde, das ist mehr als
überfällig - endlich den gleichen Zugang zu attraktiven
und beschäftigungssichernden Ausbildungsgängen und
zu Berufen mit Zukunft erhalten.
({11})
Das setzt ein Umdenken in unserer Gesellschaft und in
der Arbeitswelt voraus. Das wollen wir voranbringen,
und dabei schaue ich besonders die Frauen, aber auch
die willigen Männer in dieser Runde an.
Das bewährte duale Ausbildungssystem werden wir
durch eine flexiblere Gestaltung von Ausbildung, Ausbildungsordnungen und Ausbildungsinhalten fortentwickeln. Wir brauchen mehr Betriebsnähe, Effizienz
und Qualität.
({12})
Ein modernes Berufskonzept verbindet Fachkompetenz mit Schlüsselqualifikationen, mit voller Berufsfähigkeit und breitem Zugang zum Arbeitsmarkt. Darüber
hinaus sollen Zusatzangebote zur Ausbildung Anreize
geben, um Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit
zu stärken.
Im Bündnis für Arbeit und Ausbildung - das ist kein
leeres Wort, und wer so darüber schwätzt, diskreditiert
sich selbst; ich will das ganz deutlich sagen ({13})
wollen wir auch Vereinbarungen zur Modernisierung
der Weiterbildung und zur Weiterentwicklung des lebenslangen Lernens treffen.
Eine rechtzeitige Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen ist die beste Versicherung sowohl für die Arbeitnehmer wie auch für die Unternehmen, um neuen
Herausforderungen gerecht zu werden. Wissen und
Know-how machen heute nicht mehr an den Ländergrenzen halt. Deshalb ist es notwendig, daß unsere Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Hochschulen
mit den besten Partnern in der Welt nicht nur konkurrieren, sondern auch kooperieren.
Wir wollen dafür sorgen, daß Deutschland wieder zu
einem bevorzugten Standort für ausländische Investitionen in Forschung und Entwicklung wird.
({14})
Ein Auslandsaufenthalt - so ist auch meine eigene Lebenserfahrung - gibt wichtige Impulse für neue Ideen
und trägt dazu bei, Verständnis für andere Kulturen zu
wecken und um neue Denkansätze kennenzulernen. Dazu gehört auch, daß Ausländer, die in Deutschland studieren, und daß Forscher, die hier arbeiten, in Deutschland willkommen sind.
({15})
Fortschritt entsteht nicht durch das Dahindümpeln im
eigenen Hinterhof.
({16})
Deshalb müssen Hochschulen und Studiengänge internationaler werden. Deshalb müssen Jugendliche, egal ob
Studierende oder Auszubildende, die Chance haben, Erfahrungen im Ausland zu sammeln.
Von den Hochschulen erwarten wir Spitzenleistungen
({17})
in Lehre und Forschung. Dafür brauchen sie mehr staatliche Mittel. Wir werden deshalb bereits im kommenden
Jahr in einem ersten Schritt die Ausgaben für den von
meinem Amtsvorgänger jahrelang sträflich unterfinanzierten Hochschulbau aufstocken.
({18})
Aber Geld ist nicht alles. Sie wissen, daß ich das immer wieder gesagt habe. Wir brauchen eine grundlegende Strukturreform an unseren Hochschulen.
({19})
Ich denke, daß hier über alle Parteigrenzen hinweg Konsens besteht. Ein wichtiger Schritt auf dem vor uns liegenden Weg ist die Zuweisung klarer Verantwortlichkeiten. Ich biete den Ländern an, gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie wir Ziele und Verantwortlichkeiten
bei den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b des
Grundgesetzes klarer definieren können. Es wäre ein erster Schritt zum Erfolg, wenn von allen Beteiligten - das
gilt auch für Sie, Herr Kampeter - ein Dialog offen, unvoreingenommen und mit der Bereitschaft, querzudenken und sich auch von liebgewordenen Gewohnheiten
zu trennen, geführt würde.
({20})
Ich versichere Ihnen, daß die Bundesregierung dazu bereit ist, genauso, hoffe ich, viele Kolleginnen und Kollegen.
Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der
Hochschulen ist eine schnelle und umfassende Modernisierung des Dienstrechts. Wir wollen hiermit Entwicklungspotentiale für Kreativität im gesamten Innovationszyklus eröffnen. Barrieren, die wir noch immer
zwischen Forschung und Unternehmen haben, müssen
beseitigt werden. Es muß wieder attraktiv sein, zwischen
Wissenschaft und Wirtschaft zu wechseln und den
Know-how-Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft „über Köpfe“ zu beflügeln.
Das größte Kapital der Wissenschaft in unserem Lande zur Lösung der drängenden Probleme, vor denen wir
stehen, ist der wissenschaftliche Nachwuchs. Deutschland kann es sich nicht leisten, auf Begabungsreserven
zu verzichten. Chancen und Perspektiven junger Menschen dürfen nicht vom Portemonnaie der Eltern abhängig sein.
({21})
Allein die Leistungsfähigkeit und der Wille des einzelnen zählen. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Reform des BAföG.
({22})
Wir werden im kommenden Jahr in einem ersten Schritt
die Einschränkungen der 18. BAföG-Novelle zurücknehmen und die Freibeträge anheben, damit nicht noch
mehr Studierende aus der Förderung herausfallen.
({23})
Wir werden bis Ende 1999 ein zustimmungsfähiges
Konzept für eine grundlegende Reform und Verbesserung der Ausbildungsförderung vorlegen.
({24})
Dabei streben wir an, alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zu einem einheitlichen und elternunabhängigen Ausbildungsgeld für Studierende zusammenzufassen. In diesem Zusammenhang wäre es ein
völlig falsches Signal, Studiengebühren einzuführen.
({25})
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
- ich habe es gesagt - liegt mir besonders am Herzen.
Wir werden uns dabei insbesondere für bessere Chancen
von Frauen in Lehre und Forschung einsetzen. Frühe
Selbständigkeit und Eigenverantwortung im Wissenschafts- und Forschungssystem sind dabei unverzichtbar. Wir wollen Anreiz- und Förderstrukturen schaffen,
so daß neuartige, quer zu den Disziplinen liegende Fragestellungen von jungen Forschergruppen aufgegriffen
werden können.
Das deutsche Forschungssystem hat sich in seiner
Vielgestaltigkeit bewährt. Wir werden es jedoch weiterentwickeln und das Aufgabenprofil der Forschungsinstitutionen und -organisationen im Dialog mit der Wissenschaft fortentwickeln und schärfen.
({26})
Wissenschaft und Forschung brauchen langfristig verläßliche Rahmenbedingungen, um auch in Zukunft neue
Ideen als Basis für Innovation entwickeln zu können.
Grundlagenforschung und Vorsorgeforschung sind das
Fundament, auf dem wir aufbauen. Deshalb gibt es dafür
eine besondere staatliche Verantwortung.
({27})
Wir werden gemeinsam mit Wissenschaft und Wirtschaft kreative Suchprozesse für neue Forschungsthemen organisieren und ihre Umsetzung in flexiblen und
problemorientierten Strukturen ermöglichen.
({28})
Als eines der fortgeschrittensten Industrieländer werden wir unsere Verantwortung für globale Entwicklung
und weltweites nachhaltiges Wachstum ernst nehmen. In
disziplin- und branchenübergreifenden Leitprojekten
werden wir die Entwicklung von Technologien und die
organisatorischen Voraussetzungen für Kreislaufwirtschaft und nachhaltiges Wirtschaften anschieben. Das ist
im übrigen auch der richtige Weg, um über organisatorische Grenzen hinweg neue Allianzen der Innovation zu
bilden.
({29})
Den Wettbewerb um die besten Ideen werden wir systematisch als Instrument in der Forschungsförderung
einsetzen, um Innovationsnetzwerke zu fördern, wie
zum Beispiel bei Bio-Regio.
({30})
- Ich habe gerade ein Beispiel genannt. Ich glaube, Sie
brauchen ein Hörrohr, Herr Kampeter. Ich werde es Ihnen bei Gelegenheit übergeben.
({31})
- Ich glaube, die neue Technik hilft bei ihm nicht. Da ist
nichts mit „Chips und Lederhose“; da ist nur die Lederhose.
({32})
Wir werden uns für eine umfassende Zusammenarbeit
aller am Innovationsprozeß Beteiligten einsetzen. Dabei
sollen Netzwerke und regionale Schwerpunkte zwischen Hochschulen, außeruniversitärer Forschung und
Industrie entstehen. Wir werden dabei insbesondere die
kreativen Leistungen vieler kleiner und mittlerer Unternehmen unterstützen und sie in ihrer besonderen Rolle
am Arbeitsmarkt fördern.
({33})
Ich weiß, daß das gerade für die neuen Bundesländer
von besonderer Bedeutung ist. Deshalb versichere ich
Ihnen: Der Ausbau von Bildung und Forschung in den
neuen Bundesländern wird ein Schwerpunkt unserer
Politik sein.
({34})
Diese Prozesse wollen wir durch bessere Rahmenbedingungen und eine Entlastung von bürokratischen Vorschriften ergänzen. Eigenverantwortung von Wissenschaft und Forschung muß selbstverständlich sein. Wir
versprechen uns davon mehr Qualität, Transparenz und
Flexibilität. Auch dazu kann ich nur sagen: Wir werden
das machen und nicht nur darüber reden.
({35})
Bei zentralen Schlüsseltechnologien, wie zum Beispiel der Bio- und Gentechnik, die wir nutzen und weiter
fördern werden, bei neuen Materialien, bei physikalischen und chemischen Technologien, bei Laser- und
Plasmaforschung oder in der Mikrosystemtechnik soll
Deutschland im internationalen Wettbewerb Spitzenpositionen einnehmen und diese Spitzenpositionen ausbauen. Durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen in enger Verknüpfung mit der Forschungsförderung
werden wir die breite Anwendung der Informations- und
Kommunikationstechnologien unterstützen und voranbringen.
({36})
Wir wissen, daß neue Arbeitsplätze überwiegend im
Dienstleistungssektor entstehen. Die Leistungsfähigkeit
einer modernen Volkswirtschaft hängt entscheidend von
der Qualität ihres Dienstleistungsbereiches und der
Qualität der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur ab. Wenn wir Hochtechnologien weltweit exportieren wollen, gehören Dienstleistungen wie Beratung und
Wartung unter Nutzung der modernen Informations- und
Kommunikationstechnologien dazu. Deshalb werden wir
uns in Ausbildung und Forschung gezielt dafür einsetzen, die Leistungsfähigkeit dieses wichtigen Sektors
deutlich zu erhöhen.
({37})
Wir werden die Instrumente der Forschungspolitik
umfassend dazu nutzen, die drängenden Probleme dieser
Gesellschaft zu lösen. Ich möchte erreichen, daß die
Menschen sehen, daß Fortschritte in Wissenschaft und
Forschung ihnen nützen,
({38})
daß Bio-Wissenschaften helfen, Krankheiten zu bekämpfen und neue Möglichkeiten der Umweltsanierung
zu eröffnen, daß neue Technologien Behinderten helfen
und daß Forschungsarbeit dazu beiträgt, innovative und
menschengerechte Arbeitskonzepte zu entwickeln.
Bildung, Wissenschaft und Forschung sind die Bausteine menschlicher Zivilisation. Wir bauen auf dem auf,
was Menschen in Jahrhunderten vor uns erdacht und
entwickelt haben. Wir wollen nicht stehenbleiben. Deshalb wird diese Bundesregierung Bildung, Wissenschaft
und Forschung Priorität geben - die beste Voraussetzung für den Aufbruch in das nächste Jahrtausend.
({39})
Es spricht jetzt der
Abgeordnete Jürgen Möllemann, F.D.P.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Jährlich im Dezember - es wird also in Kürze geschehen - wählt eine Jury
der Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jahres aus. Ich schlage im Blick auf die Diskrepanz zwischen dem, was Sie, Herr Bundeskanzler, Ihre Ministerin, die gerade hier gesprochen hat, und andere im
Wahlkampf gesagt haben, und dem, was in der der Regierungserklärung steht, das Wort „Mogelpackung“ vor.
({0})
Es besteht - dieser Eindruck ist wohl nicht nur mein
persönlicher; ich werde darauf gleich noch kommen vielmehr im Hinblick auf das, was vor den Wahlen über
den großen Stellenwert von Bildung, Wissenschaft und
Forschung gesagt worden ist, und im Hinblick auf das,
was konkret in der Regierungserklärung steht, doch eine
erhebliche Diskrepanz.
In der Regierungserklärung steht der bemerkenswerte
Satz - Frau Bulmahn, Sie sprachen das Thema an -:
„Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung
von Eliten.“ - Toll! Ich dachte, diese Regierung - so hat
es im Wahlkampf geheißen - hält Leistungseliten für
dringend erforderlich und will alles tun, damit sie gefördert und gefordert werden. Wie groß ist eigentlich der
ideologische Dissens in dieser rotgrünen Koalition,
wenn ein Kanzler hier nur noch halb entschuldigend sagen kann: „Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung von Eliten.“ Das Schlimme ist, daß dort, wo
Sie agieren, etwa in Nordrhein-Westfalen - gestern hat
die dortige Schul- und Hochschulministerin, von der ich
weiß, daß sie sich der hohen Wertschätzung des dortigen
Ministerpräsidenten erfreut, ein beredtes Zeugnis davon
abgelegt - dort, wo konkret im Instrumentarium von
Schul- und Hochschulpolitik entschieden wird, was
man zur Förderung von Eliten tun kann, eben nichts geschieht.
Herr Kollege Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hilsberg?
Nein, ich möchte
gern diesen Gedanken zu Ende führen.
({0})
Sie, Frau Bulmahn, haben hier etwas dargelegt, worauf ich das Wort „Mogelpackung“ bezogen habe. Ich
benutze dieses Wort, weil die Wortwahl insoweit jeden
Tag variiert, als Sie bis vor kurzem gesagt haben, daß
die Bundesregierung die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln werde - das steht in
Ihrem Wahlprogramm; so hat es der Kanzlerkandidat
und jetzige Kanzler immer wieder gesagt -, und Sie jetzt
plötzlich anfangen, von den „Zukunftsausgaben“ in diesem Bereich zu sprechen. Das wird eine tolle Debatte
werden, wenn Sie uns nachher, weil Sie bei weitem
nicht die Verdoppelung erreichen werden, dartun werden, daß das, was geschehe, im wesentlichen Bestandssicherung sei und daß es nur da und dort um Zukunftssicherung gehe: Nein, Sie haben den Menschen gesagt so haben sie es verstanden -, daß Sie die Ausgaben für
Bildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln wollen, das heißt von 15 Milliarden DM auf 30 Milliarden DM erhöhen wollen. Kommen Sie uns nicht dahergeschlichen und sagen uns demnächst, wenn es nur ein
Drittel davon geworden ist, das sei Semantik! Das wäre
eine Mogelpackung. So nenne ich das. Wir sehen Ihrer
Haushaltspolitik mit Interesse entgegen.
({1})
In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich
heute die „Rheinische Post“ anzuschauen. Da überreicht
doch tatsächlich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft einem Sozialdemokraten, dem guten Herrn
Clement, eine rote Laterne. Als er die rote Laterne erhielt, sah Clement rot und sagte: „Wer aber glaubt, es
gibt mehr Geld für die Bildung, der irrt; tut mir leid.“
Wir werden ja sehen, wie das einmal sein wird. Sie
haben schon darauf hingewiesen, daß Bildungspolitik
das Zusammenwirken von Bund und Ländern verlangt.
Sagen Sie uns bitte nicht, Sie verdoppelten die Zuschüsse nicht, weil die Länder nicht mitmachen wollten. Sie
haben jetzt in so vielen Ländern die Mehrheit, daß dies
für Sie keine Ausrede sein kann.
({2})
Dann sagten Sie, Frau Bulmahn, Sie wollten das
Hochschulrahmengesetz modernisieren und in ihm den
Ländern verbieten, Studiengebühren einzuführen.
({3})
- Sie haben es immer wieder öffentlich gesagt. - Heute
schlage ich die „FAZ“ auf - man ist im hohen Alter ja
auch belesen ({4})
und finde folgende Überschrift: „Semestergebühren in
Niedersachsen“. Ist Wissenschaftsminister Oppermann
aus Ihrer Partei? Mein Gott, was machen Sie denn als
Sozialdemokraten miteinander? Wollen Sie ihm wirklich
per Gesetz das verbieten, was er in seinem Land machen
will? Das sind ja komische Zustände in Ihrer Partei,
Frau Ministerin. Das müssen Sie politisch lösen.
({5})
Interessant ist auch, was an Widersprüchen in anderen Bereichen erscheint. Nimmt man die deutsche Presse, dann staunt man. Was tun heute all diejenigen, die im
Wahlkampf nicht genug jubeln konnten? Der „Stern“
schreibt über Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierung: „Chaos“.
({6})
„Die Woche“: „Der Kanzler hat in seiner Regierungserklärung keine Antwort auf die Probleme der Nation gefunden.“ Meine Güte, was schreiben diese Leute denn
alles! Man ist ganz fassungslos. So geht es weiter quer
durch die gesamte deutsche Presselandschaft, geschrieben von all den Wahlkampfhelfern, die jetzt sehen, daß
das, was Sie versprochen haben, eine Mogelpackung
war, weil Sie es offenbar nun nicht einhalten wollen.
Zum Schluß zitiere ich eine ganz unverdächtige Stelle. Bei Ihrem Freund Rudolf Scharping, lieber Herr
Bundeskanzler, sollte eine Frau Ministerin werden, die
heute folgendes öffentlich feststellt:
Das war sie also, Ihre Regierungserklärung, die
erste eines sozialdemokratischen Kanzlers nach
16 langen schwarzen Jahren. Der große Modernisierer, die allseits beliebte Symbolfigur der Neuen
Mitte, hat gesprochen. Was kam heraus? Viel Wind
um nichts. Herr Bundeskanzler, Sie haben mich
sehr enttäuscht.
Das sagt Heidi Schüller, frühere Olympiakämpferin,
Ministerkandidatin eines Sozialdemokraten. Ich kann
nur sagen: Dem ist nichts hinzuzufügen.
({7})
Meine Schlußbemerkung: Frau Ministerin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Amt.
Herr Kollege Möllemann, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Das ist mein
Schlußsatz. - Ich habe ja das Vergnügen, Sie zu begleiten. Es kann sein, daß das Wort des Jahres 1999 das
Wort „nachbessern“ sein wird. Dabei werden wir Ihnen
gerne helfen.
({0})
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Matthias Berninger, Bündnis
90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In
den vergangenen vier Jahren gab es eine ganze Reihe
von bildungspolitischen Debatten in diesem Bundestag.
Einer hat bei jeder bildungspolitischen Debatte gefehlt.
Deswegen freue ich mich um so mehr, daß das bei der
neuen Bundesregierung anders ist; denn zum erstenmal,
seitdem ich in diesem Hause zu diesem Thema rede, ist
der Bundeskanzler bei diesem Thema anwesend.
({0})
Das symbolisiert, daß wir diesem Thema ein größeres
Gewicht beimessen, als es in der Vergangenheit der Fall
war.
({1})
Auch wenn der Herr Bundeskanzler für einen Moment vor die Tür gegangen ist, kann ich Ihnen doch versichern, daß es kein Betriebsunfall war, daß Gerhard
Schröder in seiner Regierungserklärung dem Thema
Bildung und Forschung ein neues Gewicht zugemessen
hat, sondern daß das ein ganz wesentlicher Punkt der
neuen rotgrünen Koalition ist.
({2})
Der Bundeskanzler hat zu Beginn seiner Regierungserklärung gesagt, daß diese Regierung auf Grund der
Hinterlassenschaft der Ära Kohl sparen müsse. Trotzdem hat er erklärt, daß wir im Bildungsbereich werden
investieren müssen. Das ist kein Widerspruch, sondern
gehört ursächlich zusammen. Denn wenn wir in der
Bundesrepublik nicht die Brücke zur Wissensgesellschaft schlagen und dem Bereich Bildung und Forschung kein Geld für Reformen zur Verfügung stellen
können, dann werden wir auch nicht die Stärke wiedererlangen, die wir brauchen, um die Hinterlassenschaft
der Ära Kohl beiseite zu räumen. Das ist der ursächliche
Zusammenhang.
Daß Herr Möllemann eben von Mogelpackungen
sprach, hängt wohl damit zusammen, daß er vorher im
Gesundheitsausschuß war; da hatte er ja viel mit Pakkungen und mit Mogeln zu tun.
({3})
Es wurde gesagt, daß die Vorhaben der rotgrünen
Koalition sehr unkonkret seien. Das sehe ich völlig anders. Vier Jahre lang hatten wir einen Ankündigungsminister als Bildungsminister, der Dinge angekündigt hat,
nach vorne geprescht ist und dann, statt mit den Ländern
zu kooperieren, diesen immer die Schuld für seine Untätigkeit gegeben hat.
({4})
Die rotgrüne Koalition wird einen anderen Weg gehen:
Wir werden Reformen vorschlagen und uns selbst zeitlich unter Druck setzen, um diese Reformen auch umzusetzen.
({5})
In unserer Koalitionsvereinbarung steht, daß die
BAföG-Reform schon im nächsten Jahr von der Koalition auf den Weg gebracht werden soll. Dazu brauchen
wir mehr Geld und den Mut, eine neue Richtung einzuschlagen. Ziel unserer Politik ist, daß alle - unabhängig
vom Geldbeutel - den Weg zu den Hochschulen finden
können und daß das Recht auf Bildung wieder verwirklicht wird. Schauen Sie sich einmal an, wie der Anteil
der Studierenden aus Familien mit niedrigem Einkommen an der Gesamtzahl der Studierenden in der Ära
Kohl zurückgegangen ist und welcher Zusammenhang
zwischen dem Wohlstand der Eltern und der Möglichkeit, im Ausland zu studieren, besteht. Sie stellen dann
fest, daß wir in Deutschland gewaltige Anstrengungen
unternehmen müssen, damit tatsächlich jeder junge
Mensch - und nicht nur die Kinder wohlhabender Eltern
- sein Recht, die bestmögliche Ausbildung zu erhalten,
verwirklichen kann. Dabei wird die Reform des BAföG
eine zentrale Rolle spielen. Ich gehe fest davon aus, daß
wir - im Gegensatz zu Herrn Rüttgers - einen Vorschlag
vorlegen werden, der gemeinsam mit den Ländern erarbeitet wurde. Wir werden nicht den Fehler machen, die
Länder ständig vor den Kopf zu stoßen.
({6})
Ein weiteres Reformvorhaben ist die Reform der
Personalstruktur. So wie es jetzt aussieht, werden die
Hochschulen mit der Personalstruktur des 19. Jahrhunderts den Weg ins 21. Jahrhundert antreten. Das darf
nicht geschehen. Der letzte Innenminister hat jede Reform in diesem Bereich blockiert. Herr Kanther hatte
überhaupt kein Interesse, in diesem Bereich etwas zu
unternehmen. Ich gehe fest davon aus, daß Herr Schily
vorausschauender ist und daß uns gemeinsam mit den
Innenpolitikern eine Reform der Personalstruktur gelingt, die modernen Hochschulen angemessen ist.
({7})
Diese modernen Hochschulen werden sich auch daran
messen lassen müssen, ob sie den Frauenanteil, der bei
den Studienanfängerinnen und -anfängern bereits weit
über der Hälfte liegt, auch in der Wissenschaft realisieren werden. Der wissenschaftliche Nachwuchs soll so
gefördert werden, daß der Frauenanteil bei den Hochschullehrern kräftig steigt. Das gilt für die Lehre und für
die Forschung. Ich freue mich, wenn wir hier gemeinsam einen Schwerpunkt setzen können. Eine Aussage
von Herrn Kanther paßt hier ganz gut. Er sagte, Statistik
sei die beste Medizin gegen politisches Geschwätz. Sie
werden uns an unseren Erfolgen der nächsten vier Jahre
messen können. Das bisher Vorhandene - da bin ich
sehr zuversichtlich - werden wir zum Guten hin verändern.
In der Forschungspolitik wird es uns darum gehen,
den Dialog zwischen Wirtschaft auf der einen Seite und
Forschungspolitik auf der anderen Seite zu realisieren
und den Wechsel von Wirtschaft in Forschung und von
Forschung in Wirtschaft tatsächlich auf den Weg zu
bringen, statt in einen Kompetenzstreit zu verfallen, wie
er die letzten vier Jahre zwischen Wirtschaftsminister
Rexrodt von der F.D.P., der jetzt in Pension ist, und
Bundesbildungs- und -forschungsminister Rüttgers bestand. Wir werden so kooperieren, daß Wirtschafts- und
Bildungspolitiker auch hier gemeinsam Fortschritte erzielen können.
Die neue Struktur des Bundesbildungsministeriums
läßt mich daher nicht wehmütig auf vergangene Zeiten
zurückblicken. Ich halte es für eine Errungenschaft, daß
die Bereiche Forschung und Bildung zusammengefaßt
worden sind. Ich halte es aber auch für zweckdienlich,
daß bestimmte Teilbereiche an den Bundeswirtschaftsminister abgegeben worden sind. Das ist ein Signal dafür, daß es Dialog und keine weitere Konfrontation geben soll.
Meine Damen und Herren, es wurde gesagt, daß es
einen Streit um die Frage gebe, wie man mit Eliten umgehe. Herr Möllemann, da irren Sie sich. Darüber gibt es
in der rotgrünen Koalition keinen Streit, sondern wir
wollen, daß alle Menschen im Bildungssystem bestmögliche Leistungen erbringen. Wir fordern das von den
Professorinnen und Professoren, von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und von den
Studierenden. Wir wollen, daß jeder die Chance hat, diese bestmöglichen Leistungen zu erbringen.
({8})
Deswegen teile ich die Einschätzung des Bundeskanzlers völlig, daß dafür die Reform des BAföG Voraussetzung ist, damit jeder die Möglichkeit zum Hochschulzugang besitzt.
Sie haben ja ausgiebig über rotgrüne Länderregierungen geredet. Ich finde es übrigens eine schlechte Methode, wenn man sich nur die Beispiele heraussucht, die
einem gerade passen.
({9})
Wenn Sie die Hochschullandschaft etwa in Hamburg
betrachten, dann werden Sie wenig Unterschiede zu
Bayern feststellen.
({10})
Denn was die Modernisierung der Hochschulen und was
die Förderung zum Beispiel von neuen Studiengängen
angeht, gibt es zwischen beiden Bundesländern wenig
Unterschiede, aber viele Gemeinsamkeiten.
Ich bin der Meinung, daß man die bildungspolitische
Debatte nicht mehr in den ideologischen Gräben der
Vergangenheit führen sollte, weil sich Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker - Herr Friedrich ist ein
gutes Beispiel dafür - in den vergangenen Jahren häufig
einig waren, daß mehr getan werden muß. Allerdings
sind sie in der aktuellen Tagespolitik öfter vor die Wand
gelaufen.
Unser Ziel, das zu erreichen wir uns vorgenommen
haben, nämlich die Ausgaben für Bildung und Forschung zu erhöhen und in diesem Bereich Fortschritte
zu machen, erreichen wir nicht, wenn wir im Parlament
nach der alten Hackordnung „Opposition - Regierung“
Politik machen.
({11})
Wir erreichen dieses Ziel nur, wenn wir eine Öffnung
erreichen. Ich finde es gut, daß Herr Friedrich das Angebot zum Dialog gemacht hat. Ich denke, daß auch
Herr Möllemann dazu fähig ist, wenn er sich nicht mit
Zeitungszitaten, sondern mit seiner Rolle als Ausschußvorsitzender beschäftigt. Auf diese Weise können wir im
Parlament eine Lobby für Bildungspolitik und für eine
Bildungsreform bilden.
({12})
Aber das allein wird nicht ausreichen. Wir brauchen
auch die Beteiligung der Studierenden an dieser Bildungsreform. Die erste wichtige Reform wird sein, den
Studierenden das Angebot zu machen, tatsächlich mitzureden. Wir wollen gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz erreichen, daß diese Reformen vorankommen. Die HRK hat in sehr offener und, wie ich finde, sehr lobenswerter Deutlichkeit im Gegensatz zu
Herrn Möllemann gesagt: Diese Koalitionsvereinbarung
ist ein gutes Angebot und ein guter Start für die bildungspolitische Debatte. Herr Landfried ist in diesem
Punkt näher an den Realitäten als Herr Möllemann.
({13})
- Kollege Kampeter sagt jetzt, das stimme nicht. Wir
können uns nachher darüber unterhalten; ich habe hier
die Pressemitteilung der HRK vorliegen. Herr Möllemann wird seine Aussage zurücknehmen müssen.
Der entscheidende Punkt ist: Wir werden viel Herzblut in diese Bildungsreform investieren. Wir werden
versuchen, diese Bildungsreform gemeinsam mit der
Opposition durchzuführen und einen Konsens zu erreichen, um in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen. Mit
dem Stillstand, den es in den vergangenen vier Jahren
gegeben hat, ist jetzt Schluß!
Ich danke Ihnen.
({14})
Als nächste Rednerin
spricht die Abgeordnete Maritta Böttcher, PDS.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die bildungspolitische Bilanz der alten Bundesregierung ist die Bilanz
einer Legislaturperiode, in der vieles versprochen und
wenig erreicht wurde. Zukunft wurde hier eher verspielt
als gewonnen. Das ist auch die Aussage meiner bisherigen Vorredner.
Nachdem die mittlerweile abgewählte Koalition 1994
verkündet hatte, Zukunftsinvestitionen in Bildung und
Forschung überproportional steigern zu wollen, blieb im
Wahlkampf für den Etat 1999 nicht einmal der Ausgangsbetrag von 1994 erhalten. Vor diesem Hintergrund
begrüßen wir die Ankündigungen der neuen Regierung,
daß sich eine Bildungsreform an der Leitidee des Rechts
auf Bildung, an den Zielen Chancengleichheit und
Gleichwertigkeit aller Bildungsgänge orientiert und daß
Investitionen in Bildung und Forschung in den nächsten
fünf Jahren verdoppelt werden sollen.
Daß bei der konkreten Umsetzung dieser Ziele keine
Zeit zu verlieren ist, machen nicht nur die 500 000 arbeitslosen Jugendlichen und die zum Ende des Vermittlungsjahres übriggebliebenen 36 000 Lehrstellensuchenden deutlich. Auch Studierende machen sich Sorgen um
den Fortgang ihres Studiums, weil von der neuen Regierung - außer den Plänen zur Erhöhung der Energiesteuer
und zur Besteuerung der neu definierten geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisse - nicht viel zu hören ist.
70 Prozent der Studierenden an westdeutschen und
über 55 Prozent an ostdeutschen Hochschulen müssen
für ihren Lebensunterhalt neben dem Studium jobben.
Das BAföG als Finanzierungsgrundlage für das Studium
hat deutlich an Bedeutung verloren. Wenn in diesem Bereich nicht sehr schnell Abhilfe geschaffen wird, verschlechtern sich die Zugangschancen zum Hochschulstudium für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen weiter. Immerhin ist der Anteil, den die Eltern
zum Unterhalt ihrer Kinder beisteuern, seit 1991 von
23 Prozent auf 53 Prozent gestiegen. Umgekehrt proportional sank der Anteil studierender Kinder aus einkommensschwachen Familien auf 14 Prozent in den alten und 9 Prozent in den neuen Ländern.
Aus all diesen Gründen muß möglichst noch in diesem Jahr für die Rücknahme der Verschlechterungen auf
Grund der letzten BAföG-Novellen gesorgt werden,
müssen nicht nur Freibeträge, sondern auch die Bedarfssätze erhöht werden. Aber damit ist das Strukturproblem
nicht gelöst. Wir haben das Versprechen der neuen Bundesregierung, noch 1999 eine große BAföG-Reform in
Gang zu bringen. Über die verschiedenen Modelle wurde ja schon sehr lange diskutiert. Nach dem Regierungswechsel gibt es also keinen Grund mehr, den
Worten nicht endlich auch Taten folgen zu lassen. - Um
so mehr freue ich mich über Ihre Mitteilung, Frau Bildungsministerin Bulmahn, daß Studierende eine Unterstützung erhalten müssen, von der sie wirklich leben
können. - Die Reform wird daran zu messen sein, wie
die soziale Selektion beim Zugang zu Bildungsressourcen abgebaut wird, bzw. daran, ob der Trend einer geschlossenen Gesellschaft an den Hochschulen verstärkt
wird.
Zur Negativbilanz der alten Bundesregierung gehört
auch das nach wie vor ungelöste Lehrstellenproblem.
Die neue Bundesregierung bietet uns vor allem für den
Osten zunächst das 100 000-Stellen-Programm an. Dieses Sofortprogramm hat zwar andere Dimensionen als
die Notprogramme der alten Regierung, wird aber ebensowenig ausreichen und enthält bisher leider keine zeitlichen Festlegungen. Allein in den neuen Bundesländern
wurden im Oktober dieses Jahres über 130 000 Arbeitslose unter 25 Jahren gemeldet. In der Bundesrepublik
insgesamt waren 428 000 Menschen dieser Altersgruppe
als beschäftigungslos registriert.
Ein weiteres Versprechen der Koalitionsvereinbarung
lautet: Alle Jugendlichen, die länger als sechs Monate
arbeitslos sind, sollen einen Ausbildungsplatz, einen Arbeitsplatz oder eine Fördermaßnahme erhalten. Wie all
diese schönen Programme konkret aussehen werden,
darüber erfahren wir vorerst wenig. Es bleibt also abzuwarten, wie weit Finanzierungsvorbehalte reichen und
ob die Praxis der alten Bundesregierung fortgesetzt
wird, fragwürdige Bildungsmaßnahmen und ebenso
fragwürdige Praktika aus dem Staatshaushalt zu finanzieren.
Damit staatliche Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eben nicht zwischen Beschäftigungstherapie und Wirtschaftssubventionen enden,
braucht es ein anderes Instrumentarium. Auch deshalb
wurde bereits im Bundestag der vergangenen Legislaturperiode an Hand von Gesetzentwürfen der damaligen
Oppositionsfraktionen über die Umlagefinanzierung
diskutiert. Die rotgrüne Regierungskoalition setzt demgegenüber darauf, daß keine Zwangsmaßnahmen nötig
sein werden, und will die Ergebnisse des neuen Bündnisses für Arbeit abwarten. Wie lange gewartet werden
soll, ist im Moment noch unklar.
Da wir, die Fraktion der PDS, aber der Meinung sind,
daß selbst ein Jahr Perspektivlosigkeit für Jugendliche
zuviel ist, und im Wissen darum, daß die gesetzliche
Regelung der solidarischen Umlagefinanzierung nicht
von einem Tag auf den anderen umsetzbar ist, bringen
wir schon jetzt unseren Gesetzentwurf aus der 13. Legislaturperiode neu ein. Ich bin auf eine umfassende Debatte in diesem Haus sehr gespannt.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Abgeordneten Thomas Rachel, CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wortreich kündigt die neue Regierung an, daß „Bildungs- und Forschungspolitik einen herausragenden Stellenwert bekommen“ sollen. Wenn es Ihnen, Frau Bulmahn, gelingt, diese Leerformel der Koalitionsvereinbarung zu
konkreter Politik zu machen, dann können Sie in vielen
Sachfragen mit der Unterstützung der Bildungs- und
Forschungspolitiker der CDU/CSU rechnen.
({0})
Schlecht ist allerdings, daß Sie vor Beginn erheblich
Federn lassen mußten. Ihr Haus wurde geplündert. Es ist
kein Zukunftsministerium mehr:
({1})
Die Medienpolitik wurde an das Bundeskanzleramt
übertragen. An das Wirtschaftsministerium haben Sie
die wichtigen Zuständigkeiten für Multimedia, die Luftfahrtforschung, die indirekte Forschungsförderung, die
angewandte Energieforschung und die Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen verloren.
Dies muß Ihnen bitter aufstoßen. Was haben Sie hinzugewonnen? Nichts!
({2})
Diese Ausgliederungen sind verhängnisvoll. Denn die
Kette zwischen Grundlagenforschung und angewandter
Forschung ist zerstört. Damit schadet Rotgrün der Forschungslandschaft in Deutschland. Das kritisieren wir.
({3})
Es mag sich merkwürdig anhören, aber es ist fast beruhigend, daß in der Koalitionsvereinbarung zu den
Themen Hochschulpolitik, berufliche Bildung und Forschung nicht viel Neues steht. Die Wochenzeitung „Die
Zeit“ bringt Ihren Amtsantritt mit der Überschrift
„Wechsel ohne Veränderung“ auf den Punkt. Sie selbst
haben betont, daß Sie auf vielem aufbauen können. Als
Beispiel nannten Sie die „Leitprojekte“ und die stärkere
Wettbewerbsorientierung der Forschungs- und Hochschullandschaft.
({4})
Die Schlußbilanz der bisherigen Regierung kann
sich sehen lassen:
({5})
Bei der Umwelttechnik und den Weltmarktpatenten sind
wir Weltspitze; Biotech- und Multimediafirmen boomen. Größere Autonomie und mehr Wettbewerb der
Hochschulen, Förderung unterschiedlicher Begabungen
- das sind angeblich die Elemente Ihrer „neuen Bildungsreform“. Diese aber haben wir längst mit der
Hochschulnovelle durchgesetzt.
({6})
Sie fordern die Internationalisierung der Hochschulen. Mit der Änderung des Ausländerrechts und der
Einführung von Bachelor und Master haben wir die
wichtigsten Schritte längst verwirklicht.
({7})
Nun wollen Sie Erfolge bei der Frauenförderung
zum Kriterium bei der Finanzzuweisung machen. Ist das
Ihr Beweis für Kreativität? Nein, das ist ein alter Hut.
Ein Blick in § 5 des von uns längst beschlossenen Hochschulrahmengesetzes hätte Sie belehrt, daß bei der Finanzierung der Hochschulen längst - ich zitiere - „auch
die Fortschritte bei der Erfüllung des Gleichstellungsauftrages zu berücksichtigen sind“. Peinlich, peinlich!
Sie wollen das Dienstrecht und das BAföG reformieren. Namens der Unionsfraktion biete ich Ihnen dazu
unsere Unterstützung an.
Sie haben vieles angekündigt. Ihre Regierungserklärung wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt.
Bundeskanzler Schröder kündigt eine Bildungs- und
Qualifizierungsoffensive an. Die Frage aber ist doch,
warum die SPD in den von ihr regierten Bundesländern
nicht längst damit begonnen hat.
({8})
Wer hat denn in den vergangenen Jahren, wie alle
Schulstudien belegen, das Niveau an unseren Schulen
Schritt für Schritt gesenkt? Etwa Bayern oder BadenWürttemberg? Nein, jetzt wollen gerade die, die in den
Ländern für die Bildungsmisere verantwortlich sind, die
Bildungspolitik auf Bundesebene übernehmen. Da wird
der Bock zum Gärtner gemacht.
({9})
Die neue Regierungskoalition verstrickt sich in Widersprüche; das fängt früh an. Lauthals fordert die neue
Bundesregierung, das Verbot von Studiengebühren gesetzlich zu verankern. Aber ausgerechnet das SPDregierte Land Niedersachsen kündigt in diesen Tagen an,
Gebühren in Höhe von 100 DM pro Student und Semester einführen zu wollen. Kaum ist die Bundestagswahl
gewonnen, werden die Studenten in Niedersachsen abgezockt.
({10})
Sie haben den Bundestagswahlkampf perfide geführt.
Sie haben damals gesagt, die Union wolle im Hochschulgesetz Studiengebühren nicht ausschließen. Sie haben den vereinbarten Konsens zum Hochschulrahmengesetz an dieser Formulierung scheitern lassen. Frau
Bulmahn, wer im Bund gegen Studiengebühren agiert
und als SPD-Landesvorsitzende in Niedersachsen zuschaut, wie dort Studiengebühren eingeführt werden,
macht sich zutiefst unglaubwürdig.
({11})
Wahr ist, daß Sie bei Hochschulen und Studenten einen
falschen Schein hervorgerufen haben; das werfen wir
Ihnen vor. Das war und ist ein gigantischer Wahlbetrug.
({12})
Widersprüche auch im Forschungsbereich! In ihrem
Wahlprogramm fordern die Grünen - ich sehe sie hier
vor mir -, Kernfusion, bemannte Raumfahrt und Gentechnik zu beenden. Zur Gentechnik vermeidet die Koalitionsvereinbarung klare Festlegungen, kein Wort zur
Kernfusion und zu bemannter Raumfahrt in der Regierungserklärung oder im Beitrag von Frau Bulmahn. Wir
wollen wissen: Wie steht die rotgrüne Regierung zur
Fortführung dieser Technologien?
({13})
Die deutsche Mitwirkung an der internationalen Raumstation wird durch multilaterale Verträge garantiert. Herr
Schlauch, wird der grüne Außenminister Fischer diese
Verträge einhalten? Wo bleibt das klare Bekenntnis der
Forschungsministerin? Wir wollen Klarheit!
Sehr geehrte Damen und Herren, die größte Schwäche der Koalitionsvereinbarung und der Regierungserklärung von Schröder liegt im Grundsätzlichen.
({14})
Man kann ihnen nicht die Spur einer Bildungsidee entnehmen. Am großen Wurf, an einer Vision für eine zukunftsgerichtete Bildungspolitik fehlt es völlig. Mit viel
Innovationsrhetorik wird Bildung in der Regierungserklärung auf einen rein ökonomischen Qualifizierungsund Effizienzaspekt reduziert. Kein Wort über die Rolle
von Bildung und Wissenschaft für das geistige Klima in
unserer Gesellschaft. Kein Wort über die Rolle der Geistes- und Kulturwissenschaften.
Nur zu gern wurde der Union von links vorgeworfen,
sie liefere die Hochschulen der Wirtschaft aus. Und die
jetzige Bundesregierung? - Wo versteht sie Bildungspolitik anders als unter ökonomischen und sozialpolitischen Aspekten? Sie haben in Ihrer Regierungserklärung
die Punkte, die längst behandelt und umgesetzt wurden,
aneinandergereiht: Autonomie, Budgetierung, Wettbewerb, Effizienzsteigerung, Transfer von Wissenschaft zu
Wirtschaft. Ich hätte von einem Bundeskanzler, der unsere Gesellschaft zu neuen Ufern führen will, mehr erwartet als ein rein technokratisch und ökonomisch verkürztes Bildungsverständnis.
({15})
Wir als Christdemokraten haben ein sehr viel breiteres und in die Zukunft weisendes Verständnis von Bildung.
({16})
Wenn wir über Bildung reden, dann hat dies auch etwas
mit Persönlichkeitsbildung, mit Lebens- und Sinnfragen,
mit Werten und Erziehung zu tun. Was hält eigentlich
unsere Gesellschaft zusammen? Welchen Beitrag kann
Bildung dazu leisten? Welche Rolle können dabei Religionsunterricht, Wertevermittlung und Geisteswissenschaften spielen? „Was ist sozialdemokratische Bildungspolitik?“ fragt die Wochenzeitung „Die Zeit“ ratlos am Ende ihres Artikels. Dieser Satz bringt Ihr Dilemma auf den Punkt.
({17})
Wir Christdemokraten schlagen eine breite Bildungsdebatte in Deutschland vor. Dazu laden wir Sie herzlich
ein.
Herzlichen Dank.
({18})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn.
Herr Rachel, ich finde,
ein politischer Streit in der Sache ist dann richtig, wenn
er nützt und wenn er uns voranbringt. Aber politischer
Streit darf nicht so geführt werden, daß er mit Unterstellungen arbeitet, die nicht der Wahrheit entsprechen.
({0})
Genau das haben Sie in Ihrer Rede getan. Es entspricht
nicht den Tatsachen, daß ich zu der Erhebung von Verwaltungs- und Einschreibungsgebühren in Niedersachsen nichts gesagt hätte. Ich habe hier im Parlament meine Auffassung deutlich zum Ausdruck gebracht: Ich
halte die Erhebung von Studiengebühren für falsch. Ich
habe mich immer dafür eingesetzt - dazu stehe ich nach
wie vor -, daß wir eine bundeseinheitliche Regelung bekommen, die die Erhebung von Studiengebühren ausschließt.
({1})
Dafür gibt es zwei Wege: entweder den über das
HRG oder den über einen Staatsvertrag. Beides sind
gangbare Wege. Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt
haben, habe ich mich nicht alleine auf das HRG bezogen, sondern habe beide Wege als Möglichkeit beschrieben.
Ich halte die Erhebung von Verwaltungs- und Einschreibungsgebühren in Niedersachsen nicht für den
richtigen Weg, für ein falsches Signal. Diese Position
vertrete ich als Landesvorsitzende. Aber als Bundesministerin - das wissen Sie - habe ich nicht das Recht, den
Ländern vorzuschreiben, welche Verwaltungsgebühren
sie erheben dürfen. Deswegen möchte ich - das habe ich
immer gesagt - eine bundesweite Regelung in Kooperation mit den Ländern erreichen, die die Erhebung von
Studiengebühren ausschließt. Das ist der Unterschied
zwischen uns.
({2})
Ein Staatsvertrag zwischen den Ländern ist ein Weg, der
eine bundeseinheitliche Regelung zum Ergebnis hätte.
Er könnte aus meiner Sicht auch vom Bundesland Bayern in keiner Weise abgelehnt werden, weil er überhaupt
nicht in dessen Rechte und Kompetenzen eingreift.
Ich bitte Sie daher, Herr Rachel, in den nächsten Debatten und Diskussionen wirklich bei der Wahrheit zu
bleiben. Das dient einem guten Klima, und es dient der
Zusammenarbeit.
({3})
Zur Antwort auf die
Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Thomas
Rachel, CDU/CSU, das Wort.
Frau Ministerin Bulmahn! Gerne antworte ich auf Ihre Anwürfe, wobei Sie
im Protokoll nachlesen können, daß diese haltlos sind.
Was Sie mit Ihrem Wortbeitrag dokumentiert haben,
ist Ihre politische Schwäche. An der versuchen Sie sich
vorbeizumogeln. Wenn Sie im Bund lauthals für Ihre
Position eintreten, sich aber in Ihrem Bundesland Niedersachsen, in dem Sie SPD-Landesvorsitzende sind und
die SPD mit absoluter Mehrheit alleine entscheiden
kann, nicht durchsetzen können, sondern die niedersächsische SPD Studiengebühren einführt, dann ist das eine
politische Schwäche von Ihnen. Auf jeden Fall aber ist
es eine Täuschung der Studenten und Studierenden, die
sich auf Ihr Wahlversprechen bei der Bundestagswahl
verlassen haben. Das wird hier dokumentiert.
({0})
Ihre Jungsozialisten in Niedersachsen haben aufgeschrien, weil sie erkannt haben, daß die SPD hier mit
gespaltener Zunge spricht. Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ hat geschrieben: Kaum ist die Bundestagswahl
gewonnen, schon werden die Studenten von der SPD
abgezockt. - Das ist die Realität. Wir trauen Ihren Worten nicht, auch wenn Sie sie laut und deutlich formulieren. Wir sehen, die Realität im Lande Niedersachsen ist
eine andere, und das ist scheinheilig.
({1})
Nächster Redner in
der Debatte ist der Abgeordnete Stephan Hilsberg, SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürger,
die uns am 27. September ihre Stimme gaben, verbanden damit die Hoffnung, daß endlich eine neue Regierung mit einer neuen Politik jene Aufgaben löst, an denen Ihre alte Politik gescheitert ist.
({0})
Gerade auf dem Feld der Bildungs- und der Forschungspolitik gibt es eine lange Liste von Versäumnissen, Fehlern und nicht gemeisterten Herausforderungen.
Der größte und der schwerste Fehler war vermutlich die
drastische Reduzierung des Bildungs- und Forschungsetats. Herr Möllemann, Herr Rachel und wie Sie
von der Opposition alle heißen, die Art und Weise des
Gebelles, mit dem Sie hier unsere Regierungserklärung
und die Aussprache dazu verfolgen, zeigt doch nur, daß
Sie in der Opposition überhaupt noch nicht angekommen sind.
({1})
Solange Sie Ihre Kritik nicht konstruktiv vortragen,
kann sie uns überhaupt nicht gefährlich werden. Ich
empfehle Ihnen: Gehen Sie einmal in Klausur, ziehen
Sie sich ein bißchen zurück, tragen Sie ein wenig zu Ihrer eigenen Erneuerung bei. Dann kommen Sie wieder
her, und dann reden wir erneut. Dann sind Sie ein streitbarer Partner für uns. So, wie Sie jetzt auftreten, sind Sie
es nicht.
({2})
Ganz besonders sauer - das muß ich ehrlicherweise
einmal sagen - ist einem in den letzten Jahren das stänEdelgard Bulmahn
dig wachsende Lehrstellendefizit aufgestoßen. 10 bis
15 Prozent eines Jugendlichenjahrgangs haben überhaupt keine Lehrstelle und in den neuen Ländern haben
40 Prozent keine betriebliche Lehrstelle. Das ist eine der
wichtigsten Ursachen dafür, daß wir jetzt diese skandalös hohe Jugendarbeitslosigkeit, die die Bundesrepublik Deutschland früher so nicht kannte, in Höhe von
einer halben Million Jugendlichen unter 25 Jahren haben.
Deshalb ist es richtig und notwendig, daß die neue
Regierung mit ihrem Programm zur Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit, mit ihrem Programm zur sofortigen Schaffung von 100 000 Arbeits- und Ausbildungsplätzen hier einen Schwerpunkt setzt. Als Opposition
haben wir das immer gefordert. Jetzt setzen wir es um.
Das wird nicht einfach sein. Wir werden mit einem von
uns organisierten Bündnis für Arbeit und Ausbildung
gemeinsam mit den Tarifpartnern und den Ländern die
Weichen dafür stellen, daß die Betriebe wieder mehr
Lehrstellen schaffen können.
Ich glaube, man braucht nicht nur an Ostdeutschland
zu denken, um sich bewußt zu werden, daß dies angesichts der anhaltenden Strukturschwäche in weiten Regionen nicht reichen wird. Deshalb müssen und werden
wir grundsätzlich neue Wege gehen. Mit der Modernisierung und Flexibilisierung der dualen Berufsausbildung - Stichwort Basisqualifikation - kann die Ausbildung stärker an den Betrieb herangebracht werden und
so in den Produktionsalltag eingebunden werden. Aber
ohne Fortführung der außerbetrieblichen und der Benachteiligtenausbildung wird es auch nicht gehen können. Sollte das alles aber nichts nützen, dann - aber auch
nur dann - bleibt uns immer noch unsere gesetzliche
Handlungsmöglichkeit für einen fairen Leistungsausgleich, die wir dann auch nutzen werden.
({3})
- Herr Möllemann, wenn Sie nicht in der Lage sind,
souverän Zwischenfragen zuzulassen, dann lassen Sie
mich hier in aller Ruhe ausreden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Chancengleichheit will, der muß Bildungshürden niederreißen.
Auch hier ist die Bilanz der alten Bundesregierung mehr
als niederschmetternd. Generationen von Studenten waren auf BAföG angewiesen, ohne das sie gar nicht hätten studieren können. Die alte Bundesregierung jedoch
hat das BAföG als Steinbruch zur Verringerung ihrer
Haushaltsdefizite benutzt. Wir haben den Studenten unser Wort gegeben, daß wir diesen verfassungsmäßig garantierten Grundsatz des Rechts auf Bildung wieder in
sein Recht einsetzen werden. In einem ersten Schritt
werden wir dabei Ihre Schweinereien der 18. Novelle
wieder ausbügeln
({5})
und auch Auslandsaufenthalte, Gremientätigkeit und begründeten Studienfachwechsel wieder in die Förderung
einbeziehen.
({6})
- Sie sind es doch gewesen; in den letzten Jahren Ihrer
Regierungstätigkeit haben Sie doch nie Skrupel gehabt.
({7})
In einem zweiten Schritt werden wir eine generelle
Reform der Ausbildungsfinanzierung vornehmen. Wir
werden uns selbstverständlich auch - dazu ist schon viel
gesagt worden - an die steckengebliebene Hochschulreform machen.
({8})
Studiengebühren sind dabei der falsche Weg, da sie keine einzige der bereits bestehenden Verkrustungen an unseren Hochschulen aufbrechen können. Wir wollen das
Hochschulstudium wieder studierbar machen, um so die
Einhaltung von Regelstudienzeiten überhaupt zu ermöglichen. Wir werden uns selbstverständlich auch an die
lange brachliegende Dienstrechtsreform machen. Ich
vermag zum Beispiel überhaupt nicht einzusehen, warum es keine Professuren auf Zeit geben soll. Einige
Länder experimentieren ja bereits sehr erfolgreich damit.
Ich kann mir auch gut vorstellen, in Zukunft ganz auf
die Habilitation zu verzichten.
({9})
Warum sollen wir nicht jungen Doktoranden mit einer
auf fünf oder sechs Jahre befristeten „Assistant“Professur eine Chance geben, sich unabhängig und selbständig für die Bewerbung um einen auf Dauer angelegten Lehrstuhl zu qualifizieren.
Meine Damen und Herren, in den zurückliegenden
Jahren hat trotz eines offensiven Neoliberalismus eine
Entideologisierung in der Forschungs- und Bildungspolitik stattgefunden. Daran werden wir als Voraussetzung weitreichender Reformen anknüpfen. Nur so
können wir zu einem Diskurs aller Beteiligten kommen,
der notwendig ist, um über alle Probleme vorurteilsfrei
reden und sie konstruktiv lösen zu können.
Zur Forschung ist heute, insbesondere von unserer
neuen Ministerin, der ich an dieser Stelle alles Gute bei
ihrem schweren, aber auch schönen Amt wünschen
möchte,
({10})
schon sehr vieles gesagt worden. Einen ostdeutschen
Punkt möchte ich hier anfügen. Die industrielle Schwäche Ostdeutschlands hängt ja bekanntermaßen auch mit
dem überhasteten und kopflosen Abbau seiner Forschungsinfrastruktur im Zuge der deutschen Einheit zusammen. Es wird noch lange dauern - möglicherweise
werden das quälende Jahre sein -, bis diese Schwäche
überwunden sein wird. Das kann überhaupt nur gelingen, wenn wir neben der anstehenden Konsolidierung
der ostdeutschen Forschungslandschaft - ich nenne hier
bewußt das Stichwort Helmholtz-Institute - mit einem
langen Atem konsequent nach vorn schauen und vor allem auch die Zukunfts- und Forschungsausgaben des gesamten Landes in den Blick nehmen.
Ich finde es richtig, daß in letzter Zeit wieder von Eliten gesprochen wird. Man soll das aber nicht polemisch
machen. Auch der Bundeskanzler sagte, daß der Geldbeutel der Eltern nicht über die Chancen der Kinder bestimmen darf. Das ist richtig und bleibt wichtig. Wir aus
den neuen Bundesländern bringen aber noch eine andere
Erfahrung mit. Das ist die Erfahrung kultureller Traditionen, die in Familien und Institutionen lebendig geblieben sind. Sie haben dazu beigetragen, daß es auch in
der DDR eine Gegenelite gegeben hat, ohne die die
heutigen Aufbauleistungen in Ostdeutschland gar nicht
möglich wären. Mir scheint, daß auch heute Elite, und
zwar in ganz Deutschland, an diese Bewahrung und
Vermittlung kultureller Tradition geknüpft ist. Es
kommt eben nicht nur darauf an, Chancen im materiellen Sinne als Unabhängigkeit vom Geldbeutel der Eltern
zu geben. Es geht vielmehr auch um Chancen im kulturellen Sinne als Wissen um die eigene individuelle Würde und Freiheit.
({11})
Dies sind die entscheidenden Voraussetzungen für Mut,
Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein und damit für die
Leistungsfähigkeit nicht nur des einzelnen, sondern auch
unserer gesamten demokratischen Gesellschaft.
Mit den notwendigen Reformen in unserem Land
müssen wir schnell Ernst machen, damit die nachfolgende Generation spürt, daß wir es ernst mit ihr meinen.
Wir wollen, daß aus unserer Jugend etwas wird. Das ist
auch eine der Voraussetzungen dafür, daß wieder
Vertrauen in einer Generation entsteht, die sich - das
zeigen die Studentenrevolten der letzten Jahre - bereits
als zum Teil beiseite geschoben empfunden hat. Gerade
weil wir Deutschlands Kraft vertrauen wollen, müssen wir uns deshalb dieses Vertrauens als würdig erweisen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Herr Kollege Hilsberg, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen,
daß zwei Worte, die Sie in Ihrer Rede gebraucht haben,
nicht unbedingt dem Stil unseres Hauses entsprechen.
Ich denke, wir sollten auch in dieser Legislaturperiode
die Form wahren.
({0})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.
Wir kommen deshalb jetzt zum Themenbereich Verkehr, Bauen und Wohnungswesen.
Außerdem rufe ich Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der wohngeldrechtlichen Regelungen - Wohngeldanpassungsgesetz ({1})
- Drucksache 14/19 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Rechtsausschuß
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Dr. Dietmar Kansy, CDU/CSU, das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung der neuen Koalition,
das Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und
Städtebau und das Bundesministerium für Verkehr zusammenzulegen und auch im Deutschen Bundestag nur
noch einen gemeinsamen Ausschuß für Verkehr, Bauund Wohnungswesen zu bilden, ist, Herr Minister,
Chance und Gefahr zugleich.
Es ist deswegen eine Chance, weil eine Reihe von
Problemen, mit denen sich zum Beispiel unsere Städte
und Gemeinden herumschlagen müssen, Wurzeln sowohl in der Baupolitik als auch in der Verkehrspolitik
haben. Dazu gehört beispielsweise das Thema Wiederbelebung der Innenstädte. Ohne angepaßte Mobilitätsangebote im öffentlichen Nahverkehr und im Individualverkehr führen städtebauliche Maßnahmen nicht zu
einer Verbesserung der Situation. Das gilt auch für die
Factory Outlet Center, die eingedämmt werden müssen,
({0})
weil sie unsere Städte gefährden und Verkehr in der Fläche produzieren. Sie können künftig nur mit einer besseren Abstimmung von Bauplanungsrecht und Verkehrspolitik verhindert werden. Ähnliche Verzahnungen gibt
es im nationalen, ja, sogar im internationalen Bereich.
Eine moderne Raumordnungspolitik beispielsweise ist
ohne enge Abstimmung mit nationalen und internationalen Verkehrspolitiken nicht machbar. Insofern bietet,
Herr Minister, die Zusammenlegung neue Chancen. Wir
hoffen, daß Sie sie nutzen.
Die Zusammenlegung birgt aber auch Gefahren. Wir
müssen aufpassen, daß unser neues, vergrößertes Arbeitsgebiet nicht zu einem „Steinbruch“ wird, in dem
man scheinbar weniger wichtige Bereiche - vielleicht
weil sie sich nicht in Milliardensummen in den Haushaltsplänen niederschlagen - so langsam unter den Tisch
fallen läßt.
Ökologisch ausgewogene Investitionen in Bahn,
Straße, Wasserstraße sind die eine Sache, sozialer Wohnungsbau, Eigenheimförderung, eine Steuerpolitik mit
Augenmaß im frei finanzierten Wohnungsbau sind eine
andere Sache. Gütertransit, Telematik, Luftverkehrssicherheit sind das eine, Baugesetzbuch, Mietrecht,
Wohngeld, Obdachlosigkeit sind das andere. Umweltschutz beim Verkehr und Habitat sind relativ leicht zusammenzuführen - aber Seeschiffahrt und Städtebau,
Tempolimit und Raumordnung, Berlinumzug und Vergabewesen?
Unsere Palette ist in dieser Legislaturperiode gewaltig. Wir sollten uns trotz dieser großen Palette gemeinsam alle Mühe geben, auch finanziell weniger gut dotierte Bereiche - aus beiden ehemaligen Bereichen, Frau
Kollegin Mertens - in der neuen Legislaturperiode angemessen zu berücksichtigen.
Was nun sagt die Bundesregierung darüber, wie sie
diese Arbeit angehen will? In der Regierungserklärung
des Bundeskanzlers war, trotz zweieinviertelstündiger
Dauer, kein einziges Wort über Verkehr und nur ein
Satz über Städtebaupolitik zu hören.
({1})
Noch nie war eine Regierungserklärung auf diesen Feldern so sprach- und konturenlos, trotz eines zusammengelegten Ministeriums.
({2})
Deswegen haben wir uns einfach Ihre Koalitionsvereinbarung angeschaut und sie mit einigen Aussagen vor
der Wahl verglichen. Viel mehr können wir heute, am
ersten Tag, nicht machen. Fangen wir beim Wohngeld
an: Noch im letzten Sommer haben wir unserem damaligen Finanzminister wenigstens 500 Millionen DM für
Bund und Länder zusammen abgerungen. Herr Kollege
Großmann - mein alter Sprecherkollege, herzlichen
Glückwunsch zum Staatssekretär! -,
({3})
Sie haben sich damals geweigert mit der Begründung:
Unter 1,5 Milliarden DM pro Jahr machen wir es nicht.
({4})
Und nun, verehrte Frau Kollegin Mertens, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig - ich bin ja jetzt von Frauen umzingelt, wunderbar, meine stellvertretende Fraktionsvorsitzende umzingelt mich mit -: In der Koalitionsvereinbarung ist zum Wohngeld eine Luftblase.
({5})
In den internen Papieren, die das eine oder andere dann
doch an die Oberfläche bringen, ist für das nächste Jahr
für Wohngeld weniger als 200 Millionen DM zusätzlich
vorgesehen. Sie streben eine Anpassung offensichtlich
relativ spät an. Sie hätten längst mehr und das viel früher
haben können. Das sagt heute selbst unsere Kollegin und
Präsidentin des Deutschen Mieterbundes, Anke Fuchs.
Wenn wir damals im Sinne unseres Unionsvorschlages
verfahren wären, dann wäre das schon vor einem halben
Jahr geschehen.
({6})
Das nächste Thema ist Ihr Programm, meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Es ist nicht mein
Job, Krokodilstränen darüber zu vergießen, daß von Ihren verkehrspolitischen Vorstellungen in der Koalitionsvereinbarung relativ wenig steht. Man könnte sich als
Opposition freuen und sagen: Okay, drastische Wende
von Illusion zu Realität, was so eine Wahl alles bewirkt.
- Ich fürchte aber, es wird anders kommen: Bei dieser
Unverbindlichkeit werden Sie sich auf Kosten der Zukunft unseres Landes kräftig streiten. Das fängt beim
Transrapid an und hört beim Benzinpreis nicht auf.
„Die Eigenheimförderung behält ihren hohen Stellenwert“ - steht in der Koalitionsvereinbarung - „und
wird weiterentwickelt“. Zunächst beabsichtigen Sie
aber, dort abzukassieren. Da braucht man nur den
Gesetzentwurf zur Steuerreform zu lesen: bereits näcstes
Jahr 595 Millionen DM, übernächstes Jahr 1,16 Milliarden DM weniger für die Eigenheimförderung durch
Streichung des Vorkostenabzugs. Das hat den „erstaunlichen“ Charme, daß gerade der Bestand darunter leiden
wird, den die SPD laut ihrer Wahlaussagen fördern will.
Also: Abkassieren ohne Gegenleistung bei der Eigenheimförderung.
Ich komme nun mit ein paar Gedanken zu unserem
seit langem gemeinsamen Anliegen: der Städtebauförderung. Sie wissen - das können Sie mir nachher vorhalten -, daß wir CDU/CSU-Städtebaupolitiker an der
Deckelung von 600 Millionen DM schon seit mehreren
Jahren schwer kauen. Im letzten Jahr hatten Sie eine Erhöhung um 304 Millionen DM in Form von Verpflichtungsermächtigungen beantragt - Kollege Großmann,
wenn Sie sich erinnern -, mit dem langfristigen Ziel von
2 Milliarden DM. Dies ist nach wie vor ein gutes Ziel.
Wir warten jetzt mit Interesse auf Ihren Haushaltsentwurf und wünschen uns sehr, daß aus der roten Null an
Erhöhungsmitteln, die bis jetzt in internen Papieren
steht, ein bißchen mehr wird.
Schaut man - nicht so oft wie der Kollege Möllemann, aber ab und zu einmal - in eine Tageszeitung,
dann kann man Erstaunliches lesen. Ich nehme zum Beispiel „Die Welt“ vom 10. November 1998. Da kommt
man aus dem Staunen wirklich nicht heraus, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig. „Grüne greifen Steuerpläne an“
steht da. Das haben wir früher schon öfter gelesen. Aber,
wie gesagt, das ist die Zeitung von vorgestern; das war
der Tag der Regierungserklärung von
Unmut regt sich bei den Wohnungsbauexperten der
Grünen über die Beschlüsse der Koalitionsvereinbarung zur Immobilienbesteuerung. Die wohnungsbaupolitische Sprecherin der Grünen, Franziska Eichstädt-Bohlig, kritisiert vor allem vier
Eckpunkte der Koalitionsvereinbarung. . . .
Nicht einen, gleich vier - das ist ein bißchen viel. Frau
Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie gehören jetzt einer Regierungsfraktion an, selbst wenn Sie es noch nicht gemerkt haben sollten. Es ist nicht wichtig, was in der
Zeitung steht, sondern was Sie in den nächsten Wochen
und Monaten beschließen werden: bei Sanierungsgebieten, bei Baudenkmälern, bei vertikalem VerlustausDr.-Ing. Dietmar Kansy
gleich, bei der Eigenheimförderung. Alles das sind in
den nächsten Wochen auch Ihre Beschlüsse, es sei denn,
Sie besinnen sich noch eines Besseren.
({0})
Das bedeutet nicht mehr, sondern weniger Wohnungen,
und nicht mehr Arbeit am Bau, sondern weniger.
Wir bleiben bei unserer Forderung: Hände weg von
einem der besten Gesetze der letzten Jahre - das übrigens mit Zustimmung der SPD hier im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde -: dem Eigenheimzulagengesetz.
({1})
Meine Damen und Herren, ich will mich heute nur
zurückhaltend äußern; aber wenn jemand „Wählerbetrug“ dazu sagen würde, daß Sie im Rahmen des Eigenheimzulagengesetzes bei der Genossenschaftsförderung das völlige Gegenteil von dem machen, was Sie
noch vor wenigen Wochen und Monaten gesagt haben,
dann wäre das richtig. Bisher hatten Sie den Wegfall der
Selbstnutzung als Voraussetzung für die Genossenschaftsförderung - O-Ton Großmann - als eine wichtige
Aufgabe für die kommende Legislaturperiode dargestellt. Jetzt wollen Sie die Voraussetzungen sogar ins
Gesetz schreiben, wie man Ihrem Entwurf eines Steuerreformgesetzes entnehmen kann.
Meine Damen und Herren, auch in unserem Fachbereich gilt das Wort unseres Vorsitzenden, Wolfgang
Schäuble, daß wir nicht Opposition um der Opposition
willen machen werden. Was vernünftig ist, werden wir
offen diskutieren, gegebenenfalls versuchen zu verbessern. Was wir nicht mittragen werden, werden wir
knallhart bekämpfen. Auch hier werden wir Sie an dem
messen, was Sie vor der Wahl versprochen haben.
Herr Minister Müntefering, zum Abschluß wünsche
ich Ihnen über die Fraktionsgrenzen hinweg im Interesse
unseres Landes eine glückliche Hand und Gottes Segen
für Ihre Arbeit.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Abgeordneten Franziska
Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Kollege Kansy hat mich persönlich
wegen eines Zeitungsartikels in der „Welt“ angesprochen. Ich möchte nur klarstellen: Als alter Hase wissen
Sie, Herr Kansy, doch sehr genau, daß die Fachpolitiker
eigentlich couleurübergreifend um die nötigen Finanzen
für ihre Bereiche kämpfen müssen. Das kennen Sie vom
Wohngeld genauso wie von der Städtebauförderung und
Stadterneuerung. Sie wissen genau, daß wir es nötig haben, rechtzeitig vor den Haushaltsberatungen um diese
Mittel zu kämpfen. In diesem Sinne tragen wir die Dinge kollegial, solidarisch aus und ringen um unsere Etats.
({0})
Ich erteile jetzt das
Wort dem Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Franz Müntefering.
Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen ({0}): Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Diese Legislaturperiode wird in erheblichem Maße vom
Umzug des Deutschen Bundestages und von Teilen der
Bundesregierung nach Berlin bestimmt sein. Die Zusage gilt: Die Bundesregierung will, wenn der Deutsche
Bundestag im September nächsten Jahres in Berlin dauerhaft arbeitsfähig ist, in Berlin sein. Bis dahin wird
noch viel zu tun sein. Es wird zwei bis drei Jahre ganz
besondere Arbeitsbedingungen für Sie und für uns geben. Es wird uns allen eine ganze Menge an Flexibilität
und auch an Mut zur Improvisation abgefordert werden.
Ich werde zum 18. November dem Kabinett einen
Bericht über den Stand der Dinge vorlegen und deutlich
machen, was aus meiner Sicht jetzt schnell zu passieren
hat; denn nicht alles ist ausreichend gut vorbereitet.
Aber ich gehe davon aus, es wird klappen, und zwar
pünktlich. Berlin kann die Bundesregierung nächstes
Jahr im Sommer, im Herbst erwarten. Bonn darf sich
darauf verlassen, daß die Verträge und Vereinbarungen,
die es gibt, gelten.
BMBau und BMV sind zum Bundesministerium für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zusammengelegt.
Das hat seine Logik. Was uns das Grundgesetz vorgibt,
nämlich gleichwertige Lebensbedingungen in allen Landesteilen anzustreben und auch durchzusetzen, hat etwas
mit raumordnerischen Ansätzen und mit der Frage zu
tun, wie sich verschiedene Politikbereiche bündeln lassen, um dieses Ziel zu erreichen. Deshalb werden nicht
zwei Häuser nebeneinander arbeiten, das alte Bau- und
das alte Verkehrsministerium. Vielmehr wollen wir sie
verschmelzen: die Themen, die diese Häuser haben, und
die Aufgaben, die sich daraus ergeben.
In diesem Haus wird der größte Investitionsbereich
des Bundes sein: im Verkehrs-, im Wohnungsbereich.
Auch an dieser Stelle wird deutlich, daß Chancen gesucht werden können und genutzt werden müssen, um
die Verteilung der Mittel zu optimieren und sie so einzusetzen, daß sie eine nachhaltige Städtebau- und Verkehrspolitik ermöglichen, aber auch möglichst viele Arbeitsplätze bringen und garantieren.
({1})
Bundesmittel, die für den Verkehr eingesetzt werden,
lösen pro Mark drei Mark zusätzliche Investitionen aus
anderen Kassen aus. Im Städtebau ist das Verhältnis etwa 1 : 5. Es ist daher ganz wichtig, daß wir die Mittel,
die wir zur Verfügung haben, so einsetzen, daß möglichst viele Arbeitsplätze entstehen und gesichert werden
und daß die kleinen und mittleren Unternehmen davon
profitieren.
Der Wohnungs- und der Städtebau und der Verkehrsbereich sind die Bereiche, in denen die standortabhänDr.-Ing. Dietmar Kansy
gige deutsche Bauindustrie, das deutsche Baugewerbe
seinen großen Rückhalt hat. Deshalb müssen wir wissen,
welches Pfund wir hier in der Hand haben.
({2})
Deshalb ist es meine Sache, die illegale Beschäftigung und das Lohn- und Sozialdumping zu bekämpfen. Es kann nicht so bleiben wie im letzten Jahr, daß es
bei einer relativen Baukonjunktur 30 000 Pleiten im
Baugewerbe gab und 200 000 Bauarbeiter arbeitslos waren. Das darf nicht sein.
({3})
Beim Thema „Raumordnung und regionale Entwicklung“ sind vor allem die besonderen Aufgaben in
Ostdeutschland zu erwähnen. Die Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ müssen zügig fortgeführt werden.
Hier entscheidet sich das Zusammenwachsen im Alltag
auf ganz praktische Weise. Es geht um die Fortführung,
möglichst Verstärkung, der KfW-Programme, um in den
neuen Ländern Aufgaben im Bereich des Wohnens zu
erfüllen.
Die Aufgaben, die wir in unserem Ministerium bündeln können, werden uns zusammen mit dem Kanzler in
den nächsten Monaten besonders oft in die neuen Länder führen;
({4})
denn dort zeigt sich, ob es jetzt mit der Gleichwertigkeit
der Lebensbedingungen ernst wird.
Wohnen, meine Damen und Herren, ist mehr als ein
Dach über dem Kopf zu haben. Von Zille stammt der
Satz: „Man kann den Menschen mit der Wohnung erschlagen wie mit einer Axt“, nämlich dann, wenn sie
nicht bezahlbar oder nicht menschenwürdig ist. Deshalb
bleibt das menschenwürdige Wohnen eine große Aufgabe für die Politik. Dabei steht die Eigenverantwortung
ganz vorn. Auch beim Wohnen gilt: Die Menschen, die
können, müssen selbst dafür sorgen, daß sie menschenwürdig und bedarfsgerecht wohnen.
Aber nicht alle Einzelpersonen und alle Familien
können das. Deshalb gilt: Wir müssen im Eigenheimbereich und im Mietwohnungsbereich dafür sorgen, daß
die Menschen das haben, was zur Menschenwürde gehört. Das Wichtigste neben der Arbeit, dem Essen und
der Gesundheit ist für die Menschen das Wohnen.
({5})
Es bleibt die große und zentrale Aufgabe, dafür zu sorgen, daß es hinreichend viele menschenwürdige Wohnungen gibt, die bezahlbar sind. Das Thema Wohngeld
wird uns sehr schnell erreichen, und wir werden im Jahre 1999 erste Schritte gehen.
({6})
Natürlich gilt, daß sich die Mieterinnen und Mieter in
ganz besonderer Weise auf die Sozialdemokraten verlassen können.
({7})
Es gehört zum Mietrecht, daß die Mieter wissen, sie sind
sicher und haben einklagbare Rechte. Hier werden die
Sozialdemokraten so sensibel bleiben, wie sie es immer
gewesen sind.
Die Bestandspolitik ist ein ganz besonders wichtiges
Thema. Wir müssen neu bauen, wir brauchen zusätzliche Wohnungen, aber wir brauchen auch dringend neue
Aktivitäten im Bestand.
({8})
Es kann nicht sein, daß der Bestand absackt; denn wir
wissen alle: Die Qualität der Stadt und die Wohnungsqualität sind Lebensqualität. Die Menschen machen ihre
Erfahrungen mit der Demokratie vor Ort, in ihrer Wohnung und in ihrem Stadtteil.
Auch im 21. Jahrhundert, im nächsten Jahrtausend,
wird es so sein, daß die Menschen ein Zuhause, im guten Sinne des Wortes eine Heimat in ihren Städten und
Dörfern haben wollen. Deshalb bleiben die Stadtentwicklung, der Städtebau, die Stadtförderung und die
gemeindliche Entwicklung ein ganz zentrales Anliegen.
Wir wollen auch in Zukunft keine Gettos in deutschen
Städten haben.
({9})
Die Mobilität ist eine der entscheidenden Grundlagen des Wohlstands in unserem Land. Nur wenn ein
Land wie unseres in der Lage ist, Menschen, Güter und
Informationen pünktlich, zielgerichtet, preiswert und
umweltgerecht an die Orte zu bringen, an die sie müssen, kann der Wohlstand gesichert sein. Deshalb wird
die Sicherung der Mobilität eine große Aufgabe in dieser Legislaturperiode sein.
90 Prozent des Individualverkehrs werden mit dem
Auto abgewickelt. Das bleibt das wichtigste Instrument
der Mobilität in diesem Land.
({10})
Wir werden daran arbeiten, daß es sicher ist, noch sicherer wird, daß es umweltfreundlich ist und noch umweltfreundlicher wird. Aber die entscheidende Frage, die wir
zu beantworten haben, ist die der Fortentwicklung des
Bundesverkehrswegeplans. Dabei geht es nämlich um
die Optimierung von Straße, Schiene, Luft und Wasser.
Es geht um die Frage, ob es uns gelingen wird, davon
wegzukommen, daß die einzelnen Verkehrsarten nebeneinander betrachtet werden, ob es uns gelingen wird, sie
zu bündeln und daraus eine sinnvolle integrierte Verkehrspolitik zu entwickeln. Das ist die zentrale Aufgabe,
die wir in dieser Legislaturperiode zu erfüllen haben.
({11})
Dabei geht es nicht nur um Hardware, sondern auch um
Verkehrstechnik und Telematik. Da geht es um die
Frage, ob wir es schaffen, nicht nur Autos zu exportieren; vielmehr geht es auch um die Frage, ob wir VerBundesminister Franz Müntefering
kehrstechnik exportieren können. Das wird eine ganz
wichtige Industrie sein.
({12})
Es ist eine ganz wichtige Frage, die nicht nur die Länder
Europas berührt, sondern weit darüber hinausgeht; denn
natürlich werden die Verkehrsprobleme im wesentlichen
nur zu lösen sein, wenn wir in Europa einheitliche Vorkehrungen im Bereich der Verkehrstechnik und der Modernisierung schaffen. Solange es in Europa noch drei
unterschiedliche Schienenbreiten, rund zehn verschiedene Signalsysteme und 16 verschiedene Stromarten gibt,
so lange kommen wir nicht voran. Deshalb müssen hier
entscheidende Veränderungen zustande kommen.
({13})
Die Wasserstraßen in Deutschland sind als Verkehrsträger nicht ausgelastet. Sie werden in Zukunft eine ganz
wichtige Funktion haben. Sie sind natürliche Verkehrsträger. Deshalb müssen wir sie in besonderer Weise nutzen. Bisher werden hier nur 6 bis 7 Prozent der Güter
transportiert. Das ist zu wenig.
Das gleiche gilt - vielleicht in noch größerem Maße für die Schiene. Die Bahnreform wird weitergehen. Wir
werden der Bahn helfen, aber die Verantwortlichen bei
der DB müssen wissen, daß es sich um ein selbständiges
Unternehmen handelt. Sie haben die Verantwortung dafür zu tragen, daß sie eine gute Verkehrspolitik machen,
mit und für die Schiene. Dabei werden wir sie unterstützen. Aber wir werden sie auch herausfordern, damit
Veränderungen in den nächsten Jahren möglich sein
werden.
({14})
Wir haben uns vorgenommen, in dieser Legislaturperiode die streckenabhängige Gebühr für Lkws einzuführen. Dazu brauchen wir elektronische Erfassungsgeräte. Dazu brauchen wir auch Vorbereitung. Aber es soll
in dieser Legislaturperiode dazu kommen, daß für Lkws,
die in Deutschland fahren, streckenabhängige Gebühren
gezahlt werden müssen.
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ilja
Seifert?
Bitte schön.
Herr Minister, Sie sprachen
gerade davon, daß Sie innovative Verkehrstechniken
fördern wollen und sie nicht nur in Deutschland verwendet werden sollen. Sie sprachen auch davon, daß
zum Beispiel die privatwirtschaftliche Bahn ihre Aufgabe erfüllen soll. Aber wie sieht es aus? Sind Sie bereit,
den Vorschlag zu unterstützen, daß Betriebserlaubnisse
in Zukunft nur noch dann erteilt werden, wenn zum Beispiel Menschen mit Behinderungen jederzeit mitfahren
können, so daß wir in absehbarer Zeit einen öffentlichen
Nah- und Fernverkehr haben werden, der von allen
Menschen - mit oder ohne Behinderung - genutzt werden kann? Das gleiche gilt natürlich für die Städtebauförderung. Schaffen wir es, daß Sie entsprechende
Verordnungen herausgeben, die es verbieten, behindertenfeindliche Transportmittel anzuschaffen?
Ich möchte dazu zwei Dinge
sagen, Herr Kollege. Ich weiß erstens nicht, ob ich akustisch alles verstanden habe. Zweitens bin ich Westfale.
Das sind vorsichtige Menschen, wie Sie wissen. Ehe
sich solche Menschen auf Details festlegen, die sie nicht
bis in die Feinheiten kennen, warten sie lieber ab und
schauen sich das Ganze noch einmal genau an. Ich werde schon bald dem zuständigen Ausschuß des Deutschen
Bundestages darüber Bericht erstatten, was wir uns in
dieser Legislaturperiode vorgenommen haben. Dann
werde ich Ihnen auch auf Ihre Frage eine gute und plausible Antwort geben können. Das möchte ich jetzt nicht
versuchen.
({0})
Die streckenabhängige Gebühr für Lkws muß
möglichst über Deutschland hinaus in ganz Europa gelten. Sie wird deutlich machen, daß die Schiene für den
weiten Transport von Gütern ein ganz besonderes Gewicht haben wird; denn die, die mit ihren Lkws lange
unterwegs sind und kreuz und quer durch Deutschland
fahren, werden deutlich mehr als bisher zahlen. Wenn
wir diese beiden Aspekte vernünftig miteinander verbinden, nämlich daß die Schiene mehr für den Transport
von Gütern auf langen Strecken genutzt wird und daß
die Straße mehr für kurze Strecken genutzt wird, dann
haben wir an dieser Stelle, so glaube ich, etwas Wichtiges erreicht. Wir haben dann erreicht, daß der Transport
von Gütern von der Sraße auf die Schiene und auf das
Wasser verlegt wird. Das sind die beiden entscheidenden Wege, die wir gehen müssen.
Das Ganze wird nur zu erreichen sein, wenn wir uns
darüber in Europa verständigen. Wie wichtig Europa ist,
zeigt sich gerade in diesen Tagen bei der Havarie der
„Pallas“. Ich will jetzt dazu nicht viel sagen; denn im
Moment kommt es darauf an, daß das, was zu retten ist,
gerettet wird. Aber wir werden nicht vergessen, darüber
dem Bundestag und dem entsprechenden Ausschuß detailliert, schnell und ausführlich zu berichten: Was dort
stattgefunden hat und noch in diesen Stunden stattfindet,
muß Konsequenzen haben. Das darf so nicht sein.
({1})
Es hat eine Reihe unglücklicher Umstände gegeben.
Ich bin gegen alle die angetreten, die vorschnell Vorwürfe gegen Beteiligte erhoben haben. Ich bin gegen
Spekulationen. Wir müssen das auf den Kern bringen.
Wir müssen wissen, ob wir in Europa auch in Zukunft
wollen, daß Schiffe, die sich der Schrottreife nähern und
die mit Lohn- und Sozialdumping unter fremder Flagge
laufen, freie Fahrt auf unseren Meeren haben. Das ist der
entscheidende Punkt.
({2})
All denen, die jetzt ganz schnell auf die einschlagen, die
zu helfen versuchen, sage ich: Es macht wenig Sinn, die
Feuerwehr zu beschimpfen. Man muß da anfangen, wo
das ganze Dilemma liegt.
({3})
Wohnungs- und Städtebau, Stadtentwicklung, Raumordnung und Verkehrspolitik - das ist alles etwas, was
ganz eng mit Umweltentwicklung zu tun hat. Das alles
muß ökologisch buchstabiert sein. Wir sind sicher, daß
das geht. Bei allem, was wir dafür zu tun haben - in der
Bau- und in der Verkehrspolitik -, werden wir uns immer wieder fragen: Was kann in bezug auf Umweltfreundlichkeit verbessert werden? Denn die Qualität
der Städte und auch die Qualität der Umwelt hängen
entscheidend davon ab, was wir in diesen Arbeits- und
Politikbereichen in den nächsten Jahren erreichen. Deshalb wird darauf einer unserer Hauptaugenmerke liegen.
({4})
Frau Präsidentin, ich sehe, daß ich seit sieben Minuten eine Sieben auf meinem Redezeitdisplay stehen habe. Ich bedanke mich dafür.
Herr Minister, das
liegt nicht an meiner Großzügigkeit, sondern daran, daß
die EDV versagt hat.
Das muß passiert sein, als
ich etwas zur Telematik gesagt habe.
({0})
Sie haben jetzt noch
23 Sekunden.
({0})
Gut, 23 Sekunden.
({0})
Ich bitte den Bundestag und seine Gremien um gute Zusammenarbeit - konstruktiv und, da wo es nötig ist, kritisch. Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fortschritt. Insofern habe ich keine Sorge.
({1})
Ich bin sicher, daß die Wählerinnen und Wähler sehr
bald merken werden, daß es sich gelohnt hat, dieser Koalition eine Chance zu geben.
({2})
Wir haben spannende Jahre vor uns. Ich bin mir dessen
bewußt; ich bin mir aber auch bewußt, daß wir in dieser
Koalition die Chance haben, etwas zu erreichen, was die
alte Koalition nicht geschafft hat, nämlich in diesem
Land noch einmal das Bewußtsein dafür zu wecken, daß
es darum geht, die Lebensqualität zu suchen und zu finden - in den Städten, beim Wohnen und in allen Fragen
der Verkehrspolitik.
In diesem Sinne: Glück auf!
({3})
Ich erteile jetzt dem
Abgeordneten Horst Friedrich, F.D.P., das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Aufbruch und Erneuerung“ steht über der Koalitionsvereinbarung von Rotgrün. Der „Stern“ - normalerweise Rotgrün gegenüber
sehr aufgeschlossen ({0})
titelt: „Aufbruch mit angezogener Bremse“. Recht hat
er, der „Stern“. Denn ich muß zugeben, ich habe selten
zwei Stunden lang nichts in einer Regierungserklärung
gehört, schon gar nichts zur Verkehrspolitik.
({1})
Dabei ist das der größte Investitionshaushalt und damit daran wollen Sie sich ja messen lassen - mitentscheidend für die Arbeitsplatzsituation in Deutschland.
({2})
Es wundert mich allerdings nicht, daß in der Regierungserklärung nichts zur Verkehrspolitik gesagt worden
ist. Denn die Aussagen dazu in der Koalitionsvereinbarung sind eher dürftig. Um Ihnen die gehaltvolle Qualität einmal vor Augen zu führen, gestatten Sie mir ein
Zitat:
Die besonderen Anforderungen an Mobilität gerade
im ländlichen Raum werden berücksichtigt.
Donnerwetter! Das haut einen tatsächlich vom Sockel.
Der Satz ist so gehaltvoll und qualitäthaft, daß einem
dazu nichts mehr einfällt. Das Schlimme ist: Dieser rote
Faden an tollen Aussagen zieht sich durch die ganze
Passage der Koalitionsvereinbarung zum Thema Verkehr. Da, wo Sie konkret werden, geht es ausschließlich
um die Verteuerung des Straßenverkehrs.
({3})
Ich will nur einmal darauf hinweisen, daß wir zum
1. Juli 1998 die Aufhebung der letzten Beschränkung
innerhalb Europas hatten, nämlich des Kabotagevorbehalts. Alles, was Sie national machen, das einseitig zur
Verteuerung des Straßenverkehrs in Deutschland führt,
führt wahrscheinlich - über einige Umwege - zwar nicht
zu weniger Straßenverkehr, aber dazu, daß der Straßenverkehr mit anderen Verkehrszeichen stattfindet und ich gehe einmal davon aus - auch mit anderen Nationalitäten hinter dem Lenkrad. Das sollte man wissen, insbesondere der Finanzminister; denn jeder nicht mehr
unter deutscher Flagge fahrende Lkw kostet ihn, rund
gerechnet, 100 000 DM pro Jahr.
Eine weitere wichtige Frage für die Bauwirtschaft
und für die Arbeitsplätze ist, wie Sie es weiterhin mit
der Finanzierung der Infrastruktur halten wollen. Die
staunende Öffentlichkeit kann im Vorfeld mitbekommen
haben, daß es darum ging, Investitionsmittel von der
Straße auf die Schiene umzuschichten. Die Frage war:
Sind es 2 Milliarden DM, so wie von der SPD verlangt,
oder sind es 3 Milliarden DM, so wie die Grünen vorgeschlagen haben? Ich gehe einmal davon aus, daß es - auf
Grund der Qualität der Verhandlungsführung der Grünen in den Koalitionsgesprächen - wohl eher
2 Milliarden DM sein werden.
({4})
- Verstehen Sie das lieber als Ironie. Ich habe schon
einmal gesagt: Wer wie Sie, bereits auf dem Bauche liegend, in den Koalitionsverhandlungen kriecht, der kann
zumindest physisch nicht mehr umfallen.
({5})
- Dann ziehe ich mich halt wieder auf das Zitat zurück,
lieber Herr Kollege Schmidt, daß Sie bestenfalls auf
Hühneraugenhöhe verhandelt haben; auch das ist eine
bestimmte körperliche Haltung.
({6})
Ich wundere mich allerdings, wie der jetzige Verkehrsminister das seinen Verkehrsministerkollegen aus
den Ländern erklären will, die in einer Verkehrsministerkonferenz im November 1997 in Hannover festgestellt haben, daß für die Finanzierung des Straßenbautitels 4 Milliarden DM fehlen. Diese Verkehrsministerkollegen haben den Bund aufgefordert, dafür Sorge zu
tragen, daß diese 4 Milliarden DM im Straßenbautitel
kurzfristig eingestellt werden sollen. Ich nehme an, daß
diese Forderung der überwiegend von der SPD gestellten Verkehrsminister nicht nur so lange Gültigkeit hatte,
wie CDU/CSU und F.D.P. den Bundesminister für Verkehr gestellt haben. Ich werde Sie an dieser Forderung
messen.
({7})
Lassen Sie mich auch noch einige Gedanken zum
Wohnungsbau anbringen. Herr Müntefering hat in diesem Bereich eigentlich eine glänzende Ausgangsposition
vorgefunden. Durch die qualifizierte Politik von Irmgard
Schwaetzer bereits in der Zeit von 1990 bis 1994 ist erreicht worden, daß man zum damaligen Zeitpunkt sagen
konnte: Statistisch gesehen wird jede Minute in
Deutschland eine Wohnung fertiggestellt. Die Wohnungspolitik der von uns getragenen Regierungen war
und ist durch einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt und
durch sinkende Mieten gekennzeichnet. Wir haben bereits teilweise Leerstände. Die Eigentumsquote in Ost
und West ist gestiegen; allerdings reduziert sich die Zunahme im Baubereich ausschließlich auf den Einfamilienhausbereich. Wenn jetzt in der Koalitionsvereinbarung und dem daraus abgeleiteten Steuerentlastungsgesetz die Immobilienwirtschaft einer der Hauptfinanzierer
Ihrer Steuerreform werden soll, weil zum Beispiel die
geplante vollständige Streichung des Vorkostenabzugs,
die Einschränkung der Verrechenbarkeit von Einkünften
aus Vermietung und Verpachtung, die Verfünffachung
der Spekulationsfrist für Immobilienverkäufe, die Streichung der Werbungskostenpauschale für Einkünfte aus
Vermietung und Verpachtung sowie die Abschaffung
und Kürzung verschiedener Möglichkeiten, in besonderen Fällen anfallenden erhöhten Herstellungs- und Erhaltungsaufwand abzusetzen, sich zu einer Belastungssumme von rund 3,5 Milliarden DM ausweiten, dann
belasten Sie in der Gegenfinanzierung mit dieser Summe
die Immobilienwirtschaft. Das, zusammen mit der geplanten Verschärfung der Grunderwerbsteuer und der
Belastung der Rücklagen der Bausparkassen, summiert
sich dann auf 4 Milliarden DM pro Jahr.
Es ist zu befürchten, daß sich diese „Liste der Grausamkeiten“ genau zum falschen Zeitpunkt in einer Art
und Weise auf den Wohnungsmarkt auswirkt, daß hier
in den nächsten Jahren hausgemachte Probleme auf uns
zukommen werden. Die neue Bundesregierung schafft
mit diesem Gesetzentwurf die Voraussetzungen für die
zukünftige Wohnungsknappheit, vor allem dann, wenn
mit der privaten Vermögensteuer bzw. einer Erhöhung
der Erbschaftsteuer und mit der Reform des Wohnraummietrechts noch weitere wohnungspolitische Grausamkeiten folgen.
Ich fürchte, Herr Minister Müntefering, Ihre Schlußbilanz wird erheblich schlechter aussehen als die Eröffnungsbilanz, die Sie übernehmen durften.
({8})
Die F.D.P. wird Ihre Arbeit außerordentlich kritisch begleiten. Sie können sicher sein, daß wir keinen Ihrer
Fehler unbemerkt verstreichen lassen. Ich wünsche Ihnen allerdings Erfolg zum Wohle von Deutschland und
auch Gesundheit; denn ich habe im Geschäftsverteilungsplan der Bundesregierung gelesen, daß Sie von
Herrn Trittin vertreten werden. Da - das muß ich sagen - sind Sie mir immer noch lieber.
Danke sehr.
({9})
Horst Friedrich ({10})
Nächster Redner ist
der Abgeordnete Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Nach so vielen Liebeserklärungen bin ich
fast versucht, zu fragen, wo ich bei diesem Ranking rangiere, Kollege Friedrich.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Mobilität ist Produkt und Voraussetzung
des Zusammenlebens in einer freien, vernetzten und
technisierten Welt. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bringt dies unmißverständlich zum Ausdruck. Wir werden die Mobilität der Menschen und den Transport der Waren gewährleisten, und
zwar auch der Menschen, die nicht über ein eigenes
Automobil verfügen - das sind oft alte Menschen, Kinder und Jugendliche und Menschen, die sich ein Auto
nicht leisten können oder wollen -, denn Mobilität ist
nicht nur „Automobilität“, sondern auch Mobilität mit
öffentlichen Verkehrsmitteln, die wir ausbauen wollen.
({0})
Ziel eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems muß es
allerdings sein, nicht nur Beweglichkeit zu garantieren,
sondern zugleich die mit den notwendigen Transporten
verbundenen Aufwendungen - den Verbrauch an Energie, Rohstoffen und Flächen sowie die damit verbundenen Emissionen - schrittweise zu reduzieren. Dies verlangt angesichts der hohen verkehrsbedingten Umweltund Gesundheitsbelastungen entscheidende neue Maßnahmen. Es verlangt erstens moderne Logistik zur Vermeidung unnötiger Transportvorgänge. Herr Minister
Müntefering hat dies bereits angedeutet. Es verlangt
zweitens die intelligente Verknüpfung von Verkehrsträgern mit dem Ziel der Verlagerung möglichst großer
Anteile auf die umweltfreundlichen Systeme Bahn und
Schiff. Es verlangt drittens eine Effizienzrevolution der
eingesetzten Technologien vom Dreiliterauto über die
kombinierten Ladungsterminals bis hin zum verbrauchsarmen Leichtbauzug auf der Schiene. Umweltschutz und
moderne Technik gehören zusammen, ganz besonders
im Verkehr.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vieles von dem,
was gestern und heute in diesem Haus schon diskutiert
wurde, wird zu einem schrittweisen Umbau unseres
Verkehrssystems in diesem Sinne beitragen, zum Beispiel die ökologisch-soziale Steuerreform, die Erforschung und Förderung moderner Energietechnik und die
Entwicklung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie.
Grundvoraussetzung aber für die Schaffung eines zukunftsfähigen Mobilitätsentwurfs ist die Herstellung von
Chancengleichheit im Wettbewerb der Verkehrsträger. Das wird die Kernaufgabe der neuen Verkehrspolitik sein; denn alles Reden vom Verkehrsmarkt bleibt
graue Theorie, solange die Konkurrenten auf diesem
Markt, nämlich Straßenverkehr, Schienenverkehr, Luftverkehr und Schiffsverkehr, unter höchst ungerechten
Bedingungen antreten müssen.
({2})
Dabei ist es vor allem die Schiene, die bis heute massiv benachteiligt wurde. Seit Jahren wurde ein zentraler
Grundsatz des 1993 im Rahmen der Bahnreform beschlossenen Allgemeinen Eisenbahngesetzes verletzt,
der da heißt:
Bundesregierung und Landesregierungen haben
darauf hinzuwirken, daß die Wettbewerbsbedingungen der Verkehrsträger angeglichen werden und
daß durch einen lauteren Wettbewerb der Verkehrsträger eine volkswirtschaftlich sinnvolle Aufgabenteilung ermöglicht wird.
Das heißt, ohne den Abbau bestehender Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn läuft auch die Bahnreform ins Leere. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag
({3})
- ich komme darauf noch sehr konkret zu sprechen, Herr
Kollege Friedrich - sehr genau festgelegt, was nach dem
jahrelangen Versäumnis der Ära Wissmann nun zu geschehen hat.
Der bisherige Verkehrswegeplan - das weiß jedes
Kind - beruht auf veralteten Prognosen und Kostenabschätzungen. Er wird dem aktuellen Umweltrecht nicht
mehr gerecht. Er ist vor allem hoffnungslos unterfinanziert. Deshalb werden wir im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für einen umweltverträglichen und effizienten
Verkehr diese Verkehrswegeplanung zügig überarbeiten,
das heißt, rechtlich und finanziell auf eine solide
Grundlage stellen. Dazu gehört insbesondere die Aktualisierung der Daten, die Neufassung der Bewertungsmaßstäbe und die Sicherstellung der Finanzierbarkeit
inklusive der Folgekosten. Eine solche Neuerstellung eines realistischen Verkehrswegeplanes - nicht eines
Wunschzettels an das Christkind - wird nicht nach dem
Marktschreierprinzip, also nach dem Motto, wer am
lautesten schreit, bekommt am meisten, erfolgen, sondern nach nachvollziehbaren Kriterien. Das ist keine
rotgrüne Marotte, sondern der gesetzliche Auftrag. Auch
nach Auffassung des Bundesrechnungshofes ist dies
längst überfällig.
({4})
Zum Transrapid. Ich will diesem besonders umstrittenen Thema gar nicht ausweichen. Sie von der früheren Koalition sind jetzt vielleicht von uns enttäuscht
worden, weil sich Ihre Unterstellung, die Grünen seien
aus dem Prinzip einer verbohrten Technikfeindlichkeit
generell gegen die Magnettechnik, als haltlos und abwegig erwiesen hat. Ich möchte Ihnen sagen, worum es
ganz nüchtern geht. Es geht in dieser Frage ({5})
- Herr Friedrich, hören Sie einmal zu; cool down, baby
- weder um ein Glaubensbekenntnis zu der Strecke
Hamburg - Berlin um jeden Preis - dazu war nicht einmal
Herr Wissmann bereit -, noch geht es um eine quasi religiöse Ablehnung einer Technologie per se. Die Magnetbahn ist kein Atomkraftwerk, sondern eine Verkehrstechnik. Es geht vielmehr wie bei jeder anderen Verkehrsplanung auch um eine nüchterne Wirtschaftlichkeitsberechnung und um eine faire Lastenverteilung
zwischen der öffentlichen Hand, dem Bund und der Industrie. Sonst macht ja das Wort von der öffentlichprivaten Partnerschaft keinen Sinn. Konkret heißt das
für die Strecke Hamburg - Berlin: Gemäß Ziffer 10 des
Eckpunktepapiers vom April 1997, das die damalige
Bundesregierung, die Deutsche Bahn AG und das Industriekonsortium gemeinsam unterschrieben haben, muß
dann über dieses Projekt neu entschieden werden, wenn
die Kosten deutlich steigen. Genau das ist ja offenkundig der Fall, denn für den Fahrweg werden anstatt der
damals festgeschriebenen 6,1 Milliarden DM nunmehr
vom Eisenbahn-Bundesamt Kosten in Höhe von bis zu
knapp 8 Milliarden DM angenommen, und zwar nicht
als Schätzwerte, sondern größtenteils auf der Basis von
Ausschreibungsergebnissen.
Herr Kollege
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Wolf?
Herrn Dr. Wolf immer gerne.
Herr Kollege Schmidt, Sie
haben gerade den Transrapid angesprochen und sind
noch dabei, über die - salopp gesagt - wackelpuddingartige Stellungnahme zum Transrapid-Projekt im
Koalitionsvertrag zu reden. Ich möchte Sie fragen, ob
Sie Kenntnis davon haben, daß im Bundesausschreibungsblatt Nr. 27 vom 2. November 1998 der gesamte
Transport der Überbauten für die Magnetbahnstrecke
Hamburg - Berlin inklusive detaillierter Spezifikationen
ausgeschrieben wird. Dabei wird als Schlußtermin für
die Bewerbungen der 27. November 1998 angegeben
und der Beginn der Bauarbeiten für Mai nächsten Jahres
terminiert. Ist Ihnen das bekannt? Kann das vielleicht
bedeuten, daß Herr Müntefering gegen die Position der
Grünen diese Ausschreibung lanciert hat?
Herr Dr. Wolf, das Bundesausschreibungsblatt vom 2. November 1998 habe ich leider nicht gelesen.
({0})
Ich nehme aber gerne zur Kenntnis, daß Planungsbehörden immer eine gewisse Zeit brauchen, bis sie die veränderten politischen Rahmenbedingungen begreifen. Ich
kenne das auch von anderen Verkehrsprojekten her. Ich
gehe davon aus - ich will Ihnen ganz präzise sagen, was
wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben -,
({1})
daß sich Bund, Bahn und Industrie gemäß dem, was sie
selbst vertraglich vereinbart haben, nun zusammensetzen und gemeinsam überlegen müssen, wie es weitergeht. Im Klartext heißt das, daß einer von den drei Partnern 2 bis 3 Milliarden DM auf den Tisch legen muß;
oder die Strecke Hamburg - Berlin wird nicht zu realisieren sein.
({2})
Ich sehe nicht, daß der Bund dies tun wird. In der Koalitionsvereinbarung ist das ausgeschlossen. Ich sehe nicht,
daß die Bahn das tun wird. Ihr Vorstandsvorsitzender
hat das in einer öffentlichen Stellungnahme ausgeschlossen. Es bleibt die Industrie. Wenn ich mir die
wirtschaftlichen Probleme von Siemens und Adtranz anschaue, so erwarte ich zumindest keine Sensationen. Ich
sehe diesen Gesprächen mit großer Gelassenheit entgegen.
Lassen Sie mich noch klar und eindeutig etwas dazu
sagen, wie die Bahnreform zu geschehen hat. Wir haben sehr präzise festgelegt, daß wir die Möglichkeiten
zur Senkung von Trassenpreisen nutzen wollen. Es kann
nicht sein, daß nur für den Schienenweg, nicht aber für
den Straßenverkehr das Prinzip der vollen Deckung der
Wegekosten gilt. Ferner wollen wir Maßnahmen zur Sicherung eines fairen und diskriminierungsfreien Wettbewerbs von Bahnunternehmen auf der Schiene ergreifen. Außerdem wollen wir schrittweise die Benachteiligung der Bahn bei den für Infrastrukturmaßnahmen vorgesehenen Investitionen im Bundeshaushalt abbauen.
Für die Länder ist von entscheidender Bedeutung - das
ist die Abwehr eines Anschlags der alten Bundesregierung auf den Schienennahverkehr -, daß wir die Mittel
für die Regionalisierung bei der Bestellung von Nahverkehr auf der Schiene garantieren werden. Das schafft
Planungssicherheit und Spielräume von Angebotsverbesserungen von Bremen bis Berchtesgaden. Das ist für
jeden Landesverkehrsminister von größter Bedeutung.
({3})
Wir werden uns aber nicht nur um die Trassenpreise
im Bereich der Schiene kümmern, sondern auch um die
Preise im Bereich der Straße. Herr Minister Müntefering
hat es angesprochen, daß die bisherige EUJahresvignette keine Zukunft hat. Sie muß durch eine
leistungsbezogene und damit gerechtere elektronische
Gebührenerhebung ersetzt werden, die den tatsächlichen
Wegekosten näherkommt. Auch dies wird eine Verlagerung des Güterverkehrs auf Schiene und Schiff befördern. Gleichzeitig werden damit auch die entsprechenden Impulse aus den traditionellen Transitländern
Schweiz und Österreich für eine moderne europäische
Verkehrspolitik aufgegriffen.
Albert Schmidt ({4})
Damit komme ich zu einem heiklen Punkt, den ich
nicht ausklammern möchte: Tempolimit. So sehr wir es
begrüßen, daß Städte und Gemeinden künftig leichter
und unbürokratischer Tempo 30 innerorts als Regelgeschwindigkeit ausweisen können, so sehr bedauern wir
es, daß es nicht möglich war, uns auf ein Tempolimit für
Autobahnen und Bundesfernstraßen zu einigen.
({5})
Ich will nichts schönreden. Das ist für uns Grüne an dieser Stelle eine klare Niederlage und mehr als nur ein
Schönheitsfehler.
({6})
Das ist um so bedauerlicher, Herr Kollege Friedrich,
als es nichts gekostet, aber viel für die Verkehrssicherheit, für die Kraftstoffeinsparung und auch für eine CO2Reduktion beim Verkehr gebracht hätte, die wir gerade
in diesem Bereich so dringend brauchen.
({7})
Deshalb halte ich fest: Dieser Aufgabe werden wir uns
auf Dauer, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, stellen müssen, und sei es im Rahmen einer Harmonisierung entsprechender Vorschriften auf europäischer Ebene.
Es besteht ein enger Zusammenhalt zwischen nachhaltiger Siedlungsentwicklung und Verkehrsvermeidung. Zersiedelung erzeugt Verkehr und Abhängigkeit
vom Auto. Integrierte Wohnbaustandorte mit Anbindung an den ÖPNV vermeiden Verkehr im Sinne einer
Stadt der kurzen Wege. Deshalb ist die Zusammenlegung des Bau- und des Verkehrsministeriums eine
Chance, die Impulse für eine nachhaltige Siedlungs- und
Verkehrspolitik zu stärken. Diese Chance wollen wir
nutzen.
Für uns Bündnisgrüne stehen die Stärkung der
Innenentwicklung der Städte und die Begrenzung der
Zersiedelung in den nächsten Jahren ganz oben auf der
politischen Agenda. Die Koalitionsvereinbarungen bieten hierfür sehr gute Voraussetzungen. Wohnungsbaupolitik ist nicht mehr vorrangig nur Neubaupolitik. Auch
dieser Punkt wurde schon angesprochen. Durch die ganze Bandbreite der Instrumente wird zukünftig vor allem
auch die Bestandsentwicklung gestärkt: von der Städteund Wohnbauförderung über die CO2-Minderung bis hin
zur Bodenpolitik.
({8})
Herr Kollege
Schmidt, ich muß Sie an Ihre Redezeit erinnern.
({0})
Wir werden das Programm „Soziale Stadt
für bedrohte Stadtteile“ schnell beginnen und mit ausreichenden Mitteln ausstatten. Wir werden dafür sorgen,
daß Bauherren mit kleinem Geldbeutel nicht auf Mehrbelastungen sitzenbleiben,
({0})
sondern wir werden uns für eine Stärkung des CO2Minderungsprogramms einsetzen.
Herr Kollege
Schmidt, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Frau Präsidentin, ich komme zum allerletzten Satz.
({0})
Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung über
eine Kollegin, die zwar nicht anwesend ist, die aber eine
Erwähnung verdient hat.
({1})
Wir bedauern es sehr, daß die bisherige verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, die Kollegin Elke
Ferner, nicht mehr dem Bundestag angehört.
Herr Kollege
Schmidt, Ihre Redezeit ist wirklich abgelaufen.
Um so mehr freuen wir uns, daß sie uns als
Staatssekretärin mit ihrem ganzen Sachverstand und
Charme in Zukunft als Partnerin zur Verfügung stehen
wird. In diesem Sinne: Auf gute Zusammenarbeit und
auf einen fairen Wettbewerb!
Herr Kollege
Schmidt, ich muß Ihnen jetzt wirklich das Wort entziehen.
({0})
Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Christine
Ostrowski, PDS.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Gesetzentwurf zur Anhebung des Wohngeldes ab 1. Januar 1999 wird - da bin
ich mir sicher - eine Sternstunde für den Bundestag bedeuten. Denn die rechte Seite dieses Hauses hat vier Jahre lang das Wohngeld versprochen; die linke Seite hat
vier Jahre lang eine Wohngeldreform gefordert; die
Albert Schmidt ({0})
PDS handelt. Ich stelle also eine für das Hohe Haus seltene Einmütigkeit fest. Die Mieter und Mieterinnen
werden es zu danken wissen.
({1})
Im Ernst: Mieter, Wohnungswirtschaft, Länder und
Kommunen sind der verbalen Wohngeldbekenntnisse
überdrüssig - und zu Recht. Der Kanzler teilte der interessierten Öffentlichkeit mit - ich zitiere -: Die Wohngeldreform steht auf der Agenda einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung ganz oben. - Entschuldigung, die ganz oben auf der Agenda stehende Wohngeldreform versprach Herr Schröder, als er noch nicht
Kanzler war. Jetzt ist er Kanzler. Nun sucht man aber
diesen Punkt ganz oben auf der Agenda vergeblich. In
der Regierungserklärung - das wurde schon gesagt kam das Wohnen, das mehr als nur ein Dach über dem
Kopf ist, nicht vor.
Dennoch ist mein Optimismus ungebrochen. In einer
Broschüre des Mieterbundes trat die F.D.P. für eine Anhebung des Wohngeldes zum 1. Januar 1999 ein; Herr
Fischer wollte die Reform am liebsten zum gleichen
Termin, spätestens aber am 1. Juli 1999; die CDU wollte
sie so schnell wie möglich.
Frau Kollegin
Ostrowski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Kansy?
Aber bitte schön, Herr
Kansy.
Frau Kollegin, wie Sie wissen, wird ja das Wohngeld zur Hälfte
vom Bund und zur anderen Hälfte von den Ländern gezahlt. Auch die SPD-regierten Bundesländer hätten in
der letzten Legislaturperiode schon initiativ werden
können. Aber die Finanzminister waren dagegen.
Könnten Sie sich eine Initiative des Landes Mecklenburg-Vorpommern für eine drastische Wohngelderhöhung vorstellen?
Ich kann mir das sehr
gut vorstellen. Zum einen habe ich bedauert, daß die
SPD in der letzten Wahlperiode über den Bundesrat keine Gesetzesinitiative eingebracht hat. Zum anderen denke ich, daß Mecklenburg-Vorpommern - die PDS stellt
ja in Mecklenburg-Vorpommern den Bauminister; wir
sind mit Herrn Holter im Gespräch; das ist vielleicht der
Hintergrund Ihrer Frage - in diesem Bereich aktiv wird.
Wie gesagt, ich sehe zwischen allen Fraktionen Einmütigkeit. Ich baue natürlich auch auf Ihre Unterstützung.
({0})
- Sie müssen schon mitziehen. So geht es ja nun nicht.
Sie hatten ja 1994 eine Unterstützung in dieser Sache
versprochen.
Ich komme zurück zur jetzigen Regierung. Die
Koalitionsvereinbarung ist auf dem Gebiet der Wohnungspolitik dünn. Sie bleibt hinter dem Reformstau in
der Wohnungspolitik, der dringend aufgelöst werden
müßte, absolut zurück. Diesbezügliche Kritiken haben
Sie bereits seitens der Wohnungswirtschaft, des Mieterbundes und der Gewerkschaften geerntet.
Auch in puncto Wohngeld findet sich in der Koalitionsvereinbarung zwar eine schöne Formulierung; aber
so schön sie ist, so unbestimmt ist sie auch. Dabei wissen Sie ganz genau, daß das Wohngeld seine Entlastungsfunktion verloren hat, daß im Westen in den letzten Jahren die Höhe der Mieten um 35 Prozent gestiegen
ist, daß es im Bereich des Wohngeldes zu einer Nullrunde kam usw. Ich will jetzt nicht alle Argumente aufzählen; sie sind zur Genüge ausgetauscht worden.
Auch im Osten nützt das Wohngeldüberleitungsgesetz immer weniger, weil durch die Verteuerung der
Mieten nach einer Modernisierung der Wohnungen die
Situation für große Bevölkerungsgruppen ausgesprochen
problematisch wird. Ich darf darauf hinweisen, daß die
Höhe der Nebenkosten steigt. Das hat zwar unmittelbar
mit dem Wohngeld nichts zu tun, aber mit der Wohnkostenbelastung. Denn der Mieter bzw. die Mieterin muß
zahlen, und das Monat für Monat.
Wenn Sie den Mietenbericht 1997 anschauen, dann
ist interessant, daß über die Jahre hinweg die Wohngeldausgaben und die Zahl der Empfänger von Wohngeld
steigen. Das ist eine Tendenz, die auf den kritischen Zustand in der Gesellschaft hinweist. Sie muß vor allem
durch den Abbau der Arbeitslosigkeit umgekehrt werden.
Was jetzt aber unmittelbar erforderlich ist, ist eine
Erhöhung bzw. eine Anpassung des Wohngeldes, und
zwar nicht nur im Interesse der Mieterinnen und Mieter
oder etwa der Wohnungswirtschaft, sondern vor allem
im Interesse des Staates. Denn eine ausreichende Höhe
des Wohngeldes stärkt die Binnennachfrage, auf die Sie,
meine Damen und Herren von der Regierung, zu Recht
sehr viel Wert legen.
Die Wohngeldreform hätte also zu Ihren ersten Initiativen gehören müssen. Denn Sie, meine Damen und
Herren von der SPD, stehen im Wort. Es nützt alles
nichts: Sie hatten die alte Regierung kritisiert, und zwar
hart. Ich zitiere Herrn Großmann aus seiner Rede vom
7. Mai 1998:
Die wohnungspolitische Bilanz dieser Regierung ist
beschämend . . . neues Mietrecht: Fehlanzeige;
Städtebauförderung: ein Torso; Fehlsubventionierungen im frei finanzierten Mietwohnungsbau: keine Initiativen . . .; sozialer Wohnungsbau: kaputtgespart . . . ; Wohngeld: Wortbruch.
- Fürwahr, recht hatte er.
Es ist kabarettreif, wenn Ihnen jetzt ausgerechnet die
F.D.P. putzmunter einen Wortbruch vorwirft. Aber hatte
nicht der Kanzler in seiner Regierungserklärung energisch betont, daß die neue Regierung kein Abziehbild
der alten sein wird? Das steht durchaus zu befürchten,
auch wenn ich jetzt voller Freude gehört habe, daß MiChristine Ostrowski
nister Müntefering immerhin für 1999 Aktivitäten angekündigt hat.
Die Steuermehreinnahmen in Höhe von 1,2 Milliarden DM auf Grund der Streichung der Vergünstigung
bei der Eigenheimzulage, die für die Verbesserung des
Wohngeldes genutzt werden sollten, scheinen passé zu
sein. Ebenfalls vom Tisch ist die auch von den Grünen
gewünschte Senkung der Einkommensgrenzen für die
Gewährung der Eigenheimförderung als eine andere Finanzierungsquelle.
Wir wollen die Miethöchstbeträge in Ost und West
sofort um durchschnittlich 20 Prozent anheben und
wollen einen pauschalen Inflationsausgleich in Höhe
von 1 800 DM. Diese überfällige Wohngeldanhebung
in Ost und West ist machbar und finanzierbar. Sie kostet
Bund und Länder 1,5 Milliarden DM. Finanzierungsspielräume sehen wir insbesondere für den Fall, daß man
einmal die steuerlichen Instrumente durchforsten würde,
zum Beispiel im Bereich der Förderung von Luxuswohnungen, wie der Kanzler sagte. Wo er recht hat, hat er
recht. Wir stimmen ihm zu.
({1})
Freuen Sie sich also: Wir helfen Ihnen, liebe Regierung,
lieber Herr Minister, Ihre Wahlversprechen zu erfüllen.
Dann möchte ich noch eine Bemerkung an die rechte
Seite dieses Hauses machen in bezug auf den Slogan
„Wir nehmen die Herausforderung an!“ bzw. in bezug
auf die Aussage: Wir sind bereit, die Oppositionsrolle zu
übernehmen. Meine Damen und Herren von der
CDU/CSU und der F.D.P., wo sind denn dann Ihre Anträge? Die hätte ich heute erwartet. Vielleicht müssen
Sie als Opposition noch vieles lernen. Nehmen Sie sich
ein Beispiel an uns, an der PDS! Lassen Sie der Worte
genug gewechselt sein; lassen Sie uns endlich Taten sehen! Denken Sie an die Sternstunden, die wir gemeinsam erleben können, und stimmen Sie dann, wenn es
darauf ankommt, unserem Gesetzentwurf zu.
Danke.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Daß der Verkehr als vorletzter Bereich der Regierungserklärung an dieser Stelle steht, kommt . . .
nicht von ungefähr. Denn so dürftig, wie die Koalitionsvereinbarungen an der Stelle sind, kann man
dieses Thema wahrlich nicht besser plazieren.
Das war die Aussage, die die damalige SPDSprecherin Ferner, die heutige Staatssekretärin, im November 1994 als Einleitung ihrer Rede zur Regierungserklärung genutzt hat. Das war damals polemisch und
falsch. Es ist heute mehr als zutreffend. In der jetzigen
Regierungserklärung kommt Verkehrspolitik überhaupt
nicht vor. Ich meine, das ist, was die Wertschätzung dieses Bereiches anbelangt, ein außerordentlich schlechter
Start für die Verkehrspolitik und den Minister.
({0})
Hinzu kommt der Fehlstart von Minister Müntefering
und seinem Ministerium. Er bringt einen großen Stab
überwiegend fachfremder Gefolgsleute mit, entläßt fast
alle Abteilungsleiter
({1})
und entzieht damit sich und dem Ministerium erheblichen Fachverstand.
({2})
Sein rabiates Vorgehen hat selbst vor parteilosen Fachleuten nicht halt gemacht.
Frau Ferner hat vor zwei Jahren Verkehrsminister
Wissmann ungerechtfertigt Personalpolitik nach Gutsherrenart vorgeworfen. Jetzt ist sie Staatssekretärin und
betreibt zusammen mit ihrem Minister einen personalpolitischen Kahlschlag, der eine schwere Zukunftshypothek darstellt.
({3})
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung
nichts zur Verkehrspolitik gesagt. Also halten wir uns an
die Koalitionsvereinbarung. Für mich waren die Formulierungen zur Verkehrspolitik zunächst eine Überraschung. Ich hatte eigentlich erwartet, die Verkehrspolitik
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus der Oppositionszeit wiederzufinden,
({4})
wie zum Beispiel die Streichung aller Mittel für den
Straßenbau, dafür Förderung des Fahrradverkehrs als
bundespolitische Aufgabe, generelle Tempolimits, Stop
des Ausbaus von Wasserstraßen,
({5})
Stop des Transrapid, Stop für Schienenneubaustrecken
usw.
({6})
Doch, meine Damen und Herren, nichts davon! Die drastische Wende um 180 Grad kann ich mir nur damit erklären, daß mit Übernahme der Regierungsverantwortung die Rückkehr zur Realität unumgänglich wurde.
({7})
Also halten wir fest: Was Rotgrün bisher vertreten
hat, war falsch. Die Kritik an der Politik der bisherigen
Bundesregierung war nach jetzigem Eingeständnis unberechtigt.
({8})
Ich glaube, dennoch bleibt in der Koalitionsvereinbarung genug, das Stoff für Kritik und Alternativen bietet.
Ich denke, ein großes Problem wird sich abzeichnen.
Die Vorstellungen der Bündnisgrünen finden sich in
keinem der verkehrspolitischen Kernpunkte wieder.
Damit ist wohl erhebliches Streitpotential bei der künftigen Umsetzung vorprogrammiert. Minister Trittin wartet
damit noch nicht einmal, bis der zuständige Bundesminister seine Ziele vorgestellt hat. Er macht bereits im
Vorfeld deutlich, daß er die Vorgaben der Verkehrspolitik diktieren will.
In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“
hält er den Einstieg in die Energiebesteuerung für unausgewogen, fordert noch höhere Benzinpreise und dazu eine deutliche Reduzierung der Straßenbauinvestitionen. Trotz der Priorität für die Schiene erteilt er dem
Schienenfernverkehr eine Absage. Das ist, wie ich glaube, der Rückfall in die bekannte, unrealistische grüne
Ideologie, die nur ein Ziel hat: die Mobilität der Bürger
zu behindern und schwere volkswirtschaftliche Schäden
für unser Land in Kauf zu nehmen.
Trittin kündigt damit dem Koalitionspartner die
Hauptthese der Koalitionsvereinbarung, die lautet:
Wir wollen ein Verkehrssystem, das die Mobilität
aller Menschen flächendeckend und umweltverträglich gewährleistet . . . Eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist für die Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands von zentraler Bedeutung.
Er sieht dies, wie er sagt, sehr entspannt. Ich bezweifle, daß unsere Bürger, deren Mobilität behindert
wird, und die Wirtschaft - insbesondere die Verkehrswirtschaft und die Bauindustrie mit ihren Arbeitsplätzen,
die auf Investitionen im Verkehrsbereich angewiesen
sind -, dies auch so entspannt sehen werden.
Wir werden Bundesminister Müntefering daran zu
messen haben, ob er in der Lage ist, die Attacken von
Trittin abzuwehren und eine zukunftsgerechte Verkehrspolitik zu gestalten. Verkehrspolitik ist, wie wir mehrfach festgestellt haben, in der Koalitionsvereinbarung
eher dürftig abgehandelt worden. Es lohnt sich hier
nicht, auf jeden einzelnen Punkt einzugehen und ihn zu
kommentieren.
Die Forderung nach flächendeckender und umweltgerechter Mobilität aller Menschen war immer auch unser
Anliegen. Wir begrüßen deshalb die Einsicht von SPD
und Grünen, daß Verkehrsinvestitionen für nachhaltiges
Wachstum unverzichtbar sind.
Vorsicht ist aber geboten, wenn die Umsetzung ökologischer Ziele so einseitig und so deutlich als Vorbedingung genannt wird. Die Grünen werden jeden laichenden Frosch oder jeden Wachtelkönig, ob gesehen,
ob gehört oder nur vermutet, vorschieben, um den Ausbau einer Straße, einer Schienenstrecke oder einer Binnenwasserstraße zu verhindern.
({9})
Meine Damen und Herren, damit können Arbeitsplatzchancen in der Mobilitätswirtschaft sehr schnell zunichte gemacht werden.
Dagegen ist, wie ich glaube, die Aussage zur Mobilität im ländlichen Raum für die Menschen sehr enttäuschend. Von den Forderungen der Wahlprogramme ist
nichts wiederzufinden. Statt dessen werden die Kosten
für Berufspendler, die auf das Auto angewiesen sind,
durch die Anhebung des Benzinpreises und durch die
Einführung einer Entfernungspauschale deutlich erhöht.
({10})
Auf der anderen Seite finden wir es ganz erfreulich,
daß an der Priorität für den Aufbau Ost festgehalten
wird. Wir werden genau verfolgen, ob die vordringlichen Projekte auch zügig realisiert werden. Dies ist für
die neuen Bundesländer sehr wichtig; denn nur mit einer
guten Verkehrsinfrastruktur kann der wirtschaftliche
Aufschwung gelingen.
({11})
Im Wahlprogramm wollten die Grünen der organisatorischen Bahnreform noch eine verkehrspolitische folgen lassen. Damit ist quasi eine zweite Bahnreform angekündigt worden; das heißt ein Mehr an staatlichem
Einfluß und ein Weniger an Wirtschaftlichkeit.
({12})
Hier hat sich die SPD zum Glück vernünftiger gezeigt.
Die Rückkehr zur Subventionsmentalität früherer Zeiten
würde das Scheitern der Reform bedeuten, die sich jetzt
Gott sei Dank auf erfolgreichem Weg befindet. Der interfraktionelle Konsens in der Bahnreform, Herr Minister, ist von hohem Wert. Für uns ist er ziel- und verhaltensabhängig. Wenn wir entschlossen daran festhalten, werden wir Ihre Arbeit unterstützen.
({13})
Meine Damen und Herren, nach all dem Theater um
den Transrapid staune ich doch, aber ich freue mich
auch über die neue Einsicht zu einem grundsätzlichen Ja
der Koalition zur Strecke Hamburg - Berlin und zur
Weiterentwicklung und Anwendung der Magnetschwebetechnik in Deutschland. Das hört sich ganz anders an
als das, was wir hier in den leidenschaftlichen Debatten
immer gehört haben und was uns vorgeworfen worden
ist.
({14})
Von den nun folgenden Taten hängt es ab, ob diese
Freude anhält. Wir jedenfalls sind zur Kooperation bereit.
Die Verbesserungen des Lärmschutzes im Verkehr
ist ein Schwerpunktthema für die Legislaturperiode.
Damit sind wir einverstanden. Dies kann allerdings nicht
nur für Bundesverkehrswege gelten; es muß vielmehr
Dirk Fischer ({15})
für alle Verkehrswege gelten. Es bleibt abzuwarten, wie
sich Länder und Kommunen angesichts der zu erwartenden erheblichen finanziellen Auswirkungen verhalten
werden. Aber immerhin: Die Koalition hat im Bundesrat
eine Mehrheit. Deswegen werden wir dem Ziel sicherlich näherkommen.
({16})
Der kombinierte Verkehr wird stiefmütterlich, die
Binnenschiffahrt wird nur am Rande behandelt, die Seeschiffahrt wird gar nicht erwähnt. Die Aussagen zum
Luftverkehr sind erfreulich, weil die Grünen mit ihren
Forderungen ganz offensichtlich gescheitert sind.
({17})
Allerdings sind die Aussagen der Koalitionsvereinbarung überholt, weil die gemeinsame Strategie von Bund
und Ländern bereits vorhanden ist und gar nicht erst geschaffen werden muß.
Abschließend ein Wort zur Verkehrssicherheit, die
sich nicht nur auf größere Spielräume für Fußgänger und
Radfahrer beschränken darf. Ich meine, die vergangene
Bundesregierung hat eine hervorragende Schlußbilanz
abgeliefert.
({18})
Das wird die Meßlatte sein. Erfolge wird es nach meiner
Einschätzung in Zukunft nur durch Kooperation und
Förderung des Verständnisses der Verkehrsteilnehmer
geben. Martialischer Dirigismus würde hier völlig in die
Irre führen und kontraproduktiv sein.
({19})
Der Start der Verkehrspolitik dieser neuen Koalition
ist nach meiner Einschätzung mißlungen. Die Abwandlung des Kanzlerleitspruches gilt wie auch in anderen
Bereichen: Wir machen nur wenig anders und gar nichts
besser.
({20})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt die
Zusammenlegung der bislang getrennten Ministerien für
Bau und Verkehr, und zwar nicht nur deshalb, weil damit ein sichtbares Zeichen für die Verschlankung des
Staates gesetzt worden ist.
({0})
Denn die Chancen dieser Zusammenführung liegen auf
der Hand. So ist die Verkehrspolitik eng verknüpft mit
Fragen, die die Raumordnung betreffen. Auch die Entwicklung der Städte und des städtischen Umlandes mit
dem Ziel, eine lebenswerte Umwelt zu erhalten oder
wieder zu erschaffen, ist ohne die enge Verknüpfung
wohnungspolitischer und verkehrspolitischer Aspekte
nicht möglich.
({1})
Funktionierende Verkehrssysteme spielen nicht nur in
einem zusammenwachsenden Europa eine immer größere Rolle. Sie haben entscheidende Bedeutung für den
reibungslosen Austausch von Waren und die zunehmende Mobilität von Personen. Sie bestimmen auch die Lebensqualität in den Ballungsräumen wie auf dem flachen
Land und den Zustand unserer Umwelt.
({2})
Daraus erwachsen Zielkonflikte, die von der Verkehrspolitik eine sorgfältige Interessenabwägung,
gleichzeitig aber auch klare Prioritätensetzungen verlangen. Die Verkehrspolitik der Vergangenheit, die allein
auf den verkehrlichen Nutzen einer Maßnahme schaute,
ist erkennbar gescheitert.
({3})
Deshalb müssen im Verkehrssystem der Zukunft die
verschiedenen Verkehrsträger dort zum Zuge kommen,
wo ihre jeweiligen Systemvorteile optimalen Nutzen
bringen. Zentrale Voraussetzung für eine neue Politik,
meine Damen und Herren, ist eine Infrastrukturplanung, die deutlicher als bisher den Vernetzungs- und
Verknüpfungsgedanken der verschiedenen Verkehrsträger in den Vordergrund stellt.
({4})
Es gilt, der Lösung der Schnittstellenproblematik
zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern höchste
Priorität einzuräumen, und es gilt, sinnlose Parallelplanungen zu vermeiden. Dies ist nicht nur verkehrspolitisch geboten, sondern angesichts der leeren Kassen
auch eine zwangsläufige Konsequenz.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Bundesregierung bei der Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplans nachdrücklich und, wenn nötig, auch kritisch unterstützen. Gestatten Sie mir als ostdeutscher, als Thüringer Abgeordneter den Hinweis, daß ich mit besonderer Freude den Satz im verkehrspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarung zur Kenntnis genommen habe, wonach an der Priorität für den Aufbau Ost festgehalten
wird. Das, meine Damen und Herren, sollte auch der
thüringische Ministerpräsident zur Kenntnis nehmen.
({5})
Dirk Fischer ({6})
Werte Kolleginnen und Kollegen, zu einem integrierten Gesamtverkehrskonzept gehört natürlich der gesamte Instrumentenkasten: von der Fiskalpolitik über die
Angleichung der europäischen Wettbewerbsbedingungen bis hin zu flankierenden ordnungspolitischen Maßnahmen. In den nächsten Wochen wird im zuständigen
Ausschuß Gelegenheit zu einer eingehenden Debatte
aller nötigen Elemente einer neuen Verkehrspolitik bestehen.
Der Ausschuß wird sich aber auch sehr intensiv mit
der Wohnungspolitik zu beschäftigen haben, um Versäumnisse und Fehlentwicklungen der letzten Jahre
möglichst bald zu korrigieren, damit auch hier eine neue
Politik eingeleitet werden kann.
({7})
Einer der wichtigsten Bereiche ist dabei der soziale
Wohnungsbau. Wir finden es richtig, daß hierbei auch
verstärkt auf die Bestandsförderung Einfluß genommen
werden soll.
Meine Damen und Herren, den Kommunen muß eine
Alternative zur Baulandausweisung im städtischen
Umfeld geboten werden. Es sind die überhöhten Preise,
die zu einer fortwährenden Ausdehnung der Speckgürtel
führen - mit allen negativen Auswirkungen für die städtischen Zentren. Wir müssen Städten und Gemeinden
die Möglichkeit geben, dieser Entwicklung gegenzusteuern.
In der Städtebauförderung sehen wir einen starken
Motor für die soziale, bauliche, wirtschaftliche und auch
arbeitsmarktpolitische Entwicklung. Sie hat eine wichtige Katalysatorfunktion für private Investitionen. Die
städtebaulichen Sünden der Vergangenheit, gerade in
den Großwohnsiedlungen, verlangen ein integriertes
Konzept, und deshalb begrüßen wir auch, daß in der Koalitionsvereinbarung das Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt“ vereinbart wird.
({8})
Wir sind froh darüber, daß der Bauminister das KfWProgramm für die neuen Bundesländer angesprochen
hat. Hier wollen wir sicherstellen, daß es fortgeführt
wird und in den Haushaltsberatungen nach Möglichkeit
auch finanziell ordentlich ausgestattet wird.
Wir müssen auch unter dem Aspekt der Leerstände in
den neuen Ländern die Privatisierungsverpflichtungen
nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz kritisch unter die Lupe nehmen
({9})
und dabei die besonderen ostdeutschen Interessen im
Wohnungsmarkt berücksichtigen.
Zum Schluß möchte ich noch einen kurzen Satz zu
einem Thema sagen, das mir am Herzen liegt, nämlich
zum Wohngeld. Wir brauchen so bald wie möglich eine
gesamtdeutsche Wohngeldnovelle. Wir brauchen sie für
die Mieterinnen und Mieter mit niedrigen Einkommen;
wir brauchen sie vor allen Dingen für die Familien mit
Kindern. Ich begrüße es sehr, daß der Minister hier angekündigt hat, daß er sehr bald Klarheit schaffen will.
({10})
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie
gern zu einer konstruktiven Arbeit hier im Hause einladen, um Lösungen für die anstehenden Probleme zu finden. Eines funktioniert nämlich nicht: Sie haben 16 Jahre lang regiert; Sie haben im sozialen Wohnungsbau gekürzt; Sie haben die Städtebauförderung zurückgefahren; Sie haben zehn Jahre lang beim Wohngeld nichts
gemacht. Und wir sollen das jetzt in 14 Tagen alles geklärt haben. Das Ganze geht nach dem Motto: „Haltet
den Dieb! Er hat mein Messer im Rücken.“ Das ist kein
gutes Miteinander. Lassen Sie uns gemeinsam ordentlich
anfangen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ich schließe
damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/19 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Themenbereich Umwelt. Ich
eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die bisherige Debatte hat deutlich
gemacht, daß man zu Beginn der Diskussion noch einmal herausarbeiten muß, was in der Vergangenheit geleistet wurde, daß Bilanz gezogen werden muß vor dem
Hintergrund, daß die neue Koalition versucht, alles
schlechtzureden, um sich dann um so besser profilieren
zu können.
Ich halte fest: Wir haben in bezug auf den Umweltbereich in den vier Jahren der letzten Legislaturperiode
ebenso wie in den letzten 16 Jahren der Regierungszeit
eine ausgesprochene Erfolgsbilanz vorzuweisen.
({0})
Daß es sich um eine Erfolgsbilanz handelt, wird nicht
nur von uns so gesehen. Das wird auch von den gesellschaftlichen Gruppen anerkannt, und wird auch im internationalen Bereich so gesehen. Ich kann zum Beleg
auch namhafte Sozialdemokraten zitieren, die in einem
Positionspapier schon 1997 festgehalten haben, daß die
klassischen Umweltprobleme wie Schadstoffbelastung
von Luft und Wasser und insbesondere die Probleme im
Abfallbereich gelöst sind. Ich will darauf nur noch einmal hinweisen. So weit sind selbst wir nicht gegangen
wie Vahrenholt und Clement.
({1})
Die Wasserqualität der Fließgewässer hat sich in den
letzten Jahren hervorragend entwickelt.
({2})
Wir haben die Schadstoffbelastung in der Größenordnung eines zweistelligen Prozentbereiches heruntergeführt, bei Quecksilber um 90 Prozent, bei Kadmium um
76 Prozent, bei Kupfer um 85 Prozent, bei Chrom um
95 Prozent - um nur einige Positionen zu erwähnen.
Diese Situation gibt es in keinem Industriestaat der Welt
und auch nicht in Schwellenländern. Das ist eine Umweltpolitik, deren Erfolge akzeptiert werden.
({3})
Vor diesem Hintergrund will ich nur darauf verweisen, daß wir im Gewässerschutz Fortschritte erzielt haben, aber daß wir auch Initiativen zum Schutz der Meere
vorgelegt haben - Initiativen zum Schutz der Ostsee, Initiativen zum Schutz der Nordsee.
Was sehe ich jetzt im Moment? Es gibt ein Frachterunglück; es gibt die Katastrophe des Frachters „Pallas“
vor Amrum. Was erlebe ich? Wird am nächsten oder am
übernächsten Tag gehandelt? Wird innerhalb einer Woche gehandelt? Nichts geschieht; es wird zugeschaut.
Das hätten wir uns in unserer Regierungszeit einmal erlauben sollen, so lange nichts zu tun.
({4})
Sie wären mit fünfzehn Anfragen über uns hergefallen;
Sie wären gleichzeitig mit Aktuellen Stunden gekommen - das behalten wir uns noch vor - und hätten gefragt: Warum tut diese Regierung nichts?
Sie hatten doch lange genug Zeit für Vorüberlegungen. Jetzt kommen Sie nicht und sagen, Sie wären nicht
im Amt! In Schleswig-Holstein ist Herr Steenblock im
Amt. Er hat das erst heruntergeredet und hat dann gemerkt, daß die Katastrophe größer ist, als er auf Grund
seiner mangelnden Wahrnehmung zunächst wahrhaben
wollte. So kann man Umweltpolitik nicht betreiben.
({5})
Ich sage ganz deutlich: Das ist eine schlechte Einführung.
({6})
Herr Trittin kann heute aus verständlichen Gründen
nicht hier sein. Ich respektiere das und hoffe, daß er von
dieser Konferenz gute Erfolge mitbringen wird - worauf
wir noch einmal zurückkommen werden. Aber das Haus
insgesamt hätte durchaus reagieren können. Und auch
der Kollege Müntefering war mit dem, was er vorhin
gebracht hat - leise hat er eine Prüfung in Aussicht gestellt, aber bislang auch nichts in die Wege geleitet -,
nicht gerade eine Glanznummer. Und das ist einer Ihrer
führenden Leute! So können wir das nicht angehen:
nicht handeln, zuschauen. In der letzten Legislaturperiode hätten wir uns damit Vorwürfe über Vorwürfe eingefangen! Herr Schmidt, was hätten Sie uns alles gesagt!
Ich habe gesehen, wie Sie reagiert haben, als Müntefering hier vortrug. Das war entlarvend.
({7})
Meine Damen und Herren, die Gesetzgebungsverfahren, die wir in den letzten Jahren durchgesetzt haben unter anderem das Umweltauditgesetz, das Ozongesetz,
Gesetze zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, der Erlaß eines Bodenschutzgesetzes -, eröffnen
neue Instrumente für den Umweltschutz. Das Bodenschutzgesetz ist einmalig in dieser Welt. Es gibt kein
Vorsorgeinstrument gleicher Art in einem anderen Land.
Ähnliches werden Sie erst leisten müssen. Im Umweltschutz haben Sie uns bedauerlicherweise blockiert,
obgleich wir wirklich sehr gute Initiativen gezeigt
haben. Wir haben die Idee des Naturschutzes - wegen
Ihres Widerstandes - nicht in der Form umsetzen können, wie wir dies wollten. Aber wir haben es immerhin
geschafft, daß die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie
umgesetzt wurde und wir jetzt wenigstens auf dieser Basis weiterarbeiten können. Schade, daß es nicht anders
ging.
Sie müssen einfach sehen, daß all das, was wir im
Landschaftsschutz, was wir im Biotopverbund erreichen
konnten, auf der Basis dessen, was wir vorgeschlagen
haben, wesentlich besser hätte realisiert werden können.
({8})
Wenn man weitere Flächen für den Naturschutz
braucht, dann braucht man die Akzeptanz der Betroffenen, dann braucht man die Akzeptanz der Landwirte.
({9})
Und dazu braucht man - da hilft Ihr Störfeuer gar
nichts - die Ausgleichsabgabe. Wie wollen Sie es denn
sonst handhaben? Wenn auf anderen Feldern kein gesellschaftlicher Konsens da ist, sagen Sie: Wir verzichten auf diese Maßnahme. - Unter Kernenergieaspekten
kommen wir darauf noch einmal zurück.
In der Frage des Biotopverbundes hingegen wollen
Sie die schleichende Enteignung. Aber wir werden nicht
zulassen, daß die Landwirte unter Ihrer schlechten Politik leiden. Außerdem ist mit solch einer Politik keine
Umweltschutzpolitik erfolgreich zu führen.
Man macht Umweltschutz mit den Betroffenen, nicht
Umweltschutz gegen die Betroffenen.
({10})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
mit der geplanten 25prozentigen Reduzierung von CO2
ein national anspruchsvolles Klimaschutzziel formuliert.
Dr. Klaus W. Lippold ({11})
Das ist im Moment in Buenos Aires wieder im Gespräch. Die Hälfte der Einsparung haben wir seitdem
schon erreicht.
({12})
- Ich wußte doch, daß Sie das bestreiten. Aber Sie können es nicht; die Zahlen sprechen gegen Sie. Das muß
gesagt werden, damit wir sehen, ob Sie in der zweiten
Hälfte dieses Zeitraumes die anderen 50 Prozent, die wir
noch leisten müssen, erreichen. Wir werden Sie daran
messen, ob es nur schöne Worte gab oder ob es statt
schöner Worte Taten gab.
Machen wir uns noch eines deutlich. Sie haben für
die Klimakonferenz hervorragende Zeichen gesetzt:
Ausstieg aus der Kernenergie
({13})
und - mit Ihrem neuen Wirtschaftsminister - Einstieg in
die großen Kohlekraftwerke. Was wollen wir den
Schwellenländern, was wollen wir den Chinesen, den
Indern sagen, wenn es darum geht, welche Art von
Energie sie erzeugen. Sollen wir sagen: „Erzeugt regenerative Energie!“?
({14})
Der Wirtschafts-Müller in diesem Lande setzt auf
Braunkohlekraftwerke.
({15})
- Hören Sie auf, Herr Schmidt, Sie wollen das ja nicht.
Jedes Kraftwerk emittiert zusätzlich CO2. Das ist der
Sachverhalt, um den es hier geht. Das müssen wir Ihnen
um die Ohren hauen.
({16})
Das Erstaunliche ist - ich vereinfache jetzt einmal -:
Auf der einen Seite gibt es den Umwelt-Müller - das ist
der Kollege, der hier vor mir sitzt -, und der sagt, wir
brauchen eine Energierevolution, wir brauchen regenerative Energien, kleine Einheiten. Auf der anderen
Seite steht in dieser Regierung der Wirtschafts-Müller.
Umwelt-Müller sagte:
Das einseitige Setzen auf Großkraftwerke wird keine Lösung sein, ganz gleich ob es sich um Kohle-,
Atom- oder andere Kraftwerke handelt.
Was lese ich beim Wirtschafts-Müller?
Wir können nicht gegen die Kernkraft sein und zugleich auch gegen jeden Bau von Kraftwerken,
sonst verlieren wir den größten Einzelinvestor in
unserem Land.
Dann sagt er ganz klar:
Wenn der Neubau von konventionellen Kraftwerken nicht akzeptiert wird, wäre ich der erste, der
sagt: Laß das sein mit dem Energiekonsens.
Das muß man sich einmal zu Gemüte führen: Großkraftwerke oder „Laß das sein mit dem Energiekonsens“! Meine Damen und Herren, wo ist denn da die
Logik? Sie steigen aus, Sie vermehren die CO2Emissionen, Sie kündigen indirekt schon den Energiekonsens auf.
Ich habe manchmal, wenn ich das lese, Zweifel. Ich
hatte zunächst gedacht, Herr Stollmann macht ein halbes
Jahr. Er ist aber vorzeitig abgetreten - der erste Fall, daß
einer erst gar nicht angetreten ist. Wenn ich diese Auseinandersetzungen so verfolge, vermute ich, daß der
Wirtschafts-Müller das nächste Jahr nicht als Minister
erleben wird.
({17})
Ich sage es einmal so: Es ist hanebüchen, was Sie
sich leisten. Der Sachverhalt ist doch, daß Werner Müller sagt: Wir wollen aus der Kernenergie aussteigen,
aber bitte nicht ganz schnell und bitte nicht sofort. Dann
fügt er laut „Süddeutscher Zeitung“ hinzu, er hege Zweifel, ob in absehbarer Zeit auf die Kernkraft ohne jegliche
Optionen für eine Weiternutzung in 50 Jahren verzichtet
werden könne.
Also: Zuerst schaffen wir mit den Sozialdemokraten
Kernkraftwerke, dann steigen wir mit Rotgrün aus, das
Know-how geht verloren, und Herr Müller glaubt, das
ließe sich in 50 Jahren beliebig ändern, obwohl die
weltweite Entwicklung ganz anders verlaufen wird, als
Sie sich das zusammenträumen. Das kann doch wohl
nicht wahr sein! Wo ist da das Konzept? Wo ist da die
Logik? Das trägt von der Denke her doch ganz deutlich
die Handschrift des derzeitigen Kanzlers.
Dazu hat die „Süddeutsche Zeitung“ gesagt: Hohle
Worte klingen manchmal voller. - Recht hat die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrem Kommentar. Richtig ist das:
hohle Worte, kein Konzept, keine Inhalte. Wir können
greifen, was wir wollen: Alles ist falsch.
Ich komme zurück zur Klimaschutzpolitik. Ich glaube, es ist unbestreitbar, daß Deutschland im internationalen Umweltschutz eine Vorreiterrolle hat.
({18})
- Das werden wir erst einmal sehen.
Ich sage ganz offen: Wir sind da anders als Sie. Der
Umwelt-Müller hat bei der vorletzten Regierungserklärung gesagt, Frau Merkel bekäme keine Schonzeit. Wir
gehen mit der Regierung fairer um. Ich bin der Meinung: Die Leute sollen sich erst einarbeiten können, bevor man sich mit ihnen richtig auseinandersetzt. Diese
Form von Unfairneß, die Sie praktiziert haben, werden
Sie bei uns nicht erleben.
Aber wir werden natürlich darauf achten, ob Herr
Trittin jetzt mit adäquaten Ergebnissen nach Hause
kommt. Wir werden diese Ergebnisse an dem messen,
Dr. Klaus W. Lippold ({19})
was Rotgrün zu Oppositionszeiten gesagt hat. Dann
werden wir sehen, ob er bestehen kann.
({20})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt Passagen in Ihrer Koalitionsvereinbarung und auch in der
Regierungserklärung, von denen man sagen kann: Das
scheint in die richtige Richtung zu gehen. Das wollen
wir akzeptieren. Sie haben in der Regierungserklärung
von Selbstverpflichtung geredet - etwas, was Sie früher total bestritten haben. Damit setzen Sie einen neuen
Akzent. Aber auch hier werden wir sehen, ob Sie dabei
bleiben. Die Frage ist doch, ob, wenn es auf der einen
Seite Selbstverpflichtung gibt, der Einstieg in Ökosteuern auf der anderen Seite noch gerechtfertigt ist.
Da gibt es eine Studie, die Herr Schröder in Auftrag
gegeben hat, nicht wir. Die besagt, daß Ökosteuern zur
Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Das war eine
von Herrn Schröder in Auftrag gegebene Studie. Damit
sollte man sich einmal auseinandersetzen. Wenn er dann
in der Regierungserklärung sagt, daß die Zeit nationaler
Alleingänge vorbei ist, dann frage ich: Gilt das jetzt
auch für diese Form von Ökosteuern? Oder ist das wieder nur ein nicht ausgeräumter Widerspruch, weil Sie
nicht vorgedacht haben und in der Kürze der Zeit nicht
zu Ende gekommen sind?
Wir werden Sie kritisch begleiten, nicht nur in diesen,
sondern auch in anderen Fragen. Wir werden Sie dort
unterstützen - im Gegensatz zu Ihnen -, wo Deutschland
das braucht, weil der Umweltschutz im Ausland mit
Unterstützung der Opposition vorangetrieben werden
muß und nicht anders.
({21})
Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen. Wir werden Sie hier kritisch begleiten. Das versprechen wir Ihnen.
Herzlichen Dank.
({22})
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Simone
Probst.
Simone Probst, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lippold hat es angesprochen: Zur Zeit laufen die Klimaverhandlungen in Buenos Aires. Umweltminister Trittin ist dort, um deutlich zu machen, daß
wir uns der internationalen Verantwortung bewußt sind
und aktiv an der Klimaproblematik mitarbeiten wollen.
Unser Ziel ist, daß die Beschlüsse von Kioto in sehr
konkrete Arbeitsprogramme umgesetzt werden. Wir
wollen sicherstellen, daß die Industrieländer ihre eingegangenen Verpflichtungen zur Reduktion der Treibhausgase vorrangig im eigenen Land umsetzen. Denn
nur wenn die Industrieländer Maßnahmen bei sich selbst
in die Wege leiten, sich an ihre Vorgaben halten und
die Vorreiterrolle, die sie beschworen haben, wirklich ernst nehmen, wird man Länder des Südens - bei
uns immer Entwicklungsländer genannt - dazu bringen können, in ihrer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung zur Reduktion von Treibhausgasen beizutragen.
({1})
Die Klimaverhandlungen sind nur ein Beispiel für die
großen Herausforderungen im globalen Umweltschutz.
({2})
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lippold?
Ja, gerne.
Sie
haben gerade gesagt, daß Sie die Entwicklungsländer in
die Lage versetzen wollen, auf diesem Weg mit uns hervorragend zusammenzuarbeiten. Das setzt Mittel voraus.
Sie haben in der Vergangenheit immer kritisiert, daß die
Quote gesunken ist. Wenn ich die Regierungserklärung
lese, kann ich darin nicht finden, daß sie angehoben oder
verdoppelt werden soll. Herr Schröder hat lediglich gesagt, der Trend soll gestoppt werden. Heißt das, daß Sie
sich mit der erreichten Quote zufriedengeben, und ist
das eine positive Wertung unserer Arbeit?
Das ist es mit Sicherheit nicht. Ich wollte es
nicht so scharf formulieren. Wir glauben, daß wir
strukturell eine andere Energiepolitik bei uns machen
und eine Vorreiterrolle spielen müssen, um zu zeigen,
wie es anders geht, damit es überhaupt möglich wird,
das CO2-Ziel, wie Sie es sich vorgenommen haben, zu
erreichen. Ihnen haben alle Institute bescheinigt, daß mit
Ihrer Wirtschaftspolitik, mit Ihrer Energiepolitik, mit Ihrer Umweltpolitik Ihr hehres Ziel unmöglich erreicht
werden kann, geschweige denn im vorgegebenen Zeitraum.
({0})
Ich werde darauf noch eingehen.
Dr. Klaus W. Lippold ({1})
Das Leitbild, das uns in der Umweltpolitik in das
21. Jahrhundert führt, ist das der Nachhaltigkeit. Herr
Kollege Kampeter, Sie wissen genau, daß Nachhaltigkeit sowohl im Umweltausschuß als auch in allen anderen Politikbereichen Fuß gefaßt hat. Wir freuen uns,
Umweltpolitik als Querschnittsaufgabe zu verstehen.
Deshalb werde ich meine Aufgabe dort sehr ernst nehmen.
Die nachhaltige Entwicklung ist sowohl ein Gebot
der ethischen Verantwortung als auch ein Gebot der Zukunftsfähigkeit unseres Landes und unserer Wirtschaft.
Denn wenn wir wirtschaftspolitisch vorankommen wollen, werden wir neue Kriterien an Produkte, Verfahren
und Dienstleistungen anlegen müssen: ein schonender
Verbrauch von Energie, Rohstoff und Flächen und eine
größtmögliche Nutzung erneuerbarer Ressourcen. Die
Staaten, die es rechtzeitig schaffen, ihre Energie- und
Ressourceneffizienz zu verbessern, werden davon auch
wirtschaftlich profitieren. Wir glauben, daß uns der
Weg, Energieeffizienz voranzutreiben, wirtschaftlich
voranbringen wird.
({2})
Strom und Wärme, Wind, Sonne, Erdgas, Biogas,
moderne Verkehrssysteme durch Bus und Bahn, das
Dreiliterauto, neue Bau- und Werkstoffe, moderne
Steuerungs- und Mikrosystemtechnik für umweltschonende Produktionsverfahren, langlebige und reparaturfreundliche Produkte, das sind die großen Chancen für
eine kreative Wirtschaft, und auch nur das wird neue
Arbeitsplätze schaffen.
({3})
Deshalb hat die Bundesregierung die ökologische
Modernisierung zum Schwerpunkt ihrer neuen Technologie- und Industriepolitik gemacht. Das zentrale Anliegen unserer Steuer- und Abgabenreform ist es, Beschäftigung zu fördern und umweltbewußtes Handeln zu belohnen. Mit einer abgestuften und kalkulierten Belastung
des Energieverbrauchs werden wir die Sozialversicherungsbeiträge senken.
({4})
In der Europäischen Union werden wir eine Initiative
zur Abschaffung der Steuerbefreiung für Kerosin und
Schiffahrtsbrennstoffe und des Herstellerprivilegs starten.
({5})
Nur mit diesen preislichen Anreizen werden Produktion
und Konsum auf Umweltschutz und Innovation hin gelenkt, von denen Sie immer geredet haben. Wir werden
das umsetzen; denn die Zukunft wird dem produktionsintegrierten Umweltschutz gehören.
({6})
Wir stehen zum CO2-Reduktionsziel von 25 Prozent
bis zum Jahre 2005. Dazu sind besonders im Bereich der
Energieeffizienz erhebliche Anstrengungen notwendig.
Deshalb werden neben der Energieeinsparung die Energieeffizienz und die erneuerbaren Energien Vorrang bei
uns haben. Dazu gehört das 100 000-Dächer-Programm
zur Förderung der Solarenergie. In der Stromerzeugung
werden wir Anreize dafür schaffen, daß Kraftwerke mit
hohem Wirkungsgrad und der besonders breite Einsatz
der Kraft-Wärme-Kopplung Fuß fassen werden.
Zum Klimaschutz gehören besonders Maßnahmen im
Verkehr. Deshalb werden wir ein Gesamtkonzept für einen modernen umweltverträglichen Individualverkehr
erarbeiten und mit einer stufenweisen Erhöhung der Mineralölsteuer die Attraktivität verbrauchsarmer Fahrzeuge erhöhen. Wir werden ferner Anreize geben, die das
Umsteigen auf den öffentlichen Personennahverkehr erleichtern.
Mit dem Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie werden wir eine grundsätzliche Neuorientierung der
Energiewirtschaft einleiten. Herr Lippold, auch Sie wissen, daß das Ziel, die CO2-Emissionen um 25 Prozent zu
reduzieren, nur mit einem Ausstieg aus der Nutzung der
Kernenergie erreicht werden kann und nicht ohne.
({7})
- Bleiben Sie bei der Frage des Ausstiegs ganz ruhig.
Wir werden ihn zügig in drei Schritten umsetzen.
Im ersten Schritt werden wir das Atomgesetz novellieren, den Förderzweck streichen und die Atomgesetznovelle von 1998 rückgängig machen. Im zweiten
Schritt werden wir noch in diesem Jahr zu Gesprächen
über einen neuen Energiekonsens einladen, um weitere
Voraussetzungen zur Beendigung der Nutzung der
Atomenergie und zur Regelung der Entsorgungsfragen
möglichst im Konsens festzulegen. Im dritten Schritt
werden wir im Atomgesetz den Ausstieg durch die Befristung der Betriebsgenehmigungen entschädigungsfrei
regeln.
({8})
Das Entsorgungskonzept, das Sie der Bevölkerung
angeboten haben, ist gescheitert. Deshalb wird die neue
Bundesregierung ein neues Entsorgungskonzept mit einem nationalen Entsorgungsplan für radioaktive Abfälle
erarbeiten.
Unsere Gesamtstrategie der Nachhaltigkeitspolitik Sie haben bereits darauf hingewiesen, leider in scharfen
Tönen - läßt sich nur im Konsens mit allen gesellschaftlichen Gruppen umsetzen. Ich halte auch die CDU für
eine gesellschaftliche Gruppe und bitte in der Auseinandersetzung um einen anderen Ton.
({9})
Erst wenn wir die Gestaltungskraft von Unternehmen,
wissenschaftlichen Einrichtungen und allen gesellschaftlichen Gruppen ausschöpfen, kann das Prinzip der
Nachhaltigkeit Wirklichkeit werden. Deshalb wollen wir
dort, wo wir handeln können, dies auch stringent tun. In
den Verwaltungsverfahren werden wir die Rolle der gesellschaftlichen Gruppen stärken, den Verbänden ein
Klagerecht einräumen
({10})
und das zersplitterte Umweltrecht in einem Umweltgesetzbuch zusammenführen und effizienter und bürgernäher gestalten.
Zur Sicherung der natürlichen und naturnahen Flächen - hier gilt unser Augenmerk ganz besonders den
Gebieten in den neuen Ländern - werden wir einen Gesetzentwurf für einen modernen Natur- und Landschaftsschutz vorlegen. Unsere Zielgröße ist es, 10 Prozent der Flächen als Vorrangflächen für den Naturschutz
und die Landschaftspflege vorzusehen. Das soll dann
über ein Biotopverbundsystem weiterentwickelt werden.
({11})
Nur so können die Tier- und Pflanzenarten geschützt
werden.
Die Bilder der ölverschmierten Vögel an den Stränden von Amrum und Föhr alarmieren uns alle.
({12})
- Wir haben schnell gehandelt. Umweltminister Trittin
hat das Thema auf die Tagesordnung der Umweltministerkonferenz in der nächsten Woche gesetzt. Wir werden alles daransetzen, daß schnelle Hilfe garantiert wird.
In der Bodenschutz- und Altlastenverordnung sind
längst nicht alle Probleme gelöst. Deshalb werden wir in
den Entwürfen ein Konzept der Entsiegelung und Renaturierung von Flächen einbeziehen.
({13})
Die Sanierung von Altlasten wird im notwendigen Umfang vorangetrieben werden. Wir werden sicherstellen,
daß die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen und
vor allem die Entscheidungswege kürzer werden.
({14})
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Carstensen?
Ja, bitte.
({0})
Doch, der ist schon im Umweltausschuß gewesen, Frau
Lemke, als der Umweltausschuß eingerichtet wurde.
Aber ich war auch gerne in anderen Ausschüssen und
freue mich immer, wenn ich Sie im Agrarausschuß sehe.
Frau Staatssekretärin, darf ich bitte die Frage stellen,
an welchem Punkt die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Katastrophe der „Pallas“ schnell gehandelt hat? Ich wohne auf einer der davon betroffenen Inseln. Wenn ich mich richtig erinnere, ist Herr Steenblock, der ja nun Umweltminister in Schleswig-Holstein
ist, das erste Mal vorgestern nacht auf Amrum gewesen.
Er ist abends gekommen, hat sich im Dunkeln dort informiert und ist am nächsten morgen vor Tag und Tau
wieder abgefahren. Wann hat die Bundesregierung reagiert? Das würde mich interessieren.
Es ist sofort in Zusammenarbeit mit den Ländern reagiert worden. Sie wissen genau, daß die Hilfe
nicht daran gemessen werden kann, ob jemand als Katastrophentourist vor Ort erscheint. Es ist sicherlich immer
gut, sich zu informieren. Aber es ist wichtiger, daß die
Hilfe in den Ministerien bereitgestellt wird und daß insbesondere in der nächsten Umweltministerkonferenz
Beschlüssse zwischen Bund und Ländern erarbeitet
werden.
({0})
Das war ein unvorhersehbarer Unfall. Wir haben alle
gehofft, daß so etwas nicht passiert. Es ist auch wichtig,
daß wir daraus lernen, wie Hilfe schneller vor Ort geleistet werden kann.
({1})
Sie möchten
noch eine Nachfrage stellen, Herr Carstensen? - Bitte.
Frau Staatssekretärin, ich habe am Montag im Verteidigungsministerium angerufen. Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß ich folgende Antwort aus dem Verteidigungsministerium bekommen habe: Wir wissen
noch nichts Offizielles von dieser Katastrophe. Es hat
noch nicht einmal eine Anfrage gegeben. Wir haben
nicht einmal Informationen aus Kiel bekommen. Deswegen können wir dort keine Hilfe leisten. - Die Katastrophe dauert schon mehr als 14 Tage an. Ich wundere
mich, daß Sie da von einer schnellen Hilfe sprechen.
({0})
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich
der Auffassung bin, daß das nicht stimmt. Es ist müßig,
hier die Fragen der Zusammenarbeit von einer Landesregierung mit dem Verteidigungsministerium und dem
Verkehrsministerium, die hervorragend funktioniert hat,
zu debattieren.
({0})
Ich sage zu, daß wir schnell helfen werden. Ich hoffe auf
Ihre Unterstützung dafür, daß wir hier entsprechende
Beschlüsse für eine schnellstmögliche Hilfe verabschieden können. Ich bitte auch um die Mitwirkung auf der
Umweltministerkonferenz nächste Woche.
({1})
Ich erfülle
noch die Bitte der Kollegin Kristin Heyne um eine Zwischenfrage. Weitere Zwischenfragen werde ich aber zu
diesem Redenbeitrag nicht mehr zulassen. Bitte.
Frau
Staatssekretärin, ich möchte Ihnen folgendes zur Kenntnis bringen, da ja hier auch Anmerkungen laut Geschäftsordnung erlaubt sind.
({0})
- Bitte schauen Sie in die Geschäftsordnung. Danach
sind bei einer Zwischenfrage auch Anmerkungen erlaubt.
Es hätte die Schlepperkapazität an der Nordseeküste
in dieser Form überhaupt nicht mehr gegeben, wenn wir
nicht - obwohl wir noch nicht in der Regierung waren dafür gesorgt hätten, daß der damalige regierende Verkehrsminister, also bevor die jetzige Regierung gebildet
wurde, die Verträge für die Schlepperkapazität verlängert hätte. Es ist sehr bedauerlich, daß der Schlepper
nicht rechtzeitig dasein konnte. Aber wenn in den letzten
Wochen jemand dafür gesorgt hat, daß es eine gewisse
Sicherheit an der Nordseeküste gegeben hat, Herr Carstensen - daran haben wir alle ein Interesse -, dann waren wir das; denn es ist nicht der letzte Verkehrsminister
gewesen. Der hat sich einfach um nichts mehr gekümmert. Wir haben das aus der Opposition heraus veranlaßt.
({1})
Die Umweltpolitik ist nicht nur eine Aufgabe
zwischen Bund und Ländern, sondern auch eine zentrale
Aufgabe im Rahmen der Europäischen Union. Deshalb
werden wir, wenn wir am 1. Januar 1999 die EURatspräsidentschaft übernehmen, diese dazu nutzen,
Umweltpolitik gemeinschaftlich weiter voranzubringen.
Dieses gilt für eine gemeinschaftliche Klimaschutzstrategie, für den Gewässerschutz und für eine sich in der
Vorbereitung befindende EU-Wasserrahmenrichtlinie,
über die wir dort entscheiden müssen.
Gerade weil die Europäische Union als politische
Handlungsebene für uns einen so herausragenden Stellenwert hat, muß es ein Anliegen sein, daß die EGRichtlinien fristgerecht in nationales Recht umgesetzt
werden. Deshalb geht es uns vorrangig um die Umsetzung der sogenannten IVU-Richtlinie, die das Zulassungsverfahren für Industrieanlagen regelt, und natürlich
um die Umsetzung der EG-Richtlinie Fauna-FloraHabitat. Die neue EG-Biozidrichtlinie werden wir durch
ein Biozidgesetz umsetzen.
Die Umweltprobleme stellen sich heute global - das
ist in vielen Bereichen angesprochen worden - und können nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst
werden. Wir werden als Partner in der EU dazu unseren
Beitrag leisten, daß die internationalen Verhandlungen
im Umweltbereich vorangebracht werden und zugleich
auch auf internationale Umweltmindeststandards zum
Beispiel im Welthandel, bei den Auslandsinvestitionen
und insbesondere bei der Exportförderung geachtet wird.
Darauf wollen wir hinwirken.
Die neue Bundesregierung wird sich dafür einsetzen,
daß Umweltschutz endlich nicht mehr in der Nische
bleibt, wie es in der letzten Legislaturperiode leider der
Fall gewesen ist. Wir werden uns dafür einsetzen, daß
Umweltschutz ein ganz selbstverständlicher Anspruch
unseres Lebens und unseres Wirtschaftens wird.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
({0})
Ich gebe mir Mühe wie
immer, Kollege Kampeter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
gerade gehört, mit welchem Nachdruck sich die neue
Bundesregierung für die Umweltpolitik einsetzt. Nach
diesen Ankündigungen habe ich eigentlich erwartet, daß,
weil die Nachhaltigkeit eine Querschnittsaufgabe darstellt, die Besetzung auf der Regierungsbank im Hohen
Hause etwas größer wäre.
({0})
Ich stelle fest, daß das Interesse der Ministerinnen und
Minister dieser neuen Bundesregierung sehr nachhaltig
zu wünschen übrigläßt.
({1})
Kommen wir zum Thema Koalitionsvereinbarung
und Regierungserklärung und zu den diversen Äußerungen der neu gewählten Regierungsmitglieder. Diese Äußerungen zeigen nämlich allesamt die innere Zerrissenheit der neuen Regierung. Die Koalitionsvereinbarung
beinhaltet offene Widersprüche, aber auch eine Vielzahl
von schwammigen und interpretierbaren Formulierungen, die das Bild prägen. Zum Beispiel steht in der Koalitionsvereinbarung, daß der Kohlekompromiß von
1997 umgesetzt werden soll. Das wird von Herrn Trittin,
unterstützt vom neuen nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Steinbrück, dann aber gleich öffentlich
in Frage gestellt. Es heißt, man müsse, wenn man Kernkraftwerke abschalte, der Kohle wieder größere Bedeutung beimessen. Das kollidiert nun in der Tat mit dem
CO2 -Minderungsziel.
({2})
Es soll uns einmal einer erklären, wie man so schnell
wie möglich Kernkraftwerke abstellen will, wenn man
auf der anderen Seite aber überhaupt nicht die Kapazitäten hat, um die Energieversorgung sicherzustellen. Das
geht nur mit dem Einsatz von mehr Kohle, das geht nur
mit der Aktivierung alter Kraftwerke, und das geht nur
mit einem höheren CO2-Ausstoß. Das ist widersprüchlich bis ins Tezett.
({3})
Zwischen den vollmundigen Ankündigungen einer
ökologischen Erneuerung Deutschlands, wie Sie das
immer zu nennen pflegen, und der mageren Regierungserklärung des Kanzlers, überflüssige Umweltschutzvorschriften zu streichen, um damit die Regelungsdichte zu
vermindern, liegen nun einmal Welten. Was will diese
neue Koalition eigentlich in der Umweltpolitik, frage ich
mich. Der Nebel hat sich auch nach der Regierungserklärung in keiner Weise gelichtet. Alte Kamellen allerorts, allerdings ohne Struktur. Weder bei der Bio- und
Gentechnologie noch in der Abfallwirtschaft ist eine Linie zu sehen - auch nicht, wenn es um das Thema Instrumente im Umweltbereich geht.
Schauen Sie sich doch nur einmal die Formulierung Formulierungen muß man sagen; man hat dem Thema
breiten Raum zugemessen, ohne daß viel drinsteht zum Thema Bio- und Gentechnologie an. Aus jeder
Formulierung spricht das gegenseitige Mißtrauen. Der
Obersatz, daß man Bio- und Gentechnologie durchaus
einen Stellenwert einräumen müsse, ist wahrscheinlich
von der SPD. Die Konditionierungen - die Spiegelstriche - sind offensichtlich von den Grünen, aber genauso
schwammig. So stellt es sich auch dar, wenn man die
Debatte zur Regierungserklärung verfolgt.
Frau Bulmahn hat uns eben erklärt, sie wolle über
Aufklärung Akzeptanz für diese Technologie erreichen.
Auf der anderen Seite hat Herr Trittin in der „Welt am
Sonntag“ vom 8. November 1998 bereits erklärt, er
wolle das Gentechnikgesetz verschärfen. Das sind Widersprüche. Es geht nach dem Motto: Fortschritt - ja
bitte, aber ohne Risiko. Natürlich muß man mit Technik
verantwortungsvoll umgehen
({4})
und Risiken minimieren.
({5})
Das haben wir auch immer gesagt. Aber Sie können
nicht jedes Risiko ausschalten. Und genau das machen
Sie mit den Formulierungen in Ihren Erklärungen.
({6})
Wer jedes Risiko ausschalten will, vergibt alle Chancen.
Sie müssen endlich einmal lernen, daß das so nicht geht.
({7})
Oder schauen Sie sich die Kreislaufwirtschaft an.
Ich war schon sehr erstaunt, wie mager die Äußerungen
nach dem, was wir in der letzten Legislaturperiode gehört haben, zu diesem Thema waren. Da steht der Satz ich zitiere -: „Zur Abfallvermeidung und Stärkung der
Produktverantwortung sind vor allem ökonomische Anreize notwendig.“
({8})
Erstens. Als wir das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz auf den Weg gebracht haben, ist das von Ihnen blockiert worden.
Zweitens. Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen
und Bürger, die unter der Höhe der Müllgebühren ächzen, was Sie davon halten, wenn Sie an der Stelle von
zusätzlichen „ökonomischen Anreizen“, also von Verteuerungen, reden! Wahrscheinlich ist Ihnen noch gar
nicht aufgefallen, daß eben auch das eine Lenkung ist.
Oder schauen Sie sich einmal das Thema Duales System
an!
({9})
Beim Dualen System haben wir eine Preisstaffelung, die
dem Material entsprechend greift, das heißt, je ökologischer, desto billiger das Material. Auch das ist eine Lenkung über den Preis, die man eingeführt hat. Das bedeutet, daß Lenkung über den Preis längst Realität ist.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?
Bitte.
Frau Kollegin, bei der Art,
wie Sie die Problematik der Abfallgebühren angesprochen haben, haben Sie nicht zugegeben, daß die Kalkulationen, die gerade durch Ihre Regierung verursacht
worden sind, zum Beispiel durch den gewaltigen Ausbau der Müllverbrennungsanlagen, dazu geführt haben,
daß die Preise enorm in die Höhe gegangen sind.
({0})
In den Gebieten, wo das nicht gemacht worden ist und
wo eine sinnvolle Planung gemacht worden ist, die auf
eine zukünftige Produktion von Gütern, die tatsächlich
in Kreisläufe geführt werden können, ausgerichtet ist,
sind die Preise noch erträglich.
Frau Kollegin Griefahn,
ich habe den Eindruck, wir leben in absolut unterschiedlichen Welten. Wenn Sie sich einmal vor Augen führen,
wie die Situation Anfang der 90er Jahre war, dann werden Sie sehen, daß wir damals alle von Müllbergen gesprochen haben und daß wir alle nicht mehr gewußt haben, wie wir das Problem bewältigen sollen. Damals
sind die Deponien übergelaufen; es waren nicht genügend Müllheizkraftwerke vorhanden. Zu Beginn des Inkrafttretens der Verpackungsverordnung und des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes bestand wirklich eine Situation, die unhaltbar war.
Was ist zwischenzeitlich geschehen? Die Müllmengen sind drastisch zurückgegangen. Wir haben mit unserer Politik, mit der Einführung der Kreislaufwirtschaft,
den Bau von zig Müllheizkraftwerken unnötig gemacht
und damit den Gebührenzahlerinnen und Gebührenzahlern Milliardenbeträge erspart, die auf Grund unserer
Politik nicht investiert werden mußten. Das ist die Realität. Auch das müssen Sie bitte einmal zur Kenntnis
nehmen.
({0})
Das Fazit der ersten Diskussionsrunde um die umweltpolitischen Maßnahmen lautet also: Wenn man sich
diese Koalitionsvereinbarung ansieht, dann erkennt man,
daß nichts ausdiskutiert ist. Nur eines ist ganz klar festgelegt: Der Umweltschutz wird mißbraucht. Wer nämlich einem Bündel von Steuererhöhungen, die zur Finanzierung von Wahlversprechen auf ganz anderem Gebiet eingesetzt werden, das Etikett „ökologisch“ aufklebt, der verspielt den Kredit, den der Umweltschutzgedanke in der Bevölkerung heute genießt.
({1})
In drei Jahrzehnten haben alle amtierenden Bundesregierungen durch Gesetze, durch Werbung und Aufklärung zur Bildung eines positiven Umweltbewußtseins
beigetragen. Das heute in der Bevölkerung verbreitete
Interesse, ja das Engagement, sogar die Opferbereitschaft für den Schutz der Umwelt sind ein Ergebnis dieser Politik und keine Selbstverständlichkeit. Wenn also
Ökologie als süßer Verführer benutzt wird, um bittere
Pillen leichter verabreichen zu können, dann schadet das
der Akzeptanz von Umweltpolitik schlechthin. Sie haben in der Umweltpolitik einen glatten Fehlstart hingelegt.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Homburger, ich
finde es lustig, daß Sie eben sagten: Ich glaube, wir leben in verschiedenen Welten. Das habe ich oft gedacht,
wenn ich Sie reden hörte, als wir in der Opposition waren. Nun machen wir das einmal mit umgekehrten Vorzeichen. Es ist schön, daß Ihnen der Satz auch eingefallen ist.
({0})
- Sie haben auch recht. Ich glaube, wir leben in der Tat
in verschiedenen Welten, und ich freue mich darauf, daß
wir jetzt über neue Perspektiven der Umweltpolitik
sprechen können und nicht immer nur Defizite, Versäumnisse und Stillstand anprangern müssen.
({1})
Wir, die SPD und die Bündnisgrünen, werden gemeinsam mit dieser Bundesregierung beweisen, daß wir
es besser machen können
({2})
und daß mit der Stagnation und sogar dem Rückschritt
der letzten Jahre Schluß ist. Wir wollen eine zukunftsweisende Umweltpolitik. Frau Homburger, wir diskutieren ja heute nicht zum erstenmal darüber. Sie wissen
schon, was wir einbringen werden. Ganz so nebulös, wie
Sie es beschrieben haben, ist es für Sie sicherlich nicht.
({3})
Wir wollen jedenfalls nicht, daß uns die Europäische
Union überholt, die Sie nämlich erst durch Mahnungen
der Kommission oder durch Urteile des Europäischen
Gerichtshofs auf Trab gebracht hat.
({4})
Da gibt es einige Richtlinien, die Sie unzureichend oder
überhaupt nicht umgesetzt haben, weswegen Sie vor
dem Europäischen Gerichtshof standen oder dies zumindest angedroht wurde.
Wir wollen keine Umwelt- und Energiepolitik, die
unseren Kindern und Enkeln untragbare Risiken überläßt. Deshalb steigen wir aus der Atomwirtschaft aus
und in die ökologische Steuerreform ein.
({5})
Wir wollen den Beweis dafür liefern, daß wirksame
Umweltpolitik eben nicht den Standort Deutschland gefährdet. Im Gegenteil, wir werden zeigen, daß die Verknüpfung von Arbeit und Umwelt zum Motor für ein
neues, umweltverträgliches Wirtschaften und zu einem
Anreiz für neue Technologien und Dienstleistungen
wird. Wir wollen neuen Fortschritt konkret machen.
({6})
Wir schaffen mit dem Einstieg in die ökologische
Steuerreform - selbst wenn ich dazu sagen muß, daß
ich mir persönlich einen mutigeren Start gewünscht
hätte - einen Anreiz zu Energieeinsparung und Ressourcenschonung. Dieses Geld nutzen wir nicht zum Stopfen
von Haushaltslöchern, sondern zur Senkung der Lohnnebenkosten und damit zur Verschränkung von Arbeit
und Umwelt. Das ist schon lange überfällig.
({7})
Ich bin der festen Überzeugung, daß sich der Erfolg
dieser Bundesregierung nicht nur an der erfolgreichen
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen muß.
An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend stehen wir
noch vor ganz anderen Herausforderungen. Um die
weltweiten Probleme - Klimaveränderungen, Ozonausdünnung, Wasserverschmutzung, Versauerung von Böden und die Probleme des Meeresschutzes - in den Griff
zu bekommen, muß es uns schnellstens gelingen - das
Stichwort ist mehrfach genannt worden -, das Leitbild
der Agenda 21, die nachhaltige Entwicklung, umzusetzen. Das ist dann auch die beste Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik.
Wir werden nicht darauf warten, bis uns die Wissenschaft die letzten Beweise für Umweltkatastrophen liefert, wie wir das an einigen Beispielen sehen können.
Klimaschutzpolitik darf nicht zu einem Kuhhandel verkommen, bei dem CO2-Minderungspotentiale gegen
heiße Luft getauscht werden.
({8})
Wir brauchen eine zwischenstaatliche und nationale
Feinabstimmung der Umweltvorsorge. Das beweist auch
das katastrophale Unglück der „Pallas“ im Wattenmeer,
das heute schon mehrmals genannt worden ist. Wir werden dieses Thema in der nächsten Woche im Umweltausschuß auf der Tagesordnung haben.
({9})
Wir werden uns die Problematik genauestens ansehen, und im übrigen traue ich dem Kollegen Carstensen
zu, daß es ihm tatsächlich ums Thema geht. Auch steht
für uns nicht die Schuldfrage im Mittelpunkt; denn dann
müßten Sie, die Sie bisher für diesen Bereich zuständig
gewesen sind, mit an den Pranger.
({10})
Vielmehr wäre es schön, wenn wir klären könnten, wie
wir das gemeinsam umsetzen, was wir seit Jahren fordern, nämlich eine europäische Coast guard zu schaffen.
Dabei können Sie uns gern unterstützen.
({11})
Die Umweltpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Sie
muß zum integralen Bestandteil aller sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereiche werden. Dazu
brauchen wir auch eine Umweltbildungsoffensive, die
eine Grundlage für neue Ideen und kreative Lösungen
schafft, aber auch den Spalt zwischen Wissen und Handeln beseitigt, den wir in der Umweltpolitik immer beklagen.
Um diesen wichtigen Weg hin zu einer nachhaltigen
Wirtschaft einschlagen zu können, bietet der ausgehandelte Koalitionsvertrag durchaus eine gute Grundlage.
Ich möchte die wichtigsten Punkte in aller Kürze ansprechen.
Erstens. Wir werden gemeinsam mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen eine nationale
Nachhaltigkeitsstrategie, eine nationale Agenda 21, erarbeiten, in der anspruchsvolle Ziele festgelegt werden,
deren Erreichen an Hand von nachvollziehbaren Kriterien und zeitlichen Vorgaben überprüfbar gemacht wird.
Dazu werden wir auf die Ergebnisse der EnqueteKommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“
zurückgreifen und auf ihnen aufbauen.
Zweitens. Wir werden das zersplitterte Umweltrecht
in einem Umweltgesetzbuch zusammenfassen. Umweltrecht muß zum einen überschaubar und zum anderen für alle Betroffenen auch wirklich verstehbar sein.
Das soll aber bitte ohne Zurückfahren der vorhandenen
Standards geschehen - eher im Gegenteil.
({12})
Herr Kollege Lippold hatte es angesprochen: Wir setzen
dabei auch auf freiwillige Selbstverpflichtungen; die haben wir nie in Bausch und Bogen verdammt.
({13})
Wir müssen aber die Standards erhalten. Das ist der
Punkt.
({14})
Wir müssen dies kontrollieren können. Es reicht nicht,
wenn diejenigen, die sich freiwillig selbst verpflichtet
haben, zwar erklären, daß sie das Ziel erreicht haben,
das aber gar nicht kontrollierbar ist.
({15})
Hier sollte übrigens nach unserer Auffassung die Bundesregierung mit einem guten Beispiel vorangehen. Ein
wichtiges Instrument ist das Öko-Audit. Auch die öffentlichen Verwaltungen können es jetzt anwenden. Ich
meine, daß die Bundesregierung dies auf allen Feldern
tun sollte, um damit auch eine Vorbildfunktion für Länder und Kommunen wahrzunehmen.
Drittens. Wir werden uns für eine Vorsorgepolitik
beim Gewässerschutz stark machen. Wir müssen Oberflächen- und Grundwasserschutz unter Anwendung der
besten verfügbaren Technik EG-weit durchsetzen
({16})
und zum Ökosystemschutz ausbauen. Das Thema steht
schon in nächster Zeit im Zusammenhang mit der Wasser-Rahmenrichtlinie auf der Tagesordnung. Wir werden
da die Anregungen des Europäischen Parlaments gerne
aufgreifen.
Viertens. Auch der Bodenschutz muß stärker am
Vorsorgeprinzip ausgerichtet werden. Dazu werden wir
gemeinsam mit den Ländern die Entwürfe der Bodenschutz- und Altlastenverordnung überarbeiten und Konzepte zur Entsiegelung und Renaturierung von Flächen
einbeziehen.
Fünftens. Wir werden mit der Kreislaufwirtschaft
Ernst machen - das können wir uns, Frau KolleUlrike Mehl
gin Homburger, dann ja gemeinsam im Ausschuß anschauen -, auf den Aufbau von Stoffkreisläufen in der
industriellen Produktion setzen und die ökologische Gestaltung von Produkten fördern. Dieser Bereich ist nämlich absolut unterentwickelt.
({17})
Sechstens. Wir werden das Bundesnaturschutzgesetz novellieren und die Ziele und Grundsätze neu fassen, indem wir einen Vorrang für Naturschutz auf mindestens 10 Prozent der Fläche verwirklichen,
({18})
um das europäische Biotopverbundsystem Natura 2000
voranzubringen, das Verbandsklagerecht für anerkannte
Naturschutzverbände verankern und den Ausverkauf
von Schutzgebieten in den neuen Bundesländern stoppen.
({19})
Im übrigen brauchen wir ein neues Konzept für die Sicherung unseres nationalen Naturerbes. Es muß darüber
diskutiert werden, in welcher Form das geschehen kann.
Eine bundesweite Stiftung ist sicherlich nicht die
schlechteste Lösung, aber das muß noch geklärt werden.
Um längerfristig eine flächendeckend umweltfreundliche Land- und Forstwirtschaft zu verwirklichen,
({20})
werden wir gemeinsam mit den Land- und Forstwirten,
Herr Kollege, die gute fachliche Praxis konkretisieren
und Möglichkeiten eröffnen, ökologische Leistungen zu
honorieren. Das ist immer unser Ziel gewesen. Dazu
wollen wir die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und
Küstenschutz und die Chancen der Agenda 2000 nutzen.
({21})
Siebtens. Wir werden auch - das haben wir in den
ganzen Diskussionen um das Energiewirtschaftsgesetz
immer gefordert - endlich erneuerbare Energien so
stark fördern, wie es angemessen ist, und die enormen
Potentiale zur Energieeinsparung im Gebäudebereich
nutzen, für den Ausbau der Kraft-Wärme-Koppelung
sorgen und ein 100 000-Dächer-Solarprogramm in Gang
bringen.
({22})
Wir werden auch die Marktchancen für regenerative und
heimische Energien verbessern. Bei Ihnen stand das
immer nur auf dem Papier; in der Wirklichkeit ist es
nicht umgesetzt worden. Wir werden das jetzt tun.
({23})
Achtens. Wir werden uns international für anspruchsvolle Umweltqualitätsziele und gegen Umweltdumping
einsetzen. Umweltstandards müssen auch in die Politik
der WTO, des IWF, der Weltbank und in das Multilaterale Investitionsabkommen integriert werden. Das ist so,
wie es jetzt vorliegt, noch nicht diskutabel.
({24})
Ich komme zum Schluß. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir müssen die drängenden Umweltprobleme
endlich anpacken und den Umbau zum nachhaltig umweltverträglichen Wirtschaften einleiten. Das geht natürlich nicht in drei Wochen, auch nicht in drei Monaten.
Deutschland muß aber endlich die praktische Umsetzung einer Nachhaltigkeitspolitik in der ersten Reihe
vollziehen und nicht nur auf dem Papier Versprechungen machen. Das werden wir tun.
({25})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Erfreut habe ich doch zur Kenntnis
genommen, wie oft über die Perspektiven von jungen
Menschen in den letzten Tagen gesprochen wurde.
Wenn dann allerdings in der Regierungserklärung die
Begriffe Natur- und Umweltschutz überhaupt nicht vorkommen und Kanzler Schröder sagt, ökonomische Leistungsfähigkeit sei der Anfang von allem, so sind an ihm
langjährige Diskussionen auch unter jungen Leuten
wohl spurlos vorbeigegangen. Denn nicht die Ökonomie, sondern die natürlichen Grundlagen sind der Anfang von allem. So ist es nicht verwunderlich, daß die
Enttäuschung über die fehlende Konsequenz der Umweltpolitik der neuen Regierung bei den im Umweltbereich Engagierten und den Verbänden nicht zu überhören ist.
({0})
Den Koalitionsvertrag bezeichnet der BUND zu Recht
als Pakt der Halbherzigen.
({1})
Natürlich erkennen wir an, daß Sie sich in den Bereichen des klassischen Natur- und Umweltschutzes und im
Umweltrecht neue und teilweise auch ehrgeizige Ziele
gesetzt haben: das Vorhaben, ein ausgedehntes BiotopVerbundsystem zu schaffen, oder der Stopp des Ausverkaufs von Schutzgebieten in den neuen Bundesländern.
({2})
Jedoch steht für mich zum Beispiel die Aussage zur
Bio- und Gentechnologie im Kontrast zu solchen konkreten Festlegungen. Die verantwortbaren Innovationspotentiale dieser Technologien hervorzuheben und
zugleich den frommen Wunsch nach angemessenem
Raum für alternative Verfahren zu äußern, das klingt für
mich nach einem ganz faulen Kompromiß auf Kosten
der Ökologie.
({3})
Die ökologischen Gefahren von Feldfreisetzung und von
faktischen Freisetzungen in den Sicherheitsstufen S 1
und S 2 nach dem Gentechnikgesetz sind oftmals dokumentiert. Der wirkliche Stopp sämtlicher Freisetzungen
und die Verschärfung des Gentechnikgesetzes wären
hier und EU-weit die richtigen Zielsetzungen gewesen.
({4})
Lassen Sie mich drei Punkte herausheben:
Natürlich unterstützen wir Ihre Bemühungen, den
Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich zu
regeln. Allerdings hätten wir doch schon gerne konkretere Ausstiegsfristen gehört - in guter Erinnerung an den
einmal gefaßten 10-Jahres-Beschluß der SPD. Auch
vermissen wir Festlegungen zum Abschalten von
Schrottmeilern, die weit älter als 18 oder 19 Jahre sind,
und zur Endlagerfrage. Ebenfalls hörten wir nichts über
die Beendigung der Genehmigungsverfahren für die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben und den Schacht
Konrad. Werden Sie deren Inbetriebnahme verhindern?
Wir hoffen, daß es nicht bei Ihren vollmundigen Ausstiegsbekundungen bleiben wird. Wir fordern einen zeitnahen Einstieg in den Ausstieg.
({5})
Nehmen wir auch die Ökosteuer. Was als Königsweg hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise inklusive der Lösung der Arbeitsmarktprobleme und der Sanierung der Sozialversicherungssysteme verkauft wird und
was auch ein dem ökologischen Umbau dienendes Instrument sein könnte, endet leider wie immer unter dem
Druck von Industrie und Lobbygruppen als reine Entlastungsdiskussion. Kein Wort mehr über die Verwendung
eines Teils der Einnahmen aus höheren Energiepreisen
für den ökologischen Umbau! Diese Ökosteuer auf
Samtpfoten wird nicht den notwendigen Druck in Richtung Energieeinsparung, effizientere Energienutzung
und Modernisierung der Produktionsstrukturen entfalten.
Vor allem aber fehlt diesem Konzept aus Sicht der PDS
jede soziale Kompensation, wie etwa die Förderung eines flächendeckenden, preiswerten ÖPNV aus den Mitteln der Benzinpreiserhöhung, was ja möglich wäre.
({6})
Als letzter Punkt, ganz aktuell: die Klimapolitik.
Schon im Vorfeld der gerade stattfindenden Konferenz
in Buenos Aires hat sich Umweltminister Trittin bewußt
in die Kontinuität der Vorgängerregierung gestellt. Allein die Verabschiedung eines verbindlichen Zeit- und
Arbeitsplans hält er nun schon für einen Erfolg. Im Gegensatz zu Umweltverbänden und dem umweltpolitischen Sprecher der Grünen ist er der Ansicht, daß bis zu
50 Prozent der Reduktion aus den sogenannten flexiblen
Instrumenten bestritten werden könnten.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: So sieht für uns
eine konsequente Klimapolitik nicht aus. Wir meinen: Je
leichter die Industriestaaten - immerhin Hauptverursacher der Klimaveränderungen - ihre nationalen Pflichten
auf billigem Wege im Ausland erfüllen können, um so
mehr schwindet der Druck, die eigene Art des Wirtschaftens und des Lebensstils auch hier in Deutschland
zu verändern. Wir erwarten, daß Deutschland auf EUEbene auf eine anspruchsvolle Regelung hinwirkt, um
die selbstgesetzten Reduktionsziele zu erreichen, die
Reduzierung aus den flexiblen Instrumenten auf höchstens 30 Prozent festzuschreiben und in diesem Sinne
Druck auf die USA auszuüben.
Ein persönlicher Satz zum Schluß: Das wäre für mich
das mindeste, um wirklich zu einem Politikwechsel zu
kommen - und nicht nur zu einem Regierungswechsel.
Für diesen Politikwechsel möchte ich hier in diesem
Hause in den nächsten vier Jahren streiten, egal wie oft
ich persönlich noch in einem Verfassungsschutzbericht
auftauchen werde.
({8})
Liebe Frau
Kollegin Marquardt, ich möchte auch Ihnen im Namen
des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
({0})
Ich erteile nun dem Abgeordneten Michael Müller
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, daß die
Koalitionsvereinbarung die ökologische Modernisierung in das Zentrum der zukünftigen Politik stellt. Das
wird von der SPD als die richtige Antwort auf die Probleme unserer Zeit angesehen. Ich sage Ihnen: Die ökologische Modernisierung ist in dreierlei Hinsicht von
zentraler Bedeutung:
Erstens. Sie ist die Chance für einen neuen Konsens
in unserer Gesellschaft. Diesen Konsens gibt es beispielsweise in der Frage des Ausstiegs aus der Atomkraft schon lange. Das muß jetzt auch im Bundestag
Konsens werden, wo er bisher verhindert wurde.
({0})
Zweitens. Die ökologische Modernisierung ist die
große Chance für die Erneuerung der Gesellschaft und
vor allem für die Weckung der kreativen Kräfte in unserer Gesellschaft. Ökologische Modernisierung heißt
nämlich, kreativ neue Ansätze zu entwickeln und dabei
auch den Faktor Arbeit zu stärken.
Drittens. Wir werden auf keinen Fall eine Politik unterstützen - eine solche haben wir in der Vergangenheit
leider oft erlebt -, in der Arbeit gegen Umwelt ausgespielt wird. Im Gegenteil: Es wird ein Kernbereich unserer Politik sein, Arbeit und Umwelt zusammenzuführen
und beides als zwei Seiten eines Problems zu betrachten,
nämlich die Umweltzerstörung zu bekämpfen und
gleichzeitig die Arbeitsplatzvernichtung zu stoppen.
({1})
Es geht um die zentrale Frage: Wie sieht eine zukunftsfähige Wirtschaftsordnung aus? Der Kern der
ökologischen Modernisierung liegt darin, ein modernes
Fortschrittsmodell zu entwickeln, statt beispielsweise in
der Umweltpolitik die öffentliche Verordnungswirtschaft durch eine private Verordnungswirtschaft zu ersetzen, wie wir dies in den letzten Jahren erlebt haben.
Das ist nicht unser Weg. Der Einstieg in die ökologische
Steuerreform ist von zentraler Bedeutung, weil damit
ökologische Entscheidungen sinnvollerweise direkt in
die Wirtschaftsprozesse einbezogen werden.
({2})
Ich meine allerdings, daß die ökologische Steuerreform nicht das einzige Instrument sein kann. Sie ist ein
wichtiger Weg. Ich würde sie aber nicht als den Königsweg bezeichnen. Ich glaube auch, daß das kaum jemand tut. Sie ist vielmehr eine notwendige, aber noch
keine hinreichende Bedingung, um die ökologische Modernisierung in Gang zu bringen. Gerade wer beispielsweise die soziale Verträglichkeit ernst nimmt, muß mit
der ökologischen Steuerreform weitere Instrumente verbinden. Auch das werden wir tun.
({3})
Von zentraler Bedeutung ist es also, die beiden großen Krebsübel unserer Zeit, nämlich die Probleme der
Arbeitsplatzvernichtung und der Umweltzerstörung,
gemeinsam zu lösen. Deshalb sage ich in Richtung Bundesregierung: Für die SPD ist es wichtig, in das Bündnis
für Arbeit auch die ökologischen Fragen einzubeziehen.
Wir halten es für richtig, ein Bündnis für Arbeit und
Umwelt zu schaffen, um nicht von vornherein in der
Gesellschaft neue und falsche Fronten aufzubauen.
({4})
Meiner Meinung nach gleicht die Situation, in der
sich die neue Regierung befindet, in etwa einem Suchprozeß.
({5})
Wir sind aufgefordert, einen gesellschaftlichen Konsens
zu erreichen und neue Wege zu gehen. Denn - ich glaube, das war der entscheidende Grund für die Wahlniederlage der alten Regierung - die Menschen wissen, um
es mit Erich Kästner zu sagen, daß es auf keinen Fall so
weiterging, wenn es weitergegangen wäre. Jetzt gibt es
sozusagen eine Suchbewegung dahin gehend, wie wir in
der Gesellschaft wieder zu mehr Verständigung, zu
mehr Modernisierung und vor allem zu mehr Solidarität
kommen. Auch eine neue Solidarität ist ein ganz wichtiger Punkt. Die ökologische Modernisierung kann hier
eine zentrale Rolle spielen.
({6})
Aus meiner Sicht gibt es drei zentrale Herausforderungen an die künftige Politik. Das ist erstens die große
Krise der Erwerbsarbeit. Wir erleben heute, daß sich
die Produktivität einseitig auf die Verdrängung des
Faktors Arbeit richtet, weil die Produktivität weit höher
als die Nachfrage ist. Wenn man das hinnimmt, bedeutet
das, auch die Massenarbeitslosigkeit hinzunehmen. Das
wollen wir nicht.
Deshalb ist die Forderung nach einem Bündnis für
Arbeit und Umwelt auch die Forderung nach neuen
Wirtschaftsstrukturen, neuen Zukunftsmärkten, neuen
Produkten und einer zukunftsfähigen Entwicklung „Arbeit und Umwelt“ bedeutet Beschäftigungspolitik und
damit Zukunftspolitik.
({7})
Die zweite wichtige Herausforderung ist: Wir wissen,
daß quantitatives Wachstum nicht mehr ausreicht, die
Gesellschaft zusammenzuhalten. Wir haben die letzten
Jahrzehnte als Jahrzehnte erlebt, in denen Wachstum die
Gesellschaft wie ein Fahrstuhl nach oben gehoben und
allen mehr Chancen gegeben hat.
Dieser Mechanismus funktioniert nicht mehr. Die
Zukunft zu gestalten bedeutet, daß Wachsen und
Schrumpfen gleichermaßen stattfinden müssen. Der
Ernstfall für diese neue wirtschaftspolitische Strategie
wird der Umstieg in der Energiepolitik sein. Wir müssen ein systematisches Schrumpfen der Atomenergie bei
einem gleichzeitigen Wachsen von Effizienztechnologien und von Solarwirtschaft erreichen. Das heißt, Wachsen und Schrumpfen gleichzeitig, das ist unsere Strategie.
({8})
Im Zusammenhang damit, daß quantitatives Wachstum nicht mehr ausreicht, ist auch von großer Bedeutung, daß wir lernen, mit Grenzen umzugehen. Das ist
für die moderne Zivilisation eine völlig neue Herausforderung. Ökologie bedeutet auch, sich selbst zurückzunehmen, Solidarität nicht nur mit den gegenwärtigen
Generationen, sondern auch mit künftigen Generationen
zu üben und vor allem zu begreifen, daß die Einführung
einer Zukunftsverantwortung in die Gegenwart eine
Grundlage für die Stabilität der Ökonomie, für Beschäftigung und für soziale Solidarität sein wird.
Zu lernen, mit Grenzen umzugehen, das ist die große
kulturelle Herausforderung für unsere Gesellschaft. Und
sie ist vor allem eine ökologische Herausforderung.
({9})
Als dritte Herausforderung haben wir es mit den in
vielen Bereichen sichtbaren Grenzen des Nationalstaats
zu tun - vor allem in der Steuer-, in der Finanz- und in
der Geldpolitik. Wir müssen wissen, mit welchen Mitteln wir die Globalisierung gestalten können.
Aus meiner Sicht ist die Leitidee der Nachhaltigkeit
die wichtigste Antwort, um das globale Zeitalter zu gestalten. Nachhaltigkeit ist ein Weg, der kein globales
Regime voraussetzt - das auch nicht kommen wird und
das auch nicht wünschenswert ist -, der aber die große
Chance eröffnet, daß überall in der Welt gesellschaftliMichael Müller ({10})
che Gruppen, Städte, Wirtschaftsvereinigungen und Regierungen mit unterschiedlichen Maßnahmen für dasselbe Ziel, nämlich das Ziel einer dauerhaften Entwicklung,
arbeiten.
Nachhaltigkeit ist die große Chance, in einer Welt,
die noch keine Regel hat, auf die Gefahr eines entfesselten neuen Weltkapitalismus, der uns in die Krise
führt, neue soziale und ökologische Antworten zu geben
und damit Stabilität, Frieden und Demokratie zu sichern.
Es ist eine Zukunftschance!
({11})
Diese Herausforderung stellt sich in besonderer Weise an Europa. Max Horkheimer hat in den 60er Jahren
die Frage gestellt: Setzt sich in Europa der Gedanke von
Rationalität, Vernunft und Aufklärung fort? Der Paradigmawechsel hin zu einer sozial-ökologischen Wirtschaftsentwicklung ist die große Chance für Europa.
Ich halte weder den amerikanischen Weg des Individualkapitalismus
({12})
noch das asiatische Modell, das zentralistisch von oben
dirigiert, für zukunftsfähig.
Ich sehe vielleicht eine große Chance für Europa, das
damit auch ein Vorbild für eine sozial-ökologische
Weltinnenpolitik sein kann. Das ist das Modell, das wir
wollen. Es ist auch im Sinne von Weizsäcker und wird
uns voranbringen.
({13})
In den 30er Jahren hat Franklin D. Roosevelt nach der
großen Weltwirtschaftskrise gesagt: Außergewöhnliche
Herausforderungen brauchen auch außergewöhnliche
Antworten. Das ist richtig und gilt auch noch heute. Deshalb wird die entscheidende Frage für uns sein: Sind wir
fähig, nicht nur zu reagieren, sondern auch ein sozialökologisches Bündnis in unserer Gesellschaft zu erreichen?
Folgende Fragen stellen sich konkret: Wie setzen wir
den Prozeß von Rio fort? Wie füllen wir konkret die
Debatte zur Agenda 21? Und vor allem: Wie mobilisieren wir unsererer Gesellschaft mehr Demokratie und
mehr Mitbestimmung, um neue Wege gehen zu können? Denn wir wissen, die ökologische Modernisierung
wird nur erreichbar sein, wenn mehr Demokratie möglich wird, wenn die Menschen mitziehen, wenn sie sehen, daß die Veränderungen gerecht und solidarisch organisiert werden. Das heißt, daß Ökologie nicht ein Gegensatz zur bisherigen sozialstaatlichen Politik dieses
Jahrhunderts ist, sondern eine Fortsetzung und Erweiterung. Sie ist die große Zukunftschance. Wir werden in
der neuen Regierung im Bündnis zwischen sozialen und
ökologischen Reformen diesen Weg solidarisch und
vertrauensvoll gehen.
Vielen Dank.
({14})
Danke schön.
- Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu dem letzten Themenbereich für
den heutigen Tag, zum Thema Landwirtschaft.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Horst Seehofer.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich stelle eine gewisse Überraschung fest. Deswegen möchte ich hier mein erstes
Erlebnis, das ich als Gesundheitsminister mit den Zahnärzten hatte, wiedergeben. Die Zahnärzte waren damals
auch überrascht und haben mir die Frage gestellt: Haben
Sie schon jemals einen Zahn gezogen? Diese Frage
wurde mir nach vier Wochen nie mehr von ihnen gestellt.
({0})
Nun beginne ich mit der Koalitionsvereinbarung der
neuen Regierung. Ländliche Räume stärken - Landwirtschaft sichern, so lautet die Zielsetzung von SPD und
Grünen.
Wie sieht die Realität aus? In der Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers kein Wort zu den
strukturellen und wirtschaftlichen Problemen der Landund Forstwirtschaft und ihren in der überwiegenden
Zahl bäuerlichen Familienbetrieben. Kein Wort in dieser
Regierungserklärung zu den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Leistungen der Landwirtschaft. Kein Wort zur Versorgung der Bevölkerung mit
Produkten, die in Deutschland höchsten gesundheitlichen Standards und den Verbraucherinteressen entsprechen.
({1})
In der Regierungserklärung kein Wort zu den weitgehend unentgeltlich erbrachten Leistungen der Bauern für
Natur- und Landschaftspflege
({2})
und auch kein Wort zur Nutzung landwirtschaftlicher
Rohstoffe für regenerative Energien.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn an der Schwelle
zum 21. Jahrhundert in einer Regierungserklärung, die
Aufbruchstimmung auslösen soll, zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige unseres Landes, zu den Problemen der Bauern und zum Agrarstandort Deutschland, so
gut wie kein Satz verloren ist, dann drückt dies den
Stellenwert aus, den diese Regierung den Bauern einräumt.
({4})
Michael Müller ({5})
Ich kann heute sagen: Bei dieser rotgrünen Regierung
haben die Bauern null Stellenwert, diese Regierung hat
die Bauern im Kern abgeschrieben.
({6})
Die Ausgestaltung der Agenda 2000 wird sowohl für
die Landwirtschaft als auch für den ländlichen Raum
von größter Bedeutung sein. Auch zu diesem Punkt findet man im Koalitionsvertrag nur diplomatische Poesie
und nichts Konkretes. Die Agenda 2000 hat existentielle
Bedeutung für die Zukunft der deutschen Bauern. In der
Koalitionsvereinbarung findet man alleine den Satz, daß
man diese Agenda 2000 fristgerecht im ersten Halbjahr
1999 umsetzen will. Die eigentlichen inhaltlichen Probleme, nämlich die höheren Agrarkosten, die Einkommenseinbußen der Landwirte und die vermehrte Bürokratie, die mit dieser Agenda verbunden sind, werden
mit keinem Wort erwähnt.
Wenn ich nun sehe, daß die Agenda 2000 in der Regierungserklärung nicht erwähnt wird, daß in der Koalitionsvereinbarung auf eine fristgerechte Umsetzung der
Agenda Wert gelegt wird, aber zu den inhaltlichen Problemen der Agenda für die deutschen Bauern und den
ländlichen Raum kein Wort verloren wird, dann müssen
wir von einer Grundzustimmung, Herr Minister, zu den
Kommissionsvorschlägen ausgehen, obwohl - darauf
möchte ich hinweisen - eine Sonderagrarministerkonferenz am 28. Mai 1998, an der Sie teilgenommen haben,
einstimmig, ferner die Ministerpräsidenten aller Bundesländer ebenfalls einstimmig und schließlich auch der
Bundesrat noch im Juni dieses Jahres wiederum einstimmig die Agenda 2000 abgelehnt haben
({7})
Die agrarpolitischen Vorschläge in der Agenda 2000
wurden zurückgewiesen, und damals haben sowohl die
Agrarminister als auch die Ministerpräsidenten wie der
Bundesrat festgelegt, daß die Agenda 2000 so überarbeitet werden muß, daß einseitige Belastungen und Benachteiligungen der deutschen Landwirtschaft vermieden werden sowie die Funktionsfähigkeit der ländlichen
Räume erhalten bleibt.
({8})
Meine Damen und Herren, wenn man im Juni dieses
Jahres, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, wenige
Wochen vor der bayerischen Landtagswahl, bei der diese Frage eine wesentliche Rolle gespielt hat, noch einhellig die Agenda 2000 in ihrem agrarpolitischen Teil
ablehnt, eine Überarbeitung einfordert und jetzt - das
muß man aus der Regierungserklärung und der Koalitionsvereinbarung schließen - ganz offensichtlich eine
Grundzustimmung zu den Kommissionsvorschlägen gibt
und damit nach der Wahl auf den Kurs des Kommissars
Fischler einschwenkt, muß man dies als Täuschungsmanöver gegenüber den Wählern einstufen.
({9})
Das ist ein Täuschungsmanöver.
Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben heute die
Möglichkeit, dies hier zurechtzurücken. Mit Recht haben sich Union und F.D.P. - ich habe das im Kabinett
selbst miterlebt - gegen die vorliegende Fassung der
Agenda 2000 gestemmt. Denn, meine Damen und Herren, die Agenda 2000 bringt auf der einen Seite höhere
Kosten und auf der anderen Seite weniger Einkommen
für die Landwirte. Allein im Marktordnungsbereich
müßte Deutschland rund 1,7 Milliarden DM mehr bezahlen, würde es bei dieser Fassung bleiben, die deutschen Nettozahlungen erhöhten sich um rund 1 Milliarde
DM, und unsere Landwirte hätten gleichzeitig durchschnittlich 10 Prozent, im Futterbau sogar deutlich mehr
als 20 Prozent weniger Einkommen und insbesondere
auch vermehrte Bürokratie.
({10})
Meine Damen und Herren, das ist unerträglich. Die Union hat vor der Wahl gesagt, das wollen wir nicht, und
wir bleiben auch nach der Wahl dabei.
({11})
Wenn darauf hingewiesen wird, eine solche Änderung sei wegen der Osterweiterung der Europäischen
Union notwendig, sagen wir klar ja zur Osterweiterung.
Sie ist eine einmalige historische Chance, eröffnet neue
wirtschaftliche Perspektiven. Aber, meine Damen und
Herren, die Osterweiterung der Europäischen Union darf
nicht auf dem Rücken unserer deutschen Landwirte ausgetragen werden.
({12})
Hier, Herr Landwirtschaftsminister, wäre es sehr gut
gewesen, wenn Sie sich rechtzeitig und nicht erst nachträglich zu Wort gemeldet hätten.
Natürlich brauchen wir hier lange Übergangsfristen.
Aber von Übergangsfristen ist bei der Osterweiterung
der Europäischen Union nur bezüglich der gewerblichen
Arbeitnehmer die Rede, aber nicht beim Auffangen und
beim Abfedern der Probleme in der deutschen Landwirtschaft.
({13})
Es muß dringend nachgebessert werden.
Natürlich, meine Damen und Herren, steht die Agenda 2000 auch im Zusammenhang mit der wichtigen Frage der Verhandlungen, die bei der Welthandelsorganisation zu diesem Gebiet anstehen. Das Ziel der Liberalisierung der Agrarmärkte darf aber nicht bedeuten,
daß die deutsche Landwirtschaft von ihren hohen Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutzstandards Abstriche
macht. Deshalb wäre die richtige Reihenfolge, Herr Minister, daß man nicht zuerst die Agenda 2000 auf europäischer Ebene verwirklicht und die deutsche Landwirtschaft in einen weltweiten Preiskampf mit dem Verlust
vieler Existenzen treibt, sondern der erste Schritt, meine
Damen und Herren, Herr Minister, muß sein, bei diesen
Verhandlungen der Welthandelsorganisation dem europäischen Niveau entsprechende Gesundheits-, UmweltHorst Seehofer
und Sozialstandards durchzusetzen. Das muß der erste
Schritt sein, meine Damen und Herren!
({14})
Wir wollen nicht, daß die Liberalisierung für unsere
Verbraucher in Deutschland bedeutet, daß sie Produkte
akzeptieren müssen, die sie nicht wollen, Hormonfleisch
und Milch von Turbo-Kühen, daß unsere Märkte von
solchen Produkten überschwemmt werden. Deshalb
wollen wir, daß die richtige Reihenfolge eingehalten
wird, daß man sich nicht im Vorfeld dieser Verhandlungen auf europäischer Ebene den Weltmarktpreisen aussetzt, daß man die deutschen Landwirte nicht diesem
ruinösen Wettbewerb aussetzt, und die Standards für die
Schutzbestimmungen, die ja weltweit vereinbart werden
müssen, nicht angleicht. Das hält kein Wirtschaftsbereich aus.
Ich hätte es sehr gut gefunden, Herr Landwirtschaftsminister, wenn Sie sich nicht im nachhinein, nach
den Koalitionsverhandlungen, nach der Regierungserklärung zu Wort gemeldet hätten. Beinahe täglich höre
ich von Nachbesserungen und davon, daß dieses oder
jenes neu überlegt werden müsse.
({15})
Vielmehr hätten Sie dafür sorgen müssen, daß für die
Landwirtschaft schädliche Vereinbarungen in Ihrer Koalition gar nicht erst getroffen werden.
({16})
Wir brauchen keinen Landwirtschaftsminister, der sich
als Reparateur betätigt, sondern jemanden, der von
vornherein vermeidet, daß überhaupt Schaden entsteht.
({17})
Das ist eine existentielle Frage für die deutschen Landwirte. Sie haben die verdammte
({18})
Pflicht und Schuldigkeit - auch wenn wir Europa und
die Erweiterung Europas bejahen -, vitale deutsche Interessen und damit auch die Interessen des ländlichen
Raumes und der deutschen Landwirte in diesen Verhandlungen zu vertreten.
Es geht ja nicht nur um die Agenda 2000. Dazu
kommt noch, was wir im Bereich der Umweltpolitik
von der SPD und den Grünen gehört haben, welche Belastungen auf unsere Landwirte - übrigens die Umweltschützer Nummer eins, die größte Umweltbewegung in
der Bundesrepublik Deutschland ({19})
zukommen sollen. Weiter ist festzuhalten, was Sie im
Steuerrecht an Belastungen den Landwirten aufbürden
wollen. In diesem Zusammenhang möchte ich folgenden
Satz sagen: Ich verstehe manche Kommentare in der Öffentlichkeit überhaupt nicht, wonach es hier um einen
Abbau von Steuerprivilegien bei den Landwirten gehe.
Wenn ich daran denke, daß Landwirte an Sonn- und
Feiertagen arbeiten und hier nicht in den Genuß von
Steuervorteilen und Abschreibungsmöglichkeiten kommen - wie viele Arbeitnehmer -, dann fällt es mir
schwer, zu verstehen, wie von einem Steuerprivileg geredet werden kann.
({20})
Sie von der Regierung belasten auf der einen Seite
die Landwirte überproportional, während auf der anderen Seite die deutschen Bauern von der Entlastung bei
den Lohnnebenkosten nichts haben.
({21})
Dazu kommt die mittelbare Wirkung der Energiebesteuerung. Wenn man im ländlichen Raum lebt, weiß
man, was das bedeutet - von der Benzinsteuer bis zur
Stromsteuer.
Wenn ich diese vier Punkte zusammen nehme, die
Agenda 2000, der Sie offensichtlich in der vorliegenden
Form zustimmen wollen, weil Sie der Zeitschiene den
Vorrang vor dem Inhalt geben, die Steuerreform mit einer hemmungslosen und massiven Belastung der Landwirte und der ländlichen Räume, die Energiebesteuerung, die Stromsteuer, die ebenfalls wieder eine einseitige Belastung der landwirtschaftlichen Existenzen und
der landwirtschaftlichen Räume mit sich bringt, und die
Belastungen durch SPD und Grüne im Bereich des Umweltrechts, dann kann ich zu keinem anderen Ergebnis
kommen als zu dem, daß die Bauern zu den Verlierern
der neuen Regierungspolitik gehören.
({22})
Dagegen stemmen wir uns mit aller Macht.
({23})
Herr Landwirtschaftsminister, wenn ich diese Sachverhalte der Regierungserklärung gegenüberstelle, in der
vom Aufbruch die Rede ist, dann komme ich zu dem
Schluß: Ihre Politik für den ländlichen Raum führt nicht
zum Aufbruch, sondern zur Stagnation und zum Verfall.
Bei den Steuern gibt es statt Entlastung eine massive
Belastung, und, was die Verwaltungsabläufe betrifft, so
gibt es nicht Vereinfachung, sondern eine massive, zusätzliche Bürokratie. Statt Aufbruch Verfall, statt Entlastung Belastung, statt Vereinfachung Bürokratie.
({24})
Dies alles haben die Landwirte auszubaden.
Nun kenne ich Sie ja, Herr Funke, als wir miteinander
wegen BSE zu tun hatten.
({25})
Ich möchte auch gar nicht verschweigen, daß wir da ordentlich zusammengearbeitet haben. Sie haben eine ordentliche Chance verdient. Wir werden Sie ganz einfach
an den Zielen messen, die wir heute hier formulieren.
Wir wollen nicht, daß Sie sich ständig, jeden Tag, mit
Agenturmeldungen in der Öffentlichkeit zu Wort melden
({26})
und sagen, Sie hätten diesen oder jenen zur Korrektur,
zur Nachbesserung aufgefordert. Vielmehr wollen wir,
daß Sie das, was für die Landwirte gut ist, von vornherein durchsetzen.
({27})
Sie sollten nicht immer nur nachbessern und sich dann
möglicherweise feiern lassen mit der Bemerkung, Sie
hätten noch Schlimmeres verhindert.
Nein, Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben die
Aufgabe, den Agrarstandort Deutschland in Europa zu
sichern.
({28})
Sie haben Ihren Beitrag dazu zu leisten, daß es eine dynamische, unternehmerische und eigentumsorientierte
bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland auch weiterhin gibt.
({29})
Sie haben alles zu verhindern, damit - neben dem
Strukturwandel, der in der bäuerlichen Landwirtschaft
ohnehin stattgefunden hat und auch weiterhin stattfindet
- der Staat diesen Strukturwandel in der Landwirtschaft nicht noch über die Rahmenbedingungen des
Steuer- und Umweltrechtes verschärft. Das ist Ihre Aufgabe. Daran werden wir Sie messen.
({30})
Wir sind nicht so blauäugig, zu sagen, daß es in Gegenwart und Zukunft keinen Strukturwandel gibt. Aber es
ist nicht Aufgabe einer Regierung, nicht Aufgabe eines
Staates, diesen Strukturwandel in der Landwirtschaft
durch eine falsche Steuer- und Umweltpolitik noch zu
verschärfen.
({31})
Daran werden wir den Landwirtschaftsminister messen.
Wenn Sie das erfüllen, Herr Funke, dann werden Sie
unsere Unterstützung haben.
({32})
Aber bis zur Stunde haben wir noch nicht den Eindruck,
daß Sie das erfüllen. Sie haben viele Ankündigungen,
gerade im Steuerrecht, in die Welt gesetzt, auf Grund
deren die Annahme berechtigt ist, daß Sie sich ohne die
Rückkopplung mit dem Finanzminister, dem Bundeskanzler oder dem Koalitionspartner zu Wort gemeldet
haben. Wir bieten Ihnen unsere Unterstützung an, wenn
Sie sich an den Interessen der bäuerlichen Landwirtschaft und den deutschen Interessen in Europa orientieren.
({33})
Aber, Herr Landwirtschaftsminister, Sie stoßen auf
den erbitterten Widerstand der CDU und der CSU, wenn
Sie eine Politik zu Lasten der deutschen Bauern, die sich
nach der Regierungserklärung und der Koalitionsvereinbarung vermuten läßt, realisieren wollen - auf erbitterten Widerstand, das kann ich Ihnen heute ankündigen.
({34})
Ich bin da als jemand, der sechseinhalb Jahre als Minister im Gesundheitsressort überlebt hat, einiges gewohnt.
({35})
Sie dürfen sich darauf einstellen, daß wir mit den Landwirten und mit Ihnen einen ordentlichen Kampf führen
werden.
Herzlichen Dank.
({36})
Jetzt hat Herr
Bundesminister Karl-Heinz Funke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich nehme zur
Kenntnis, Herr Kollege Seehofer, daß auch Sie in Ihrem
Hause lediglich „überlebt“ haben.
({0})
Wer lediglich überlebt - das ist ja wohl der Sinn des Begriffes -, kann nicht davon reden, daß er großartig Aufgaben erfüllt hätte.
({1})
Ihre Selbstkritik ging da weiter als die Kritik, die ich Ihnen gegenüber zu üben hätte.
({2})
- Was gut ist und was schlecht, möchte ich nicht alleine
Ihrer Beurteilung überlassen wollen. Da kämen wir sehr
schnell ins kurze Gras.
({3})
Ich gebe auch zu - bevor Sie sich empören -: Der
Kollege Seehofer hat viel Richtiges und Neues gesagt.
Nur war das Neue nicht richtig und das Richtige nicht
neu.
({4})
Es ist doch hochbemerkenswert, daß er beanstandet hat,
was in Sachen Landwirtschaft alles nicht in der Regierungserklärung stehe.
({5})
- Herr Kollege Seehofer, ich bin ja nicht neu - zwar hier
in diesem Parlament, aber ansonsten nicht. Darum tut es
gut, sich einfach einmal anzusehen - historisch Bewanderte interessiert es auch -, was eigentlich in der Regierungserklärung des Jahres 1994 zur Landwirtschaft
gestanden hat.
({6})
- Mit dem Zwischenruf, Herr Glos, wäre ich vorsichtiger.
Unter der Überschrift „Aufbruch in die Zukunft“ Sie haben viel von Aufbruch geredet, aber zur Landwirtschaft hätte viel mehr gesagt werden müssen - stand in
der Regierungserklärung 1994 des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl ein einziger Satz zur Landwirtschaft - ich zitiere -:
Ich denke an die Bauern, die mit ihrer Arbeit das
Bild unserer Landschaft prägen.
({7})
Nicht ein Wort mehr stand dazu, und das unter der
Überschrift „Aufbruch“! Daß Sie jetzt hier einfordern,
was alles hätte drinstehen müssen, zeugt zumindest davon, daß Sie die damalige Regierungserklärung nicht
gelesen haben, Herr Kollege Seehofer.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angenommen, der
Bundeskanzler hätte den Satz „Ich denke an die Bauern,
die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Landschaft prägen“
so in die Regierungserklärung geschrieben und vorgetragen, dann hätten Sie, meine Damen und Herren von
der CDU/CSU, gesagt: Siehst du, die machen die Bauern ausschließlich zu Landschaftsgärtnern. Ökonomie
zählt nicht mehr. - Diese Kritik wäre im übrigen berechtigt gewesen.
Aber das war die Regierungserklärung des Jahres
1994. Daran gemessen haben wir in der Regierungserklärung dieses Jahres zentrale Probleme der Agrarpolitik
angesprochen; das will ich Ihnen einmal sagen.
({9})
Im übrigen: Sie sprechen von sozialen und ökologischen Standards, die erfüllt werden müssen, insbesondere in Richtung WTO. Einverstanden! Ich glaube, darüber gibt es im ganzen Hause überhaupt keinen Streit.
Aber ich wäre sehr froh gewesen, wenn - das zuzugeben
fällt mir gar nicht leicht; aber auch die Grünen, auch wir
Sozialdemokraten haben davon gesprochen - beim
GATT-Abkommen des Jahres 1994 schon im Vorfeld
der Verhandlungen und vor allen Dingen beim Abschluß
über soziale und ökologische Standards gesprochen
worden wäre. Das haben Sie nicht gemacht. Sie haben
den GATT-Abschluß zu verantworten.
Wir sind sehr wohl der Auffassung - das sprechen
wir in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich an -,
daß es auch um soziale und ökologische Standards gehen muß.
({10})
- Ich komme noch dazu. Warten Sie doch ab, Herr Seehofer. - Sie werden sagen: Das steht in der Koalitionsvereinbarung, wurde aber nicht in der Regierungserklärung angesprochen. Lesen Sie die Regierungserklärung
Ihres Kanzlers von 1994.
({11})
Darin steht, Herr Kollege Deß, daß der Kanzler meinte,
er müsse nicht all das wiederholen, was in der Koalitionsvereinbarung stehe und abgemacht sei. Genau das ist
es. Wir können uns darauf im Grunde in jeder Weise beziehen.
({12})
Wenn Sie fragen „Wo war der Funke eigentlich?“,
dann warten Sie einmal ab. Ich werde öfter dabeisein,
wenn es Ihnen nicht paßt, als wenn es Ihnen paßt, Herr
Seehofer. Warten Sie in Ruhe ab! Dafür kennen wir uns
auch zu gut.
({13})
Was das Lebendgewicht anbelangt, Herr Kollege: Ich
kenne Sie nicht, behaupte aber, daß wir ungefähr identische Maße haben und Gewicht einbringen können. Da
liegen wir so weit nicht auseinander.
({14})
Zur Agenda will ich Ihnen sagen: Ich höre mit großem Erstaunen zum erstenmal, daß Sie offensichtlich
der Auffassung sind, wir sollten die Agenda verschieben. Nur so kann ich das interpretieren. Wir müßten Sie
einmal fragen, was Sie eigentlich damit meinen, wir
müßten die Agenda verschieben, wir sollten sie nicht
verabschieden. Meine Damen und Herren, ich bitte zur
Kenntnis zu nehmen, was die anderen 14 Nationen der
Europäischen Union dazu sagen würden, die Agenda zu
verschieben, nicht darüber zu reden. Sie wissen doch
ganz genau: Das hängt mit der WTO, mit Osteuropa, mit
vielen Dingen zusammen. Wenn wir den Agrarteil der
Agenda im nächsten halben Jahr nicht voranbringen,
werden uns andere ins Stammbuch schreiben, was darin
zu stehen hat. Das halte ich im Interesse der gesamten
europäischen Landwirtschaft für nicht verantwortbar.
({15})
Das habe ich bisher im übrigen auch aus dem Munde
von CDU-Politikern gehört. Ich weiß nicht, ob das heute
abend revoziert worden ist oder nicht. Das ist der Stand
der Dinge.
Meine Damen und Herren, wir müssen einige Dinge
verabschieden; der Kollege Weisheit wird Ihnen das
noch sagen. Wollen Sie denn die Landwirtschaft wirklich darüber im unklaren lassen, wie die Milchpolitik ab
31. März 2000 aussieht? Die Bauern wissen schon heute
nicht, woran sie sind, weil Sie versäumt haben, dort
klare Rahmenbedingungen zu schaffen und zu sagen,
wie es ab dem 1. April 2000 weitergehen soll.
({16})
Das wissen Sie doch ganz genau. Die Bauern aus Bayern, aus dem Allgäu waren bei mir, um mir das vorzutragen. Das ist der Sachverhalt.
({17})
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hornung?
Ja, das mache ich gerne eigentlich.
Herr Minister, Sie
waren gestern auf dem Deutschen Raiffeisentag und haben dort ein Grußwort gesprochen. Ich habe aufmerksam zugehört und muß sagen, daß Sie dort zu der künftigen Agrarpolitik nichts Konkretes - auch nicht in
Richtung Europa - gesagt haben.
Ich habe die „dlz“ gelesen, der Sie ein fast hervorragendes Interview gegeben haben. Davon könnte ich
viele Passagen unterstreichen. Anschließend habe ich
aber dem „Ernährungsdienst“ entnommen, daß das, was
Sie zuvor gesagt hatten, bereits wieder Vergangenheit
ist. Ich habe das heute im Internet überprüft. Dort richtet
sich alles, was im Zusammenhang mit Steuerfragen angekündigt wird, gegen die Landwirtschaft. Meine Frage
ist: Wer hat recht? Was kommt auf die Bauern zu?
Schon ab 1. Januar soll die Pauschalierung in Schritten
fallen. Ich hätte gern die Antwort darauf. Was ist richtig?
Nun warten Sie mal in Ruhe ab! Dann werden Sie sehr schöne - vielleicht paßt
Ihnen das gar nicht - Antworten auf diese Fragen bekommen. Daß ich in einem Grußwort beim Deutschen
Raiffeisenverband nicht in extenso die Agrarpolitik darstelle, gebietet schon der Anstand. Dann müßte ich aus
einem Grußwort eine anderthalbstündige Rede machen.
Das geht doch gar nicht anders.
({0})
Aber wenn Sie wollen, bin ich jederzeit bereit, auch
Einzelheiten zu erläutern. Da habe ich überhaupt keine
Bedenken.
Meine Damen und Herren, was die Agenda anbelangt, sind wir sehr wohl der Auffassung, daß wir sie erstens verabschieden müssen und daß es zweitens - das
steht auch so in der Koalitionsvereinbarung - noch Änderungsbedarf gibt. Das ist doch unstrittig. Es handelt
sich im übrigen um einen Entwurf. Die bisherige Haltung der Bundesregierung, ständig nein zu sagen, hat
uns in Brüssel auch im Verhältnis zu den anderen Ländern der Europäischen Union in eine sehr mißliche Lage
gebracht.
({1})
Ich will dazu jetzt nicht mehr sagen, um nicht zukünftige Verhandlungen zu erschweren. Aber ich könnte sehr
schön darüber berichten, was die Agrarminister aus anderen Ländern dazu sagen, daß die Bundesregierung
immer nur nein gesagt hat. Das erschwert die Situation
gewaltig. Sie hätte sich schon im Vorfeld an der Diskussion beteiligen sollen. Andere Länder haben längst ihre
Vorschläge abgeliefert. Von Deutschland ist offiziell
überhaupt nichts vorhanden. Fragen Sie einmal den
Agrarkommissar Fischler, was er dazu sagt!
({2})
Das so zu sagen ist nun wirklich nicht in Ordnung und
entspricht auch nicht den tatsächlichen Verhältnissen.
({3})
- Ihnen paßt das alles nicht; das weiß ich.
Wir haben in der Agrarministerkonferenz gemeinsam
gesagt: So nicht! Es hat aber keiner in der Agrarministerkonferenz gesagt: In Bausch und Bogen weg damit! Nein! Es wäre auch völlig unsinnig, das zu tun,
weil es keinen gibt, der einen Gegenentwurf zur Agenda
hätte auf den Tisch legen können. Vielmehr ist die
Agenda Grundlage der Diskussion. Dann können wir
Produkt für Produkt, Feld für Feld durchdiskutieren und
Änderungen herbeiführen.
Im übrigen: Wen kritisieren Sie da eigentlich? Daß es
die Agenda gibt, entspricht einem Beschluß aller nationalen Regierungschefs, der Ende 1995 in Madrid gefaßt
wurde. Der Kanzler hat doch daran mitgewirkt, den
Auftrag gegeben, eine Fortschreibung der Agrarpolitik
unter anderem vor dem Hintergrund beginnender WTOVerhandlungen und des Beitritts der mittel- und osteuropäischen Länder zu besorgen.
({4})
Das hat die Kommission erfüllt. Nun müssen wir über
das, was sie vorgelegt hat, diskutieren und können nicht
so reden, wie Sie das hier tun. Das ist einfach nicht in
Ordnung.
({5})
Sonst müßten Sie den ehemaligen Kanzler kritisieren,
daß er diesen Beschluß der Regierungschefs von 1995
mit gefaßt hat.
Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Eine leistungsstarke und wettbewerbsfähige Land-, Forstund Ernährungswirtschaft ist für uns das Ziel der
Agrarpolitik. Ich nenne ausdrücklich auch die Ernährungswirtschaft, weil wir nicht nur den Urproduktionssektor sehen, sondern selbstverständlich die ganze Ernährungswirtschaft, Ernährungsindustrie, also einschließlich des vor- und nachgelagerten Bereiches, der
mit Landwirtschaft verbunden ist.
Es ist auch für uns ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, das Wirtschafts- und Beschäftigungspotential
des Agrarsektors nicht nur zu erhalten, sondern auszubauen, auch und gerade unter dem Gesichtspunkt der
Multifunktionalität der Landwirtschaft; ich glaube, ich
brauche hier nicht zu erläutern, was wir bis dato gemeinsam darunter verstanden haben.
Mit anderen Worten: Wir setzen ausdrücklich auf
unternehmerisch denkende und handelnde Landwirte,
die sich aber auch der Verantwortung vor der Natur, vor
der Umwelt bewußt sind, die sich selbstverständlich
dem technischen Fortschritt stellen, die sich zum Beispiel auch dessen bewußt sind, daß es heute um Tierschutz, um artgerechte Haltung geht. Das alles gehört
dazu. Wenn ich diese Stichworte genannt habe, können
Sie daraus eigentlich schon folgern, welche Schwerpunkte wir bei der Agenda-Diskussion setzen werden,
im übrigen auch bei den folgenden WTOVerhandlungen, was die schon angesprochenen Standards anbelangt.
Wir werden, auch was die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik angeht, aktiv mitmachen. Wir werden die Ungereimtheiten, die es in der Tat gibt - pauschale Preissenkungen bestimmter Größenordnungen
über gewisse Zeiträume -, zu diskutieren, auch zu korrigieren haben - ich sage das ausdrücklich -, aber sehr
unterschiedlich, nach den jeweiligen Produkten.
Wir werden also eine offensive Diskussion führen.
Ich bin überzeugt, daß wir auch mit den anderen Ländern entsprechende Resultate erzielen können. Die österreichische EU-Präsidentschaft faßt gegenwärtig die
Diskussion, die auf europäischer Ebene bisher gelaufen ist, zusammen. Sie wird Absichten formulieren
und Aussichten eröffnen, denen wir uns anzuschließen
haben.
Wir werden neben Naturschutz, Umweltschutz, Verbraucherschutz und Tierschutz eine Agrarumweltpolitik betreiben, weil sie in meinen Augen heute dazugehört. In einigen Ländern macht man es weitestgehend
schon.
({6})
- Nein, nicht nur in Bayern. In Bayern macht man viel,
({7})
Herr Kollege Deß - darüber brauchen wir nicht zu
streiten -, aber das passiert nicht nur dort, sondern auch
woanders.
Jemandem aus Niedersachsen den Stellenwert der
Landwirtschaft im Zusammenhang mit dem des Agrarstandortes Deutschland erklären zu wollen, hieße, Eulen
nach Athen zu tragen. Das muß ich Ihnen einmal sagen.
({8})
Das ist unbestritten in der ganzen Bundesrepublik
Deutschland. Ich lade sogar die bayerischen Kollegen
ein, sich einmal dort umzusehen, ganz zu schweigen von
Kollegen aus anderen Ländern.
Ich brauche die Stichworte nicht mehr aufzugreifen.
Ich denke, daß ich mit den bisher angeführten Stichworten genug deutlich gemacht habe. Ich mußte auf Ihre
Rede, Herr Kollege Seehofer, ein bißchen mehr eingehen. Deshalb kann ich hier nicht all das vortragen, was
ich eigentlich vortragen wollte.
({9})
- Ja, das werden wir bei entsprechender Gelegenheit,
Herr Kollege Carstensen, nachholen. - Wenn Sie hier
ein Bild malen, als ginge es um den Abbruch der ländlichen Räume oder ähnliches, dann bitte ich Sie: Schauen
Sie sich im Lande um! Landwirtschaft stellt sich - gerade auch als wichtiger Faktor im ländlichen Raum - so
vielfältig dar, daß man nicht an einigen Stichworten
Aufbruch oder Abbruch diskutieren kann, wenn man
sachlich bleiben will.
({10})
- Wenn Sie das wußten, dann weiß ich nicht, warum Sie
das den Kollegen Seehofer haben vortragen lassen. Ich
beziehe mich ja nur auf seine Stichworte.
({11})
Die Behauptung jedenfalls, daß die jetzige Regierungsmehrheit nicht Anwalt landwirtschaftlicher Interessen sei, ist eine schiere Propagandaformel und nichts
anderes. Seien Sie sicher: Die Landwirte draußen im
Lande, die wissen wollen, wie es ab dem 1. April 2000
weitergehen soll, fallen auf solche Propagandaformeln
nicht mehr herein. Sie haben genug davon, vor allen
Dingen deshalb, weil solche Formeln während Ihrer Regierungszeit Ersatz für politisches Handeln waren.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Man kann ja ruhig auf
andere Regierungserklärungen verweisen, aber, Herr
Minister Funke, Tatsache ist, daß Bundeskanzler Schröder, der einmal den landwirtschaftlichen Bereich in Niedersachsen als den zweitwichtigsten Bereich nach der
Automobilindustrie dargestellt hat, kein Wort über die
Landwirtschaft verloren hat.
({0})
Er hat diesen wichtigen Bereich völlig vernachlässigt. Er
hat nichts über die Osterweiterung im Zusammenhang
mit der Landwirtschaft gesagt, nichts über die Agenda
2000. Er hat nichts über eine WTO-Runde gesagt, die es
in der nächsten Zeit zu bestehen gilt. Er hat auch nichts
dazu gesagt, welche Herausforderungen insbesondere
auf die deutsche Landwirtschaft zukommen werden,
wenn er in 49 Tagen - von heute an gerechnet - die Präsidentschaft in der Europäischen Union übernimmt.
({1})
Das ist der Punkt. Wir haben heute eine Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder und nicht eine Regierungserklärung von sonst irgend jemandem in der
Vergangenheit zu diskutieren.
({2})
Ich sage Ihnen: Das, was Sie, Herr Minister Funke,
hier abgeliefert haben, vor allem im allerletzten Teil Ihrer Rede, in dem Sie dargestellt haben, wie Sie zur
Landwirtschaft stehen, stellt genau das Gegenteil von
dem dar, was Sie uns hier im Rahmen der Steuerreform
schwarz auf weiß vorgelegt haben.
({3})
Es gehört schon ein ganz gehöriges Stück Unverfrorenheit dazu, Herr Minister, wenn Sie so reden, obwohl Sie
wissen, daß der deutschen Landwirtschaft auf Grund der
nationalen Agrarpolitik - nach dem, was heute vorliegt mehrere Milliarden DM verlorengehen.
Man muß einmal überlegen, wie so etwas überhaupt
zustande kommt. Natürlich war nicht der Minister daran
beteiligt, sondern diejenigen, die das Steuerkonzept ausgearbeitet haben. Diese haben keine Ahnung von der
Landwirtschaft, keine Ahnung von der Existenznot, in
der sich viele Betriebe befinden. Zusätzlich diese sogenannte Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in einer
solchen Radikalität anzukündigen, ist schon schamlos!
({4})
Das geht einher mit den beiden Worten „modern“ und
„sozial“, die wir von Bundeskanzler Schröder in den
zwei Stunden der Regierungserklärung so häufig gehört
haben.
All die flankierenden Maßnahmen, die in der jüngsten
Vergangenheit steuerlicherseits zusätzlich erweitert
wurden, um den Strukturwandel abzufedern - denn dem
Strukturwandel kann sich niemand entziehen -, sollen
jetzt gestrichen werden, und zwar mit dem Zusatz „modern und sozial“. Damit haben wir eine Situation, die
sich nicht nur arbeitsplatzvernichtend, sondern auch absolut unsozial darstellt.
({5})
Hinzu kommen noch die Ankündigungen im Umweltschutz und im Tierschutz. Wo wollen Sie bei den einseitigen Belastungen, die Sie angekündigt haben, denn
Halt machen? Das muß man sich schon fragen.
Die Richtigkeit meiner Aussage von vor der Wahl,
daß die Landwirte die ersten sein werden, die Opfer
einer rotgrünen Regierung sind, zeigt sich bereits heute,
bei dieser Debatte zur Aussprache der Regierungserklärung.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal klar sagen,
daß diese Bundesregierung völlig unvorbereitet in die
schwierigen Runden der Agenda 2000 geht; dies ist für
uns gefährlich. Auch die Aussagen von dem Herrn Minister gerade waren so vage und so unbedeutend, daß
man von dieser Debatte nichts, aber auch gar nichts mit
nach Hause nehmen kann. Herr Minister, Sie sind die
Exekutive und vertrauen darauf, daß wir im Parlament
die Dinge in Ihrem Sinne verändern! Sie, meine Damen
und Herren, sind aufgefordert, eine Vorlage aufzulegen,
die Sie durchsetzen wollen. Sie aber setzen auf uns. Das
ist ein trauriges Stück, das Sie hier abliefern.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und
Herren! Der Kollege Heinrich hat endlich zu seiner
richtigen Rolle gefunden, der Opposition.
({0})
Das war das, was er im Agrarausschuß und in den
Wahlkämpfen immer gespielt hat. Herzlichen Glückwunsch!
Da wir schon vom Zähneziehen gesprochen haben:
Am Anfang der Legislaturperiode wollten Sie ihnen die
nicht mehr ziehen, aber am Ende haben es dann die
Zahnärzte wohl gemeinsam mit den Wählerinnen und
Wählern getan, Herr Ex-Minister Seehofer.
Nach 16 Jahren CDU/CSU-F.D.P.-Regierung ist die
Landwirtschaft von völliger staatlicher Abhängigkeit,
von Bürokratie, schlechter Einkommenslage der Mehrzahl der Betriebe, Betriebsaufgaben, Skandalen und gesellschaftlicher Isolation geprägt. Das ist das Ergebnis
von 16 Jahren unter Ihrer Regierung.
({1})
Die Scherben sind jetzt aufzukehren. In der Agrarpolitik
gilt es, vieles besser zu machen und einiges zu ändern.
Die neue Bundesregierung setzt politische Akzente
und Schwerpunkte, die der gesamtgesellschaftlichen
Rolle der Landwirtschaft wieder neu Rechnung tragen.
Das macht sie nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern
auch in der Person von Landwirtschaftsminiter Funke
deutlich.
({2})
Die Bauern bekommen endlich wieder einen Landwirtschaftsminister, der auch so aussieht.
({3})
Die rotgrüne Bundesregierung trägt darüber hinaus
der Tatsache Rechnung, daß 85 Prozent der Fläche landund forstwirtschaftlich bewirtschaftet werden - Landwirtschaft als wesentlicher Faktor des Umweltschutzes -;
daß die Ernährungsindustrie ein wesentlicher Industriezweig - der viertgrößte in Deutschland - und mit
der Landwirtschaft ein bedeutender Arbeitgeber, besonders im ländlichen Raum, ist;
daß Deutschland weltgrößter Agrarimporteur und
viertgrößter Agrarexporteur ist und in dieser Situation
eine erhebliche Verantwortung für die Gestaltung des
Welthandels trägt. Weiterhin trägt die rotgrüne Bundesregierung der Tatsache Rechnung, daß die Massentierhaltung gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel ist;
daß Verbraucherschutz und die klare Berücksichtigung von Verbraucherinteressen nicht - wie bisher - ein
Wettbewerbshemmnis, sondern eine große Chance am
Markt darstellen; daß die heutige Subventionspolitik
keine Akzeptanz mehr findet und alle Anstrengungen
der Politik darauf ausgerichtet werden müssen, den
Landwirten endlich die Chancen zur Marktorientierung
zu eröffnen.
({4})
Der Koalitionsvertrag spricht im Hinblick auf Ökologie und Tierschutz eine klare Sprache.
Im Gegensatz zur bisherigen Bundesregierung wird
die Bedeutung der Landwirtschaft auf dem Arbeitsmarkt gestärkt. Ein Bündnis für Arbeit soll die Landwirtschaft mit einbeziehen.
({5})
Die bislang kaum genutzten Möglichkeiten zur regionalen Verarbeitung und Vermarktung kommen in eine
bessere Förderung. Die Märkte sollen aufgebaut werden.
Im übrigen sollen auch Nebenerwerbslandwirte eine
Chance erhalten.
Nach jahrelangem Nichtstun der alten Bundesregierung und der Verschleppung der Probleme wird das
Problem der Milchpolitik endlich angepackt. Lieferrechte sollen unter besonderer Berücksichtigung der
Probleme der Grünlandstandorte ausgestaltet werden,
und zwar so schnell wie möglich.
({6})
Zur Agenda 2000: Herr Seehofer, Ihre Worte in Borcherts Ohr - wäre es jetzt nicht bereits zu spät; denn es
war der frühere Minister Borchert, der in diesen Prozeß
im Grunde nichts eingebracht und sich am liebsten unter
den Tisch gesetzt hat.
({7})
Nach unseren Vorstellungen soll die Agenda 2000 die
flächendeckende Landwirtschaft in Europa und in
Deutschland stützen; sie soll Umwelt-, Natur- und Tierschutz auf europäischer Ebene mit einbeziehen und die
Förderung neu orientieren. Dabei soll auch den ostdeutschen Betrieben nicht der Boden unter den Füßen weggezogen werden.
({8})
Die Planungssicherheit im Bereich der Altschulden
und im Bereich der Pachtverträge soll so ausgestaltet
werden, daß die Existenzfähigkeit dieser Betriebe gesichert wird. Natürlich gibt es nichtsdestotrotz Korrekturbedarf; aber die Einbeziehung des Kriteriums der Beschäftigungswirksamkeit wird hier zur Gleichberechtigung dieser Betriebe und auch zur Sicherung der ländlichen Räume in Ostdeutschland führen.
({9})
Ich muß sagen, ich war etwas irritiert von der Rede
unseres Bundeskanzlers Schröder im Hinblick auf den
Agrarbereich, als er davon gesprochen hat, daß er dann,
wenn die Preise auf dem Weltmarkt angeglichen werden, für einen fairen Ausgleich sorgen will. Ich glaube,
er hat einen freien Weltmarkt im Sinn gehabt. Aber solange es diesen nicht gibt, solange sowohl die USA als
auch Europa die „Preisbildung“ mit erheblichen Subventionen massiv beeinflussen, wird man diese Preise
nicht als Orientierung nehmen können. Wir werden uns
dafür einsetzen, der globalen Produktion, dem globalen
Handel auch globale soziale und ökologische Standards
beizugeben und das Menschenrecht auf Ernährung zum
Kriterium der Welthandelsvereinbarungen zu machen.
Nicht nur die Länder der dritten Welt, alle Länder dieser
Welt müssen durch Außenhandelsvereinbarungen in
ihrer Agrarproduktion und Lebensmittelversorgung geschützt und gesichert werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz ein
Wort zur Gentechnik verlieren, die schon heute morgen
ein paar mal mit Bezug auf die Welternährung strapaziert wurde. Technologie ist gut, solange sie ihren Zielen
tatsächlich gerecht wird. Aber in bezug auf den Bereich
der Grünen Gentechnik muß man sagen: Bislang hat sie
alle Befürchtungen bestätigt, die die Kritiker vorgebracht haben: Resistenzen erweisen sich als labil. Ernteausfälle können zur Bedrohung der Welternährung
werden. Gentechnische Organismen können sich unkontrolliert ausbreiten. Solange diese Risiken nicht gelöst werden können, so lange die Sicherheit der Gentechnik nicht gewährleistet werden kann, solange wird
Gentechnik auch ökonomisch ein Flop sein und in ihrer
Entwicklung noch ein wenig reifen müssen.
({10})
Der Deutsche Bauernverband ist einem alten Reflex
und damit der alten Bundesregierung in die Opposition
gefolgt.
Ich sage zur Steuerpolitik der neuen Bundesregierung nur folgendes: Es gibt das Angebot, sich in die Beratungsprozesse einzuklinken, wie es übrigens auch bei
der alten Regierung der Fall gewesen ist; ich erinnere
nur an die Petersberger Beschlüsse. Auch hier wird es
eine entsprechende Diskussion geben, und der Ausschuß
wird Anhörungen durchführen. Ich verweise diejenigen,
die jetzt Kritik vorbringen, auf diese Beteiligungsmöglichkeiten.
Auch im Rahmen der Unternehmensteuerreform wird
es eine Korrektur geben müssen - sie ist von unserer
Fraktion schon angekündigt worden -,
({11})
um nicht zum Beispiel agroindustrielle Betriebe gegenüber bäuerlichen Betrieben besserzustellen.
Ein letzter Blick zurück - Minister Funke hat bereits
auf die Regierungserklärung verwiesen -: Die alte Bundesregierung hat ihre in der Koalitionsvereinbarung von
1994 gemachten Versprechungen nicht erfüllt; ich denke
nur an die Milchpolitik.
({12})
Sie wollten hier doch eine Verbesserung herbeiführen;
aber nichts ist passiert.
Die rotgrüne Bundesregierung wird eine neue, moderne Agrarpolitik einleiten, die Landwirtschaft wieder
in ihrer umfassenden gesellschaftlichen Rolle stärken,
dabei die Interessen der Bauern und Bäuerinnen, genauso aber auch die der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen
und der Verbraucher und Verbraucherinnen sowie der
Umwelt und des Tierschutzes im Blick haben. Und sie
wird sich für ein Gelingen der Osterweiterung einsetzen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich hoffe, daß die Reihenfolge auf
der Tagesordnung keinen Schluß auf die Bedeutung zuläßt, die die Bundesregierung dem wichtigen Bereich
der Agrarpolitik beimißt.
({0})
Die Erfahrungen aus der letzten Legislaturperiode besagen, daß es zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und PDS in vielen parlamentarischen Vorhaben eine
weitgehende Übereinstimmung der Positionen gab. In
einigen Grundpositionen, zum Beispiel bei dem Ausgleich von Währungsschwankungen und der Ablehnung
der Agenda 2000, waren sich sogar alle im Bundestag
vertretenen Parteien einig, was ja in diesem Haus eher
die Ausnahme ist.
Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung
durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen erwarten wir
natürlich, daß die Koalitionsparteien nicht hinter ihre
Anträge aus der letzten Legislaturperiode zurückgehen.
Wir vertrauen darauf, daß sie jetzt die Chancen für eine
neue Politik im Interesse der Bauern und der Nahrungsmittelkonsumenten nutzen.
({1})
Eine Vielzahl von Vorhaben aus der Koalitionsvereinbarung unterstützen wir nachdrücklich, zum Beispiel
die Ausdehnung des ökologischen Landbaus und die
Erweiterung des Vertrags-Naturschutzes, die Förderung
nachwachsender Rohstoffe, das Verbot von antibiotisch
wirksamen Futtermittelzusatzstoffen und die Aufnahme
des Tierschutzes ins Grundgesetz.
({2})
Bei folgenden Formulierungen der Koalitionsvereinbarungen ist uns jedoch noch völlig unklar, was zum
Beispiel gemeint ist mit der Einbeziehung der „ländlichen Räume und der Landwirtschaft in das Bündnis für
Arbeit“, mit einer „befriedigenden Altschuldenregelung“
und mit der „Neuorganisation der agrarsozialen Sicherung“.
Für Irritationen über die Politik der Koalition hat
auch in der letzten Woche wieder der neue Agrarminister, Herr Funke, gesorgt. Die Hoffnung, daß er als Bauer großes Verständnis für die Interessen seiner Berufskollegen entwickelt, wurde maßlos enttäuscht. Ich wiederhole hier gern noch einmal, was ich schon in der vergangenen Woche zu der Absicht, Obergrenzen für
Ausgleichszahlungen einzuführen, erklärt habe: Das ist
eine Provokation.
({3})
Wir unterstützen dazu nachdrücklich die Haltung des
Deutschen Bauernverbandes. Es ist für uns völlig unverständlich, wie sich Obergrenzen mit gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle Betriebe vereinbaren lassen.
({4})
Wir fragen deshalb den Minister, warum Mehrfamilienbetriebe gegenüber Einfamilienbetrieben schlechter gestellt werden sollen.
Geharnischter und berechtigter Protest des Bauernverbandes war auch notwendig, um die Regierung zu
veranlassen, ihr unsoziales Vorhaben der steuerlichen
Mehrbelastung der Bauern wenigstens teilweise zurückzunehmen. Das jetzige Konzept ist jedoch immer
noch nicht akzeptabel.
Das Kernthema ist für uns das Koalitionsvorhaben.
Ich zitiere:
Die neue Bundesregierung wird die ländlichen
Räume stärken und die Landwirtschaft auf der
Grundlage einer reformierten EU-Agrarpolitik mit
ihren unterschiedlichen Strukturen in Ost und West
sichern.
Dieser Satz ist eine Spitzenleistung der Formulierungskunst. Jeder kann ihn so interpretieren, wie er gern
möchte. Aber aussagen tut er leider nichts.
({5})
Und selbst die Untersetzung mit dem Satz: „Die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft . . . ist zu stärken“
bringt nicht mehr Klarheit.
Auf die existentiellen Sorgen der Bauern wird damit
keine Antwort gegeben. Die Agenda 2000 bedroht mit
ihrer Liberalisierungs- und Globalisierungsstrategie, mit
ihrem Verdrängungswettbewerb in den kommenden 15
Jahren mehr als 250 000 Bauernbetriebe in Deutschland
und damit fast eine halbe Million Arbeitsplätze.
Wir erwarten - gemeinsam mit dem Bauernverband von der Regierung eine klare Antwort zum „europäischen Modell der Landwirtschaft“, zu seiner umweltschützenden Funktion, zu seinem Beitrag zu gesunder
Ernährung und zur flächendeckenden Landwirtschaft.
Die PDS wird sich vor allem für die Sicherung der
Einkommen der Bauern durch den Absatz ihrer Produkte
am Markt und für die Zukunftschancen ihrer Betriebe
einsetzen.
({6})
In der vergangenen Legislaturperiode wurde die
Agrarpolitik mit den Attacken auf die Bodenreform
durch die bekannten restaurativen Kräfte belastet. Das
Thema ist auch in Brüssel noch nicht vom Tisch. In einer Annonce der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“
vom 31. Oktober 1998 wurde inzwischen eine neue
Front eröffnet. Es geht nicht mehr allein um die Bodenreform in Ostdeutschland, sondern, wie zu lesen war, um
alle Enteignungen durch „totalitäre Regime“ in Europa.
Aber in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung findet sich dazu kein Wort.
Deutschland wird die Präsidentschaft bei der abschließenden Beratung der Agenda 2000 haben. Die
Bäuerinnen und Bauern in Ostdeutschland und jetzt auch
in Osteuropa haben ein Recht darauf, von der neuen Regierung zu erfahren, welchen Kurs sie in dieser Frage
verfolgen und wie sie die große Verunsicherung beseitigen will.
({7})
Ich beurteile die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder nicht nach der Anzahl der Worte, die
er der Landwirtschaft und dem ländlichen Raum gewidmet hat; denn das Urteil wäre vernichtend. Ich erwarte aber, daß die Koalitionsfraktionen ihre Positionen
zu diesem Thema einer kritischen Prüfung unterziehen.
Angesichts von 800 Millionen Hungernden auf dieser
Erde, deren Zahl ständig wächst, braucht auch die
Landwirtschaft zukunftsfähige, ökonomische, ökologische und soziale Rahmenbedingungen.
({8})
Sie sind mit den Schlagworten „Modernisierung“ und
„Innovation“ nicht beschrieben. Die PDS wird sich jedenfalls an der Gestaltung des „europäischen Modells
der Landwirtschaft“ aktiv beteiligen.
Danke schön.
({9})
Liebe Frau
Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem Parlament.
Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des Hauses.
({0})
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Carstensen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Leeve Herr Minister Funke, an Sie kunn ik dat ja up
plattdütsch moken, wenn Sie ut Norddütschland komen.
Wi kunnt uns dor ja mehrst beter verston. Aber ut Rücksich ok darop, dat Sie een Staatssekretär ut Sachsen
hebben, un ut Rücksich ok op de Stenographen hier will
ik dat denn mal op hochdütsch moken.
({0})
- Nee, ok nich wegen de Mekelnborger. Ik mok dat
schon op hochdütsch, un dann kunnt ji dat ok all verston.
Wir haben
immer mal eine plattdeutsche Debatte.
Ich
möchte Ihnen, lieber Herr Minister Funke, ganz herzlich
gratulieren und Ihnen die besten Wünsche übermitteln.
Sie wären an sich ein idealer grüner Minister. Sie sind
hier ohne Mandat, also sozusagen mit Trennung von
Amt und Mandat. Sie werden wahrscheinlich irgendwann, zumindest nach Ihrem Einstieg, rotieren. Das ist
das Idealste, was man einem grünen Minister bzw. Abgeordneten wünschen kann.
Ich kann mir keinen klassischeren Fehlstart vorstellen
als den, der jetzt von Ihnen hingelegt worden ist. Ich
kann Ihnen aus alter Freundschaft nur empfehlen, lieber
Herr Minister Funke: Sorgen Sie dafür, daß Sie sich gut
mit uns, der Opposition stellen.
({0})
Sie werden unseren Beistand beim Abwehren Trittinscher Vorstellungen und Lafontainscher Begehrlichkeiten noch bitter nötig haben.
({1})
Wir bieten Ihnen dabei unsere Hilfe nicht Ihretwegen
an, sondern weil wir es nicht zulassen wollen und können, daß unsere Bauern von der Last rotgrüner Beschlüsse erdrückt werden.
Herr Minister Funke, Sie haben sich wochenlang von
der Presse und vom Deutschen Bauernverband als Retter
der Landwirtschaft in Sachen Steuerreform feiern lassen.
Aber der Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes, der
uns seit einigen Tagen vorliegt, läßt für die Zukunft unserer Landwirtschaft Düsteres erwarten. Sie sind nicht
müde geworden, den Landwirten in vielen Presseerklärungen Entwarnung im Hinblick auf die Steuerpläne
der rotgrünen Bundesregierung zu geben. Sie haben
mit den Ihnen eigenen markigen Worten versprochen,
ohne Wenn und Aber die vereinfachten Regelungen bei
der Umsatzsteuer für die Landwirte zu erhalten. Sie haben versprochen, es gebe keine Änderung der Umsatzsteuerpauschalierung, und gesagt, eine Abschaffung des
§ 24 Umsatzsteuergesetz sei politisch geradezu widersinnig. Nach dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf werden sämtliche bisherigen Freibeträge und Ermäßigungen
gestrichen.
({2})
Faktisch bleibt von Ihren eindeutigen Zusagen, das bisherige System der Umsatzbesteuerung werde beibehalten, nichts bestehen. Die mit der Steuerreform beabsichtigte Senkung der Lohnnebenkosten geht an den bäuerlichen Familienbetrieben völlig vorbei. Diese werden
vielmehr im Energiebereich durch die Einführung der
Ökosteuer noch zusätzlich belastet.
Herr Minister Funke, Sie verweisen stets - auch heute
wieder - auf die Zusagen von Herrn Schröder und Herrn
Lafontaine, diesen Frontalangriff auf die Landwirtschaft
zurückzunehmen. Diese beiden Herren haben Ihnen aber
schon bei den ersten Diskussionsrunden über die Steuerreform immer das gleiche gesagt. Ich frage Sie: Ist es
Ihnen eigentlich nicht peinlich, wenn der Bauernverband
an den Finanzminister folgendes Schreiben richten muß?
Ich zitiere:
Vielmehr erklärte er,
- Minister Funke die Bauern würden nicht zu Steueropfern gemacht.
In Gesprächen mit dem neuen Bundeskanzler
Schröder und Ihnen als neuem Bundesfinanzminister habe er auf die besonderen Produktionsbedingungen des Agrarbereichs aufmerksam gemacht
und dabei Einvernehmen auf ganzer Linie erzielt . . .
Speziell gab er dabei Garantien für+ die Beibehaltung des vorhandenen Systems der Umsatzbesteuerung sowie für die Besteuerung kleinerer Betriebe
nach Durchschnittssätzen.
Der Bauernverband schreibt weiter:
Wir haben als Deutscher Bauernverband diese klaren und unmißverständlichen Aussagen ausdrücklich anerkannt.
Um so mehr bin ich jetzt betroffen, daß von diesen
Aussagen - der Koalitionsvereinbarungen und des
Bundeslandwirtschaftsministers - im Gesetzentwurf zur Steuerreform faktisch nichts mehr übrigbleibt.
Ich finde, es ist schon peinlich, wenn man so etwas auf
den Tisch bekommt.
({3})
Meine Damen und Herren, einen einzigen, einen
nichtssagenden und kümmerlichen Satz hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung für die Bauern
übrig gehabt.
({4})
Kein Wort über die Landwirtschaft und den ländlichen
Raum. Das, wie auch die Präsenz der Regierungsmitglieder heute abend, zeigt den Stellenwert, den die
Landwirtschaft bei dieser Regierung einnimmt. Sie, Herr
Minister Funke, haben darauf hingewiesen, in der letzten
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl hätte
auch nicht mehr gestanden; ich darf Sie daran erinnern,
daß Ihr Kollege Trittin kürzlich einmal gesagt hat, der
Schwerpunkt der Umweltpolitik werde sich auf das
Lieblingsthema des alten Bundeskanzlers konzentrieren,
nämlich auf die Landwirtschaft. Wenn das schon bis zu
Ihnen durchgedrungen ist, sollten Sie hier so etwas nicht
sagen. Wenn auch in der Regierungserklärung von
Herrn Schröder nur ein Satz steht ({5})
als Ministerpräsident von Niedersachsen hat sich Herr
Schröder ja viel ausführlicher geäußert. Er hat sogar einen vollständigen Satz über die Landwirte gebracht, in
dem er sagte: Ich teile die Sorgen der Landwirte. Seine
Sorge ging damals so weit, daß er den niedersächsischen
Agrarhaushalt innerhalb von acht Jahren um fast 50 Prozent zusammengestrichen hat.
({6})
Seine Umweltministerin, Frau Griefahn, durfte im
Bundesrat ungestraft Landwirte mit Ladendieben vergleichen.
({7})
Mentalität von Ladendieben schreibe ich denjenigen zu,
die als Minister die Vetternwirtschaft bis zur Ehegattenwirtschaft kultivieren, indem sie der eigenen Familie
Aufträge der Regierung zuschanzen.
Auf dem Bauerntag 1997 in Braunschweig sang Herr
Schröder das Hohelied auf die vielfältigen Leistungen
unserer bäuerlichen Landwirtschaft. Die Leute haben
applaudiert. Zur gleichen Stunde lehnte sein Vertreter
im Bundesrat - wie alle rotgrün regierten Bundesländer
- den finanziellen Ausgleichsanspruch der Bauern für
Naturschutzauflagen ab.
({8})
Herr Minister Funke, ich finde, dies ist keine redliche
Politik. Auch zu diesem Punkt sollten Sie sich äußern.
({9})
Lieber Karl-Heinz Funke, wie treten Sie eigentlich
Ihren Fischern an der Nordsee und an der Ostsee entgegen? Was werden Sie Willi Heimat sagen, wenn Sie ihm
erklären müssen: Die Steuerbefreiung für DieseltreibPeter H. Carstensen ({10})
stoffe in der Schiffahrt wird abgeschafft. Sie werden
nämlich feststellen, daß die größeren Fischereibetriebe
ins Ausland gehen und dort tanken werden - zusätzlich
auch anlanden werden -, wenn sie den Diesel hier zum
alten Preis nicht mehr bekommen. Die kleinen Betriebe
werden Ihre Politik auszubaden haben. Herr Funke, ich
bin schon gespannt darauf, wie Sie das den Menschen
dort erklären wollen.
({11})
Nun wissen wir nicht ganz genau, was auf uns zukommt. Man kann nur auf die entsprechenden Regierungsmodelle schauen und sich fragen: Wie haben die
Rotgrünen bis jetzt gewirtschaftet? Ich erinnere mich an
die sogenannte Wiesensteuer in Schleswig-Holstein, die
inzwischen für rechtswidrig erklärt wurde.
({12})
- Sogar für verfassungswidrig erklärt wurde. - Die Landesregierung wollte ihren maroden Haushalt durch Gebühren für die Durchführung der Agrarreform aufbessern. Jetzt gibt es entsprechende Regreßforderungen.
Auch das ist die Mentalität von Ladendieben - und
nichts anderes.
({13})
Auf der einen Seite wird den Bauern das Geld aus der
Tasche gezogen. Aber die Mittel, die der Bund im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung stellt,
werden nicht an die Landwirte weitergegeben.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Aber ausgesprochen gerne.
Wenn ich von Ladendieben und von Geldern höre, die in
der Landwirtschaft nicht ankommen, werde ich langsam
unruhig. Ich möchte einmal auf die landwirtschaftliche
Sozialversicherung verweisen. Hier mußte doch die badenwürttembergische Landwirtschaftsministerin, die ja keine
Grüne ist, Anzeige erstatten und auf Grund von Verquickungen und ungeklärtem, sehr intransparentem Verhalten - zum Beispiel im Zusammenhang mit den DBVGeschäftsstellen - die Staatsanwaltschaft einschalten.
({0})
Es gibt eine Unterrichtung der Bundesregierung beispielsweise zum VDGB-Vermögen.
({1})
Was sagen Sie dazu? Dazu gibt es eine Menge ungeklärter Fragen. 4,2 Millionen DM wurden zugunsten des
Deutschen Bauernverbandes ausgezahlt. An diese Auszahlung waren doch einmal Bedingungen geknüpft.
Weiterhin sind 10,7 Millionen DM aus den Grundstücksverkäufen auf ungeklärte Weise verschwunden.
Zumindest im Bericht ist davon nichts enthalten. Es gibt
also eine Menge Fragen, die wir jetzt an dieser Stelle
stellen könnten, zum Beispiel im Zusammenhang mit
AID, CMA oder Holzabsatzfonds. Wir hätten wirklich
eine Menge Fragen. Vielleicht könnten Sie darauf antworten.
({2})
Frau Kollegin Höfken, der Begriff „Ladendiebe“ stammt
nicht von mir. Er wurde von Frau Griefahn benutzt,
({0})
die jetzt nicht mehr anwesend ist. Sie war eine Stunde
hier und ist dann wieder gegangen. Sie können ja einmal
Frau Griefahn fragen, was sie denn unter Ladendieben
und unter der Mentalität von Ladendieben versteht.
({1})
Frau Höfken, ich stimme Ihnen zu: Wenn es Unregelmäßigkeiten gibt, dann müssen diese Dinge - unabhängig von der Parteizugehörigkeit - aufgeklärt werden.
Es ist offensichtlich in den von Ihnen genannten Fällen
so gewesen, daß die Rechtsstaatlichkeit gegriffen hat.
({2})
Das Geld wird den Bauern aus der Tasche gezogen
und die Mittel aus der GA werden nicht gegeben. Wer
wie Sie, Herr Minister Funke, und wie Ihr Bundeskanzler die politische Zielsetzung und den Zeitablauf für die
Agenda 2000 für richtig hält und unterstützt - das haben
Sie ja heute in Ihrer Antwort auf die Zwischenfrage des
Kollegen Seehofer und im Rahmen des kleinen Disputs
bestätigt -, der muß doch in erster Linie dafür sorgen,
daß die Bauern für die Herausforderungen, die auf sie
zukommen werden, fitgemacht werden.
Zu dem Fitmachen gehören drei Dinge: erstens Entlastung von Auflagen und Wirtschaftserschwernissen. Wir brauchen einen Abbau von hausgemachten
Wettbewerbsnachteilen. Rotgrün baut neue Nachteile
auf und bezahlt sie nicht.
({3})
Dazu paßt folgender Vergleich, Herr Minister: Aus
Agrarumweltprogrammen werden in Schleswig-Holstein
29 DM je Hektar, in Niedersachsen 42 DM je Hektar das ist das Bundesland, das sie gerade so gelobt haben -,
in Nordrhein-Westfalen 21 DM je Hektar gezahlt. In
Bayern werden je Hektar 329 DM gezahlt, in Sachsen
407 DM und in Baden-Württemberg 428 DM. Dazu
sollten Sie sich auch einmal äußern.
({4})
- Dat weet ik im Moment nich. Da könnt wi ja mol nokieken.
Zweitens. Wir brauchen eine Stärkung der Verarbeitung und Vermarktung. Dazu gehört ehrlicherweise
die Kosteneinsparung durch Sturkturbereinigung, Fusion
Peter H. Carstensen ({5})
und Kapazitätsabbau, insbesondere in der Milch- und
Fleischwirtschaft. Auch das darf man nicht verschweigen.
Drittens. Die Mittel insbesondere aus der Gemeinschaftsaufgabe müssen den wirtschaftenden Betrieben
für ihre Entwicklung zur Verfügung gestellt werden.
Was erleben wir? 1996 hat das rotgrün regierte Nordrhein-Westfalen Mittel in Höhe von 13,5 Millionen DM
für die Landwirtschaft nicht ausgegeben. In SchleswigHolstein sparte man im gleichen Jahr 11 Millionen DM
zu Lasten der Bauern ein und verzichtete dort auf Bundesmittel in Höhe von 6,7 Millionen DM.
1997 hat allein Schleswig-Holstein nach einer Umschichtung, auf Grund deren Bundesmittel in Höhe von
11 Millionen DM zurückgenommen wurden, zusätzlich
noch Bundesmittel in Höhe von 5,6 Millionen DM nicht
ausgegeben. Das sind rund 16,5 Millionen DM, auf die
man verzichtete. Zusammen mit den Eigenmitteln des
Landes sind den Bauern, der Landwirtschaft, dem ländlichen Raum und auch dem Küstenschutz vorgesehene
Mittel in Höhe von 28 Millionen DM nicht zur Verfügung gestellt worden. Bei einer Förderrate, Herr Minister Funke, von zirka 20 bis 25 Prozent mußte der
ländliche Raum allein in diesem Bundesland auf Investitionen in die Zukunft in Höhe von 120 Millionen DM
verzichten. Machen Sie das einmal einem mittelständischen Handwerksbetrieb auf dem Lande in SchleswigHolstein klar. Statt dessen halten Sie hier große Reden
über ein Bündnis für Arbeit. Das wäre Arbeit gewesen,
die wir im ländlichen Raum hätten gebrauchen können.
({6})
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Zeit.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluß. - Unsere
Landwirtschaft hat für die Zukunft bessere Rahmenbedingungen verdient als das, was in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben wurde.
({0})
Voraussetzung für die auch von Ihnen, Herr Funke, gewollte Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer
Landwirtschaft ist vor allem eine effiziente Vermarktungsstruktur. Wenn man aber, so wie Sie das tun, hier
nur die Ökoprodukte vor Augen hat, dann springt man
zu kurz. Wir haben die große Sorge, daß Sie zu kurz
springen. Ich biete Ihnen noch einmal an, daß wir Ihnen
auch bei den Sprüngen helfen. Wir wollen Ihnen nicht
nur bei den Schwierigkeiten helfen, die Sie mit Herrn
Trittin und Herrn Lafontaine bekommen werden. Wenn
Sie beim Sammeln für das Astronautenkostüm von Frau
Däubler-Gmelin noch etwas Geld benötigen, wollen wir
Ihnen auch dabei gerne helfen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Matthias Weisheit.
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir
zunächst, daß ich dem neuen Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke im Namen meiner Fraktion
recht herzlich gratuliere. Es hat sich über die Grenzen
von Niedersachsen hinaus herumgesprochen: KarlHeinz Funke, Sie machen Politik mit Augenmaß, suchen
das Gespräch mit den Menschen im ländlichen Raum,
sprechen ihre Sprache, verstehen sie und sind ein Mann
des schnellen Entschlusses.
Das ist auch notwendig, wenn ich an das denke, was
in den letzten 16 Jahren im Bereich der Landwirtschaft
geschehen ist. Die Beiträge der Kollegen Seehofer,
Heinrich und Carstensen waren ein Musterbeispiel dafür, wie schnell man verdrängt, wofür man 16 Jahre lang
verantwortlich war. Hier zu beklagen, Herr Kollege
Heinrich, wie schlecht es der deutschen Landwirtschaft
gehe, ist nicht richtig. Das ist doch das Ergebnis der
Politik der Koalition gewesen, die jetzt endlich zu Recht
abgelöst worden ist.
({0})
Jetzt zu behaupten, die Bauern seien Opfer der rotgrünen
Regierung, das ist nun wirklich völlig neben der Sache.
Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben gemerkt: Es
ist kein leichtes Erbe, das Sie antreten. Wir haben zum
Beispiel im Milchbereich, der auch Gegenstand der
Agenda 2000 ist, erlebt, daß die vorherige Regierung
zwei Jahre lang keinerlei Entscheidung getroffen hat,
wie es weitergehen solle. Jetzt müssen wir das machen.
Jetzt müssen wir das hinkriegen.
Ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar, daß die Bauern
damit rechnen können, daß wir ab April 2000 ein Lieferrecht ohne Kapitalbindung haben.
({1})
- Aber selbstverständlich geht das! - Wir werden das
kapitalfreie Lieferrecht bei der Milch bis zum Jahr 2000
eingeführt haben. Die Bauern können sich darauf einstellen. Bis jetzt konnten sie sich auf gar nichts einstellen und mußten Poker spielen und entscheiden, ob sie
nun mit hohen Summen eine Quote kaufen oder nicht
kaufen. Investitionen konnten nicht stattfinden.
({2})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Aber selbstverständlich.
Peter H. Carstensen ({0})
Herr Kollege Weisheit,
können Sie mir bitte Ihre Meinung zum Steuerreformkonzept sagen: Wird es unsere Landwirtschaft zusätzlich
belasten oder nicht?
Lieber Kollege Heinrich,
ich verstehe die Aufgeregtheit in diesem Zusammenhang überhaupt nicht. Wir haben im letzten Jahr gemeinsam ein Steuerkonzept der damaligen Koalition auf
den Tisch bekommen, das ganz erheblich geändert werden mußte, bei dem der Bauernverband und andere genauso Protest gelaufen sind - zum Teil übrigens zu
Recht. Wir haben das im Ausschuß gemeinsam vernünftig beraten. Ich verspreche Ihnen: Wir werden am
Schluß der Ausschußberatung ein Steuergesetz haben,
das die Landwirtschaft nicht übermäßig belastet.
({0})
Das sage ich für meine Fraktion zu. Darüber brauchen
wir nicht zu diskutieren.
({1})
Wir sind - um noch einmal darauf zurückzukommen -, sehr froh darüber, daß wir diese Quotenregelung,
die den aktiven Milcherzeugern als Klotz am Bein
hängt, ab April 2000 durch ein entkapitalisiertes Lieferrecht ersetzen können.
Für uns steht fest, daß sich Bäuerinnen und Bauern,
die das Rückgrat des ländlichen Raumes bilden, auf erkennbare Entwicklungen einstellen können müssen. Das
konnten sie in den letzten Jahren nicht. Das wird sich
ändern. Eine Politik, die dies durch Klarheit ermöglicht,
dient dem Wohle der Menschen, die im ländlichen
Raum leben und arbeiten.
In diesem Zusammenhang erwähne ich einige Themen, die wir nicht wegdrücken können und zu denen wir
Aussagen brauchen: Das sind die bestehenden WTOVerhandlungen, die von allen in diesem Hause gewollte
und beschlossene Osterweiterung - niemand hat dagegen gestimmt, alle wollen sie -,
({2})
das sich ändernde Verbraucherverhalten bezüglich Qualität und Herstellungsverfahren für Nahrungsmittel sowie die zunehmende Bedeutung des Umwelt- und Naturschutzes.
Die Regierungserklärung und die Ausführungen von
Karl-Heinz Funke haben deutlich gemacht: Die neue
Bundesregierung sieht im Gegensatz zur Vorgängerregierung die auf Sie zukommenden Anforderungen. Sie
wird ihre Politik entsprechend gestalten.
({3})
In dieser Beziehung ist für uns die Weiterführung der
1992 begonnenen Agrarreform richtig. Allerdings muß
sie anders gestaltet werden. Ich weiß gar nicht, was dieses Geschrei hier heute sollte. Wir haben in verschiedenen Podiumsdiskussionen doch immer wieder gemeinsam gesagt: Die Agrarreform muß kommen. - Sie muß
zum 31. März nächsten Jahres fertiggestellt sein, sonst
bestimmen Finanzminister oder Regierungschefs über
die Landwirtschaft.
({4})
Darüber waren wir uns alle einig und brauchen deshalb gar nicht so hektisch zu tun. Wir müssen die Agrarreform gestalten. Dazu müssen natürlich die Vorschläge
der Kommission in dem Sinne geändert werden, daß finanzielle Leistungen zielgenau und mit weniger Bürokratie bei den Bäuerinnen und Bauern ankommen und
den unterschiedlichen Strukturen der Landwirtschaft in
der Bundesrepublik Deutschland und in Europa gerecht
werden.
Strukturwandel wird es in der Landwirtschaft - das
hat der Kollege Seehofer auch gesagt; manchmal meint
man, ein Bauer in Bayern glaube, man könne die Strukturen ewig zementieren - immer geben. Er muß aber im
Rahmen der historischen Vorgaben, der geographischen
und klimatischen Bedingungen in den einzelnen Regionen stattfinden. Es kann nicht angehen, daß wir der
ganzen Bundesrepublik oder ganz Europa eine landwirtschaftliche Struktur, die nur aus Großbetrieben mit
riesigen Schlägen besteht, überstülpen.
({5})
- Ihr behauptet immer, wir wollten dorthin. Die Politik
von 26 Jahren F.D.P. in der Landwirtschaft hat mit dazu
geführt, daß wir auf dem jetzigen Weg sind.
({6})
Deshalb ist es für uns vorrangig, eine nachhaltige und
funktionsfähige Landwirtschaft flächendeckend zu sichern, die auch im Non-food-Bereich in zunehmendem
Umfang zuverlässige Marktchancen erhalten muß. Dazu
gehört eine leistungsfähige Verarbeitung und Vermarktung von Agrarprodukten.
Eine solche Politik sichert und schafft Arbeitsplätze
im ländlichen Raum. Die neue Bundesregierung setzt im
landwirtschaftlichen und ländlichen Bereich deshalb zu
Recht einen besonderen Schwerpunkt bei der Beschäftigung und bei umweltverträglichem Handeln.
({7})
Unser Ziel ist, die Preisausgleichszahlungen der bereits 1992 eingeleiteten und jetzt fortzusetzenden Reform mit sozialen Kriterien zu verbinden.
({8})
Es soll in Zukunft die Wirkung bzw. der Beitrag zur
Förderung der Beschäftigung stärker Berücksichtigung
finden.
({9})
Vergleichbares streben wir bei der Agrarumweltpolitik
an. Sie muß auf der Grundlage der Vorschläge der EUKommission verstärkt und verbessert werden.
Wenn der Kollege Hornung gerade das Stichwort
„Sozialhilfe“ in den Saal ruft, dann frage ich mich:
Warum sind in Baden-Württemberg und in Bayern die
durchschnittlichen Einkommen der Betriebe in den
letzten Jahren ständig gesunken und in anderen Regionen gestiegen?
({10})
Das haben Sie doch mitzuverantworten. Daß das so ist,
macht der letzte Agrarbericht deutlich.
Damit bin ich gleich beim Kollegen Carstensen. Die
hohen Ausgaben, die in diesen Ländern getätigt werden,
haben trotzdem nicht verhindern können, daß die Gewinnsituation genau in diesen Ländern ungeheuer problematisch ist.
({11})
In diesem Zusammenhang unterstützen wir ausdrücklich die Absicht der neuen Bundesregierung, den
ökologischen Landbau auszudehnen. Erfolgreich wird
dies jedoch nur dann sein, wenn - wie in der Koalitionsvereinbarung hervorgehoben - diese Ausdehnung vorrangig durch eine grundlegende Verbesserung des Absatzes und der Vermarktung erfolgt. Das gilt übrigens
nicht nur für den ökologischen Landbau, sondern für den
Landbau insgesamt. Wir haben uns im letzten Jahr eigentlich schon geeinigt, daß in diesem Bereich etwas geschehen muß.
Die Vermarktung war bisher ein Stiefkind der Politik.
Das muß und wird sich ändern. Dies ist zwar kein Allheilmittel, aber ein Beitrag, Landwirtschaft, ländlichen
Raum und Kulturlandschaft zu stabilisieren und für die
Zukunft zu sichern.
Herzlichen Dank.
({12})
Auch ich
danke.
Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen nicht mehr vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. November 1998,
10.30 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.