Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/12/1998

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: 1. Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Aussprache bis 18 Uhr dauern. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wir kommen zunächst zum Themenbereich Wirtschaft und neue Länder. Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 sowie den Zusatzpunkt 1 auf: 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Christa Luft, Maritta Böttcher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Novellierung des Gesetzes über die Feststellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen ({0}) und des Zuordnungsergänzungsgesetzes ({1}) - Drucksache 14/17 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuß ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Ansiedlung einer Airbus-Fertigungsstätte in Mecklenburg-Vorpommern - Drucksache 14/25 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({3}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuß Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege Matthias Wissmann von der CDU/CSU-Fraktion.

Matthias Wissmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat mit seiner Regierungserklärung hohe Anforderungen an die Phantasie der Mitglieder des Bundestages gestellt, ({0}) denn viel Konkretes zur Wirtschaftspolitik war nicht zu hören. Zusammengeführt hat die rotgrüne Koalition der Wille zur Macht. Jetzt sind Sie - wie wir in Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, gespürt haben - in dem Dilemma, was Sie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik konzeptionell Richtiges mit der neugewonnenen Macht anfangen sollen. Besonders deutlich wird dieses Dilemma in der Personalkonstellation. Mittlerweile kennen wir mindestens fünf, die den Anspruch erheben, Wirtschaftspolitik für Deutschland zu gestalten: ({1}) Da ist der Kanzler; da ist sein Adlatus in Gestalt von Minister Hombach; da ist sein Überschatten in Gestalt des Finanzministers und SPD-Chefs Oskar Lafontaine; und dann gibt es zwei Persönlichkeiten mit dem Namen Müller - den neuen Wirtschaftsminister und die Ehefrau von Oskar Lafontaine. ({2}) Meine Damen und Herren, zur Zeit bildet sich folgender Eindruck heraus: In diesem Fünferkreis ist einer für die harten Fakten der Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständig - das ist Oskar Lafontaine -, und drei - der Bundeskanzler, sein Adlatus Hombach und möglicherweise auch Sie, Herr Müller - sollen diese veraltete Wirtschaftspolitik mit modernen Vokabeln möglichst günstig verkaufen. Mit diesen Inszenierungen Eindruck zu machen , wie es Ihnen im Wahlkampf - das muß man Ihnen zubilligen- geglückt ist, wird Ihnen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, wenn sie so falsch bleibt, wie sie angelegt ist, mit Sicherheit nicht über eine ganze Wahlperiode gelingen. ({3}) Die Leitidee Ihrer Wirtschaftspolitik, Herr Bundeskanzler - das wissen Sie, wie wir gespürt haben -, müßte eigentlich sein, so zu tun, als wäre Bewegung in der Sache, aber im wesentlichen an der bewährten Wirtschaftspolitik der früheren Regierung so wenig wie möglich zu ändern. Denn gerade die Ergebnisse des letzten Jahres sind offensichtlich gut: 0,7 Prozent Preissteigerungsrate - das ist eine Preisstabilität wie selten zuvor -, im Vergleich zum Vorjahr 400 000 Arbeitslose weniger - selten hatten wir einen so starken Rückgang der Arbeitslosigkeit in nur einem Jahr - und 2,5 bis 3 Prozent reales Wirtschaftswachstum. Die deutsche Wirtschaft ist hinter den USA und Japan international die Nummer drei. Beim Export sind wir - mit wieder steigender Tendenz - sogar die Nummer zwei. Eigentlich sollte die neue Regierung dankbar sein, daß sie unter so günstigen Bedingungen starten kann. Doch statt einfach und pragmatisch zu regieren, beginnen Sie unter der Federführung Oskar Lafontaines, Ladenhüter aus den 70er Jahren in den Mittelpunkt Ihrer Politik zu stellen: stärkerer staatlicher Einfluß und überall, wo möglich, Umverteilung. Schon tauchen wieder die alten Theorien auf, die in unserem Land in den 70er und zu Beginn der 80er Jahre große wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten bereitet haben. ({4}) Wenn man den offiziellen und inoffiziellen Mitgliedern dieser Regierung glauben darf, so hofft Rotgrün in der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf das große Geldausgeben. Die verlockende Vorstellung, es müsse nur mehr Geld unters Volk kommen und dann würden sich die Probleme des Arbeitsmarkts von selbst lösen, hat sich aber auch schon in der Vergangenheit als die Münchhausen-Geschichte der modernen Wirtschaftspolitik erwiesen. Sich auf diese Weise am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen ist leider mangels festen Grundes immer schon zum Scheitern verurteilt gewesen. ({5}) Überlegungen, verstaubte Ideen aus der Ideenkiste von Lord Keynes wiederzubeleben, sind nicht nur Gegenstand von gelehrigen Aufsätzen und von Talk-ShowRunden der Familie Lafontaine, ({6}) sondern sie sind bedauerlicherweise inzwischen auch in gefährlicher Art - zu realer Politik von Rotgrün geworden. ({7}) Unübersehbar sind die Alarmsignale, die Ihre Regierung in die Wirtschafts- und Finanzwelt aussendet. Nur mühsam läßt sich der Grundsatzkonflikt zwischen dem Finanzminister und der Spitze der Deutschen Bundesbank und der Spitze der Europäischen Zentralbank verschleiern. Während für unsere Währungshüter - Gott sei Dank - Geldwertstabilität nach wie vor höchste Bedeutung hat, sieht man das am Kabinettstisch wohl deutlich lockerer. Ich kann nur sagen: Keynes läßt grüßen. Auch er ist gefährlich leichtfertig mit der Inflation umgegangen. Für ihn war sie Korrekturfaktor für die Löhne. Die Arbeitnehmer sollten kräftige nominale Lohnerhöhungen bekommen. Über die Inflation wurde die reale Kaufkraft dann wieder kaputtgemacht. Das nannte Keynes Geldillusion. Doch wir wissen heute, daß sich die Menschen nicht täuschen lassen und daß sich auch die Wirtschaftskreisläufe durch falsche Theorien nicht positiv beeinflussen lassen. Wenn Inflation wieder zum realen Faktor in der deutschen Wirtschaftspolitik wird, dann muß jeder Unternehmer und jeder Gewerkschafter seine Vorstellungen von zukünftigen Preisen und Löhnen mit einem satten Inflationsaufschlag versehen. Löhne und Preise schaukeln sich dann wieder aneinander auf. Die Inflationsangst nährt die Inflation. Die Hinnahme weichen Geldes als Mittel der Wirtschaftspolitik hat Deutschland in den 70er Jahren in die Massenarbeitslosigkeit geführt, bei gleichzeitig galoppierender Preisentwicklung. Der Satz von Helmut Schmidt, daß ihm 5 Prozent Inflation lieber seien als 5 Prozent Arbeitslosigkeit, wurde von der Realität bitter eingeholt. Noch 1973 gab es 270 000 Erwerbslose. Schon zehn Jahre später, am Ende der Ära Schmidt, gab es - ohne die Herausforderung der Wiedervereinigung, ohne die heute vorhandene Verknüpfung der Weltmärkte - allein in Westdeutschland 2,3 Millionen Erwerbslose. ({8}) In den 70er Jahren lag die Inflationsrate bei durchschnittlich über 5 Prozent, in der Spitze sogar bei 7 Prozent. Schmidt hatte Inflation und Arbeitslosigkeit gleichermaßen erreicht. Der Streit zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung in der Wirtschaftspolitik ist kein reiner Theorienstreit. Die keynesianische Wirtschaftstheorie hat nicht nur in der Praxis versagt. Sie ist auch eine unehrliche Theorie, weil sie darauf setzt, daß die Menschen die Gesetzmäßigkeiten, die der Wirtschaft zugrunde liegen, nicht erkennen. Eine Politik, Herr Bundeskanzler, die darauf setzt, die Menschen zu täuschen, darf keine neue Chance in Deutschland erhalten. ({9}) Sie hat sich in der Vergangenheit nicht bewährt, und sie wird sich auch in Zukunft nicht bewähren. Wenn Ihr Finanzminister für die gesamte Bundesregierung daran festhält, dann paßt das Wort Generationswechsel auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik noch weniger als auf jedes andere Thema. Gegenwärtig müssen alle - nicht nur in Deutschland; schauen Sie sich die Wirtschaftspresse in Amerika, in Frankreich, in London an - den Eindruck haben, diese Regierung habe zwar neue Gesichter, aber mindestens in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ein völlig veraltetes, unmodernes Konzept. ({10}) Meine Damen und Herren, wenn wir zu einer höheren Preissteigerungsrate kommen, dann betrifft das vor allem den ganz normalen Bürger, den sogenannten kleinen Mann, der Monat für Monat mit dem auskommen muß, was er auf dem Gehaltszettel hat, und das Wenige, was ihm am Monatsende bleibt, aufs Sparbuch bringt. Fein heraus ist nur der, der sein Vermögen in Aktienpaketen oder Immobilien angelegt hat, ({11}) denn sie behalten ihren Wert auch dann, wenn das Geld an Wert verliert. Wir halten diese Konzeption für falsch. Auch Ihre Steuerkonzeption setzt auf Massenkaufkraft, auf die Erzeugung einer künstlichen Nachfrage, die die Preise in die Höhe treiben wird. Was nützen ein paar Mark fünfzig an Steuerersparnis für den Normalbürger, wenn er dann an der Ladentheke höhere Preise zahlt und über Energiesteuern in starkem Maße zur Kasse gebeten wird? Dann wird er unter dem Strich nicht mehr, sondern weniger Geld übrig haben. ({12}) Die „Süddeutsche Zeitung“, nicht gerade im Verdacht, es mit der neuen Regierung schlecht und mit der neuen Opposition gut zu meinen, hat vor wenigen Tagen geschrieben, die Steuerkonzeption der neuen Regierung sei mit Verteilungszielen überladen, sie führe zu einer neuen Komplizierung statt zu einer wirklichen Vereinfachung. Professor Rose von der Universität Heidelberg, einer unserer angesehenen Steuer- und Finanzrechtler, hat gesagt, dieses Steuerkonzept sei in Wahrheit „Raubrittertum gegenüber dem Mittelstand“. ({13}) Meine Damen und Herren, wenn es uns gemeinsam darum gehen muß, trotz einer um 400 000 geringeren Zahl von Arbeitslosen weitere Schritte zur Beschäftigungssicherung und zur weiteren Reduzierung der Arbeitslosigkeit zu unternehmen, dann gibt es doch nur ein wirkliches Grundgesetz: Neun von zehn neuen Arbeitsplätzen kommen aus kleineren und mittleren Betrieben. Wir haben heute im Westen Deutschlands gegenüber 1982 noch etwa 1,3 Millionen Arbeitsplätze mehr. Neun von zehn kommen aus kleinen und mittleren Betrieben. Sie können rechnen, wie Sie wollen, über eines ist sich die gesamte deutsche Finanz- und Steuerfachwelt einig, und jeder Bürger, der rechnen kann, kann es nachvollziehen: Ihr Steuerkonzept belastet unter dem Strich genau die kleinen und mittleren Betriebe, die neue Arbeitsplätze schaffen sollen, wesentlich mehr. Das ist Gift für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Gift für die Konjunktur! ({14}) Meine Damen und Herren, völlig planlos stehen neben den Steuerreformplänen die neuen Ökosteuern. Mit einer Steuer- und Finanzpolitik zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen hat das wenig zu tun. Wir müssen wissen, diese Ökosteuerpläne sind auch höchst unsozial und familienfeindlich. Die Regierung will, daß mit dem Geld aus der Ökosteuer die Rentenversicherungsbeiträge gesenkt werden. Davon profitiert ja wohl vor allem derjenige, der ein hohes sozialversicherungspflichtiges Einkommen hat. Draufzahlen wird die Familie, bei der eine größere Wohnung geheizt werden muß, bei der die Waschmaschine ständig läuft, bei der an jedem Morgen viel Wasser verbraucht werden muß, bei der mittags zu Hause gekocht wird, bei der ein Familienmitglied im Dienste von Familie und Kindern mit dem Auto unterwegs ist. Die Wahrheit ist: Ihr Ökosteuerplan ist kein Plan für mehr Ökologie, sondern ein Plan, der gerade Familien mit Kindern in erheblichem Maße zur Kasse bitten wird. Deswegen können wir solchen Plänen nicht zustimmen. ({15}) Meine Damen und Herren, wie man ökologisch richtig handeln kann, haben wir in der letzten Wahlperiode an zwei Beispielen bewiesen: Wir haben eine Gebühr für Lkws auf deutschen Autobahnen, die eine sinnvolle ökologische Lenkungsfunktion wahrnimmt, und die emissionsbezogene Kfz-Steuer eingeführt. Seitdem sind 500 000 Katalysatoren neu eingebaut worden. Die Luft wird weniger verpestet. Wir haben nichts gegen intelligente Ideen und europäisch abgestimmte ökologische Impulse, ({16}) aber mit Konzeptionen wie einer Schröpfsteuer zu Lasten der Familien und neuen Verkomplizierungen des Steuerrechts auf Grund höchst unklarer Definitionen in bezug auf die Frage, welche Betriebe energieintensiv und welche nicht energieintensiv sind, werden wir nicht gemeinsame Sache machen. ({17}) Meine Damen und Herren, wirtschafts- und finanzpolitisch sind Sie auf einem mehr als fragwürdigen Weg. Die „Zeit“, gegenüber der neuen Regierung bisher nicht sehr kritisch, sondern höchst freundlich eingestellt, hat heute ihren Leitartikel zu Ihrer Regierungskonzeption, Herr Bundeskanzler, mit dem Satz überschrieben: Der Fehlstart Schröder wird nie wieder so stark sein wie jetzt. Warum macht er nichts daraus? Herr Bundeskanzler, wenn Sie den Ideen von Oskar Lafontaine, ({18}) wie sie in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt sind, die auf einer falschen Theorie aufbauen und zu falschen praktischen Resultaten führen, folgen, dann erreichen Sie in unserem Land nicht weniger Arbeitslosigkeit, nicht mehr Investitionen und nicht neue Wettbewerbsfähigkeit, sondern Sie bewirken das Gegenteil. Wir brauchen die weitere marktwirtschaftliche Erneuerung. Wir brauchen die Aufnahme der Ideen Ludwig Erhards, die uns, mit neuen Impulsen versehen, als Brücke ins 21. Jahrhundert dienen können. Wir brauchen weniger und nicht mehr Staat. Wir brauchen eine wirkliche Entlastung aller, der Bürger und der Unternehmen. Am wenigsten brauchen wir ein so veraltetes Wirtschafts- und Finanzkonzept für Deutschland wie Ihres. Herr Bundeskanzler, ich hätte Ihnen lieber in meiner Rede zur Wirtschaftspolitik gesagt: Gut, daß Sie modernisieren. ({19}) Die gesamte Wirtschafts- und Finanzwelt ist sich darüber einig, daß Sie in der Sache leider das falsche Konzept haben. Leider haben Sie auch bei der Auswahl der Personen höchst fragwürdige Impulse gesetzt. Daß Ihnen Herr Stollmann von der Fahne gegangen ist, zeigt ja nur, daß einer, der moderne Auffassungen vertritt, mit Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik nichts zu tun haben will. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Bundesminister Werner Müller.

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wirtschaftspolitik ist für mich weit weniger eine Frage von rechts oder links als vielmehr eine Frage von falsch oder richtig, von zukunftslos oder zukunftsfähig. ({0}) Ich will eine Wirtschaftspolitik betreiben, die möglichst alle von Ihnen unterstützen können und unterstützen werden. ({1}) Sofort nach Arbeitsbeginn habe ich den Dialog mit den Wirtschaftsverbänden begonnen. Sie haben mir bis zu 30 Seiten lange Ausarbeitungen mit Vorschlägen gegeben, was nun alles dringend geändert werden muß. Mein einfaches Fazit nach 14 Tagen lautet: Die Verbände sehen die Wirtschaft hart am Abgrund. Sie sagen, zuletzt sei die Lage so dramatisch schlecht geworden, daß es nur noch zwei Perspektiven gebe: endgültiger Absturz oder Wiederaufstieg. Diese Bundesregierung setzt auf Wiederaufstieg. ({2}) Die nationalen und internationalen Wertpapierbörsen vertrauen der neuen Bundesregierung präzise seit dem Wahltag. ({3}) Sehr bewußt hat nach der Wahl, ausweislich des Vorwortes, Herr Henkel ein Buch mit dem sehr bezeichnenden Titel „Jetzt oder nie“ präsentiert. ({4}) Ich wünsche mir sehr, daß sich auch die Wirtschaftsverbände an diese Devise „Jetzt oder nie“ halten. ({5}) Dazu biete ich den Verbänden eine sachliche, zukunftsorientierte und vor allem auch redliche Zusammenarbeit an. Denn ich bin mit den Wirtschaftsverbänden einig, daß wir dringend einiger Grundsatzreformen bedürfen, zum Beispiel bei den Unternehmenssteuern, um ein Steuersystem wie in den westlichen Konkurrenzländern zu bekommen. Diese Bundesregierung wird entsprechend handeln. Sie hat versprochen, was seit Jahrzehnten jede Vorgängerregierung hätte tun können: schrittweise Herbeiführung der Grenzsteuersätze von 35 Prozent. ({6}) Im Gegenzug sollen die Gewinne schrittweise einer breiteren Versteuerung zugeführt werden. Niedrigere Grenzsteuersätze sind vernünftig und richtig, gerade auch um ausländische Investoren in Deutschland wieder verstärkt zurückzugewinnen. ({7}) Angesichts der vielen, nicht immer ganz redlichen Kritik bitte ich zu beachten, es gilt jetzt nicht mehr, was viel zu lange galt: Eine Reform wird vorgeschlagen, beredet, zerredet, und am Ende bleibt alles beim alten, so schlecht es auch war. ({8}) Die Wirtschaft darf davon ausgehen, daß diese Bundesregierung grundlegende Reformen nicht nur will, sondern sie endlich durchführt, ({9}) und zwar nicht etwa, um die Wirtschaft und die Gesellschaft zu ärgern, sondern um sie in eine sichere Zukunft zu führen. ({10}) - Haben Sie Angst vor einer sicheren Zukunft? ({11}) Das gilt auch für die sogenannte Ökosteuer. Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft, die marktgesetzlich peu à peu an Substanz verliert. Der Faktor Arbeit ist sehr teuer geworden. Der Faktor Kapital steht im internationalen Wettbewerb. Diese beiden Faktoren Kapital und Arbeit sind nicht mehr so stabil in den Prozeß der sozialen Marktwirtschaft eingebunden, wie es eine sichere Zukunft erfordert. Tatsächlich besteht aber jeder Produktionsprozeß aus drei Faktoren: Arbeit, Kapital und Natur - Natur in Form von Boden, Luft, Wasser oder auch zum Beispiel Energie. Man kann auch diesen dritten Faktor als Quelle der Staatsfinanzierung benutzen, also zum Beispiel den Energieverbrauch besteuern. Dafür trete ich ein, vorausgesetzt, diese zusätzliche Steuereinnahme wird voll von der Belastung der Faktoren Kapital und Arbeit abgezogen, jetzt vor allem von den Kosten des Faktors Arbeit im Prozeß. ({12}) Ich darf Ihnen versichern: Die Bundesregierung wird bei dieser Reform umsichtig vorgehen. Sie wird beispielsweise darauf achten, daß keine internationalen Wettbewerbsnachteile und auch keine unzumutbaren Härten für die Betriebe entstehen. Bei meinem ersten Gespräch mit Wirtschaftsverbänden hörte ich zur Ökosteuer nur Kritik. Am Ende stand das vermeintlich stärkste Argument: Wenn die Ökosteuer wirklich Lenkungswirkung entfaltet, dann zerbröselt die Steuerbasis. Dem entgegne ich: Wenn das eines ferneren Tages auf Grund der Besteuerung des Naturverbrauchs eintritt, dann passiert genau das, was bei den Faktoren Arbeit und Kapital in den letzten Jahren zunehmend schon passiert ist. Der fundamentale Unterschied ist: Es muß mit aller Macht verhindert werden, daß sich die Einbindung von Kapital und Arbeit in das System der sozialen Marktwirtschaft weiter lockert. Denn das wäre eine immer gefährlicher werdende negative Entkoppelung. Wenn sich der Wirtschaftsprozeß aber längerfristig vom zunehmenden Naturverbrauch entkoppelt, so ist das eine sehr positive und sehr wünschenswerte Entkoppelung. ({13}) Die Bewertung der Natur als eigenständigen Faktor bewirkt ein neues Denken mit vielen Chancen für die Renaissance der sozialen Marktwirtschaft. Auch vor diesem Hintergrund ist es kein gesellschaftspolitischer Zufall, daß eine Partei Regierungsverantwortung trägt, die sich als Anwalt der Natur bildete, als die wenigen Anwälte der Natur in den anderen Parteien noch milde belächelt wurden. Ich sehe der Zusammenarbeit mit den Grünen mit sehr viel Zuversicht entgegen. ({14}) Manche erwarten - vielleicht sogar mit Vorfreude -, daß diese Zusammenarbeit schwierig wird, zum Beispiel auf dem Feld der Energiepolitik. Das sehe ich zur Zeit nicht so. ({15}) Aber ich will Ihnen die Vorfreude nicht nehmen; sie bleibt im Leben oft das einzige. ({16}) Lassen Sie mich am Beispiel Kernenergie erklären, wie ich mir die Kooperation mit der Wirtschaft vorstelle. Die Wirtschaft forderte das Offenhalten aller Energieoptionen, insbesondere der Kernenergieoption, und Teile der Politik schlossen sich dieser Forderung an. Dann fragte die Politik die Wirtschaft: Was wollt ihr denn konkret dafür tun? Die Antwort der Wirtschaft lautete: jedenfalls auf Jahrzehnte hin kein Kernkraftwerk bauen. Ich will für Forderungen der Wirtschaft, wenn sie stimmig sind, dann gerne den Kopf hinhalten - auch in sehr streitigen Kontroversen -, wenn ich zuvor sichergestellt habe, daß die Wirtschaft mich hernach nicht mehr im Regen stehen lassen kann. ({17}) Nochmals beispielhaft: Wenn ein Kernkraftwerksbetreiber von mir das Durchsetzen einer Laufzeit von 60 Jahren fordert, dann würde ich ihm am liebsten erst einmal die Garantie abnehmen, daß er dieses Kernkraftwerk dann auch zwangsweise 60 Jahre betreibt. Ich weiß, das geht nicht. Aber wir sind uns alle einig: Die Frage wäre vom Tisch. Ich möchte also redlichen Klartext. Die Bundesregierung wird nach einem Jahr das Betreiben von Kernkraftwerken hierzulande per Gesetz entschädigungsfrei in einen vernünftigen Auslaufprozeß überführen, der einigen zentralen Kriterien genügt: Erstens. Die deutsche Energieversorgung bleibt vorausschauend versorgungssicher und international wettbewerbsfähig. Zweitens. Die Kapitalkraft der deutschen Energieversorger bleibt erhalten und wird für eine neue Investitionsoffensive genutzt. Drittens. Die Energieversorgung bekommt zunehmend zukunftsfähige Strukturen. Viertens. Die Energieversorger und der Handel mit Energie gewinnen wieder eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. ({18}) Es ist meine ganz feste Absicht, das vorzulegende Kernenergiebeendigungsgesetz zu einem besonders guten Beispiel der Kooperation von Wirtschaft und Politik zu machen. Das neue Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie wird dafür sorgen, daß der Wettbewerb als Motor von Innovationen und Investitionen funktionsfähig bleibt. Hier spielen in meinem Geschäftsbereich auch das Bundeskartellamt und die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post eine weiterhin unverzichtbare Rolle. Innovationen werden darüber hinaus mit unserer Forschungs- und Technologiepolitik gezielt gefördert und vorangetrieben. Die Außenwirtschaftsabteilung meines Hauses wird sich auch künftig dafür einsetzen, daß die Märkte weltweit offen bleiben. Das BMWi wird die Außenwirtschaftsförderung weiter modernisieren. Die effiziente Hilfestellung für deutsche Unternehmen auf allen Märkten ist unverzichtbarer Teil unserer Wirtschaftspolitik. ({19}) Daß Arbeitsplätze entstehen, ist das überragende Ziel unserer Politik für das Handwerk, den Mittelstand und die Industrie - und das alles namentlich in den neuen Bundesländern. Dafür werde ich in den fünf Europäischen Räten - für den Binnenmarkt, für Verbraucher, für Energie, für Industrie und für Telekommunikation - aktiv eintreten. In der Mittelstandspolitik sind mir folgende Aspekte besonders wichtig: die verbesserte Finanzierung innovativer Vorhaben mit Risikokapital zum Beispiel durch Wagnisfonds, ein besseres Klima für Existenzgründer, auch an Schulen und Hochschulen, das Einrichten gezielter Starthilfen und die Bündelung und Konzentration der bisher doch sehr verzettelten Mittelstandsförderung. ({20}) Positive Auswirkungen auf die Investitionsbereitschaft von kleinen und mittleren Unternehmen erwarte ich von einer Zinssenkung bei den ERP-Förderkrediten. Ich habe deshalb entschieden, daß die Zinssätze für neue ERP-Kredite ab sofort um einen halben Prozentpunkt auf 4,25 Prozent bzw. in den neuen Ländern auf 3,75 Prozent zurückgenommen werden. ({21}) Bei innovativen Vorhaben sind die Konditionen zum Teil noch günstiger. Im Mittelstand entstehen viele neue Arbeitsplätze im Bereich der neuen Techniken, der Information und Kommunikation. Nirgendwo sehen wir das zur Zeit deutlicher als bei den privaten Telefondienstleistern. Den Wettbewerb brauchen wir dort auch in Zukunft. Es darf aber nicht zu einer Schieflage zwischen den Unternehmen kommen, die in eigene Netze investieren, und denen, die diese Netze lediglich zur Durchleitung ihrer Gesprächsminuten nutzen. ({22}) Die Nutzungsentgelte müssen stimmen. Hier ist die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation am Ball. - Eine differenzierte Regulierung der Nutzungsentgelte will ich für die Zukunft nicht ausschließen. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie zu stärken ist ein wichtiges Element meiner Aufgaben. In der Luft- und Raumfahrt kommt es jetzt darauf an, die Integration in Europa weiter voranzutreiben und die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern, auch durch nachhaltige Förderung. Im Schiffbau gilt es, die internationalen Wettbewerbsverzerrungen abzubauen und die Forschung auszubauen. Industriepolitik heißt für mich vor allem, branchenübergreifende Standortbedingungen für die deutsche Industrie zu verbessern. Der Technologiepolitik kommt dabei eine besondere Rolle zu. Ich will sie konzeptionell auf Zukunftstechnologien und die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen ausrichten. ({23}) In der Außenwirtschafts- und in der Handelspolitik werde ich auf eine neue, umfassende multilaterale Verhandlungsrunde unter dem Dach der WTO hinwirken. Die Werbung für unser Land als Ziel ausländischer Direktinvestitionen soll verstärkt werden. Meine Damen und Herren, allen Kritikern und Zweiflern möchte ich deutlich sagen: Hier steht der Bundeswirtschaftsminister. Sie werden sich noch freuen über das, was alles die Mitarbeiter des Wirtschafts- und Technologieministeriums in den nächsten vier Jahren an Initiativen entfalten werden - für die Industrie, den Mittelstand, das Handwerk, für Produzenten und Konsumenten, kurzum: für die Wirtschaft und die Menschen in unserem Lande. Wir werden neue Wege wagen und Zukunft gewinnen. Vielen Dank. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff, F.D.P.-Fraktion.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung nach Kräften versucht, der deutschen Wirtschaft die Besorgnis zu nehmen, hier insbesondere den mittelständischen Unternehmen. Dies ist ihm gründlich mißlungen, wie die Reaktionen in der Öffentlichkeit zeigen. Herr Minister Müller, auch Ihre Bekenntnisse zur Zukunft und zum Aufstieg sind schöne Worte. Wir werden aber konkrete Taten sehen müssen. Das, was wir bislang dazu gehört haben, wird dem, was Sie hier gesagt haben, nicht gerecht. ({0}) Von dem, was Sie zur Telekommunikation gesagt haben, glaube ich nicht, daß es ermutigende Worte für Unternehmensgründer gerade in diesem Bereich waren, nämlich in dem Bereich von Dienstleistungen. Sie sollten sich noch einmal gut überlegen, was auf diesem Gebiet in Ihrem Hause offensichtlich angedacht wird. ({1}) In vielen kleinen und mittleren Unternehmen geht nämlich schon wenige Tage nach der Amtsübernahme von Rotgrün mehr die Angst um. Wenn ich „in den kleinen und mittleren Unternehmen“ sage, dann meine ich nicht nur die Unternehmer selbst, sondern auch die Beschäftigten, denn deren Arbeitsplätze sind von der Wettbewerbsfähigkeit dieser Betriebe abhängig, und die scheint nicht gestärkt zu werden. Statt dessen hat der Bundeskanzler jede Warnung vor den verheerenden Folgen Lafontainescher Wirtschaftspolitik wieder einmal in rhetorische Heißluft aufgelöst. Der angebliche Schröder-Aufschwung entpuppt sich schon in den ersten Tagen als ziemlich lahme Ente. Das Problem des Kanzlers ist, daß selbst die begabtesten politischen Darsteller auf Dauer der harten ökonomischen Realität nicht ausweichen können. ({2}) Konkrete wirtschaftspolitische Antworten sind gefragt. Die hören wir aus dem Regierungslager bisher nur vom Finanzminister, der die Richtlinienkompetenz schnellstens an sich gezogen hat. Wo bleibt das Machtwort des Bundeskanzlers, wenn Herr Lafontaine die Unabhängigkeit der Zentralbank in Frage stellt und den Mittelstand mit seinen Steuerplänen an die Wand drückt? ({3}) Sind das die Zeichen der Neuen Mitte? Die rotgrüne Bundesregierung vollzieht gerade einen grundlegenden Kurswechsel der Wirtschaftspolitik, sozusagen einen Paradigmenwechsel. Wir stehen vor einem elementaren Bruch mit den Traditionen der sozialen Marktwirtschaft. Ich will das an drei Punkten festmachen. Erstens. Die Unabhängigkeit der Bundesbank ist vor dem Hintergrund von zwei Inflationen in diesem Jahrhundert immer ein Fixpunkt deutscher Nachkriegspolitik gewesen. Eine stabile Währung ist Grundvoraussetzung für solides Wirtschaftswachstum, für soziale Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger und für mehr Beschäftigung. Eine laxe Geldpolitik führt hingegen allenfalls zu konjunkturellem Strohfeuer und dann geradewegs in die Inflation. ({4}) Die Inflation trifft gerade die Schwächeren in der Bevölkerung. Deshalb ist die Lafontainesche Inflationspolitik zutiefst unsozial. ({5}) Für die F.D.P. war der Abschied von der D-Mark nur unter der Voraussetzung strikter Geldwertstabilität akzeptabel. Der Euro muß genauso hart werden wie die DMark. ({6}) Dafür haben wir Deutschen jahrelang in Europa geworben, und wir haben unsere europäischen Partner überzeugen können. Doch jetzt setzt die rotgrüne Bundesregierung die Stabilität des Euro leichtfertig aufs Spiel. Wirtschaftspolitische Reformen setzt sie nicht fort, sie dreht vielmehr zurück. Statt dessen will sie lieber die Geldversorgung politisch manipulieren. Inflation statt Reformen, das ist letztendlich das wirtschaftspolitische und währungspolitische Kredo der rotgrünen Bundesregierung. Deshalb attackiert das Lafontainesche Küchenkabinett die Bundesbank in einer Weise, die ohne Beispiel ist. ({7}) Deutschland war bisher der politische Garant für die Unabhängigkeit der EZB und die Stabilität des Euro. Soll es nun damit vorbei sein? Meine Damen und Herren, die deutsche Öffentlichkeit muß jetzt wachsam sein. Wir brauchen eine Protestbewegung gegen die drohende rotgrüne Destabilisierung des Euro. ({8}) Zweitens. Nie zuvor ist eine Bundesregierung mit einem derart mittelstandsfeindlichen Wirtschaftsprogramm angetreten. ({9}) Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Zeche für die sogenannte Steuerreform wird natürlich von den kleinen und mittleren Unternehmen bezahlt werden. Die Verteuerung der Energiekosten wird diese Betriebe belasten. Eine adäquate Kompensation ist nicht in Sicht. Es wird zur Hatz auf sogenannte Scheinselbständige geblasen, um Löcher in der Rentenversicherung zu stopfen, die die rotgrüne Regierung durch die Rücknahme der Rentenreform selber aufreißt. Aus diesem Grund werden auch die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse drastisch eingeschränkt. So wird der deutschen Wirtschaft gerade im Kleingewerbe und bei den Dienstleistungen eine unverzichtbare Flexibilitätsreserve genommen. Meine Damen und Herren von der rotgrünen Bundesregierung, so machen Sie Beschäftigungschancen zunichte. Sie sind gerade dabei, ein gigantisches Programm zur Förderung der Schwarzarbeit aufzulegen. ({10}) Wir haben den Kündigungsschutz reformiert und damit vor allem den kleinen Betrieben geholfen. Rotgrün nimmt die Reform zurück. Wir haben die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall reformiert, und damit zu einer massiven Kostenentlastung für die deutschen Unternehmen beigetragen. Rotgrün nimmt die Reform zurück. Wir haben eine demographische Formel in die Rentenversicherung eingeführt, um die Lohnzusatzkosten seriös zu senken und die Renten auf Dauer sicher zu machen. Rotgrün nimmt die Reform zurück. ({11}) Damit wird kein Arbeitsloser in Deutschland neue Beschäftigung finden. Mehr Menschen werden um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen. ({12}) Drittens: Das Bundeswirtschaftsministerium, meine Damen und Herren, hat seit der Zeit Ludwig Erhards eine zentrale ordnungspolitische Funktion innerhalb der Bundesregierung und darüber hinaus. Das war für die Gegner der sozialen Marktwirtschaft schon immer ein Ärgernis. Aus diesem Grund hat der Finanzminister einen strategischen Schlag gegen das Ministerium geführt. Wichtige Bereiche werden aus dem Ministerium herausgelöst und in das Finanzministerium übertragen. Damit wird das marktwirtschaftliche Wächteramt des Wirtschaftsministeriums untergraben, und der Weg wird frei für Dirigismus und staatliche Ausgabenprogramme. Zugleich wird eine Art Nebenkanzleramt für Herrn Lafontaine geschaffen. ({13}) Ich will im Namen meiner Fraktion den Mitarbeitern des Wirtschaftsministeriums danken, die wegen ihrer marktwirtschaftlichen Überzeugung das Haus verlassen müssen oder ins Abseits gestellt werden. Das gilt insbesondere für Herrn Staatssekretär a. D. - so muß ich jetzt sagen - Klaus Bünger und für Herrn Professor Schatz, den früheren Vizepräsidenten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, die aus dem Ministerium ausscheiden müssen, um dem neuen Vulgär-Keynesianismus nicht im Wege zu stehen. ({14}) Meine Damen und Herren, der keynesianische Staatsinterventionismus wird heute nur noch von wenigen Außenseitern unter den Ökonomen als tragfähiges Konzept betrachtet. Keynes hatte seine Theorien im übrigen unter dem Eindruck der extremen Deflation Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre verfaßt. Damals sank das Preisniveau in Deutschland Jahr für Jahr um durchschnittlich 7 Prozent; das Bruttosozialprodukt ging um durchschnittlich 4 Prozent zurück. Die damalige volkswirtschaftliche Situation auf die Gegenwart zu übertragen ist völlig absurd. Die Konjunktur in Europa und den USA ist bisher trotz Asien- und Rußlandkrisen stabil und die Geldpolitik alles andere als restriktiv. Meine Damen und Herren, es gibt keine allgemeine Nachfrageschwäche in Deutschland. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt sind nicht durch zu hohe Zinsen verursacht. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt hängen mit den hohen Kosten für den Faktor Arbeit zusammen und vor allem damit, daß der Arbeitsmarkt durch Staatseingriffe und das Tarifkartell fast zu Tode reguliert worden ist. ({15}) Diese Strukturprobleme sind nur durch einen marktwirtschaftlichen Reformkurs für mehr Wettbewerbsfähigkeit zu beheben. ({16}) Davon aber will die rotgrüne Bundesregierung nichts wissen. Die Folgen für den Arbeitsmarkt werden verheerend sein. Unter diesem Vorzeichen kann auch das vieldiskutierte Bündnis für Arbeit nur ein Fehlschlag werden. Es müßte bedeuten: Senkung der Arbeitskosten und Deregulierung der Arbeitsmärkte. Die rotgrüne Regierung macht gerade das Gegenteil. Es müßte bedeuten: lohnpolitische Zurückhaltung, um den Produktivitätsfortschritt für Neueinstellungen nutzen zu können. Aber der neue Finanzminister und die Gewerkschaften verkünden schon seit Monaten das Ende der Bescheidenheit. Ein Bündnis für Arbeit müßte bedeuten: Reform der Flächentarife, um den Betrieben mehr Gestaltungsspielraum zu geben. Aber davon sind wir weiter entfernt denn je. Die rotgrüne Koalition hat den Bürgern viel versprochen, vor allem einen spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit. Mit dieser Reformverweigerung wird der Abbau der Arbeitslosigkeit nicht gelingen. ({17}) Sie verderben es sich mit denen, die Arbeitsplätze schaffen. Mit denen müssen Sie aber zusammenarbeiten, denn nur, wenn sie die Arbeitsplätze schaffen, können Sie Ihre Versprechen auch erfüllen. ({18}) Meine Damen und Herren, mit Blick auf die verheerende Kehrtwende in der deutschen Wirtschaftspolitik wird in diesen Wochen ständig über den neuen Finanzminister gesprochen und geschrieben. Dabei hat Deutschland auch einen neuen Wirtschaftsminister. Wir haben ihn ja eben hier erlebt. Müller heißt er, mit Vornamen übrigens Werner und nicht etwa Christa. ({19}) Man muß das immer wieder sagen, auch wenn Ihnen das nicht paßt. Es ehrt Herrn Jost Stollmann, daß er schließlich doch noch erkannt hat, auf welches Spielchen er sich mit Rotgrün eingelassen hätte. ({20}) Er hätte aber gut daran getan, vorher einmal das SPDProgramm wirklich zu lesen. Herr Minister Müller hat es nach eigenem Bekunden gelesen, und er betont gern, wie gut er sich mit Finanzminister Lafontaine versteht. ({21}) Ich zitiere ihn aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Dienstag dieser Woche: „Wir verstehen uns prima, lachen auch viel miteinander.“ ({22}) Wir gönnen es Ihnen ja, Herr Minister, wenn Ihr menschliches Harmoniebedürfnis durch den Finanzminister befriedigt wird. Aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß diese Harmonie vielleicht etwas mit der völligen Entmachtung des Wirtschaftsministeriums zu tun haben könnte? Alle Vorhaben des Hauses, so hört man jetzt aus dem Wirtschaftsministerium, sollen eng mit dem Kanzleramt abgestimmt werden, wobei es keine Konfrontation mit dem Finanzministerium geben dürfe. Ist Ihnen wirklich nicht bewußt, Herr Minister Müller, welche klägliche Nebenrolle Ihnen in diesem Spiel dann zugestanden wird, daß Sie in die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik als derjenige Minister eingehen werden, der für den Abgesang auf die große Tradition Ludwig Erhards stehen wird? ({23}) Drohende Gefährdung der Geldwertstabilität, Raubzug gegen die kleinen und mittleren Betriebe, Wende zu einer neuen Politik des Staatsinterventionismus: Bekommen Kanzler und Wirtschaftsminister eigentlich nicht mit, was in der Wirtschaftspolitik hier jetzt wirklich angerichtet wird? Soll das die Politik der Neuen Mitte sein? Oder: Wo ist der Kanzleramtsminister Hombach? Schreibt er gerade an einem neuen Buch über die Angebotspolitik? Ich bin einmal gespannt, was dabei alles noch herauskommt. Besonders gespannt darf man ja auch auf die konkreten Entscheidungen in der Energiepolitik sein. Im Kern geht es der neuen Regierung offenbar dabei um drei Dinge: erstens Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes mit dem Ziel der Beschränkung des Wettbewerbs, der nun einmal eingetreten ist, zweitens Verteuern von Energie durch Einführung von Ökosteuern und drittens schnellstmöglicher Ausstieg aus der Kernenergie. Im Ergebnis führen diese Maßnahmen zu Mehrbelastungen für sämtliche Energieverbraucher, für die Industrie, für den Mittelstand und für die privaten Haushalte, mit all den negativen Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und die Arbeitsplätze in Deutschland. Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik der rotgrünen Bundesregierung wird gerade den neuen Ländern schweren Schaden zufügen. Denn die neuen Bundesländer werden ihren wirtschaftlichen Aufbauprozeß nur dann verstetigen können, wenn die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Engagement verbessert werden. Die bisher geleistete Aufbauarbeit war eine beispiellose Gemeinschaftsleistung der Menschen in den alten und in den neuen Bundesländern. Jetzt brauchen die neuen Länder die Freiheit, um ihre Leistungskraft auch ausspielen zu können. Das rotgrüne Experiment wird diese Freiheit nicht zulassen. Deshalb ist dieses Experiment für Deutschland so fatal, für die neuen wie für die alten Bundesländer, für die Bürger und für die Unternehmen, für die Rentner und die Sparer und vor allem für die, die keine Arbeit haben, die Arbeitslosen. Ich danke Ihnen. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers und auch Ihre Rede, Herr Bundeswirtschaftsminister Müller, haben deutlich gemacht: Wir haben nicht nur eine neue Regierung, sondern wir bekommen auch eine neue, moderne und vor allen Dingen unideologische Wirtschaftspolitik. ({0}) Ich wünsche Ihnen, Herr Minister Müller, eine glückliche Hand und viel Erfolg bei der Führung Ihres umstrukturierten Hauses, in dem - zumindest war das zu lesen - künftig nicht mehr Beethovens Neunte, sondern seine Chorphantasie Opus 80 zu hören sein wird, bei der Sie sowohl den Taktstock führen, als auch die richtigen Töne anschlagen wollen - bei großem Chor und hoffentlich nicht mit allzu vielen externen Solisten. Also viel Erfolg bei den konzertierten Aktionen, die Sie vorhaben! ({1}) Sie haben wiederholt betont, daß Sie fest auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft stehen. Ich glaube, das ist ein guter Ausgangspunkt. Also machen wir uns auf, gemeinsam Neuland zu beschreiten, beginnen wir eine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik! Da Sie auch an der Abwicklung der Kernenergie beteiligt sind, haben wir gleich am Anfang eine große, anspruchsvolle gemeinsame Aufgabe. Während von Ihrem Vorgänger nur der Satz hängenbleiben wird, daß die Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet, wollen wir als rotgrüne Koalition den Beweis antreten, daß auch Ökologie in der Wirtschaft stattfindet. Wir brauchen den Aufbruch eines klassischen Industrielandes auf der Basis ökologischer Innovationen. Denn nur durch nachhaltiges Wirtschaften werden wir auf Dauer den gesellschaftlichen Wohlstand sichern können, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. ({2}) Unsere Koalition beginnt ihre Arbeit in einer sehr schwierigen weltwirtschaftlichen Situation. Auch wenn die Krisen in Asien, Rußland, Lateinamerika nicht mehr die Schlagzeilen beherrschen, bewältigt sind sie damit noch nicht. Die Weltbörsen scheinen zwar zur Normalität überzugehen; die Politik aber kann es nicht. Absatz und Gewinn vieler deutscher Unternehmen sind von den weltwirtschaftlichen Turbulenzen betroffen. Der Export ist ins Stottern geraten und mit ihm die zaghafte konjunkturelle Entwicklung. Manch einer sieht diese deflationären Tendenzen aus Südostasien bereits nach Amerika bzw. Europa überschwappen. Das scheint mir allerdings übertrieben zu sein. Wir haben in Europa kein sinkendes Preisniveau. Wir haben zwar stellenweise ein zu geringes, aber dennoch klar erkennbares Wachstum und eine hinreichende Ausweitung der Geldmenge. Zudem gibt es im Zuge der Zinskonvergenz einen ständigen Prozeß der Zinssenkung in Europa. Insofern schießen die diesbezüglichen Ideen der letzten Tage über das Ziel hinaus. Wenn auch die Gefahr einer deflationären Entwicklung gering ist, treffen uns diese Turbulenzen in einer Situation, die von schwacher Binnenkonjunktur und einer unakzeptabel hohen und verfestigten Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. Unsere Antwort auf das verschlechterte Weltwirtschaftsklima muß deswegen eine starke, europäisch ausgerichtete Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sein. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die planmäßige und möglichst störungsfreie Einführung eines stabilen Euro. Früher wurden den neuen Bundesregierungen die ersten hundert Tage als Schonzeit angerechnet. Aber diese alten Gepflogenheiten scheinen nicht mehr zu gelten. Heute hat man eher den Eindruck, daß etliche Kritiker den Abschlußtermin des Wahlkampfes verpaßt haben. ({3}) Doch mit oder ohne Schonzeit: Diese Regierung schont sich nicht. Oder haben Sie, meine Damen und Herren, die Sie in 16 Jahren mit vier Regierungsbildungen beauftragt wurden, schon einmal erlebt, daß eine Regierung so schnell im Amt war, so zügig ihre Arbeit aufgenommen hat und so schnell die ersten Schritte in die Wege geleitet hat? ({4}) - Ob Ihnen das gefällt, ist eine andere Frage. Wir stimmen durchaus mit solchen Meinungen wie der von Herrn Schleyer, dem Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, überein, der sagt: Die Politik darf sich nicht noch weiter vom Ziel entfernen, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Weil die alte Koalition dabei völlig versagt hat, ist sie doch abgewählt worden. ({5}) Sie haben doch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit versagt, am Ende sogar vor ihr kapituliert. Mit Sozialabbau, mit Deregulierung, mit Privatisierung waren diese Probleme eben nicht zu lösen. Von tatsächlicher Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Rahmensetzung war jedenfalls nicht allzuviel zu merken. Die Massenarbeitslosigkeit und die uneingelösten Versprechen beim Aufbau Ost waren doch - neben dem Wunsch nach einem Kanzlerwechsel - die eigentlichen Hauptgründe für diese Wahlniederlage. Genau hier, bei diesen Erwartungen, wollen wir unsere Schwerpunkte setzen. Deswegen hat die neue Bundesregierung gleich an den Anfang ein Bündnis für Arbeit und Ausbildung gesetzt. Walter Riester hat schon gestern die wesentlichen Punkte betont: ein Sofortprogramm, das 100 000 Jugendliche in Arbeit und Ausbildung bringen wird, Ausbildungsplatzgarantie, neue Spielräume für Arbeitszeitverkürzung und eine Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten von momentan 42,3 Prozent auf unter 40 Prozent durch eine ökologische Steuerreform. Ich habe ein Zitat von Herrn Peter Repnik vom 19. Mai 1995 gefunden: Eine umweltorientierte Strukturreform des Steuersystems eröffnet für die Unternehmen langfristige Wachstumschancen. Vor Jahren haben Sie es doch noch gewußt! Wieso ist dieses Wissen plötzlich verschüttgegangen? ({6}) Es ist also völlig unvernünftig, wenn Hundt und Henkel und Stumpfe und Stihl jetzt Front gegen die Ökosteuer machen. Ich glaube, hier haben wir viel Überzeugungsund Aufklärungsarbeit zu leisten. Diese Verbandsvertreter reden momentan gegen ihre eigenen Interessen. ({7}) Die Perspektive liegt in der Kombination von Arbeit und Umwelt. Wir führen kein neues Abkassieroder Umverteilungsinstrument ein. Wir wollen umsteuern und nicht so weiterrudern wie Sie in der Wirtschaftspolitik. Das ist der eigentliche Punkt. ({8}) Hier wird eine Offensive für neue Märkte, für neue Produkte, für neue Arbeitsplätze eröffnet, wenn Sie so wollen: auch für neue Berufsbilder. Deutschland kann und wird und muß ein Testmarkt für Energieeinspartechnologien und regenerative Energien werden. Ich appelliere hier deutlich an die Wirtschaft: Nehmen Sie die Signale ernst und stellen Sie sich darauf ein, daß erfolgreiches Wirtschaften in Zukunft mehr und mehr ökologisches, also nachhaltiges Wirtschaften sein wird. Das wird sich für Sie lohnen. ({9}) Die Steuerentlastungsgesetze der rotgrünen Regierung dienen der Verbesserung von Wachstum und BeWerner Schulz ({10}) schäftigung. Die Investitionskraft der Unternehmen wird gestärkt und die Binnennachfrage belebt. Auch wenn Ihnen das zuwenig erscheint: Es ist eine seriöse Steuerentlastung und eben nicht die Petersberger Wundertüte, die Sie ausschütten wollten. Wir haben keinen vollen Jackpot geerbt, sondern leider nur die altbekannte Waigel-Melodie: „Wenn der Topf aber nun ein Loch hat ...“ Das ist die Situation. Wir haben eine Steuerreform vor, die der derzeitigen Haushaltslage gerecht wird. Abgesehen davon, daß die alte Regierung leider nicht den Mut hatte, Ostdeutschland als Niedrigsteuergebiet einzustufen, bringt diese Steuerreform vor allen Dingen den neuen Bundesländern klare Vorteile, weil damit arbeitsplatzschaffende Investitionen gefördert werden. Ich will allerdings nicht verschweigen, sondern kritisch anmerken, daß wir mit der Streckung von Steuerabschreibungsmöglichkeiten bei Baudenkmälern und der Streichung bei der Altbausanierung Gefahr laufen, einen wichtigen Prozeß zu verlangsamen: den der Stadterneuerung und Wohnungsmodernisierung, was der ohnehin angeschlagenen ostdeutschen Bauindustrie nicht gerade zugute kommen wird. Denn wenn der Aufbau Ost in der Vergangenheit sichtbar wurde, dann durch die Erneuerung der Städte und Kommunen. Ich komme aus Leipzig, einer Stadt, die offenbar mehr Baudenkmäler hat als ganz Nordrhein-Westfalen, wie ich überraschenderweise aus dem SchleußerMinisterium gehört habe. Das sollten wir aber nicht als Zumutung begreifen, sondern als eine Herausforderung, eine Chance. Die deutsche Einheit hat uns die Möglichkeit gegeben, diese Kleinodien zu erhalten. Das kann doch nicht nur Herr Dr. Jürgen Schneider kapiert haben. Leipzig hat noch immer die größten Gründerzeitquartiere Europas. Hier läuft allerdings ein Wettlauf zwischen Erhalt und Zerfall. Nichts ist so gut, daß es nicht nachgebessert werden kann. In dieser Hinsicht müssen wir uns die Steuerreform noch einmal genau anschauen. ({11}) - Wir haben ein konstruktives Arbeitsverhältnis, das auch Korrekturen zuläßt, Herr Ramsauer. Wenn wir schon Steuerabschreibungs- und Steuersparmodelle ausdünnen, dann sollten wir auf zielgenauere Investitionen achten und bei dieser Gelegenheit vielleicht eine klare Trennung zwischen Steuer- und Förderrecht im Wohnungsbau schaffen. ({12}) In den vergangenen acht Jahren ist in den neuen Bundesländern viel erreicht worden. Die Ostdeutschen haben auf allen Gebieten beeindruckende Aufbauleistungen erbracht. Die Bürger Westdeutschlands und auch die Bundesregierung - ich sage das ganz bewußt: auch die Bundesregierung - haben das wirksam unterstützt. Ich habe das trotz der Kardinalfehler in den ersten Jahren der deutschen Einheit immer zu würdigen gewußt ganz im Gegensatz zu manchen aus der PDSOpposition, die jetzt Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern übernommen haben und dort vielleicht auf ihre eigenen Schadenshinterlassenschaften stoßen werden. Wir werden die Aufbauhilfen fortsetzen. Doch damit können und werden wir uns nicht zufriedengeben. Spätestens seit 1996 stagniert der wirtschaftliche Aufholprozeß Ostdeutschlands. Das Bruttoinlandsprodukt verharrt bei 56 Prozent, die Arbeitsproduktivität bei knapp 60 Prozent, und auch der Kapitalstock wächst nicht mehr schneller als der westdeutsche. Gerade die Unterkapitalisierung Ostdeutschlands ist ja ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit. Wir werden deswegen den Aufbau Ost ohne Wenn und Aber fortsetzen. Wir machen aber keine unhaltbaren Versprechungen. Die neue Bundesregierung wird nicht mit der vollen Gießkanne über die Landschaften gehen können und die in den Sand gesetzten Projekte zum Blühen bringen. Doch wenn wir von den neuen Bundesländern sprechen, dann sollten wir dafür sorgen, daß sie die modernsten, daß sie die zukunftsfähigsten Bundesländer werden. Nur dann macht der Begriff Sinn. Deswegen sind bessere Bedingungen für Investitionen und Innovationen für den Osten von besonderer Bedeutung. Wir haben das im Koalitionsvertrag durch ein spezielles Programm „Zukunft Ost“ unterstrichen. Meine Damen und Herren, ich glaube nicht an die Mauer in den Köpfen. Wir müssen eher das Brett davor abstreifen. Wir können die mentalen Unterschiede nur überwinden und produktiv machen, wenn wir aufeinander zugehen. Deswegen begrüße ich die Ankündigung des Bundeskanzlers, daß das Kabinett regelmäßig in den neuen Ländern tagen wird, daß der Anspruch „Chefsache“ dahin gehend eingelöst wird und Gestaltungskraft bekommt, daß der Chef vor Ort sagt, was Sache ist, daß wir uns nicht bei Problembetrachtungen aufhalten, sondern Problemlösungen anbieten. Wir werden Ihnen dabei helfen, wir werden Sie dabei unterstützen, daß das eine Erfolgstournee wird, daß die Leute erkennen: Hier ist eine handlungsfähige, eine leistungsfähige Regierung im Amt, die sich um die angestauten Probleme im Osten kümmern wird. Ich begrüße das sehr. ({13}) Wir, die Koalitionsfraktionen, haben dazu einen Ausschuß eingerichtet, der sich um die Angelegenheiten der neuen Bundesländer kümmern wird. Wir hätten ihn schon vor acht Jahren gebraucht, Herr Schäuble; wir wären vielleicht an mancher Stelle weiter, wenn wir diesen Ausschuß gehabt hätten. Denn der Aufbau Ost ist eben nicht nur ein Problem von Transferleistungen und Infrastrukturprojekten. Vielmehr ist es auch eine Frage, wie wir die kulturellen Besonderheiten, wie wir die Lebenserfahrungen, wie wir die Wertevorstellungen in Ost und West zusammenbringen und wie wir sie produktiv machen. In diesem Sinne ist Wirtschaftspolitik eben auch Gesellschaftspolitik. Werner Schulz ({14}) Alle Akteure in unserem Land müssen ihre eigenen Interessen zurückstellen, damit die notwendigen Reformen gelingen. Das ist so bei der Steuerreform, dem Bündnis für Arbeit und Ausbildung, dem Aufbau Ost und der Ökosteuer. Wir werden diese Reformen nur bekommen, wenn einige bereit sind, auf ihre Maximalpositionen zu verzichten. Dann werden unter dem Strich alle profitieren. Die neue Bundesregierung ist entschlossen, den wirtschaftlichen Rahmen zu setzen, um die Massenerwerbslosigkeit abzubauen, um Investitionen und Innovationen in Gang zu bringen. Wenn ich mich recht entsinne, hat auch Kurt Biedenkopf einmal formuliert, daß die ökologischen Grundlagen des Wirtschaftens als ein Ziel der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung festgeschrieben werden sollten. Es ist uns Bündnisgrünen gelungen und es der Wille der rotgrünen Koalition, den ökologischen Strukturwandel zu einer Richtschnur des wirtschaftlichen Handelns der neuen Mehrheit zu machen. Das ist ein wichtiger Paradigmenwechsel, den wir jetzt in die praktische Politik umsetzen. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Kollege Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Folgt man den Worten des Bundeskanzlers, so sind wir von einem „Standort“ jetzt in einen „Bewegungsort“ geraten. Es ist sicher, daß man einen solchen Wechsel nur unter der Voraussetzung begrüßen kann, Bewegung findet tatsächlich statt und die Richtung stimmt. Beides ist aber - das will ich hier deutlich sagen - bei der Wirtschaftspolitik bisher noch höchst ungewiß, zumindest wenn man die Probleme der Unternehmen und Existenzgründer nicht nur durch eine fiskalische Brille betrachtet. Da setzt meine Kritik an der Regierungserklärung an. Es ist alles zu sehr aus der fiskalischen Sicht betrachtet worden. Wenn es dabei bliebe, wäre das schon der Anfang vom Ende des beschworenen wirtschaftspolitischen Aufbruchs oder Wiederaufstiegs. Der Herr Bundeskanzler referierte ausgiebig über Steuerreformen und Lohnnebenkosten. Die dabei vorgestellten Konzepte sind entgegen allen Ankündigungen teils unausgegoren, teils unökologisch, teils unsozial und damit letztlich auch wirtschaftspolitisch noch fragwürdig. ({0}) Sie folgen der schon seit Jahren schmerzhaft widerlegten Philosophie des Steuerns durch Steuern. Wirtschaftspolitik soll wieder gemacht werden, wurde gesagt. Die Regierungserklärung und die Koalitionsvereinbarung erlauben bisher aber nur einen Schluß ich verstehe die Aufregung des Kollegen Wissmann überhaupt nicht -: Es ist alter Wein in neuen Schläuchen. Herr Kollege Wissmann, was ist denn falsch an den Überschriften „moderne Mittelstandspolitik“, „weniger Bürokratie“, „schnellere Innovation“, „besserer Zugang zu neuen Technologien“, „effizientere Vermarktung“ und „Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten“? All diese Fertigstücke waren auch schon in den verschiedenen Programmen und Erklärungen der alten Regierung enthalten. Das Problem sind doch nicht die Überschriften, sondern es liegt darin, wie man diese Überschriften ausfüllt. Dazu gibt es bisher noch keine Kritik, weil noch keine Zeit war, sie auszufüllen. ({1}) Dabei hat der Bundeskanzler durchaus recht: Seine Koalition hat kein wohlbestelltes Haus übernommen. Deshalb müßte eine neue Architektur und nicht nur ein bloßer Anstrich zu erwarten sein. Eines wundert mich nicht: Der Bundeskanzler hat von der Kreativität und der Innovationsfreude der Existenzgründer und Mittelständler geschwärmt. Gerade damit jedoch glänzte seine Fraktion in der letzten Wahlperiode nicht. Eher rochen die wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Vorschläge die der SPD, nach noch mehr Bürokratie und weniger Effizienz. Ich bin der Meinung, Sie haben jetzt die große Chance, endlich den Gegenbeweis anzutreten. ({2}) Die PDS wird ihre seit Sommer 1997 auf dem Tisch liegenden Vorschläge zum radikalen Umbau der Förderkulisse neu einbringen. Ich freue mich, daß der Bundeswirtschaftsminister das Unwesen im Fördermittelbereich angreifen will. Wirtschaftsförderung muß endlich bei denjenigen ankommen, die sie tatsächlich brauchen: bei den eigenkapitalschwachen Existenzgründern und den Kleinunternehmern. ({3}) Sie muß sich endlich allein an dem Kriterium orientieren, das sie gerechtfertigt erscheinen läßt: an der Zahl dauerhafter, soziale Sicherheit schaffender Arbeitsplätze. ({4}) Herr Kollege Schwanhold, am Montag haben mich 30 Mittelständler aus Thüringen besucht. Sie hatten sich spontan zusammengefunden und einen Bus gechartert, um denen in Bonn - so drückten sie es aus -, also uns, ihre Existenzängste nahezubringen. Es war eine Menge Frust aus dem Kreis derjenigen, die vom Wort her im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stehen, über Zahlungsmoral, Kammerbürokratie, Auftragsvergabe und Wirtschaftskriminalität zu hören. Ich bin sicher, Herr Kollege Schwanhold, daß Ihnen Ihr Referent das Bild genauso geschildert hat; denn er hat nach mir mit Ihnen gesprochen. Am Dienstag - der Kanzler beschwor gerade die Neue Mitte - wurde einer der Teilnehmer der Montagsrunde aus der „alten Mitte“ buchstäblich ausgeschlossen. Dem 58jährigen Isolierungsmeister aus Schmiedefeld am Rennsteig flatterte ein Brief des Amtsgerichts Meiningen ins Haus: Gesamtvollstreckung über das eigene Vermögen. Das ist sein kleines Haus. Werner Schulz ({5}) Seine fünf Beschäftigten arbeiten gerade im Emsland - das nur zum Thema Mobilität und ökologischer Umbau -, und er hatte ihnen pünktlich den Lohn gezahlt - Stichwort: Binnennachfrage -, aber der Innungskrankenkasse Südostthüringen fehlen mittlerweile 26 000 DM an Sozialabgaben. Der vermeintliche Abgabenhinterzieher rennt jedoch selbst seit Februar über 22 000 DM und seit August/September weiteren 9 000 DM einer Suhler Firma hinterher. Für die hatte er als Subunternehmer Aufträge in der Kyffhäuser-Kaserne in Bad Frankenhausen, in Sozialwohnungen in Schleusingen und im Frankfurter Römer ausgeführt. Als er am Dienstag Nachmittag in der Suhler Firma erneut anrief, meldet sich dort nur noch der Sequester. Nur am Rande sei erwähnt, daß der Mann darüber hinaus seit 1994 weitere 70 000 DM an Außenständen aus massenlosen Konkursen abschreiben mußte. Ich meine, es ist wichtig, auf Messen und in Diskussionen immer wieder auf erfolgreiche Mittelständler zu zeigen. Wir dürfen uns aber nicht vormachen, daß nur der erfolgreiche Mittelständler den Mittelständler verkörpert. Wir müssen uns auch und gerade um die kleinen und kleinsten Existenzen kümmern. ({6}) Ich habe diesen makaberen Fall ausgebreitet, weil er mittlerweile auch im Westen und nicht nur im Osten, wie der Bundeskanzler am Dienstag zum Thema Eigenkapital und Zahlungsmoral vielleicht angenommen hat, symptomatisch ist. In ihm bündeln sich brennende Probleme, ohne deren Lösung die wirtschaftliche Gesundung zu vergessen ist. Sie wurden in der Regierungserklärung entweder gar nicht oder nur in Halbsätzen gestreift ({7}) - ich nenne jetzt die Punkte; Sie wissen doch gar nicht, was ich sagen will -: Justizreform gerade im Wirtschafts- und Vertragsrecht - das können Sie nachlesen -, das Generalunternehmerunwesen in der öffentlichen Auftragsvergabe und Veränderungen zum Beispiel im BGB und Strafrecht, um der grassierenden Zahlungsunmoral wieder Herr zu werden. Es reicht nicht aus, eine neue Gründerzeit auszurufen und eine Neue Mitte zu beschwören. Die alte Regierung hat Rechtssicherheit - den Blutkreislauf des wirtschaftlichen Organismus - fatal vernachlässigt. Ohne dessen sofortige Operation droht der Kollaps. Sie können gar nicht so viele neue Existenzen fördern, wie bestehende sonst zugrunde gehen, abgesehen davon, daß dann auch die Lebenserwartung der Neulinge miserabel wäre und daß Pleiten keine abstrakten statistischen Größen, sondern konkrete Schicksale sind. Wer „Deutschlands Kraft vertrauen“ will, wie es das Motto der Regierungserklärung besagt, der muß überhaupt erst wieder Vertrauen bei den Menschen in aufgestellte Normen schaffen. Dies gilt gerade auch für die neuen Länder: Hier trieb die abgewählte Regierung besonders viel Schindluder. Außer neuen Namen und Amtsbezeichnungen hat aber auch Rotgrün hier bisher noch nichts Konkretes angeboten. Wie wollen Sie Förderpräferenzen, Infrastruktur und Innovationsfähigkeit in Ostdeutschland anders sichern, als es in der Kohl-Ära geschah? Denn diese Überschriften sind ja schon seit langem sattsam bekannt. Die PDS wird unter diese Überschriften, wie seit Jahren, Texte setzen, die Vorschläge zum Handeln beinhalten. Wir hoffen, daß Sie sich, meine Damen und Herren auf den Koalitionsbänken, auf diesen Wettbewerb im Interesse vieler Menschen mit uns einlassen. Nehmen Sie unseren heutigen Antrag zur Airbus-Ansiedlung in Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise als Angebot einer vertrauensbildenden Maßnahme. Es ist schon ein Unding, daß ein designierter Bundeskanzler den Osten zur Chefsache erklärt und im gleichen Atemzug als Noch-Ministerpräsident die Chancen eines ostdeutschen Fertigungsstandortes verschlechtert, so wie es im Oktober geschah. Man kann zum Kollegen Kohl stehen, wie man will, aber so etwas wäre beim Altbundeskanzler nicht passiert. ({8}) Wir bieten Ihnen von der neuen Koalition die Chance, diese Irritation nun auszuräumen. Dazu müssen Sie sich nicht einmal bewegen. Sollten Sie es aber in der Wirtschaftspolitik ansonsten nicht tun, ({9}) so werden wir demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten Sie in den nächsten Jahren schon auf Trab bringen, damit - um ein Wortspiel Ihres Kanzlers aufzugreifen - aus dem „Standort“ tatsächlich ein „Lebensort“ mit neuer „Lebensart“ wird. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion .

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich in meinem Wahlkreis gefragt werde, was denn „da oben in Bonn“ mein Aufgabengebiet sei, dann habe ich bisher immer sehr gern und - das muß ich sagen - mit einem gewissen Stolz gesagt: ({0}) Ich kümmere mich um die Wirtschaftspolitik. Heute könnte man jedoch schnell in den Verdacht kommen, daß man für Messeeröffnungen und Spatenstiche zuständig ist. ({1}) Da ist mit einem einzigartigen Vorgang von jemandem das Wirtschaftsministerium ausgehöhlt worden, um jemandem seine Machtkompetenz zu erweitern - die wichtigste Abteilung mit Grundsatzreferaten ist in das Finanzministerium verlegt worden -, und derjenige, den das betrifft, hält es nicht einmal für wert, bei dieser Debatte dabeizusein. ({2}) Nichtsdestoweniger werden wir Wirtschaftspolitiker von der Union es uns nicht nehmen lassen, zukünftig Wirtschaftspolitik, wie wir sie verstehen, in ihrer Gesamtheit zu machen. Herr Minister Müller, Sie sind wirklich nicht zu beneiden. - Aber ich sehe, daß es dem Minister nicht mehr wert ist, der Debatte zu folgen. ({3}) Man hat das Gefühl, daß er in wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen seine Meinung nicht äußern darf. Sie sind an eine rotgrüne Koalitionsvereinbarung gebunden und müssen gegenüber gestandenen Unternehmern alte Thesen aus den 70er Jahren vertreten. Wie schwer Sie es haben, hat jeder bemerkt, der Ihr Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 5. November 1998 gelesen hat. Darin sagen Sie unter anderem: Bei der Diskussion über Nachfrage- und Angebotspolitik stehe ich „zwischen Baum und Borke“: Weiter antworten Sie auf die Frage, was Sie denn von der Reform der 620-DM-Jobs halten, da seien Sie „etwas hinund hergerissen“. Zu der Liberalisierung des Energiemarktes - ein Thema, bei dem Sie ja ein Experte sein sollen -, sagten Sie: „Da habe ich ... zwei Seelen in meiner Brust.“ Das sind Aussagen, die zeigen doch, welche Qual es sein muß, in einer rotgrünen Regierung Wirtschaftspolitik machen zu müssen. ({4}) Aber die Schizophrenie steckt dabei im System: Da wird im Wahlkampf der unternehmerische Mittelstand als Neue Mitte hofiert. Den Selbständigen und Freiberuflern wird eine heile Welt versprochen. Doch was passiert, kaum daß die Wahl vorbei ist? Es wird bei denjenigen abkassiert, die Arbeitsplätze und Lehrstellen schaffen sollen; es wird der Entwurf einer sogenannten Steuerreform präsentiert, der eine Mehrbelastung der Unternehmen in verschiedenen Stufen vorsieht; verteilungspolitische Wohltaten werden nahezu ausschließlich über die Steuergelder der Unternehmen finanziert; dem Mittelstand wird die Liquidität entzogen, die er momentan so dringend braucht; und Investitionen werden erschwert. ({5}) Ich nenne nur ein Beispiel: die Streichung der Teilwertabschreibungen. Das trifft doch gerade unseren mittelständischen Einzelhandel, der es zur Zeit zusammen mit der Bauwirtschaft am schwersten hat. Einzelhändler sollen den Wertverlust ihres Warenbestandes nicht mehr in den Büchern berücksichtigen dürfen! ({6}) Denn eine Handelsware hat im Jahre 1998 nicht mehr unbedingt den gleichen Wert wie 1997; vielleicht ist sie nur noch einen Bruchteil wert. Das ist Realität und kein „Abschreibungskunststück“, wie Sie es behaupten. Sie, meine Damen und Herren, besteuern in der Zukunft Scheingewinne. Auch das muß man ganz klar und deutlich sagen. ({7}) Der stärkste Hammer ist der sprachliche Mißbrauch, der mit dem Begriff Ökologie getrieben wird. Dieser Begriff wird nur zur Gewinnung von zukünftigen Steuereinnahmen mißbraucht. Das ist ein besonders übler Streich, den man dem Mittelstand spielt. Bei vielen Handwerksbetrieben machen die Energiekosten schon heute bis zu 11 Prozent ihrer Gesamtkosten aus. Das ist oftmals mehr als in der energieintensiven Industrie - in der chemischen Industrie sind es zum Beispiel nur 3,7 Prozent. Das sind dann die Unternehmen, für die es Ausnahmeregelungen geben soll. Damit wird die Ökosteuer zu einer „Handwerks-Sondersteuer“. ({8}) Eine Differenzierung zwischen energieintensiv und nicht energieintensiv ist willkürlich und wird auch nicht der individuellen Situation der Unternehmen gerecht. Außerdem ist fraglich, ob nicht sogar ein Verstoß gegen EU-Richtlinien gegeben ist, weil ein neuer Subventionstatbestand geschaffen wird - unabhängig davon, daß ausländische Unternehmen, die energieintensiv arbeiten, zukünftig einen riesengroßen Bogen um unser Deutschland machen werden. ({9}) Das Motto der Politik der neuen Regierung ist mit „Mehr Staat, weniger Markt“ treffend umschrieben. Mit sozialer Marktwirtschaft hat das - obwohl Sie es immer gerne behaupten - nichts mehr zu tun. ({10}) Anstatt Marktkräften freien Raum zu geben - was dringend notwendig wäre -, machen Sie weiterhin Ihre Umverteilungspolitik, wie wir es von Ihnen schon immer gewohnt waren. ({11}) Aber es reicht Ihnen ja nicht, daß die neue Regierung ihre nachfrageorientierten Experimente in der Steuerund Abgabenpolitik durchführt; es geht ja sogar so weit, daß der Herr Finanzminister und sein Staatssekretär den Tarifparteien ganz offiziell das Motto vorgeben: „Jetzt macht in eurer Lohnpolitik einmal ein Ende der Bescheidenheit.“ Das heißt, zu den Fehlentscheidungen bei Steuern, Sozialversicherungen und Arbeitsrecht drohen auch noch tarifpolitische Fehlentscheidungen hinzuzukommen. Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, es ist doch blauäugig zu glauben, daß man eine Wirtschaft nur mit Konsum ankurbeln könnte. ({12}) Wer sagt denn den Menschen, daß sie jetzt nur deutsche Produkte kaufen können? Haben wir in unseren Läden denn nur deutsche Produkte? Wenn Sie das aber nicht sagen, profitieren viele, viele andere - nicht nur die deutsche Wirtschaft. Die entscheidende Größe für wirtschaftlichen Aufschwung ist Investieren und nicht nur Konsumstimulierung. ({13}) Aber gerade bei den Investitionsbedingungen wird von der jetzigen Regierung der Rotstift angesetzt. Da ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Investitionstätigkeit in unserem Land einbrechen und der Aufschwung am Arbeitsmarkt ein jähes Ende finden wird. Meine Damen und Herren, der Standort Deutschland geht schwierigen Zeiten entgegen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat der Kollege Ernst Schwanhold, SPD-Fraktion.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Wirtschaftsminister Müller, auch ich möchte Ihnen nach Ihrer Rede, in der Sie Ihre Grundkonzeptionen dargelegt haben, unsere Unterstützung aus der Fraktion der SPD zusagen. Wir halten Ihre Konzeption für eine gute und vertrauensvolle Basis. ({0}) Die neue Regierung hat eine Aufgabe, die von besonderer Bedeutung ist: die Schaffung von Arbeitsplätzen. Hier hat sie das Erbe, welches die alte Regierung uns hinterlassen hat, abzuarbeiten. Annähernd 4 Millionen Arbeitslose sind nach wie vor ein Skandal in dieser Gesellschaft, der beseitigt werden muß. ({1}) Die Wirtschafts- und Technologiepolitik hat dafür eine Schlüsselrolle. Der Bundeskanzler hat die Herausforderungen an die Wirtschaftspolitik deshalb in das Zentrum seiner Regierungserklärung gestellt und hervorgehoben: Es ist endlich an der Zeit, daß wieder Wirtschaftspolitik gemacht wird. Sie ist in den vergangenen Jahren zu wenig und wenn, dann falsch gemacht worden. ({2}) Das ist gleichermaßen Aufforderung und Selbstverpflichtung für die neue Bundesregierung. Es ist Aufforderung an die Tarifpartner, im Dialog an der Formulierung einer neuen Wirtschaftspolitik mitzuwirken. Es ist Selbstverpflichtung der Bundesregierung, um die Versäumnisse von CDU/CSU und F.D.P. aus der Vergangenheit schnellstmöglich zu überwinden. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben die Aufgabe, dies mit ganzer Kraft zu unterstützen. Ich selber und wir als SPD-Bundestagsfraktion werden den Dialog mit der Wirtschaft fortsetzen, so wie wir dies in der Vergangenheit getan haben. ({3}) Markt und Wettbewerb sind Grundlage unserer Wirtschaftsordnung. Dazu steht die Bundesregierung, dazu stehen die sie tragenden Fraktionen. Mit diesem Bekenntnis ist aber nur der Ausgangspunkt für die Aufgaben der Wirtschaftspolitik beschrieben. Die Weiterentwicklung und die Neubelebung von der sozialen zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft ist die Aufgabe der nächsten Jahre. Die soziale Marktwirtschaft braucht einen Ordnungsrahmen, um ihre Zielsetzungen zu verwirklichen, Wohlstand für alle zu schaffen. In einer Zeit mit zunehmender weltwirtschaftlicher Verflechtung, steigendem Wettbewerbsdruck und hohen Arbeitslosenzahlen heißt dies: Anreize für die Schaffung neuer Arbeitsplätze setzen und Rahmenbedingungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit schaffen. Genau mit dieser Zielsetzung tritt die neue Bundesregierung an. Die Ausgangslage ist allerdings schwierig. Die alte Bundesregierung hat in den 16 Jahren eine unverantwortlich hohe Staatsverschuldung aufgetürmt. Das schränkt die Handlungsspielräume ein. Die Asienkrise, die Krise in Lateinamerika und die Krise in der ehemaligen Sowjetunion dämpfen die Wachstumserwartungen der exportorientierten Volkswirtschaften, insbesondere die der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben in den letzten Jahren diese Krisen nachdrücklich unterschätzt und ignoriert. ({4}) Es wird notwendig sein, wieder mit makropolitischen Maßnahmen diesem Übel und diesen Schwierigkeiten zu begegnen. Wir brauchen eine Stütze der Volkswirtschaft. Die Stützen der Volkswirtschaften und der weltweiten wirtschaftlichen Tätigkeit werden Europa und Amerika sein; deshalb ist Kooperation zwischen Europa und Amerika in besonderem Maße notwendig. Der neue Wirtschaftsminister wird viel zu tun haben, um diesen Dialog zu beleben und zu gemeinsamen und abgestimmten Maßnahmen zu kommen. Zum einen geht es darum, im nationalen und im internationalen Rahmen die Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik besser abzustimmen; sie müssen sich in der Zielsetzung gegenseitig verstärken, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Die Nutzung von Spielräumen, insbesondere zur Senkung der Realzinsen, ist wichtig, solange die Preisstabilität nicht gefährdet wird. Bei den Realzinsen gibt es deutliche Spielräume. Diese zu nutzen ist durchaus ein Ziel, welches auch öffentlich diskutiert werden muß. Die erste Maßnahme ist ausdrücklich begrüßenswert. ({5}) Darüber hinaus brauchen wir eine verstärkte Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf europäischer Ebene. Nur so kann der Euro ein Erfolg werden, der den Binnenmarkt vollendet. Schließlich muß eine Harmonisierung der Steuersätze in der EU dem unsinnigen Steuersenkungswettlauf ein Ende bereiten. Es kommt eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik hinzu, die sich auch Projekte vornimmt, zum Beispiel den Ausbau der transeuropäischen Netze. Wie soll eigentlich sonst die Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses vorangetrieben werden? ({6}) Im nationalen Rahmen stehen drei Aufgaben im Vordergrund: Erstens gilt es, dem Mittelstand neue Zukunftsperspektiven zu eröffnen, ({7}) zweitens brauchen wir eine Offensive für neue Technologien, und drittens muß es darum gehen, in der Außenwirtschaftspolitik neue Akzente zu setzen. - Herr Kollege Hirche, Herr Kollege Rexrodt, ich weiß gar nicht, was die Zwischenrufe sollen. In Scharen sind Ihnen die Mittelständler bei den letzten Wahlen weggelaufen. Das taten sie doch nicht wegen der glänzenden Erfolge Ihrer Politik, sondern weil Sie sie vernachlässigt haben. ({8}) Moderne Mittelstandspolitik wird sich am Dialog mit den Unternehmen orientieren. Diesen Dialog haben wir in der vergangenen Periode begonnen, und wir werden ihn in dieser Periode fortsetzen. In dieser Legislaturperiode ist es die Aufgabe der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, die Neue Mitte, die eine Schlüsselstellung in der Gesetzgebungspolitik und in der Regierungspolitik hat, zu stärken. Dies unterstütze ich ausdrücklich. Hierzu gehören die folgenden Schwerpunkte: Erstens. Die Entlastung des Mittelstandes durch eine Steuerreform und die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ist bereits angelegt worden. Dabei haben wir sehr genau die einzelnen Instrumente auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Dies ist geschehen und geschieht weiterhin. Die mittelständische Wirtschaft ist beschäftigungsintensiver und wird deshalb zu den Profiteuren der Steuer- und Abgabenreform gehören. ({9}) Die Mittelstandsförderung muß gebündelt werden. Wenige Programme, nicht 670, dafür aber mit mehr Effizienz - das ist unsere Devise. Konkret bedeutet das wenige Förderbausteine, die kombiniert werden können, um vor allem die Eigenkapitalbasis, die Innovationsfähigkeit und die Existenzgründung in der mittelständischen Wirtschaft zu erleichtern. Zur Stärkung des Mittelstandes wird auch die Steuerreform beitragen. Die Senkung auf 43 Prozent für alle gewerblichen Einkünfte ist ein Schritt in die richtige Richtung, über den Sie 16 Jahre lang geredet haben, bei dem Sie aber nichts zustande gebracht haben. ({10}) Zweitens. Die Schaffung eines neuen Gründerklimas und einer Aufbruchstimmung ist eine weitere vordringliche Aufgabe. Dies gilt insbesondere für die neuen Bundesländer, wobei ich allerdings darauf hinweisen will, daß auch die Bestandspflege für die Unternehmen von besonderer Bedeutung ist, die bei ihrer Etablierung in den Märkten Finanzierungsschwierigkeiten haben. ({11}) Die Selbständigenquote in Deutschland liegt bei rund 10 Prozent. Es muß das Ziel sein, mit dem internationalen Maßstab Schritt zu halten. Wir brauchen eine Selbständigenquote von 14 bis 15 Prozent. Dies ist eine starke Aufgabe, der wir uns in den nächsten Jahren verpflichtet fühlen. ({12}) Zur Mobilisierung von Chancenkapital werden wir die gesetzlichen Rahmenbedingungen verbessern. Wir fordern ausdrücklich die Banken und Sparkassen auf, auch in den Regionen dafür den institutionellen Rahmen zu bieten und sich neuen Produktideen zu öffnen und nicht immer nur die Frage nach der Sicherheit „über die feuchte Wiese“, also im Hinblick auf Grundstücke, zu stellen. Die Beurteilung von neuen Produkt- und Geschäftsideen ist wichtige Aufgabe auch des Bankensystems; es muß sich dieser Aufgabe verstärkt stellen. ({13}) Drittens. Wir brauchen eine Umorientierung der Forschungsförderung auf eine breite, anwendungsorientierte Förderung von neuen Technologien. Hierzu gehört ein besserer und intelligenterer Transfer von Wissen und neuen Technologien von den Hochschulen und Forschungseinrichtungen in die mittelständischen Unternehmen. Es ist geradezu schlimm, daß wir nur 30 Prozent der Grundlagenforschung in Produkte und Geschäftsideen umsetzen. „Mehr, besser und schneller“ lautet die Aufgabe anwendungsorientierter Forschungsförderung bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in Geschäftsideen und Produkte. Viertens. Mittelstandsfreundliche Antrags- und Genehmigungsverfahren sind notwendig. Dies geht nur mit dem Abbau von Bürokratien und mit der Schaffung eines schlanken Staates. Übrigens läßt dieser schlanke Staat auch für viele Selbständige und Freiberufler Betätigungsmöglichkeiten für neue Geschäftsideen. Dies wird neue Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft schaffen und insgesamt zur Entlastung am Arbeitsmarkt beitragen. Fünftens. Wir brauchen die Sicherung der Qualität von Handwerksleistungen. Der Große Befähigungsnachweis ist und bleibt Voraussetzung für die Selbständigkeit im Handwerk. Der Meisterbrief hat sich bewährt. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich einen Dank an die vielen Handwerksmeisterinnen und -meister richten, die sich in der Vergangenheit in besonderem Maße der Ausbildung junger Menschen zugewandt und dabei eine erhebliche Leistung gebracht haben. ({14}) Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung wird auch in Zukunft zu dem Großen Befähigungsnachweis stehen. Gleichwohl gibt es Probleme beim Generationenwechsel in bestehenden Betrieben und bei Existenzgründungen. Deshalb wollen wir eine berufsbegleitende Erlangung des Meisterbriefes in begründeten Ausnahmefällen, die allerdings weiter als zum gegenwärtigen Zeitpunkt gefaßt sein müssen, möglich machen. Der große Befähigungsnachweis bleibt allerdings die Regel. Ich will auch ein Wort an die Handwerkskammern richten, die sich über die in der Industrie entstandenen Arbeitsplätze im Bereich des Trockenbaus beklagen und diese an den Pranger stellen: Es sollten nicht, wie dieses zur Zeit geschieht, durch Wettbewerb zwischen Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern Arbeitsplätze vernichtet werden. Die Zugehörigkeit zu einer Kammer kann nicht zur Richtschnur für die Entscheidung zur Schaffung neuer Arbeitsplätze werden. Hier ist mehr Toleranz und mehr Miteinander gefordert. ({15}) Der Förderung neuer Technologien muß in der Wirtschaftspolitik eine herausragende Bedeutung zukommen. Unsere Volkswirtschaft ist mit Spitzenprodukten in den industriellen Leitbranchen des 20. Jahrhunderts stark geworden: Im Automobilbau, in der chemischen Industrie, beim Maschinenbau und bei der Elektrotechnik standen und stehen wir an der Spitze. Diese Technologien müssen auch mit Blick auf das 21. Jahrhundert ausgebaut und modernisiert werden, damit wir unsere Stellung in diesen Bereichen halten. Wir wollen diese Bereiche um moderne Verkehrstechnologien für Schiene und Straße zur Sicherung von umweltgerechter Mobilität im Inland und zur Sicherung der Exportstärke deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten ergänzen. Am Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir aber verstärkt auf die Zukunftstechnologien setzen. Wir wollen die Wachstumspotentiale der Bio- und Gentechnologie ausschöpfen. Sie schaffen zukunftssichere Arbeitsplätze in Deutschland. Sie bringen einen Innovationsschub bei der Entwicklung neuer Medizinprodukte und tragen zur Lösung des Welternährungsproblems bei. Zu den Zukunftsbranchen gehören auch Güter und Dienstleistungen für den Umweltschutz. Hier geht es um neue Werkstoffe, Technologien zur Energieeinsparung, produktintegrierten Umweltschutz und vieles mehr. Auch die Informations- und Kommunikationstechnologie kann einen wesentlichen Beitrag zu Verbesserungen im Bereich der Umwelt leisten. Umweltschutz und Wachstum auch bei neuen Technologien werden zwei Seiten einer Medaille sein. Wir werden sie zueinanderführen müssen und dürfen sie nicht als Gegensatz verstehen. Darin drückt sich moderne Wirtschaftspolitik aus. ({16}) Die Ausgangslage der deutschen Wirtschaft ist in bezug auf die Substanz der Unternehmen gut. Ehrgeizige Ziele in der deutschen Umweltpolitik haben dafür gesorgt. Mit der ökologischen Steuerreform werden wir zusätzliche Anreize für technologische Innovationen schaffen. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die Bedeutung des Dienstleistungssektors für die Schaffung von Arbeitsplätzen hervorheben. Mit der Einrichtung von Dienstleistungsagenturen können wir der bestehenden Nachfrage ein bezahlbares Angebot gegenüberstellen. Aus Gründen des Erhalts und der Schaffung von Arbeitsplätzen sollten wir auch mehr Aufmerksamkeit auf den Sektor Fremdenverkehr und Tourismus lenken. Hier arbeiten etwa 2 Millionen Menschen, die einen beachtlichen Teil unseres Sozialproduktes erwirtschaften. Schließlich benötigen wir in Ergänzung hierzu eine moderne Außenwirtschaftspolitik aus einem Guß. Die Instrumente der deutschen Außenwirtschaftspolitik müssen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern gebündelt werden. Das schafft mehr Transparenz für die Beteiligten und stärkt die Effizienz der eingesetzten Mittel. Hier werden die Außenhandelskammern eine wichtige Funktion übernehmen, die es auszubauen gilt. Wir werden sehr schnell in einen intensiven Dialog mit allen Beteiligten treten, um ein zukunftsfähiges Konzept für eine gebündelte Außenwirtschaftspolitik zu formulieren. Unsere Leitlinien dafür sind: besserer Zugang für den Mittelstand zu den Zukunftsmärkten, Bündelung der Aktivitäten im Außenwirtschaftsbereich und Schaffung der institutionellen Strukturen. Darüber hinaus wird die neue Bundesregierung ihren Beitrag zur Stärkung der internationalen Kooperation durch konstruktive Mitarbeit in den internationalen Organisationen leisten. Wir wollen dabei Impulse geben für eine Stärkung der Welthandelsorganisation und ihrer Entscheidungskompetenzen, für die Einrichtung eines Frühwarnsystems bei Turbulenzen auf den internationalen Finanz- und Währungsmärkten und zur Entwicklung verbindlicher Vereinbarungen für eine wirksamere Banken- und Börsenaufsicht im internationalen Rahmen. Die Bundestagsfraktion, Herr Minister Müller, wird Ihnen dabei verläßlicher Partner und, wo nötig, auch fordernder und selbstbewußter Antrieb sein. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Wöhrl, mit großer Verwunderung habe ich vorhin zur Kenntnis genommen, daß Sie nunmehr der Meinung sind, wir würden die Ökologie mißbräuchlich zur Kostensenkung verwenden. Ich möchte Ihnen dazu sagen, daß wir das Abgabengleichgewicht zwiErnst Schwanhold schen der Belastung des Faktors Arbeit und der Belastung des Faktors Umwelt herstellen und dadurch Anreize schaffen, um in Schlüssel- und Zukunftstechnologien zu investieren. Darüber hinaus möchte ich Sie, Frau Kollegin Wöhrl, daran erinnern, daß Ihre Regierung seit Anfang der 90er Jahre bis zum 27. September dieses Jahres die Mineralölsteuer um über 20 Pfennig erhöht hat, aber mitnichten um ökologisch umzusteuern. Sie haben versucht, damit Ihre unsolide Haushaltspolitik zu kompensieren, und nichts anderes. ({0}) Verehrter Herr Kollege Wissmann und Herr Kollege Friedhoff, ich habe mich sehr gewundert, wieviel Angst in Ihren Beiträgen heute morgen zum Vorschein kam, nur weil eine kluge, kreative, charmante und gutaussehende Frau, die Ehefrau des Herrn Finanzministers, mit ihm in der Öffentlichkeit auftritt. Vielleicht täte es auch Ihrer Kreativität gut und würde Ihren Strukturkonservatismus etwas zurückdrängen, wenn auch Sie mit Ihren Frauen in der Öffentlichkeit auftreten würden. ({1}) Herr Minister Müller, wir teilen Ihre Position „Jetzt oder nie“. Wir brauchen Reformen in der Wirtschaftspolitik. Wir freuen uns auf eine gedeihliche Zusammenarbeit. Moderne Wirtschaftspolitik muß heute - das ist die zentrale Herausforderung - die Voraussetzung dafür schaffen, daß die Balance zwischen moderner Wertschöpfung, sozialer Integration, ökologischer und finanzpolitischer Nachhaltigkeit und politischer Demokratie gefunden wird. Wir werden die Rahmenbedingungen für einen Ausgleich schaffen, damit die Balance zwischen Freiheitswerten, Gleichheitswerten, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und einer neu definierten Solidarität und Nachhaltigkeit gefunden wird. Eine der Voraussetzungen für die Herstellung dieser Balance ist die Demokratisierung von Politik. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU und F.D.P., jeder Wissenschaftler sagt Ihnen heute: Es muß mit dieser Schützengräbenpolitik Schluß sein. Beenden Sie endlich die ideologische Debatte „Angebot versus Nachfrage“! Diese Debatte ist von vorgestern, verstaubt und hilft nicht weiter. Spätestens Ihre Politik hat das gezeigt. Wir brauchen eine intelligente Mischung aus Angebot und Nachfrage - Punkt. ({2}) Wir brauchen eine Verantwortungsdemokratie. Wir brauchen ein Bündnis für Arbeit, wie es der Arbeitsminister gestern dargestellt hat. Dieses Bündnis ist nicht nur ein Instrument und ein Konzept, sondern es ist auch der Ausdruck einer neuen politischen Kultur, für die diese Koalition steht. Der Kernmotor der deutschen Wirtschaft - auch das hat der Herr Minister gesagt - ist der Mittelstand. Er hat die Ausbildungs- und Arbeitsplätze in der Vergangenheit nicht nur erhalten, sondern auch neue geschaffen. Wir werden die Rahmenbedingungen für unseren Mittelstand, um den uns ganz Europa beneidet, verbessern. Das heißt konkret: Wir werden mit einem Bürokratie-TÜV endlich Ernst machen. Wir werden das Wirrwarr von Verordnungen und Gesetzen lichten, das Sie aufgebaut haben. Wir werden die Anzahl der Fördertöpfe reduzieren, indem wir sie zusammenfassen. Wir werden damit die Voraussetzungen für wirtschaftliche Aktivität und für Wettbewerbsfähigkeit in diesem Land verbessern. Wir werden die Eigenkapitalsituation der kleinen und mittleren Unternehmen verbessern, die sich in den letzten Jahren systematisch zu Lasten von Investitionen, Innovationen und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen verschlechtert hat. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten, daß im Kontext der Unternehmensteuerreform eine Tarifabsenkung bei der Besteuerung des Gewerbeertrags auf 35 Prozent erfolgt und daß bis dahin der Verlustrücktrag zur Entlastung der kleinen und mittleren Unternehmen erhalten bleibt. ({3}) Wir werden im Kontext des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes endlich die Voraussetzung dafür schaffen, daß alle Kapitalanlageformen steuerlich gleichgestellt werden. Wir müssen für die Generation der Erben Anreize schaffen, damit sie endlich in Produktivkapital und Arbeitsplätze investieren. Nur so werden wir Gemeinwohlinteressen und Renditeerwartungen perspektivisch koppeln können. Dafür stehen wir. ({4}) Wir werden die Voraussetzung dafür schaffen, daß Aktienkapital breiter gestreut wird. Wir werden die Voraussetzung dafür schaffen - dafür steht diese Koalition -, daß der Dialog zwischen Wirtschaft und Wissenschaft verbessert wird, und zwar nicht nur mit den Herren Henkel, Stihl und Schleyer. Wir werden mit der neuen Generation in den Verbänden und mit der Wissenschaft zu sprechen haben, um zu einer stärkeren Koppelung zwischen den Zukunftstechnologien und den wirtschaftlichen Akteuren zugunsten von mehr Existenzgründungen, auch aus der Hochschule heraus, und zugunsten eines humankapitalintensiven Dienstleistungsbereichs zu kommen. ({5}) Meine Damen und Herren, wir werden die Rahmenbedingungen für Investitionen verstetigen und somit Anreize für Investitionen schaffen. Wir werden sehr genau zu prüfen haben, ob die Verfaßtheit der Industrie- und Handelskammern in Form der Zwangsmitgliedschaft und der Zwangsbeiträge heute noch zeitgemäß ist. Wir werden zu prüfen haben, ob es nicht klüger wäre, die IHKen zugunsten von mehr Dienstleistungsorientierung Margareta Wolf ({6}) umzustrukturieren, um für den Mittelstand eine gute Vertretung zu schaffen und ihn somit zu stärken. ({7}) Anschließend an das, was Sie, Herr Kollege Schwanhold, in Ihrer Rede gesagt haben, möchte ich feststellen: Wir müssen auch prüfen, ob die Handwerksordnung noch zeitgemäß ist, ob sie Gewerbefreiheit - dies ist ein zentraler Grundstein der sozialen Marktwirtschaft - tatsächlich garantiert, ob sie dienlich ist, Qualitätssicherung und Gewerberechtsvereinfachung innerhalb von Europa zu fördern, oder ob sie das in ihrer jetzigen Verfaßtheit nicht tut. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Hinsken?

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Von meinem alten Freund Hinsken gerne. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin Wolf, ich nehme Ihnen ja ab, daß Sie der Meinung sind, daß man die Meisterprüfung als Eingangsvoraussetzung dafür, sich selbständig zu machen, nicht mehr braucht. Sie haben diese Linie immer vertreten. Heißt das, daß Sie sich bei den Koalitionsverhandlungen dahin gehend durchgesetzt haben, daß man die Meisterprüfung als Eingangsvoraussetzung für die Selbständigkeit zukünftig nicht mehr braucht? Ich kann mir nicht vorstellen - da kann ich dem Kollegen Schwanhold überhaupt nicht folgen -, daß, wenn jemand weiß, daß über Ausnahmetatbestände die Möglichkeit gegeben ist, sich trotzdem selbständig zu machen, davon nicht ausgiebig Gebrauch gemacht wird.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Kollege Hinsken, ich erwarte schon von einem Oppositionspolitiker - zudem von einem ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretär -, daß er die Koalitionsvereinbarung der neuen Regierung gelesen hat. Dort können Sie nachlesen, daß wir die Voraussetzungen für mehr Selbständigkeit im Handwerk verbessern werden, daß wir berufsbegleitend die Möglichkeit eröffnen, die Meisterprüfung zu machen. Kollege Schwanhold hat sich mit dem Satz durchgesetzt - das haben Sie soeben schon gehört -: Der große Befähigungsnachweis bleibt erhalten. Zusammengefaßt heißt dies nichts anderes, als daß wir uns im Zuge der Europäisierung des Gewerberechtes und im Zuge einer neuen Existenzgründungswelle im Handwerk dafür einsetzen werden, den Zugang zum Handwerk zu erleichtern. Sie kennen meine Vorstellung: Wir müssen überlegen, ob wir das nicht so wie die Franzosen tun, indem wir zum Beispiel die nicht gefahrgeneigten Berufe vom Zwang der Meisterprüfung als Voraussetzung für Selbständigkeit befreien und sagen, man könne den Meister als eine Art Qualitätssiegel machen. Dies könnte, wie ich meine, zum Beispiel für den Beruf des Maskenbildners bzw. der Maskenbildnerin gelten, der jetzt Bestandteil der Handwerksrolle B ist. Wir wollen diesen Bereich auf der europäischen Ebene zugunsten einer Qualitätssicherung ein wenig deregulieren. Wir wollen natürlich nicht, daß das nicht vorhandene Handwerksrecht Spaniens in Europa Referenzrecht wird. Wir wollen mehr Anreize schaffen für Existenzgründungen, und zwar gerade im klassischen Dienstleistungsbereich rund ums Haus. Sie können das in unserer Koalitionsvereinbarung nachlesen. ({0}) - Er stellt immer zwei Fragen. Das kennen wir schon.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Wolf, Sie haben ein bißchen herumgeeiert und meine eigentliche Frage nicht beantwortet. ({0}) Deckt sich Ihre Meinung - Sie sind ja jetzt Mitglied der Regierungskoalition - auch mit der Meinung des neuen Wirtschaftsministers Herrn Müller - können Sie dahin gehend auch eine Aussage treffen? -, was indirekt bedeuten würde, daß der große Befähigungsnachweis, die Meisterprüfung, an der er festhalten möchte, als Eingangsvoraussetzung für den Handwerksberuf in Zukunft unterlaufen wird. ({1})

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Hinsken, ich bin sicher, daß Herr Minister Müller nicht nur die soziale Marktwirtschaft vertritt, sondern auch die Koalitionsvereinbarung. Ihre Einlassung beweist nichts anderes, als daß Sie noch immer nicht gelernt haben zuzuhören. Ich habe nicht rumgeeiert, ({0}) sondern Ihnen die Breite des Themas dargestellt. ({1}) Sie benehmen sich heute wieder wie in der Vergangenheit, nämlich so, als sei die Bundesrepublik Deutschland eine Insel innerhalb Europas und der große Befähigungsnachweis der Nachweis, der uns in Europa ökonomisch ausweist. Ich möchte Sie doch bitten, auch Margareta Wolf ({2}) einmal einen Blick auf die anderen Länder zu werfen. Gucken Sie einmal, ob es nicht Flexibilisierungsmöglichkeiten gibt, die zu mehr Arbeitsplätzen führen! Dieser große Befähigungsnachweis, über den man anscheinend nicht reden kann, ist für Sie ja eine Art Bibel. Wir aber haben darüber geredet. Wir haben eine Koalitionsvereinbarung, die es ermöglicht, die Debatte mit dem Handwerk weiter zu führen. Ich bin mir sicher, daß wir im Ergebnis Erfolg haben werden; das bedeutet: mehr Arbeitsplätze und mehr Innovation im Handwerk. ({3}) Noch eine abschließende Bemerkung, Herr Kollege Hinsken: Die letzte Novelle zur Handwerksordnung, an der Sie mitgearbeitet haben - Sie haben das durchaus ordentlich getan -, hat dazu geführt, daß heute die Informationselektroniker, die neuen Dienstleister im Bereich Software/Hardware, Klagen des ZDH am Hals haben, sie müßten die Meisterprüfung als Eingangsvoraussetzung haben. In Norddeutschland gibt es zwei solcher Klagen; hier geht es um Büroinformationselektroniker, und diese sind meisterpflichtig. 30 Prozent der neuen Jobs entstehen gerade in diesem Bereich. Wenn Sie jetzt den Meistertitel zur Pflichtvoraussetzung für die Selbständigkeit machen wollen, dann zerstören Sie Existenzen, die von Ausgründungen aus den Unis herrühren und natürlich über betriebswirtschaftliche Erfahrungen verfügen. Ich hielte es für irrsinnig, diese jetzt zu einer Nachausbildung und -prüfung zu verpflichten, sie meisterpflichtig zu machen, um den Meistertitel und damit den Einflußbereich des ZDH zu stärken. Herr Hinsken, ich bedanke mich für Ihre Fragen. Sie können sich jetzt wieder hinsetzen. ({4}) - Entschuldigen Sie, wieso bin ich oberlehrermäßig? Das bin ich überhaupt nicht. ({5}) - Herr Ramsauer, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden. Ich möchte abschließend sagen, daß diese neue Bundesregierung für eine Modernisierung der Wirtschaft steht. Sie steht für eine Entlastung der Umwelt. Sie wird die Modernisierung und die Entlastung der Umwelt miteinander verbinden. Meine Damen und Herren, sehen Sie sich Mercedes-Benz an oder die vielen kleinen und mittleren Unternehmen. Dann werden Sie wissen: Eine Verbindung zwischen Wirtschaft und Umweltschutz bedeutet tatsächlich eine Kostensenkung in der Industrie. Ich habe gestern ein sehr spannendes Buch gelesen, das sich hauptsächlich darauf bezieht, daß Umweltschutz eine Kostensenkung nach sich zieht. Das Nachwort in diesem Buch hat der ehemalige Finanzminister Theo Waigel geschrieben. Ich freue mich weiterhin auf eine konstruktive und fruchtbare Auseinandersetzung, einen Dialog mit Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition. Ich bedanke mich. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Bundeskanzler, Sie haben wiederholt erklärt, Ostdeutschland zur Chefsache machen zu wollen. Das ist fürwahr ein hoher Anspruch. Die PDS-Fraktion sieht jedoch gerade beim Thema Ostdeutschland weiße Flecken, und das sowohl in Ihrer Regierungserklärung als auch in der Koalitionsvereinbarung. Sie wird deshalb nicht nachlassen, im Interesse der Menschen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg Veränderungen einzufordern, damit das industrielle, soziale und kulturelle Gefälle zwischen Ost und West in unserem Lande rasch behoben wird. ({0}) Mit der bloßen Umformulierung von „Aufbau Ost“ aus den Zeiten von Altbundeskanzler Kohl in „Zukunft Ost“ jetzt wird jedenfalls noch keine neue Politik installiert. Die Koalitionsvereinbarung sieht nämlich weder eine spezielle Wirtschaftsförderung Ost vor, noch gibt es Bestrebungen zur Klärung von Eigentumsfragen, die es zuhauf gibt, zugunsten der Ostdeutschen. Nicht einmal zu einem Satz für die Sicherung der Ergebnisse der Bodenreform konnte sich Rotgrün durchringen. Das ist angesichts der politischen und juristischen Brisanz dieses Problems sehr enttäuschend. ({1}) Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die ostdeutschen Kommunen nicht nur - wie geschehen de jure, sondern auch de facto zur kommunalen Selbstverwaltung zu führen? Wir meinen: Nichts Konkretes ist bisher bekanntgeworden. Da beißt die Maus wohl keinen Faden ab. Die teilweise stark rückläufige Auftragslage kleiner und mittlerer Unternehmen resultiert zu einem hohen Grade aus mangelnder Handlungsfähigkeit der vielerorts finanziell arg angeschlagenen Kommunen. Die Folge wiederum sind Negativwirkungen auf den Arbeitsmarkt, auf Existenzgründungen und die Unternehmensentwicklung, Stichwort Insolvenz. Sicher muß ein ganzes Paket von Maßnahmen geschnürt werden, damit Städte und Gemeinden ihrer Funktion als Hauptauftraggeber für den Bau, für Handwerk und Gewerbe gerecht werden können. Vordringlich ist für uns eine Reform der Kommunalfinanzierung, die mit der Steuerreform korrespondieren muß. Dies ist bislang nicht zu erkennen. Für ebenso unerläßlich halten wir, daß die ostdeutschen Kommunen endlich vollständig über die ihnen zuMargareta Wolf ({2}) stehenden Vermögenswerte wie Flurstücke, Gebäude, Unternehmen und ähnliches verfügen können. Acht Jahre nach der staatlichen Einheit waren Ende Oktober 1998 noch immer 21,6 Prozent der Anträge der Kommunen auf Zuordnung dieser Vermögenswerte von den zuständigen Bundesbehörden nicht entschieden worden. Dazu kommen viele Ungereimtheiten und offene Fragen bei der Vermögenszuordnung. Für all das trägt - das will ich deutlich sagen - die abgewählte Bundesregierung die Verantwortung. Die Zeit für eine Korrektur ist auch hier überreif. ({3}) Daher hat die PDS-Fraktion den vorliegenden Antrag auf Drucksache 14/17 eingebracht. Bei Verwirklichung des Antrags entstünden in Ostdeutschland nachweisbare Impulse für kommunale Handlungsfähigkeit und regionale Wirtschaftsentwicklung, nachweisbare Impulse für den Arbeitsmarkt. Wir beantragen: Erstens soll die Zuordnung entsprechender Vermögenswerte an die Kommunen, von wenigen begründeten Ausnahmefällen abgesehen, im wesentlichen bis zum 31. Dezember 1999 zum Abschluß gebracht werden. Altfinanzminister Waigel - ich will das hier sagen, er ist anwesend - wollte das offensichtlich erst am Sankt-Nimmerleins-Tag erledigen. ({4}) Zweitens soll den ostdeutschen Städten, Gemeinden und Landkreisen das Recht eingeräumt werden, bei den zuständigen Bundesbehörden bereits abgelehnte Anträge bis zum 31. Mai nächsten Jahres noch einmal stellen zu können. Das ist schon deshalb notwendig, weil nicht jeder Ablehnungsgrund heute noch auffindbar ist. Es ist viel Unordnung in diesen Gremien vorhanden. Drittens sollen die Städte, Gemeinden und Landkreise einen angemessenen finanziellen oder naturellen Ausgleich für teilweise zu ihren Lasten erfolgte Privatisierungen erhalten. Bei der Ausgestaltung dieser Entschädigungsregelungen haben wir ausdrücklich die Vorschläge des Bundesrates berücksichtigt. Wir haben keine Maximalforderungen erhoben, sondern uns auf das Machbare konzentriert. Wir fordern die neue Bundesregierung darüber hinaus auf, dafür Sorge zu tragen, daß die kommunalen Spitzenverbände endlich im Verwaltungsrat der BvS vertreten sind. ({5}) Der Altfinanzminister hatte das abgelehnt und damit Sachverstand aus dem Verwaltungsrat der Treuhandnachfolgerin ausdrücklich ausgesperrt. Es wäre gut, wenn der vorliegende Antrag 14/17 der PDS-Fraktion im Parlament auf eine große Zustimmung stoßen würde. Er konzentriert sich auf das jetzt Notwendige - wir haben die Zeitschiene berücksichtigt -, und er ist machbar. Im Interesse der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands werben wir daher ausdrücklich um Zustimmung für unseren Antrag und eine baldige Behandlung. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bernhard Vogel, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen. Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}): Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am vergangenen Freitag sind anläßlich des turnusmäßigen Wechsels im Präsidentenamt im Bundesrat lesenswerte Reden über die Zukunft des Föderalismus und eine Neugestaltung des Zusammenwirkens von Bund und Ländern gehalten worden. Es war für mich außerordentlich erfreulich, wie lückenlos der neue Bundesratspräsident die Initiative der vier süddeutschen Länder aufgegriffen hat, auch wenn er sie nicht erwähnt hat. Bei der gleichen Gelegenheit hat Bundeskanzler Schröder dem Bundesrat seine Aufwartung gemacht, sich selbst für seine Amtsführung als Bundesratspräsident gelobt und dem Inhalt der Initiative dem Grunde nach ebenfalls zugestimmt. Wir alle wollen weg vom Beteiligungsföderalismus. Wir wollen zu einer stärkeren Eigenverantwortung der Länder und zu einer Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. ({1}) Im Geiste dieser Revitalisierung des Föderalismus erlaube ich mir, als Ministerpräsident eines der deutschen Länder in der Debatte zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers hier im Bundestag das Wort zu nehmen. Ich tue das insbesondere als Ministerpräsident eines jungen Landes. Denn noch immer sind die neuen Länder mehr als die alten auf die volle Unterstützung der ganzen Bundesrepublik angewiesen. ({2}) Ich tue das im Wissen, daß wir auf Sie, meine Damen und Herren, auf den Deutschen Bundestag und auf die Bundesregierung, angewiesen sind. In den letzten Monaten war viel vom Aufbau Ost die Rede. Der Aufbau Ost solle erste, solle allererste, solle absolute Priorität haben. Ich begrüße das ausdrücklich. Ich möchte allerdings hinzufügen, daß der Aufbau Ost diese absolute Priorität bei Bundeskanzler Kohl zu jeder Zeit und uneingeschränkt hatte. ({3}) Kein westdeutscher Politiker war in den letzten Jahren häufiger in den neuen Ländern und war über die Situation in den neuen Ländern besser informiert als er. Mein Wunsch ist, daß sich daran auch in Zukunft nichts ändert, daß der Aufbau Ost Chefsache bleibt. ({4}) Ich begrüße die Absicht der neuen Regierung, regelmäßig in den neuen Ländern gemeinsame Kabinettssitzungen mit den Landesregierungen abzuhalten. Ich lade, Herr Bundeskanzler Schröder, die Bundesregierung ein, zur ersten Sitzung nach Thüringen zu kommen. Dann sehen Sie nämlich, was alles möglich ist. In anderen Ländern sehen Sie auch, was alles unmöglich ist. ({5}) Ich sehe in diesem Gedanken der Kabinettssitzungen eine zeitgerechte Weiterführung der vielen Kanzlerrunden „Aufschwung Ost“ und der unzähligen Regionalkonferenzen, die die Bundesregierung bisher im Osten abgehalten hat. Im übrigen schließe ich mich der Ansicht meines brandenburgischen Kollegen an. Wir Ministerpräsidenten der neuen Länder werden in besonderer Weise darüber zu wachen haben, daß die angekündigte Prioritätensetzung auch durchgehalten wird. Wer, wenn nicht wir, die Ministerpräsidenten der neuen Länder, hat diesbezüglich die Wächterfunktion? Wir werden sie gemeinsam wahrnehmen. ({6}) Meine Damen und Herren, unsere drängendste Sorge ist nach wie vor die hohe Arbeitslosigkeit, auch wenn wir sichtbare Erfolge haben. Im Oktober ist die Zahl der Arbeitslosen im Freistaat Thüringen, bezogen auf die zivilen Erwerbspersonen, auf 13,4 Prozent gefallen. Sie liegt damit um 4,1 Prozent unter der Quote des Oktobers im Vorjahr. Wir haben damit die niedrigste Quote unter allen neuen Ländern. ({7}) Wir haben sogar das erste alte Land eingeholt. Das freut uns natürlich insgeheim ganz besonders. ({8}) Wer aber mehr Arbeitsplätze schaffen will, der muß die politischen Rahmenbedingungen für eine gute wirtschaftliche Entwicklung sichern. ({9}) Das Rückgrat dafür bildet der Solidarpakt aus dem Jahre 1993, der uns bis 2004 den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern finanziell sichert. Aber Überlegungen, wie es danach weitergehen soll, müssen jetzt einsetzen. Brüssel hat zugesichert, daß die neuen Länder Ziel-1-Gebiet bleiben. Aber die Höhe der Förderung durch die Europäische Union ab dem Jahr 2000 ist noch nicht festgestellt. Hier drängt die Zeit. Wir haben November 1998. Es ist nicht mehr lange hin bis zum 1. Januar 2000. Von existentieller Bedeutung für die ostdeutsche Landwirtschaft ist der weitere Umgang mit der Agenda 2000. Die drohende Schlechterstellung der Landwirte in den neuen Ländern muß abgewendet werden. ({10}) Der Mittelstand ist für den wirtschaftlichen Aufbau in den jungen Ländern von besonderer, von zentraler Bedeutung. Er muß steuerlich entlastet werden. Seine steuerliche Belastung und seine Belastung durch zu hohe Lohnnebenkosten müssen abgebaut werden. Gerade darum frage ich mich angesichts der weitgehend noch nebulösen steuerpolitischen Vorstellungen der Bundesregierung: Was ist denn eigentlich Ihr Ziel? Ich frage mich, wie man Lohnnebenkosten senken will, indem man Energiesteuern erhöht. Wenn man Quersubventionierung will, soll man das bitte auch klar sagen und nicht Kostensenkungen vorspiegeln, die nur durch Strukturreformen zu haben wären. ({11}) Die geplante Energiesteuererhöhung trifft in besonderer Weise die jungen Länder. Schon der Wegfall des Kohlepfennigs hat unsere Situation einseitig verschlechtert. Wer weiß, wie vieler Anstrengungen es bedarf, ausländische Investoren für die jungen Länder zu gewinnen, der muß darauf achten, daß sich unsere Rahmenbedingungen nicht durch noch höhere Energiepreise weiter verschlechtern. ({12}) Im Zweifelsfalle stimme ich Herrn Kollegen Clement zu, wenn er fordert, den gesamten gewerblichen Bereich - nicht nur die sogenannten energieintensiven Betriebe - von zusätzlichen Steuerbelastungen auszunehmen. ({13}) Wo Clement recht hat, hat er recht, und da muß man ihn unterstützen. Wenn es schon nicht gelingt, alle gewerblichen Betriebe - nicht nur die energieintensiven - auszunehmen, dann möge man wenigstens alle Betriebe in den neuen Ländern ausnehmen, wenn der Aufbau Ost wirklich Vorrang haben soll. ({14}) In der Regierungserklärung ist die Finanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf bisherigem Niveau zugesagt worden. Im Entwurf des Bundeshaushalts 1999 der alten Regierungskoalition sind Ausgaben des Bundes für die Arbeitsförderung in gleicher Höhe wie in diesem Jahr vorgesehen. Damit ist Vorsorge getroffen, daß die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau fortführen kann. Hier können wir Sie nur auffordern: Bleiben Sie dabei; führen Sie das fort, was im Haushaltsentwurf der alten Regierung vorgesehen ist. ({15}) Von zentraler Bedeutung für den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung der neuen Länder ist die Verbesserung der Infrastruktur. Die entsprechenden Aussagen der Koalitionsvereinbarung haben bei uns erhebliche Unruhe verursacht. Die Regierungserklärung allerdings Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({16}) schweigt zu diesem Thema. Ich gehe folglich davon aus, daß die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, die inzwischen alle begonnen worden sind und in die erhebliche Investitionen geflossen sind, nicht in Frage gestellt und auch nicht einer neuerlichen langwierigen Überprüfung unterzogen werden. ({17}) Die von mir geführte Thüringer Koalition ist sich in diesem Punkt völlig einig: Autobahnen und ICE-Trassen sind Lebensadern, ohne deren Ausbau die Entwicklung in Thüringen und in den neuen Ländern insgesamt auf das nachhaltigste beeinträchtigt würde. ({18}) Gerade weil gegenwärtig alles von einer Revitalisierung des deutschen Föderalismus spricht: Das Herzstück der Länderzuständigkeit ist und bleibt die Bildungsund Kulturpolitik. Wir können nicht am Freitag die Eigenständigkeit der Länder betonen und am Dienstag auf den Hinweis verzichten: Bildung und Kultur sind selbstverständlich Ländersache und sollen Ländersache bleiben. ({19}) Ganz in diesem Geist hat sich Thüringen dafür eingesetzt, daß Weimar Kulturstadt Europas 1999 wird zum ersten Mal eine Stadt in den neuen Ländern, zum erstenmal eine Stadt mit nur 60 000 Einwohnern. Die Vorbereitungen sind weit fortgeschritten. Im Jahr des 250. Geburtstages Johann Wolfgang von Goethes, 80 Jahre nach der Verabschiedung der Weimarer Verfassung, 50 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes und zehn Jahre nach dem Fall der Mauer laden wir Europa nach Weimar und nach Thüringen ein. ({20}) Unsere Bewerbung war erfolgreich, weil Weimar und Thüringen nicht alleine standen, sondern weil wir von der Bundesregierung unterstützt wurden. Wir sind dankbar, daß sich der Bund als Gesellschafter an der Weimar 1999 GmbH beteiligt und einen finanziellen Beitrag leistet. Natürlich freue ich mich, wenn der Bundeskanzler den Anteil des Bundes erhöhen will und etwa bereit ist, ihn auf die Höhe des Anteils des Freistaats Thüringen zu steigern. Meine Damen und Herren, die in Weimar ausgearbeitete Verfassung war eine der freiheitlichsten Verfassungen der Welt. Daß die Weimarer Republik dennoch gescheitert ist, lag nicht an Weimar, sondern daran, daß es nicht genügend Demokraten gab, die bereit waren, die Demokratie gegen Extremisten zu verteidigen. Die Lehre daraus hat Theodor Heuss gezogen: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“. ({21}) Meine Damen und Herren, wir werden mit dem Umzug nach Berlin die Zeit des Provisoriums in Bonn beenden und die innere Einheit auch durch die Rückkehr in die wiedervereinigte deutsche Hauptstadt sichtbar machen. Aber für mich endet damit nicht die „Bonner Demokratie“, und für mich beginnt damit nicht die „Berliner Republik“. ({22}) Denn die Werte unserer Demokratie und das Grundgesetz verändern sich nicht. Beides zieht mit um nach Berlin ({23}) und wird nicht hier belassen. ({24}) Gerade weil ich Weimar, weil ich aber auch Buchenwald vor Augen habe, möchte ich alles dafür tun, daß der Freistaat Thüringen ein verläßliches Glied der Bundesrepublik Deutschland bleibt. Herzlichen Dank. ({25})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Staatsminister Rolf Schwanitz.

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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Vogel, ich darf mich im Namen der Bundesregierung für Ihre freundlichen Worte und für die Einladung herzlich bedanken. Ich bin mir sicher, daß es zwischen der neuen Bundesregierung und Ihnen, Ihrer Staatsregierung, aber auch den anderen Landesregierungen der neuen Länder zu einer guten und zügigen Zusammenarbeit kommen wird. Herzlichen Dank! ({0}) Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung am Dienstag darauf hingewiesen, daß die schonungslose Beurteilung der Lage Voraussetzung für die Modernisierung unseres Landes ist. Tatsache ist: Die Ostdeutschen haben gerade in den letzten Jahren spezielle Erfahrungen mit Dichtung und Wahrheit in der Politik gemacht. Sie haben deshalb einen besonderen Anspruch darauf, daß die Probleme beim Namen genannt werden. Die neue Bundesregierung kann und wird daher nicht das Blaue vom Himmel versprechen. „Blühende Landschaften“ sind diesmal nicht im Angebot. ({1}) Dazu sind die Probleme viel zu vielschichtig. ({2}) Notwendig sind vielmehr Anstrengung, Fleiß und vor allem auch viel Zeit. Deshalb müssen am Anfang Realismus, Ehrlichkeit und Klarheit stehen. Dieser RealisMinisterpräsident Dr. Bernhard Vogel ({3}) mus wird von den Menschen in den neuen Bundesländern erwartet, nicht leere Versprechungen, die in den letzten Jahren vor allen Dingen gegenüber den Ostdeutschen gemacht worden sind. Das muß angenommen werden. Das muß diese Bundesregierung mit Handeln untersetzen. Darum wird es gehen. ({4}) Zweifellos sind wir in den vergangenen acht Jahren ein gutes Stück vorangekommen. Wer das bestreiten wollte - ich werde dies im Gegensatz zur alten Bundesregierung niemandem im Haus, egal ob er auf der Oppositions- oder auf der Regierungsseite sitzt, absprechen -, würde weder den erheblichen solidarischen Leistungen der Westdeutschen für den Aufbau Ost noch den gewaltigen Anstrengungen der Menschen in den neuen Bundesländern gerecht. Dennoch gehört es zum Realismus, daß die neuen Bundesländer noch für eine beträchtliche Weile auf die Unterstützung und die Solidarität des ganzen Landes angewiesen sind. Noch ist kein selbsttragender Aufschwung in den neuen Ländern zustande gekommen. Die Wachstumsraten sind in den letzten Jahren in den Keller gegangen. Sie sind unter die der alten Bundesländer zurückgefallen. Der ökonomische Spalt beginnt sich wieder zu öffnen. Noch sind viele Unternehmen in den neuen Ländern nicht wettbewerbsfähig und auch nicht kapitalstark genug. Noch sind Ost und West von gleichwertigen Lebensbedingungen weit entfernt. Unser gemeinsames Ziel sollte deshalb sein, den Aufbau Ost auch als eine Chance zu begreifen, um neue Wege zu gehen, die ökonomischen und ökologischen Vorbildcharakter für unser gesamtes Land haben. ({5}) Wir werden - wie in der Koalitionsvereinbarung angekündigt - ein Aufbauprogramm „Zukunft Ost“ auf den Weg bringen. Aber wir kündigen Konzepte nicht nur an; wir handeln auch sofort und entschlossen und räumen Stolpersteine aus dem Weg, die die alte Bundesregierung hinterlassen hat. So werden wir für die neuen Bundesländer innerhalb von zwei Monaten mehr auf den Weg bringen, als die alte Bundesregierung im gesamten letzten Jahr für die neuen Bundesländer auf den Weg gebracht hat. ({6}) Zu diesem Auftakt gehört erstens das Sofortprogramm, mit dem wir einhunderttausend Jugendliche so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigung bringen werden. Dabei entfällt ein Schwerpunkt des Programms auf Ostdeutschland; denn die Mittel werden dort eingesetzt werden, wo die Not am größten ist. Dieses Programm wollen wir durch die Fortschreibung der Gemeinschaftsinitiative Ost flankieren; denn auch hier brauchen wir Klarheit, brauchen wir Stetigkeit. Auch dies kann nicht von Jahr zu Jahr erneut in Frage gestellt werden. ({7}) Zu diesem Auftakt gehört zweitens die aktive Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die vor der Wahl von der alten Bundesregierung kurzfristig hochgefahren wurde, ohne daß sie im Sinne einer Anschlußfinanzierung - Herr Ministerpräsident, hier habe ich eine etwas andere Auffassung in der Sache - für das Folgejahr sichergestellt worden wäre. Das werden wir korrigieren. Wir werden das verstetigen. Die aktive Arbeitsmarktpolitik für 1999 wird auf hohem Niveau verstetigt. Dafür haben wir die Voraussetzungen im Etat der Bundesanstalt für Arbeit bereits geschaffen; denn auch hier muß schnell gehandelt werden, damit im nächsten Jahr Klarheit für Ostdeutschland besteht. ({8}) Zum Auftakt gehört drittens, die Treuhandnachfolge im nächsten Jahr nicht einfach auslaufen zu lassen. Die Treuhandnachfolge ist keine Dauereinrichtung; ich will das in aller Deutlichkeit sagen. Aber wir wollen eine sichere Begleitung der ehemaligen Treuhandunternehmen entsprechend den gesetzlichen Vorgaben auch weiterhin gewährleisten.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?

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Gleich. - Maßstab ist der gesetzliche Auftrag, der hier beschlossen worden ist. Wir müssen ökonomische Solidität in den Unternehmen erzeugen. Das geht nicht mit der Stoppuhr in der Hand. - Bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Schwanitz, wir haben uns im Wahlkampf ja einige Male getroffen. Bei Ihnen im Vogtland und bei mir in Ostsachsen ist die Arbeitslosigkeit gleich groß. Was wollen Sie zur Verstetigung des aktiven Arbeitsmarktes in bezug auf die Sachleistungen tun? Denn momentan besteht das Problem, daß die 300 Millionen DM, die in diesem Jahr als Sachleistungen gezahlt wurden, auslaufen. Sie müssen bis Ende dieses Jahres ausgegeben und abgerechnet sein. Danach sterben die ABM weg, wenn nur noch die Lohnkosten getragen werden. Dazu würde ich gerne etwas Konkretes hören; denn danach werde ich aus dem Wahlkreis gefragt.

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Herr Abgeordneter, wir sind uns völlig darüber im klaren, daß das Sachleistungsproblem in den neuen Bundesländern ganz besonders drängend ist, vor allen Dingen weil die alte Bundesregierung 1997 durch ihre massive Streichungskampagne vielen Beschäftigungsgesellschaften die Grundlage entzogen hat. Deswegen muß die Verstetigung mit einer Sicherstellung von Sachleistungen einhergehen. Sie können sicher sein, daß wir uns dieses Problemes annehmen werden. ({0}) Zu diesen Vorhaben gehört viertens ein klares Wort zum Solidarpakt von 1993, das die in den neuen Ländern entstandene Verunsicherung beseitigt. Der Solidarpakt wird das finanzielle Rückgrat des wirtschaftlichen Aufbaus der neuen Länder bleiben. So ist zum Beispiel auch der Versuch der alten Bundesregierung, Sonderzuweisungen von 800 Millionen DM aus dem Finanzausgleich zu streichen, mit dieser neuen Bundesregierung vom Tisch. Solche Strategien werden wir nicht weiterverfolgen. ({1}) Zum Auftakt gehört fünftens, die Ende 1998 auslaufende Regelung zum Investitionsvorrang für Ostdeutschland weiter zu verlängern. Damit schaffen wir Planungssicherheit, um insbesondere Investitionen in den Wohnungsbau, in den Kommunen nicht länger zu gefährden. Auch hier ist dringender Handlungsbedarf gegeben. Es muß schnell gehandelt werden. Wir werden das vordringlich bis zum Jahresende leisten. ({2}) In diesen vordringlichen Bedarf gehört sechstens: Die Befristung der Finanzhilfen für die ostdeutschen Krankenkassen ist vom Tisch und damit auch der ursprünglich von Bayern thematisierte Versuch der Regionalisierung von Krankenversicherungen. Auch hier entsteht Planungssicherheit, übrigens auch für ostdeutsche Unternehmungen, die vor dem Hintergrund der hohen Lohnnebenkosten arge Befürchtungen vor einer solchen Strategie haben. Siebentens: Wir beseitigen die von der Europäischen Kommission angedrohte Blockade beim Investitionszulagengesetz. An dieser Stelle will ich an die jetzige Opposition ein Wort richten: Sie haben mit dem Investitionszulagengesetz in den zurückliegenden Wochen und Monaten massivst Wahlkampf gemacht und es als ein Herzstück Ihrer Leistungen für die ostdeutschen Länder und für den Aufbau Ost präsentiert. Dabei hatten Sie bereits das Schreiben, in dem die EU-Kommission nur eine Teilgenehmigung des Gesetzes vorgesehen hat, bereits in der Tasche. Sie haben nicht reagiert. Sie haben die Fristen verstreichen lassen. Wir werden das auf den Weg bringen, damit dieses Gesetz EU-konform in Kraft treten und vollzogen werden kann. ({3}) Meine Damen und Herren, das Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik, die Regelung der Treuhandnachfolgefrage, Klarheit beim Solidarpakt, die Verlängerung beim Investitionsvorrang, Sicherheit für die ostdeutschen Krankenkassen und pünktlicher Start des Investitionszulagengesetzes, das sind sieben wichtige Punkte für die neuen Länder, die Sie ausgesessen haben oder zum Teil politisch nicht wollten und die wir noch bis zum Jahresende angehen werden. Das ist in der Tat ein klares Signal und ein guter Start der neuen Bundesregierung gegenüber den neuen Ländern. ({4}) Die Schwerpunkte unserer Politik für Ostdeutschland werden im Aufbauprogramm „Zukunft Ostdeutschland“ zusammengeführt. Sie reichen von einer verläßlichen Fortsetzung der Aufbauhilfen und der Verstärkung von Zielgenauigkeit und Effizienz über den Ausbau der ostdeutschen Forschungslandschaft, über die Fortentwicklung der öffentlichen Infrastrukturprogramme bis hin zur Sicherung fairer Rahmenbedingungen für die ostdeutsche Landwirtschaft. Im übrigen: Selbstverständlich steht das, was in der gemeinsamen Erklärung zur Bodenreform vereinbart worden ist, in keiner Weise zur Disposition. ({5}) Dabei werden wir sowohl neue Vorschläge unterbreiten als auch Fehler der alten Bundesregierung korrigieren. Ich will dafür zwei Beispiele geben: Bei der Forschungsförderung für die Industrie hatte die alte Bundesregierung ihre Zusage nicht eingehalten, die Hilfen auf hohem Niveau fortzusetzen. Die mittelfristige Finanzplanung, die ich vorgefunden habe, sah hier eine deutliche Absenkung nach 1999 vor. Der frühere Forschungsminister hat es sogar fertiggebracht, das Programm „Forschungskooperation“ nur bis Ende September dieses Jahres zu finanzieren und es dann ohne Vorankündigung einzustellen. ({6}) Ich kann die Klagen der ostdeutschen Unternehmen, die auf Stetigkeit und Verläßlichkeit gehofft haben, sehr gut verstehen. Mit uns wird eine solche Politik, die die Interessen der ostdeutschen Unternehmen ignoriert, nicht fortgesetzt werden. ({7}) Die Bedeutung der Modernisierung der Infrastruktur für Investionen und Arbeitsplätze in Ostdeutschland kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Deshalb werden wir einen weiteren Schwerpunkt setzen und zum Beispiel die Verkehrprojekte Deutsche Einheit zügig weiterentwickeln. ({8}) Deswegen wird das Kabinett - so wie angekündigt - alle zwei Monate in Ostdeutschland vor Ort gehen; es wird nicht über die Menschen regieren, ({9}) sondern Probleme mit den Menschen besprechen und konstruktiv und pragmatisch vorgehen. Das ist unser Ansatz. ({10}) Zur inneren Einheit der Deutschen gehören jedoch nicht nur Zahlen und Fakten, die man in Mark und Pfennig ausweisen kann. Zur inneren Einheit gehört auch die wechselseitige Akzeptanz des jeweils anderen; denn die innere Einheit ist nicht dadurch zu erreichen, daß sich die Ostdeutschen möglichst vollständig den westdeutschen Normen und Wertevorstellungen anpassen. Die Einheit in Vielfalt ist unser Ziel. Deshalb zollt die Bundesregierung den Lebensleistungen und Biographien der Menschen im Osten Achtung und Respekt. Sie bereichern den Erfahrungsschatz unseres Volkes. Das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost und West kann nur gelingen, wenn Trennendes abgebaut und Verletzendes beseitigt wird. Ich will deshalb, daß die Mängel bei der Anerkennung und Rehabilitierung ehemals politisch Verfolgter in der DDR endlich beseitigt werden. ({11}) Sie wissen: Das ist eine lange Herzensangelegenheit vieler hier im Haus und ist in den letzten acht Jahren regelmäßig gescheitert. Jetzt haben wir andere Mehrheitsverhältnisse, jetzt muß es endlich zu einer Verbesserung dieser Situation kommen. ({12}) Das gilt aber auch für die Fortsetzung der Aufarbeitung der Geschichte und für die wichtige Tätigkeit der Behörde für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, der sogenannten Gauck-Behörde. ({13}) Diese Beiträge sind wichtig; denn nicht Verdrängen oder Verklären der Vergangenheit, sondern nur eine offensive Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte wird uns die Räume für die Auseinandersetzung und für die Wege in die Zukunft öffnen. ({14}) Ich will ferner, daß die Regelungen über die Anerkennung von Berufsabschlüssen, über Titel und Ämter auf den Prüfstand kommen, damit geklärt wird, inwieweit ostdeutsche Lebensleistungen durch das bisherige Recht im vereinigten Deutschland angemessen gewürdigt werden. Schließlich streite ich dafür, das seit der Einheit gewohnte Vokabular einem kritischen Blick zu unterwerfen; denn auch ein Begriff wie Transferleistungen sollte künftig nicht länger überfrachtet und politisch instrumentalisiert werden. ({15}) Ich fordere Sie auf und biete Ihnen an, über all diese Dinge gemeinsam mit uns konstruktiv zu streiten, unabhängig davon, ob Sie in der Koalition oder in der Opposition stehen. Diese Ungerechtigkeiten, die teilweise auch als Verletzungen empfunden werden, im Konsens oder im Streit gemeinsam zu beseitigen, nur dies wird uns bei der inneren Einheit weiterführen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatsminister, achten Sie auf die Zeit, bitte.

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Ja. - Die innere Einheit bleibt eine der zentralen innenpolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Diese innere Einheit erfordert die ökonomische Emanzipation des Ostens. Dies erfordert eine Solidarität im Föderalismus und eine Schwerpunktsetzung in der Bundespolitik. Hierfür treten wir ein. Herzlichen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Kurzintervention - das sind drei Minuten - erteile ich Frau Cornelia Pieper das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Staatsminister Schwanhold! Ich habe Ihren Ausführungen sehr aufmerksam zugehört. ({0}) - Schwanitz. Aber von Schwanitz bis Schwanhold ist der Abstand in der Tat nicht weit. - Ich habe Ihre Ausführungen sehr aufmerksam verfolgt. Ich stelle mit Befriedigung fest, daß die SPD im Jahre acht der deutschen Einheit das Thema „Aufbau Ost“ entdeckt hat. ({1}) Was mich gewundert hat, ist, daß Sie, Herr Staatsminister, nicht für blühende Landschaften in den neuen Bundesländern sprechen. Meine Fraktion und ich gehören auch nicht zu denjenigen, die blühende Landschaften versprochen haben, aber wir sollten alle Kraft darauf verwenden, daß blühende Landschaften in den neuen Bundesländern entstehen. Das gehört letztendlich auch zu Ihrer Aufgabe. ({2}) Bundeskanzler Gerhard Schröder hat den Aufbau Ost zur Chefsache gemacht. Ich hoffe, daß das auch Chefsache bleibt. Chefsache heißt für mich in erster Linie, sich um die Arbeitsplätze der Menschen in den neuen Bundesländern zu kümmern. Die Arbeitslosigkeit ist dort doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. ({3}) Sie legen Prioritäten auf den zweiten Arbeitsmarkt. Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine aktive Mittelstandsförderung gerade auch für die neuen Bundesländer, um Arbeitsplätze schaffen zu können. ({4}) Es sind keine Illusionen, wie der Bundeskanzler gestern sagte, die Sie sich machen; aber es sind falsche Hoffnungen, die Sie sich letztendlich machen, wenn Sie glauben, mit dem zweiten Arbeitsmarkt die Probleme lösen zu können. Wir brauchen eine aktive Mittelstandspolitik. Da werden Sie mit der Ökosteuerreform nichts erreichen. Sie wissen genau wie ich, daß die Energie- und Strompreise in den neuen Bundesländern höher sind als in den alten Bundesländern, die Strompreise um zwei oder drei Pfennig pro Kilowattstunde höher. Wenn Sie jetzt mit einer ökologischen Steuerreform hier noch draufsatteln, dann wird das zarte Pflänzchen „Mittelstand“ in den neuen Bundesländern vernichtet. Das kann man nicht wollen, wenn man den Aufbau Ost vorantreiben will. Wir brauchen hier klare Konzepte für Steuersenkungen. Die F.D.P. hat dazu immer konkrete Vorschläge gemacht. Das vermisse ich von Ihrer Seite. Wie wollen Sie sonst den Mittelstand weiterhin unterstützen? Da ist nichts von Ihrer Seite zu erkennen. Hier sind Sie zum Handeln aufgefordert. Was den Ausbau der Infrastruktur anbelangt: Wie stehen Sie zu der Position Ihres Koalitionspartners, der immer wieder gefordert hat, Haushaltsmittel für den Bundesfernstraßenbau zu streichen? In der letzten Legislaturperiode waren das immerhin 3 Milliarden DM. Investitionen für den Ausbau der Infrastruktur in den neuen Bundesländern sind Grundvoraussetzung dafür, daß Investitionen getätigt werden und daß Arbeitsplätze entstehen können. Wie wollen Sie hier einen Schub initiieren, damit Arbeitsplätze entstehen, damit Investitionen kommen und damit verhindert wird, daß Umgehungsstraßen und Autobahnen in den neuen Bundesländern nicht gebaut werden? Hier fehlt mir ein klares Bekenntnis auch seitens Ihres Koalitionspartners. Ihr Wort habe ich wohl gehört; allein, mir fehlt der Glaube. Herr Staatsminister, Sie sind hier aufgefordert, sich dazu konkreter zu äußern und zu handeln. Sie sind nicht aufgefordert, nur zu verkünden, daß Sie als Staatsminister den Aufbau Ost wollen, der dann letztendlich mit der Ökosteuer im Abbruch Ost landet. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatsminister Schwanitz, möchten Sie antworten? - Bitte sehr.

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Frau Kollegin Pieper, ich habe Ihnen sieben konkrete Punkte genannt, die wir bis zum Jahresende umsetzen werden. Das ist schon einmal ein Ansatz. ({0}) Sie können das gern noch einmal im Protokoll nachlesen. Vielleicht haben Sie nicht richtig zugehört. Das ist in Ordnung. Ich glaube, das ist ein ordentlicher Fahrplan, für den wir uns sehen lassen können, insbesondere vor dem Hintergrund der Zeit, die wir seit der Regierungsübernahme für diese Dinge zur Verfügung hatten. ({1}) Eine weitere Bemerkung zu den blühenden Landschaften. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre hier schon über blühende Landschaften gesprochen worden ist. Es ist nicht die Frage, ob man eine Verbesserung anstrebt, sondern ob man sie den Menschen mit einem Zeithorizont von drei bis vier Jahren leichtfertig verspricht und damit Probleme zudeckt. Das werden wir nicht tun, meine Damen und Herren. ({2}) Frau Kollegin Pieper, wir machen uns keine Illusionen, daß man in Ostdeutschland das Problem des Arbeitsplatzmangels mit dem zweiten Arbeitsmarkt lösen könnte. Das ist nicht der Punkt. Aber Sie haben als Koalitionspartner gemeinsam mit Ihrem Banknachbarn im letzten Jahr arbeitsmarktpolitische Instrumente zu wahltaktischen Instrumenten verkommen lassen. Das ist die Hinterlassenschaft, mit der wir umgehen müssen. ({3}) Wir lassen die Menschen nicht einfach im Regen stehen. Zum Schluß zur Steuersenkungsfrage. Frau Pieper, wir setzen jetzt die Körperschaftsteuer auf 35 Prozent fest. ({4}) Das habe ich bei Ihnen in den 16 Jahren nicht erlebt. ({5}) Damit haben wir eine enorme Senkung der Steuern: Daß man das in vier Jahren machen kann, sollten Sie für sich als Ansporn nehmen. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun Herrn Dr. Michael Luther, CDU/CSU-Fraktion, das Wort, bitte sehr.

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Aufbau Ost ist jetzt Chefsache - wie man leicht sieht. ({0}) Am Dienstag habe ich die Debatte aufmerksam verfolgt: Auch in der zweistündigen Regierungserklärung war die Chefsache dem Chef nur fünf Minuten wert. Ich glaube, daß diesem wichtigen Thema - der inneren Einheit Deutschlands - mehr Aufmerksamkeit gebührt hätte. ({1}) - Der Chef ist vielleicht trotzdem da; das kann ja sein. ({2}) Zur Infrastruktur. Dazu steht in der Regierungserklärung - lassen Sie mich auf ein paar Dinge kurz eingehen -: Infrastruktur, Ausbau des Telefonnetzes, Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ - das waren Themen in den letzten Jahren. Es ist Gewaltiges erreicht worden, und diese Anstrengungen müssen fortgesetzt werden; das ist unstrittig. Etwas anderes steht auch nicht in der Regierungserklärung; das ist gut so. Ich hoffe nur, daß die angedachte Überarbeitung der Verkehrswegepläne vor dem Hintergrund von Bemerkungen, die da lauten, weniger sei mehr, nicht im Endeffekt dazu führen wird, daß in den neuen Bundesländern nicht mehr, sondern weniger für die Infrastruktur getan wird. Das wäre katastrophal. ({3}) In den letzten Jahren waren Modernisierung und Sanierung zentrale Themen. Ich sage es deutlich: Wer es sehen will, kann es sehen: Es gibt die blühenden Landschaften. ({4}) Und nun das „Neue“ der neuen Bundesregierung: Sie wollen die Anstrengungen zur Sanierung und Gestaltung der Städte fortsetzen. Ich finde, das ist eine tolle Idee. Sicherlich haben Sie in der Regierungskoalition lange darüber nachgedacht, bis Sie darauf gekommen sind. Zum wirtschaftlichen Aufbau: In Ostdeutschland entsteht eine moderne Industrie. Darüber sind sich Experten einig. Es gab und gibt eine riesige Zahl von neuen Unternehmen. Das war nur mit Hilfe von Fördermitteln möglich. Nun möchte die Bundesregierung - man höre! - die Förderpräferenz für die neuen Bundesländer sichern. Ich finde das gut. Allerdings sei die ironische Frage erlaubt: Vor wem wollen Sie die Förderpräferenz sichern? Genauer betrachtet scheint diese Frage auch nicht unberechtigt zu sein, nämlich wenn man die Vielzahl von teuren Wahlversprechen und die ungeklärten Finanzierungsfragen berücksichtigt. Aufbau Ost kostet Geld. Herr Schwanitz, Sie werden darauf zu achten haben, daß dieses Geld im Bundeshaushalt auch zur Verfügung steht. ({5}) Ich hoffe, daß es Ihnen gelingt. Zum Thema zweiter Arbeitsmarkt: Er muß auf hohem Niveau bleiben. Ich freue mich, daß Sie die Mittel dafür verstetigen wollen. Neu ist der Gedanke allerdings nicht. Im Gegenteil: Wenn ich die Formulierungen aus der Regierungserklärung - Herr Schwanitz, in Ihrem Beitrag haben Sie das wiederholt - ganz genau betrachte, habe ich sogar Sorge. Ich will es einmal auf den Punkt bringen. Sie unterstellen für das Jahr 1998 WahlkampfABM, was - und das wissen Sie alle ganz genau - nicht stimmt. Die Crux der Behauptung ist allerdings, daß Sie als das stetige Maß eine Ebene ansetzen wollen, die niedriger ist als die des Jahres 1998. Ich glaube, ABM muß auf dem finanziellen Niveau des Jahres 1998 fortgesetzt werden. Darauf haben Sie zu achten. ({6}) Resümee: Wer von der „Chefsache“ Aufbau Ost neue Ideen erwartet hat, der wurde getäuscht. Herr Schwanitz, ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie können auf unsere Unterstützung zählen; denn der Aufbau Ost ist uns Herzensanliegen. Sie werden in dieser Koalition auf unsere Unterstützung angewiesen sein. ({7}) Das hat Ihre in manchen Phasen sehr mutlose Rede zu dem Thema „Aufbau Ost“ und zu dem Thema „blühende Landschaften“ zum Ausdruck gebracht. Sie sollten sich in der Zukunft bemühen, ein Stück bei der Wahrheit zu bleiben. Ich denke zum Beispiel an das Thema Investitionszulagengesetz. Wir in der Regierungskoalition haben das in der letzten Legislaturperiode als wichtiges und richtiges Mittel, als Anschlußregelung für das Fördergebietsgesetz auf den Weg gebracht. Es ist gut, daß es dieses Instrument gibt. Ich hoffe, daß Sie nicht versuchen, es zu kassieren, sondern es weiterhin anwenden. ({8}) Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu anderen Themen machen. Zum Thema Steuerreform: In seiner Regierungserklärung hat der Bundeskanzler auf die schwache Eigenkapitalbasis der Unternehmen in den neuen Bundesländern hingewiesen. Er hat - zu Recht - festgestellt, daß die Eigenkapitalbasis gestärkt werden muß. Glauben Sie, daß Ihnen das mit Ihrer Steuerreform gelingt? Unternehmen brauchen zur Eigenkapitalbildung Gewinne. Wenn Sie die Gewinne aber durch Steuern deutlich schmälern, dann kann niemand Eigenkapital bilden. Sie brauchen dieses Geld für die vielen Experimente, die Sie vorhaben; ich weiß das. Doch was bedeutet das für die eigenkapitalschwachen Unternehmen in den neuen Bundesländern? Sie werden diese Unternehmen in ganz besonderer Weise treffen. Zum Thema Ökosteuer: Einerseits - das ist allen klar - ist das Einkommensniveau der Arbeitnehmer und der Rentner in den neuen Bundesländern besonders niedrig; andererseits müssen, dem starken wirtschaftlichen Wandel geschuldet, die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern viel flexibler sein und viel mehr pendeln als die Menschen in den alten Bundesländern. Deshalb wird die ökologische Steuerreform die Bürger in den neuen Bundesländern in besonderem Maße treffen. Bei niedrigerem Einkommen nutzt auch niemandem eine Steuerreform, durch die er weniger Steuern bezahlt. Aber höhere Energie- und Benzinsteuern werden die neuen Bundesländer treffen, und zwar die einfachen Menschen mit kleinem Einkommen. ({9}) Diese Politik schadet den Menschen, sie schadet der Kaufkraft, und was der Kaufkraft schadet, das schadet natürlich auch dem Mittelstand in den neuen Bundesländern. Zum Thema Strompreis: In den neuen Bundesländern ist er besonders hoch, weil die Stromversorgungsbasis in den vergangenen Jahren grundlegend modernisiert werden mußte. Diese Tatsache ist schon heute für die Unternehmen in den neuen Bundesländern schwerwiegend. Wir haben das immer festgestellt. Wenn Sie diesen Unternehmen mit der Ökosteuer nun noch eine zusätzliche Energiesteuer aufdrücken wollen, dann wird es für sie gefährlich, dann werden sie in ihrem Bestand gefährdet, und dann wird so mancher auch auf Neuinvestitionen verzichten müssen. Lassen Sie mich hier aus der „Volksstimme“ vom 3. November 1998 zitieren: Der Wernigerröder Zylinderkopfhersteller Rautenbach hat ein Investitionspaket von 40 Mio. DM für die Produktion eines Motorblocks aus Aluminium gestoppt. „Insbesondere die von der rot-grünen Bundesregierung angekündigte Energiepreiserhöhung bedeutet für unser Unternehmen eine dramatisch nicht hinnehmbare Verschlechterung im internationalen Wettbewerb“, so der Geschäftsführer. ({10}) Das ist keine Folge der Politik der alten Regierung, sondern eine Folge des Hickhacks, der Diskussionen, die in den letzten 14 Tagen in Deutschland durch die heutige Regierungskoalition geführt wurden. Ergebnis ist Verunsicherung bei Investoren, Verunsicherung an einer Stelle, an der es uns gelungen ist, langsam das Vertrauen in die Solidität des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Bundesländern zu wecken. ({11}) Sie zerstören diese Vertrauensbasis. Ich fordere Sie deshalb auf: Verzichten Sie auf die Ökosteuer für die neuen Bundesländer gänzlich! ({12}) Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung. Ich zitiere aus Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler - er ist leider nicht anwesend -: Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozialdemokraten die friedliche Revolution mitgestaltet haben, . . . Ich halte das für einen dreisten Versuch, die Geschichte zu fälschen. ({13}) In unserer Fraktion sitzen Vera Lengsfeld, Arnold Vaatz und Günter Nooke. Sie haben 1989 bei der friedlichen Revolution in der DDR ihren Kopf hingehalten. ({14}) Sie haben für die deutsche Einheit gestritten, die wir 1990 erreicht haben. Im Gegenzug hat der damalige Ministerpräsident und heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder gemeinsam mit seinem heutigen Finanzminister, Herrn Lafontaine, im Bundesrat gegen die deutsche Einigung gestimmt. Das ist geschichtliche Wahrheit. ({15}) Ich bin mir sicher: Wenn damals die SPD Regierungsverantwortung getragen hätte, hätten wir heute keine deutsche Einheit. ({16}) Dann wäre heute die Staatsbürgerschaft der DDR anerkannt, und dann könnten wir nur noch auf die doppelte Staatsbürgerschaft hoffen. ({17})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun unsere Kollegin Sabine Kaspereit von der SPD-Fraktion.

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Ausgang der Bundestagswahl am 27. September muß allen in diesem Hause zu denken geben, den Verlierern ebenso wie den Siegern. Das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern macht deutlich, daß Versprechungen, die nicht eingehalten werden, eine schwere Hypothek sind. An dieser Hypothek tragen nicht nur diejenigen, die die Versprechungen abgegeben haben - sie haben ja die Quittung dafür bekommen -, sondern trägt auch die neue Regierung, die diese Hypothek nun abtragen muß. Auf der neuen Bundesregierung lastet eine enorme Erwartungshaltung. Staatsminister Schwanitz hat mir das Wort aus dem Mund genommen. Im übrigen freue ich mich, daß Regierung und Fraktion hier wirklich mit einer Stimme sprechen. Es ist besonders wichtig, eine ehrliche Politik zu machen und keine falschen Versprechungen. ({0}) In den vergangenen Jahren ist manches in Ostdeutschland erreicht worden. Die infrastrukturellen Voraussetzungen wurden entscheidend verbessert. Die Produktivität stieg von gut 30 auf jetzt 60 Prozent, auch die Bruttoeinkommen stiegen von 47 auf jetzt durchschnittlich 74 Prozent, die Renten verdreifachten sich. In dieser Hinsicht wurde viel geleistet, und wir stellen nicht in Abrede, daß die alte Bundesregierung ihren Anteil an diesem Erfolg hat. Aber es ist vor allem - das möchte ich ganz klar sagen - ein Erfolg und ein Verdienst der Menschen in den neuen Bundesländern, die mit ihrem Leistungswillen entscheidend dazu beigetragen haben. ({1}) Das schöpferische Potential der Menschen ist ein Pfund, mit dem wir wuchern wollen, können und müssen. Die Menschen sind der positivste Standortfaktor. ({2}) In unserer Bestandsaufnahme müssen wir aber auch feststellen, daß die Transformation von einer zentral gelenkten Staatswirtschaft in eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft in den neuen Ländern noch nicht gelungen ist. Konkret bedeutet das für die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland im achten Jahr der deutschen Einheit, daß die Wirtschaftsleistung je Einwohner erst an die Hälfte des westdeutschen Wertes herankommt, daß die Industrieproduktion je Einwohner lediglich ein Drittel der alten Länder erreicht, daß sich die ostdeutschen Wachstumsraten deutlich verlangsamt haben und daß Investitionen vor allen Dingen im kommunalen Bereich rückläufig sind. Das bedeutet auch, daß der Kapitalstock je Einwohner weit unter demjenigen in den alten Bundesländern liegt, daß die Ertragslage bei der Mehrzahl ostdeutscher Betriebe nach wie vor unbefriedigend ist und daß sich die hohen Gebühren für Energie und Abwasser als Standortnachteil erweisen. Die Integration der neuen Länder in die internationale Arbeitsteilung rückt die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen und ihrer Produkte und Dienstleistungen in den Mittelpunkt des Interesses. Es kommt nun darauf an, sich auf überregionalen und internationalen Märkten zu behaupten. Aber eine Exportquote von 15 Prozent kann nicht befriedigen und ist dafür verantwortlich, daß das Wachstum in den neuen Ländern zurückbleibt. Neben den von mir genannten Schwierigkeiten hat die ostdeutsche Wirtschaft nach wie vor mit zentralen Problemen zu kämpfen. Besonders schwerwiegend ist die dünne Eigenkapitaldecke, die die Unternehmen sofort in Existenznot bringt, wenn sie kurzfristig weniger Aufträge oder hohe Außenstände haben. ({3}) Ob neugegründet, privatisiert oder reprivatisiert - die Betriebe hatten bisher überhaupt noch keine Chance, eine Eigenkapitaldecke zu bilden. ({4}) Die industrielle Basis ist trotz einiger Leuchttürme zu schmal. Deshalb müssen wir eine offensive und gezielte Ansiedlungspolitik betreiben, die auch für die Zukunft trägt. Natürlich muß letztlich jedes Unternehmen seine Standortentscheidung selbst treffen. Die Politik kann Standortentscheidungen nur über Rahmenbedingungen beeinflussen, die einen Standort für ein Unternehmen attraktiv machen. Die Landesregierungen der neuen Länder leisten auf diesem Gebiet Pionierarbeit. Wir müssen sie dabei vor allem auf dem Feld der Entbürokratisierung unterstützen. ({5}) Es sind doch weniger die Steuern, die bei einer Standortentscheidung eine Rolle spielen; vor allen Dingen Genehmigungszeiten, Grundstückspreise, eine kalkulierbare Förderung und die Qualifikation der Arbeitskräfte bestimmen die Entscheidung eines potentiellen Investors, nach Ostdeutschland zu gehen oder wegzubleiben. Zum Stichwort Qualifikation: Daß die Regierung Kohl es zugelassen hat, daß die industrienahe Forschung in einem brutalen Ausmaß kaputtgemacht wurde, ({6}) gehört ebenfalls zu dieser Hypothek, von der ich anfangs sprach. ({7}) Wir werden erhebliche Anstrengungen machen müssen, damit Forschung und Entwicklung durch ihre Impulse wieder zur wirtschaftlichen Gesundung in den neuen Ländern beitragen können. Untrennbar mit der wirtschaftlichen Lage ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbunden. Im Januar werden wir wahrscheinlich erleben, daß die Zahl der Arbeitslosen im Osten erneut ansteigt. Dann laufen nämlich die berüchtigten Wahl-ABM aus. Ich höre schon jetzt, wie dann die rechte Seite dieses Hauses in Häme ausbrechen und Rotgrün die Verantwortung dafür zuschieben wird. Ich verspreche Ihnen: Diese Häme wird auf Sie selbst zurückfallen. ({8}) Ihre Arbeitsmarktpolitik nach dem Berg-und-TalbahnPrinzip hat unter anderem das Wahlverhalten der Ostdeutschen entscheidend mitbestimmt; denn die Ostdeutschen haben erkannt, welches Spiel die alte Bundesregierung mit den Hoffnungen der Menschen getrieben hat. Hoffnungen setzen Vertrauen voraus. Für uns, meine Damen und Herren, ist das Vertrauen der Menschen eine Verpflichtung, die wir ernst zu nehmen haben. Die aus enttäuschtem Vertrauen gewachsene Verunsicherung bei der ostdeutschen Bevölkerung mündet in ein sich vertiefendes Mißtrauen in die Politik. Neben der Angleichung der Lebensverhältnisse ist die Überwindung dieses Mißtrauens eine der wesentlichen Voraussetzungen auf dem Weg zur wirklichen Einheit Deutschlands. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grund?

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kaspereit, Sie sprachen ABM-Geschenke zur Wahl ({0}) und eine Häme an, die vermutlich ausbrechen würde, wenn die Zahl der ABM zurückgefahren würde. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß im Haushaltsentwurf 1999, den die alte Bundesregierung vorgelegt hat, Mittel für den zweiten Arbeitsmarkt in derselben Höhe wie in diesem Jahr eingestellt waren, ({1}) so daß wir ohne weiteres die Zahl der ABM gehalten hätten und auch den finanziellen Spielraum gehabt hätten, die Förderung auf demselben Niveau weiterzuführen. Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß im Haushaltsentwurf für 1998 der Zuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit so großzügig bemessen war, daß Sie ungefähr 5 Milliarden DM zur Verfügung haben, um, wie Sie es ja jetzt auch tun, ein Sofortprogramm aufzulegen, ohne eine Mark neu aufnehmen zu müssen. Das ist Ausdruck der soliden Finanzierung der alten Bundesregierung. Vor diesem Hintergrund hätte das Geld ausgereicht, alles auf demselben Niveau weiterzuführen. Sie können das ohne weiteres machen. Sie müssen nur denselben Betrag einstellen. ({2})

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Grund, ich nehme Ihre Feststellung zur Kenntnis. Aber Sie wissen genauso wie ich, daß Sie mit Ihrem Vorgehen auf 1999 vorgegriffen haben. Insofern hat sich der Betrag schon entsprechend verringert. ({0}) Wir müssen das Versprechen halten, den wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutschlands als gesamtdeutsche Aufgabe höchster Priorität voranzutreiben, um dem Ziel der Verwirklichung der deutschen Einheit näherzukommen. Es geht darum, unsere gemeinsame Kraft darauf zu richten, die soziale und wirtschaftliche Spaltung zwischen Ost und West zu überwinden und die solidarische Hilfe für Ostdeutschland auf verläßlicher Grundlage konsequent fortzuführen. Dafür hat Gerhard Schröder neben einer vernünftigen Wirtschafts- und Steuerpolitik - bereits wichtige Weichen gestellt. Aus dem Ergebnis des vorläufigen Kassensturzes wissen wir erstens, daß die finanzielle Lage keine bedeutenden Spielräume bietet. Wir wissen zweitens, daß frühere Versäumnisse oder falsche Weichenstellungen nicht einfach ungeschehen gemacht werden können. Wir wissen drittens: Die ökonomische Leistungsfähigkeit ist der Dreh- und Angelpunkt. Wir können uns einen rückläufigen Saldo bei Unternehmensgründungen und einen ansteigenden Saldo bei Insolvenzen volkswirtschaftlich einfach nicht leisten, weil dies alle anderen Anstrengungen in Frage stellen würde. Das ist der Grund dafür, daß die Neue Mitte für uns keine leere Worthülse ist. Die Neue Mitte steht für Solidarität, Innovation, Verantwortung und Unternehmerlust, wie Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht hat. Wir wissen, daß diese Neue Mitte in Ostdeutschland ein zartes Pflänzchen ist, das erst wachsen muß. Förderung von Existenzgründern, Bereitstellung von - wir nennen es - Chancenkapital, Stärkung der Eigenkapitalbasis, Absatzförderung, Beratung und nicht zuletzt eine anständige Unternehmerkultur wie die Einhaltung von Zahlungsfristen sind für dieses Wachsen und Gedeihen unverzichtbar. Der Koalitionsvertrag und die Regierungserklärung des neuen Kanzlers beweisen, daß die neuen Bundesländer bei der jetzigen Koalition gut aufgehoben sind. ({1}) Erste Projekte sind bereits auf den Weg gebracht: Erstens. Die finanzielle Ausstattung der verschiedenen Förderinstrumentarien spricht für sich. Zweitens. Wir stellen die Planungssicherheit bei den ostdeutschen Arbeitsbeschaffungen auf eine verläßliche Grundlage. Drittens. Unser Sofortprogramm für 100 000 Arbeitsplätze, um die Jugendarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, ist ein Programm, das vor allem in den neuen Ländern Perspektiven für junge Menschen schaffen soll. ({2}) Wir können doch nicht tatenlos zusehen, daß Jugendliche in Null-Bock-Mentalität und Extremismus abdriften, weil ihnen mangels Arbeit und Ausbildung keine Leistung abgefordert werden kann. Wir können die Jugendlichen nicht dafür verantwortlich machen, daß sie nicht zur Leistung bereit sind, wenn ihnen die Möglichkeit fehlt, ihren Leistungswillen beweisen zu können. ({3}) Viertens. Die Sicherung und Neustrukturierung der Altlastensanierung ist eine wichtige Voraussetzung für die Neuansiedlung von Unternehmen. Fünftens. Darüber hinaus werden Instrumentarien entwickelt, die die Strompreise in den neuen Ländern die Strompreise sind heute ja schon sehr oft angesprochen worden - an das Westniveau heranführen sollen; denn es ist nicht länger zu verantworten, daß die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern höhere Strompreise als die in den alten Bundesländern zahlen. ({4}) Auch diese Maßnahme erleichtert Investitionen. Durch diese moderne Energiepolitik wird eine zukunftsfähige Energieversorgung sichergestellt, die hilft, die Standortnachteile zu beseitigen. Aus all dem, worüber ich gesprochen habe, wird deutlich, daß Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit kann es eigentlich niemanden in Erstaunen versetzen, daß die Krankenkassen in Ostdeutschland ein erhebliches Einnahmeproblem haben. Deshalb müssen wir bei den Reformen auf dem Gebiet der gesetzlichen Krankenversicherung sorgfältig darauf achten, daß die Finanzierung in den neuen Ländern gesichert ist. ({5}) Auch ist es nicht hinnehmbar, daß es vor allem im Osten eine wachsende Zahl von Arbeitsverhältnissen auf 520-DM-Basis gibt, die in mehrfacher Hinsicht sozial völlig ungesichert sind. ({6}) Hier muß dem Mißbrauch Einhalt geboten werden, weil die Allgemeinheit doppelt belastet wird: erst durch Mindereinnahmen in den Sozialkassen und im nächsten Schritt durch die Ausgaben für die soziale Sicherung der betroffenen Menschen. Zum Stichwort Landwirtschaft: Wir werden auch in diesem Bereich sorgfältig auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe achten müssen, dies vor allem vor dem Hintergrund der Europapolitik. Ich habe nur einige der Probleme der neuen Länder angesprochen. Aber aus den genannten Beispielen wird wohl deutlich, daß wir in dieser Wahlperiode viel zu tun haben werden. Ich freue mich darüber, dies nicht mehr nur aus der Oppositionsrolle heraus tun zu müssen. ({7}) Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der neuen Opposition, gute Ideen zur Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands haben, so sind Sie herzlich eingeladen, konstruktiv mitzuarbeiten, so wie auch wir es in der Opposition getan haben. ({8}) Gute Ideen haben jetzt eine weitaus größere Chance umgesetzt zu werden. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/17 und 14/25 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung betreffend den Antrag der PDS zum Vermögenszuordnungsgesetz auf Drucksache 14/17 soll beim Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zu den Themenbereichen Inneres, Recht und Kultur. Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 2 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau, Ulla Jelpke, Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Abschaffung des Flughafenverfahrens ({0}) - Drucksache 14/26 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Dr. Jürgen Rüttgers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die Regierungserklärung und die Koalitionsvereinbarung in den Bereichen Inneres und Recht. Wir haben während des Wahlkampfes vom jetzigen Bundeskanzler des öfteren folgenden Spruch gehört: „Wir wollen nicht alles anders machen, aber vieles besser.“ ({0}) Wer die Aussagen zur Innen- und Rechtspolitik gehört hat, wer nachgelesen hat, was in der Koalitionsvereinbarung dazu steht, und wer den verpatzten Start auf sich wirken läßt, der ist geneigt, dem Bundeskanzler zu empfehlen, den Satz ein klein wenig zu verändern, gleichsam nach dem Motto: Wir wollen nicht alles besser machen, aber vieles anders. Das scheint mir der Kern der Aussagen zur Innen- und Rechtspolitik zu sein. ({1}) Folgendes ist bisher zu beobachten: ein verpatzter Start, eine mißlungene Steuerreform, Krach mit der Bundesbank, außenpolitische Fehlleistungen in Polen und Frankreich, Versprechungen in Milliardenhöhe und ein Innenminister, dessen Positionen und Äußerungen so klar sind wie Druckerschwärze. Da wird gemeldet, der Innenminister sei für die Freigabe weicher Drogen. Das wird dann sofort dementiert. Eine Freigabe, heißt es, sei zur Zeit nicht denkbar. Aber er sei bereit, seine bisherige Haltung zu überprüfen. Was denn nun, Herr Schily? Ja oder nein? Da lobt Herr Schily die Arbeit der Gauck-Behörde für die „Festigung der Demokratie und das Zusammenführen unseres Volkes“ und kündigt zugleich eine aufgabenkritische Diskussion über die Behörde an. Was denn nun, Herr Schily? Wird die Stasi-Überprüfung eingeschränkt, oder wird sie fortgeführt, ja oder nein? ({2}) Da wird die PDS im Verfassungsschutzbericht 1997 im Kapitel „Linksextremistische Bestrebungen“ aufgeführt und beschrieben. Angesichts der Tatsache, daß die SPD in Mecklenburg-Vorpommern mit dieser Partei koaliert, fällt Herrn Schily nur ein, das sei eine etwas vertrackte Situation. Sind Sie nun der Verfassungsminister, Herr Schily, ja oder nein? ({3}) Da hält Herr Schily laut „Spiegel“ die doppelte Staatsangehörigkeit für gerade einmal hinnehmbar. Wenige Sätze weiter preist er das neu konzipierte Staatsangehörigkeitsrecht als „Reformwerk von historischen Dimensionen“. Was denn nun, Herr Schily? Hinnehmbar oder historisch? Ja oder nein? ({4}) So etwas kommt, wenn man sich im Wahlkampf bis an die Grenze der Möglichkeiten verbiegt. So etwas kommt, wenn man in der eigenen Partei keine Mehrheit hat. Herr Schily, Sie haben bei Ihrer Amtseinführung gesagt, niemand müsse sich Sorge machen, daß es erstmals gelungen sei, den scheidenden Innenminister zu klonen. Ich kann Sie da wirklich beruhigen. Diese Angst haben wir nicht. Klonen hat nämlich etwas mit identisch zu tun. War Manfred Kanther klar, so sind Sie unklar. War die Innen- und Rechtspolitik der alten Regierung eindeutig, so ist sie jetzt mehrdeutig. ({5}) Ebenso ist das innenpolitische Rezept der SPD: gleichsam „Schily con carne“, aber ohne Fleisch, ohne Grundsätze und mit jeder Menge roter Soße. ({6}) Meine Damen und Herren, da lese ich in der Koalitionsvereinbarung, Alltagskriminalität solle bürokratiearm bestraft werden. Ist das eigentlich ein neuer Begriff für die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten? Die Herausnahme von Bagatelldelikten aus dem Strafrecht führt nur zu noch mehr Kriminalität. Das Rechtsbewußtsein nimmt erheblichen Schaden, wenn man diese Delikte nur deshalb nicht mehr strafrechtlich verfolgt, weil sie massenhaft begangen werden. Die Konsequenzen wären verheerend: Hemmschwellen werden gesenkt, Rechtsbrecher werden ermutigt, kriminelle Karrieren werden gefördert - ein eindeutig falsches Signal gerade auch angesichts der in den letzten Jahren gestiegenen Jugend- und Kinderkriminalität. ({7}) Da spricht der Bundeskanzler von der Härte gegen das Verbrechen und der Härte gegen seine Ursachen. Dann aber muß er auch sagen: Wehret den Anfängen! Die Anfänge sind die oft geduldeten Verwahrlosungen in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Verwahrlosungen auf den Plätzen und Straßen unserer Städte durch Drogenszene und Alkoholismusmilieus, durch Vandalismus und Schmierereien. Wir wollen keine Gewöhnung an Ordnungswidrigkeiten, an Ladendiebstahl und Drogenkonsum. Am Ende steht nämlich eher mehr Kriminalität und nicht weniger Kriminalität. ({8}) Deshalb ist es auch falsch, die Strafverfolgung auf den kriminellen Drogenhandel zu beschränken. Auch der Besitz von Drogen muß strafbar bleiben. Die Beschaffungskriminalität läßt sich nur dann wirksam bekämpfen, wenn nicht nur gegen Drogenhändler, sondern auch gegen Drogenbesitzer konsequent strafrechtlich vorgegangen wird. ({9}) Meine Damen und Herren, genauso unklar wie bei der inneren Sicherheit bleibt die Koalitionsvereinbarung bei der Ankündigung, für gleichgeschlechtliche Paare ein Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu schaffen. Unklar ist, warum ein solches Rechtsinstitut nur für gleichgeschlechtliche Paare eingerichtet wird. ({10}) Notarielle Verträge kann man schon heute schließen. Warum wird so etwas, wenn man schon so denkt, wie Sie es tun, nicht auch für nichteheliche heterosexuelle Paare eingerichtet? Wie soll dies eigentlich in der Praxis funktionieren? Soll der Standesbeamte neben dem Heiratsbuch auch noch ein Partnerschaftsbuch führen? Wird demnächst auch das Ende solcher Partnerschaften vergleichbar einer Ehescheidung registriert? Gelten die gleichen Folgen wie bei einer Ehescheidung? Wenn nicht: Warum werden Ehepaare, die sich scheiden lassen, anders behandelt? Was bleibt eigentlich noch vom „besonderen Schutz“ von „Ehe und Familie“, den das Grundgesetz garantiert? Das alles ist unklar und unausgegoren. Meine Damen und Herren, nachdem die alte Bundesregierung wichtige Schritte auf dem Weg zu schnelleren Verwaltungs- und Gerichtsverfahren und zu einem schlanken Staat durchgesetzt hat, kündigt nun die neue Bundesregierung eine umfassende Justizreform an. Wir begrüßen dieses Vorhaben. Die Bundesregierung kann dabei auf erfolgreiche Vorarbeiten aus der vergangenen Legislaturperiode zurückgreifen. Verschlankung der Justizorganisation, Verringerung der Zahl der Gerichtszweige sowie Zusammenführung von Verfahrensordnungen, Entlastung der Justiz durch Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung, Reduzierung der Kontrolldichte richterlicher Tätigkeiten durch Abschaffung der zweiten Tatsacheninstanz und Erweiterung des verwaltungsbehördlichen Beurteilungsspielraums - das alles sind Vorschläge der Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ aus der letzten Legislaturperiode. Wir sind bereit, an einer solchen Justizreform mitzuarbeiten. Das gleiche gilt übrigens für die Überprüfung von Verfahrensabläufen und die Verringerung der Regelungsdichte. Für uns bedeutet Staatsmodernisierung im Kern eine kritische Überprüfung und definitive Rücknahme vieler staatlicher Zuständigkeiten, Aufgaben und Verfahren. Es geht um ein neues Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Eigenverantwortung und staatlicher Lenkung. Dabei ist das Zukunftsbild für die CDU/CSUFraktion eine öffentliche Verwaltung, die deutlich weniger Aufgaben wahrnimmt und sich zugunsten privater Initiativen und Eigenverantwortung zurücknimmt. Wir wollen einen modernen öffentlichen Dienst. Das bezieht sich nicht nur auf die Effizienz der Abläufe, sondern auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre berufliche Stellung im öffentlichen Dienst. Sie haben also grundsätzlich unsere Zustimmung zu dem Ziel. Wir haben aber erhebliche Bedenken, ob nicht doch, wie so häufig in der Koalitionsvereinbarung und der Regierungserklärung, nur Überschriften gesetzt werden. Ich sage Ihnen: Mit einer besonderen Stabsstelle beim BMI, beim Bundesminister des Innern, werden Sie sich nicht aus der Affäre ziehen können. Wir erwarten konkrete Schritte - und das schnell. Die Meßlatte liegt hoch. Die alte Bundesregierung hat von den 600 Behörden des Bundes - man höre und staune - bereits ein Viertel abgebaut. Der Bund hat heute weniger Personal als vor der Wiedervereinigung. Die Bundesverwaltung wurde um 70 000 Stellen reduziert, was einem Einsparvolumen von 5,4 Milliarden DM alleine im Jahr 1998 gleichkommt. ({11}) Wenn der ÖTV-Vorsitzende Mai angesichts des Regierungswechsels jetzt davon spricht, das sei das Ende des Konzepts „Schlanker Staat“, dann nährt das unsere Zweifel - ich begrüße den Vorsitzenden des Innenausschusses, Herrn Penner; ich freue mich, daß Sie sich hier vorne so angenehm unterhalten ({12}) - ich muß reden, deshalb finde ich es prima, daß Sie so aufmerksam zuhören -, daß Sie Ihre Überschriften wirklich ernst meinen. Gleiches gilt für die vielen Ankündigungen neuer staatlicher Aktivitäten in der Koalitionsvereinbarung. Im Kern - davon bin ich fest überzeugt - glauben Sie immer noch an den alten Übervater Staat, der lenkt, der regelt und belohnt. Da mag Herr Hombach sich noch so abstrampeln, am Schluß werden doch wieder die alten Etatisten in der SPD gewinnen. Warten Sie ab! Das kommt so. Das sage ich voraus. ({13}) All das sagt etwas über Ihr Staatsverständnis aus. Das gilt auch - und vielleicht sogar besonders - für die angekündigte Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Nun will ich, meine Damen und Herren, zuerst einmal sagen: Die Ausländer- und die Asylpolitik ist ein ganz schwieriges Feld. Ich gebe auch gerne zu, daß die alte Koalition in diesem Bereich unterschiedliche Auffassungen hatte. ({14}) Aber bei allen unterschiedlichen Auffassungen ist eines wichtig: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land, und das soll so bleiben. ({15}) 7,3 Millionen EU-Bürger und Ausländer leben auf Dauer in Deutschland, und sie sind Teil unserer Gesellschaft. Herr Schily, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, wenn Sie sagen, wir brauchen uns nicht ständig selbst anzuklagen, daß hier die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Da haben Sie recht. Aber die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit ist nicht ein Thema wie jedes andere. Anders als im Steuerrecht, anders als im Strafrecht sind die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und ein Automatismus bei der Einbürgerung von in Deutschland geborenen Kindern eben nicht mehr revidierbar. Selbst in problematischen Fällen, wenn ein Bürger ausländischer Herkunft wiederholt straffällig geworden ist, kann die Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht wieder rückgängig gemacht werden. Das verbietet Art. 16 des Grundgesetzes ausdrücklich. Insofern kommt es schon darauf an, genau zu überlegen, was man da macht. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion läßt sich bei ihrer Politik von drei Zielen leiten. Das ist einmal die Identität, zweitens die Toleranz und drittens die Integration. Das heißt konkret: Erstens. Wir wollen, daß die Zugangsbegrenzung für Ausländer, die nach Deutschland kommen wollen, weiter so eng wie möglich gestaltet bleibt. ({16}) Zweitens. Wir wollen das Mögliche tun, um die in Deutschland rechtmäßig lebenden Ausländer in unsere Gesellschaft zu integrieren. Drittens. Wir halten die regelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit für falsch. ({17}) Kurt Biedenkopf, meine Damen und Herren, hat Anfang September in der Debatte hier im Bundestag gesagt, daß eine Politik scheitern muß, die von einer falschen Sicht der Wirklichkeit ausgeht. ({18}) Wie ist denn die Wirklichkeit in diesem Bereich? Da wird zum Beispiel behauptet, die doppelte Staatsangehörigkeit sei international üblich. Wahr aber ist: Mit der Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit geht Deutschland einen Sonderweg. ({19}) Zwei Drittel der europäischen Staaten verlangen als Voraussetzung für die Einbürgerung die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit. ({20}) Die Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist Weltrechtsstandard. Selbst die so integrationsfreudigen skandinavischen Länder lehnen sie für Ausländer auf ihrem Territorium ab. Auch in Deutschland ist sie, anders als das behauptet wird, bisher die Ausnahme. Nur 0,72 Prozent der im Bundesgebiet lebenden Deutschen haben eine weitere Staatsangehörigkeit. Da wird behauptet, das Abstammungsprinzip sei wilhelminisch - so in der Regierungserklärung - und entspreche nicht dem europäischen Standard. Wahr aber ist: Von den 43 europäischen Staaten kennt überhaupt nur ein Land, nämlich Irland, das Territorialprinzip in reiner Form. In abgeschwächter Form findet es sich in weiteren sechs Staaten. Die restlichen 36 Staaten kennen nur das Abstammungsprinzip. Nun mag manchem, meine Damen und Herren, diese Diskussion abstrakt vorkommen, aber sie ist hochsensibel. 1997 wurden bundesweit knapp 83 000 Ausländer eingebürgert; von 1991 bis 1997 insgesamt 412 000. Rund 56 Prozent - das sind rund 4 Millionen Ausländer - erfüllen nach den Zahlen des Ausländerzentralregisters die zeitliche Einbürgerungsvoraussetzung eines mindestens achtjährigen Inlandsaufenthalts. Es wird doch wohl niemand, der die Wirklichkeit kennt, behaupten wollen, sie alle seien in die deutsche Gesellschaft integriert. Damit, meine Damen und Herren, stellt sich für mich die zentrale Frage: Dient die Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsbürgerschaft der Integration der hier lebenden Ausländer? Ich meine, nein. ({21}) Durch die doppelte Staatsangehörigkeit wird die Integration ausländischer Mitbürger nicht gefördert, sondern erschwert. Integration heißt, sich mit diesem Land, mit seiner Geschichte, mit seiner Zukunft zu identifizieren. Integration heißt, Teil der Gesellschaft zu sein. Integration heißt, Rechte und Pflichten anzunehmen. Integration heißt, die deutsche Sprache zu sprechen. - Denn, meine Damen und Herren, Kommunikation ist wichtig, damit unsere Gesellschaft zusammenhält. - Integration heißt, sich mit unserer Gesellschaft und Verfassungsordnung zu identifizieren. Deshalb, meine Damen und Herren, kann Integration nicht alleine durch einen Hoheitsakt, nicht alleine durch die Übergabe des deutschen Passes erreicht werden. Die Staatsbürgerschaft steht am Ende und nicht am Anfang der Integration. ({22}) Die Koalitionsvereinbarung, meine Damen und Herren, verwechselt Ursache und Wirkung, und sie enthält kein Wort darüber, welche Kriterien für den Nachweis der Integration vorliegen müssen. Der Bundeskanzler will anscheinend das volle Bürgerrecht verleihen, selbst wenn keine Integration in unsere Gesellschaft erfolgt ist. Oder wie versteht man den Satz in der Regierungserklärung: „Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür seine ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müssen.“? Muß denn wenigstens ein Deutscher in Deutschland Wurzeln haben, oder reicht die halbe Loyalität? Soll es in Zukunft viele Deutsche geben, die nur die halbe Loyalität schulden? Wer zwei Pässe hat, kann, je nach Bedarf, mal so und mal so optieren. Je nach Gelegenheit kann der deutsche oder der ausländische Paß benutzt werden. In beiden Staaten kann man wählen bzw. gewählt werden. Im Ausland kann der Schutz von zwei Staaten in Anspruch genommen werden. ({23}) Es erhöhen sich visumsfreie Reisemöglichkeiten. Vorteile bestehen im Steuerrecht, im Gewerberecht, im Schulrecht, im Familienrecht, im Niederlassungsrecht. Meine Damen und Herren, eine solche Privilegierung - auch der entsprechende Verdacht dazu reicht - kann nicht zur politisch unverzichtbaren Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Integration der hier lebenden Ausländer beitragen. Sie wird, so fürchte ich, eher für zusätzliche lrritationen und Verwerfungen sorgen. Das Bild einer Zweiklassengesellschaft droht - mit verhängnisvollen Folgen für Toleranz und Integration. Denn das ist offenkundig: Auch nur der Verdacht, daß hier eine bestimmte Bevölkerungsgruppe privilegiert wird, fördert nicht Toleranz und Aufnahmebereitschaft, sondern beschädigt sie. Schon deshalb ist eine doppelte Staatsangehörigkeit der falsche Weg. ({24}) Meine Damen und Herren, wir werden über die weiteren Einzelheiten Ihrer Pläne noch diskutieren. Ich biete Ihnen aber eines an: Lassen Sie uns das Thema Integration nicht auf das Thema Staatsangehörigkeit verengen. Lassen Sie uns eine gemeinsame große Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen unternehmen, um diejenigen zu integrieren, die in Deutschland leben und bleiben wollen und die noch nicht integriert sind. Dann müssen wir aber, meine Damen und Herren, dafür Sorge tragen, daß es in Deutschland keine Schulklassen mehr gibt, in denen mehr als die Hälfte der Kinder ausländischer Herkunft ist. Dann müssen wir dafür sorgen, daß mehr Lehrer für einen besseren Sprachunterricht zur Verfügung stehen, wie das etwa in Bayern bereits durchgesetzt ist. Dann müssen wir dafür sorgen, daß nicht 17,6 Prozent der ausländischen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß bleiben, daß nur 43 Prozent der jungen Ausländer eine Lehre machen - gegenüber zwei Dritteln der deutschen Jugendlichen. Dann müssen wir dafür sorgen, daß es in unseren Städten keine Gettos gibt. Von all dem, meine Damen und Herren, ist in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung nichts zu lesen, kein Wort über das eigentliche Problem der Integration. Aber hier gibt es die Möglichkeit, konkret etwas für die Integration zu tun. ({25}) Lassen Sie mich abschließend noch zu einem weiteren Thema kommen, das weit über den Komplex der Integration hinausgeht. Ich meine die Einführung des kommunalen Wahlrechts für hier lebende Ausländer, unabhängig davon, ob sie aus Ländern der Europäischen Union kommen oder nicht. Eine Grundgesetzänderung in dieser Frage ist mit der CDU/CSU-Fraktion nicht zu machen. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht gehören zusammen, wie es auch das Bundesverfassungsgericht gesagt hat. ({26}) Dieses Thema geht über die reine Frage des Wahlrechts hinaus. Das kommunale Wahlrecht für Angehörige von Staaten außerhalb der Europäischen Union erschwert auch die weitere europäische Einigung. Gleiches, so befürchte ich, gilt auch für die doppelte Staatsbürgerschaft als Regelform. Was werden denn unsere europäischen Partner sagen, wenn die Gewährung der doppelten Staatsangehörigkeit dazu führt, daß mit ihr auch ein Aufenthaltsrecht in ihren Ländern eingeräumt wird? Wie wollen Sie eine gemeinsame europäische Flüchtlingsund Migrationspolitik durchsetzen, wenn Sie vorher nationale Alleingänge veranstalten? Wie wollen Sie von anderen Ländern einen wirksamen Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union vor illegalen Einwanderern und Schleuserbanden verlangen, wenn Sie vorher nicht mit ihnen reden? Was Sie vorhaben, erschwert die europäische Einigung. Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung einen Satz gesagt, der mich - ich sage das ganz offen - hat schaudern lassen. ({27}) Der Satz lautet: Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns . . . um so besser trauen können, je mehr wir Deutschen selbst unserer . . . Kraft vertrauen. Es waren in der Vergangenheit immer die gefährlichen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben. Dieser Satz steht im unmittelbaren Kontext zu den Aussagen über die Ausländerpolitik. Was hier ohne europäische Abstimmung als nationaler Alleingang angekündigt wird, ist ein deutscher Sonderweg und vielleicht - deshalb finde ich den Satz so schlimm - wieder eine Kraftmeierei, die zu einer gefährlichen Schieflage in Europa führt. ({28}) Was Sie hier beginnen, ist ein gefährliches Spiel, das mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zu machen ist. ({29})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Bundesinnenminister Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Zu meiner Amtseinführung hat mir ein guter Freund ein im Jahre 1795 erschienenes Buch geschenkt, das den Titel trägt: ,,Über die politische Staatskunst“. Der Untertitel lautet: ,,Zur Belehrung und Beruhigung für alle die geschrieben, welche bei der jetzigen Kannegießerei über Staatsglückseligkeit, Staatsverfassung, Regierung, Regenten und Untertanen eigentlich nicht wissen, woran sie sind.“ ({0}) Meine heutigen Ausführungen sollen dazu beitragen, daß alle wissen können, woran sie sind, auch Herr Kollege Rüttgers, der offenbar noch nicht den richtigen Durchblick gewonnen hat. ({1}) Der weite Bereich der Innenpolitik - das möchte ich an den Anfang stellen - bedarf in besonderem Maße einer nüchternen, sachlichen Betrachtung und eines behutsamen, jedoch zugleich konsequenten Vorgehens, zumal Themen wie Kriminalität oder der rechtliche Status der in unserem Land lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländischer Herkunft keine abstrakten Fragen darstellen, sondern Probleme, mit denen die Menschen im Alltag unmittelbar konfrontiert sind; es sind Probleme, die auch in die Gefühlswelt der Menschen hineinwirken. Ich hoffe sehr, daß wir uns alle in diesem Hause darauf verständigen können, den in unserer Gesellschaft durchaus vorhandenen Grundkonsens über Fragen der inneren Sicherheit zu bewahren und Vorhaben auf diesem sensiblen Feld in Zukunft möglichst in großer Gemeinsamkeit voranzubringen. ({2}) In der vergangenen Legislaturperiode ist das in großem Umfang gelungen. Die Kolleginnen und Kollegen der Opposition lade ich jedenfalls ausdrücklich ein, sich auch in Fragen der inneren Sicherheit konstruktiv an der Gestaltung einer neuen Politik zu beteiligen. Auch konstruktive Kritik ist selbstverständlich willkommen. An erster Stelle unserer Innenpolitik steht der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt, Kriminalität und Extremismus. Aus den im Grundgesetz verbürgten Grundrechten auf Leben, körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit folgt die damit untrennbar verbundene fundamentale Verpflichtung des Staates, seine Bürgerinnen und Bürger davor zu schützen, Opfer von Gewalt und anderen Kriminalitätsformen zu werden. ({3}) - Das habe ich immer so gesehen, Herr Breuer. Die Menschen haben ein Recht darauf, ihr Leben friedlich und unbehelligt von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht zu führen. Nur ein Staat, der seiner friedenswahrenden und schützenden Aufgabe nachkommt, wird mit der Zustimmung und mit dem aktiven Eintreten seiner Bürgerinnen und Bürger für ihn rechnen können. ({4}) In seiner Vorlesung zur Rechtsphilosophie im Jahre 1824 hat Hegel dazu folgendes gesagt: So ist erreicht, daß das Individuum hier die Beschützung, den Schutz für die Ausübung seiner Rechte findet, es findet diese beachtet von oben, und so knüpft sich sein partikuläres Interesse an die Erhaltung des Ganzen. Die Legitimität eines Staates hängt daher - nach den Worten Hegels - sehr wesentlich davon ab, ob er seiner Schutzfunktion gerecht wird. Ein Staat, der von seinen Bürgerinnen und Bürgern lediglich als überdimensionierte Regulierungsbehörde wahrgenommen wird, die zu überhöhten Preisen schlechte Leistungen bietet, wird weder den Verstand, geschweige denn die Herzen seiner Bürgerinnen und Bürger erreichen können. ({5}) Das Gewaltmonopol des Staates, dessen friedenstiftende Funktion von niemandem in Zweifel gebracht werden darf, erfordert diese Legitimität und hat deshalb nicht nur Eingriffsrechte zum Inhalt, sondern auch Handlungspflichten im Sinne eines wirksamen Schutzes der Allgemeinheit und des einzelnen. Die entschlossene Bekämpfung der Kriminalität auf nationaler, zunehmend aber auch auf internationaler Ebene muß daher eine Schwerpunktaufgabe der Innenpolitik bleiben. ({6}) Dabei bieten im internationalen Bereich die bevorstehende EU-Präsidentschaft und die bereits bestehende Schengen-Präsidentschaft viele Handlungsmöglichkeiten, die genutzt werden müssen. In einem demokratischen Rechtsstaat gilt ebenso selbstverständlich, daß Kriminalitätsbekämpfung nur auf der Grundlage und im Rahmen rechtsstaatlicher Grundsätze stattfindet. Im Gegensatz zu totalitären Staaten setzt der demokratische Rechtsstaat durch Verfassung und Gesetz seinen Befugnissen Grenzen und garantiert die Kontrolle durch unabhängige Gerichte. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Freiheit und Sicherheit sich wechselseitig bedingen. ({7}) Wir sollten uns davor hüten, die Gewährleistung der inneren Sicherheit als Einbuße an Freiheit mißzuverstehen. ({8}) Wer Kriminalität erfolgreich bekämpfen will, muß sich ein möglichst genaues Bild von der Sicherheitslage verschaffen. Dazu reichen nach unserer Überzeugung die bisher verwendeten Datensammlungen, insbesondere die Polizeiliche Kriminalstatistik, nicht aus. ({9}) Wir werden statt dessen einen periodischen Sicherheitsbericht erstellen, der auf wissenschaftlich fundierter Grundlage eine Beurteilung der Kriminalitätsentwicklung in unserem Lande und der entsprechenden Gefahrenpotentiale und damit zugleich eine zielgenauere Bekämpfungsstrategie ermöglicht. ({10}) Wir werden Sicherheitsdefizite, soweit sie vorhanden sind, nicht dadurch zu beseitigen versuchen, daß wir ständig neue Gesetze beschließen. Wir setzen vielmehr darauf, die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten entschlossen und konsequent zu nutzen. ({11}) Jedoch muß auch das materielle Strafrecht im Bereich der Wirtschafts- und der Umweltkriminalität verschärft werden, um besorgniserregenden Entwicklungen auf diesem Gebiet entgegenzuwirken. ({12}) Auch das Waffenrecht werden wir neu regeln. Im internationalen Vergleich kann sich Deutschland rühmen, eines der sichersten Länder der Welt zu sein. ({13}) Das verdanken wir nicht zuletzt der guten Arbeit von Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei. Das ist Grund genug, allen, die in diesen wichtigen Institutionen ihre Pflicht tun, unsere besondere Anerkennung und unseren Dank auszusprechen. ({14}) Der Slogan „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ ist, wie ich finde, zu Unrecht verspottet worden. ({15}) Die Menschen - und es sind viele -, die in einer konkreten Notsituation auf die Unterstützung der Polizei angewiesen waren, wissen den Polizeibeamten als Freund und Helfer durchaus zu schätzen. Der neue Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinnrath, hat in einem Aufsatz für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ mit Recht auf die guten Erfahrungen hingewiesen, die man mit dem partnerschaftlichen Konzept des „neighborhood policing“ oder auch mit dem Konzept des „problem-oriented policing“, also der problemorientierten Polizeiarbeit, in der US-amerikanischen Stadt San Diego gemacht hat. Man sollte sich in den USA die richtigen Vorbilder suchen, meine Damen und Herren. ({16}) Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, daß sich gerade die Polizeigewerkschaften stets uneingeschränkt für die strikte Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze bei der Polizeiarbeit eingesetzt haben. Auch das trägt zur Akzeptanz der schwierigen Tätigkeit der Polizei in der Bevölkerung in erheblichem Maße bei. ({17}) Die Polizei ist auf gute Zusammenarbeit mit dem privaten Sicherheitsgewerbe angewiesen. Das private Sicherheitsgewerbe erfüllt wichtige Aufgaben. Wir halten es aber für geboten, daß die Befugnisse und die notBundesminister Otto Schily wendige Qualifikation im privaten Sicherheitsgewerbe gesetzlich klar geregelt werden, um keine Grauzonen entstehen zu lassen. ({18}) Ebenso wichtig - wenn nicht sogar wichtiger - wie der entschlossene Einsatz repressiver Mittel gegen aktuelle Kriminalität ist die Prävention. Der Grundsatz, daß Vorsorge allemal besser ist als Nachsorge, gilt auch im Bereich der Politik der inneren Sicherheit. ({19}) Prävention - das ist oft gesagt worden - ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das heißt konkret, daß alle gesellschaftlichen Kräfte und jeder einzelne an dieser Aufgabe mitwirken muß: die Länder, der Bund, die Kommune, die Polizei, die gemeinnützige Organisation, die Familie, die Schule. ({20}) Die Sicherheitspartnerschaften verschiedener Aufgabenträger auf allen staatlichen Ebenen, auf seiten des Bundes unter Einbeziehung des Bundesgrenzschutzes, müssen verstärkt werden. Wir werden nach weiteren Möglichkeiten Ausschau halten, um technische und organisatorische Prävention auszubauen und zu verbessern. Ein besonderes Gewicht hat die soziale Prävention. Das Beste, was sich diese Regierung vorgenommen hat, ist in dieser Hinsicht das Programm zur Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Jugendliche. ({21}) Wie sollen Jugendliche die Regeln einer Gesellschaft akzeptieren lernen, wenn die Gesellschaft für sie weder eine verläßliche Perspektive in Form von Ausbildungsund Arbeitsplätzen noch genügend Kultur- und Freizeiteinrichtungen bereithält? Hier für Abhilfe zu sorgen ist jeder Anstrengung wert, wenn wir nicht unsere Zukunft verspielen und die Jugend unserem Staat entfremden wollen. ({22}) Ich unterstreiche an dieser Stelle noch einmal, daß nach meinem Verständnis auch die Kultur eines Landes eine zentrale Bedeutung im Sinne von Prävention zur Verhinderung von Fehlentwicklungen Jugendlicher hat. ({23}) Ich wiederhole bewußt den von mir erwähnten Satz: Wer Musikschulen schließt, schadet der inneren Sicherheit. ({24}) - Ich freue mich, daß dieser Satz auch den Beifall der Opposition findet. Diese Behauptung wird - das ist für einige vielleicht eine Überraschung - auch durch die Erfahrung in einer großen Kommune, nämlich in London, bestätigt, über die Yehudi Menuhin berichtet hat: In einem Distrikt von London, der bisher zu den Problembezirken hinsichtlich der Jugendkriminalität zählte, ist die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen im Vergleich zu anderen Distrikten deutlich zurückgegangen, weil es dort ein breites Angebot zur musischen Betätigung für Jugendliche gibt. Das sollte uns zu denken geben. ({25}) Damit Erfahrungen auf dem Gebiet der Kriminalprävention ausgetauscht und wissenschaftlich aufgearbeitet werden können, um zu einer Gesamtstrategie zu gelangen, werden wir ein „Deutsches Forum für Kriminalprävention“ gründen. Den inneren Frieden wahren und die innere Sicherheit gewährleisten können wir nur, wenn der innere Zusammenhalt der Gesellschaft nicht verlorengeht. Dazu gehört auch, daß wir den Bürgerinnen und Bürgern ausländischer Herkunft, die schon seit langer Zeit bei uns leben und in beträchtlichem Umfang - das sollten wir nie vergessen - zum Wohlstand und Gedeihen unseres Landes beitragen, die volle Integration in unseren Staat ermöglichen. ({26}) Wir werden daher, was längst überfällig ist und was Sie leider über viele Jahre hin nicht geschafft haben, das Staatsangehörigkeitsrecht grundlegend reformieren. ({27}) Wir bringen damit das Staatsangehörigkeitsrecht auf ein modernes europäisches Niveau, das dem aufgeklärten Staats- und Verfassungsverständnis des beginnenden neuen Jahrhunderts entspricht. ({28}) Es ist ein Vorhaben von wahrhaft historischen Dimensionen. Unsere Gesellschaft beweist sich damit als freiheitliche, tolerante und weltoffene Ordnung. ({29}) Sie, Herr Rüttgers, haben insofern eine völlig rückwärtsgewandte Sichtweise. ({30}) Ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht kann sein Integrationsziel nur dann erreichen - das lehrt die Erfahrung -, wenn das Entstehen einer doppelten Staatsbürgerschaft hingenommen wird. Das Entstehen einer doppelten Staatsbürgerschaft ist gewiß kein eigenständiges Ziel in dem Sinne, daß wir möglichst viele doppelte Staatsbürgerschaften herbeiführen wollen. Jedoch darf das Entstehen einer doppelten Staatsbürgerschaft nicht länger ein Integrationshindernis sein. ({31}) Ich weiß, daß es gegen doppelte Staatsbürgerschaften durchaus ernstzunehmende Einwände gibt. Wir werden uns mit diesen Einwänden in den Ausschußberatungen gründlich auseinanderzusetzen haben. Die Kritiker sollten jedoch nicht übersehen, daß bereits durch eine große Anzahl von binationalen Ehen doppelte Staatsbürgerschaften entstehen, ohne daß das zu irgendwelchen Schwierigkeiten geführt hätte. ({32}) Die CSU muß daran erinnert werden, daß sie in einem Nachbarstaat, in Polen, durchaus für doppelte Staatsbürgerschaften eintritt. Ihre Haltung ist daher mit der Logik nicht in Einklang zu bringen. ({33}) Integration kann allerdings nur gelingen, wenn auch die Zuwanderer zu Integrationsleistungen bereit sind. Dazu gehört die Respektierung unserer Verfassungsund Rechtsordnung ebenso wie - das halte ich für völlig selbstverständlich; ich weiß gar nicht, warum man darüber noch ins Grübeln kommt - das Erlernen der deutschen Sprache. ({34}) Wer sich in einem Land länger aufhalten will, muß sich auch der Kommunikationsmöglichkeiten versichern. ({35}) - Es ist eine ganz andere Frage, ob man das ins Gesetz schreiben muß. Das halte ich allerdings nicht für notwendig. ({36}) Vielmehr müssen wir die notwendigen Angebote machen. Das ist Integration. ({37}) Herr Rüttgers, Integration ist übrigens ein Prozeß. Auch ein deutsches Kind kommt nicht integriert auf die Welt. ({38}) Vielmehr wird es dadurch, daß es in Deutschland aufwächst, in die Gesellschaft integriert. ({39}) Allgemein werden die Probleme im Zusammenhang mit Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen und Migration an Bedeutung zunehmen. Die Zuwanderung nach Westeuropa erreichte durch den Zusammenbruch der osteuropäischen Staatensysteme und den Krieg auf dem Balkan quantitative Dimensionen, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr dagewesen sind. Insgesamt verließen nahezu 10 Millionen Menschen in einem Zeitraum von fünf Jahren ihre Heimat, von denen etwa 4 Millionen nach Westeuropa kamen. Die neue Bundesregierung steht zu ihrer Verpflichtung, politisch Verfolgten Zuflucht zu gewähren und Bürgerkriegsflüchtlingen vorübergehend Schutz zu bieten. Wir orientieren unsere Politik auch an den Fakten. Zu diesen gehört die Tatsache, die leicht einzusehen ist, daß Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten Ziel von Zuwanderern geworden ist. Daß Sie davor immer Ihre Augen verschlossen haben, zeigt Ihre Realitätsfremdheit. ({40}) Sicherlich kann Zuwanderung zu nicht unerheblichen Belastungen und Konflikten führen. Wir sollten dabei aber nicht den Blick dafür einbüßen, daß Zuwanderung auch erhebliche positive Auswirkungen hat, in demographischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht. ({41}) Ich empfehle Ihnen, einmal die Aufsätze von Professor Werner Weidenfeld nachzulesen, damit auch Sie diese Erkenntnis gewinnen können. ({42}) - Ja, Sie wissen das am allerbesten, Herr Marschewski, schon aus Ihrer Familiengeschichte. Das stimmt. ({43}) In Europa, insbesondere in Mitteleuropa, haben stets Migrationsbewegungen stattgefunden, die in aller Regel zur Belebung und Auffrischung von Kultur und Gesellschaft beigetragen haben. Wenn wir über Fragen der Migration und der Aufnahme von Flüchtlingen sprechen, sollten wir aber bei nüchterner und realitätsbezogener Betrachtungsweise auch anerkennen, daß Belastungsgrenzen nicht überschritten werden dürfen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Bundesminister Schily, darf ich Sie auf folgendes hinweisen: Sie dürfen zwar als Mitglied der Bundesregierung so lange sprechen, wie Sie mögen, gleichwohl war vereinbart, daß die Zeit auf die Redezeit der Fraktion angerechnet wird. Ich möchte Sie nur darauf hinweisen.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Ich bitte um Nachsicht. Ich werde versuchen, meine Ausführungen zu kürzen, aber sie enthalten einige Aspekte, die ich auch im Interesse der Klarheit, die Herr Rüttgers von mir eingefordert hat, vortragen muß. Ich bitte um Verständnis. Ich mache jetzt von der Möglichkeit eines Regierungsmitglieds, länger zu sprechen, ausnahmsweise Gebrauch. Ich bitte wirklich um Verständnis, wenn das den Ablauf ein wenig belastet. Ich halte es aber für notwendig, daß diese Dinge angesprochen werden. ({0}) Wer die Zuwanderung grundsätzlich bejaht, muß auch die Zuwanderungssteuerung bejahen. Wir werden die Ausländer- und Flüchtlingspolitik in manchen Einzelfragen überprüfen, neu justieren und flexibler gestalten. Ich warne aber vor illusionären Erwartungen, die wir nicht erfüllen können, wenn wir nicht die gesetzlichen Steuerungsmöglichkeiten für den Zuzug völlig außer Kraft setzen wollen. Deutschland hat im europäischen Vergleich eine überproportional große Anzahl von Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylsuchenden aufgenommen. Wir müssen darauf bestehen, daß es in Europa zu einer gerechteren Lastenverteilung kommt. Die Flüchtlings- und Migrationspolitik muß ohnehin im europäischen Rahmen harmonisiert werden. Wir werden die österreichischen Bemühungen im Rahmen der österreichischen Präsidentschaft unterstützen und ihnen jede Hilfe angedeihen lassen. Ich werde jetzt nur noch einige Stichworte nennen, damit ich die Redezeit nicht zu sehr überziehe. Ich bin auf die Modernisierung der Bundesverwaltung angesprochen worden. Ich muß mich auf den Hinweis beschränken, daß das für uns eine vorrangige Aufgabe ist. Herr Kollege Rüttgers, Sie haben dazu einige Fragen gestellt. Wir werden bei anderer Gelegenheit die Möglichkeit haben, diese zu vertiefen. Ich werde darauf zurückkommen. Ich halte es für notwendig, daß ich wegen der Aktualität noch kurz auf folgende Frage eingehe. ({1}) - Richtig. - Der Innenminister ist bekanntermaßen Verfassungsminister - Herr Rüttgers hat mit Recht darauf hingewiesen - und hat deshalb dafür zu sorgen, daß die Verfassung und die Verfassungsordnung vor verfassungsfeindlichen extremistischen Bestrebungen geschützt wird. Dieser Verantwortung wird auch die neue Bundesregierung, der neue Bundesinnenminister gerecht werden. Bestrebungen der genannten Art zu beobachten ist Aufgabe des Verfassungsschutzes in Bund und Ländern. Zu den Beobachtungsobjekten gehört unter anderem die PDS. Für einige Aufregung, auch bei Herrn Rüttgers, hat meine Ankündigung gesorgt, die Fortsetzung der Beobachtung der PDS zu überprüfen. Ich verstehe Ihre Aufgeregtheit nicht. Es gehört zu meinen selbstverständlichen Pflichten, auf Grund der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes ständig zu überprüfen, ob und in welchem Ausmaß die Beobachtung einer Organisation zulässig und notwendig ist. ({2}) In der Tat besteht bei der PDS auf Grund aktueller Äußerungen aus deren Leitungsbereich ebenso wie auf Grund ihrer veränderten Rolle als Fraktion im Bundestag sowie als Mitträger einer Landesregierung Überprüfungsbedarf. Ich gehe selbstverständlich davon aus, daß in die mecklenburg-vorpommersche Landesregierung nur Mitglieder aufgenommen werden, die unsere verfassungsmäßige Ordnung achten und nicht in Frage stellen. Leider sind Äußerungen aus der Führungsebene der PDS zwiespältig. Der Parteivorsitzende Bisky fordert im „Neuen Deutschland“ vom 9. November 1998 ein neues Parteiprogramm und bekräftigt laut „Neues Deutschland“, alles in der Partei gehöre auf den Prüfstand, von der Programmatik bis zur Parteistruktur. Andererseits erklärt Frau Pau, so schreibt es die „Junge Welt“ vom 9. November 1998, die Partei stehe auf dem Boden des Grundgesetzes. Die Systemfrage wolle die PDS aber nicht fallenlassen. Dazu paßt dann der im Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums für 1997 wiedergegebene Ratschlag von Herrn Brie als Leiter der Grundsatzkommission, die PDS müsse endlich erkennen, welche Chancen für sie im Grundgesetz lägen. Sie müsse sich dessen Instrumentarium aneignen und lernen, darauf zu spielen. Das sind mindestens mißverständliche Bekundungen. Es ist Sache der PDS, ihre veränderte Rolle im politischen Gefüge Deutschlands zu definieren sowie Klarheit und Eindeutigkeit zu schaffen. ({3}) Ich fordere die PDS ausdrücklich dazu auf, uns unmißverständlich zu erklären, ob sie als eine neue demokratische Kraft mit all ihren Organisationen und Gremien auf dem Boden des Grundgesetzes steht und die freiheitlich-demokratische Grundordnung ohne Wenn und Aber achten und verteidigen will oder ob sie zumindest in Teilen weiterhin kommunistische Bestrebungen duldet und auf lange Sicht danach trachtet, das System und das Wesen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verändern. Deshalb haben Sie, meine Damen und Herren von der PDS, es selber in der Hand, ob die Weichen für oder gegen eine Fortsetzung der Beobachtung gestellt werden. Meine Entscheidung auf Bundesebene werde ich auf Grund des Berichts treffen, den ich vom Bundesamt für Verfassungsschutz angefordert habe, und natürlich im Einvernehmen mit meinen Kollegen in den Bundesländern. Der Zeitrahmen läßt es, wie gesagt, nicht zu, auf alle innenpolitische Projekte und Vorhaben im Detail einzugehen. Ich möchte aber zum Schluß betonen, daß uns die Förderung des Breitensports und des Spitzensports das bin ich schon meinem Kollegen Beucher schuldig ein besonderes Anliegen sein wird. ({4}) Für uns hat der Sport einen besonderen Stellenwert; denn er leistet nicht nur einen grundlegenden Beitrag für eine aktive, sinnvolle Freizeitgestaltung; vielmehr ist er zugleich ein unverzichtbares Element aktiver Gesundheitsvorsorge. ({5}) Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich den Titel eines im Jahre 1795 erschienenen Buches zitiert. Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen einen Satz aus Friedrich Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ zitieren, die ebenfalls im Jahr 1795 veröffentlicht wurden. Es heißt dort: Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der Menschheit verhandelt wird. Ja, auch unsere Politik ist - wenn auch nur ein kleiner - Teil des Schicksals der Menschheit. Viele Erwartungen sind an uns gerichtet. Wir versprechen Ihnen, diese Erwartungen nach Kräften zu erfüllen. Ich danke Ihnen. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich darf nun wieder die Einhaltung der Redezeit anmahnen und erteile Herrn Dr. Westerwelle das Wort. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns heute morgen mit Fragen der Wirtschaftspolitik auseinandergesetzt. Sie haben zur Kenntnis genommen, daß die Fraktion der Freien Demokraten mit dieser Politik nicht einverstanden ist. Aber wir verstehen unsere Rolle in diesem Hause als die einer konstruktiven Opposition. Das heißt, wir werden als Opposition nicht eine fundamentale Blockade veranstalten, wir werden nicht ablehnen um der Ablehnung willen. Wir werden mit Sicherheit das unterstützen, was auch aus unserer Sicht unterstützenswert ist. ({0}) Was die Vereinbarungen zur Innen- und Rechtspolitik angeht, so erlauben wir Liberale uns eine differenzierte Bewertung. Wir finden, daß das, was in der Koalitionsvereinbarung festgelegt und in der Regierungserklärung vom Bundeskanzler vorgetragen wurde, sehr wohl Licht und Schatten hat. Ich will mit dem Bereich anfangen, von dem wir hoffen, daß wir dort gemeinsam zu Mehrheiten hier im Hause gelangen können: Das ist die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. ({1}) Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß in der letzten Legislaturperiode zwischen den Koalitionsparteien CDU/CSU und F.D.P. keine Einigung über eine Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts zustande gekommen ist. ({2}) Wir haben jetzt in der Opposition nicht nur die Freiheit, sondern auch eine Verpflichtung. Wir haben den Auftrag unserer Wählerinnen und Wähler, das, was wir versprochen haben, auch durchzusetzen. Wir wollen, daß das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert wird und daß es auf die Höhe unserer Zeit kommt. Deswegen bieten wir Ihnen gemeinsame Gespräche an. Ich appelliere auch an die Kolleginnen und Kollegen aus der Union, mit denen wir in der letzten Legislaturperiode in weiten Bereichen einig waren, mitzuwirken. Die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts ist eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Sie darf unsere Gesellschaft nicht spalten; sie muß sie einen, meine Damen und Herren. ({3}) Eines macht aus der Sicht der Freien Demokraten Herr Kollege Rüttgers, in diesem Punkt haben wir einen ganz klaren Dissens - keinen Sinn. Sie sagen, Sie wollen keine Gettos. Wenn man keine Gettoisierung in den Städten will, dann sagt man das zu Recht. Aber dann man muß vorher die Gettoisierung in den Köpfen der Kinder verhindern! Deswegen sollten diese integriert groß werden. ({4}) Die Staatsbürgerschaft ist eines der wesentlichsten Fundamente. Die Staatsbürgerschaft beschreibt Rechte und Pflichten. Eine Änderung dieses Fundaments muß losgelöst von parteipolitischen Denkbarrieren möglich sein. Das sage ich in beide Richtungen. Meine Damen und Herren, wir als F.D.P. rufen dazu auf, in diesem Hause über die Parteigrenzen hinweg eine Initiative für eine verbesserte Integration der in Deutschland geborenen Kinder zu schaffen. Denn es geht um diese Kinder - nicht darum, daß mehr Ausländer nach Deutschland kommen sollen. Es geht darum, daß die Kinder, die in Deutschland geboren werden und von denen wir wissen, daß sie immer in Deutschland leben werden, integriert und nicht mit einer ausländischen, mit einer ausgegrenzten Identität groß werden. ({5}) Der Paß ist natürlich nur die eine Seite der Medaille. Das weiß doch jeder, der sich mit der Materie beschäftigt. Die Sprache, die Bereitschaft, sich auf die kulturellen Eigenheiten einzulassen, und das Bekenntnis zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie sie im Grundgesetz steht - das alles gehört selbstverständlich dazu. Aber der Paß ist sehr wohl auch eine Antwort auf die gesellschaftliche Realität. Heute haben wir eine gesellschaftliche Realität, die das Ergebnis der Entwicklungen in den 50er und 60er Jahren ist. Sie können den Kindern, die heute in Deutschland geboren werden, die deutsch als Muttersprache sprechen und die Sprache ihrer Eltern allenfalls mit einem deutschen Akzent beherrschen, den deutschen Paß nicht verwehren. ({6}) Wir brauchen jede Möglichkeit, um die Integration voranzubringen, denn sonst schaffen wir den sozialpolitischen Sprengstoff in unserer Gesellschaft, der sich schon in wenigen Jahren bitterbös rächen wird. ({7}) Allerdings möchte ich Ihnen folgendes sagen, was Ihre Vereinbarung angeht. In unserer Fraktion haben wir uns sehr genau mit dem, was Sie - was die doppelte Staatsangehörigkeit angeht - in der Koalitionsvereinbarung stehen haben, und dem, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gesagt - oder besser: nicht gesagt - hat, auseinandergesetzt. Das ist ein spannender Unterschied. Wenn man das, was Herr Kollege Rüttgers gesagt hat, wörtlich nimmt - auch er hat von der doppelten Staatsangehörigkeit als Regelfall gesprochen -, dann sehe ich Möglichkeiten der Einigung und Möglichkeiten zur Brückenbildung. Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall - für alle und auf Dauer - ist eben nicht eine Maßnahme der Integration. Deswegen schlagen wir Ihnen vor: Lassen Sie uns in Deutschland nicht eine doppelte Staatsangehörigkeit für alle auf Dauer einführen; lassen Sie vielmehr die Kinder, die hier geboren werden, mit einem deutschen Paß groß werden. Wenn sie volljährig sind, dann müssen sie sich zwischen der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern und der Staatsangehörigkeit der Deutschen entscheiden. Das ist ein fairer Interessensausgleich, der auf Dauer allen Seiten mehr hilft als die doppelte Staatsangehörigkeit. ({8}) Wer andererseits schon jetzt ankündigt, eine Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts notfalls per Verfassungsklage zu bekämpfen, wird dieser Integrationsaufgabe nicht gerecht. Wir werden Änderungsanträge einbringen; wir werden in den Ausschüssen Gelegenheit haben, über diese Fragen zu reden. Das herrschende Recht würde das Optionsmodell, das wir vorschlagen, in keiner Weise verhindern. Natürlich ist es möglich, einer volljährigen Person die Entscheidung über ihre Staatsangehörigkeit abzuverlangen. ({9}) Ich will einen zweiten Bereich herausgreifen, der vom Kollegen Rüttgers - nicht von Herrn Schily - erwähnt wurde und der ganz zweifelsohne von der Bundesjustizministerin noch angesprochen werden wird, nämlich die Aufwertung der nichtehelichen, der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften hat sich im früheren Bundesgebiet zwischen 1972 und 1995 verzehnfacht. Es gibt längst viele große Städte, in denen die Mehrheit der Menschen nicht mehr in der klassischen Familie, in der klassischen Ehe zusammenlebt, in denen es neue Verantwortungsgemeinschaften gibt. Politik beginnt mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit. ({10}) Es geht nicht darum, ob wir das gut oder schlecht finden. In dieser Frage wird jeder Abgeordnete möglicherweise eine eigene Meinung haben. Aber die Realität muß zur Kenntnis genommen werden. Wir sollten diese neuen Verantwortungsgemeinschaften nicht gegen Ehe und Familie ausspielen. Wir sollten begreifen: Wenn Menschen in jeder denkbaren Form von Lebensgemeinschaft Verantwortung füreinander übernehmen, dann verdient das die Anerkennung des Staates und rechtfertigt, daß Diskriminierung aufgehoben wird. ({11}) Das gesellschaftliche Bewußtsein hat sich doch verändert. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften galten zu meiner Schulzeit noch als studentisches Konkubinat. Heute finden Sie nichteheliche Lebensgemeinschaften - ({12}) - Frau Kollegin Beck, ich habe von meiner Schulzeit gesprochen. Ich möchte Sie um eines bitten: Machen Sie keinen weiteren Zwischenruf, sonst könnte ich an der Stelle eine ungalante Antwort geben. ({13}) - Ihr habt gar nicht gehört, was gesagt wurde. Entscheidend ist - mit allem Ernst und ohne Frotzelei -, daß wir feststellen, wie sich heute die gesellschaftliche Realität und auch die Wert- und Moralvorstellungen verändert haben und verändern müssen. Das Prinzip der Subsidiarität in der katholischen Soziallehre bedeutet, daß man zunächst einmal die Verantwortung bei der Bürgergesellschaft sucht und sich erst anschließend an den Staat wendet. Es ist keine Abwertung von Ehe und Familie, wenn künftig neue Verantwortungsgemeinschaften in Deutschland nicht mehr diskriminiert werden. ({14}) Im übrigen möchte ich auch darauf aufmerksam machen: Es ist nicht in Ordnung, wenn wir an dieser Stelle - das halte ich für wichtig - den Eindruck erwecken, daß man das an anderer Stelle vertraglich regeln könnte. Das ist eben nicht möglich. Der Unterschied zwischen den nichtehelichen und den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften liegt nämlich auf der Hand. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften haben die Möglichkeit des Ehevertrages. Für die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften sollte die Möglichkeit des Instituts einer eingetragenen Partnerschaft geschaffen werden. ({15}) Das ist kein Werteverfall. Wenn in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft ein Partner für seinen tödlich erkrankten Partner Verantwortung übernimmt und ihn bis zum Schluß pflegt, dann ist das kein Werteverlust, sondern eine Wertegewinn in unserer Gesellschaft. ({16}) Herr Minister Schily, ich will aber auch noch auf eine Sache zu sprechen kommen, mit der ich mich nicht einverstanden erklären kann. Sie haben das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit mit Worten von Hegel beschrieben. Wer wollte dem nicht zustimmen? Aber ich glaube, daß Sie sich hier doch einen sehr schlanken Fuß gemacht haben, was die Frage der PDS angeht. Es ist schon bemerkenswert - dahinter stecken System und Methode -, daß Sie in der Koalitionsvereinbarung nur noch davon sprechen, den Rechtsextremismus zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit zu machen. Da heißt es: Die neue Bundesregierung wird die politische Auseinandersetzung mit und die Bekämpfung von Rechtsextremismus zu einem Schwerpunkt machen. Das ist sehr wohl ein Unterschied zur früheren Politik der Bundesregierung. Wir haben uns immer als wehrhafte Demokratie verstanden. Extremismus von rechts und von links, meine Damen und Herren, muß in diesem Lande politisch bekämpft werden; beides bedroht Freiheit. ({17}) Deswegen ist es kein Zufall, was Sie gesagt haben, auch wenn Sie heute hier die erste Absetzbewegung gemacht haben. Sie haben am Montag in Berlin gesagt, es sei eine „vertrackte Situation“, wenn die PDS wie in Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligt sei und andererseits vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Aber die Antwort auf dieses Problem, auf diese „vertrackte Situation“, kann nicht sein, jetzt die PDS aus Gründen politischer Opportunität aus der Beobachtung herauszunehmen. ({18}) Sie dürften dann nicht mit dieser Partei in MecklenburgVorpommern koalieren. Das muß die Antwort eines wirklich freiheitlich denkenden Menschen sein. ({19}) Aber in Wahrheit stecken dahinter System und Methode. Da wird etwas vorbereitet, übrigens ganz ähnlich wie bei der Diskussion um die Bundesbank. Da wird ein Stein ins Wasser geworfen, und die Wellen sind wohlkalkuliert. Deswegen möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, was die Vorstandssprecherin der Grünen heute um 12 Uhr über die Agenturen hat laufen lassen. Frau Röstel springt Herrn Kollegen Schily bei; in dieser Agenturmeldung heißt es, die Grünen-Sprecherin Gunda Röstel habe sich gegen die weitere Beobachtung der PDS durch den Verfassungsschutz ausgesprochen. ({20}) - Sie mögen dabei klatschen, und ich kann verstehen, warum Sie klatschen: weil Sie die PDS längst auch in diesem Hause als Ihre stille Machtreserve einkalkuliert haben. ({21}) Das ist der Grund für die Entwicklung, die Sie mit Herrn Schily begonnen haben. ({22}) Das ist doch auch der Grund, meine Damen und Herren, warum wir hier immer wieder erleben, wie dann auch tatsächlich eine Erosion des Rechtsstaates stattfindet. Übrigens ist sehr bemerkenswert, daß bei der Frage der Rechtspolitik ausgerechnet von Ihnen angemahnt wird, daß das Bürgerrechtsprofil hochgehalten wird. Das ist schon arg drollig. Sie sitzen in Nordrhein-Westfalen in einer Landesregierung, die de facto das Justizministerium abschaffen will. Sie sitzen in MecklenburgVorpommern in einer Landesregierung, die das Justizministerium abschaffen will. Wir als Liberale sagen: Wir brauchen die Unabhängigkeit der Justiz. Justizministerien sind nicht irgendwelche Anhängsel der Landesverwaltungen. Wenn Sie eine echte Bürgerrechtsund Rechtsstaatspartei wären, dann würden Sie dafür sorgen, daß das Gewaltenteilungsprinzip an dieser Stelle nicht durch die Zusammenlegung des Innen- und des Justizressorts kaputtgemacht wird. ({23})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, klar.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte schön.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gehen Sie mit mir in der Auffassung einig, daß ein Justizministerium Teil der Exekutive ist und daß das mit Gewaltenteilung überhaupt nichts zu tun hat? ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, damit bin ich nicht einverstanden, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die Aufgabe des Justizministeriums ist auch eine Aufsicht, mindestens eine Dienstaufsicht, über die Justiz und die entsprechenden weiteren Behörden. Wohin die andere Entwicklung führt, können Sie an dem erkennen, was ich als Bonner Abgeordneter anläßlich der Kundgebungen und Demonstrationen an einem Samstag erlebt habe. ({0}) - Entschuldigen Sie, wenn Sie mir eine Zwischenfrage stellen, dann sind Sie doch zweifelsohne auch an der Antwort interessiert. Oder haben Sie sie nur rhetorisch gestellt? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Der Punkt, über den wir hier reden, ist doch, daß es dort Probleme gegeben hat, weil Kompetenzen miteinander in Schwierigkeiten geraten sind. Daraus kann man entnehmen, daß sich so etwas, wenn es realisiert würde, nicht bewähren kann. Wir erleben nämlich, daß auf der einen Seite die Strafverfolgungsbehörden und auf der anderen Seite Polizeibeamte stehen. Gleichzeitig erleben wir, wie eine Vermischung der politischen Aufgaben erfolgt. Ich will es ganz klar sagen: Ich habe geradezu mit Erschrecken zur Kenntnis genommen, was grüne Politiker bei dieser Demonstration wörtlich - gemäß den Aussagen von Journalisten in Zeitungsberichten - gesagt haben. ({1}) - Entschuldigen Sie bitte, ich antworte Ihnen noch. ({2}) - Wer sich in die Gefahr einer Zwischenfrage begibt, der kann darin auch umkommen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Gleichwohl sind dabei auch die Zeiten ein wenig zu beachten, Herr Kollege.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin sofort fertig. Ich mache nur noch zwei Anmerkungen hierzu. Es kann doch nicht akzeptiert werden, was zwei Journalisten dort gehört haben. Sie berichten, daß Polizeibeamte von Politikern Ihrer Partei, den Grünen, mit den Worten eingeschüchtert worden sind: Wenn hier nicht gleich etwas passiert, dann haben Sie 1 000 Leute aus der Bonner Beethovenhalle hier. - Dort fand ja bekanntlich der Parteitag der Grünen statt. Herr Appel wird mit der Äußerung zitiert: Wenn ihr das nicht laßt, kündigen wir die Koalition in Düsseldorf. - Wer auf diese Art und Weise Strafverfolgung behindert und daran mitwirkt, daß gewaltbereite Autonome nicht festgenommen werden können, der hat nun wirklich jeden Anspruch verloren, in diesem Hohen Hause als Rechtsstaatspartei aufzutreten oder sich so darzustellen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun ist Ihre Redezeit aber abgelaufen.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Integration ist ein Anspruch und eine Anstrengung, zu der es keine Alternative gibt. Dies ist die Quintessenz des Memorandums meiner Vorgängerin im Amt der Ausländerbeauftragten, Frau SchmalzJacobsen. Ich möchte an das politische Vermächtnis, in dem sich übrigens alle meine Amtsvorgängerinnen und -vorgänger einig waren, anschließen: erleichterte Einbürgerung, rechtliche Gleichstellung und soziale Integration. Diese neue Bundesregierung wird den Reformstau der Ära Kohl in der Integrationspolitik endlich auflösen. Diese neue Bundesregierung hat sich nämlich entschieden, mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht endlich den Anschluß an die modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zu suchen und auch den Menschen die vollen Bürgerrechte anzubieten, denen sie in den letzten 20 Jahren gezielt vorenthalten wurden. ({0}) „No taxation without representation“ - wir alle kennen diesen Kernsatz der amerikanischen Revolution. Dieses Demokratiegebot muß endlich auch in Deutschland beim Übergang ins nächste Jahrtausend gelten. ({1}) Diese Bundesregierung wird endlich das anerkennen, was die alte Bundesregierung zum Tabu machen wollte: die Unumkehrbarkeit des Zuwanderungsprozesses der letzten Jahrzehnte. ({2}) Auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, es nicht hören wollen: Deutschland ist während der Zeit, in der Sie Regierungsverantwortung trugen, ein Zuwanderungsland geworden. Die Entscheidungen in den 50er und 60er Jahren, Menschen hierherzubitten, um bei uns, aber vor allem auch für uns zu arbeiten, waren eben keine Entscheidungen auf Zeit. Wir haben nicht Gäste, sondern neue Bürgerinnen und Bürger angeworben. Es handelt sich jetzt um Menschen, die hier schon seit Jahrzehnten leben und hier ihren Lebensmittelpunkt haben, deren Kinder hier geboren sind, die Deutsch sprechen und deren Heimat Deutschland ist. Wer hier auf Dauer lebt, der muß auch dazugehören können. Er braucht alle Rechte, um dieses Land mitgestalten zu können. ({3}) Nichts ist verheerender, als die bestehende Realität nicht zur Kenntnis zu nehmen. Genau das hat die alte Bundesregierung getan, indem sie die neuen Bürgerinnen und Bürger als Inländer ohne Paß im Gästestatus zu halten versucht hat. Die Botschaft, die dabei herauskam, war: Wir wollen euch nicht; wir wollen euch bestenfalls nur halb. Das ist eine Zurückweisung. Zurückweisung ruft zwangsläufig Abschottung hervor. Wir wollen aber Abschottung weder von der Seite der Mehrheitsbevölkerung noch von der Seite der zugewanderten Menschen. Wir wollen Integration. ({4}) Die erleichterte Einbürgerung bedeutet in der Tat auch die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit. Wir alle wissen, wie schwer es ist, den Paß zurückzugeben, nicht nur weil dieser Vorgang den emotionalen Abschied von der Heimat bedeutet, sondern weil er auch bedeutet, daß die Rückkehrmöglichkeit verschlossen ist. Es gibt keinen rationalen Grund, diese Hürde aufzubauen. Es ist infam - Herr Schäuble hat dies leider vor zwei Tagen in diesem Hause noch einmal getan -, im Zusammenhang mit der doppelten Staatsbürgerschaft von „Rosinenpickerei“ zu sprechen. Damit, Herr Schäuble - ich sage das auch an die Adresse der CDU/CSU-Fraktion -, wird ein sehr gefährlicher Weg der Diffamierung beschritten. Die CDU kann nicht das Wort von der Globalisierung immer im Munde führen, wenn sie sich auf der anderen Seite den Realitäten eines modernen Staatsbürgerschaftsrechts verschließt. Sie fordern einerseits flexiblere Arbeitsmärkte und auch eine größere grenzüberschreitende Mobilität, andererseits beharren Sie aber auf dem Blutrecht als Grundlage für die Staatsangehörigkeit. Globalisierung relativiert die Nationalstaatlichkeit, was allerdings neues Denken im Staatsbürgerschaftsrecht erfordert. Ich empfehle den Blick über die Grenzen. England und Frankreich haben das moderne Staatsbürgerschaftsrecht. Als Grundlage dient die Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft. Schauen Sie bitte in diesem Zusammenhang auch nach Holland. Holland hat im Jahre 1996 18 Prozent der türkischen Bevölkerung eingebürgert, während wir in diesem Zeitraum nur 1,6 Prozent einbürgern konnten. Einwanderer sind zugleich Auswanderer. Auch dieser Satz meiner Vorgängerin ist richtig, denn Zuwanderung bedeutet auch, Altes loszulassen und aufzugeben und die Verfassungsgrundsätze dieses Staates zu akzeptieren. Dieser Satz bedeutet auf der Seite der Mehrheitsbevölkerung, das andere, das Ungewohnte zu akzeptieren und als Bereicherung anzuerkennen, auch wenn es Konflikte gibt. ({5}) Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Herausforderung. Sie ist nicht konfliktfrei, aber sie ist eben auch eine Bereicherung und ein Schritt in eine offene und zivile Gesellschaft. Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine kurze Bemerkung. Eine offene Gesellschaft muß auch den Schutzsuchenden ihre Türe öffnen. Die neue Bundesregierung wird sich mit Nachdruck - der Innenminister hat diesen Punkt schon erklärt - für eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik einsetzen. Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention müssen dabei unser Maßstab sein. ({6}) Ziel dieser Regierung ist es, die internationalen Standards für Flucht und Asyl zur Meßlatte zu machen. Es wird sehr bald über eine Altfallregelung zu reden sein, die das bedrohliche Hin und Her, die Angst vor Abschiebung, das tägliche Gefühl der Unsicherheit für diejenigen Menschen beendet, denen der Weg in die Heimat versperrt ist. ({7}) Eine den Bedürfnissen der Menschen entsprechende Härtefallregelung muß endlich Perspektiven für die eröffnen, die durch die Maschen einer in der Konsequenz manchmal unbarmherzigen Bürokratie gefallen sind, ({8}) denen aber aus humanitären Gründen das Bleiben hier ermöglicht werden muß. Dazu gehören auch die vielen Fälle von Kirchenasyl, hinter denen Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern stehen, die sich humanitären Grundsätzen verpflichtet fühlen. Dazu gehört auch die Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund. ({9}) Marieluise Beck ({10}) Dazu gehört übrigens auch die Überprüfung des Flughafenverfahrens, dieses unwürdigen Procedere, das Schutzsuchende oft in die Verzweiflung treibt. ({11}) Der Krieg in Bosnien hat über 300 000 Menschen zu uns getrieben. Viele Deutsche waren bereit, diese Menschen aufzunehmen. An dieser Bereitschaft wird die neue Bundesregierung mit ihrer Flüchtlings- und Asylpolitik anknüpfen. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in Anlehnung an Willy Brandt mehr Demokratie angemahnt. Es wurde mit Blick auf die bisherigen Vorgänge von einem schlechtbestellten Haus gesprochen, das Ihnen hinterlassen wurde. Bei Letzterem wurde in den Debatten der vergangenen zwei Tage vor allen Dingen immer das Finanzierungsproblem angesprochen. Aber auch in Ihrem Ressort, Herr Innenminister, bleibt sehr viel zu bestellen, um das Haus Bundesrepublik noch bewohnbarer zu machen. ({0}) Gerade auch im Bereich des Inneren brauchen wir einen deutlichen Politikwechsel weg von der staatsfixierten Law-and-order-Politik Ihres Vorgängers ({1}) hin zu einer bürgerrechtlich orientierten Politik. ({2}) So richtig es ist, den Umweltverbänden Klagemöglichkeiten einzuräumen, so richtig es ist, eine Verknüpfung von Sozial- und Innenpolitik zu fordern, und so richtig es ist, ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Staatsbürgerschaft zu ermöglichen, ist festzustellen: Das alles reicht nicht aus. Es reicht meiner Fraktion nicht; aber es reicht auch dem Forum für Menschenrechte nicht, wie dessen Dreizehn-Punkte-Katalog, der uns in dieser Woche auch hier erreichte, belegt. Ich vermute, es reicht auch dem einen oder anderen grünen Kollegen nicht. Oder, Kollege Ströbele, hat sich so viel an Ihren Forderungen verändert, die wir im Wahlkampf noch gemeinsam vertreten haben? ({3}) Deshalb kündige ich Ihnen schon heute Initiativen der PDS-Fraktion zur Verbesserung des Datenschutzes, zur Rücknahme der Antiterrorgesetze und zur Errichtung höherer Hürden bei der Telefonüberwachung an. Denn bürgerrechtlich orientierte Politik enthält nicht nur Ansprüche an Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat. Sie bedeutet vor allem auch Schutz von Bürgerinnen und Bürgern vor Begehrlichkeiten des Staates. Schutz und Unterstützung des Staates brauchen aber auch Flüchtlinge, die sich bis in die Bundesrepublik durchgeschlagen haben. Die Vereinbarungen der neuen Koalition auf dem Feld der Flüchtlings- und Asylpolitik sind unzureichend. Das meinen nicht nur wir. Auch „Pro Asyl“ hat als Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisation die rotgrünen Verabredungen zu Recht heftig kritisiert. Die SPD will nicht zulassen, daß am sogenannten Asylkompromiß gerüttelt wird. Sie weigert sich, nichtstaatliche Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen. Dabei wissen Sie doch ganz genau, daß unser Asylrecht nicht ausreicht, um zum Beispiel Frauen aus Afghanistan oder Flüchtlingen aus Algerien Schutz zu gewährleisten. ({4}) Auch das Asylbewerberleistungsgesetz ist der neuen Koalition offenbar keine Kritik mehr wert, obwohl hiermit - zumindest die Grünen sollten sich daran erinnern - Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge unter das Existenzminimum und oftmals in die Illegalität getrieben werden. Wir wollen, daß es so schnell wie möglich abgeschafft wird, und werden hier eine entsprechende Initiative einbringen. ({5}) Das betrifft auch die Flughafenregelung. Sie gehört nicht überprüft, Frau Kollegin Beck; sie gehört tatsächlich abgeschafft. ({6}) Ich möchte Sie daran erinnern, daß allein in diesem Jahr elf Menschen während dieses Flughafenverfahrens versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Was muß denn noch passieren, um diese entwürdigende Regelung abzuschaffen? Sie haben die Chance, in diesem Bereich etwas zu tun. Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht. Sie müssen nur noch zustimmen. ({7}) Ein Wort an Sie, Herr Innenminister, und auch an die Kolleginnen und Kollegen der Grünen: Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, aber ein zu kurzer. Was nämlich ist mit den Kindern von Angehörigen der zweiten Generation, die als Jugendliche eingewandert sind? Was ist vor allen Dingen mit den Kindern all der Vietnamesinnen und Vietnamesen und der anderen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR? Diese Kinder bleiben Ausländerinnen und Ausländer, obwohl sie hier geboren wurden, und müssen die mühsame Einwanderungsprozedur durchlaufen. Wir begrüßen die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Menschen aus Nicht-EU-Staaten. Wenn Sie allerdings mehr Demokratie wagen wollen, dann beantworten Sie mir doch eine Frage: Warum sollen sogeMarieluise Beck ({8}) nannte Drittausländer auf kommunaler Ebene zwar über den Bau von Schulen mitbestimmen dürfen, nicht aber darüber, was dann in diesen Schulen gelehrt wird, weil das wiederum Ländersache ist? ({9}) Ein weiterer Punkt: Wir fordern nach wie vor die Einführung eines Niederlassungsrechts, das hier lebenden Nichtdeutschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Bürgerrechte verleiht. Das bezieht sich nicht nur auf das Wahlrecht, sondern schließt auch ein, daß diese Menschen vor Abschiebung geschützt werden. Da Regieren offensichtlich zuweilen vergeßlich macht: Ich habe vergeblich nach dem Einwanderungsgesetz gesucht, das die bündnisgrüne Fraktion noch vor Wochen so heftig gefordert hat. Ich vermute, daß hier in dieser Frage selbst die F.D.P. aktiver werden wird als die Fraktionen, die die derzeitige Regierung stützen. Nun zu etwas, was heute schon viele Emotionen hervorgerufen hat. Ich entnahm der Presse und Ihren heutigen Ausführungen, Herr Innenminister, daß Sie Überprüfungsbedarf haben - und das aus unterschiedlichen Gründen, zum Beispiel weil die Überwachung der PDS durch den Verfassungsschutz vertrackt sei, da die PDS seit neuestem in Mecklenburg-Vorpommern mitregiert. Ich halte diese Argumentation allerdings für wenig demokratisch, unterstellt sie doch, Oppositionsparteien dürfe man überwachen, aber bei Regierungsparteien schicke sich das nicht. ({10}) Ich sage Ihnen aber auch: Wenn Sie den Verfassungsschutz schon aus den Fängen der CDU und der politischen Wunschvorstellung befreien wollen - ich kenne die Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung, die auf dieser Grundlage entstanden sind -, dann haben Sie nicht nur meine Zustimmung. Wenn Sie dieses Instrument allerdings endgültig auflösen, dann finden Sie meinen Beifall. Im übrigen: Herr André Brie ist schon seit längerer Zeit nicht mehr der Chef der Grundsatzkommission. Wenigstens so viel sollten doch Ihre Zuarbeiter aus dem Bereich Verfassungsschutz wissen. ({11}) Und was das Grundgesetz und die Systemfrage anbetrifft: Wo steht eigentlich im Grundgesetz, daß Kapitalverwertung tatsächlich über Menschenrechte und Bürgerinteressen geht? Spätestens hier muß sich die Politik einmischen, wenn der Markt blind ist. ({12}) Da haben wir sogar eine gemeinsame Grundlage: In Ihrem und in meinem Parteiprogramm ist der demokratische Sozialismus d i e Zielvorstellung. ({13}) Noch ein Punkt: Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung versprochen, die Gesellschaft zusammenzuführen und die tiefe soziale, geographische und gedanklich kulturelle Spaltung zu überwinden und sich dabei den realen Problemen zu stellen. Ich prophezeie uns allen: Mit dem Umzug nach Berlin werden wir den Problembeladenen in dieser Gesellschaft, dem Zusammenkommen und manchmal auch Zusammenprallen von Ost und West näherkommen. Insofern verstehe ich nicht, Herr Innenminister, warum Sie sich diese Problembeladenen durch eine Bannmeile vom Hals halten wollen. Wir haben seinerzeit nicht für den Umzug gestimmt, um dann in dieser Stadt Sondergebiete für Bundespolitiker zu schaffen. ({14}) Wir wollen vielmehr dorthin, wo Herausforderungen und Defizite am meisten zu spüren sind. ({15}) Ein allerletzter Punkt: Im Zusammenhang mit dem Parlaments- und Regierungsumzug hat der Bundeskanzler völlig zu Recht gesagt, daß dies nicht der Ausstieg aus der historischen Verantwortung sein darf. Deshalb bitte ich schon heute: Lassen Sie sich uns gemeinsam der Verantwortung für eine würdige Debatte und Entscheidung zum Holocaust-Mahnmal in der Stadt Berlin stellen. Das wird kein Berliner Mahnmal. Das wird das Mahnmal, welches uns nicht nur erinnert, sondern uns den Weg tatsächlich erhobenen Hauptes, aber auch mit der Scham, die wir empfinden müssen und sollen, in die Berliner Republik ebnet. Lassen Sie uns gleichzeitig möglichst schnell Regelungen für die Zwangsarbeiter finden, denn hier geht es schon längst nicht mehr um eine parteipolitische Debatte, sondern hier zählt jeder Tag für die Betroffenen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, der letzte Satz ist jetzt sehr lang geworden.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bedanke mich. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Pau, das war, glaube ich, Ihre erste Rede im Bundestag. Ich gratuliere Ihnen, daß Sie es schon hinter sich haben. ({0}) Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben ganz recht, man muß sich ordentlich anziehen, wenn man als Bundesministerin der Justiz hier an das Rednerpult tritt, Herr Marschewski. ({0}) Ich bin ganz Ihrer Meinung, das ist völlig in Ordnung. Lassen Sie mich anfangen, meine Damen und Herren! Vor einigen Tagen haben Journalisten mit Lob für die jetzige Regierung angemerkt, sie habe es binnen ganz weniger Tage geschafft, die „Rechtspolitik aus ihrem Dornröschenschlaf“ zu wecken. Ich glaube, das war nicht nur eine freundliche Feststellung, sondern das ist auch inhaltlich richtig. In der Rechtspolitik wird es jetzt interessanter. Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen, mit Ihnen von der CDU/CSU, auch mit Ihnen, Herr Rüttgers, ebenso wie mit Ihnen von der F.D.P.Opposition. Die Unterschiede zwischen Ihnen beiden sind heute schon sehr deutlich geworden. Wenn man die dritte Oppositionsfraktion, die PDS, noch hinzunimmt, kann man sagen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Wir haben eine interessante Wegstrecke vor uns. ({1}) Das Urteil, Herr Rüttgers, das Sie über die bisherige Politik im Rechts- und Innenbereich abgegeben haben, war bei aller Wertschätzung gegenüber meinem Vorgänger, Herrn Professor Schmidt-Jortzig - Sie wissen, daß ich Sie ausgesprochen schätze -, aber nicht ganz so positiv, wie Sie meinen. Wenn Sie heute Bürgerinnen und Bürger, Richterinnen und Richter und andere Rechtsanwender fragen, dann sagen die Ihnen halt auch: Diese Politik sei hektisch und ohne klare Linie gewesen. Sie stöhnen darüber, daß sie zuviel Gesetze, zuviel unklare Gesetze bekommen haben, denen dann die Einzelkorrektur sehr häufig auf dem Fuß folgte. Sie beklagen dann sehr deutlich, das habe nicht nur die Qualität der Arbeit behindert, Zeit und Geld gekostet, sondern natürlich auch die Motivation beeinträchtigt. Schon deshalb müssen wir das ändern. Wir brauchen die Arbeit und die Motivation der Richterinnen und Richter zur Durchsetzung unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaats unter den heutigen Bedingungen nötiger denn je. ({2}) Ich werde deshalb versuchen, Sie auch hier im Bundestag immer wieder daran zu erinnern, daß wir lieber weniger und bessere Gesetze machen und daß wir - das finde ich sehr gut; vielen Dank auch für die Zustimmung, lieber Herr von Stetten - Gesetzesinitiativen nicht als Einzelkorrekturen immer klein-klein aufeinander folgen lassen. Das war übrigens der Grund, warum ich es gut gefunden habe, daß der Bundesrat in seiner letzten Sitzung die beiden Einzelinitiativen zum Sexualstrafrecht aus dem Lande Bayern zurückgestellt hat. Auch in solchen Fällen nützen Lippenbekenntnisse allein nicht, wir müssen uns nach unseren Grundsätzen richten. ({3}) Die neue Bundesregierung wird im Bereich der Rechtspolitik die politischen Ziele vorgeben. Dafür haben wir am 27. September die Mehrheit bekommen. Dafür sind wir verantwortlich. Unsere Schwerpunkte in diesem Bereich sind einmal der Schutz der Schwächeren durch Recht. Das hat schon Friedrich Schiller - er ist heute schon einmal zitiert worden - vorgedacht, indem er sagte: „Das Gesetz ist der Freund des Schwachen.“ Das hat unser Grundgesetz aufgenommen, das ist die Tradition großer Rechtspolitiker von Gustav Heinemann bis Hans-Jochen Vogel. Wir werden diesen Grundsatz wieder durchsetzen. ({4}) Meine Damen und Herren, unser zweiter Schwerpunkt, nämlich das Bündnis gegen Gewalt, hat viel damit zu tun. Hier geht es darum, Opfern von Kriminalität zu helfen, Opferzeugen und dann auch Zeugen zu schützen. Es geht aber auch um den Schutz von Kindern, Frauen, Älteren, Behinderten und Minderheiten. ({5}) Unser dritter Schwerpunkt betrifft die grundlegende Reform der Justiz, die bisher auch schon versucht wurde - insofern hat Herr Rüttgers völlig recht -, wobei aber nicht erreicht wurde, für die Zukunft das Erfordernis der Klarheit, der Zügigkeit, der Effizienz mit Rechtsstaatlichkeit und Transparenz zu verbinden. Wir brauchen das aber, jetzt an der Schwelle zu einer immer größeren Integration in die Europäische Union. Ich sage Ihnen: Wir werden das mit Macht vorantreiben. Ich erbitte hier Ihre Unterstützung. Ihre Unterstützung erbitte ich auch für den vierten Schwerpunkt, nämlich die Erweiterung und Veränderung des Sanktionensystems, und für den fünften, nämlich die Stärkung von Gleichstellung, Teilhabe und Bürgerrechten bei uns im Land und in der Europäischen Gemeinschaft. ({6}) Wir geben als Mehrheit in diesem Haus die Ziele vor. Wir werden aber auch die Wege vorschlagen. Bezüglich dieser Wege bitten wir um eine Diskussion mit Kritik, je sachlicher und je schärfer, desto besser. Wir bitten um Anregungen und Diskussionen, weil wir glauben, daß wir auf diesem Wege einen Fehler der Rechtspolitik der vergangenen Jahre vermeiden können. Dort wurde immer nach dem Konsens, nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht. Wir wollen nicht diesen kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern wir wollen das beste Ergebnis in allen Punkten erreichen. ({7}) Unsere Regierung ist jetzt 16 Tage im Amt. Bis zum Ablauf der ersten 100 Tage werden wir, werde ich Ihnen Eckpunkte für einige dieser Schwerpunkte vorlegen. Ich freue mich, Herr Westerwelle, daß auch Sie angedeutet haben, daß Sie zusammen mit unserer Koalition dafür sorgen wollen, daß wir die Schaffung rechtlicher Möglichkeiten für homosexuelle Paare, die auf Dauer zusammenleben wollen und die sich in Zukunft mit Rechten und Pflichten als Lebenspartnerschaft eintragen lassen wollen, durchsetzen. Ich möchte gerne die wenigen Minuten, die ich heute noch spreche, dazu nutzen, auf einiges einzugehen, was in den letzten Tagen - wahrscheinlich, weil man die Konzepte nicht so genau kannte - schon im Vorfeld abwehrend gesagt wurde. Zur Justizreform: Sie ist notwendig. Ich glaube, das wird kaum mehr bestritten. Ich freue mich, daß auch die Justizministerkonferenz des Bundes und der Länder mit übergroßer Mehrheit gesagt hat, wir brauchen sie, und wir sollen sie gemeinsam machen. Das heißt gleichzeitig, meine Damen und Herren: Gemeinsamkeit in der Rechtspolitik aus Bund und Ländern ist angesagt, auch bei der Frage der Dreistufigkeit. Bei ihr geht es uns darum, daß nach der außergerichtlichen Streitschlichtung, die wir, glaube ich, auch im Bundestag gemeinsam wollen, die Eingangsgerichte in die Lage versetzt werden, die umfassende rechtliche und tatsächliche Prüfung vorzunehmen, so daß der Streitfall dort so ausführlich gewürdigt werden kann, wie die Bürgerinnen und Bürger das wollen und brauchen. Wenn uns das gelingt, können wir die zweite Instanz darauf konzentrieren, konkrete Fehler zu korrigieren. Dann kann die dritte Instanz auf die Wahrung der Rechtseinheitlichkeit und der Grundsatzrevision konzentriert werden. Wir möchten das gerne. Wir werden selbstverständlich, weil das notwendig ist, großzügige Übergangsfristen mit einplanen, aber wir werden auch weitere bisherige übergangsweise vorgesehene Schritte der Rechtspflegeentlastung an diesem Ziel ausrichten. Wir können damit eine Menge an Fehlentwicklungen verbessern. Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, daß heute nahezu die Hälfte der erstinstanzlichen Urteile auch dann, wenn sie grob falsch sein sollten, gar nicht mehr korrigiert werden können. Das ärgert die Bürger. Das führt unter anderem auch dazu, daß das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall als Instanzersatz mißbraucht wird, und dessen Arbeit, also die Arbeit der Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter, brauchen wir wahrhaftig an anderer Stelle. ({8}) Was wir in der Tat nicht wollen, meine Damen und Herren, ist, kleine Einheiten bei den Gerichten zu zerschlagen. Das kommt nicht in Frage. Ich bin der Auffassung: Kleine Einheiten - das zeigen die Untersuchungen - sind effizienter als die großen. Wir alle wissen, daß die Länder diejenigen sind, die darüber bestimmen, ob es kleinere oder größere Einheiten gibt. Ich will Sie deswegen, meine Damen und Herren aus den Reihen der CDU/CSU-Opposition, für den Fall, daß Sie das ernst meinen, nur davor warnen, daß der Vorwurf des Zentralismus hier auf Ihre Länder zurückfiele und daß er mit unseren Reformvorstellungen etwa soviel zu tun hat wie eine Lokomotive mit einem Taschentuch, nämlich gar nichts. ({9}) Übrigens, verehrter Herr Geis, eine Kommission werden wir auch nicht einsetzen, ({10}) und zwar deshalb nicht, weil man Kommissionen immer dann einsetzt, wenn man nach langer Zeit möglichst nichts erreichen will. Wir wollen etwas erreichen. ({11}) - Nein, verehrter Herr Geis, Sie waren es. Vielleicht lesen Sie das noch einmal nach. Ich glaube, die Amnesie greift gerade bei Ihnen noch nicht so um sich, als daß Sie das nicht korrigieren könnten. ({12}) Lassen Sie mich noch einen zweiten Punkt nennen; ich meine die Frage der Gewaltbekämpfung. Die Ächtung der Gewalt als Erziehungsmittel steht ganz oben auf unserer Tagesordnung. ({13}) Wir werden dieses Ziel verfolgen, übrigens nicht deswegen, weil wir allen Eltern, jeder Mutter oder jedem Vater, denen in einer Streßsituation einmal die Hand ausgerutscht ist, den Staatsanwalt in das Haus schicken wollen oder werden. Das werden wir nicht tun. Aber wir müssen völlig klarmachen, daß Gewalt kein Erziehungsmittel sein kann, daß besonders viele Gewalttäter als Kinder geschlagen wurden, daß sich das Übel der Gewalt vererbt und daß wir damit Schluß machen müssen. Das ist ein Teil der praktischen Prävention, die wir brauchen. ({14}) Wir werden auch den Schutz von Kindern und den Schutz von geschlagenen Frauen durchsetzen. Hier gilt der Grundsatz: Der Schläger geht, und die Geschlagene bleibt, wenn es um die Wohnungszuweisung geht. ({15}) Gewalt gegen Ältere, Gewalt gegen Behinderte, Gewalt gegen Minderheiten werden wir bekämpfen, und dazu fordern wir auch Sie ausdrücklich auf. ({16}) Lassen Sie mich dazu noch ein kleines Beispiel bringen: Kein Mensch versteht, warum eine Vergewaltigung, die doch noch viel verwerflicher ist, wenn sie an einer Frau begangen wird, die geistig behindert ist, nach unserem Strafrecht geringer bestraft werden soll. Das müssen wir ändern. ({17}) Wir haben das schon häufiger angemahnt. Das muß sein. Ich werde heute zu der Frage kurzer Freiheitsstrafen, des Sanktionensystems und etwa zu Fragen der europäischen Justizzusammenarbeit nichts mehr sagen, obwohl auch diese Punkte extrem wichtig und Reformen notwendig sind. Ich denke, wir werden in den kommenden vier Jahren eine Menge miteinander zu diskutieren haben. Wir werden Ihnen zunächst einige Vorschläge vorlegen, wie das im einzelnen genau aussehen soll. Im übrigen halten wir es mit Gustav Radbruch, der die Arbeit von Rechtspolitikern einmal mit einer Bauhütte verglichen hat. Sie gibt es, wie wir wissen, an Domen und anderen großartigen Bauwerken. Ihre Arbeit hört nie auf; sie haben die spezielle Aufgabe, zu erhalten und zu erneuern. Bei uns, in der Bauhütte des Rechts, in der Rechtspolitik, die wir vorhaben, ist Erneuerung angesagt. Dazu bitte ich um Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesinnenminister Schily, Ihr Wunsch in Ehren, daß Sie viele Themen der Innenpolitik im Konsens angehen wollen. Ich möchte für unsere Seite die grundsätzliche Bereitschaft zum Gespräch signalisieren. Aber ich füge hinzu: Wir haben sehr viele Vorbehalte angesichts der diesbezüglichen Koalitionsvereinbarungen und Ihrer ersten Äußerungen in der Öffentlichkeit. Wenn ich an Ihre Erklärung denke, die Sie hier zur Frage der Überwachung der PDS abgegeben haben, dann meine ich: Da werden Sie wohl kaum auf Zustimmung von uns rechnen können. Dies ist mehr als schwach. Sie argumentieren, es ist vertrackt, daß man jemanden überwacht, der in einem Land Teil einer Regierungskoalition ist. Es leuchtet mir überhaupt nicht ein, was Sie damit erreichen wollen. Das gleiche gilt für Ihren Vorschlag, man könne hier im Parlament Fragen stellen. Sie tun so, als sei die Kontrolle durch ein Verfassungsschutzorgan durch Fragen im Parlament zu ersetzen - als gäbe es irgendeinen Dummen, der auf irgendwelche Fragen so antworten würde, daß er sich mit seinen Antworten selbst in Verdacht bringt. ({0}) Ich halte dies für einen völlig falschen Ansatz. Herr Kollege Westerwelle, einen Hinweis möchte ich Ihnen schon geben: Sie können ja glauben, daß diejenigen, die F.D.P. wählten, damit auch die Frage der Staatsangehörigkeit entschieden haben. Aber jeder weiß, es gab auch andere entscheidende Kriterien. Ich finde es nicht redlich, wenn hier der Eindruck erweckt wird - Sie haben formuliert, man dürfe „den deutschen Paß nicht weiter verwehren“ -, das alte Staatsbürgerschaftsrecht und die damit einhergehende Einbürgerungspraxis habe irgend jemandem etwas verwehrt. ({1}) Wir beziehen uns ja entscheidend auf die Einbürgerung der Türken in Deutschland. Ich rate Ihnen dringend: Gehen Sie einmal der Frage nach, welche Rechte die 50 000 Deutschen, insbesondere die Frauen, in der Türkei haben. Was haben sie für Erbrechte, was für Bürgerrechte, welche Chancen haben sie im Fall des Ablebens des türkischen Ehepartners? - Dann reden wir noch einmal über Integration von Minderheiten in unserem Lande. Meine Damen und Herren, die Frau Ausländerbeauftragte hat hier und heute den Begriff der „Unumkehrbarkeit der Zuwanderung“ gebraucht. Im Zusammenhang damit wurde mit keiner Silbe auf die Rückkehr von Bürgerkriegsflüchtlingen eingegangen; weder in der Koalitionsvereinbarung noch in sonstigen Erklärungen der neuen Regierung findet sich dazu etwas. Wer wie Sie angesichts von 7,3 Millionen Ausländern in diesem Lande davon spricht, man müsse nun die Tore öffnen, ist, so glaube ich, auf einem falschen Weg, letztlich auf dem Weg in eine andere Republik. Sie tun so, als ob der Paß nur Integrationsmittel ist. Er kann hilfreich sein, wenn er am Ende des Integrationsprozesses gewährt wird. Aber wenn man so tut, als liege in der Verweigerung des Passes der Casus knacktus für mangelnde Integration, dann liegt man mit Sicherheit falsch. Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar Punkte aus der Rechtspolitik aufnehmen; zunächst Herr Rüttgers hat es bereits erwähnt - zur Leitlinie der Koalitionsvereinbarung, Alltagskriminalität „bürokratiearm“ zu bestrafen. Allein die Wortwahl „Alltagskriminalität“ ist schon bedenklich, ähnlich wie der Begriff „Bagatelldelikt“. ({2}) Es gab in der Presse Berichte, Sie wollten den Ladendieb dadurch strafen, daß Sie ihm den doppelten Warenwert als Strafe abverlangen. Damit reduzieren Sie die Abschreckung und schaffen nur Anreize: Wenn Sie solche Wege beschreiten, wird Ladendiebstahl zum Roulettespiel. Ich glaube, daß Sie ohne die Abschreckung einer wirklichen Strafe keinen Erfolg haben werden. Es heißt darüber hinaus, Drogenkonsum und Drogenbesitz werden künftig straffrei gestellt. Damit geben Sie Anreiz zum Konsum. Sie erreichen mit staatlicher Heroinabgabe nur eines: daß die Abhängigen in ihrer Sucht gestärkt werden. Auch im Ausland hat man bewiesen, daß nicht alle Abhängigen in ein kontrolliertes Programm einbezogen werden können. Das wird andere Wege der Beschaffung - mit der Folge steigender Kriminalität - öffnen. Die Kinder- und Jugendkriminalität braucht eine starke Prävention und eine konsequente Verfolgung. Dafür sind in der Jugendsozialarbeit viele Modellprojekte der Prävention notwendig, wie sie z. B. in Bayern an den Schulen gemacht werden. Ich freue mich, daß Sie die Sicherheitspartnerschaften fördern wollen. Ich halte das für einen richtigen Weg. Aber Sie dürfen nicht darin fortfahren, die Kleinkriminalität, die immer am Anfang steht, kleinzureden, und Sie dürfen die Abschreckung durch Strafe, ein Element der Prävention, nicht negieren. Meine Damen und Herren, ein Wort fehlt in den bisherigen Akten zur Koalitionsvereinbarung: Mit keinem Wort mehr ist von Ausländerkriminalität die Rede. Dies kann man bedauern. Aber es ist im Sinne der neuen Bundesregierung logisch. Denn Ihre Pläne zur doppelten Staatsangehörigkeit haben deutlich gemacht, daß Sie von einer großen Einbürgerungswelle ausgehen, daß Sie letztlich Millionen von Menschen - denkt man an die Jugendlichen - die deutsche Staatsbürgerschaft aufdrängen wollen. ({3}) Was machen Sie in den Fällen - das steht mit keiner Silbe in dem Gesetzentwurf -, in denen Eltern diese Staatsangehörigkeit gar nicht wollen? ({4}) Sie negieren, daß es eine breite Integrationsleistung der deutschen Bevölkerung gegeben hat und daß zum Integrieren der Wille der Ausländer gehört, die integriert werden sollen. ({5}) Wenn ich auf diesen Willen abstelle, muß ich sagen, daß Aufenthaltsdauer und Geburtsort nicht der maßgebende Anknüpfungspunkt sind. Der Innenminister hat hier gesagt, daß Sprachkenntnisse der Einzubürgernden selbstverständlich sind, daß er aber dagegen ist, das in das Gesetz hineinzuschreiben. Wie wollen Sie dann die Sprachkenntnisse einbeziehen? Wo ist Ihr Konzept, um die dann entstehenden Loyalitätskonflikte zu lösen? ({6}) Wer zwei Pässe hat, hat natürlich zwei Möglichkeiten. ({7}) Er kann wirklich - wie Herr Schäuble gesagt hat - Rosinen picken. Es gibt genügend praktische Fälle, die das zeigen; es gibt genügend Menschen, die sich darauf berufen. Wie lösen Sie den Familiennachzug bei Doppelstaatlern? Jetzt beginnt in der Wissenschaft eine breite Diskussion darüber, wie groß die Zuwanderung bei einer Doppelstaatlichkeit von derzeitigen Ausländerfamilien sein wird. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen voraus: Mit den geplanten Gesetzen wird Deutschland als Zuwanderungsland attraktiver. Sie erreichen eine Sogwirkung. ({8}) Die Aufnahmefähigkeit Deutschlands wird überstrapaziert. Wir haben Schulklassen mit einem Ausländeranteil von 50 Prozent, zum Teil von 90 Prozent. ({9}) All dies wird hier negiert. Sie arbeiten - das sage ich in aller Deutlichkeit - gegen die Bevölkerung und ihre Meinungsbildung. ({10}) Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall ist mit Sicherheit der falsche Ansatz. Damit negiere ich nicht, daß es in der Praxis derzeit viele funktionierende Fälle der Doppelstaatsangehörigkeit gibt. ({11}) - Ja, 500 000 mögen es sein. - Wie man dies als Argument für die Einführung der Regeldoppelstaatsangehörigkeit bringen kann, ist mir schleierhaft. Meine Damen und Herren, ein Punkt ist allerdings mehr als bedenklich. In Ihrer Koalitionsvereinbarung sagen Sie expressis verbis, Sie wollen den Rechtsextremismus bekämpfen. Mit keiner Silbe sprechen Sie mehr vom Linksextremismus. ({12}) Der wird einfach totgeschwiegen. Im Gegenteil: Sie wollen die PDS sogar aus der Beobachtung nehmen. ({13}) Die Regelung, die Sie im Bereich der Zuwanderung treffen - eine neue Altfallregelung -, steht extrem im Widerspruch zu dem, was wir auf der letzten Innenministerkonferenz gemeinsam getragen und gemeinsam als letzte Altfallregelung festgehalten haben. Hier wird eine neue zusätzliche Instanz im Asyl- und Flüchtlingswesen eingeführt: Härtefallregelung. Es läuft letztlich auf die Härtefallkommissionen des Landes NRW hinaus eine weitere Instanz. Das heißt im Ergebnis: eine weitere staatliche Ebene zur Prüfung von Zuwanderung. Sie belohnen durch Altfallregelungen letztlich die ganz Raffinierten, die nach Ablehnung untertauchen. Ich halte dies für eine komplette Fehlentwicklung. ({14}) Meine Damen und Herren, der letzte Punkt betrifft die eingetragene Lebenspartnerschaft. Ich glaube, Frau Ministerin, daß das bei weitem kein europäischer Standard ist. Selbst in Frankreich wird derzeit heftig darüber gestritten. Sie haben ja mitbekommen, daß es dort bisher an einer parlamentarischen Mehrheit für die eingetragene Lebenspartnerschaft fehlt. Ich kann mir nicht erklären, wie Sie erreichen wollen, daß heterosexuelle Partnerschaften diese neue Institution nicht nutzen werden. Sie bekommen dann logischerweise zwei Ebenen: eine, wenn Sie so wollen, halbe Ehe und eine Ehe und dazwischen die Verfassung. Dann aber gegen Adoption zu sein ist genauso unlogisch. Entweder - oder. Deswegen halte ich die gesamte Regelung der Lebenspartnerschaft für mehr als bedenklich. ({15}) Meine Damen und Herren, 70 Prozent der in Europa Lebenden haben keine solche Regelung. Wieso Sie in Europa Vorreiter sein und eine europäische Regelung einführen wollen und sich dabei auf Standards in Europa berufen, ist mir unerklärlich. Wer wie die Frau Ausländerbeauftragte Beck hier von der Unumkehrbarkeit der Zuwanderung spricht und offensichtlich keinen Beauftragten für die Rückführung der Bosnienflüchtlinge ernennen will, der lädt zu noch mehr Zuwanderung und zu noch mehr Attraktivität ein. ({16}) - Dann müssen Sie, Frau Beck, abgewogener formulieren. Sie haben hier von der Unumkehrbarkeit der Zuwanderung gesprochen, die Sie erreichen wollen. Dies ist der falsche Weg. ({17}) Wir sind in der Tat der Meinung, daß Bürgerkriegsflüchtlinge nur auf Zeit hier sein sollen und nach Ende ihres Bürgerkriegs eine Rückführung ermöglicht und durchgesetzt werden muß. Mit keiner Silbe ist bisher auf dieses Thema in diesem Hause eingegangen worden. Deswegen fürchte ich, daß in der Innen- und Rechtspolitik eine andere Republik auf uns zukommt, die wir in der Opposition mit Ihnen mit Sicherheit nicht wollen und auch nicht mittragen werden. Herzlichen Dank! ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Herr Kollege Zeitlmann, Sie haben mich selber angesprochen. Ich habe mich noch einmal kurz zu Wort gemeldet, weil Sie mir die Empfehlung gegeben haben, ich möge mich doch einmal über das Staatsangehörigkeitsrecht in der Türkei informieren. Natürlich weiß ich, wie die Rechte der Deutschen und die Rechte von Ausländern in der Türkei sind. Aber ich bin nicht für die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Deutschland, um der Türkei einen Gefallen zu tun, sondern um unserer deutschen Gesellschaft einen Gefallen zu tun. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ebenfalls das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Ekin Deligöz. Danach können Sie antworten, Herr Zeitlmann.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Zeitlmann, auch ich komme aus Bayern. Zu meinem größten Bedauern muß ich leider feststellen, daß den schwächer strukturierten Gebieten Bayerns entgangen zu sein scheint, daß das türkische Staatsrecht immer noch in der Türkei abgestimmt wird und nicht in Deutschland. Wir sind hier im Deutschen Bundestag, und wir machen hier die deutschen Gesetze und nicht die in der Türkei. Daher verstehe ich nicht, daß Sie ausgerechnet das als Beispiel anführen. Zu Ihrem Spruch, die Staatsbürgerschaft stehe am Ende der Integration, möchte ich anmerken, daß Ihnen da etwas entgangen zu sein scheint. Die doppelte Staatsbürgerschaft kann nur der Anfang der Integration in Deutschland sein, in der Situation, wie wir sie zur Zeit vorfinden. Die doppelte Staatsbürgerschaft kann nur eine Brücke zur Integration sein. Diese Brücke brauchen die Menschen. ({0}) - Es gibt durchaus Menschen, die solche Brücken nicht brauchen. Ich habe nur den deutschen Paß, und mir genügt das auch. Aber es gibt nun einmal Menschen, die auch andere Gefühle und Bindungen haben, die wir beachten müssen. Zum guten Ton der Politik gehört auch die Art und Weise, wie man auf die Gefühle der Menschen eingeht und nicht nur auf irgendwelche statistischen Zahlen. ({1}) Ihren Spruch, Deutschland sei kein Zuwanderungsland, verstehe ich nicht. Ich habe bereits im Wahlkampf nicht verstanden, warum Sie sich mit solchen Sachen aufhalten. Es geht nun einmal um eine Tatsache. Sie müssen sich nur die Zahlen ansehen, um zu erkennen, daß Deutschland längst ein Zuwanderungsland ist. Wir können uns noch einmal fünf Stunden darüber unterhalten. Das würde uns alle nicht weiterbringen. Wichtig aber ist nicht, was Sie sagen, sondern wichtig ist, was de facto stattfindet und wie wir mit diesen Tatsachen umgehen. Ich komme zu Ihren Bedenken bezüglich der Loyalität. Ich denke, es ist nicht wichtig, loyal zu irgendeinem Land zu sein. Wenn es darauf ankommt, dann steht im Vordergrund die Loyalität zu einer Verfassung. Ich kann Ihnen zusichern, daß die Migrantinnen und Migranten, die hier in Deutschland aufwachsen und hier leben, diese Loyalität längst zeigen und auch vorweisen, nämlich die Loyalität zu unserer demokratischen Verfassung. Auf Grund dessen kann es passieren, daß so ein Mensch wie ich heute hier an diesem Mikrofon stehen und reden kann. Anders würde es nämlich gar nicht gehen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Zeitlmann.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Westerwelle, ich möchte Sie nur auf etwas hinweisen: Ich befinde mich hier im deutschen Parlament und fühle mich auch für die deutschen Mitbürger in der Türkei verantwortlich. Deswegen will ich auch im Interesse der deutschen Bevölkerung klar sagen: Solange es ein mit uns befreundetes Land gibt, das die Minderheitenrechte so traktiert wie die Türkei, glaube ich, daß es in der deutschen Öffentlichkeit schon eine höhere Akzeptanz gäbe, wenn wir einen Gleichschritt zwischen dem wagen würden, was die Türkei den Deutschen in der Türkei gestattet, und dem, was wir gestatten. Ich will damit nicht hinter die jetzige Rechtslage zurück, aber ich meine: Man kann den Fortschritt in der Einbürgerung in der Vergangenheit nicht negieren; da gab es Fortschritte. Aber es gab umgekehrt in der Türkei nur relativ wenige Fortschritte für die deutsche Minderheit. Dies kann man nicht negieren. Frau Kollegin, Sie hätten mich völlig falsch verstanden, wenn Sie glauben, daß ich gegen eine Einbürgerung von Ausländern bin. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: Wir haben in der Vergangenheit zahlreiche Liberalisierungen, beispielsweise bei den Gebühren und den Fristen der Einbürgerung, eingeführt. Sie können aber nicht negieren, daß die doppelte Staatsangehörigkeit letztlich Loyalitätskonflikte zur Folge hat. Das ist unbestreitbar, dazu gibt es viele Beispiele. Ich habe vor mir das Schreiben eines Schulrektors liegen, der davon berichtet, daß ein türkisches Elternpaar 22 Jahre lang in Deutschland lebt und sich bis heute weigert, irgendein Wort Deutsch zu sprechen, geschweige denn zu lernen. Nach Ihren Definitionen der Frist werden Sie diese Menschen einbürgern. Das will ich nicht. Ich will eine Einbürgerung der Integrationswilligen, aber nicht der Integrationsunwilligen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Zeitlmann, bei dem Wettbewerb um das rückschrittlichste Staatsbürgerschaftsrecht auf dieser Welt bietet diese Koalition und diese Bundesregierung einfach nicht mit. Wir wollen die Türkei mit auf den Weg nach Europa zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Modernität nehmen. ({0}) Wir orientieren uns deshalb nicht an deren Rechtsstandards, sondern wollen sie einladen, sich an den unseren zu orientieren. Die Rechtspolitik hat in den letzten Jahren hier im Hause ein Schattendasein gefristet. „Nur nicht auffallen“ war die Devise. Rotgrün gibt dieser Rechtspolitik jetzt nicht nur ein neues Gesicht, sondern auch ein neues Gewicht. Ich hoffe, daß das nicht ohne Folgen für die Diskussion um die Kabinettszuschnitte in den Ländern bleibt. Wir wollen den Rechtsstaat erneuern und ihm neue Kraft geben. Rechtspolitik soll nicht länger rein technokratisch begriffen werden. Das Justizministerium soll wieder deutlich mehr sein als nur das Notariat der Bundesregierung. ({1}) Es geht nicht darum, lediglich Paragraphen zu verwalten, sondern gesellschaftliche Entwicklungen aufzunehmen und rechtlich zu gestalten. Wir streben eine neue politische Kultur an, wir wollen Beteiligung, Kritik und Einmischung. Wir wollen lebendige Demokratie und den ernsthaften Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Deshalb finden Sie im Koalitionsvertrag mehrere Bündnisangebote in die Gesellschaft: für eine zivile Gesellschaft, gegen eine Kultur der Gewalt, für Integration, gegen Ausgrenzung, für Demokratie und Toleranz und gegen Extremismus und Gewalt. Unsere Dialogfähigkeit werden wir auch bei der angestrebten Justizreform unter Beweis stellen. Wir wollen die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen für eine bürgernahe und bürgerfreundliche Justiz schaffen. Der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum Recht soll vereinfacht und die Verfahren sollen transparenter werden. Wir wollen das mit einer Stärkung der Eingangsinstanz und einer Schaffung der Dreistufigkeit erreichen, die jedoch bei der rechtsstaatlichen Qualität keine Abstriche machen darf. ({2}) Die frühzeitige Einbeziehung der Länder und der betroffenen Berufsverbände in diese Diskussion ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Wir wollen auch die Chance ergreifen, eine Wende in der Kriminalpolitik einzuleiten. Es ist an der Zeit, dem Begriff Prävention endlich Leben einzuhauchen. Deshalb bin ich für die Worte des Bundeskanzlers dankbar, der gesagt hat, wir wollen nicht nur hart gegen das Verbrechen, sondern auch hart gegen die Ursachen von Kriminalität sein. Das ist ganz entscheidend. ({3}) Viel zu lange wurden Rechtsstaatlichkeit und effiziente Kriminalpolitik polemisch als Gegensatzpaar aufgebaut. Das ist grundfalsch; denn Rechtsstaat, Gerechtigkeit und ein effizienter Schutz gegen das Verbrechen gehören zusammen und widersprechen sich nicht. Bei einer rational betriebenen Kriminalpolitik, wie sie auch der Bundesinnenminister vorgeschlagen hat, und mit einem Sicherheitsbericht, der uns schlauer macht, wie wir eine solche Politik gestalten können, haben Sie uns auf Ihrer Seite. Wir werden auch das Projekt der Sanktionenrechtsreform unterstützen, weil wir meinen, daß es hier einen erheblichen Modernisierungsbedarf gibt. Mit Geld- und Freiheitsstrafen werden wir den Ansprüchen an ein modernes Strafrecht nicht gerecht. Wir entsozialisieren die Täter auf Dauer. Durch Kurzzeitstrafen verlieren sie Arbeitsplatz und Wohnung auf Dauer. Wir wollen ein Sanktionsrecht, das die Resozialisierung gerade im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität stärker betont, auch durch den Täter-Opfer-Ausgleich und durch die Einführung von gemeinnützigen Arbeiten als neuer Sanktionsform. Darüber werden wir im nächsten Jahr sicherlich auch mit Ihnen von der Opposition streiten. Wie man sieht, sind Ihre Reihen auch beim Thema der Alltagskriminalität nicht so geschlossen. Herr Scholz hat unseren Vorschlag zur doppelten Schadenswiedergutmachung beim Ladendiebstahl aufgegriffen. Darüber können Sie mit uns reden. Es geht nicht um Entkriminalisierung; vielmehr geht es um eine vernünftige Ahndung von Vergehen. ({4}) Wir wollen die Stellung von Opfern bei Straftaten stärken. Die Interessen der Opfer wurden in der Vergangenheit immer nur dann herangezogen, wenn es darum ging, Einschränkungen der Bürgerrechte verdächtiger erscheinen zu lassen. Diese Instrumentalisierung von Opferinteressen wird es mit unserer Bundesregierung nicht geben. Wir werden den Opferschutz in vielen Bereichen ausbauen. Wir werden Schutzkonzepte gegen Gewalt im sozialen Nahraum entwickeln, die Wiedergutmachung stärken, den Täter-Opfer-Ausgleich ausbauen und die Subjektstellung der Opfer im Strafverfahren stärker hervorheben. Rotgrün stellt sich den Herausforderungen der Zukunft. Wir vergessen aber auch nicht die Verpflichtungen aus der Vergangenheit. Wir werden für die Verbesserung der Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus sorgen. Wir wollen, daß die Diskussion über das Holocaust-Mahnmal im Bundestag geführt wird. Das ist keine Frage der Exekutive. Hier ist der Ort, wo diese Frage entschieden werden muß und wo man sich der Geschichte stellt. ({5}) Wir ziehen die Lehren aus der Vergangenheit. Der Kanzler hat in seiner Regierungserklärung wie Sie, Frau Ministerin, die Funktion des Rechts als Schutz für die Schwächeren betont. Deshalb will die Koalition auch Minderheiten besser schützen. Wir werden ein Gesetz gegen Diskriminierung auf den Weg bringen und klarstellen, daß niemand auf Grund seiner Behinderung, seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner ethnischen Zugehörigkeit oder seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf. Das ist kein deutscher Sonderweg. In vielen Ländern Europas gibt es Gesetze gegen Diskriminierung von Minderheiten. An diesen guten europäischen Standard wollen wir endlich anschließen. Wir werden auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften endlich rechtlich anerkennen. Es wird die Möglichkeit der amtlichen Eintragung geschaffen. Schwule und lesbische Paare werden vom Staat offiziell und rechtlich anerkannt. Manche Kollegen von der CDU/CSU haben deshalb schon vorsorglich den Untergang des Abendlandes ausgerufen. Heute gab es ja auch einige sehr lustige Beiträge zu dieser Frage. Ich kann Sie nur fragen, meine Damen und Herren: Geht's nicht auch ein bißchen weniger schrill? ({6}) Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Wenn wir homosexuellen Paare gleiche Rechte und Pflichten verschaffen, dann nehmen wir doch damit niemandem etwas weg. Warum sollte dadurch die Ehe herabgewürdigt oder gar gefährdet werden? Das ist doch blanker Unsinn. ({7}) Es geht darum, daß wir endlich zur Kenntnis nehmen: Auch in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften wird füreinander Verantwortung übernommen, wird zueinander gestanden und werden familiäre Leistungen erbracht. Das muß der Staat anerkennen. 62 Prozent der Bevölkerung tun es ohnehin schon. Dies haben sie in einer Meinungsumfrage zum Ausdruck gebracht. Zum Schluß will ich Ihnen noch einen interessanten Satz aus dem „Spiegel“ vorlesen, der in den letzten Wochen unsere neue Regierung nicht gerade immer mit Lob überschüttet hat: Die Koalitionsvereinbarungen über doppelte Staatsbürgerschaft und die Gleichstellung von homosexuellen Lebensgemeinschaften beweisen, daß die Regierungspartner den Weg zurück zum Bürger schon eingeschlagen haben. Genauso ist es; genau dort wollen wir hin, zur Bürgerin und zum Bürger. ({8}) Deshalb ein letzter Satz: All diese Reformprojekte

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das war jetzt schon der letzte Satz.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- werden unser Land verändern. Es wird offener und toleranter werden. Rechtspolitisch ist Rotgrün auf einem guten Weg, endlich den Anschluß an die europäische Moderne zu finden. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Bundesregierung wird eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vornehmen.“ Dieser Satz ist Bestandteil einer Koalitionsvereinbarung, die fast auf den Tag genau vor vier Jahren Volker Beck ({0}) von den Kollegen Kohl, Waigel und Kinkel unterzeichnet wurde. Einer von ihnen sitzt hier. ({1}) Zwei sogar? Um so besser; neuerdings in neuer Funktion. Ich habe die Debatte über die Regierungserklärung des Bundeskanzlers in den vergangenen Tagen sehr aufmerksam verfolgt. Gewiß hatte und hat manches scharfe Wort, das aus den Reihen der Opposition an die Regierung gerichtet wurde, etwas damit zu tun, daß Sie, meine Damen und Herren, zum Teil Ihre neue Rolle noch nicht so recht gefunden haben. ({2}) Ich halte das übrigens für durchaus nachvollziehbar. Für nicht nachvollziehbar halte ich allerdings, woher Sie, meine Damen und Herren auf der rechten Seite des Mittelgangs sofern man angesichts Ihrer geschrumpften Reihen noch von einem Mittelgang sprechen kann - ({3}) - Ich höre gerade das Wort Drittelgang. Ich denke, wenn Sie so weitermachen, wird es in vier Jahren so sein, daß Sie noch ein wenig enger zusammenrücken dürfen. ({4}) - Warten wir es ab! ({5}) Die schrumpfen, rücken aber nicht zusammen, das stimmt. Woher Sie die Kühnheit nehmen, einer Regierung, die gerade einmal zwei Wochen im Amt ist, Vorhaltungen über angeblich nicht erfüllte Versprechungen zu machen, kann ich mir nicht erklären. ({6}) Wer nämlich in der Zeit der eigenen Regierungsverantwortung nachweislich nicht dazu in der Lage oder nicht willens war, eigene Beschlüsse in die Tat umzusetzen, sollte an dieser Stelle allemal etwas bescheidener auftreten. ({7}) - Sie sind aber nicht an meiner Stelle. ({8}) Die Wählerinnen und Wähler haben sich am 27. September dieses Jahres für ein Ende des politischen Stillstandes in unserem Land entschieden. Das gilt auch für die Innenpolitik und insbesondere für die Frage der Zukunft des Miteinanders in der Bundesrepublik Deutschland. Viel zu lange war eine Mehrheit in diesem Hause nicht dazu bereit, die Lebenswirklichkeit in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. Zu dieser Lebenswirklichkeit gehört nun einmal, daß es Millionen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern gibt, die dauerhaft in Deutschland leben, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen. Das sind Menschen, die in Deutschland arbeiten, die Steuern und Sozialabgaben zahlen und die Teil unserer Gesellschaft sind. Es muß im Interesse aller Demokraten liegen, diese Menschen besser als bisher in unser Gemeinwesen zu integrieren. ({9}) - Auf Dauer verträgt es unser Land nicht, wenn große Teile der Bevölkerung von wesentlichen Mitteln demokratischer Teilhabe ausgeschlossen bleiben und damit gewissermaßen Bürger zweiter Klasse sind. ({10}) Ich hoffe sehr und habe die große Bitte, daß wir bei der künftigen Debatte über Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht - ein Staatsbürgerschaftsrecht, das der Wirklichkeit in diesem Lande gerechter werden muß auf eines verzichten, nämlich auf die ideologische Befrachtung des Themas. ({11}) Auf jeden Fall; da haben Sie recht, Herr Westerwelle. Wer die Realität nicht wahrhaben will, tut sich selbst, vor allem aber den Menschen - allen Menschen, die in diesem Land leben - keinen Gefallen. ({12}) Wer nicht sehen will, was ist, begibt sich in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit. Jeder, der eine gedeihliche gemeinsame Zukunft der Menschen in diesem Land will, tut gut daran, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Es ist nicht eine Frage der Wahrnehmung, sondern eine Tatsache, daß es einen unumkehrbaren Zuwanderungsprozeß gegeben hat, und es ist nicht eine Frage der Wahrnehmung, sondern eine Tatsache, daß dieser Zuwanderungsprozeß Folgen hatte und hat - eine davon steht übrigens heute vor Ihnen. ({13}) Wenn wir im Koalitionsvertrag nun klare Schritte in Richtung eines modernen Staatsangehörigkeitsrechtes vereinbart haben, dann haben wir das getan, weil die Zeit reif dafür ist, im Interesse des inneren Zusammenhaltes dieses Landes endlich auch gesetzgeberisch Schlußfolgerungen aus der Realität zu ziehen. Es wäre schlicht absurd, wenn wir heute, da die Nachfahren der Einwanderer von einst bereits in dritter und vierter Generation hier heranwachsen, weiter daran festhielten, sie als Ausländer zu behandeln. Sie sind im Grunde keine Ausländer, und künftig werden sie es auch formal nicht sein. ({14}) Wir werden die Grundlage dafür schaffen, daß Kinder ausländischer Eltern mit der Geburt in Deutschland grundsätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, ({15}) unter Bedingungen, die wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Das ist ein überaus wichtiger und längst überfälliger Schritt. Zugleich wollen wir, daß unter der Voraussetzung von Unterhaltsfähigkeit und Straflosigkeit einen Einbürgerungsanspruch erhält, wer als Ausländerin oder Ausländer rechtmäßig mindestens seit acht Jahren in Deutschland lebt. Dabei wollen wir bewußt darauf verzichten, den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft von der Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft abhängig zu machen. Richard von Weizsäcker - ein Herr, auf den Sie möglicherweise hören - hat in seiner Zeit als Bundespräsident vor sechs Jahren dazu klare Worte gefunden ich zitiere ihn -: Würden wir denen, die es wünschen, den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit erleichtern, und sei es neben ihrer bisherigen, dann würden wir ihre Lebenslage verbessern und unser Zusammenleben fördern. ({16}) Genau darum geht es: die Lebenslage der Betroffenen zu verbessern und unser gemeinsames Zusammenleben zu fördern. Ich muß zum Schluß kommen. Ich habe die herzliche Bitte, daß wir in diesem Sinne gemeinsam bei den kommenden Beratungen über die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts konstruktiv zusammenarbeiten. „Die Bundesregierung wird eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vornehmen.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und F.D.P., das ist ein Satz von Ihnen, der vier Jahre alt ist. Es ist jetzt Zeit, ihn mit Leben zu erfüllen. Machen Sie mit, und lassen Sie uns die entsprechenden Beschlüsse mit großer Mehrheit fassen; denn die Sache, um die es geht, ist viel zu wichtig, als daß wir es zulassen dürfen, sie parteipolitischem Gezänk und der Kleinkariertheit anheimfallen zu lassen. Vielen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Lieber Herr Kollege Edathy, Sie haben gehört: Das Haus hat Ihnen mit Beifall zu Ihrer ersten Rede schon gratuliert. Auch ich gratuliere Ihnen; das ist hier so Brauch. Mit Ihnen möchte ich auch alle anderen Jungfernredner bitten, ein bißchen auf die Zeit zu achten. Wir sind in dieser Hinsicht ziemlich eingeschränkt. Es gibt da vorne ein Zeichen, an dem man sehen kann, daß die Zeit abgelaufen ist. ({0}) Ich erteile als nächstem Redner dem Abgeordneten Norbert Lammert das Wort.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neue Bundesregierung hat zur Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes das Amt eines Staatsministers für kulturelle Angelegenheiten als besonderen Beauftragten des Bundeskanzlers eingerichtet. ({0}) Er soll laut Regierungserklärung - ich zitiere Impulsgeber und Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein und sich auf internationaler, aber vor allem auf europäischer Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur verstehen. ({1}) Dafür gibt es durchaus beachtliche Argumente. ({2}) Die meisten sind allerdings nicht einmal neu. Bislang ist diese Ankündigung die einzige konkrete Absicht bzw. Initiative der neuen Bundesregierung in diesem Bereich geblieben. Damit verbunden ist die seit Wochen medienwirksam angekündigte dringliche Beförderung dieses Beauftragten des Bundeskanzlers zum leibhaftigen Staatsminister, die nur durch eine förmliche Änderung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre möglich ist. Daß dies der dringlichste Beitrag zur Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland sei, glauben wir allerdings nicht. ({3}) Ich möchte zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit in diesem Aufgabenbereich einige wenige orientierende Bemerkungen für meine Fraktion machen. Erstens. Wir werden an der beabsichtigten bzw. vollzogenen Neuordnung der Bundeskompetenzen im Kulturbereich konstruktiv mitarbeiten. Dies gilt selbstverständlich in besonderer Weise für den neuen Bundestagsausschuß für Kultur und Medien als parlamentarische Korrespondenz zur veränderten Kompetenzverteilung in der Exekutive. Zweitens. Wir werden nicht zuletzt den kulturpolitisch unauflöslichen Zusammenhang zwischen innerer und auswärtiger Kulturpolitik im Auge behalten, und zwar völlig unbeschadet der Ressortzuständigkeiten. Das eine kann offensichtlich nicht gänzlich losgelöst vom anderen verfolgt werden. Drittens. Wir werden jede unnötige Auseinandersetzung mit den Ländern über ihre Kulturverantwortung vermeiden. Eine Konfrontation zwischen Bund und Ländern nutzt weder dem Bund noch den Ländern, aber sie schadet Kunst und Kultur. An dieser Stelle füge ich hinzu: Den Begriff „Kulturhoheit“ verwende ich bewußt und grundsätzlich nicht. Kunst und Kultur sind weder eine hoheitliche Aufgabe des Staates, noch steht diesem die Hoheit über die Kultur zu. ({4}) Ein Staat, der diesen Anspruch erheben wollte, hätte als Kulturstaat abgedankt. ({5}) Viertens. Die kulturelle Präsenz des Bundes in Bonn wie in Berlin ist eine besondere Herausforderung, der sich Parlament wie Regierung widmen müssen. Das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat muß in der Hauptstadt noch mehr als anderswo sichtbar und erlebbar sein. Dem hat die frühere Bundesregierung unter Führung von Helmut Kohl mit der Bereitstellung von Kulturfördermitteln für Berlin in Höhe von jährlich mehr als 400 Millionen DM Rechnung getragen. Ich möchte heute schon darauf hinweisen, daß dies mehr ist, als die Regierung Schmidt zuletzt für die gesamte Kulturförderung des Bundes im Inland ausgegeben hat, und daß diese Mittel im übrigen allein ein Drittel der gesamten Fördermittel darstellen, die wir im Bereich der Kulturförderung im ganzen Land zur Verfügung haben. Deswegen weise ich darauf hin, daß von vornherein auch festgehalten werden muß, daß sich die Kulturförderung nicht auf diese beiden besonders wichtigen Aufgaben reduzieren läßt. Es gibt in der sogenannten Provinz viele herausragende Kulturstätten und Ereignisse von nationaler und von internationaler Bedeutung, die unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung in einer ähnlichen Weise verdienen. ({6}) Fünftens. In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers heißt es: Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondern unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debatte hier im Deutschen Bundestag. Diese Entscheidung wird wegen der besonderen, nicht nur kulturpolitischen Bedeutung eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Entscheidungen der neuen Legislaturperiode in diesem Bereich sein, gerade weil es beachtliche Argumente für wie gegen die bislang vorgestellten Entwürfe gibt, die wir allesamt ernst nehmen müssen. ({7}) Die Ankündigung des Bundeskanzlers, daß die gesuchte „würdige Lösung ... in ein Gesamtkonzept für die Gedenkstätten in Deutschland eingebettet“ werden muß - was ich persönlich nicht für zwingend halte -, macht diese Entscheidung nicht leichter, zumal sie das Risiko einer weiteren Vertagung überfälliger Beschlüsse erhöht. Schon gar nicht glaube ich, daß dies ein Ort sein muß, zu dem man gerne hingeht. Es gibt aber kein überzeugendes Argument dafür, vor der Schwierigkeit der Aufgabe zu kapitulieren. Der angemessene Ort für die notwendige Entscheidung ist der Deutsche Bundestag. ({8}) Sechstens. Die ungewöhnlich lange Amtszeit von Bundeskanzler Kohl war auch eine Zeit ungewöhnlichen kulturpolitischen Engagements des Bundes. ({9}) - Wir kommen auf den Sachverhalt zurück. ({10}) Ich sage Ihnen voraus, daß die Vergnüglichkeit beim Vergleich der einen mit der anderen Zahl von Monat zu Monat rapide zurückgehen wird. Diese Zeit eines ungewöhnlichen kulturpolitischen Engagements des Bundes ist trotz vieler herausragender Einzelbeiträge nicht immer auffällig gewesen; aber dieses Engagement war beispielhaft und hat Maßstäbe für die Zukunft gesetzt. Dazu gehören in Bonn das Haus der Geschichte und die Kunst- und Ausstellungshalle des Bundes. Dazu gehört in Berlin das Deutsche Historische Museum, nicht zuletzt auch die Neugestaltung der Neuen Wache. Insgesamt haben sich die Aufwendungen des Bundes für Kunst und Kultur in der Amtszeit von Helmut Kohl verdreifacht. Zur Erhaltung gefährdeter kultureller Substanz in den neuen Ländern und zur Modernisierung der notwendigen Infrastruktur für kulturelle Bildung sind allein zwischen 1991 und 1994 über 3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt worden. Wir werden darauf achten, daß dies so bleibt oder wenigstens nicht die Auffälligkeit der Inszenierung stärker und die Förderung geringer wird. ({11}) Siebtens. Wir werden allen Versuchen und Versuchungen widerstehen und entgegentreten, die Breitenkultur und die künstlerische Avantgarde in Literatur, bildender Kunst, Schauspiel, Tanz und Musik gegeneinander auszuspielen. ({12}) Das eine ist so unverzichtbar wie das andere. Sowohl das eine als auch das andere haben Anspruch auf Respekt und Förderung. Dabei sind allerdings die höchst unterschiedlichen Voraussetzungen zu berücksichtigen bzw. gegebenenfalls zu schaffen, die kulturelle und künstlerische Entwicklung in dem einen wie in dem anderen Bereich erlauben. Achtens. Auch die Medien - die alten wie die neuen - sind nicht nur ein wesentlicher Faktor wirtschaftlicher Entwicklung, sondern tragen bewußt oder unbewußt erheblich zur kulturellen Entwicklung und zur gesellschaftlichen Identität bei. ({13}) Der vor wenigen Tagen verstorbene bedeutende deutsche Soziologe Niklas Luhmann hat in seinen zahlreichen Studien immer wieder darauf hingewiesen, daß Presse und elektronische Medien lediglich das vermitteln, was die Gesellschaft als Realität annehme. Damit müssen wir uns noch mehr als bisher auseinandersetzen: Die Wirklichkeit wird über die Medien wahrgenommen - einschließlich der Annahme, daß das, was die Medien vermitteln, die Wirklichkeit sei. Abschließend lassen Sie mich sagen: Der Zweck der Kulturpolitik ist Kultur, nicht Politik. ({14}) Dieser Anspruch ist leichter zu formulieren als umzusetzen, aber an diesem Anspruch wollen wir uns und andere messen lassen. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Beauftragte der Bundesregierung für Kunst, Kultur und Medien, Michael Naumann. Dr. Michael Naumann, Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Lammert, ich freue mich, in Ihnen einen Bündnispartner gefunden zu haben. Ich stehe allerdings auch nicht an, darauf hinzuweisen, daß ich den Ruf nach einer Debatte, um zu einer Entscheidung über das Holocaust-Mahnmal zu kommen, jahrelang vermißt habe. Aber er gehört in der Tat hierher. Der Bundestag hat zum erstenmal in seiner Geschichte einen Kulturausschuß eingerichtet. Er hat dies getan, weil dem Bund im Laufe der Jahre eine Fülle kulturpolitischer Aufgaben zumal im außenpolitischen und, wenn Sie so wollen, im innereuropäischen Raum zugewachsen ist. Ihren Lösungen kann größere parlamentarische Kontrolle und Öffentlichkeit nur gut bekommen. Meine Mitarbeiter und ich freuen uns auf die Zusammenarbeit. Das Parlament ist der repräsentative Souverän. Darum ist es richtig, daß in einer symbolisch so wesentlichen Frage wie derjenigen des geplanten HolocaustMahnmals die Abgeordneten des deutschen Volkes das letzte Wort haben. ({1}) Alle diejenigen, die eine feste Meinung in dieser ernsten Angelegenheit hegen, bitte ich, sich mit moralischen Urteilen über jene zurückzuhalten, die unentschieden oder anderer Überzeugung sind. ({2}) Zur Debatte steht auch nicht das Gedenken an den millionenfachen Mord an Europas Juden, sondern vielmehr der ästhetische Gestus der Erinnerung an seine Unbeschreiblichkeit. Eiferndes Insistieren auf eigenen Positionen ist der Sache nicht angemessen. Es gibt kein Monopol des Trauerns oder des korrekten Gedenkens. Wohl aber gibt es die Pflicht, nie zu vergessen, was Furchtbares einmal geschehen ist. ({3}) Die verblendete Machtentfaltung Deutschlands hat zweimal schweres Unglück über unser Land, über Europa, über die ganze Welt gebracht. Die Hoffnung mancher Künstler und Dichter, der Schauspieler, Regisseure und Komponisten, ein schöpferisches Leben in - mit Thomas Mann gesprochen - „machtgeschützter Innerlichkeit“ zu führen, wurde mißbraucht, betrogen und als vordemokratische Illusion entlarvt. Kein Zweifel, daß bedeutende Köpfe deutscher Kultur, daß Philosophen, Künstler und Autoren über Jahrzehnte hinweg an dem folgenschweren Werk der nationalen Selbstblendung ihren Anteil hatten. Deutsche Politikgeschichte ist immer auch deutsche Kulturgeschichte mit all ihren Brüchen und dunklen Epochen. Weil diese Dekulturationsphasen deutscher Geschichte so eng mit machtbesessenem, politischem Zentralismus, mit den Herrschaftsträumen von Diktaturen verbunden sind, können die Segnungen unseres kulturellen und politischen Föderalismus nicht laut genug gepriesen werden. ({4}) Dieser Föderalismus ist das Signum unserer Kulturpolitik und wird es selbstverständlich auch unter dieser Regierung bleiben. ({5}) Wenn wir unter Kultur nicht mehr, aber auch nicht weniger verstehen als den Spiegel, den wir uns selbst vorhalten, um zu verstehen, wer wir sind, was wir können, wohin wir wollen, so wissen wir auch, daß dieser Spiegel stumpfe Stellen aufweist. Doch blind ist er nicht. Kultur ist niemals das Kraftzentrum sogenannter nationaler Normalität. Vielmehr ist sie der Name für alle Formen von Zweifel, von kritischer Überwindung des jeweils Normalen, der Name für geistige Innovation, für satirisches Gelächter - auch in diesem Haus -, für intellektuelle Herausforderungen, aber doch auch für Trost, für Entspannung und für alle Formen jener bisweilen diskriminierten Unterhaltung, deren Preis ja nicht automatisch Verdummung heißen muß. In einem Satz: Kultur ist die schönste Form politischer Freiheit in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft. ({6}) Nicht nur wir Sozialdemokraten wissen, daß ein Land an seiner Seele Schaden nähme, lebte es wohlbehütet für die Mehrung seines Wohlstands allein. Politik ohne Kultur ist unfrei, sprachlos und ohne Sinn. ({7}) Kultur ist auch kein Standortfaktor, wie es uns der neue Sprachgebrauch weismachen will. Vielmehr sind es die Künste, die unser Leben aus dem Werktagsland der Notwendigkeit hinausführen können. Das richtige Leben werden wir jedenfalls nicht auf unseren Kontoauszügen entdecken können. Doch niemand wird behaupten, daß es sich in einem Land voller sozialer Probleme und wirtschaftlicher Ängste unbeschädigt entfalten könnte. Die Bundesregierung hat die mannigfachen Aufgaben ihrer eigenen Kultur- und Medienpolitik im Namen von Effektivität und Transparenz gebündelt, nicht um in Konkurrenz zur Kulturhoheit der Länder und Kommunen - das ist inzwischen ein Verfassungsbegriff, Herr Lammert; ich teile aber völlig Ihre Meinung, daß der Begriff der Hoheit aus der Barockzeit stammt - zu treten, sondern - im Gegenteil - um sie dort zu stärken, wo es möglich ist. ({8}) Mit Nachdruck werden wir uns für eine Neuorganisation der Kulturförderung Berlins einsetzen. Wir werden auch die guten Versprechen der vorherigen Regierung einlösen, die kulturellen Einrichtungen der Bundesstadt Bonn zu fördern in Dankbarkeit für ihre unvergleichliche Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte ({9}) und in Respekt - das lassen Sie einen Kölner sagen vor der großen kulturellen Tradition der Region. ({10}) Seit mehr als einem Jahr diskutieren wir nun in Deutschland die Silhouette der zukünftigen Berliner Republik. Noch ist es eine Silhouette, auch von jenen hochgehalten, die gerne die Gefahren eines autoritären Zentralismus beschwören, weil sie sich so gerne gruseln wollen. Für die Kulturpolitik unserer Regierung umkreist dieser Begriff die Hoffnung auf ein Hauptstadtleben, das bereits heute in seiner Vielfalt von Museen, Theatern, Galerien, Opern, Orchestern, freien Bühnen und einer sehr kreativen Off-Szene ebenso ungewöhnlich wie repräsentativ für Deutschlands kulturelles Selbstverständnis ist. Berlin braucht, um seine kulturelle Vielfalt auszuleben, den Umzug nicht. Das ist auch ohne uns möglich. ({11}) Berlin war stets eine Stadt gleichsam transitorischer Kultur. Hier trafen und treffen sich die Künstler Ostund Westeuropas. Hier stellt sich Deutschland dem Ausland vor - und umgekehrt. Wir werden die vertraglich festgelegte Unterstützung kultureller Einrichtungen Berlins durch die Gewährung von Bundesmitteln fortsetzen und diese im nächsten Haushaltsjahr verdoppeln. Berlin ist der Sitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie ist ein Kronjuwel bundesdeutscher Kulturförderung. Unter neuer Leitung wird sie die Herausforderung einer wohl nötigen internen organisatorischen Modernisierung annehmen. Alle Kulturpolitik handelt direkt oder indirekt vom Erinnern. Ein Land, das sich täglich neu erfinden will, wird sich schnell selbst vergessen. Wir wollen die Vorstellungen des Deutschen Bundestages zur Pflege von Gedenkstätten ernst nehmen. Dies umfaßt neben ehemaligen Konzentrationslagern auch die Pflege der sowjetischen Ehrenmale und Soldatenfriedhöfe. ({12}) Dazu hat sich die Bundesrepublik vertraglich verpflichtet. Die Menschen, die dort liegen, wollten nicht in Deutschland sterben. Der Vorwurf einer sanften Kolonialisierung, der dem Westen Deutschlands aus den neuen Ländern entgegenweht, ist ernst zu nehmen. Mit der gebotenen Zurückhaltung, aber auch mit dem notwendigen finanziellen Aufwand wird die Bundesregierung das kulturpolitische Engagement jener Region Deutschlands verstärken, in der über Jahrhunderte hinweg zum Beispiel unser bestes musikalisches Erbe gepflegt wurde und in der sich trotz totalitärer Kulturkontrolle - über mehr als 50 Jahre hinweg eine widerstandsfähige, kraftvolle Musik, Kunst und Dichtung entwickelten. ({13}) Weimar mag für manchen ein angestaubter deutscher Goethe-Mythos sein. Aber hinter allem historischen Mißbrauch - und den gab es im Dritten Reich - leuchtet doch die Wahrheit auf, daß in diesem Städtchen die schönste deutsche Prosa und die leichteste Lyrik entstanden. ({14}) Als europäische Kulturhauptstadt 1999 wollen wir Weimar feiern und verstehen und seine stadtgewordene Literaturgeschichte neu lieben lernen. ({15}) Bundesbeauftragter Dr. Michael Naumann Mit dem Außenminister sind wir uns einig, daß ich im Ministerrat für Kultur und Medien der Europäischen Union in enger Kooperation mit den Ländern - das versteht sich von selbst - die deutsche Verhandlungsführung übernehmen werde. Wir wollen dort in kulturpolitischen Angelegenheiten mit einer Stimme sprechen - und bisweilen auch fechten -, zum Beispiel in den Bereichen europäische Filmförderung und Medienpolitik. ({16}) Die Bundesregierung weiß, daß die europäische Idee nicht in einer gemeinsamen Währung kulminiert, sondern in einer besseren Kenntnis unserer vielfältigen nationalen Kulturen verwirklicht wird, in einem niemals abgeschlossenen Prozeß. ({17}) Dieser Prozeß sollte geprägt sein von Neugier, Toleranz und darin begründeter Friedfertigkeit. ({18}) Meine Damen und Herren, Europa ist keine Utopie mehr. Freilich gilt es auch, ganz enorme eurozentralistische, bürokratische Zumutungen abzuwehren. Die Qualität des deutschen Buch- und Verlagsgewerbes ist einmalig auf der Welt. Es muß vor den Anfechtungen einer entfesselten Marktwirtschaft geschützt werden. ({19}) Dasselbe gilt nicht nur für die sogenannte Buchindustrie, sondern auch für die, die sie tragen, nämlich für die Autorinnen und Autoren dieses Landes. ({20}) Diese Regierung verteidigt im Hinblick auf den Maastrichter Vertrag aus kulturellen Gründen - nicht aus kommerziellen Gründen - den gebundenen Ladenpreis. ({21}) Von daher ist es übrigens gut, einen ehemaligen Buchhändler als Außenminister an seiner Seite zu wissen, wenn er auch gerade irgendwo sitzt und liest. ({22}) So wie der Buchhandel, die Bibliotheken und die Verlage das Nervensystem unseres Geisteslebens bilden, so sind die Medien unsere Augen. Was sie sehen, aber auch, was sie nicht sehen, bestimmt fast unmittelbar unser Bewußtsein. Hüten wir uns vor Kommunikationsmonopolen! ({23}) Die Erhaltung der grundgesetzlich garantierten Kunst-, Informations- und Meinungsfreiheit sollte unsere Arbeit bestimmen. ({24}) Vor uns liegen gesetzgeberische Initiativen von der die Kultur fördernden Reform des Spenden- und Stiftungsrechts bis hin zu einer Regelung der offenen Fragen um die sogenannte Beutekunst. Die Bundesregierung plant, eine Stiftung „Künstler und Autoren im Exil“ ins Leben zu rufen. ({25}) Wir wollen bedrängten Autoren, Malern, und Komponisten, Regisseuren und Schauspielern in Zusammenarbeit mit Amnesty International und Writers in Prison eine sichere Bleibe hier für eine Frist von mindestens einem Jahr ermöglichen. Dies tun wir auch in dankbarer Erinnerung an jene Nationen, an der Spitze England, die Niederlande, Frankreich und die Vereinigten Staaten, die in diesem Jahrhundert verfolgten deutschen Künstlern Asyl gewährten. ({26}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. Ich bin während des Wahlkampfs immer wieder nach meiner Vision gefragt worden. Ich habe stets geantwortet, daß sich unser Land vor Kulturpolitikern mit Visionen hüten möge, da jene dazu neigen, sie alsbald verwirklichen zu wollen. ({27}) Nichts entspräche meinem Kulturverständnis weniger als die Vorstellung eines Politikers - und säße er im Kanzleramt - mit absolutem Geschmack. Wehe uns, wenn er ihn durchsetzen will! ({28}) Unser aller Aufgabe ist es, auf Bundes- und Landesebene sowie auf kommunaler Ebene dem kraftvollen vielfältigen, dem respektlosen frechen, dem dokumentierenden, dem bewahrenden, aber auch dem umstürzenden, dem phantasievollen und komödiantischen Kulturleben Deutschlands den finanziellen und gesetzlichen Schutz zu gewähren, den es benötigt. ({29}) Diese Koalition hat den kulturpolitischen Auftrag, den die Wähler ihr ganz offensichtlich erteilt haben, angenommen. Ich wünschte mir, er würde auch von der Opposition akzeptiert. Ich danke Ihnen. ({30})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Naumann, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren; das haben wir faktisch bereits getan. ({0}) Bundesbeauftragter Dr. Michael Naumann Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Cem Özdemir das Wort.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine spannende Debatte zur Innen- und Rechtspolitik. Sie haben viele Ziele, die sich die neue Koalition vorgenommen hat, gehört, unter anderem das Ziel, bei der Informationsfreiheit den preußischen Obrigkeitsstaat hinter uns zu lassen und die Demokratie in der Politik nicht darauf zu beschränken, daß man alle vier Jahre ein Kreuzchen an der richtigen oder an der falschen Stelle macht und im übrigen die Vorturner in der Politik aus dem Fernsehsessel verfolgt. Wir wollen den mündigen Bürger, dessen Meinung auch zwischen den Wahlterminen gefragt ist. Seine Mitwirkung liegt uns sehr am Herzen, und deshalb freue ich mich darüber, daß diese Koalition Volksabstimmungen und Volksbefragungen in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen hat. Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, daß wir in dieser Frage auf Ihre Unterstützung angewiesen sind, weil das Grundgesetz dafür geändert werden muß. Ich hoffe, daß wir dies gemeinsam tun. Ich glaube nämlich, daß es unser aller Anliegen sein muß, die Politikverdrossenheit - das Gefühl vieler Menschen in der Bevölkerung, daß man in der Politik nicht mitwirken, nicht mitgestalten kann, daß der Bürger nicht gefragt ist - zu bekämpfen. Ich appelliere an Sie, die Grundgesetzänderung zusammen mit uns zu bewerkstelligen, damit wir mehr Elemente direkter Demokratie durchsetzen können. Wir müssen die Bürgermeinung auf allen Ebenen stärker miteinbeziehen. ({0}) Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, der heute in der Diskussion eine wichtige Rolle gespielt hat - die Opposition hat das heftig attackiert -: die Frage des Staatsbürgerschaftsrechtes. Ich möchte, bevor ich meine Meinung dazu sage, etwas zitieren: Das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland muß grundlegend novelliert werden. Der Grundsatz der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit muß in den Fällen, in denen das Gesetz Rechtsansprüche auf Einbürgerung einräumt, aufgegeben werden. Außerdem muß das Recht auf Erwerb der Staatsangehörigkeit für hier geborene Ausländer der zweiten und folgenden Generation verankert werden. Sie werden sich fragen, von wem dieses subversive Gedankengut stammt. Ich kann es Ihnen sagen: von der F.D.P. ({1}) Das ist das F.D.P.-Programm des Jahres 1994. Genau das, was Sie dort gesagt haben, wird diese Koalition verwirklichen. In einem Punkt gehen wir nicht einmal so weit, wie Sie es damals gefordert haben. Sie wissen, wir haben uns da nicht durchsetzen können. Was das Geburtsrecht, das die zweite Generation automatisch bekommt, angeht, haben wir einen Kompromiß gefunden. Deswegen bin ich mir sehr sicher, daß die F.D.P. in dieser Frage zustimmen wird und daß sie sich nicht hinter das Argument flüchten wird, daß die Optionslösung darin nicht enthalten ist. Die Optionslösung, das wissen Sie, Kollege Westerwelle, war der Versuch eines Kompromisses, der nicht zustande kam, weil die Union nicht mitgemacht hat. Ihre ursprüngliche Position war dieselbe, wie wir sie haben: Das ist die Einführung des Geburtsrechtes, ist die Verkürzung der Fristen. Diese Koalition wird das machen. ({2}) Sie können beweisen, ob Sie nur Luftblasen verbreitet haben oder ob es Ihnen wirklich um die Sache geht. Diese Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat eine gute Nachricht für alle Sportfans, eine gute Nachricht für alle Fußballfans. Bei uns werden zukünftig die JJs, die Giovannis, die Mullahs und die Mustafas in der deutschen Nationalmannschaft für Deutschland hoffentlich Tore schießen. Wir werden aufhören mit dem Unsinn, daß Kinder, die bei uns geboren sind, nur deshalb, weil ihre Eltern woanders herkommen, nicht in der deutschen Nationalmannschaft spielen, sondern in der holländischen, in der türkischen oder sonstwo. Zukünftig werden sie mit unserem Staatsangehörigkeitsrecht in unserer Nationalmannschaft spielen. ({3}) Das sollte Sie, wenn Sie Sportsfreunde sind wie wir, bewegen, daß Sie sich gemeinsam mit uns darüber freuen. Das kann dem deutschen Fußball nur guttun, wenn wir uns die WM in Erinnerung rufen. Auch deswegen ist es überfällig, daß wir das neue Staatsangehörigkeitsrecht bekommen. ({4}) Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Argument eingehen, das in der Debatte eine wichtige Rolle gespielt hat. Verschiedentlich wurde von den Kollegen von der Union die Frage angesprochen, warum denn Kinder, wenn sie hier geboren sind, automatisch den Paß bekommen sollen, ohne gefragt zu werden. Ich sage Ihnen: Es war Absicht, daß wir das gemacht haben. Wir haben lange darüber debattiert, ob wir diesen Punkt mit hineinnehmen wollen. Ich will Ihnen nun das Argument nennen. Ich glaube, Sie werden dann verstehen, warum wir das gemacht haben. Stellen Sie sich einmal den Fall vor, den Sie zitiert haben. Der fundamentalistische Vater sagt: Meine Tochter soll keinen deutschen Paß bekommen, wer weiß, auf welche dummen Ideen sie kommt. - Genau um diese Fälle geht es uns. Diese Tochter muß den deutschen Paß bekommen. Wenn sie hier geboren ist, gehört sie zu unserer Gesellschaft dazu - und das vielleicht auch im Konflikt mit ihren Eltern. ({5}) Vizepräsident Dr. Antje Vollmer Das Kindeswohl und das Interesse dieser Gesellschaft, unserer Gesellschaft ist manchmal wichtiger als das Interesse mancher Eltern. Gerade wir als rotgrüne Regierung können deshalb mit um so mehr Glaubwürdigkeit sagen: Integration ist keine Einbahnstraße. Zur Integration gehört das, was wir machen werden: das neue Staatsangehörigkeitsrecht. Weiterhin gehört aber auch dazu, daß dieses Gesetz auch angenommen wird, daß Gebrauch von der Einbürgerung gemacht wird, daß sich die Migrantinnen und Migranten - ich rede vor allem von der zweiten und der dritten Generation - stärker um die deutsche Sprache bemühen. Hier werden wir Angebote machen. Diese Angebote müssen aber auch angenommen werden. Wir werden aber auch eines klarmachen. Der Kalif von Köln, beispielsweise der Herr Kapplan, der nicht nur uns Sorgen macht, sondern auch vielen Muslimen in dieser Gesellschaft Ängste bereitet, wird nicht mit der Toleranz dieser Regierung rechnen können. ({6}) Wer hier Extremismus und Terrorismus betreibt oder von deutschem Boden aus fremde Länder, zum Beispiel die Türkei, bedroht, wie das die PKK und andere Organisationen machen, der muß wissen, daß wir die Einhaltung der Gesetze dieser Republik für alle einfordern werden. Deswegen glaube ich, daß wir mit mehr Glaubwürdigkeit auf die Nichtdeutschen werden zugehen können. ({7}) Lassen Sie mich, weil meine Redezeit fast abgelaufen ist, zum Schluß noch auf einen Punkt eingehen, der in dieser Koalitionsvereinbarung eine wichtige Rolle spielt. Ich glaube, daß dieser Punkt das Gesicht dieser Republik nachhaltig verändern wird, und zwar zum Positiven verändern wird. Wir müssen auch in der Drogenpolitik dringend einen Paradigmenwechsel hinbekommen. Wir müssen zum Ziel haben, daß die Zahl der Drogentoten abnimmt. Jedes Jahr muß sich der Minister hier hinstellen können und sagen können: dieses Jahr haben wir weniger Drogentote als letztes Jahr. Das muß das Ziel der Bundesregierung sein. Wir gehen davon aus, daß Drogenabhängige kranke Menschen sind. Das sind für uns keine Straftäter. Wir müssen mit diesen Menschen umgehen wie mit kranken Menschen. Darum werden wir auch hier die Politik der Regierung ändern. Wir werden das, was Ihre Kommunalpolitiker, was viele Polizeipräsidenten seit Jahren gefordert haben und zum Teil praktizieren, endlich legalisieren. Mit uns wird es Gesundheitsräume geben. Wir werden die Drogenabhängigen von der Straße holen. Wir werden dafür sorgen, daß die Beschaffungskriminalität zurückgeht. Das heißt, das Sicherheitsbedürfnis der Bürger wird ernstgenommen. Auf der anderen Seite werden wir dazu beitragen, daß Kriminalität, daß organisierte Kriminalität in Form des Drogenhandels massiver bekämpft wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was das britische Oberhaus, die Lords mit den weißen Perücken, sicherlich nicht mit Cannabisnebel umschwebt, beschlossen hat, sollte auch uns recht und billig sein. Das britische Oberhaus hat beschlossen, daß Cannabis dort, wo es dazu dient, zur Schmerztherapie eingesetzt zu werden, legalisiert wird. Ich glaube, auch uns würde ein solcher Beschluß gut zu Gesicht stehen. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler. ({0}) - Das stimmt. Sie hatten sich vorhin zu einer Kurzintervention gemeldet. - Sie kommen danach an die Reihe, Frau Kenzler. - Bitte!

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will ganz kurz darauf erwidern, weil Sie uns in bezug auf die Wahlaussage des Jahres 1994 angesprochen haben. Es gibt auch noch eine Wahlaussage von 1990 und eine von 1987. Ich kenne sie. Ich empfehle Ihnen die Wahlaussage des Jahres 1998. Denn die Abgeordneten der Freien Demokratischen Partei, die hier sitzen, haben diese Wahlaussage als Geschäftsgrundlage den Wählerinnen und Wählern angeboten, die uns gewählt haben. Das sind etwas mehr als 3 Millionen gewesen. Darin können Sie ziemlich klar lesen, wie wir das sehen, indem wir nämlich sagen: Zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr müssen sich die Jugendlichen endgültig für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Ich finde, wir sollten uns auf der Grundlage der geltenden Programme unterhalten. Wir haben nämlich auch, wie wahrscheinlich bei jedem hier - diese Diskussion gab es auch in der Union; wir erinnern uns der gemeinsamen Gespräche mit den sogenannten jungen Wilden in der letzten Legislaturperiode - ({0}) - Ich sage „sogenannt“, weil ich persönlich der Meinung bin, daß man mit 40 nicht mehr als jung durchgeht. Das gilt für alle. ({1}) Mit 36 auch nicht mehr. Da brauchst du keine Angst zu haben. Aber noch einmal im Ernst: Ich glaube, das ist genau der Punkt: Wir sollten auch sehen, was sich hier getan hat. Das Problem ist: Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall für alle verlangt eben dann keine bewußte Integrationsentscheidung der Betroffenen. Diese bewußte Integrationsentscheidung der Betroffenen wollen wir. Wir wollen uns an beide Seiten wenden. Die deutsche Gesellschaft sagt jenen, die hier geboren sind: Ihr gehört dazu. Wir wollen euch integriert sehen. Aber wir erwarten umgekehrt auch, daß die andere Seite sich mit einer bewußten Integrationsentscheidung in unsere Gesellschaft begibt. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Özdemir.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich glaube, die jungen Wilden in der Union sind früh gealtert, aber das tut nichts zur Sache. ({0}) Ich bestreite nicht, daß es bei der doppelten Staatsbürgerschaft sicherlich ein Vermittlungsproblem in der Gesellschaft gibt. Ich glaube, es ist das größte im ganzen Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts. Es gibt Umfragen in der Bevölkerung, die besagen, daß das Geburtsrecht von einem großen Teil der Bevölkerung akzeptiert wird und daß auch die Verkürzung der Fristen von einem sehr großen Teil der Bevölkerung akzeptiert wird. Bei der doppelten Staatsbürgerschaft - das will ich Ihnen gerne zugestehen - haben viele das Gefühl, daß Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft mehr Rechte bekommen als ein Deutscher. Das muß man ernst nehmen, da muß man argumentieren. Ich glaube aber, man kann auch argumentieren. Viele glauben oder gehen davon aus, daß ein Doppelstaatsbürger sich hier bestimmten Dingen entziehen kann. Dem ist aber nicht so. Das muß man in aller Deutlichkeit klarmachen. Wer hier Doppelstaatsbürger ist, ist vor deutschen Gerichten deutscher Staatsbürger. ({1}) Er ist hier wehrpflichtig, er ist schulpflichtig, für ihn gelten alle Bestimmungen dieser Republik. Ich nenne jetzt einmal einen Punkt, der in der Öffentlichkeit gar nicht diskutiert wird: Er hat deswegen sogar praktische Nachteile. Wenn Sie einmal mit Richtern sprechen, werden sie Ihnen sagen: Bisher mußte sich der deutsche Richter beim Fall eines türkischen Staatsbürgers, der sich hier scheiden lassen will, in das türkische Scheidungsrecht einarbeiten und muß die Ehe dieses Mannes nach türkischem Recht scheiden. Wenn ich türkischer Mann wäre und mich scheiden lassen wollte, würde ich das türkische Scheidungsrecht bevorzugen. Er wird sich aber zukünftig als deutscher Staatsbürger - Gott sei Dank, sage ich und unterstreiche das - nach deutschem Scheidungsrecht scheiden lassen müssen. Es gibt also auch durchaus viele Nachteile für Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Für uns gilt: Wer die doppelte Staatsbürgerschaft hat, wer den deutschen Paß hat, der ist Bürger unseres Landes und unterliegt unseren Gesetzen. Zum Schluß noch ein Satz. Es war die Ausländerbeauftragte der vorherigen Regierung, Frau SchmalzJacobsen, die gesagt hat: Wir haben 1,8 Millionen Doppelstaatsbürger. Sie hat auch gesagt, um welche Gruppen es sich handelt. Der größte Teil davon sind Deutsche, die Aussiedler, die aus Kasachstan, aus Rußland zu uns kommen. Der zweitgrößte Teil entfällt auf binationale Ehen. Jede sechste neu geschlossene Ehe in Deutschland ist eine binationale. Ich kenne viele in unseren Reihen, die in einer binationalen Ehe leben und die mir nach jeder Rede sagen: Herr Özdemir, wir wissen selber, daß wir in dieser Frage Quatsch erzählen, der mit der Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Deshalb sollten wir das etwas niedriger hängen. Ich glaube, die Geschichte wird uns recht geben. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat die Abgeordnete Evelyn Kenzler das Wort. ({0}) Ich bitte um Ruhe, damit die Kollegin - es ist ihre erste Rede - zu Wort kommen kann.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn auch weder die Koalitionsvereinbarung noch die Regierungserklärung ein in sich geschlossenes, konsequentes Reformpaket auf rechtspolitischem Gebiet erkennen lassen, sind zumindest jedoch im Vergleich zur vorherigen Wahlperiode mehrere Projekte, so zum Beispiel im Bereich der Justiz, der Volksgesetzgebung auf Grundgesetzebene, im Arbeits- und Mietrecht, erkennbar. Ob es sich hierbei jedoch tatsächlich um Reformen handeln wird, ist nicht in erster Linie vom Umfang, sondern vielmehr vom Inhalt abhängig. Eine Strafrechtsreform, die die Law-andorder-Politik der Vergangenheit einfach weiterschreibt und die Rechte von Beschuldigten wie von Verteidigern abbaut, oder eine Justizreform, die einseitig zu Lasten der Normadressaten geht und das Berufungsrecht stark einschränkt, wird die PDS keinesfalls mittragen. Wir werden die neue Justizministerin mit ihren vor der Wahl und auch heute gemachten Aussagen, daß sie der Rechtspolitik endlich wieder eine eigenständige Bedeutung beimessen sowie mittels des Rechts und auf rechtsförmigem Wege soziale, demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze mit Leben erfüllen will, sehr genau beim Wort nehmen. Ein, wie es Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ unlängst ausdrückte, Versickern der Rechtspolitik als ausschließlich rechtsformaler Erfüllungsgehilfin anderer Politikressorts darf es nicht geben. Die PDSFraktion wird sich deshalb für eine Demokratisierung des Straf- und Strafverfahrensrechts, gegen eine weitere Grundrechtsaushöhlung, für deren Ausbau, für eine umfassende Volksgesetzgebung im Grundgesetz, für eine Reform der Justiz unter Beachtung der vorgenannten Maßstäbe, für mieterfreundlichere Regelungen, aber auch - und das nicht an letzter Stelle - für eine unverzügliche Beendigung der noch immer bestehenden Schlechterstellung der ostdeutschen Bevölkerung auf einigen Rechtsgebieten vehement einsetzen. ({0}) Mit einigem Wohlgefallen - nicht mit Genugtuung konnte ich der Regierungserklärung entnehmen, daß außergerichtliche Konfliktregulierungsmodelle, ein dreistufiger Gerichtsaufbau und die Umsetzung der Forderung nach größerer Verständlichkeit und Überschaubarkeit des Rechts auf den Weg gebracht werden sollen. Das sind Punkte, die ostdeutsche Juristen seit Jahren als positive Erfahrungen ihres Berufslebens in der DDR in die Reformdebatte des bundesdeutschen Rechts einbringen. ({1}) Herr Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungserklärung am Dienstag mehrfach bekundet, daß er die innere Einheit Deutschlands voranbringen will. Ohne jedoch die juristische Benachteiligung der Ostdeutschen vor allem auf den Gebieten des Rentenrechts, des Grundstückseigentums und des Strafrechts zu beseitigen - das ist längst überfällig -, wird es eine solche Einheit auf absehbare Zeit nicht geben. ({2}) Vergebens haben auch die Wähler der SPD in den neuen Bundesländern in den vergangenen Wochen, seit der Wahl, auf Aussagen zu mehr Rechtssicherheit von Grundstückseigentümern und -nutzern, auf zumindest ein Einfrieren der überhöhten Nutzungsentgelte, auf eine Schließung der Versorgungslücken, auf eine Abschaffung des unseligen Rentenstrafrechts und auf eine Beendigung der politischen Strafverfolgung gewartet. ({3}) Wo sind hier die Stimmen der 57 SPD-Abgeordneten aus den neuen Bundesländern? Wo bleiben die berechtigten Interessen der ostdeutschen Grundstücksnutzer und -eigentümer? Wo bleibt das Signal, dem Mißbrauch des Sozialrechts im Rentenbereich ein Ende zu machen und das bewährte Prinzip politischer Wertneutralität auf diesem Gebiet einzuhalten? Wo bleibt das Signal der längst überfälligen Versöhnung auf strafrechtlichem Gebiet? So wie es kein Zeichen gibt, die Benachteiligung im Renten- und Grundstücksrecht zu beenden, so gibt es bisher leider auch keinen Hinweis, etwa zum 50. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes die nach der Vereinigung in Gang gesetzte politische Strafverfolgung zu beenden. Hören Sie, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, auf die klugen Äußerungen Ihres Parteikollegen Egon Bahr, daß der Versuch, Geschichte durch Gerichte aufarbeiten zu wollen, nicht zum Ziel führen kann. ({4}) Die PDS wird nicht zusehen, wenn auch nach dem Regierungswechsel weiterhin vor allem die DDRGeneration mit diffizilen rechtlichen Methoden bestraft wird, die ihre überwiegende Lebensleistung in der DDR erbracht und die schwere Hypothek des Nationalsozialismus abgetragen hat. Sie haben jetzt die Chance, dieser rechtsstaatswidrigen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Verspielen Sie sie nicht wie die Regierungskoalition vor Ihnen! Danke. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, auch Ihnen möchte ich - es gibt viele, bei denen das heute der Fall ist - zu Ihrer ersten Rede gratulieren. ({0}) Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/26 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zum Themenbereich Bildung, Wissenschaft und Forschung. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gerhard Friedrich.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst die Gelegenheit nutzen, Frau Bundesministerin Bulmahn herzlich zur Berufung ins Bundeskabinett zu gratulieren. ({0}) Frau Kollegin Bulmahn hat sich lange im Bereich von Bildung und Forschung engagiert. Wir wissen, daß uns in unseren Auffassungen einiges trennt; wir wissen aber auch, daß es Gemeinsamkeiten gibt. Deshalb haben wir uns vorgenommen, mit Ihnen, Frau Bundesministerin, konstruktiv zusammenzuarbeiten. ({1}) Ich kann Ihnen bei dieser ersten Debatte über unser gemeinsames Thema allerdings nicht nur gratulieren; denn man hat Ihrem Ressort leider einige wichtige Kompetenzen genommen. Ich finde es schon schade, daß der Bildungs-, vor allem aber der Forschungsteil des Ministeriums herangezogen wurden, um die Plünderung des Wirtschaftsministeriums durch den Bundesfinanzminister wieder einigermaßen auszugleichen. Meine Damen und Herren, trotz der jetzt nicht mehr so weitreichenden Kompetenzen spielt dieses Ministerium eine große Rolle bei der Sicherung des Wohlstandes in unserem Land. Wenn wir auf die letzten Jahrzehnte zurückschauen, dann können wir feststellen, daß es uns lange Zeit, über Jahrzehnte hinweg, möglich war, für überlegene technische Produkte, die wir auf dem Weltmarkt angeboten haben, höhere Preise durchzusetzen. Was neu ist: Andere sind technisch besser geworden, haben uns eingeholt ({2}) und leider Gottes - Kollege Tauss, darin werden wir uns einig sein - in einigen Spitzentechnologien auch überDr. Evelyn Kenzler holt. Deshalb stehen wir in einem harten Preiswettbewerb. Die exportierende Industrie hat reagiert, hat hart rationalisiert. Leider bedeutet dies nicht nur eine Steigerung des Umsatzes, sondern auch den Abbau von Personal. Die zu hohe Arbeitslosigkeit in unserem Land hat hier eine wesentliche Ursache. ({3}) Es gibt deshalb zwei Ansätze, um die Beschäftigungsprobleme in unserem Land zu lösen: Wir können weiter versuchen, Produktionskosten zu senken - auch als Staat müssen wir dazu unseren Beitrag leisten -, oder wir nehmen die Möglichkeit wahr, neue technologische Vorsprünge zu erringen. ({4}) Wir - und vor allem der bisherige Bundesminister Rüttgers - haben uns bemüht, im Bereich der Innovationen in den letzten Jahren voranzukommen. Wir haben knappe staatliche Mittel auf wichtige Zukunftstechnologien konzentriert. Ich nenne zum Beispiel die Informationstechnologie. Vor allem aber erinnere ich daran, daß es Herrn Rüttgers gelungen ist, die Bio- und Gentechnologie wieder nach Deutschland zu holen. ({5}) Wir haben für mehr Wettbewerb der außeruniversitären Forschungseinrichtungen gesorgt, die Bedingungen für die Gründung innovativer Unternehmen verbessert, ihnen den Zugang zu Risikokapital erleichtert - ein Problem, das noch nicht abschließend und befriedigend gelöst ist. Wir haben gemeinsam mit den Ländern den Technologietransfer besser organisiert, weil wir in Deutschland - das wissen wir alle - Probleme haben, die durchaus vorhandenen Forschungsergebnisse relativ schnell in neue Produkte umzusetzen, wie das in anderen Ländern geschieht. Die Ergebnisse, auf denen Sie aufbauen können, Frau Ministerin, sind beachtlich. Die Hälfte unserer industriellen Produktion entfällt inzwischen auf FuE-intensive Industrien. Bei den fortgeschrittenen Technologien waren wir schon immer besonders stark. Ich habe schon erwähnt: Defizite gab es vor allem bei den Spitzentechnologien. Nur im Umweltbereich haben wir ausreichende Weltmarktanteile. Wir glauben aber, daß wir auch hier erfolgreich waren. Die Wachstumsraten im HighTech-Bereich in Deutschland sind außergewöhnlich stark: Im Jahr 1996 stiegen die Ausfuhren um 13 Prozent. Diese kurze Bilanz belegt, glaube ich, daß Innovation in Deutschland nicht erst mit dem Datum begann, zu dem die neue Bundesregierung ihr Amt angetreten hat. Frau Ministerin Bulmahn, ich habe Ihre Antrittsrede im Ministerium nachgelesen und festgestellt, daß Sie betont haben, daß Sie gerade im Bereich der Forschungspolitik auf Bewährtem aufbauen können. Auch ich glaube, daß es hier durchaus eine Chance für Gemeinsamkeiten gibt. Wir sind auch gemeinsam der Überzeugung, daß es notwendig ist, die Mittel für Forschung und Bildung aufzustocken. Dies ist uns über viele Jahre hinweg nicht gelungen; das müssen wir zugeben. Die Kostenexplosion im Bereich der sozialen Sicherungssysteme war zu groß. Der Bundesrat hat uns auch nicht gerade geholfen, in diesen Bereichen zu sparen, um Mittel umzuschichten. ({6}) Dazu haben Sie also Ihren Beitrag geleistet. Sobald sich die Situation etwas entspannt hatte, hat die alte Bundesregierung für den Haushalt 1999 einen Entwurf vorgelegt, nach dem die Mittel um eine halbe Milliarde DM aufgestockt werden sollten. Heute warte ich darauf, zu erfahren, wie die konkreten Pläne der Bundesregierung in diesem Bereich ausschauen. Ich bin momentan noch ein bißchen verwirrt. Im Wahlprogramm ist angekündigt worden - die Frau Ministerin hat damals in einer Debatte gesagt: Das steht nicht unter Finanzierungsvorbehalt -, daß der gesamte Bildungs- und Forschungsetat in wenigen Jahren verdoppelt werden soll. ({7}) Im „Spiegel“ habe ich im Juli aber gelesen, daß der Haushaltsexperte Diller das gar nicht für finanzierbar hält. ({8}) Dann habe ich in die Koalitionsvereinbarung geschaut und keine konkrete Festlegung gefunden. Daher war ich überrascht - ich wollte schon sagen: Wahlbetrug! -, als der Herr Bundeskanzler vorgestern angekündigt hat, er wolle die Investitionen in diesen Bereichen verdoppeln. Herr Tauss, ich hoffe, Sie wissen: Das bedeutet für die nächsten fünf Jahre im Schnitt jährlich 3 Milliarden DM mehr. ({9}) Wenn ich irgendwann einmal in einer Zeitung lesen würde, daß Sie irgendwo einsparen, dann würde ich Ihnen glauben, daß Sie wirklich bereit sind umzuschichten. Aber ich lese immer nur, daß Sie Sparmaßnahmen zurücknehmen wollen. Mir ist völlig schleierhaft, wie Sie dieses Versprechen erfüllen wollen. Deshalb bitte ich um Verständnis, daß Lob und Anerkennung allein für die Absichtserklärung, die Sie bisher vorgelegt haben, in diesem Bereich nicht möglich sind. ({10}) Meine Damen und Herren, ich habe es schon angedeutet: Wenn man die Koalitionsvereinbarung und das letzte Wahlprogramm der SPD liest, muß man feststellen, daß sie in einer für die SPD neuen Sprache geschrieben sind. Es ist viel von Leistung die Rede; es ist viel von Innovation die Rede. Wenn das nicht nur Lippenbekenntnisse sind, dann - ich wiederhole das - gibt es eine Chance, daß wir viele Gemeinsamkeiten haben werden. Ich habe in einem Punkt aber noch Zweifel, nämlich ob es allen in der SPD und vor allem bei den Grünen gelingt, ihr Mißtrauen gegen bestimmte Großtechnologien abzubauen. Ich höre, Sie wollen neue Arbeitsplätze Dr. Gerhard Friedrich ({11}) schaffen. In dem Bereich, in dem ich wohne, ist die Kernenergie angesiedelt. Dort wollen Sie offensichtlich zunächst einmal Arbeitsplätze vernichten, wofür ich auch als bisheriger Umweltpolitiker kein Verständnis habe. Beim Transrapid habe ich festgestellt, daß Sie sich nicht ganz einig waren. Einige von Ihnen haben sich zu dieser neuen Verkehrstechnik offensichtlich nur deshalb bekannt, weil sie hoffen, daß dieses Projekt an der Finanzierung scheitert. Alle Warnlampen leuchten auf, wenn ich lese, daß Sie das technische Konzept des Forschungsreaktors München II in Frage stellen wollen. Dieses technische Konzept wurde jahrelang diskutiert und vom Wissenschaftsrat einstimmig gebilligt. Man kann darüber streiten, ob es beim Einsatz von niedrig angereichertem Uran den gleichen wissenschaftlichen Nutzen gibt. Das können wir ein anderes Mal austragen. Dazu reicht heute nicht die Zeit. Jedenfalls ist sicher, daß es, wenn Sie hier ganz neue technische Konzepte umsetzen wollen, eine jahrelange neue Planungs- und Genehmigungsphase geben wird. Der Wissenschaftsrat hat uns mitgeteilt, daß wir unsere Spitzenstellung in der Materialforschung ohnehin schon verloren haben. Deshalb legen wir Wert darauf, daß diese neue Neutronenquelle - ich als Bayer lege besonderen Wert darauf - zum frühestmöglichen Zeitpunkt zur Verfügung steht. Im Bildungsbereich sind wir vor allem für zwei Sektoren zuständig: die Hochschulpolitik und die berufliche Bildung. Ich sehe, die Zeit reicht gerade noch für einige Anmerkungen zur Hochschulpolitik. Wir haben durch die Novelle zum Hochschulrahmengesetz die Weichen gemeinsam in vielen Bereichen neu gestellt. Wir wollen eine stärkere Profilierung der einzelnen Hochschulen, mehr Wettbewerb und eine Verstärkung des Leistungsprinzips. Wir haben bei den Diskussionen der letzten beiden Jahre festgestellt, daß dies auch bedeutet, besondere Leistungen im Bereich der Lehre besonders zu honorieren. Deshalb möchte ich anmerken, daß wir die Absicht unterstützen, auch das Dienstrecht für das Hochschulpersonal neu zu gestalten. ({12}) Zu den Studiengebühren kann ich feststellen: Wir in unserer Fraktion wollen keine generelle Einführung von Studiengebühren. Dazu fehlen zur Zeit auch alle Voraussetzungen, zum Beispiel ein Stipendiumwesen, das sicherstellt, daß nicht soziale Barrieren den Hochschulzugang erschweren. Eine andere Frage ist, ob wir den Ländern Vorschriften machen sollten. Wir haben schon rechtliche Zweifel, ob der Bund den Ländern vorschreiben kann, wie sie eigene Einrichtungen, nämlich Hochschulen, finanzieren sollen. Herr Bundeskanzler, Sie waren ja Ministerpräsident. Sie hätten sich früher solche Vorschriften verbeten. Ich habe neulich gelesen, daß auch der frühere bildungspolitische Sprecher der SPD, Herr Glotz, gesagt hat, er kann sich nicht vorstellen, daß sich große Länder wie Bayern oder Nordrhein-Westfalen - er hat also nicht nur ein unionsgeführtes Land genannt - vorschreiben lassen, wie sie ihre Hochschulen finanzieren. Ich habe nur noch für einen letzten Satz Zeit.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Friedrich, darf ich Sie daran erinnern, daß Sie Ihre Redezeit schon ein Stück überschritten haben?

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, danke. Ich war ohnehin gerade schon beim Einpacken, Frau Präsidentin. Ich darf Ihnen versichern: Diese Bevormundung der Länder lehnen wir auch in Zukunft schlicht ab. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt die Bundesministerin Edelgard Bulmahn. Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung ({0}): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Bildung und Forschung haben endlich wieder die Bedeutung in der Bundesregierung, die ihnen zukommt. ({1}) Deshalb, Herr Friedrich, bedanke ich mich ausdrücklich bei Ihnen für das Angebot einer konstruktiven Zusammenarbeit. Bildung und Forschung brauchen eine konstruktive Zusammenarbeit. Bildung und Forschung brauchen auch verläßliche Rahmenbedingungen. Deswegen komme ich gerne auf dieses Angebot zurück. Bildung und Forschung haben deshalb wieder Bedeutung in der Bundesregierung, weil wir wissen, daß Bildung und Forschung das Fundament für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes legen. Wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die Verdoppelung der Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung angekündigt hat, dann ist das mehr als ein Symbol. ({2}) Es ist ein Signal. Es ist die Aussage: Bildung und Forschung sind die Antwort dieser Bundesregierung auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Der Bund ist nur ein Akteur, das wissen wir. Er braucht Mitspieler in den Ländern und in der Wirtschaft, vor allem aber bei den Frauen und Männern, die dieses Feld bestellen. Meine Damen und Herren, wir wollen ein Klima des geistigen Aufbruchs in Deutschland schaffen, ein Klima, in dem Bildung, Wissenschaft und Forschung neue EntDr. Gerhard Friedrich ({3}) faltungsmöglichkeiten erhalten, und dabei strukturelle Verkrustungen aufbrechen. ({4}) Unser Ziel ist, der jungen Generation wie der Gesellschaft insgesamt neue Wege zu aktivem Handeln, zu Innovation und zu Verantwortung zu eröffnen. ({5}) Wenn sich die Investitionen des Bundes in Forschung und Bildung in den nächsten fünf Jahren verdoppeln, dann brauchen wir eine übergreifende Strategie. Wir werden deshalb einen offenen Dialog mit den Ländern führen, damit wir in einer gemeinsamen Anstrengung Bildung und Forschung die angestrebte neue Priorität geben können. Ebenso erwarten wir und werden alles dafür tun, daß sich die Europäische Union stärker für diese Zukunftsaufgaben engagiert. An dieser Stelle habe ich die dringende Bitte an die Wirtschaft: Investieren Sie noch stärker in Bildung und Ausbildung! Erhöhen Sie Ihre Aufwendungen für Forschung und Entwicklung! ({6}) Worum geht es? Deutschland braucht eine neue Bildungsreform, die Leistung und Kreativität fördert und Chancengleichheit sichert. Dabei ist Kooperation gefragt und nicht gegenseitige Schuldzuweisungen. Ich bin davon überzeugt, daß wir eine nationale Debatte über Bildungsfragen brauchen. Ich biete den Ländern und den Sozialpartnern an, ein zeitlich befristetes Forum „Bildung“ zu schaffen, das Elemente einer Grundbildung in einer Wissensgesellschaft identifiziert und zur Sicherung eines international an der Spitze liegenden Leistungsstandards in Bildung und Weiterbildung beiträgt. ({7}) Die junge Generation braucht Perspektiven und Orientierungen für die Zukunft. Eine gute Bildung und Ausbildung sind dafür die entscheidende Grundlage. Es geht darum, den jungen Menschen wieder Perspektiven zu eröffnen und ihnen auch die individuellen Lebenschancen zu sichern. Ich werde meinen Teil dazu beitragen, daß allen Jugendlichen, die ausgebildet werden wollen, ein qualifizierter Ausbildungsplatz angeboten wird. ({8}) Junge Menschen dürfen nicht länger auf der Straße stehen. Sie brauchen echte Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Mit dem 100 000-Plätze-Programm pakken wir es an und reden nicht nur darüber. ({9}) Wir brauchen mehr betriebliche Ausbildungsplätze für eine wachsende Zahl von Schulabgängern, die bessere Berufswahlchancen haben müssen. In einem Bündnis für Arbeit und Ausbildung muß es uns gelingen, gemeinsam mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen der jungen Generation langfristig zu sichern. Das gilt im übrigen auch für die jungen Menschen mit schlechteren Startchancen. ({10}) Junge Frauen müssen - ich finde, das ist mehr als überfällig - endlich den gleichen Zugang zu attraktiven und beschäftigungssichernden Ausbildungsgängen und zu Berufen mit Zukunft erhalten. ({11}) Das setzt ein Umdenken in unserer Gesellschaft und in der Arbeitswelt voraus. Das wollen wir voranbringen, und dabei schaue ich besonders die Frauen, aber auch die willigen Männer in dieser Runde an. Das bewährte duale Ausbildungssystem werden wir durch eine flexiblere Gestaltung von Ausbildung, Ausbildungsordnungen und Ausbildungsinhalten fortentwickeln. Wir brauchen mehr Betriebsnähe, Effizienz und Qualität. ({12}) Ein modernes Berufskonzept verbindet Fachkompetenz mit Schlüsselqualifikationen, mit voller Berufsfähigkeit und breitem Zugang zum Arbeitsmarkt. Darüber hinaus sollen Zusatzangebote zur Ausbildung Anreize geben, um Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit zu stärken. Im Bündnis für Arbeit und Ausbildung - das ist kein leeres Wort, und wer so darüber schwätzt, diskreditiert sich selbst; ich will das ganz deutlich sagen ({13}) wollen wir auch Vereinbarungen zur Modernisierung der Weiterbildung und zur Weiterentwicklung des lebenslangen Lernens treffen. Eine rechtzeitige Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen ist die beste Versicherung sowohl für die Arbeitnehmer wie auch für die Unternehmen, um neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Wissen und Know-how machen heute nicht mehr an den Ländergrenzen halt. Deshalb ist es notwendig, daß unsere Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Hochschulen mit den besten Partnern in der Welt nicht nur konkurrieren, sondern auch kooperieren. Wir wollen dafür sorgen, daß Deutschland wieder zu einem bevorzugten Standort für ausländische Investitionen in Forschung und Entwicklung wird. ({14}) Ein Auslandsaufenthalt - so ist auch meine eigene Lebenserfahrung - gibt wichtige Impulse für neue Ideen und trägt dazu bei, Verständnis für andere Kulturen zu wecken und um neue Denkansätze kennenzulernen. Dazu gehört auch, daß Ausländer, die in Deutschland studieren, und daß Forscher, die hier arbeiten, in Deutschland willkommen sind. ({15}) Fortschritt entsteht nicht durch das Dahindümpeln im eigenen Hinterhof. ({16}) Deshalb müssen Hochschulen und Studiengänge internationaler werden. Deshalb müssen Jugendliche, egal ob Studierende oder Auszubildende, die Chance haben, Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Von den Hochschulen erwarten wir Spitzenleistungen ({17}) in Lehre und Forschung. Dafür brauchen sie mehr staatliche Mittel. Wir werden deshalb bereits im kommenden Jahr in einem ersten Schritt die Ausgaben für den von meinem Amtsvorgänger jahrelang sträflich unterfinanzierten Hochschulbau aufstocken. ({18}) Aber Geld ist nicht alles. Sie wissen, daß ich das immer wieder gesagt habe. Wir brauchen eine grundlegende Strukturreform an unseren Hochschulen. ({19}) Ich denke, daß hier über alle Parteigrenzen hinweg Konsens besteht. Ein wichtiger Schritt auf dem vor uns liegenden Weg ist die Zuweisung klarer Verantwortlichkeiten. Ich biete den Ländern an, gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie wir Ziele und Verantwortlichkeiten bei den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b des Grundgesetzes klarer definieren können. Es wäre ein erster Schritt zum Erfolg, wenn von allen Beteiligten - das gilt auch für Sie, Herr Kampeter - ein Dialog offen, unvoreingenommen und mit der Bereitschaft, querzudenken und sich auch von liebgewordenen Gewohnheiten zu trennen, geführt würde. ({20}) Ich versichere Ihnen, daß die Bundesregierung dazu bereit ist, genauso, hoffe ich, viele Kolleginnen und Kollegen. Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Hochschulen ist eine schnelle und umfassende Modernisierung des Dienstrechts. Wir wollen hiermit Entwicklungspotentiale für Kreativität im gesamten Innovationszyklus eröffnen. Barrieren, die wir noch immer zwischen Forschung und Unternehmen haben, müssen beseitigt werden. Es muß wieder attraktiv sein, zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu wechseln und den Know-how-Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft „über Köpfe“ zu beflügeln. Das größte Kapital der Wissenschaft in unserem Lande zur Lösung der drängenden Probleme, vor denen wir stehen, ist der wissenschaftliche Nachwuchs. Deutschland kann es sich nicht leisten, auf Begabungsreserven zu verzichten. Chancen und Perspektiven junger Menschen dürfen nicht vom Portemonnaie der Eltern abhängig sein. ({21}) Allein die Leistungsfähigkeit und der Wille des einzelnen zählen. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Reform des BAföG. ({22}) Wir werden im kommenden Jahr in einem ersten Schritt die Einschränkungen der 18. BAföG-Novelle zurücknehmen und die Freibeträge anheben, damit nicht noch mehr Studierende aus der Förderung herausfallen. ({23}) Wir werden bis Ende 1999 ein zustimmungsfähiges Konzept für eine grundlegende Reform und Verbesserung der Ausbildungsförderung vorlegen. ({24}) Dabei streben wir an, alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zu einem einheitlichen und elternunabhängigen Ausbildungsgeld für Studierende zusammenzufassen. In diesem Zusammenhang wäre es ein völlig falsches Signal, Studiengebühren einzuführen. ({25}) Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses - ich habe es gesagt - liegt mir besonders am Herzen. Wir werden uns dabei insbesondere für bessere Chancen von Frauen in Lehre und Forschung einsetzen. Frühe Selbständigkeit und Eigenverantwortung im Wissenschafts- und Forschungssystem sind dabei unverzichtbar. Wir wollen Anreiz- und Förderstrukturen schaffen, so daß neuartige, quer zu den Disziplinen liegende Fragestellungen von jungen Forschergruppen aufgegriffen werden können. Das deutsche Forschungssystem hat sich in seiner Vielgestaltigkeit bewährt. Wir werden es jedoch weiterentwickeln und das Aufgabenprofil der Forschungsinstitutionen und -organisationen im Dialog mit der Wissenschaft fortentwickeln und schärfen. ({26}) Wissenschaft und Forschung brauchen langfristig verläßliche Rahmenbedingungen, um auch in Zukunft neue Ideen als Basis für Innovation entwickeln zu können. Grundlagenforschung und Vorsorgeforschung sind das Fundament, auf dem wir aufbauen. Deshalb gibt es dafür eine besondere staatliche Verantwortung. ({27}) Wir werden gemeinsam mit Wissenschaft und Wirtschaft kreative Suchprozesse für neue Forschungsthemen organisieren und ihre Umsetzung in flexiblen und problemorientierten Strukturen ermöglichen. ({28}) Als eines der fortgeschrittensten Industrieländer werden wir unsere Verantwortung für globale Entwicklung und weltweites nachhaltiges Wachstum ernst nehmen. In disziplin- und branchenübergreifenden Leitprojekten werden wir die Entwicklung von Technologien und die organisatorischen Voraussetzungen für Kreislaufwirtschaft und nachhaltiges Wirtschaften anschieben. Das ist im übrigen auch der richtige Weg, um über organisatorische Grenzen hinweg neue Allianzen der Innovation zu bilden. ({29}) Den Wettbewerb um die besten Ideen werden wir systematisch als Instrument in der Forschungsförderung einsetzen, um Innovationsnetzwerke zu fördern, wie zum Beispiel bei Bio-Regio. ({30}) - Ich habe gerade ein Beispiel genannt. Ich glaube, Sie brauchen ein Hörrohr, Herr Kampeter. Ich werde es Ihnen bei Gelegenheit übergeben. ({31}) - Ich glaube, die neue Technik hilft bei ihm nicht. Da ist nichts mit „Chips und Lederhose“; da ist nur die Lederhose. ({32}) Wir werden uns für eine umfassende Zusammenarbeit aller am Innovationsprozeß Beteiligten einsetzen. Dabei sollen Netzwerke und regionale Schwerpunkte zwischen Hochschulen, außeruniversitärer Forschung und Industrie entstehen. Wir werden dabei insbesondere die kreativen Leistungen vieler kleiner und mittlerer Unternehmen unterstützen und sie in ihrer besonderen Rolle am Arbeitsmarkt fördern. ({33}) Ich weiß, daß das gerade für die neuen Bundesländer von besonderer Bedeutung ist. Deshalb versichere ich Ihnen: Der Ausbau von Bildung und Forschung in den neuen Bundesländern wird ein Schwerpunkt unserer Politik sein. ({34}) Diese Prozesse wollen wir durch bessere Rahmenbedingungen und eine Entlastung von bürokratischen Vorschriften ergänzen. Eigenverantwortung von Wissenschaft und Forschung muß selbstverständlich sein. Wir versprechen uns davon mehr Qualität, Transparenz und Flexibilität. Auch dazu kann ich nur sagen: Wir werden das machen und nicht nur darüber reden. ({35}) Bei zentralen Schlüsseltechnologien, wie zum Beispiel der Bio- und Gentechnik, die wir nutzen und weiter fördern werden, bei neuen Materialien, bei physikalischen und chemischen Technologien, bei Laser- und Plasmaforschung oder in der Mikrosystemtechnik soll Deutschland im internationalen Wettbewerb Spitzenpositionen einnehmen und diese Spitzenpositionen ausbauen. Durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen in enger Verknüpfung mit der Forschungsförderung werden wir die breite Anwendung der Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützen und voranbringen. ({36}) Wir wissen, daß neue Arbeitsplätze überwiegend im Dienstleistungssektor entstehen. Die Leistungsfähigkeit einer modernen Volkswirtschaft hängt entscheidend von der Qualität ihres Dienstleistungsbereiches und der Qualität der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur ab. Wenn wir Hochtechnologien weltweit exportieren wollen, gehören Dienstleistungen wie Beratung und Wartung unter Nutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien dazu. Deshalb werden wir uns in Ausbildung und Forschung gezielt dafür einsetzen, die Leistungsfähigkeit dieses wichtigen Sektors deutlich zu erhöhen. ({37}) Wir werden die Instrumente der Forschungspolitik umfassend dazu nutzen, die drängenden Probleme dieser Gesellschaft zu lösen. Ich möchte erreichen, daß die Menschen sehen, daß Fortschritte in Wissenschaft und Forschung ihnen nützen, ({38}) daß Bio-Wissenschaften helfen, Krankheiten zu bekämpfen und neue Möglichkeiten der Umweltsanierung zu eröffnen, daß neue Technologien Behinderten helfen und daß Forschungsarbeit dazu beiträgt, innovative und menschengerechte Arbeitskonzepte zu entwickeln. Bildung, Wissenschaft und Forschung sind die Bausteine menschlicher Zivilisation. Wir bauen auf dem auf, was Menschen in Jahrhunderten vor uns erdacht und entwickelt haben. Wir wollen nicht stehenbleiben. Deshalb wird diese Bundesregierung Bildung, Wissenschaft und Forschung Priorität geben - die beste Voraussetzung für den Aufbruch in das nächste Jahrtausend. ({39})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Abgeordnete Jürgen Möllemann, F.D.P. ({0})

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Jährlich im Dezember - es wird also in Kürze geschehen - wählt eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jahres aus. Ich schlage im Blick auf die Diskrepanz zwischen dem, was Sie, Herr Bundeskanzler, Ihre Ministerin, die gerade hier gesprochen hat, und andere im Wahlkampf gesagt haben, und dem, was in der der Regierungserklärung steht, das Wort „Mogelpackung“ vor. ({0}) Es besteht - dieser Eindruck ist wohl nicht nur mein persönlicher; ich werde darauf gleich noch kommen vielmehr im Hinblick auf das, was vor den Wahlen über den großen Stellenwert von Bildung, Wissenschaft und Forschung gesagt worden ist, und im Hinblick auf das, was konkret in der Regierungserklärung steht, doch eine erhebliche Diskrepanz. In der Regierungserklärung steht der bemerkenswerte Satz - Frau Bulmahn, Sie sprachen das Thema an -: „Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung von Eliten.“ - Toll! Ich dachte, diese Regierung - so hat es im Wahlkampf geheißen - hält Leistungseliten für dringend erforderlich und will alles tun, damit sie gefördert und gefordert werden. Wie groß ist eigentlich der ideologische Dissens in dieser rotgrünen Koalition, wenn ein Kanzler hier nur noch halb entschuldigend sagen kann: „Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung von Eliten.“ Das Schlimme ist, daß dort, wo Sie agieren, etwa in Nordrhein-Westfalen - gestern hat die dortige Schul- und Hochschulministerin, von der ich weiß, daß sie sich der hohen Wertschätzung des dortigen Ministerpräsidenten erfreut, ein beredtes Zeugnis davon abgelegt - dort, wo konkret im Instrumentarium von Schul- und Hochschulpolitik entschieden wird, was man zur Förderung von Eliten tun kann, eben nichts geschieht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hilsberg?

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte gern diesen Gedanken zu Ende führen. ({0}) Sie, Frau Bulmahn, haben hier etwas dargelegt, worauf ich das Wort „Mogelpackung“ bezogen habe. Ich benutze dieses Wort, weil die Wortwahl insoweit jeden Tag variiert, als Sie bis vor kurzem gesagt haben, daß die Bundesregierung die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln werde - das steht in Ihrem Wahlprogramm; so hat es der Kanzlerkandidat und jetzige Kanzler immer wieder gesagt -, und Sie jetzt plötzlich anfangen, von den „Zukunftsausgaben“ in diesem Bereich zu sprechen. Das wird eine tolle Debatte werden, wenn Sie uns nachher, weil Sie bei weitem nicht die Verdoppelung erreichen werden, dartun werden, daß das, was geschehe, im wesentlichen Bestandssicherung sei und daß es nur da und dort um Zukunftssicherung gehe: Nein, Sie haben den Menschen gesagt so haben sie es verstanden -, daß Sie die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln wollen, das heißt von 15 Milliarden DM auf 30 Milliarden DM erhöhen wollen. Kommen Sie uns nicht dahergeschlichen und sagen uns demnächst, wenn es nur ein Drittel davon geworden ist, das sei Semantik! Das wäre eine Mogelpackung. So nenne ich das. Wir sehen Ihrer Haushaltspolitik mit Interesse entgegen. ({1}) In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich heute die „Rheinische Post“ anzuschauen. Da überreicht doch tatsächlich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft einem Sozialdemokraten, dem guten Herrn Clement, eine rote Laterne. Als er die rote Laterne erhielt, sah Clement rot und sagte: „Wer aber glaubt, es gibt mehr Geld für die Bildung, der irrt; tut mir leid.“ Wir werden ja sehen, wie das einmal sein wird. Sie haben schon darauf hingewiesen, daß Bildungspolitik das Zusammenwirken von Bund und Ländern verlangt. Sagen Sie uns bitte nicht, Sie verdoppelten die Zuschüsse nicht, weil die Länder nicht mitmachen wollten. Sie haben jetzt in so vielen Ländern die Mehrheit, daß dies für Sie keine Ausrede sein kann. ({2}) Dann sagten Sie, Frau Bulmahn, Sie wollten das Hochschulrahmengesetz modernisieren und in ihm den Ländern verbieten, Studiengebühren einzuführen. ({3}) - Sie haben es immer wieder öffentlich gesagt. - Heute schlage ich die „FAZ“ auf - man ist im hohen Alter ja auch belesen ({4}) und finde folgende Überschrift: „Semestergebühren in Niedersachsen“. Ist Wissenschaftsminister Oppermann aus Ihrer Partei? Mein Gott, was machen Sie denn als Sozialdemokraten miteinander? Wollen Sie ihm wirklich per Gesetz das verbieten, was er in seinem Land machen will? Das sind ja komische Zustände in Ihrer Partei, Frau Ministerin. Das müssen Sie politisch lösen. ({5}) Interessant ist auch, was an Widersprüchen in anderen Bereichen erscheint. Nimmt man die deutsche Presse, dann staunt man. Was tun heute all diejenigen, die im Wahlkampf nicht genug jubeln konnten? Der „Stern“ schreibt über Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierung: „Chaos“. ({6}) „Die Woche“: „Der Kanzler hat in seiner Regierungserklärung keine Antwort auf die Probleme der Nation gefunden.“ Meine Güte, was schreiben diese Leute denn alles! Man ist ganz fassungslos. So geht es weiter quer durch die gesamte deutsche Presselandschaft, geschrieben von all den Wahlkampfhelfern, die jetzt sehen, daß das, was Sie versprochen haben, eine Mogelpackung war, weil Sie es offenbar nun nicht einhalten wollen. Zum Schluß zitiere ich eine ganz unverdächtige Stelle. Bei Ihrem Freund Rudolf Scharping, lieber Herr Bundeskanzler, sollte eine Frau Ministerin werden, die heute folgendes öffentlich feststellt: Das war sie also, Ihre Regierungserklärung, die erste eines sozialdemokratischen Kanzlers nach 16 langen schwarzen Jahren. Der große Modernisierer, die allseits beliebte Symbolfigur der Neuen Mitte, hat gesprochen. Was kam heraus? Viel Wind um nichts. Herr Bundeskanzler, Sie haben mich sehr enttäuscht. Das sagt Heidi Schüller, frühere Olympiakämpferin, Ministerkandidatin eines Sozialdemokraten. Ich kann nur sagen: Dem ist nichts hinzuzufügen. ({7}) Meine Schlußbemerkung: Frau Ministerin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Amt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Möllemann, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist mein Schlußsatz. - Ich habe ja das Vergnügen, Sie zu begleiten. Es kann sein, daß das Wort des Jahres 1999 das Wort „nachbessern“ sein wird. Dabei werden wir Ihnen gerne helfen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Matthias Berninger, Bündnis 90/Die Grünen.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen vier Jahren gab es eine ganze Reihe von bildungspolitischen Debatten in diesem Bundestag. Einer hat bei jeder bildungspolitischen Debatte gefehlt. Deswegen freue ich mich um so mehr, daß das bei der neuen Bundesregierung anders ist; denn zum erstenmal, seitdem ich in diesem Hause zu diesem Thema rede, ist der Bundeskanzler bei diesem Thema anwesend. ({0}) Das symbolisiert, daß wir diesem Thema ein größeres Gewicht beimessen, als es in der Vergangenheit der Fall war. ({1}) Auch wenn der Herr Bundeskanzler für einen Moment vor die Tür gegangen ist, kann ich Ihnen doch versichern, daß es kein Betriebsunfall war, daß Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung dem Thema Bildung und Forschung ein neues Gewicht zugemessen hat, sondern daß das ein ganz wesentlicher Punkt der neuen rotgrünen Koalition ist. ({2}) Der Bundeskanzler hat zu Beginn seiner Regierungserklärung gesagt, daß diese Regierung auf Grund der Hinterlassenschaft der Ära Kohl sparen müsse. Trotzdem hat er erklärt, daß wir im Bildungsbereich werden investieren müssen. Das ist kein Widerspruch, sondern gehört ursächlich zusammen. Denn wenn wir in der Bundesrepublik nicht die Brücke zur Wissensgesellschaft schlagen und dem Bereich Bildung und Forschung kein Geld für Reformen zur Verfügung stellen können, dann werden wir auch nicht die Stärke wiedererlangen, die wir brauchen, um die Hinterlassenschaft der Ära Kohl beiseite zu räumen. Das ist der ursächliche Zusammenhang. Daß Herr Möllemann eben von Mogelpackungen sprach, hängt wohl damit zusammen, daß er vorher im Gesundheitsausschuß war; da hatte er ja viel mit Pakkungen und mit Mogeln zu tun. ({3}) Es wurde gesagt, daß die Vorhaben der rotgrünen Koalition sehr unkonkret seien. Das sehe ich völlig anders. Vier Jahre lang hatten wir einen Ankündigungsminister als Bildungsminister, der Dinge angekündigt hat, nach vorne geprescht ist und dann, statt mit den Ländern zu kooperieren, diesen immer die Schuld für seine Untätigkeit gegeben hat. ({4}) Die rotgrüne Koalition wird einen anderen Weg gehen: Wir werden Reformen vorschlagen und uns selbst zeitlich unter Druck setzen, um diese Reformen auch umzusetzen. ({5}) In unserer Koalitionsvereinbarung steht, daß die BAföG-Reform schon im nächsten Jahr von der Koalition auf den Weg gebracht werden soll. Dazu brauchen wir mehr Geld und den Mut, eine neue Richtung einzuschlagen. Ziel unserer Politik ist, daß alle - unabhängig vom Geldbeutel - den Weg zu den Hochschulen finden können und daß das Recht auf Bildung wieder verwirklicht wird. Schauen Sie sich einmal an, wie der Anteil der Studierenden aus Familien mit niedrigem Einkommen an der Gesamtzahl der Studierenden in der Ära Kohl zurückgegangen ist und welcher Zusammenhang zwischen dem Wohlstand der Eltern und der Möglichkeit, im Ausland zu studieren, besteht. Sie stellen dann fest, daß wir in Deutschland gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen, damit tatsächlich jeder junge Mensch - und nicht nur die Kinder wohlhabender Eltern - sein Recht, die bestmögliche Ausbildung zu erhalten, verwirklichen kann. Dabei wird die Reform des BAföG eine zentrale Rolle spielen. Ich gehe fest davon aus, daß wir - im Gegensatz zu Herrn Rüttgers - einen Vorschlag vorlegen werden, der gemeinsam mit den Ländern erarbeitet wurde. Wir werden nicht den Fehler machen, die Länder ständig vor den Kopf zu stoßen. ({6}) Ein weiteres Reformvorhaben ist die Reform der Personalstruktur. So wie es jetzt aussieht, werden die Hochschulen mit der Personalstruktur des 19. Jahrhunderts den Weg ins 21. Jahrhundert antreten. Das darf nicht geschehen. Der letzte Innenminister hat jede Reform in diesem Bereich blockiert. Herr Kanther hatte überhaupt kein Interesse, in diesem Bereich etwas zu unternehmen. Ich gehe fest davon aus, daß Herr Schily vorausschauender ist und daß uns gemeinsam mit den Innenpolitikern eine Reform der Personalstruktur gelingt, die modernen Hochschulen angemessen ist. ({7}) Diese modernen Hochschulen werden sich auch daran messen lassen müssen, ob sie den Frauenanteil, der bei den Studienanfängerinnen und -anfängern bereits weit über der Hälfte liegt, auch in der Wissenschaft realisieren werden. Der wissenschaftliche Nachwuchs soll so gefördert werden, daß der Frauenanteil bei den Hochschullehrern kräftig steigt. Das gilt für die Lehre und für die Forschung. Ich freue mich, wenn wir hier gemeinsam einen Schwerpunkt setzen können. Eine Aussage von Herrn Kanther paßt hier ganz gut. Er sagte, Statistik sei die beste Medizin gegen politisches Geschwätz. Sie werden uns an unseren Erfolgen der nächsten vier Jahre messen können. Das bisher Vorhandene - da bin ich sehr zuversichtlich - werden wir zum Guten hin verändern. In der Forschungspolitik wird es uns darum gehen, den Dialog zwischen Wirtschaft auf der einen Seite und Forschungspolitik auf der anderen Seite zu realisieren und den Wechsel von Wirtschaft in Forschung und von Forschung in Wirtschaft tatsächlich auf den Weg zu bringen, statt in einen Kompetenzstreit zu verfallen, wie er die letzten vier Jahre zwischen Wirtschaftsminister Rexrodt von der F.D.P., der jetzt in Pension ist, und Bundesbildungs- und -forschungsminister Rüttgers bestand. Wir werden so kooperieren, daß Wirtschafts- und Bildungspolitiker auch hier gemeinsam Fortschritte erzielen können. Die neue Struktur des Bundesbildungsministeriums läßt mich daher nicht wehmütig auf vergangene Zeiten zurückblicken. Ich halte es für eine Errungenschaft, daß die Bereiche Forschung und Bildung zusammengefaßt worden sind. Ich halte es aber auch für zweckdienlich, daß bestimmte Teilbereiche an den Bundeswirtschaftsminister abgegeben worden sind. Das ist ein Signal dafür, daß es Dialog und keine weitere Konfrontation geben soll. Meine Damen und Herren, es wurde gesagt, daß es einen Streit um die Frage gebe, wie man mit Eliten umgehe. Herr Möllemann, da irren Sie sich. Darüber gibt es in der rotgrünen Koalition keinen Streit, sondern wir wollen, daß alle Menschen im Bildungssystem bestmögliche Leistungen erbringen. Wir fordern das von den Professorinnen und Professoren, von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und von den Studierenden. Wir wollen, daß jeder die Chance hat, diese bestmöglichen Leistungen zu erbringen. ({8}) Deswegen teile ich die Einschätzung des Bundeskanzlers völlig, daß dafür die Reform des BAföG Voraussetzung ist, damit jeder die Möglichkeit zum Hochschulzugang besitzt. Sie haben ja ausgiebig über rotgrüne Länderregierungen geredet. Ich finde es übrigens eine schlechte Methode, wenn man sich nur die Beispiele heraussucht, die einem gerade passen. ({9}) Wenn Sie die Hochschullandschaft etwa in Hamburg betrachten, dann werden Sie wenig Unterschiede zu Bayern feststellen. ({10}) Denn was die Modernisierung der Hochschulen und was die Förderung zum Beispiel von neuen Studiengängen angeht, gibt es zwischen beiden Bundesländern wenig Unterschiede, aber viele Gemeinsamkeiten. Ich bin der Meinung, daß man die bildungspolitische Debatte nicht mehr in den ideologischen Gräben der Vergangenheit führen sollte, weil sich Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker - Herr Friedrich ist ein gutes Beispiel dafür - in den vergangenen Jahren häufig einig waren, daß mehr getan werden muß. Allerdings sind sie in der aktuellen Tagespolitik öfter vor die Wand gelaufen. Unser Ziel, das zu erreichen wir uns vorgenommen haben, nämlich die Ausgaben für Bildung und Forschung zu erhöhen und in diesem Bereich Fortschritte zu machen, erreichen wir nicht, wenn wir im Parlament nach der alten Hackordnung „Opposition - Regierung“ Politik machen. ({11}) Wir erreichen dieses Ziel nur, wenn wir eine Öffnung erreichen. Ich finde es gut, daß Herr Friedrich das Angebot zum Dialog gemacht hat. Ich denke, daß auch Herr Möllemann dazu fähig ist, wenn er sich nicht mit Zeitungszitaten, sondern mit seiner Rolle als Ausschußvorsitzender beschäftigt. Auf diese Weise können wir im Parlament eine Lobby für Bildungspolitik und für eine Bildungsreform bilden. ({12}) Aber das allein wird nicht ausreichen. Wir brauchen auch die Beteiligung der Studierenden an dieser Bildungsreform. Die erste wichtige Reform wird sein, den Studierenden das Angebot zu machen, tatsächlich mitzureden. Wir wollen gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz erreichen, daß diese Reformen vorankommen. Die HRK hat in sehr offener und, wie ich finde, sehr lobenswerter Deutlichkeit im Gegensatz zu Herrn Möllemann gesagt: Diese Koalitionsvereinbarung ist ein gutes Angebot und ein guter Start für die bildungspolitische Debatte. Herr Landfried ist in diesem Punkt näher an den Realitäten als Herr Möllemann. ({13}) - Kollege Kampeter sagt jetzt, das stimme nicht. Wir können uns nachher darüber unterhalten; ich habe hier die Pressemitteilung der HRK vorliegen. Herr Möllemann wird seine Aussage zurücknehmen müssen. Der entscheidende Punkt ist: Wir werden viel Herzblut in diese Bildungsreform investieren. Wir werden versuchen, diese Bildungsreform gemeinsam mit der Opposition durchzuführen und einen Konsens zu erreichen, um in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen. Mit dem Stillstand, den es in den vergangenen vier Jahren gegeben hat, ist jetzt Schluß! Ich danke Ihnen. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Als nächste Rednerin spricht die Abgeordnete Maritta Böttcher, PDS.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die bildungspolitische Bilanz der alten Bundesregierung ist die Bilanz einer Legislaturperiode, in der vieles versprochen und wenig erreicht wurde. Zukunft wurde hier eher verspielt als gewonnen. Das ist auch die Aussage meiner bisherigen Vorredner. Nachdem die mittlerweile abgewählte Koalition 1994 verkündet hatte, Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung überproportional steigern zu wollen, blieb im Wahlkampf für den Etat 1999 nicht einmal der Ausgangsbetrag von 1994 erhalten. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir die Ankündigungen der neuen Regierung, daß sich eine Bildungsreform an der Leitidee des Rechts auf Bildung, an den Zielen Chancengleichheit und Gleichwertigkeit aller Bildungsgänge orientiert und daß Investitionen in Bildung und Forschung in den nächsten fünf Jahren verdoppelt werden sollen. Daß bei der konkreten Umsetzung dieser Ziele keine Zeit zu verlieren ist, machen nicht nur die 500 000 arbeitslosen Jugendlichen und die zum Ende des Vermittlungsjahres übriggebliebenen 36 000 Lehrstellensuchenden deutlich. Auch Studierende machen sich Sorgen um den Fortgang ihres Studiums, weil von der neuen Regierung - außer den Plänen zur Erhöhung der Energiesteuer und zur Besteuerung der neu definierten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse - nicht viel zu hören ist. 70 Prozent der Studierenden an westdeutschen und über 55 Prozent an ostdeutschen Hochschulen müssen für ihren Lebensunterhalt neben dem Studium jobben. Das BAföG als Finanzierungsgrundlage für das Studium hat deutlich an Bedeutung verloren. Wenn in diesem Bereich nicht sehr schnell Abhilfe geschaffen wird, verschlechtern sich die Zugangschancen zum Hochschulstudium für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen weiter. Immerhin ist der Anteil, den die Eltern zum Unterhalt ihrer Kinder beisteuern, seit 1991 von 23 Prozent auf 53 Prozent gestiegen. Umgekehrt proportional sank der Anteil studierender Kinder aus einkommensschwachen Familien auf 14 Prozent in den alten und 9 Prozent in den neuen Ländern. Aus all diesen Gründen muß möglichst noch in diesem Jahr für die Rücknahme der Verschlechterungen auf Grund der letzten BAföG-Novellen gesorgt werden, müssen nicht nur Freibeträge, sondern auch die Bedarfssätze erhöht werden. Aber damit ist das Strukturproblem nicht gelöst. Wir haben das Versprechen der neuen Bundesregierung, noch 1999 eine große BAföG-Reform in Gang zu bringen. Über die verschiedenen Modelle wurde ja schon sehr lange diskutiert. Nach dem Regierungswechsel gibt es also keinen Grund mehr, den Worten nicht endlich auch Taten folgen zu lassen. - Um so mehr freue ich mich über Ihre Mitteilung, Frau Bildungsministerin Bulmahn, daß Studierende eine Unterstützung erhalten müssen, von der sie wirklich leben können. - Die Reform wird daran zu messen sein, wie die soziale Selektion beim Zugang zu Bildungsressourcen abgebaut wird, bzw. daran, ob der Trend einer geschlossenen Gesellschaft an den Hochschulen verstärkt wird. Zur Negativbilanz der alten Bundesregierung gehört auch das nach wie vor ungelöste Lehrstellenproblem. Die neue Bundesregierung bietet uns vor allem für den Osten zunächst das 100 000-Stellen-Programm an. Dieses Sofortprogramm hat zwar andere Dimensionen als die Notprogramme der alten Regierung, wird aber ebensowenig ausreichen und enthält bisher leider keine zeitlichen Festlegungen. Allein in den neuen Bundesländern wurden im Oktober dieses Jahres über 130 000 Arbeitslose unter 25 Jahren gemeldet. In der Bundesrepublik insgesamt waren 428 000 Menschen dieser Altersgruppe als beschäftigungslos registriert. Ein weiteres Versprechen der Koalitionsvereinbarung lautet: Alle Jugendlichen, die länger als sechs Monate arbeitslos sind, sollen einen Ausbildungsplatz, einen Arbeitsplatz oder eine Fördermaßnahme erhalten. Wie all diese schönen Programme konkret aussehen werden, darüber erfahren wir vorerst wenig. Es bleibt also abzuwarten, wie weit Finanzierungsvorbehalte reichen und ob die Praxis der alten Bundesregierung fortgesetzt wird, fragwürdige Bildungsmaßnahmen und ebenso fragwürdige Praktika aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Damit staatliche Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eben nicht zwischen Beschäftigungstherapie und Wirtschaftssubventionen enden, braucht es ein anderes Instrumentarium. Auch deshalb wurde bereits im Bundestag der vergangenen Legislaturperiode an Hand von Gesetzentwürfen der damaligen Oppositionsfraktionen über die Umlagefinanzierung diskutiert. Die rotgrüne Regierungskoalition setzt demgegenüber darauf, daß keine Zwangsmaßnahmen nötig sein werden, und will die Ergebnisse des neuen Bündnisses für Arbeit abwarten. Wie lange gewartet werden soll, ist im Moment noch unklar. Da wir, die Fraktion der PDS, aber der Meinung sind, daß selbst ein Jahr Perspektivlosigkeit für Jugendliche zuviel ist, und im Wissen darum, daß die gesetzliche Regelung der solidarischen Umlagefinanzierung nicht von einem Tag auf den anderen umsetzbar ist, bringen wir schon jetzt unseren Gesetzentwurf aus der 13. Legislaturperiode neu ein. Ich bin auf eine umfassende Debatte in diesem Haus sehr gespannt. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Thomas Rachel, CDU/CSU.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wortreich kündigt die neue Regierung an, daß „Bildungs- und Forschungspolitik einen herausragenden Stellenwert bekommen“ sollen. Wenn es Ihnen, Frau Bulmahn, gelingt, diese Leerformel der Koalitionsvereinbarung zu konkreter Politik zu machen, dann können Sie in vielen Sachfragen mit der Unterstützung der Bildungs- und Forschungspolitiker der CDU/CSU rechnen. ({0}) Schlecht ist allerdings, daß Sie vor Beginn erheblich Federn lassen mußten. Ihr Haus wurde geplündert. Es ist kein Zukunftsministerium mehr: ({1}) Die Medienpolitik wurde an das Bundeskanzleramt übertragen. An das Wirtschaftsministerium haben Sie die wichtigen Zuständigkeiten für Multimedia, die Luftfahrtforschung, die indirekte Forschungsförderung, die angewandte Energieforschung und die Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen verloren. Dies muß Ihnen bitter aufstoßen. Was haben Sie hinzugewonnen? Nichts! ({2}) Diese Ausgliederungen sind verhängnisvoll. Denn die Kette zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung ist zerstört. Damit schadet Rotgrün der Forschungslandschaft in Deutschland. Das kritisieren wir. ({3}) Es mag sich merkwürdig anhören, aber es ist fast beruhigend, daß in der Koalitionsvereinbarung zu den Themen Hochschulpolitik, berufliche Bildung und Forschung nicht viel Neues steht. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ bringt Ihren Amtsantritt mit der Überschrift „Wechsel ohne Veränderung“ auf den Punkt. Sie selbst haben betont, daß Sie auf vielem aufbauen können. Als Beispiel nannten Sie die „Leitprojekte“ und die stärkere Wettbewerbsorientierung der Forschungs- und Hochschullandschaft. ({4}) Die Schlußbilanz der bisherigen Regierung kann sich sehen lassen: ({5}) Bei der Umwelttechnik und den Weltmarktpatenten sind wir Weltspitze; Biotech- und Multimediafirmen boomen. Größere Autonomie und mehr Wettbewerb der Hochschulen, Förderung unterschiedlicher Begabungen - das sind angeblich die Elemente Ihrer „neuen Bildungsreform“. Diese aber haben wir längst mit der Hochschulnovelle durchgesetzt. ({6}) Sie fordern die Internationalisierung der Hochschulen. Mit der Änderung des Ausländerrechts und der Einführung von Bachelor und Master haben wir die wichtigsten Schritte längst verwirklicht. ({7}) Nun wollen Sie Erfolge bei der Frauenförderung zum Kriterium bei der Finanzzuweisung machen. Ist das Ihr Beweis für Kreativität? Nein, das ist ein alter Hut. Ein Blick in § 5 des von uns längst beschlossenen Hochschulrahmengesetzes hätte Sie belehrt, daß bei der Finanzierung der Hochschulen längst - ich zitiere - „auch die Fortschritte bei der Erfüllung des Gleichstellungsauftrages zu berücksichtigen sind“. Peinlich, peinlich! Sie wollen das Dienstrecht und das BAföG reformieren. Namens der Unionsfraktion biete ich Ihnen dazu unsere Unterstützung an. Sie haben vieles angekündigt. Ihre Regierungserklärung wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Bundeskanzler Schröder kündigt eine Bildungs- und Qualifizierungsoffensive an. Die Frage aber ist doch, warum die SPD in den von ihr regierten Bundesländern nicht längst damit begonnen hat. ({8}) Wer hat denn in den vergangenen Jahren, wie alle Schulstudien belegen, das Niveau an unseren Schulen Schritt für Schritt gesenkt? Etwa Bayern oder BadenWürttemberg? Nein, jetzt wollen gerade die, die in den Ländern für die Bildungsmisere verantwortlich sind, die Bildungspolitik auf Bundesebene übernehmen. Da wird der Bock zum Gärtner gemacht. ({9}) Die neue Regierungskoalition verstrickt sich in Widersprüche; das fängt früh an. Lauthals fordert die neue Bundesregierung, das Verbot von Studiengebühren gesetzlich zu verankern. Aber ausgerechnet das SPDregierte Land Niedersachsen kündigt in diesen Tagen an, Gebühren in Höhe von 100 DM pro Student und Semester einführen zu wollen. Kaum ist die Bundestagswahl gewonnen, werden die Studenten in Niedersachsen abgezockt. ({10}) Sie haben den Bundestagswahlkampf perfide geführt. Sie haben damals gesagt, die Union wolle im Hochschulgesetz Studiengebühren nicht ausschließen. Sie haben den vereinbarten Konsens zum Hochschulrahmengesetz an dieser Formulierung scheitern lassen. Frau Bulmahn, wer im Bund gegen Studiengebühren agiert und als SPD-Landesvorsitzende in Niedersachsen zuschaut, wie dort Studiengebühren eingeführt werden, macht sich zutiefst unglaubwürdig. ({11}) Wahr ist, daß Sie bei Hochschulen und Studenten einen falschen Schein hervorgerufen haben; das werfen wir Ihnen vor. Das war und ist ein gigantischer Wahlbetrug. ({12}) Widersprüche auch im Forschungsbereich! In ihrem Wahlprogramm fordern die Grünen - ich sehe sie hier vor mir -, Kernfusion, bemannte Raumfahrt und Gentechnik zu beenden. Zur Gentechnik vermeidet die Koalitionsvereinbarung klare Festlegungen, kein Wort zur Kernfusion und zu bemannter Raumfahrt in der Regierungserklärung oder im Beitrag von Frau Bulmahn. Wir wollen wissen: Wie steht die rotgrüne Regierung zur Fortführung dieser Technologien? ({13}) Die deutsche Mitwirkung an der internationalen Raumstation wird durch multilaterale Verträge garantiert. Herr Schlauch, wird der grüne Außenminister Fischer diese Verträge einhalten? Wo bleibt das klare Bekenntnis der Forschungsministerin? Wir wollen Klarheit! Sehr geehrte Damen und Herren, die größte Schwäche der Koalitionsvereinbarung und der Regierungserklärung von Schröder liegt im Grundsätzlichen. ({14}) Man kann ihnen nicht die Spur einer Bildungsidee entnehmen. Am großen Wurf, an einer Vision für eine zukunftsgerichtete Bildungspolitik fehlt es völlig. Mit viel Innovationsrhetorik wird Bildung in der Regierungserklärung auf einen rein ökonomischen Qualifizierungsund Effizienzaspekt reduziert. Kein Wort über die Rolle von Bildung und Wissenschaft für das geistige Klima in unserer Gesellschaft. Kein Wort über die Rolle der Geistes- und Kulturwissenschaften. Nur zu gern wurde der Union von links vorgeworfen, sie liefere die Hochschulen der Wirtschaft aus. Und die jetzige Bundesregierung? - Wo versteht sie Bildungspolitik anders als unter ökonomischen und sozialpolitischen Aspekten? Sie haben in Ihrer Regierungserklärung die Punkte, die längst behandelt und umgesetzt wurden, aneinandergereiht: Autonomie, Budgetierung, Wettbewerb, Effizienzsteigerung, Transfer von Wissenschaft zu Wirtschaft. Ich hätte von einem Bundeskanzler, der unsere Gesellschaft zu neuen Ufern führen will, mehr erwartet als ein rein technokratisch und ökonomisch verkürztes Bildungsverständnis. ({15}) Wir als Christdemokraten haben ein sehr viel breiteres und in die Zukunft weisendes Verständnis von Bildung. ({16}) Wenn wir über Bildung reden, dann hat dies auch etwas mit Persönlichkeitsbildung, mit Lebens- und Sinnfragen, mit Werten und Erziehung zu tun. Was hält eigentlich unsere Gesellschaft zusammen? Welchen Beitrag kann Bildung dazu leisten? Welche Rolle können dabei Religionsunterricht, Wertevermittlung und Geisteswissenschaften spielen? „Was ist sozialdemokratische Bildungspolitik?“ fragt die Wochenzeitung „Die Zeit“ ratlos am Ende ihres Artikels. Dieser Satz bringt Ihr Dilemma auf den Punkt. ({17}) Wir Christdemokraten schlagen eine breite Bildungsdebatte in Deutschland vor. Dazu laden wir Sie herzlich ein. Herzlichen Dank. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Abgeordneten Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Rachel, ich finde, ein politischer Streit in der Sache ist dann richtig, wenn er nützt und wenn er uns voranbringt. Aber politischer Streit darf nicht so geführt werden, daß er mit Unterstellungen arbeitet, die nicht der Wahrheit entsprechen. ({0}) Genau das haben Sie in Ihrer Rede getan. Es entspricht nicht den Tatsachen, daß ich zu der Erhebung von Verwaltungs- und Einschreibungsgebühren in Niedersachsen nichts gesagt hätte. Ich habe hier im Parlament meine Auffassung deutlich zum Ausdruck gebracht: Ich halte die Erhebung von Studiengebühren für falsch. Ich habe mich immer dafür eingesetzt - dazu stehe ich nach wie vor -, daß wir eine bundeseinheitliche Regelung bekommen, die die Erhebung von Studiengebühren ausschließt. ({1}) Dafür gibt es zwei Wege: entweder den über das HRG oder den über einen Staatsvertrag. Beides sind gangbare Wege. Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, habe ich mich nicht alleine auf das HRG bezogen, sondern habe beide Wege als Möglichkeit beschrieben. Ich halte die Erhebung von Verwaltungs- und Einschreibungsgebühren in Niedersachsen nicht für den richtigen Weg, für ein falsches Signal. Diese Position vertrete ich als Landesvorsitzende. Aber als Bundesministerin - das wissen Sie - habe ich nicht das Recht, den Ländern vorzuschreiben, welche Verwaltungsgebühren sie erheben dürfen. Deswegen möchte ich - das habe ich immer gesagt - eine bundesweite Regelung in Kooperation mit den Ländern erreichen, die die Erhebung von Studiengebühren ausschließt. Das ist der Unterschied zwischen uns. ({2}) Ein Staatsvertrag zwischen den Ländern ist ein Weg, der eine bundeseinheitliche Regelung zum Ergebnis hätte. Er könnte aus meiner Sicht auch vom Bundesland Bayern in keiner Weise abgelehnt werden, weil er überhaupt nicht in dessen Rechte und Kompetenzen eingreift. Ich bitte Sie daher, Herr Rachel, in den nächsten Debatten und Diskussionen wirklich bei der Wahrheit zu bleiben. Das dient einem guten Klima, und es dient der Zusammenarbeit. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Antwort auf die Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Thomas Rachel, CDU/CSU, das Wort.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin Bulmahn! Gerne antworte ich auf Ihre Anwürfe, wobei Sie im Protokoll nachlesen können, daß diese haltlos sind. Was Sie mit Ihrem Wortbeitrag dokumentiert haben, ist Ihre politische Schwäche. An der versuchen Sie sich vorbeizumogeln. Wenn Sie im Bund lauthals für Ihre Position eintreten, sich aber in Ihrem Bundesland Niedersachsen, in dem Sie SPD-Landesvorsitzende sind und die SPD mit absoluter Mehrheit alleine entscheiden kann, nicht durchsetzen können, sondern die niedersächsische SPD Studiengebühren einführt, dann ist das eine politische Schwäche von Ihnen. Auf jeden Fall aber ist es eine Täuschung der Studenten und Studierenden, die sich auf Ihr Wahlversprechen bei der Bundestagswahl verlassen haben. Das wird hier dokumentiert. ({0}) Ihre Jungsozialisten in Niedersachsen haben aufgeschrien, weil sie erkannt haben, daß die SPD hier mit gespaltener Zunge spricht. Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ hat geschrieben: Kaum ist die Bundestagswahl gewonnen, schon werden die Studenten von der SPD abgezockt. - Das ist die Realität. Wir trauen Ihren Worten nicht, auch wenn Sie sie laut und deutlich formulieren. Wir sehen, die Realität im Lande Niedersachsen ist eine andere, und das ist scheinheilig. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Stephan Hilsberg, SPD.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürger, die uns am 27. September ihre Stimme gaben, verbanden damit die Hoffnung, daß endlich eine neue Regierung mit einer neuen Politik jene Aufgaben löst, an denen Ihre alte Politik gescheitert ist. ({0}) Gerade auf dem Feld der Bildungs- und der Forschungspolitik gibt es eine lange Liste von Versäumnissen, Fehlern und nicht gemeisterten Herausforderungen. Der größte und der schwerste Fehler war vermutlich die drastische Reduzierung des Bildungs- und Forschungsetats. Herr Möllemann, Herr Rachel und wie Sie von der Opposition alle heißen, die Art und Weise des Gebelles, mit dem Sie hier unsere Regierungserklärung und die Aussprache dazu verfolgen, zeigt doch nur, daß Sie in der Opposition überhaupt noch nicht angekommen sind. ({1}) Solange Sie Ihre Kritik nicht konstruktiv vortragen, kann sie uns überhaupt nicht gefährlich werden. Ich empfehle Ihnen: Gehen Sie einmal in Klausur, ziehen Sie sich ein bißchen zurück, tragen Sie ein wenig zu Ihrer eigenen Erneuerung bei. Dann kommen Sie wieder her, und dann reden wir erneut. Dann sind Sie ein streitbarer Partner für uns. So, wie Sie jetzt auftreten, sind Sie es nicht. ({2}) Ganz besonders sauer - das muß ich ehrlicherweise einmal sagen - ist einem in den letzten Jahren das stänEdelgard Bulmahn dig wachsende Lehrstellendefizit aufgestoßen. 10 bis 15 Prozent eines Jugendlichenjahrgangs haben überhaupt keine Lehrstelle und in den neuen Ländern haben 40 Prozent keine betriebliche Lehrstelle. Das ist eine der wichtigsten Ursachen dafür, daß wir jetzt diese skandalös hohe Jugendarbeitslosigkeit, die die Bundesrepublik Deutschland früher so nicht kannte, in Höhe von einer halben Million Jugendlichen unter 25 Jahren haben. Deshalb ist es richtig und notwendig, daß die neue Regierung mit ihrem Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, mit ihrem Programm zur sofortigen Schaffung von 100 000 Arbeits- und Ausbildungsplätzen hier einen Schwerpunkt setzt. Als Opposition haben wir das immer gefordert. Jetzt setzen wir es um. Das wird nicht einfach sein. Wir werden mit einem von uns organisierten Bündnis für Arbeit und Ausbildung gemeinsam mit den Tarifpartnern und den Ländern die Weichen dafür stellen, daß die Betriebe wieder mehr Lehrstellen schaffen können. Ich glaube, man braucht nicht nur an Ostdeutschland zu denken, um sich bewußt zu werden, daß dies angesichts der anhaltenden Strukturschwäche in weiten Regionen nicht reichen wird. Deshalb müssen und werden wir grundsätzlich neue Wege gehen. Mit der Modernisierung und Flexibilisierung der dualen Berufsausbildung - Stichwort Basisqualifikation - kann die Ausbildung stärker an den Betrieb herangebracht werden und so in den Produktionsalltag eingebunden werden. Aber ohne Fortführung der außerbetrieblichen und der Benachteiligtenausbildung wird es auch nicht gehen können. Sollte das alles aber nichts nützen, dann - aber auch nur dann - bleibt uns immer noch unsere gesetzliche Handlungsmöglichkeit für einen fairen Leistungsausgleich, die wir dann auch nutzen werden. ({3}) - Herr Möllemann, wenn Sie nicht in der Lage sind, souverän Zwischenfragen zuzulassen, dann lassen Sie mich hier in aller Ruhe ausreden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Chancengleichheit will, der muß Bildungshürden niederreißen. Auch hier ist die Bilanz der alten Bundesregierung mehr als niederschmetternd. Generationen von Studenten waren auf BAföG angewiesen, ohne das sie gar nicht hätten studieren können. Die alte Bundesregierung jedoch hat das BAföG als Steinbruch zur Verringerung ihrer Haushaltsdefizite benutzt. Wir haben den Studenten unser Wort gegeben, daß wir diesen verfassungsmäßig garantierten Grundsatz des Rechts auf Bildung wieder in sein Recht einsetzen werden. In einem ersten Schritt werden wir dabei Ihre Schweinereien der 18. Novelle wieder ausbügeln ({5}) und auch Auslandsaufenthalte, Gremientätigkeit und begründeten Studienfachwechsel wieder in die Förderung einbeziehen. ({6}) - Sie sind es doch gewesen; in den letzten Jahren Ihrer Regierungstätigkeit haben Sie doch nie Skrupel gehabt. ({7}) In einem zweiten Schritt werden wir eine generelle Reform der Ausbildungsfinanzierung vornehmen. Wir werden uns selbstverständlich auch - dazu ist schon viel gesagt worden - an die steckengebliebene Hochschulreform machen. ({8}) Studiengebühren sind dabei der falsche Weg, da sie keine einzige der bereits bestehenden Verkrustungen an unseren Hochschulen aufbrechen können. Wir wollen das Hochschulstudium wieder studierbar machen, um so die Einhaltung von Regelstudienzeiten überhaupt zu ermöglichen. Wir werden uns selbstverständlich auch an die lange brachliegende Dienstrechtsreform machen. Ich vermag zum Beispiel überhaupt nicht einzusehen, warum es keine Professuren auf Zeit geben soll. Einige Länder experimentieren ja bereits sehr erfolgreich damit. Ich kann mir auch gut vorstellen, in Zukunft ganz auf die Habilitation zu verzichten. ({9}) Warum sollen wir nicht jungen Doktoranden mit einer auf fünf oder sechs Jahre befristeten „Assistant“Professur eine Chance geben, sich unabhängig und selbständig für die Bewerbung um einen auf Dauer angelegten Lehrstuhl zu qualifizieren. Meine Damen und Herren, in den zurückliegenden Jahren hat trotz eines offensiven Neoliberalismus eine Entideologisierung in der Forschungs- und Bildungspolitik stattgefunden. Daran werden wir als Voraussetzung weitreichender Reformen anknüpfen. Nur so können wir zu einem Diskurs aller Beteiligten kommen, der notwendig ist, um über alle Probleme vorurteilsfrei reden und sie konstruktiv lösen zu können. Zur Forschung ist heute, insbesondere von unserer neuen Ministerin, der ich an dieser Stelle alles Gute bei ihrem schweren, aber auch schönen Amt wünschen möchte, ({10}) schon sehr vieles gesagt worden. Einen ostdeutschen Punkt möchte ich hier anfügen. Die industrielle Schwäche Ostdeutschlands hängt ja bekanntermaßen auch mit dem überhasteten und kopflosen Abbau seiner Forschungsinfrastruktur im Zuge der deutschen Einheit zusammen. Es wird noch lange dauern - möglicherweise werden das quälende Jahre sein -, bis diese Schwäche überwunden sein wird. Das kann überhaupt nur gelingen, wenn wir neben der anstehenden Konsolidierung der ostdeutschen Forschungslandschaft - ich nenne hier bewußt das Stichwort Helmholtz-Institute - mit einem langen Atem konsequent nach vorn schauen und vor allem auch die Zukunfts- und Forschungsausgaben des gesamten Landes in den Blick nehmen. Ich finde es richtig, daß in letzter Zeit wieder von Eliten gesprochen wird. Man soll das aber nicht polemisch machen. Auch der Bundeskanzler sagte, daß der Geldbeutel der Eltern nicht über die Chancen der Kinder bestimmen darf. Das ist richtig und bleibt wichtig. Wir aus den neuen Bundesländern bringen aber noch eine andere Erfahrung mit. Das ist die Erfahrung kultureller Traditionen, die in Familien und Institutionen lebendig geblieben sind. Sie haben dazu beigetragen, daß es auch in der DDR eine Gegenelite gegeben hat, ohne die die heutigen Aufbauleistungen in Ostdeutschland gar nicht möglich wären. Mir scheint, daß auch heute Elite, und zwar in ganz Deutschland, an diese Bewahrung und Vermittlung kultureller Tradition geknüpft ist. Es kommt eben nicht nur darauf an, Chancen im materiellen Sinne als Unabhängigkeit vom Geldbeutel der Eltern zu geben. Es geht vielmehr auch um Chancen im kulturellen Sinne als Wissen um die eigene individuelle Würde und Freiheit. ({11}) Dies sind die entscheidenden Voraussetzungen für Mut, Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein und damit für die Leistungsfähigkeit nicht nur des einzelnen, sondern auch unserer gesamten demokratischen Gesellschaft. Mit den notwendigen Reformen in unserem Land müssen wir schnell Ernst machen, damit die nachfolgende Generation spürt, daß wir es ernst mit ihr meinen. Wir wollen, daß aus unserer Jugend etwas wird. Das ist auch eine der Voraussetzungen dafür, daß wieder Vertrauen in einer Generation entsteht, die sich - das zeigen die Studentenrevolten der letzten Jahre - bereits als zum Teil beiseite geschoben empfunden hat. Gerade weil wir Deutschlands Kraft vertrauen wollen, müssen wir uns deshalb dieses Vertrauens als würdig erweisen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hilsberg, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß zwei Worte, die Sie in Ihrer Rede gebraucht haben, nicht unbedingt dem Stil unseres Hauses entsprechen. Ich denke, wir sollten auch in dieser Legislaturperiode die Form wahren. ({0}) Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Wir kommen deshalb jetzt zum Themenbereich Verkehr, Bauen und Wohnungswesen. Außerdem rufe ich Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der wohngeldrechtlichen Regelungen - Wohngeldanpassungsgesetz ({1}) - Drucksache 14/19 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) Rechtsausschuß Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Dr. Dietmar Kansy, CDU/CSU, das Wort.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung der neuen Koalition, das Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und das Bundesministerium für Verkehr zusammenzulegen und auch im Deutschen Bundestag nur noch einen gemeinsamen Ausschuß für Verkehr, Bauund Wohnungswesen zu bilden, ist, Herr Minister, Chance und Gefahr zugleich. Es ist deswegen eine Chance, weil eine Reihe von Problemen, mit denen sich zum Beispiel unsere Städte und Gemeinden herumschlagen müssen, Wurzeln sowohl in der Baupolitik als auch in der Verkehrspolitik haben. Dazu gehört beispielsweise das Thema Wiederbelebung der Innenstädte. Ohne angepaßte Mobilitätsangebote im öffentlichen Nahverkehr und im Individualverkehr führen städtebauliche Maßnahmen nicht zu einer Verbesserung der Situation. Das gilt auch für die Factory Outlet Center, die eingedämmt werden müssen, ({0}) weil sie unsere Städte gefährden und Verkehr in der Fläche produzieren. Sie können künftig nur mit einer besseren Abstimmung von Bauplanungsrecht und Verkehrspolitik verhindert werden. Ähnliche Verzahnungen gibt es im nationalen, ja, sogar im internationalen Bereich. Eine moderne Raumordnungspolitik beispielsweise ist ohne enge Abstimmung mit nationalen und internationalen Verkehrspolitiken nicht machbar. Insofern bietet, Herr Minister, die Zusammenlegung neue Chancen. Wir hoffen, daß Sie sie nutzen. Die Zusammenlegung birgt aber auch Gefahren. Wir müssen aufpassen, daß unser neues, vergrößertes Arbeitsgebiet nicht zu einem „Steinbruch“ wird, in dem man scheinbar weniger wichtige Bereiche - vielleicht weil sie sich nicht in Milliardensummen in den Haushaltsplänen niederschlagen - so langsam unter den Tisch fallen läßt. Ökologisch ausgewogene Investitionen in Bahn, Straße, Wasserstraße sind die eine Sache, sozialer Wohnungsbau, Eigenheimförderung, eine Steuerpolitik mit Augenmaß im frei finanzierten Wohnungsbau sind eine andere Sache. Gütertransit, Telematik, Luftverkehrssicherheit sind das eine, Baugesetzbuch, Mietrecht, Wohngeld, Obdachlosigkeit sind das andere. Umweltschutz beim Verkehr und Habitat sind relativ leicht zusammenzuführen - aber Seeschiffahrt und Städtebau, Tempolimit und Raumordnung, Berlinumzug und Vergabewesen? Unsere Palette ist in dieser Legislaturperiode gewaltig. Wir sollten uns trotz dieser großen Palette gemeinsam alle Mühe geben, auch finanziell weniger gut dotierte Bereiche - aus beiden ehemaligen Bereichen, Frau Kollegin Mertens - in der neuen Legislaturperiode angemessen zu berücksichtigen. Was nun sagt die Bundesregierung darüber, wie sie diese Arbeit angehen will? In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers war, trotz zweieinviertelstündiger Dauer, kein einziges Wort über Verkehr und nur ein Satz über Städtebaupolitik zu hören. ({1}) Noch nie war eine Regierungserklärung auf diesen Feldern so sprach- und konturenlos, trotz eines zusammengelegten Ministeriums. ({2}) Deswegen haben wir uns einfach Ihre Koalitionsvereinbarung angeschaut und sie mit einigen Aussagen vor der Wahl verglichen. Viel mehr können wir heute, am ersten Tag, nicht machen. Fangen wir beim Wohngeld an: Noch im letzten Sommer haben wir unserem damaligen Finanzminister wenigstens 500 Millionen DM für Bund und Länder zusammen abgerungen. Herr Kollege Großmann - mein alter Sprecherkollege, herzlichen Glückwunsch zum Staatssekretär! -, ({3}) Sie haben sich damals geweigert mit der Begründung: Unter 1,5 Milliarden DM pro Jahr machen wir es nicht. ({4}) Und nun, verehrte Frau Kollegin Mertens, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig - ich bin ja jetzt von Frauen umzingelt, wunderbar, meine stellvertretende Fraktionsvorsitzende umzingelt mich mit -: In der Koalitionsvereinbarung ist zum Wohngeld eine Luftblase. ({5}) In den internen Papieren, die das eine oder andere dann doch an die Oberfläche bringen, ist für das nächste Jahr für Wohngeld weniger als 200 Millionen DM zusätzlich vorgesehen. Sie streben eine Anpassung offensichtlich relativ spät an. Sie hätten längst mehr und das viel früher haben können. Das sagt heute selbst unsere Kollegin und Präsidentin des Deutschen Mieterbundes, Anke Fuchs. Wenn wir damals im Sinne unseres Unionsvorschlages verfahren wären, dann wäre das schon vor einem halben Jahr geschehen. ({6}) Das nächste Thema ist Ihr Programm, meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Es ist nicht mein Job, Krokodilstränen darüber zu vergießen, daß von Ihren verkehrspolitischen Vorstellungen in der Koalitionsvereinbarung relativ wenig steht. Man könnte sich als Opposition freuen und sagen: Okay, drastische Wende von Illusion zu Realität, was so eine Wahl alles bewirkt. - Ich fürchte aber, es wird anders kommen: Bei dieser Unverbindlichkeit werden Sie sich auf Kosten der Zukunft unseres Landes kräftig streiten. Das fängt beim Transrapid an und hört beim Benzinpreis nicht auf. „Die Eigenheimförderung behält ihren hohen Stellenwert“ - steht in der Koalitionsvereinbarung - „und wird weiterentwickelt“. Zunächst beabsichtigen Sie aber, dort abzukassieren. Da braucht man nur den Gesetzentwurf zur Steuerreform zu lesen: bereits näcstes Jahr 595 Millionen DM, übernächstes Jahr 1,16 Milliarden DM weniger für die Eigenheimförderung durch Streichung des Vorkostenabzugs. Das hat den „erstaunlichen“ Charme, daß gerade der Bestand darunter leiden wird, den die SPD laut ihrer Wahlaussagen fördern will. Also: Abkassieren ohne Gegenleistung bei der Eigenheimförderung. Ich komme nun mit ein paar Gedanken zu unserem seit langem gemeinsamen Anliegen: der Städtebauförderung. Sie wissen - das können Sie mir nachher vorhalten -, daß wir CDU/CSU-Städtebaupolitiker an der Deckelung von 600 Millionen DM schon seit mehreren Jahren schwer kauen. Im letzten Jahr hatten Sie eine Erhöhung um 304 Millionen DM in Form von Verpflichtungsermächtigungen beantragt - Kollege Großmann, wenn Sie sich erinnern -, mit dem langfristigen Ziel von 2 Milliarden DM. Dies ist nach wie vor ein gutes Ziel. Wir warten jetzt mit Interesse auf Ihren Haushaltsentwurf und wünschen uns sehr, daß aus der roten Null an Erhöhungsmitteln, die bis jetzt in internen Papieren steht, ein bißchen mehr wird. Schaut man - nicht so oft wie der Kollege Möllemann, aber ab und zu einmal - in eine Tageszeitung, dann kann man Erstaunliches lesen. Ich nehme zum Beispiel „Die Welt“ vom 10. November 1998. Da kommt man aus dem Staunen wirklich nicht heraus, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig. „Grüne greifen Steuerpläne an“ steht da. Das haben wir früher schon öfter gelesen. Aber, wie gesagt, das ist die Zeitung von vorgestern; das war der Tag der Regierungserklärung von

Not found (Kanzler:in)

Unmut regt sich bei den Wohnungsbauexperten der Grünen über die Beschlüsse der Koalitionsvereinbarung zur Immobilienbesteuerung. Die wohnungsbaupolitische Sprecherin der Grünen, Franziska Eichstädt-Bohlig, kritisiert vor allem vier Eckpunkte der Koalitionsvereinbarung. . . . Nicht einen, gleich vier - das ist ein bißchen viel. Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie gehören jetzt einer Regierungsfraktion an, selbst wenn Sie es noch nicht gemerkt haben sollten. Es ist nicht wichtig, was in der Zeitung steht, sondern was Sie in den nächsten Wochen und Monaten beschließen werden: bei Sanierungsgebieten, bei Baudenkmälern, bei vertikalem VerlustausDr.-Ing. Dietmar Kansy gleich, bei der Eigenheimförderung. Alles das sind in den nächsten Wochen auch Ihre Beschlüsse, es sei denn, Sie besinnen sich noch eines Besseren. ({0}) Das bedeutet nicht mehr, sondern weniger Wohnungen, und nicht mehr Arbeit am Bau, sondern weniger. Wir bleiben bei unserer Forderung: Hände weg von einem der besten Gesetze der letzten Jahre - das übrigens mit Zustimmung der SPD hier im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde -: dem Eigenheimzulagengesetz. ({1}) Meine Damen und Herren, ich will mich heute nur zurückhaltend äußern; aber wenn jemand „Wählerbetrug“ dazu sagen würde, daß Sie im Rahmen des Eigenheimzulagengesetzes bei der Genossenschaftsförderung das völlige Gegenteil von dem machen, was Sie noch vor wenigen Wochen und Monaten gesagt haben, dann wäre das richtig. Bisher hatten Sie den Wegfall der Selbstnutzung als Voraussetzung für die Genossenschaftsförderung - O-Ton Großmann - als eine wichtige Aufgabe für die kommende Legislaturperiode dargestellt. Jetzt wollen Sie die Voraussetzungen sogar ins Gesetz schreiben, wie man Ihrem Entwurf eines Steuerreformgesetzes entnehmen kann. Meine Damen und Herren, auch in unserem Fachbereich gilt das Wort unseres Vorsitzenden, Wolfgang Schäuble, daß wir nicht Opposition um der Opposition willen machen werden. Was vernünftig ist, werden wir offen diskutieren, gegebenenfalls versuchen zu verbessern. Was wir nicht mittragen werden, werden wir knallhart bekämpfen. Auch hier werden wir Sie an dem messen, was Sie vor der Wahl versprochen haben. Herr Minister Müntefering, zum Abschluß wünsche ich Ihnen über die Fraktionsgrenzen hinweg im Interesse unseres Landes eine glückliche Hand und Gottes Segen für Ihre Arbeit. Vielen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kansy hat mich persönlich wegen eines Zeitungsartikels in der „Welt“ angesprochen. Ich möchte nur klarstellen: Als alter Hase wissen Sie, Herr Kansy, doch sehr genau, daß die Fachpolitiker eigentlich couleurübergreifend um die nötigen Finanzen für ihre Bereiche kämpfen müssen. Das kennen Sie vom Wohngeld genauso wie von der Städtebauförderung und Stadterneuerung. Sie wissen genau, daß wir es nötig haben, rechtzeitig vor den Haushaltsberatungen um diese Mittel zu kämpfen. In diesem Sinne tragen wir die Dinge kollegial, solidarisch aus und ringen um unsere Etats. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich erteile jetzt das Wort dem Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Franz Müntefering. Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Legislaturperiode wird in erheblichem Maße vom Umzug des Deutschen Bundestages und von Teilen der Bundesregierung nach Berlin bestimmt sein. Die Zusage gilt: Die Bundesregierung will, wenn der Deutsche Bundestag im September nächsten Jahres in Berlin dauerhaft arbeitsfähig ist, in Berlin sein. Bis dahin wird noch viel zu tun sein. Es wird zwei bis drei Jahre ganz besondere Arbeitsbedingungen für Sie und für uns geben. Es wird uns allen eine ganze Menge an Flexibilität und auch an Mut zur Improvisation abgefordert werden. Ich werde zum 18. November dem Kabinett einen Bericht über den Stand der Dinge vorlegen und deutlich machen, was aus meiner Sicht jetzt schnell zu passieren hat; denn nicht alles ist ausreichend gut vorbereitet. Aber ich gehe davon aus, es wird klappen, und zwar pünktlich. Berlin kann die Bundesregierung nächstes Jahr im Sommer, im Herbst erwarten. Bonn darf sich darauf verlassen, daß die Verträge und Vereinbarungen, die es gibt, gelten. BMBau und BMV sind zum Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zusammengelegt. Das hat seine Logik. Was uns das Grundgesetz vorgibt, nämlich gleichwertige Lebensbedingungen in allen Landesteilen anzustreben und auch durchzusetzen, hat etwas mit raumordnerischen Ansätzen und mit der Frage zu tun, wie sich verschiedene Politikbereiche bündeln lassen, um dieses Ziel zu erreichen. Deshalb werden nicht zwei Häuser nebeneinander arbeiten, das alte Bau- und das alte Verkehrsministerium. Vielmehr wollen wir sie verschmelzen: die Themen, die diese Häuser haben, und die Aufgaben, die sich daraus ergeben. In diesem Haus wird der größte Investitionsbereich des Bundes sein: im Verkehrs-, im Wohnungsbereich. Auch an dieser Stelle wird deutlich, daß Chancen gesucht werden können und genutzt werden müssen, um die Verteilung der Mittel zu optimieren und sie so einzusetzen, daß sie eine nachhaltige Städtebau- und Verkehrspolitik ermöglichen, aber auch möglichst viele Arbeitsplätze bringen und garantieren. ({1}) Bundesmittel, die für den Verkehr eingesetzt werden, lösen pro Mark drei Mark zusätzliche Investitionen aus anderen Kassen aus. Im Städtebau ist das Verhältnis etwa 1 : 5. Es ist daher ganz wichtig, daß wir die Mittel, die wir zur Verfügung haben, so einsetzen, daß möglichst viele Arbeitsplätze entstehen und gesichert werden und daß die kleinen und mittleren Unternehmen davon profitieren. Der Wohnungs- und der Städtebau und der Verkehrsbereich sind die Bereiche, in denen die standortabhänDr.-Ing. Dietmar Kansy gige deutsche Bauindustrie, das deutsche Baugewerbe seinen großen Rückhalt hat. Deshalb müssen wir wissen, welches Pfund wir hier in der Hand haben. ({2}) Deshalb ist es meine Sache, die illegale Beschäftigung und das Lohn- und Sozialdumping zu bekämpfen. Es kann nicht so bleiben wie im letzten Jahr, daß es bei einer relativen Baukonjunktur 30 000 Pleiten im Baugewerbe gab und 200 000 Bauarbeiter arbeitslos waren. Das darf nicht sein. ({3}) Beim Thema „Raumordnung und regionale Entwicklung“ sind vor allem die besonderen Aufgaben in Ostdeutschland zu erwähnen. Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ müssen zügig fortgeführt werden. Hier entscheidet sich das Zusammenwachsen im Alltag auf ganz praktische Weise. Es geht um die Fortführung, möglichst Verstärkung, der KfW-Programme, um in den neuen Ländern Aufgaben im Bereich des Wohnens zu erfüllen. Die Aufgaben, die wir in unserem Ministerium bündeln können, werden uns zusammen mit dem Kanzler in den nächsten Monaten besonders oft in die neuen Länder führen; ({4}) denn dort zeigt sich, ob es jetzt mit der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen ernst wird. Wohnen, meine Damen und Herren, ist mehr als ein Dach über dem Kopf zu haben. Von Zille stammt der Satz: „Man kann den Menschen mit der Wohnung erschlagen wie mit einer Axt“, nämlich dann, wenn sie nicht bezahlbar oder nicht menschenwürdig ist. Deshalb bleibt das menschenwürdige Wohnen eine große Aufgabe für die Politik. Dabei steht die Eigenverantwortung ganz vorn. Auch beim Wohnen gilt: Die Menschen, die können, müssen selbst dafür sorgen, daß sie menschenwürdig und bedarfsgerecht wohnen. Aber nicht alle Einzelpersonen und alle Familien können das. Deshalb gilt: Wir müssen im Eigenheimbereich und im Mietwohnungsbereich dafür sorgen, daß die Menschen das haben, was zur Menschenwürde gehört. Das Wichtigste neben der Arbeit, dem Essen und der Gesundheit ist für die Menschen das Wohnen. ({5}) Es bleibt die große und zentrale Aufgabe, dafür zu sorgen, daß es hinreichend viele menschenwürdige Wohnungen gibt, die bezahlbar sind. Das Thema Wohngeld wird uns sehr schnell erreichen, und wir werden im Jahre 1999 erste Schritte gehen. ({6}) Natürlich gilt, daß sich die Mieterinnen und Mieter in ganz besonderer Weise auf die Sozialdemokraten verlassen können. ({7}) Es gehört zum Mietrecht, daß die Mieter wissen, sie sind sicher und haben einklagbare Rechte. Hier werden die Sozialdemokraten so sensibel bleiben, wie sie es immer gewesen sind. Die Bestandspolitik ist ein ganz besonders wichtiges Thema. Wir müssen neu bauen, wir brauchen zusätzliche Wohnungen, aber wir brauchen auch dringend neue Aktivitäten im Bestand. ({8}) Es kann nicht sein, daß der Bestand absackt; denn wir wissen alle: Die Qualität der Stadt und die Wohnungsqualität sind Lebensqualität. Die Menschen machen ihre Erfahrungen mit der Demokratie vor Ort, in ihrer Wohnung und in ihrem Stadtteil. Auch im 21. Jahrhundert, im nächsten Jahrtausend, wird es so sein, daß die Menschen ein Zuhause, im guten Sinne des Wortes eine Heimat in ihren Städten und Dörfern haben wollen. Deshalb bleiben die Stadtentwicklung, der Städtebau, die Stadtförderung und die gemeindliche Entwicklung ein ganz zentrales Anliegen. Wir wollen auch in Zukunft keine Gettos in deutschen Städten haben. ({9}) Die Mobilität ist eine der entscheidenden Grundlagen des Wohlstands in unserem Land. Nur wenn ein Land wie unseres in der Lage ist, Menschen, Güter und Informationen pünktlich, zielgerichtet, preiswert und umweltgerecht an die Orte zu bringen, an die sie müssen, kann der Wohlstand gesichert sein. Deshalb wird die Sicherung der Mobilität eine große Aufgabe in dieser Legislaturperiode sein. 90 Prozent des Individualverkehrs werden mit dem Auto abgewickelt. Das bleibt das wichtigste Instrument der Mobilität in diesem Land. ({10}) Wir werden daran arbeiten, daß es sicher ist, noch sicherer wird, daß es umweltfreundlich ist und noch umweltfreundlicher wird. Aber die entscheidende Frage, die wir zu beantworten haben, ist die der Fortentwicklung des Bundesverkehrswegeplans. Dabei geht es nämlich um die Optimierung von Straße, Schiene, Luft und Wasser. Es geht um die Frage, ob es uns gelingen wird, davon wegzukommen, daß die einzelnen Verkehrsarten nebeneinander betrachtet werden, ob es uns gelingen wird, sie zu bündeln und daraus eine sinnvolle integrierte Verkehrspolitik zu entwickeln. Das ist die zentrale Aufgabe, die wir in dieser Legislaturperiode zu erfüllen haben. ({11}) Dabei geht es nicht nur um Hardware, sondern auch um Verkehrstechnik und Telematik. Da geht es um die Frage, ob wir es schaffen, nicht nur Autos zu exportieren; vielmehr geht es auch um die Frage, ob wir VerBundesminister Franz Müntefering kehrstechnik exportieren können. Das wird eine ganz wichtige Industrie sein. ({12}) Es ist eine ganz wichtige Frage, die nicht nur die Länder Europas berührt, sondern weit darüber hinausgeht; denn natürlich werden die Verkehrsprobleme im wesentlichen nur zu lösen sein, wenn wir in Europa einheitliche Vorkehrungen im Bereich der Verkehrstechnik und der Modernisierung schaffen. Solange es in Europa noch drei unterschiedliche Schienenbreiten, rund zehn verschiedene Signalsysteme und 16 verschiedene Stromarten gibt, so lange kommen wir nicht voran. Deshalb müssen hier entscheidende Veränderungen zustande kommen. ({13}) Die Wasserstraßen in Deutschland sind als Verkehrsträger nicht ausgelastet. Sie werden in Zukunft eine ganz wichtige Funktion haben. Sie sind natürliche Verkehrsträger. Deshalb müssen wir sie in besonderer Weise nutzen. Bisher werden hier nur 6 bis 7 Prozent der Güter transportiert. Das ist zu wenig. Das gleiche gilt - vielleicht in noch größerem Maße für die Schiene. Die Bahnreform wird weitergehen. Wir werden der Bahn helfen, aber die Verantwortlichen bei der DB müssen wissen, daß es sich um ein selbständiges Unternehmen handelt. Sie haben die Verantwortung dafür zu tragen, daß sie eine gute Verkehrspolitik machen, mit und für die Schiene. Dabei werden wir sie unterstützen. Aber wir werden sie auch herausfordern, damit Veränderungen in den nächsten Jahren möglich sein werden. ({14}) Wir haben uns vorgenommen, in dieser Legislaturperiode die streckenabhängige Gebühr für Lkws einzuführen. Dazu brauchen wir elektronische Erfassungsgeräte. Dazu brauchen wir auch Vorbereitung. Aber es soll in dieser Legislaturperiode dazu kommen, daß für Lkws, die in Deutschland fahren, streckenabhängige Gebühren gezahlt werden müssen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ilja Seifert?

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Bitte schön.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Minister, Sie sprachen gerade davon, daß Sie innovative Verkehrstechniken fördern wollen und sie nicht nur in Deutschland verwendet werden sollen. Sie sprachen auch davon, daß zum Beispiel die privatwirtschaftliche Bahn ihre Aufgabe erfüllen soll. Aber wie sieht es aus? Sind Sie bereit, den Vorschlag zu unterstützen, daß Betriebserlaubnisse in Zukunft nur noch dann erteilt werden, wenn zum Beispiel Menschen mit Behinderungen jederzeit mitfahren können, so daß wir in absehbarer Zeit einen öffentlichen Nah- und Fernverkehr haben werden, der von allen Menschen - mit oder ohne Behinderung - genutzt werden kann? Das gleiche gilt natürlich für die Städtebauförderung. Schaffen wir es, daß Sie entsprechende Verordnungen herausgeben, die es verbieten, behindertenfeindliche Transportmittel anzuschaffen?

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Ich möchte dazu zwei Dinge sagen, Herr Kollege. Ich weiß erstens nicht, ob ich akustisch alles verstanden habe. Zweitens bin ich Westfale. Das sind vorsichtige Menschen, wie Sie wissen. Ehe sich solche Menschen auf Details festlegen, die sie nicht bis in die Feinheiten kennen, warten sie lieber ab und schauen sich das Ganze noch einmal genau an. Ich werde schon bald dem zuständigen Ausschuß des Deutschen Bundestages darüber Bericht erstatten, was wir uns in dieser Legislaturperiode vorgenommen haben. Dann werde ich Ihnen auch auf Ihre Frage eine gute und plausible Antwort geben können. Das möchte ich jetzt nicht versuchen. ({0}) Die streckenabhängige Gebühr für Lkws muß möglichst über Deutschland hinaus in ganz Europa gelten. Sie wird deutlich machen, daß die Schiene für den weiten Transport von Gütern ein ganz besonderes Gewicht haben wird; denn die, die mit ihren Lkws lange unterwegs sind und kreuz und quer durch Deutschland fahren, werden deutlich mehr als bisher zahlen. Wenn wir diese beiden Aspekte vernünftig miteinander verbinden, nämlich daß die Schiene mehr für den Transport von Gütern auf langen Strecken genutzt wird und daß die Straße mehr für kurze Strecken genutzt wird, dann haben wir an dieser Stelle, so glaube ich, etwas Wichtiges erreicht. Wir haben dann erreicht, daß der Transport von Gütern von der Sraße auf die Schiene und auf das Wasser verlegt wird. Das sind die beiden entscheidenden Wege, die wir gehen müssen. Das Ganze wird nur zu erreichen sein, wenn wir uns darüber in Europa verständigen. Wie wichtig Europa ist, zeigt sich gerade in diesen Tagen bei der Havarie der „Pallas“. Ich will jetzt dazu nicht viel sagen; denn im Moment kommt es darauf an, daß das, was zu retten ist, gerettet wird. Aber wir werden nicht vergessen, darüber dem Bundestag und dem entsprechenden Ausschuß detailliert, schnell und ausführlich zu berichten: Was dort stattgefunden hat und noch in diesen Stunden stattfindet, muß Konsequenzen haben. Das darf so nicht sein. ({1}) Es hat eine Reihe unglücklicher Umstände gegeben. Ich bin gegen alle die angetreten, die vorschnell Vorwürfe gegen Beteiligte erhoben haben. Ich bin gegen Spekulationen. Wir müssen das auf den Kern bringen. Wir müssen wissen, ob wir in Europa auch in Zukunft wollen, daß Schiffe, die sich der Schrottreife nähern und die mit Lohn- und Sozialdumping unter fremder Flagge laufen, freie Fahrt auf unseren Meeren haben. Das ist der entscheidende Punkt. ({2}) All denen, die jetzt ganz schnell auf die einschlagen, die zu helfen versuchen, sage ich: Es macht wenig Sinn, die Feuerwehr zu beschimpfen. Man muß da anfangen, wo das ganze Dilemma liegt. ({3}) Wohnungs- und Städtebau, Stadtentwicklung, Raumordnung und Verkehrspolitik - das ist alles etwas, was ganz eng mit Umweltentwicklung zu tun hat. Das alles muß ökologisch buchstabiert sein. Wir sind sicher, daß das geht. Bei allem, was wir dafür zu tun haben - in der Bau- und in der Verkehrspolitik -, werden wir uns immer wieder fragen: Was kann in bezug auf Umweltfreundlichkeit verbessert werden? Denn die Qualität der Städte und auch die Qualität der Umwelt hängen entscheidend davon ab, was wir in diesen Arbeits- und Politikbereichen in den nächsten Jahren erreichen. Deshalb wird darauf einer unserer Hauptaugenmerke liegen. ({4}) Frau Präsidentin, ich sehe, daß ich seit sieben Minuten eine Sieben auf meinem Redezeitdisplay stehen habe. Ich bedanke mich dafür.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, das liegt nicht an meiner Großzügigkeit, sondern daran, daß die EDV versagt hat.

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Das muß passiert sein, als ich etwas zur Telematik gesagt habe. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Sie haben jetzt noch 23 Sekunden. ({0})

Franz Müntefering (Minister:in)

Politiker ID: 11001570

Gut, 23 Sekunden. ({0}) Ich bitte den Bundestag und seine Gremien um gute Zusammenarbeit - konstruktiv und, da wo es nötig ist, kritisch. Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fortschritt. Insofern habe ich keine Sorge. ({1}) Ich bin sicher, daß die Wählerinnen und Wähler sehr bald merken werden, daß es sich gelohnt hat, dieser Koalition eine Chance zu geben. ({2}) Wir haben spannende Jahre vor uns. Ich bin mir dessen bewußt; ich bin mir aber auch bewußt, daß wir in dieser Koalition die Chance haben, etwas zu erreichen, was die alte Koalition nicht geschafft hat, nämlich in diesem Land noch einmal das Bewußtsein dafür zu wecken, daß es darum geht, die Lebensqualität zu suchen und zu finden - in den Städten, beim Wohnen und in allen Fragen der Verkehrspolitik. In diesem Sinne: Glück auf! ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Horst Friedrich, F.D.P., das Wort.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Aufbruch und Erneuerung“ steht über der Koalitionsvereinbarung von Rotgrün. Der „Stern“ - normalerweise Rotgrün gegenüber sehr aufgeschlossen ({0}) titelt: „Aufbruch mit angezogener Bremse“. Recht hat er, der „Stern“. Denn ich muß zugeben, ich habe selten zwei Stunden lang nichts in einer Regierungserklärung gehört, schon gar nichts zur Verkehrspolitik. ({1}) Dabei ist das der größte Investitionshaushalt und damit daran wollen Sie sich ja messen lassen - mitentscheidend für die Arbeitsplatzsituation in Deutschland. ({2}) Es wundert mich allerdings nicht, daß in der Regierungserklärung nichts zur Verkehrspolitik gesagt worden ist. Denn die Aussagen dazu in der Koalitionsvereinbarung sind eher dürftig. Um Ihnen die gehaltvolle Qualität einmal vor Augen zu führen, gestatten Sie mir ein Zitat: Die besonderen Anforderungen an Mobilität gerade im ländlichen Raum werden berücksichtigt. Donnerwetter! Das haut einen tatsächlich vom Sockel. Der Satz ist so gehaltvoll und qualitäthaft, daß einem dazu nichts mehr einfällt. Das Schlimme ist: Dieser rote Faden an tollen Aussagen zieht sich durch die ganze Passage der Koalitionsvereinbarung zum Thema Verkehr. Da, wo Sie konkret werden, geht es ausschließlich um die Verteuerung des Straßenverkehrs. ({3}) Ich will nur einmal darauf hinweisen, daß wir zum 1. Juli 1998 die Aufhebung der letzten Beschränkung innerhalb Europas hatten, nämlich des Kabotagevorbehalts. Alles, was Sie national machen, das einseitig zur Verteuerung des Straßenverkehrs in Deutschland führt, führt wahrscheinlich - über einige Umwege - zwar nicht zu weniger Straßenverkehr, aber dazu, daß der Straßenverkehr mit anderen Verkehrszeichen stattfindet und ich gehe einmal davon aus - auch mit anderen Nationalitäten hinter dem Lenkrad. Das sollte man wissen, insbesondere der Finanzminister; denn jeder nicht mehr unter deutscher Flagge fahrende Lkw kostet ihn, rund gerechnet, 100 000 DM pro Jahr. Eine weitere wichtige Frage für die Bauwirtschaft und für die Arbeitsplätze ist, wie Sie es weiterhin mit der Finanzierung der Infrastruktur halten wollen. Die staunende Öffentlichkeit kann im Vorfeld mitbekommen haben, daß es darum ging, Investitionsmittel von der Straße auf die Schiene umzuschichten. Die Frage war: Sind es 2 Milliarden DM, so wie von der SPD verlangt, oder sind es 3 Milliarden DM, so wie die Grünen vorgeschlagen haben? Ich gehe einmal davon aus, daß es - auf Grund der Qualität der Verhandlungsführung der Grünen in den Koalitionsgesprächen - wohl eher 2 Milliarden DM sein werden. ({4}) - Verstehen Sie das lieber als Ironie. Ich habe schon einmal gesagt: Wer wie Sie, bereits auf dem Bauche liegend, in den Koalitionsverhandlungen kriecht, der kann zumindest physisch nicht mehr umfallen. ({5}) - Dann ziehe ich mich halt wieder auf das Zitat zurück, lieber Herr Kollege Schmidt, daß Sie bestenfalls auf Hühneraugenhöhe verhandelt haben; auch das ist eine bestimmte körperliche Haltung. ({6}) Ich wundere mich allerdings, wie der jetzige Verkehrsminister das seinen Verkehrsministerkollegen aus den Ländern erklären will, die in einer Verkehrsministerkonferenz im November 1997 in Hannover festgestellt haben, daß für die Finanzierung des Straßenbautitels 4 Milliarden DM fehlen. Diese Verkehrsministerkollegen haben den Bund aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, daß diese 4 Milliarden DM im Straßenbautitel kurzfristig eingestellt werden sollen. Ich nehme an, daß diese Forderung der überwiegend von der SPD gestellten Verkehrsminister nicht nur so lange Gültigkeit hatte, wie CDU/CSU und F.D.P. den Bundesminister für Verkehr gestellt haben. Ich werde Sie an dieser Forderung messen. ({7}) Lassen Sie mich auch noch einige Gedanken zum Wohnungsbau anbringen. Herr Müntefering hat in diesem Bereich eigentlich eine glänzende Ausgangsposition vorgefunden. Durch die qualifizierte Politik von Irmgard Schwaetzer bereits in der Zeit von 1990 bis 1994 ist erreicht worden, daß man zum damaligen Zeitpunkt sagen konnte: Statistisch gesehen wird jede Minute in Deutschland eine Wohnung fertiggestellt. Die Wohnungspolitik der von uns getragenen Regierungen war und ist durch einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt und durch sinkende Mieten gekennzeichnet. Wir haben bereits teilweise Leerstände. Die Eigentumsquote in Ost und West ist gestiegen; allerdings reduziert sich die Zunahme im Baubereich ausschließlich auf den Einfamilienhausbereich. Wenn jetzt in der Koalitionsvereinbarung und dem daraus abgeleiteten Steuerentlastungsgesetz die Immobilienwirtschaft einer der Hauptfinanzierer Ihrer Steuerreform werden soll, weil zum Beispiel die geplante vollständige Streichung des Vorkostenabzugs, die Einschränkung der Verrechenbarkeit von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, die Verfünffachung der Spekulationsfrist für Immobilienverkäufe, die Streichung der Werbungskostenpauschale für Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie die Abschaffung und Kürzung verschiedener Möglichkeiten, in besonderen Fällen anfallenden erhöhten Herstellungs- und Erhaltungsaufwand abzusetzen, sich zu einer Belastungssumme von rund 3,5 Milliarden DM ausweiten, dann belasten Sie in der Gegenfinanzierung mit dieser Summe die Immobilienwirtschaft. Das, zusammen mit der geplanten Verschärfung der Grunderwerbsteuer und der Belastung der Rücklagen der Bausparkassen, summiert sich dann auf 4 Milliarden DM pro Jahr. Es ist zu befürchten, daß sich diese „Liste der Grausamkeiten“ genau zum falschen Zeitpunkt in einer Art und Weise auf den Wohnungsmarkt auswirkt, daß hier in den nächsten Jahren hausgemachte Probleme auf uns zukommen werden. Die neue Bundesregierung schafft mit diesem Gesetzentwurf die Voraussetzungen für die zukünftige Wohnungsknappheit, vor allem dann, wenn mit der privaten Vermögensteuer bzw. einer Erhöhung der Erbschaftsteuer und mit der Reform des Wohnraummietrechts noch weitere wohnungspolitische Grausamkeiten folgen. Ich fürchte, Herr Minister Müntefering, Ihre Schlußbilanz wird erheblich schlechter aussehen als die Eröffnungsbilanz, die Sie übernehmen durften. ({8}) Die F.D.P. wird Ihre Arbeit außerordentlich kritisch begleiten. Sie können sicher sein, daß wir keinen Ihrer Fehler unbemerkt verstreichen lassen. Ich wünsche Ihnen allerdings Erfolg zum Wohle von Deutschland und auch Gesundheit; denn ich habe im Geschäftsverteilungsplan der Bundesregierung gelesen, daß Sie von Herrn Trittin vertreten werden. Da - das muß ich sagen - sind Sie mir immer noch lieber. Danke sehr. ({9}) Horst Friedrich ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Abgeordnete Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nach so vielen Liebeserklärungen bin ich fast versucht, zu fragen, wo ich bei diesem Ranking rangiere, Kollege Friedrich. Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobilität ist Produkt und Voraussetzung des Zusammenlebens in einer freien, vernetzten und technisierten Welt. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen bringt dies unmißverständlich zum Ausdruck. Wir werden die Mobilität der Menschen und den Transport der Waren gewährleisten, und zwar auch der Menschen, die nicht über ein eigenes Automobil verfügen - das sind oft alte Menschen, Kinder und Jugendliche und Menschen, die sich ein Auto nicht leisten können oder wollen -, denn Mobilität ist nicht nur „Automobilität“, sondern auch Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die wir ausbauen wollen. ({0}) Ziel eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems muß es allerdings sein, nicht nur Beweglichkeit zu garantieren, sondern zugleich die mit den notwendigen Transporten verbundenen Aufwendungen - den Verbrauch an Energie, Rohstoffen und Flächen sowie die damit verbundenen Emissionen - schrittweise zu reduzieren. Dies verlangt angesichts der hohen verkehrsbedingten Umweltund Gesundheitsbelastungen entscheidende neue Maßnahmen. Es verlangt erstens moderne Logistik zur Vermeidung unnötiger Transportvorgänge. Herr Minister Müntefering hat dies bereits angedeutet. Es verlangt zweitens die intelligente Verknüpfung von Verkehrsträgern mit dem Ziel der Verlagerung möglichst großer Anteile auf die umweltfreundlichen Systeme Bahn und Schiff. Es verlangt drittens eine Effizienzrevolution der eingesetzten Technologien vom Dreiliterauto über die kombinierten Ladungsterminals bis hin zum verbrauchsarmen Leichtbauzug auf der Schiene. Umweltschutz und moderne Technik gehören zusammen, ganz besonders im Verkehr. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vieles von dem, was gestern und heute in diesem Haus schon diskutiert wurde, wird zu einem schrittweisen Umbau unseres Verkehrssystems in diesem Sinne beitragen, zum Beispiel die ökologisch-soziale Steuerreform, die Erforschung und Förderung moderner Energietechnik und die Entwicklung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Grundvoraussetzung aber für die Schaffung eines zukunftsfähigen Mobilitätsentwurfs ist die Herstellung von Chancengleichheit im Wettbewerb der Verkehrsträger. Das wird die Kernaufgabe der neuen Verkehrspolitik sein; denn alles Reden vom Verkehrsmarkt bleibt graue Theorie, solange die Konkurrenten auf diesem Markt, nämlich Straßenverkehr, Schienenverkehr, Luftverkehr und Schiffsverkehr, unter höchst ungerechten Bedingungen antreten müssen. ({2}) Dabei ist es vor allem die Schiene, die bis heute massiv benachteiligt wurde. Seit Jahren wurde ein zentraler Grundsatz des 1993 im Rahmen der Bahnreform beschlossenen Allgemeinen Eisenbahngesetzes verletzt, der da heißt: Bundesregierung und Landesregierungen haben darauf hinzuwirken, daß die Wettbewerbsbedingungen der Verkehrsträger angeglichen werden und daß durch einen lauteren Wettbewerb der Verkehrsträger eine volkswirtschaftlich sinnvolle Aufgabenteilung ermöglicht wird. Das heißt, ohne den Abbau bestehender Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn läuft auch die Bahnreform ins Leere. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag ({3}) - ich komme darauf noch sehr konkret zu sprechen, Herr Kollege Friedrich - sehr genau festgelegt, was nach dem jahrelangen Versäumnis der Ära Wissmann nun zu geschehen hat. Der bisherige Verkehrswegeplan - das weiß jedes Kind - beruht auf veralteten Prognosen und Kostenabschätzungen. Er wird dem aktuellen Umweltrecht nicht mehr gerecht. Er ist vor allem hoffnungslos unterfinanziert. Deshalb werden wir im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für einen umweltverträglichen und effizienten Verkehr diese Verkehrswegeplanung zügig überarbeiten, das heißt, rechtlich und finanziell auf eine solide Grundlage stellen. Dazu gehört insbesondere die Aktualisierung der Daten, die Neufassung der Bewertungsmaßstäbe und die Sicherstellung der Finanzierbarkeit inklusive der Folgekosten. Eine solche Neuerstellung eines realistischen Verkehrswegeplanes - nicht eines Wunschzettels an das Christkind - wird nicht nach dem Marktschreierprinzip, also nach dem Motto, wer am lautesten schreit, bekommt am meisten, erfolgen, sondern nach nachvollziehbaren Kriterien. Das ist keine rotgrüne Marotte, sondern der gesetzliche Auftrag. Auch nach Auffassung des Bundesrechnungshofes ist dies längst überfällig. ({4}) Zum Transrapid. Ich will diesem besonders umstrittenen Thema gar nicht ausweichen. Sie von der früheren Koalition sind jetzt vielleicht von uns enttäuscht worden, weil sich Ihre Unterstellung, die Grünen seien aus dem Prinzip einer verbohrten Technikfeindlichkeit generell gegen die Magnettechnik, als haltlos und abwegig erwiesen hat. Ich möchte Ihnen sagen, worum es ganz nüchtern geht. Es geht in dieser Frage ({5}) - Herr Friedrich, hören Sie einmal zu; cool down, baby - weder um ein Glaubensbekenntnis zu der Strecke Hamburg - Berlin um jeden Preis - dazu war nicht einmal Herr Wissmann bereit -, noch geht es um eine quasi religiöse Ablehnung einer Technologie per se. Die Magnetbahn ist kein Atomkraftwerk, sondern eine Verkehrstechnik. Es geht vielmehr wie bei jeder anderen Verkehrsplanung auch um eine nüchterne Wirtschaftlichkeitsberechnung und um eine faire Lastenverteilung zwischen der öffentlichen Hand, dem Bund und der Industrie. Sonst macht ja das Wort von der öffentlichprivaten Partnerschaft keinen Sinn. Konkret heißt das für die Strecke Hamburg - Berlin: Gemäß Ziffer 10 des Eckpunktepapiers vom April 1997, das die damalige Bundesregierung, die Deutsche Bahn AG und das Industriekonsortium gemeinsam unterschrieben haben, muß dann über dieses Projekt neu entschieden werden, wenn die Kosten deutlich steigen. Genau das ist ja offenkundig der Fall, denn für den Fahrweg werden anstatt der damals festgeschriebenen 6,1 Milliarden DM nunmehr vom Eisenbahn-Bundesamt Kosten in Höhe von bis zu knapp 8 Milliarden DM angenommen, und zwar nicht als Schätzwerte, sondern größtenteils auf der Basis von Ausschreibungsergebnissen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Wolf?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herrn Dr. Wolf immer gerne.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Schmidt, Sie haben gerade den Transrapid angesprochen und sind noch dabei, über die - salopp gesagt - wackelpuddingartige Stellungnahme zum Transrapid-Projekt im Koalitionsvertrag zu reden. Ich möchte Sie fragen, ob Sie Kenntnis davon haben, daß im Bundesausschreibungsblatt Nr. 27 vom 2. November 1998 der gesamte Transport der Überbauten für die Magnetbahnstrecke Hamburg - Berlin inklusive detaillierter Spezifikationen ausgeschrieben wird. Dabei wird als Schlußtermin für die Bewerbungen der 27. November 1998 angegeben und der Beginn der Bauarbeiten für Mai nächsten Jahres terminiert. Ist Ihnen das bekannt? Kann das vielleicht bedeuten, daß Herr Müntefering gegen die Position der Grünen diese Ausschreibung lanciert hat?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Dr. Wolf, das Bundesausschreibungsblatt vom 2. November 1998 habe ich leider nicht gelesen. ({0}) Ich nehme aber gerne zur Kenntnis, daß Planungsbehörden immer eine gewisse Zeit brauchen, bis sie die veränderten politischen Rahmenbedingungen begreifen. Ich kenne das auch von anderen Verkehrsprojekten her. Ich gehe davon aus - ich will Ihnen ganz präzise sagen, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben -, ({1}) daß sich Bund, Bahn und Industrie gemäß dem, was sie selbst vertraglich vereinbart haben, nun zusammensetzen und gemeinsam überlegen müssen, wie es weitergeht. Im Klartext heißt das, daß einer von den drei Partnern 2 bis 3 Milliarden DM auf den Tisch legen muß; oder die Strecke Hamburg - Berlin wird nicht zu realisieren sein. ({2}) Ich sehe nicht, daß der Bund dies tun wird. In der Koalitionsvereinbarung ist das ausgeschlossen. Ich sehe nicht, daß die Bahn das tun wird. Ihr Vorstandsvorsitzender hat das in einer öffentlichen Stellungnahme ausgeschlossen. Es bleibt die Industrie. Wenn ich mir die wirtschaftlichen Probleme von Siemens und Adtranz anschaue, so erwarte ich zumindest keine Sensationen. Ich sehe diesen Gesprächen mit großer Gelassenheit entgegen. Lassen Sie mich noch klar und eindeutig etwas dazu sagen, wie die Bahnreform zu geschehen hat. Wir haben sehr präzise festgelegt, daß wir die Möglichkeiten zur Senkung von Trassenpreisen nutzen wollen. Es kann nicht sein, daß nur für den Schienenweg, nicht aber für den Straßenverkehr das Prinzip der vollen Deckung der Wegekosten gilt. Ferner wollen wir Maßnahmen zur Sicherung eines fairen und diskriminierungsfreien Wettbewerbs von Bahnunternehmen auf der Schiene ergreifen. Außerdem wollen wir schrittweise die Benachteiligung der Bahn bei den für Infrastrukturmaßnahmen vorgesehenen Investitionen im Bundeshaushalt abbauen. Für die Länder ist von entscheidender Bedeutung - das ist die Abwehr eines Anschlags der alten Bundesregierung auf den Schienennahverkehr -, daß wir die Mittel für die Regionalisierung bei der Bestellung von Nahverkehr auf der Schiene garantieren werden. Das schafft Planungssicherheit und Spielräume von Angebotsverbesserungen von Bremen bis Berchtesgaden. Das ist für jeden Landesverkehrsminister von größter Bedeutung. ({3}) Wir werden uns aber nicht nur um die Trassenpreise im Bereich der Schiene kümmern, sondern auch um die Preise im Bereich der Straße. Herr Minister Müntefering hat es angesprochen, daß die bisherige EUJahresvignette keine Zukunft hat. Sie muß durch eine leistungsbezogene und damit gerechtere elektronische Gebührenerhebung ersetzt werden, die den tatsächlichen Wegekosten näherkommt. Auch dies wird eine Verlagerung des Güterverkehrs auf Schiene und Schiff befördern. Gleichzeitig werden damit auch die entsprechenden Impulse aus den traditionellen Transitländern Schweiz und Österreich für eine moderne europäische Verkehrspolitik aufgegriffen. Albert Schmidt ({4}) Damit komme ich zu einem heiklen Punkt, den ich nicht ausklammern möchte: Tempolimit. So sehr wir es begrüßen, daß Städte und Gemeinden künftig leichter und unbürokratischer Tempo 30 innerorts als Regelgeschwindigkeit ausweisen können, so sehr bedauern wir es, daß es nicht möglich war, uns auf ein Tempolimit für Autobahnen und Bundesfernstraßen zu einigen. ({5}) Ich will nichts schönreden. Das ist für uns Grüne an dieser Stelle eine klare Niederlage und mehr als nur ein Schönheitsfehler. ({6}) Das ist um so bedauerlicher, Herr Kollege Friedrich, als es nichts gekostet, aber viel für die Verkehrssicherheit, für die Kraftstoffeinsparung und auch für eine CO2Reduktion beim Verkehr gebracht hätte, die wir gerade in diesem Bereich so dringend brauchen. ({7}) Deshalb halte ich fest: Dieser Aufgabe werden wir uns auf Dauer, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, stellen müssen, und sei es im Rahmen einer Harmonisierung entsprechender Vorschriften auf europäischer Ebene. Es besteht ein enger Zusammenhalt zwischen nachhaltiger Siedlungsentwicklung und Verkehrsvermeidung. Zersiedelung erzeugt Verkehr und Abhängigkeit vom Auto. Integrierte Wohnbaustandorte mit Anbindung an den ÖPNV vermeiden Verkehr im Sinne einer Stadt der kurzen Wege. Deshalb ist die Zusammenlegung des Bau- und des Verkehrsministeriums eine Chance, die Impulse für eine nachhaltige Siedlungs- und Verkehrspolitik zu stärken. Diese Chance wollen wir nutzen. Für uns Bündnisgrüne stehen die Stärkung der Innenentwicklung der Städte und die Begrenzung der Zersiedelung in den nächsten Jahren ganz oben auf der politischen Agenda. Die Koalitionsvereinbarungen bieten hierfür sehr gute Voraussetzungen. Wohnungsbaupolitik ist nicht mehr vorrangig nur Neubaupolitik. Auch dieser Punkt wurde schon angesprochen. Durch die ganze Bandbreite der Instrumente wird zukünftig vor allem auch die Bestandsentwicklung gestärkt: von der Städteund Wohnbauförderung über die CO2-Minderung bis hin zur Bodenpolitik. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schmidt, ich muß Sie an Ihre Redezeit erinnern. ({0})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden das Programm „Soziale Stadt für bedrohte Stadtteile“ schnell beginnen und mit ausreichenden Mitteln ausstatten. Wir werden dafür sorgen, daß Bauherren mit kleinem Geldbeutel nicht auf Mehrbelastungen sitzenbleiben, ({0}) sondern wir werden uns für eine Stärkung des CO2Minderungsprogramms einsetzen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schmidt, Ihre Redezeit ist weit überschritten.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ich komme zum allerletzten Satz. ({0}) Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung über eine Kollegin, die zwar nicht anwesend ist, die aber eine Erwähnung verdient hat. ({1}) Wir bedauern es sehr, daß die bisherige verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, die Kollegin Elke Ferner, nicht mehr dem Bundestag angehört.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schmidt, Ihre Redezeit ist wirklich abgelaufen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Um so mehr freuen wir uns, daß sie uns als Staatssekretärin mit ihrem ganzen Sachverstand und Charme in Zukunft als Partnerin zur Verfügung stehen wird. In diesem Sinne: Auf gute Zusammenarbeit und auf einen fairen Wettbewerb!

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schmidt, ich muß Ihnen jetzt wirklich das Wort entziehen. ({0}) Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Christine Ostrowski, PDS.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Gesetzentwurf zur Anhebung des Wohngeldes ab 1. Januar 1999 wird - da bin ich mir sicher - eine Sternstunde für den Bundestag bedeuten. Denn die rechte Seite dieses Hauses hat vier Jahre lang das Wohngeld versprochen; die linke Seite hat vier Jahre lang eine Wohngeldreform gefordert; die Albert Schmidt ({0}) PDS handelt. Ich stelle also eine für das Hohe Haus seltene Einmütigkeit fest. Die Mieter und Mieterinnen werden es zu danken wissen. ({1}) Im Ernst: Mieter, Wohnungswirtschaft, Länder und Kommunen sind der verbalen Wohngeldbekenntnisse überdrüssig - und zu Recht. Der Kanzler teilte der interessierten Öffentlichkeit mit - ich zitiere -: Die Wohngeldreform steht auf der Agenda einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung ganz oben. - Entschuldigung, die ganz oben auf der Agenda stehende Wohngeldreform versprach Herr Schröder, als er noch nicht Kanzler war. Jetzt ist er Kanzler. Nun sucht man aber diesen Punkt ganz oben auf der Agenda vergeblich. In der Regierungserklärung - das wurde schon gesagt kam das Wohnen, das mehr als nur ein Dach über dem Kopf ist, nicht vor. Dennoch ist mein Optimismus ungebrochen. In einer Broschüre des Mieterbundes trat die F.D.P. für eine Anhebung des Wohngeldes zum 1. Januar 1999 ein; Herr Fischer wollte die Reform am liebsten zum gleichen Termin, spätestens aber am 1. Juli 1999; die CDU wollte sie so schnell wie möglich.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Ostrowski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Kansy?

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Aber bitte schön, Herr Kansy.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, wie Sie wissen, wird ja das Wohngeld zur Hälfte vom Bund und zur anderen Hälfte von den Ländern gezahlt. Auch die SPD-regierten Bundesländer hätten in der letzten Legislaturperiode schon initiativ werden können. Aber die Finanzminister waren dagegen. Könnten Sie sich eine Initiative des Landes Mecklenburg-Vorpommern für eine drastische Wohngelderhöhung vorstellen?

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Zum einen habe ich bedauert, daß die SPD in der letzten Wahlperiode über den Bundesrat keine Gesetzesinitiative eingebracht hat. Zum anderen denke ich, daß Mecklenburg-Vorpommern - die PDS stellt ja in Mecklenburg-Vorpommern den Bauminister; wir sind mit Herrn Holter im Gespräch; das ist vielleicht der Hintergrund Ihrer Frage - in diesem Bereich aktiv wird. Wie gesagt, ich sehe zwischen allen Fraktionen Einmütigkeit. Ich baue natürlich auch auf Ihre Unterstützung. ({0}) - Sie müssen schon mitziehen. So geht es ja nun nicht. Sie hatten ja 1994 eine Unterstützung in dieser Sache versprochen. Ich komme zurück zur jetzigen Regierung. Die Koalitionsvereinbarung ist auf dem Gebiet der Wohnungspolitik dünn. Sie bleibt hinter dem Reformstau in der Wohnungspolitik, der dringend aufgelöst werden müßte, absolut zurück. Diesbezügliche Kritiken haben Sie bereits seitens der Wohnungswirtschaft, des Mieterbundes und der Gewerkschaften geerntet. Auch in puncto Wohngeld findet sich in der Koalitionsvereinbarung zwar eine schöne Formulierung; aber so schön sie ist, so unbestimmt ist sie auch. Dabei wissen Sie ganz genau, daß das Wohngeld seine Entlastungsfunktion verloren hat, daß im Westen in den letzten Jahren die Höhe der Mieten um 35 Prozent gestiegen ist, daß es im Bereich des Wohngeldes zu einer Nullrunde kam usw. Ich will jetzt nicht alle Argumente aufzählen; sie sind zur Genüge ausgetauscht worden. Auch im Osten nützt das Wohngeldüberleitungsgesetz immer weniger, weil durch die Verteuerung der Mieten nach einer Modernisierung der Wohnungen die Situation für große Bevölkerungsgruppen ausgesprochen problematisch wird. Ich darf darauf hinweisen, daß die Höhe der Nebenkosten steigt. Das hat zwar unmittelbar mit dem Wohngeld nichts zu tun, aber mit der Wohnkostenbelastung. Denn der Mieter bzw. die Mieterin muß zahlen, und das Monat für Monat. Wenn Sie den Mietenbericht 1997 anschauen, dann ist interessant, daß über die Jahre hinweg die Wohngeldausgaben und die Zahl der Empfänger von Wohngeld steigen. Das ist eine Tendenz, die auf den kritischen Zustand in der Gesellschaft hinweist. Sie muß vor allem durch den Abbau der Arbeitslosigkeit umgekehrt werden. Was jetzt aber unmittelbar erforderlich ist, ist eine Erhöhung bzw. eine Anpassung des Wohngeldes, und zwar nicht nur im Interesse der Mieterinnen und Mieter oder etwa der Wohnungswirtschaft, sondern vor allem im Interesse des Staates. Denn eine ausreichende Höhe des Wohngeldes stärkt die Binnennachfrage, auf die Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, zu Recht sehr viel Wert legen. Die Wohngeldreform hätte also zu Ihren ersten Initiativen gehören müssen. Denn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, stehen im Wort. Es nützt alles nichts: Sie hatten die alte Regierung kritisiert, und zwar hart. Ich zitiere Herrn Großmann aus seiner Rede vom 7. Mai 1998: Die wohnungspolitische Bilanz dieser Regierung ist beschämend . . . neues Mietrecht: Fehlanzeige; Städtebauförderung: ein Torso; Fehlsubventionierungen im frei finanzierten Mietwohnungsbau: keine Initiativen . . .; sozialer Wohnungsbau: kaputtgespart . . . ; Wohngeld: Wortbruch. - Fürwahr, recht hatte er. Es ist kabarettreif, wenn Ihnen jetzt ausgerechnet die F.D.P. putzmunter einen Wortbruch vorwirft. Aber hatte nicht der Kanzler in seiner Regierungserklärung energisch betont, daß die neue Regierung kein Abziehbild der alten sein wird? Das steht durchaus zu befürchten, auch wenn ich jetzt voller Freude gehört habe, daß MiChristine Ostrowski nister Müntefering immerhin für 1999 Aktivitäten angekündigt hat. Die Steuermehreinnahmen in Höhe von 1,2 Milliarden DM auf Grund der Streichung der Vergünstigung bei der Eigenheimzulage, die für die Verbesserung des Wohngeldes genutzt werden sollten, scheinen passé zu sein. Ebenfalls vom Tisch ist die auch von den Grünen gewünschte Senkung der Einkommensgrenzen für die Gewährung der Eigenheimförderung als eine andere Finanzierungsquelle. Wir wollen die Miethöchstbeträge in Ost und West sofort um durchschnittlich 20 Prozent anheben und wollen einen pauschalen Inflationsausgleich in Höhe von 1 800 DM. Diese überfällige Wohngeldanhebung in Ost und West ist machbar und finanzierbar. Sie kostet Bund und Länder 1,5 Milliarden DM. Finanzierungsspielräume sehen wir insbesondere für den Fall, daß man einmal die steuerlichen Instrumente durchforsten würde, zum Beispiel im Bereich der Förderung von Luxuswohnungen, wie der Kanzler sagte. Wo er recht hat, hat er recht. Wir stimmen ihm zu. ({1}) Freuen Sie sich also: Wir helfen Ihnen, liebe Regierung, lieber Herr Minister, Ihre Wahlversprechen zu erfüllen. Dann möchte ich noch eine Bemerkung an die rechte Seite dieses Hauses machen in bezug auf den Slogan „Wir nehmen die Herausforderung an!“ bzw. in bezug auf die Aussage: Wir sind bereit, die Oppositionsrolle zu übernehmen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der F.D.P., wo sind denn dann Ihre Anträge? Die hätte ich heute erwartet. Vielleicht müssen Sie als Opposition noch vieles lernen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an uns, an der PDS! Lassen Sie der Worte genug gewechselt sein; lassen Sie uns endlich Taten sehen! Denken Sie an die Sternstunden, die wir gemeinsam erleben können, und stimmen Sie dann, wenn es darauf ankommt, unserem Gesetzentwurf zu. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Daß der Verkehr als vorletzter Bereich der Regierungserklärung an dieser Stelle steht, kommt . . . nicht von ungefähr. Denn so dürftig, wie die Koalitionsvereinbarungen an der Stelle sind, kann man dieses Thema wahrlich nicht besser plazieren. Das war die Aussage, die die damalige SPDSprecherin Ferner, die heutige Staatssekretärin, im November 1994 als Einleitung ihrer Rede zur Regierungserklärung genutzt hat. Das war damals polemisch und falsch. Es ist heute mehr als zutreffend. In der jetzigen Regierungserklärung kommt Verkehrspolitik überhaupt nicht vor. Ich meine, das ist, was die Wertschätzung dieses Bereiches anbelangt, ein außerordentlich schlechter Start für die Verkehrspolitik und den Minister. ({0}) Hinzu kommt der Fehlstart von Minister Müntefering und seinem Ministerium. Er bringt einen großen Stab überwiegend fachfremder Gefolgsleute mit, entläßt fast alle Abteilungsleiter ({1}) und entzieht damit sich und dem Ministerium erheblichen Fachverstand. ({2}) Sein rabiates Vorgehen hat selbst vor parteilosen Fachleuten nicht halt gemacht. Frau Ferner hat vor zwei Jahren Verkehrsminister Wissmann ungerechtfertigt Personalpolitik nach Gutsherrenart vorgeworfen. Jetzt ist sie Staatssekretärin und betreibt zusammen mit ihrem Minister einen personalpolitischen Kahlschlag, der eine schwere Zukunftshypothek darstellt. ({3}) Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung nichts zur Verkehrspolitik gesagt. Also halten wir uns an die Koalitionsvereinbarung. Für mich waren die Formulierungen zur Verkehrspolitik zunächst eine Überraschung. Ich hatte eigentlich erwartet, die Verkehrspolitik von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus der Oppositionszeit wiederzufinden, ({4}) wie zum Beispiel die Streichung aller Mittel für den Straßenbau, dafür Förderung des Fahrradverkehrs als bundespolitische Aufgabe, generelle Tempolimits, Stop des Ausbaus von Wasserstraßen, ({5}) Stop des Transrapid, Stop für Schienenneubaustrecken usw. ({6}) Doch, meine Damen und Herren, nichts davon! Die drastische Wende um 180 Grad kann ich mir nur damit erklären, daß mit Übernahme der Regierungsverantwortung die Rückkehr zur Realität unumgänglich wurde. ({7}) Also halten wir fest: Was Rotgrün bisher vertreten hat, war falsch. Die Kritik an der Politik der bisherigen Bundesregierung war nach jetzigem Eingeständnis unberechtigt. ({8}) Ich glaube, dennoch bleibt in der Koalitionsvereinbarung genug, das Stoff für Kritik und Alternativen bietet. Ich denke, ein großes Problem wird sich abzeichnen. Die Vorstellungen der Bündnisgrünen finden sich in keinem der verkehrspolitischen Kernpunkte wieder. Damit ist wohl erhebliches Streitpotential bei der künftigen Umsetzung vorprogrammiert. Minister Trittin wartet damit noch nicht einmal, bis der zuständige Bundesminister seine Ziele vorgestellt hat. Er macht bereits im Vorfeld deutlich, daß er die Vorgaben der Verkehrspolitik diktieren will. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ hält er den Einstieg in die Energiebesteuerung für unausgewogen, fordert noch höhere Benzinpreise und dazu eine deutliche Reduzierung der Straßenbauinvestitionen. Trotz der Priorität für die Schiene erteilt er dem Schienenfernverkehr eine Absage. Das ist, wie ich glaube, der Rückfall in die bekannte, unrealistische grüne Ideologie, die nur ein Ziel hat: die Mobilität der Bürger zu behindern und schwere volkswirtschaftliche Schäden für unser Land in Kauf zu nehmen. Trittin kündigt damit dem Koalitionspartner die Hauptthese der Koalitionsvereinbarung, die lautet: Wir wollen ein Verkehrssystem, das die Mobilität aller Menschen flächendeckend und umweltverträglich gewährleistet . . . Eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands von zentraler Bedeutung. Er sieht dies, wie er sagt, sehr entspannt. Ich bezweifle, daß unsere Bürger, deren Mobilität behindert wird, und die Wirtschaft - insbesondere die Verkehrswirtschaft und die Bauindustrie mit ihren Arbeitsplätzen, die auf Investitionen im Verkehrsbereich angewiesen sind -, dies auch so entspannt sehen werden. Wir werden Bundesminister Müntefering daran zu messen haben, ob er in der Lage ist, die Attacken von Trittin abzuwehren und eine zukunftsgerechte Verkehrspolitik zu gestalten. Verkehrspolitik ist, wie wir mehrfach festgestellt haben, in der Koalitionsvereinbarung eher dürftig abgehandelt worden. Es lohnt sich hier nicht, auf jeden einzelnen Punkt einzugehen und ihn zu kommentieren. Die Forderung nach flächendeckender und umweltgerechter Mobilität aller Menschen war immer auch unser Anliegen. Wir begrüßen deshalb die Einsicht von SPD und Grünen, daß Verkehrsinvestitionen für nachhaltiges Wachstum unverzichtbar sind. Vorsicht ist aber geboten, wenn die Umsetzung ökologischer Ziele so einseitig und so deutlich als Vorbedingung genannt wird. Die Grünen werden jeden laichenden Frosch oder jeden Wachtelkönig, ob gesehen, ob gehört oder nur vermutet, vorschieben, um den Ausbau einer Straße, einer Schienenstrecke oder einer Binnenwasserstraße zu verhindern. ({9}) Meine Damen und Herren, damit können Arbeitsplatzchancen in der Mobilitätswirtschaft sehr schnell zunichte gemacht werden. Dagegen ist, wie ich glaube, die Aussage zur Mobilität im ländlichen Raum für die Menschen sehr enttäuschend. Von den Forderungen der Wahlprogramme ist nichts wiederzufinden. Statt dessen werden die Kosten für Berufspendler, die auf das Auto angewiesen sind, durch die Anhebung des Benzinpreises und durch die Einführung einer Entfernungspauschale deutlich erhöht. ({10}) Auf der anderen Seite finden wir es ganz erfreulich, daß an der Priorität für den Aufbau Ost festgehalten wird. Wir werden genau verfolgen, ob die vordringlichen Projekte auch zügig realisiert werden. Dies ist für die neuen Bundesländer sehr wichtig; denn nur mit einer guten Verkehrsinfrastruktur kann der wirtschaftliche Aufschwung gelingen. ({11}) Im Wahlprogramm wollten die Grünen der organisatorischen Bahnreform noch eine verkehrspolitische folgen lassen. Damit ist quasi eine zweite Bahnreform angekündigt worden; das heißt ein Mehr an staatlichem Einfluß und ein Weniger an Wirtschaftlichkeit. ({12}) Hier hat sich die SPD zum Glück vernünftiger gezeigt. Die Rückkehr zur Subventionsmentalität früherer Zeiten würde das Scheitern der Reform bedeuten, die sich jetzt Gott sei Dank auf erfolgreichem Weg befindet. Der interfraktionelle Konsens in der Bahnreform, Herr Minister, ist von hohem Wert. Für uns ist er ziel- und verhaltensabhängig. Wenn wir entschlossen daran festhalten, werden wir Ihre Arbeit unterstützen. ({13}) Meine Damen und Herren, nach all dem Theater um den Transrapid staune ich doch, aber ich freue mich auch über die neue Einsicht zu einem grundsätzlichen Ja der Koalition zur Strecke Hamburg - Berlin und zur Weiterentwicklung und Anwendung der Magnetschwebetechnik in Deutschland. Das hört sich ganz anders an als das, was wir hier in den leidenschaftlichen Debatten immer gehört haben und was uns vorgeworfen worden ist. ({14}) Von den nun folgenden Taten hängt es ab, ob diese Freude anhält. Wir jedenfalls sind zur Kooperation bereit. Die Verbesserungen des Lärmschutzes im Verkehr ist ein Schwerpunktthema für die Legislaturperiode. Damit sind wir einverstanden. Dies kann allerdings nicht nur für Bundesverkehrswege gelten; es muß vielmehr Dirk Fischer ({15}) für alle Verkehrswege gelten. Es bleibt abzuwarten, wie sich Länder und Kommunen angesichts der zu erwartenden erheblichen finanziellen Auswirkungen verhalten werden. Aber immerhin: Die Koalition hat im Bundesrat eine Mehrheit. Deswegen werden wir dem Ziel sicherlich näherkommen. ({16}) Der kombinierte Verkehr wird stiefmütterlich, die Binnenschiffahrt wird nur am Rande behandelt, die Seeschiffahrt wird gar nicht erwähnt. Die Aussagen zum Luftverkehr sind erfreulich, weil die Grünen mit ihren Forderungen ganz offensichtlich gescheitert sind. ({17}) Allerdings sind die Aussagen der Koalitionsvereinbarung überholt, weil die gemeinsame Strategie von Bund und Ländern bereits vorhanden ist und gar nicht erst geschaffen werden muß. Abschließend ein Wort zur Verkehrssicherheit, die sich nicht nur auf größere Spielräume für Fußgänger und Radfahrer beschränken darf. Ich meine, die vergangene Bundesregierung hat eine hervorragende Schlußbilanz abgeliefert. ({18}) Das wird die Meßlatte sein. Erfolge wird es nach meiner Einschätzung in Zukunft nur durch Kooperation und Förderung des Verständnisses der Verkehrsteilnehmer geben. Martialischer Dirigismus würde hier völlig in die Irre führen und kontraproduktiv sein. ({19}) Der Start der Verkehrspolitik dieser neuen Koalition ist nach meiner Einschätzung mißlungen. Die Abwandlung des Kanzlerleitspruches gilt wie auch in anderen Bereichen: Wir machen nur wenig anders und gar nichts besser. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Iris Gleicke.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt die Zusammenlegung der bislang getrennten Ministerien für Bau und Verkehr, und zwar nicht nur deshalb, weil damit ein sichtbares Zeichen für die Verschlankung des Staates gesetzt worden ist. ({0}) Denn die Chancen dieser Zusammenführung liegen auf der Hand. So ist die Verkehrspolitik eng verknüpft mit Fragen, die die Raumordnung betreffen. Auch die Entwicklung der Städte und des städtischen Umlandes mit dem Ziel, eine lebenswerte Umwelt zu erhalten oder wieder zu erschaffen, ist ohne die enge Verknüpfung wohnungspolitischer und verkehrspolitischer Aspekte nicht möglich. ({1}) Funktionierende Verkehrssysteme spielen nicht nur in einem zusammenwachsenden Europa eine immer größere Rolle. Sie haben entscheidende Bedeutung für den reibungslosen Austausch von Waren und die zunehmende Mobilität von Personen. Sie bestimmen auch die Lebensqualität in den Ballungsräumen wie auf dem flachen Land und den Zustand unserer Umwelt. ({2}) Daraus erwachsen Zielkonflikte, die von der Verkehrspolitik eine sorgfältige Interessenabwägung, gleichzeitig aber auch klare Prioritätensetzungen verlangen. Die Verkehrspolitik der Vergangenheit, die allein auf den verkehrlichen Nutzen einer Maßnahme schaute, ist erkennbar gescheitert. ({3}) Deshalb müssen im Verkehrssystem der Zukunft die verschiedenen Verkehrsträger dort zum Zuge kommen, wo ihre jeweiligen Systemvorteile optimalen Nutzen bringen. Zentrale Voraussetzung für eine neue Politik, meine Damen und Herren, ist eine Infrastrukturplanung, die deutlicher als bisher den Vernetzungs- und Verknüpfungsgedanken der verschiedenen Verkehrsträger in den Vordergrund stellt. ({4}) Es gilt, der Lösung der Schnittstellenproblematik zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern höchste Priorität einzuräumen, und es gilt, sinnlose Parallelplanungen zu vermeiden. Dies ist nicht nur verkehrspolitisch geboten, sondern angesichts der leeren Kassen auch eine zwangsläufige Konsequenz. Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Bundesregierung bei der Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplans nachdrücklich und, wenn nötig, auch kritisch unterstützen. Gestatten Sie mir als ostdeutscher, als Thüringer Abgeordneter den Hinweis, daß ich mit besonderer Freude den Satz im verkehrspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarung zur Kenntnis genommen habe, wonach an der Priorität für den Aufbau Ost festgehalten wird. Das, meine Damen und Herren, sollte auch der thüringische Ministerpräsident zur Kenntnis nehmen. ({5}) Dirk Fischer ({6}) Werte Kolleginnen und Kollegen, zu einem integrierten Gesamtverkehrskonzept gehört natürlich der gesamte Instrumentenkasten: von der Fiskalpolitik über die Angleichung der europäischen Wettbewerbsbedingungen bis hin zu flankierenden ordnungspolitischen Maßnahmen. In den nächsten Wochen wird im zuständigen Ausschuß Gelegenheit zu einer eingehenden Debatte aller nötigen Elemente einer neuen Verkehrspolitik bestehen. Der Ausschuß wird sich aber auch sehr intensiv mit der Wohnungspolitik zu beschäftigen haben, um Versäumnisse und Fehlentwicklungen der letzten Jahre möglichst bald zu korrigieren, damit auch hier eine neue Politik eingeleitet werden kann. ({7}) Einer der wichtigsten Bereiche ist dabei der soziale Wohnungsbau. Wir finden es richtig, daß hierbei auch verstärkt auf die Bestandsförderung Einfluß genommen werden soll. Meine Damen und Herren, den Kommunen muß eine Alternative zur Baulandausweisung im städtischen Umfeld geboten werden. Es sind die überhöhten Preise, die zu einer fortwährenden Ausdehnung der Speckgürtel führen - mit allen negativen Auswirkungen für die städtischen Zentren. Wir müssen Städten und Gemeinden die Möglichkeit geben, dieser Entwicklung gegenzusteuern. In der Städtebauförderung sehen wir einen starken Motor für die soziale, bauliche, wirtschaftliche und auch arbeitsmarktpolitische Entwicklung. Sie hat eine wichtige Katalysatorfunktion für private Investitionen. Die städtebaulichen Sünden der Vergangenheit, gerade in den Großwohnsiedlungen, verlangen ein integriertes Konzept, und deshalb begrüßen wir auch, daß in der Koalitionsvereinbarung das Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt“ vereinbart wird. ({8}) Wir sind froh darüber, daß der Bauminister das KfWProgramm für die neuen Bundesländer angesprochen hat. Hier wollen wir sicherstellen, daß es fortgeführt wird und in den Haushaltsberatungen nach Möglichkeit auch finanziell ordentlich ausgestattet wird. Wir müssen auch unter dem Aspekt der Leerstände in den neuen Ländern die Privatisierungsverpflichtungen nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz kritisch unter die Lupe nehmen ({9}) und dabei die besonderen ostdeutschen Interessen im Wohnungsmarkt berücksichtigen. Zum Schluß möchte ich noch einen kurzen Satz zu einem Thema sagen, das mir am Herzen liegt, nämlich zum Wohngeld. Wir brauchen so bald wie möglich eine gesamtdeutsche Wohngeldnovelle. Wir brauchen sie für die Mieterinnen und Mieter mit niedrigen Einkommen; wir brauchen sie vor allen Dingen für die Familien mit Kindern. Ich begrüße es sehr, daß der Minister hier angekündigt hat, daß er sehr bald Klarheit schaffen will. ({10}) Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie gern zu einer konstruktiven Arbeit hier im Hause einladen, um Lösungen für die anstehenden Probleme zu finden. Eines funktioniert nämlich nicht: Sie haben 16 Jahre lang regiert; Sie haben im sozialen Wohnungsbau gekürzt; Sie haben die Städtebauförderung zurückgefahren; Sie haben zehn Jahre lang beim Wohngeld nichts gemacht. Und wir sollen das jetzt in 14 Tagen alles geklärt haben. Das Ganze geht nach dem Motto: „Haltet den Dieb! Er hat mein Messer im Rücken.“ Das ist kein gutes Miteinander. Lassen Sie uns gemeinsam ordentlich anfangen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/19 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zum Themenbereich Umwelt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die bisherige Debatte hat deutlich gemacht, daß man zu Beginn der Diskussion noch einmal herausarbeiten muß, was in der Vergangenheit geleistet wurde, daß Bilanz gezogen werden muß vor dem Hintergrund, daß die neue Koalition versucht, alles schlechtzureden, um sich dann um so besser profilieren zu können. Ich halte fest: Wir haben in bezug auf den Umweltbereich in den vier Jahren der letzten Legislaturperiode ebenso wie in den letzten 16 Jahren der Regierungszeit eine ausgesprochene Erfolgsbilanz vorzuweisen. ({0}) Daß es sich um eine Erfolgsbilanz handelt, wird nicht nur von uns so gesehen. Das wird auch von den gesellschaftlichen Gruppen anerkannt, und wird auch im internationalen Bereich so gesehen. Ich kann zum Beleg auch namhafte Sozialdemokraten zitieren, die in einem Positionspapier schon 1997 festgehalten haben, daß die klassischen Umweltprobleme wie Schadstoffbelastung von Luft und Wasser und insbesondere die Probleme im Abfallbereich gelöst sind. Ich will darauf nur noch einmal hinweisen. So weit sind selbst wir nicht gegangen wie Vahrenholt und Clement. ({1}) Die Wasserqualität der Fließgewässer hat sich in den letzten Jahren hervorragend entwickelt. ({2}) Wir haben die Schadstoffbelastung in der Größenordnung eines zweistelligen Prozentbereiches heruntergeführt, bei Quecksilber um 90 Prozent, bei Kadmium um 76 Prozent, bei Kupfer um 85 Prozent, bei Chrom um 95 Prozent - um nur einige Positionen zu erwähnen. Diese Situation gibt es in keinem Industriestaat der Welt und auch nicht in Schwellenländern. Das ist eine Umweltpolitik, deren Erfolge akzeptiert werden. ({3}) Vor diesem Hintergrund will ich nur darauf verweisen, daß wir im Gewässerschutz Fortschritte erzielt haben, aber daß wir auch Initiativen zum Schutz der Meere vorgelegt haben - Initiativen zum Schutz der Ostsee, Initiativen zum Schutz der Nordsee. Was sehe ich jetzt im Moment? Es gibt ein Frachterunglück; es gibt die Katastrophe des Frachters „Pallas“ vor Amrum. Was erlebe ich? Wird am nächsten oder am übernächsten Tag gehandelt? Wird innerhalb einer Woche gehandelt? Nichts geschieht; es wird zugeschaut. Das hätten wir uns in unserer Regierungszeit einmal erlauben sollen, so lange nichts zu tun. ({4}) Sie wären mit fünfzehn Anfragen über uns hergefallen; Sie wären gleichzeitig mit Aktuellen Stunden gekommen - das behalten wir uns noch vor - und hätten gefragt: Warum tut diese Regierung nichts? Sie hatten doch lange genug Zeit für Vorüberlegungen. Jetzt kommen Sie nicht und sagen, Sie wären nicht im Amt! In Schleswig-Holstein ist Herr Steenblock im Amt. Er hat das erst heruntergeredet und hat dann gemerkt, daß die Katastrophe größer ist, als er auf Grund seiner mangelnden Wahrnehmung zunächst wahrhaben wollte. So kann man Umweltpolitik nicht betreiben. ({5}) Ich sage ganz deutlich: Das ist eine schlechte Einführung. ({6}) Herr Trittin kann heute aus verständlichen Gründen nicht hier sein. Ich respektiere das und hoffe, daß er von dieser Konferenz gute Erfolge mitbringen wird - worauf wir noch einmal zurückkommen werden. Aber das Haus insgesamt hätte durchaus reagieren können. Und auch der Kollege Müntefering war mit dem, was er vorhin gebracht hat - leise hat er eine Prüfung in Aussicht gestellt, aber bislang auch nichts in die Wege geleitet -, nicht gerade eine Glanznummer. Und das ist einer Ihrer führenden Leute! So können wir das nicht angehen: nicht handeln, zuschauen. In der letzten Legislaturperiode hätten wir uns damit Vorwürfe über Vorwürfe eingefangen! Herr Schmidt, was hätten Sie uns alles gesagt! Ich habe gesehen, wie Sie reagiert haben, als Müntefering hier vortrug. Das war entlarvend. ({7}) Meine Damen und Herren, die Gesetzgebungsverfahren, die wir in den letzten Jahren durchgesetzt haben unter anderem das Umweltauditgesetz, das Ozongesetz, Gesetze zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, der Erlaß eines Bodenschutzgesetzes -, eröffnen neue Instrumente für den Umweltschutz. Das Bodenschutzgesetz ist einmalig in dieser Welt. Es gibt kein Vorsorgeinstrument gleicher Art in einem anderen Land. Ähnliches werden Sie erst leisten müssen. Im Umweltschutz haben Sie uns bedauerlicherweise blockiert, obgleich wir wirklich sehr gute Initiativen gezeigt haben. Wir haben die Idee des Naturschutzes - wegen Ihres Widerstandes - nicht in der Form umsetzen können, wie wir dies wollten. Aber wir haben es immerhin geschafft, daß die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie umgesetzt wurde und wir jetzt wenigstens auf dieser Basis weiterarbeiten können. Schade, daß es nicht anders ging. Sie müssen einfach sehen, daß all das, was wir im Landschaftsschutz, was wir im Biotopverbund erreichen konnten, auf der Basis dessen, was wir vorgeschlagen haben, wesentlich besser hätte realisiert werden können. ({8}) Wenn man weitere Flächen für den Naturschutz braucht, dann braucht man die Akzeptanz der Betroffenen, dann braucht man die Akzeptanz der Landwirte. ({9}) Und dazu braucht man - da hilft Ihr Störfeuer gar nichts - die Ausgleichsabgabe. Wie wollen Sie es denn sonst handhaben? Wenn auf anderen Feldern kein gesellschaftlicher Konsens da ist, sagen Sie: Wir verzichten auf diese Maßnahme. - Unter Kernenergieaspekten kommen wir darauf noch einmal zurück. In der Frage des Biotopverbundes hingegen wollen Sie die schleichende Enteignung. Aber wir werden nicht zulassen, daß die Landwirte unter Ihrer schlechten Politik leiden. Außerdem ist mit solch einer Politik keine Umweltschutzpolitik erfolgreich zu führen. Man macht Umweltschutz mit den Betroffenen, nicht Umweltschutz gegen die Betroffenen. ({10}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben mit der geplanten 25prozentigen Reduzierung von CO2 ein national anspruchsvolles Klimaschutzziel formuliert. Dr. Klaus W. Lippold ({11}) Das ist im Moment in Buenos Aires wieder im Gespräch. Die Hälfte der Einsparung haben wir seitdem schon erreicht. ({12}) - Ich wußte doch, daß Sie das bestreiten. Aber Sie können es nicht; die Zahlen sprechen gegen Sie. Das muß gesagt werden, damit wir sehen, ob Sie in der zweiten Hälfte dieses Zeitraumes die anderen 50 Prozent, die wir noch leisten müssen, erreichen. Wir werden Sie daran messen, ob es nur schöne Worte gab oder ob es statt schöner Worte Taten gab. Machen wir uns noch eines deutlich. Sie haben für die Klimakonferenz hervorragende Zeichen gesetzt: Ausstieg aus der Kernenergie ({13}) und - mit Ihrem neuen Wirtschaftsminister - Einstieg in die großen Kohlekraftwerke. Was wollen wir den Schwellenländern, was wollen wir den Chinesen, den Indern sagen, wenn es darum geht, welche Art von Energie sie erzeugen. Sollen wir sagen: „Erzeugt regenerative Energie!“? ({14}) Der Wirtschafts-Müller in diesem Lande setzt auf Braunkohlekraftwerke. ({15}) - Hören Sie auf, Herr Schmidt, Sie wollen das ja nicht. Jedes Kraftwerk emittiert zusätzlich CO2. Das ist der Sachverhalt, um den es hier geht. Das müssen wir Ihnen um die Ohren hauen. ({16}) Das Erstaunliche ist - ich vereinfache jetzt einmal -: Auf der einen Seite gibt es den Umwelt-Müller - das ist der Kollege, der hier vor mir sitzt -, und der sagt, wir brauchen eine Energierevolution, wir brauchen regenerative Energien, kleine Einheiten. Auf der anderen Seite steht in dieser Regierung der Wirtschafts-Müller. Umwelt-Müller sagte: Das einseitige Setzen auf Großkraftwerke wird keine Lösung sein, ganz gleich ob es sich um Kohle-, Atom- oder andere Kraftwerke handelt. Was lese ich beim Wirtschafts-Müller? Wir können nicht gegen die Kernkraft sein und zugleich auch gegen jeden Bau von Kraftwerken, sonst verlieren wir den größten Einzelinvestor in unserem Land. Dann sagt er ganz klar: Wenn der Neubau von konventionellen Kraftwerken nicht akzeptiert wird, wäre ich der erste, der sagt: Laß das sein mit dem Energiekonsens. Das muß man sich einmal zu Gemüte führen: Großkraftwerke oder „Laß das sein mit dem Energiekonsens“! Meine Damen und Herren, wo ist denn da die Logik? Sie steigen aus, Sie vermehren die CO2Emissionen, Sie kündigen indirekt schon den Energiekonsens auf. Ich habe manchmal, wenn ich das lese, Zweifel. Ich hatte zunächst gedacht, Herr Stollmann macht ein halbes Jahr. Er ist aber vorzeitig abgetreten - der erste Fall, daß einer erst gar nicht angetreten ist. Wenn ich diese Auseinandersetzungen so verfolge, vermute ich, daß der Wirtschafts-Müller das nächste Jahr nicht als Minister erleben wird. ({17}) Ich sage es einmal so: Es ist hanebüchen, was Sie sich leisten. Der Sachverhalt ist doch, daß Werner Müller sagt: Wir wollen aus der Kernenergie aussteigen, aber bitte nicht ganz schnell und bitte nicht sofort. Dann fügt er laut „Süddeutscher Zeitung“ hinzu, er hege Zweifel, ob in absehbarer Zeit auf die Kernkraft ohne jegliche Optionen für eine Weiternutzung in 50 Jahren verzichtet werden könne. Also: Zuerst schaffen wir mit den Sozialdemokraten Kernkraftwerke, dann steigen wir mit Rotgrün aus, das Know-how geht verloren, und Herr Müller glaubt, das ließe sich in 50 Jahren beliebig ändern, obwohl die weltweite Entwicklung ganz anders verlaufen wird, als Sie sich das zusammenträumen. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wo ist da das Konzept? Wo ist da die Logik? Das trägt von der Denke her doch ganz deutlich die Handschrift des derzeitigen Kanzlers. Dazu hat die „Süddeutsche Zeitung“ gesagt: Hohle Worte klingen manchmal voller. - Recht hat die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrem Kommentar. Richtig ist das: hohle Worte, kein Konzept, keine Inhalte. Wir können greifen, was wir wollen: Alles ist falsch. Ich komme zurück zur Klimaschutzpolitik. Ich glaube, es ist unbestreitbar, daß Deutschland im internationalen Umweltschutz eine Vorreiterrolle hat. ({18}) - Das werden wir erst einmal sehen. Ich sage ganz offen: Wir sind da anders als Sie. Der Umwelt-Müller hat bei der vorletzten Regierungserklärung gesagt, Frau Merkel bekäme keine Schonzeit. Wir gehen mit der Regierung fairer um. Ich bin der Meinung: Die Leute sollen sich erst einarbeiten können, bevor man sich mit ihnen richtig auseinandersetzt. Diese Form von Unfairneß, die Sie praktiziert haben, werden Sie bei uns nicht erleben. Aber wir werden natürlich darauf achten, ob Herr Trittin jetzt mit adäquaten Ergebnissen nach Hause kommt. Wir werden diese Ergebnisse an dem messen, Dr. Klaus W. Lippold ({19}) was Rotgrün zu Oppositionszeiten gesagt hat. Dann werden wir sehen, ob er bestehen kann. ({20}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt Passagen in Ihrer Koalitionsvereinbarung und auch in der Regierungserklärung, von denen man sagen kann: Das scheint in die richtige Richtung zu gehen. Das wollen wir akzeptieren. Sie haben in der Regierungserklärung von Selbstverpflichtung geredet - etwas, was Sie früher total bestritten haben. Damit setzen Sie einen neuen Akzent. Aber auch hier werden wir sehen, ob Sie dabei bleiben. Die Frage ist doch, ob, wenn es auf der einen Seite Selbstverpflichtung gibt, der Einstieg in Ökosteuern auf der anderen Seite noch gerechtfertigt ist. Da gibt es eine Studie, die Herr Schröder in Auftrag gegeben hat, nicht wir. Die besagt, daß Ökosteuern zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Das war eine von Herrn Schröder in Auftrag gegebene Studie. Damit sollte man sich einmal auseinandersetzen. Wenn er dann in der Regierungserklärung sagt, daß die Zeit nationaler Alleingänge vorbei ist, dann frage ich: Gilt das jetzt auch für diese Form von Ökosteuern? Oder ist das wieder nur ein nicht ausgeräumter Widerspruch, weil Sie nicht vorgedacht haben und in der Kürze der Zeit nicht zu Ende gekommen sind? Wir werden Sie kritisch begleiten, nicht nur in diesen, sondern auch in anderen Fragen. Wir werden Sie dort unterstützen - im Gegensatz zu Ihnen -, wo Deutschland das braucht, weil der Umweltschutz im Ausland mit Unterstützung der Opposition vorangetrieben werden muß und nicht anders. ({21}) Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen. Wir werden Sie hier kritisch begleiten. Das versprechen wir Ihnen. Herzlichen Dank. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Simone Probst. Simone Probst, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lippold hat es angesprochen: Zur Zeit laufen die Klimaverhandlungen in Buenos Aires. Umweltminister Trittin ist dort, um deutlich zu machen, daß wir uns der internationalen Verantwortung bewußt sind und aktiv an der Klimaproblematik mitarbeiten wollen. Unser Ziel ist, daß die Beschlüsse von Kioto in sehr konkrete Arbeitsprogramme umgesetzt werden. Wir wollen sicherstellen, daß die Industrieländer ihre eingegangenen Verpflichtungen zur Reduktion der Treibhausgase vorrangig im eigenen Land umsetzen. Denn nur wenn die Industrieländer Maßnahmen bei sich selbst in die Wege leiten, sich an ihre Vorgaben halten und die Vorreiterrolle, die sie beschworen haben, wirklich ernst nehmen, wird man Länder des Südens - bei uns immer Entwicklungsländer genannt - dazu bringen können, in ihrer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung zur Reduktion von Treibhausgasen beizutragen. ({1}) Die Klimaverhandlungen sind nur ein Beispiel für die großen Herausforderungen im globalen Umweltschutz. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippold?

Simone Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002753

Ja, gerne.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben gerade gesagt, daß Sie die Entwicklungsländer in die Lage versetzen wollen, auf diesem Weg mit uns hervorragend zusammenzuarbeiten. Das setzt Mittel voraus. Sie haben in der Vergangenheit immer kritisiert, daß die Quote gesunken ist. Wenn ich die Regierungserklärung lese, kann ich darin nicht finden, daß sie angehoben oder verdoppelt werden soll. Herr Schröder hat lediglich gesagt, der Trend soll gestoppt werden. Heißt das, daß Sie sich mit der erreichten Quote zufriedengeben, und ist das eine positive Wertung unserer Arbeit?

Simone Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002753

Das ist es mit Sicherheit nicht. Ich wollte es nicht so scharf formulieren. Wir glauben, daß wir strukturell eine andere Energiepolitik bei uns machen und eine Vorreiterrolle spielen müssen, um zu zeigen, wie es anders geht, damit es überhaupt möglich wird, das CO2-Ziel, wie Sie es sich vorgenommen haben, zu erreichen. Ihnen haben alle Institute bescheinigt, daß mit Ihrer Wirtschaftspolitik, mit Ihrer Energiepolitik, mit Ihrer Umweltpolitik Ihr hehres Ziel unmöglich erreicht werden kann, geschweige denn im vorgegebenen Zeitraum. ({0}) Ich werde darauf noch eingehen. Dr. Klaus W. Lippold ({1}) Das Leitbild, das uns in der Umweltpolitik in das 21. Jahrhundert führt, ist das der Nachhaltigkeit. Herr Kollege Kampeter, Sie wissen genau, daß Nachhaltigkeit sowohl im Umweltausschuß als auch in allen anderen Politikbereichen Fuß gefaßt hat. Wir freuen uns, Umweltpolitik als Querschnittsaufgabe zu verstehen. Deshalb werde ich meine Aufgabe dort sehr ernst nehmen. Die nachhaltige Entwicklung ist sowohl ein Gebot der ethischen Verantwortung als auch ein Gebot der Zukunftsfähigkeit unseres Landes und unserer Wirtschaft. Denn wenn wir wirtschaftspolitisch vorankommen wollen, werden wir neue Kriterien an Produkte, Verfahren und Dienstleistungen anlegen müssen: ein schonender Verbrauch von Energie, Rohstoff und Flächen und eine größtmögliche Nutzung erneuerbarer Ressourcen. Die Staaten, die es rechtzeitig schaffen, ihre Energie- und Ressourceneffizienz zu verbessern, werden davon auch wirtschaftlich profitieren. Wir glauben, daß uns der Weg, Energieeffizienz voranzutreiben, wirtschaftlich voranbringen wird. ({2}) Strom und Wärme, Wind, Sonne, Erdgas, Biogas, moderne Verkehrssysteme durch Bus und Bahn, das Dreiliterauto, neue Bau- und Werkstoffe, moderne Steuerungs- und Mikrosystemtechnik für umweltschonende Produktionsverfahren, langlebige und reparaturfreundliche Produkte, das sind die großen Chancen für eine kreative Wirtschaft, und auch nur das wird neue Arbeitsplätze schaffen. ({3}) Deshalb hat die Bundesregierung die ökologische Modernisierung zum Schwerpunkt ihrer neuen Technologie- und Industriepolitik gemacht. Das zentrale Anliegen unserer Steuer- und Abgabenreform ist es, Beschäftigung zu fördern und umweltbewußtes Handeln zu belohnen. Mit einer abgestuften und kalkulierten Belastung des Energieverbrauchs werden wir die Sozialversicherungsbeiträge senken. ({4}) In der Europäischen Union werden wir eine Initiative zur Abschaffung der Steuerbefreiung für Kerosin und Schiffahrtsbrennstoffe und des Herstellerprivilegs starten. ({5}) Nur mit diesen preislichen Anreizen werden Produktion und Konsum auf Umweltschutz und Innovation hin gelenkt, von denen Sie immer geredet haben. Wir werden das umsetzen; denn die Zukunft wird dem produktionsintegrierten Umweltschutz gehören. ({6}) Wir stehen zum CO2-Reduktionsziel von 25 Prozent bis zum Jahre 2005. Dazu sind besonders im Bereich der Energieeffizienz erhebliche Anstrengungen notwendig. Deshalb werden neben der Energieeinsparung die Energieeffizienz und die erneuerbaren Energien Vorrang bei uns haben. Dazu gehört das 100 000-Dächer-Programm zur Förderung der Solarenergie. In der Stromerzeugung werden wir Anreize dafür schaffen, daß Kraftwerke mit hohem Wirkungsgrad und der besonders breite Einsatz der Kraft-Wärme-Kopplung Fuß fassen werden. Zum Klimaschutz gehören besonders Maßnahmen im Verkehr. Deshalb werden wir ein Gesamtkonzept für einen modernen umweltverträglichen Individualverkehr erarbeiten und mit einer stufenweisen Erhöhung der Mineralölsteuer die Attraktivität verbrauchsarmer Fahrzeuge erhöhen. Wir werden ferner Anreize geben, die das Umsteigen auf den öffentlichen Personennahverkehr erleichtern. Mit dem Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie werden wir eine grundsätzliche Neuorientierung der Energiewirtschaft einleiten. Herr Lippold, auch Sie wissen, daß das Ziel, die CO2-Emissionen um 25 Prozent zu reduzieren, nur mit einem Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie erreicht werden kann und nicht ohne. ({7}) - Bleiben Sie bei der Frage des Ausstiegs ganz ruhig. Wir werden ihn zügig in drei Schritten umsetzen. Im ersten Schritt werden wir das Atomgesetz novellieren, den Förderzweck streichen und die Atomgesetznovelle von 1998 rückgängig machen. Im zweiten Schritt werden wir noch in diesem Jahr zu Gesprächen über einen neuen Energiekonsens einladen, um weitere Voraussetzungen zur Beendigung der Nutzung der Atomenergie und zur Regelung der Entsorgungsfragen möglichst im Konsens festzulegen. Im dritten Schritt werden wir im Atomgesetz den Ausstieg durch die Befristung der Betriebsgenehmigungen entschädigungsfrei regeln. ({8}) Das Entsorgungskonzept, das Sie der Bevölkerung angeboten haben, ist gescheitert. Deshalb wird die neue Bundesregierung ein neues Entsorgungskonzept mit einem nationalen Entsorgungsplan für radioaktive Abfälle erarbeiten. Unsere Gesamtstrategie der Nachhaltigkeitspolitik Sie haben bereits darauf hingewiesen, leider in scharfen Tönen - läßt sich nur im Konsens mit allen gesellschaftlichen Gruppen umsetzen. Ich halte auch die CDU für eine gesellschaftliche Gruppe und bitte in der Auseinandersetzung um einen anderen Ton. ({9}) Erst wenn wir die Gestaltungskraft von Unternehmen, wissenschaftlichen Einrichtungen und allen gesellschaftlichen Gruppen ausschöpfen, kann das Prinzip der Nachhaltigkeit Wirklichkeit werden. Deshalb wollen wir dort, wo wir handeln können, dies auch stringent tun. In den Verwaltungsverfahren werden wir die Rolle der gesellschaftlichen Gruppen stärken, den Verbänden ein Klagerecht einräumen ({10}) und das zersplitterte Umweltrecht in einem Umweltgesetzbuch zusammenführen und effizienter und bürgernäher gestalten. Zur Sicherung der natürlichen und naturnahen Flächen - hier gilt unser Augenmerk ganz besonders den Gebieten in den neuen Ländern - werden wir einen Gesetzentwurf für einen modernen Natur- und Landschaftsschutz vorlegen. Unsere Zielgröße ist es, 10 Prozent der Flächen als Vorrangflächen für den Naturschutz und die Landschaftspflege vorzusehen. Das soll dann über ein Biotopverbundsystem weiterentwickelt werden. ({11}) Nur so können die Tier- und Pflanzenarten geschützt werden. Die Bilder der ölverschmierten Vögel an den Stränden von Amrum und Föhr alarmieren uns alle. ({12}) - Wir haben schnell gehandelt. Umweltminister Trittin hat das Thema auf die Tagesordnung der Umweltministerkonferenz in der nächsten Woche gesetzt. Wir werden alles daransetzen, daß schnelle Hilfe garantiert wird. In der Bodenschutz- und Altlastenverordnung sind längst nicht alle Probleme gelöst. Deshalb werden wir in den Entwürfen ein Konzept der Entsiegelung und Renaturierung von Flächen einbeziehen. ({13}) Die Sanierung von Altlasten wird im notwendigen Umfang vorangetrieben werden. Wir werden sicherstellen, daß die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen und vor allem die Entscheidungswege kürzer werden. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?

Simone Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002753

Ja, bitte. ({0})

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Doch, der ist schon im Umweltausschuß gewesen, Frau Lemke, als der Umweltausschuß eingerichtet wurde. Aber ich war auch gerne in anderen Ausschüssen und freue mich immer, wenn ich Sie im Agrarausschuß sehe. Frau Staatssekretärin, darf ich bitte die Frage stellen, an welchem Punkt die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Katastrophe der „Pallas“ schnell gehandelt hat? Ich wohne auf einer der davon betroffenen Inseln. Wenn ich mich richtig erinnere, ist Herr Steenblock, der ja nun Umweltminister in Schleswig-Holstein ist, das erste Mal vorgestern nacht auf Amrum gewesen. Er ist abends gekommen, hat sich im Dunkeln dort informiert und ist am nächsten morgen vor Tag und Tau wieder abgefahren. Wann hat die Bundesregierung reagiert? Das würde mich interessieren.

Simone Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002753

Es ist sofort in Zusammenarbeit mit den Ländern reagiert worden. Sie wissen genau, daß die Hilfe nicht daran gemessen werden kann, ob jemand als Katastrophentourist vor Ort erscheint. Es ist sicherlich immer gut, sich zu informieren. Aber es ist wichtiger, daß die Hilfe in den Ministerien bereitgestellt wird und daß insbesondere in der nächsten Umweltministerkonferenz Beschlüssse zwischen Bund und Ländern erarbeitet werden. ({0}) Das war ein unvorhersehbarer Unfall. Wir haben alle gehofft, daß so etwas nicht passiert. Es ist auch wichtig, daß wir daraus lernen, wie Hilfe schneller vor Ort geleistet werden kann. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie möchten noch eine Nachfrage stellen, Herr Carstensen? - Bitte.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, ich habe am Montag im Verteidigungsministerium angerufen. Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß ich folgende Antwort aus dem Verteidigungsministerium bekommen habe: Wir wissen noch nichts Offizielles von dieser Katastrophe. Es hat noch nicht einmal eine Anfrage gegeben. Wir haben nicht einmal Informationen aus Kiel bekommen. Deswegen können wir dort keine Hilfe leisten. - Die Katastrophe dauert schon mehr als 14 Tage an. Ich wundere mich, daß Sie da von einer schnellen Hilfe sprechen. ({0})

Simone Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002753

Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich der Auffassung bin, daß das nicht stimmt. Es ist müßig, hier die Fragen der Zusammenarbeit von einer Landesregierung mit dem Verteidigungsministerium und dem Verkehrsministerium, die hervorragend funktioniert hat, zu debattieren. ({0}) Ich sage zu, daß wir schnell helfen werden. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung dafür, daß wir hier entsprechende Beschlüsse für eine schnellstmögliche Hilfe verabschieden können. Ich bitte auch um die Mitwirkung auf der Umweltministerkonferenz nächste Woche. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich erfülle noch die Bitte der Kollegin Kristin Heyne um eine Zwischenfrage. Weitere Zwischenfragen werde ich aber zu diesem Redenbeitrag nicht mehr zulassen. Bitte.

Kristin Heyne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002676, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, ich möchte Ihnen folgendes zur Kenntnis bringen, da ja hier auch Anmerkungen laut Geschäftsordnung erlaubt sind. ({0}) - Bitte schauen Sie in die Geschäftsordnung. Danach sind bei einer Zwischenfrage auch Anmerkungen erlaubt. Es hätte die Schlepperkapazität an der Nordseeküste in dieser Form überhaupt nicht mehr gegeben, wenn wir nicht - obwohl wir noch nicht in der Regierung waren dafür gesorgt hätten, daß der damalige regierende Verkehrsminister, also bevor die jetzige Regierung gebildet wurde, die Verträge für die Schlepperkapazität verlängert hätte. Es ist sehr bedauerlich, daß der Schlepper nicht rechtzeitig dasein konnte. Aber wenn in den letzten Wochen jemand dafür gesorgt hat, daß es eine gewisse Sicherheit an der Nordseeküste gegeben hat, Herr Carstensen - daran haben wir alle ein Interesse -, dann waren wir das; denn es ist nicht der letzte Verkehrsminister gewesen. Der hat sich einfach um nichts mehr gekümmert. Wir haben das aus der Opposition heraus veranlaßt. ({1})

Simone Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002753

Die Umweltpolitik ist nicht nur eine Aufgabe zwischen Bund und Ländern, sondern auch eine zentrale Aufgabe im Rahmen der Europäischen Union. Deshalb werden wir, wenn wir am 1. Januar 1999 die EURatspräsidentschaft übernehmen, diese dazu nutzen, Umweltpolitik gemeinschaftlich weiter voranzubringen. Dieses gilt für eine gemeinschaftliche Klimaschutzstrategie, für den Gewässerschutz und für eine sich in der Vorbereitung befindende EU-Wasserrahmenrichtlinie, über die wir dort entscheiden müssen. Gerade weil die Europäische Union als politische Handlungsebene für uns einen so herausragenden Stellenwert hat, muß es ein Anliegen sein, daß die EGRichtlinien fristgerecht in nationales Recht umgesetzt werden. Deshalb geht es uns vorrangig um die Umsetzung der sogenannten IVU-Richtlinie, die das Zulassungsverfahren für Industrieanlagen regelt, und natürlich um die Umsetzung der EG-Richtlinie Fauna-FloraHabitat. Die neue EG-Biozidrichtlinie werden wir durch ein Biozidgesetz umsetzen. Die Umweltprobleme stellen sich heute global - das ist in vielen Bereichen angesprochen worden - und können nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden. Wir werden als Partner in der EU dazu unseren Beitrag leisten, daß die internationalen Verhandlungen im Umweltbereich vorangebracht werden und zugleich auch auf internationale Umweltmindeststandards zum Beispiel im Welthandel, bei den Auslandsinvestitionen und insbesondere bei der Exportförderung geachtet wird. Darauf wollen wir hinwirken. Die neue Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, daß Umweltschutz endlich nicht mehr in der Nische bleibt, wie es in der letzten Legislaturperiode leider der Fall gewesen ist. Wir werden uns dafür einsetzen, daß Umweltschutz ein ganz selbstverständlicher Anspruch unseres Lebens und unseres Wirtschaftens wird. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich gebe mir Mühe wie immer, Kollege Kampeter. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe gerade gehört, mit welchem Nachdruck sich die neue Bundesregierung für die Umweltpolitik einsetzt. Nach diesen Ankündigungen habe ich eigentlich erwartet, daß, weil die Nachhaltigkeit eine Querschnittsaufgabe darstellt, die Besetzung auf der Regierungsbank im Hohen Hause etwas größer wäre. ({0}) Ich stelle fest, daß das Interesse der Ministerinnen und Minister dieser neuen Bundesregierung sehr nachhaltig zu wünschen übrigläßt. ({1}) Kommen wir zum Thema Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung und zu den diversen Äußerungen der neu gewählten Regierungsmitglieder. Diese Äußerungen zeigen nämlich allesamt die innere Zerrissenheit der neuen Regierung. Die Koalitionsvereinbarung beinhaltet offene Widersprüche, aber auch eine Vielzahl von schwammigen und interpretierbaren Formulierungen, die das Bild prägen. Zum Beispiel steht in der Koalitionsvereinbarung, daß der Kohlekompromiß von 1997 umgesetzt werden soll. Das wird von Herrn Trittin, unterstützt vom neuen nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Steinbrück, dann aber gleich öffentlich in Frage gestellt. Es heißt, man müsse, wenn man Kernkraftwerke abschalte, der Kohle wieder größere Bedeutung beimessen. Das kollidiert nun in der Tat mit dem CO2 -Minderungsziel. ({2}) Es soll uns einmal einer erklären, wie man so schnell wie möglich Kernkraftwerke abstellen will, wenn man auf der anderen Seite aber überhaupt nicht die Kapazitäten hat, um die Energieversorgung sicherzustellen. Das geht nur mit dem Einsatz von mehr Kohle, das geht nur mit der Aktivierung alter Kraftwerke, und das geht nur mit einem höheren CO2-Ausstoß. Das ist widersprüchlich bis ins Tezett. ({3}) Zwischen den vollmundigen Ankündigungen einer ökologischen Erneuerung Deutschlands, wie Sie das immer zu nennen pflegen, und der mageren Regierungserklärung des Kanzlers, überflüssige Umweltschutzvorschriften zu streichen, um damit die Regelungsdichte zu vermindern, liegen nun einmal Welten. Was will diese neue Koalition eigentlich in der Umweltpolitik, frage ich mich. Der Nebel hat sich auch nach der Regierungserklärung in keiner Weise gelichtet. Alte Kamellen allerorts, allerdings ohne Struktur. Weder bei der Bio- und Gentechnologie noch in der Abfallwirtschaft ist eine Linie zu sehen - auch nicht, wenn es um das Thema Instrumente im Umweltbereich geht. Schauen Sie sich doch nur einmal die Formulierung Formulierungen muß man sagen; man hat dem Thema breiten Raum zugemessen, ohne daß viel drinsteht zum Thema Bio- und Gentechnologie an. Aus jeder Formulierung spricht das gegenseitige Mißtrauen. Der Obersatz, daß man Bio- und Gentechnologie durchaus einen Stellenwert einräumen müsse, ist wahrscheinlich von der SPD. Die Konditionierungen - die Spiegelstriche - sind offensichtlich von den Grünen, aber genauso schwammig. So stellt es sich auch dar, wenn man die Debatte zur Regierungserklärung verfolgt. Frau Bulmahn hat uns eben erklärt, sie wolle über Aufklärung Akzeptanz für diese Technologie erreichen. Auf der anderen Seite hat Herr Trittin in der „Welt am Sonntag“ vom 8. November 1998 bereits erklärt, er wolle das Gentechnikgesetz verschärfen. Das sind Widersprüche. Es geht nach dem Motto: Fortschritt - ja bitte, aber ohne Risiko. Natürlich muß man mit Technik verantwortungsvoll umgehen ({4}) und Risiken minimieren. ({5}) Das haben wir auch immer gesagt. Aber Sie können nicht jedes Risiko ausschalten. Und genau das machen Sie mit den Formulierungen in Ihren Erklärungen. ({6}) Wer jedes Risiko ausschalten will, vergibt alle Chancen. Sie müssen endlich einmal lernen, daß das so nicht geht. ({7}) Oder schauen Sie sich die Kreislaufwirtschaft an. Ich war schon sehr erstaunt, wie mager die Äußerungen nach dem, was wir in der letzten Legislaturperiode gehört haben, zu diesem Thema waren. Da steht der Satz ich zitiere -: „Zur Abfallvermeidung und Stärkung der Produktverantwortung sind vor allem ökonomische Anreize notwendig.“ ({8}) Erstens. Als wir das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz auf den Weg gebracht haben, ist das von Ihnen blockiert worden. Zweitens. Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen und Bürger, die unter der Höhe der Müllgebühren ächzen, was Sie davon halten, wenn Sie an der Stelle von zusätzlichen „ökonomischen Anreizen“, also von Verteuerungen, reden! Wahrscheinlich ist Ihnen noch gar nicht aufgefallen, daß eben auch das eine Lenkung ist. Oder schauen Sie sich einmal das Thema Duales System an! ({9}) Beim Dualen System haben wir eine Preisstaffelung, die dem Material entsprechend greift, das heißt, je ökologischer, desto billiger das Material. Auch das ist eine Lenkung über den Preis, die man eingeführt hat. Das bedeutet, daß Lenkung über den Preis längst Realität ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, bei der Art, wie Sie die Problematik der Abfallgebühren angesprochen haben, haben Sie nicht zugegeben, daß die Kalkulationen, die gerade durch Ihre Regierung verursacht worden sind, zum Beispiel durch den gewaltigen Ausbau der Müllverbrennungsanlagen, dazu geführt haben, daß die Preise enorm in die Höhe gegangen sind. ({0}) In den Gebieten, wo das nicht gemacht worden ist und wo eine sinnvolle Planung gemacht worden ist, die auf eine zukünftige Produktion von Gütern, die tatsächlich in Kreisläufe geführt werden können, ausgerichtet ist, sind die Preise noch erträglich.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Griefahn, ich habe den Eindruck, wir leben in absolut unterschiedlichen Welten. Wenn Sie sich einmal vor Augen führen, wie die Situation Anfang der 90er Jahre war, dann werden Sie sehen, daß wir damals alle von Müllbergen gesprochen haben und daß wir alle nicht mehr gewußt haben, wie wir das Problem bewältigen sollen. Damals sind die Deponien übergelaufen; es waren nicht genügend Müllheizkraftwerke vorhanden. Zu Beginn des Inkrafttretens der Verpackungsverordnung und des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes bestand wirklich eine Situation, die unhaltbar war. Was ist zwischenzeitlich geschehen? Die Müllmengen sind drastisch zurückgegangen. Wir haben mit unserer Politik, mit der Einführung der Kreislaufwirtschaft, den Bau von zig Müllheizkraftwerken unnötig gemacht und damit den Gebührenzahlerinnen und Gebührenzahlern Milliardenbeträge erspart, die auf Grund unserer Politik nicht investiert werden mußten. Das ist die Realität. Auch das müssen Sie bitte einmal zur Kenntnis nehmen. ({0}) Das Fazit der ersten Diskussionsrunde um die umweltpolitischen Maßnahmen lautet also: Wenn man sich diese Koalitionsvereinbarung ansieht, dann erkennt man, daß nichts ausdiskutiert ist. Nur eines ist ganz klar festgelegt: Der Umweltschutz wird mißbraucht. Wer nämlich einem Bündel von Steuererhöhungen, die zur Finanzierung von Wahlversprechen auf ganz anderem Gebiet eingesetzt werden, das Etikett „ökologisch“ aufklebt, der verspielt den Kredit, den der Umweltschutzgedanke in der Bevölkerung heute genießt. ({1}) In drei Jahrzehnten haben alle amtierenden Bundesregierungen durch Gesetze, durch Werbung und Aufklärung zur Bildung eines positiven Umweltbewußtseins beigetragen. Das heute in der Bevölkerung verbreitete Interesse, ja das Engagement, sogar die Opferbereitschaft für den Schutz der Umwelt sind ein Ergebnis dieser Politik und keine Selbstverständlichkeit. Wenn also Ökologie als süßer Verführer benutzt wird, um bittere Pillen leichter verabreichen zu können, dann schadet das der Akzeptanz von Umweltpolitik schlechthin. Sie haben in der Umweltpolitik einen glatten Fehlstart hingelegt. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Mehl.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Homburger, ich finde es lustig, daß Sie eben sagten: Ich glaube, wir leben in verschiedenen Welten. Das habe ich oft gedacht, wenn ich Sie reden hörte, als wir in der Opposition waren. Nun machen wir das einmal mit umgekehrten Vorzeichen. Es ist schön, daß Ihnen der Satz auch eingefallen ist. ({0}) - Sie haben auch recht. Ich glaube, wir leben in der Tat in verschiedenen Welten, und ich freue mich darauf, daß wir jetzt über neue Perspektiven der Umweltpolitik sprechen können und nicht immer nur Defizite, Versäumnisse und Stillstand anprangern müssen. ({1}) Wir, die SPD und die Bündnisgrünen, werden gemeinsam mit dieser Bundesregierung beweisen, daß wir es besser machen können ({2}) und daß mit der Stagnation und sogar dem Rückschritt der letzten Jahre Schluß ist. Wir wollen eine zukunftsweisende Umweltpolitik. Frau Homburger, wir diskutieren ja heute nicht zum erstenmal darüber. Sie wissen schon, was wir einbringen werden. Ganz so nebulös, wie Sie es beschrieben haben, ist es für Sie sicherlich nicht. ({3}) Wir wollen jedenfalls nicht, daß uns die Europäische Union überholt, die Sie nämlich erst durch Mahnungen der Kommission oder durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs auf Trab gebracht hat. ({4}) Da gibt es einige Richtlinien, die Sie unzureichend oder überhaupt nicht umgesetzt haben, weswegen Sie vor dem Europäischen Gerichtshof standen oder dies zumindest angedroht wurde. Wir wollen keine Umwelt- und Energiepolitik, die unseren Kindern und Enkeln untragbare Risiken überläßt. Deshalb steigen wir aus der Atomwirtschaft aus und in die ökologische Steuerreform ein. ({5}) Wir wollen den Beweis dafür liefern, daß wirksame Umweltpolitik eben nicht den Standort Deutschland gefährdet. Im Gegenteil, wir werden zeigen, daß die Verknüpfung von Arbeit und Umwelt zum Motor für ein neues, umweltverträgliches Wirtschaften und zu einem Anreiz für neue Technologien und Dienstleistungen wird. Wir wollen neuen Fortschritt konkret machen. ({6}) Wir schaffen mit dem Einstieg in die ökologische Steuerreform - selbst wenn ich dazu sagen muß, daß ich mir persönlich einen mutigeren Start gewünscht hätte - einen Anreiz zu Energieeinsparung und Ressourcenschonung. Dieses Geld nutzen wir nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern, sondern zur Senkung der Lohnnebenkosten und damit zur Verschränkung von Arbeit und Umwelt. Das ist schon lange überfällig. ({7}) Ich bin der festen Überzeugung, daß sich der Erfolg dieser Bundesregierung nicht nur an der erfolgreichen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen muß. An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend stehen wir noch vor ganz anderen Herausforderungen. Um die weltweiten Probleme - Klimaveränderungen, Ozonausdünnung, Wasserverschmutzung, Versauerung von Böden und die Probleme des Meeresschutzes - in den Griff zu bekommen, muß es uns schnellstens gelingen - das Stichwort ist mehrfach genannt worden -, das Leitbild der Agenda 21, die nachhaltige Entwicklung, umzusetzen. Das ist dann auch die beste Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Wir werden nicht darauf warten, bis uns die Wissenschaft die letzten Beweise für Umweltkatastrophen liefert, wie wir das an einigen Beispielen sehen können. Klimaschutzpolitik darf nicht zu einem Kuhhandel verkommen, bei dem CO2-Minderungspotentiale gegen heiße Luft getauscht werden. ({8}) Wir brauchen eine zwischenstaatliche und nationale Feinabstimmung der Umweltvorsorge. Das beweist auch das katastrophale Unglück der „Pallas“ im Wattenmeer, das heute schon mehrmals genannt worden ist. Wir werden dieses Thema in der nächsten Woche im Umweltausschuß auf der Tagesordnung haben. ({9}) Wir werden uns die Problematik genauestens ansehen, und im übrigen traue ich dem Kollegen Carstensen zu, daß es ihm tatsächlich ums Thema geht. Auch steht für uns nicht die Schuldfrage im Mittelpunkt; denn dann müßten Sie, die Sie bisher für diesen Bereich zuständig gewesen sind, mit an den Pranger. ({10}) Vielmehr wäre es schön, wenn wir klären könnten, wie wir das gemeinsam umsetzen, was wir seit Jahren fordern, nämlich eine europäische Coast guard zu schaffen. Dabei können Sie uns gern unterstützen. ({11}) Die Umweltpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Sie muß zum integralen Bestandteil aller sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereiche werden. Dazu brauchen wir auch eine Umweltbildungsoffensive, die eine Grundlage für neue Ideen und kreative Lösungen schafft, aber auch den Spalt zwischen Wissen und Handeln beseitigt, den wir in der Umweltpolitik immer beklagen. Um diesen wichtigen Weg hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft einschlagen zu können, bietet der ausgehandelte Koalitionsvertrag durchaus eine gute Grundlage. Ich möchte die wichtigsten Punkte in aller Kürze ansprechen. Erstens. Wir werden gemeinsam mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie, eine nationale Agenda 21, erarbeiten, in der anspruchsvolle Ziele festgelegt werden, deren Erreichen an Hand von nachvollziehbaren Kriterien und zeitlichen Vorgaben überprüfbar gemacht wird. Dazu werden wir auf die Ergebnisse der EnqueteKommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ zurückgreifen und auf ihnen aufbauen. Zweitens. Wir werden das zersplitterte Umweltrecht in einem Umweltgesetzbuch zusammenfassen. Umweltrecht muß zum einen überschaubar und zum anderen für alle Betroffenen auch wirklich verstehbar sein. Das soll aber bitte ohne Zurückfahren der vorhandenen Standards geschehen - eher im Gegenteil. ({12}) Herr Kollege Lippold hatte es angesprochen: Wir setzen dabei auch auf freiwillige Selbstverpflichtungen; die haben wir nie in Bausch und Bogen verdammt. ({13}) Wir müssen aber die Standards erhalten. Das ist der Punkt. ({14}) Wir müssen dies kontrollieren können. Es reicht nicht, wenn diejenigen, die sich freiwillig selbst verpflichtet haben, zwar erklären, daß sie das Ziel erreicht haben, das aber gar nicht kontrollierbar ist. ({15}) Hier sollte übrigens nach unserer Auffassung die Bundesregierung mit einem guten Beispiel vorangehen. Ein wichtiges Instrument ist das Öko-Audit. Auch die öffentlichen Verwaltungen können es jetzt anwenden. Ich meine, daß die Bundesregierung dies auf allen Feldern tun sollte, um damit auch eine Vorbildfunktion für Länder und Kommunen wahrzunehmen. Drittens. Wir werden uns für eine Vorsorgepolitik beim Gewässerschutz stark machen. Wir müssen Oberflächen- und Grundwasserschutz unter Anwendung der besten verfügbaren Technik EG-weit durchsetzen ({16}) und zum Ökosystemschutz ausbauen. Das Thema steht schon in nächster Zeit im Zusammenhang mit der Wasser-Rahmenrichtlinie auf der Tagesordnung. Wir werden da die Anregungen des Europäischen Parlaments gerne aufgreifen. Viertens. Auch der Bodenschutz muß stärker am Vorsorgeprinzip ausgerichtet werden. Dazu werden wir gemeinsam mit den Ländern die Entwürfe der Bodenschutz- und Altlastenverordnung überarbeiten und Konzepte zur Entsiegelung und Renaturierung von Flächen einbeziehen. Fünftens. Wir werden mit der Kreislaufwirtschaft Ernst machen - das können wir uns, Frau KolleUlrike Mehl gin Homburger, dann ja gemeinsam im Ausschuß anschauen -, auf den Aufbau von Stoffkreisläufen in der industriellen Produktion setzen und die ökologische Gestaltung von Produkten fördern. Dieser Bereich ist nämlich absolut unterentwickelt. ({17}) Sechstens. Wir werden das Bundesnaturschutzgesetz novellieren und die Ziele und Grundsätze neu fassen, indem wir einen Vorrang für Naturschutz auf mindestens 10 Prozent der Fläche verwirklichen, ({18}) um das europäische Biotopverbundsystem Natura 2000 voranzubringen, das Verbandsklagerecht für anerkannte Naturschutzverbände verankern und den Ausverkauf von Schutzgebieten in den neuen Bundesländern stoppen. ({19}) Im übrigen brauchen wir ein neues Konzept für die Sicherung unseres nationalen Naturerbes. Es muß darüber diskutiert werden, in welcher Form das geschehen kann. Eine bundesweite Stiftung ist sicherlich nicht die schlechteste Lösung, aber das muß noch geklärt werden. Um längerfristig eine flächendeckend umweltfreundliche Land- und Forstwirtschaft zu verwirklichen, ({20}) werden wir gemeinsam mit den Land- und Forstwirten, Herr Kollege, die gute fachliche Praxis konkretisieren und Möglichkeiten eröffnen, ökologische Leistungen zu honorieren. Das ist immer unser Ziel gewesen. Dazu wollen wir die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz und die Chancen der Agenda 2000 nutzen. ({21}) Siebtens. Wir werden auch - das haben wir in den ganzen Diskussionen um das Energiewirtschaftsgesetz immer gefordert - endlich erneuerbare Energien so stark fördern, wie es angemessen ist, und die enormen Potentiale zur Energieeinsparung im Gebäudebereich nutzen, für den Ausbau der Kraft-Wärme-Koppelung sorgen und ein 100 000-Dächer-Solarprogramm in Gang bringen. ({22}) Wir werden auch die Marktchancen für regenerative und heimische Energien verbessern. Bei Ihnen stand das immer nur auf dem Papier; in der Wirklichkeit ist es nicht umgesetzt worden. Wir werden das jetzt tun. ({23}) Achtens. Wir werden uns international für anspruchsvolle Umweltqualitätsziele und gegen Umweltdumping einsetzen. Umweltstandards müssen auch in die Politik der WTO, des IWF, der Weltbank und in das Multilaterale Investitionsabkommen integriert werden. Das ist so, wie es jetzt vorliegt, noch nicht diskutabel. ({24}) Ich komme zum Schluß. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die drängenden Umweltprobleme endlich anpacken und den Umbau zum nachhaltig umweltverträglichen Wirtschaften einleiten. Das geht natürlich nicht in drei Wochen, auch nicht in drei Monaten. Deutschland muß aber endlich die praktische Umsetzung einer Nachhaltigkeitspolitik in der ersten Reihe vollziehen und nicht nur auf dem Papier Versprechungen machen. Das werden wir tun. ({25})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erfreut habe ich doch zur Kenntnis genommen, wie oft über die Perspektiven von jungen Menschen in den letzten Tagen gesprochen wurde. Wenn dann allerdings in der Regierungserklärung die Begriffe Natur- und Umweltschutz überhaupt nicht vorkommen und Kanzler Schröder sagt, ökonomische Leistungsfähigkeit sei der Anfang von allem, so sind an ihm langjährige Diskussionen auch unter jungen Leuten wohl spurlos vorbeigegangen. Denn nicht die Ökonomie, sondern die natürlichen Grundlagen sind der Anfang von allem. So ist es nicht verwunderlich, daß die Enttäuschung über die fehlende Konsequenz der Umweltpolitik der neuen Regierung bei den im Umweltbereich Engagierten und den Verbänden nicht zu überhören ist. ({0}) Den Koalitionsvertrag bezeichnet der BUND zu Recht als Pakt der Halbherzigen. ({1}) Natürlich erkennen wir an, daß Sie sich in den Bereichen des klassischen Natur- und Umweltschutzes und im Umweltrecht neue und teilweise auch ehrgeizige Ziele gesetzt haben: das Vorhaben, ein ausgedehntes BiotopVerbundsystem zu schaffen, oder der Stopp des Ausverkaufs von Schutzgebieten in den neuen Bundesländern. ({2}) Jedoch steht für mich zum Beispiel die Aussage zur Bio- und Gentechnologie im Kontrast zu solchen konkreten Festlegungen. Die verantwortbaren Innovationspotentiale dieser Technologien hervorzuheben und zugleich den frommen Wunsch nach angemessenem Raum für alternative Verfahren zu äußern, das klingt für mich nach einem ganz faulen Kompromiß auf Kosten der Ökologie. ({3}) Die ökologischen Gefahren von Feldfreisetzung und von faktischen Freisetzungen in den Sicherheitsstufen S 1 und S 2 nach dem Gentechnikgesetz sind oftmals dokumentiert. Der wirkliche Stopp sämtlicher Freisetzungen und die Verschärfung des Gentechnikgesetzes wären hier und EU-weit die richtigen Zielsetzungen gewesen. ({4}) Lassen Sie mich drei Punkte herausheben: Natürlich unterstützen wir Ihre Bemühungen, den Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich zu regeln. Allerdings hätten wir doch schon gerne konkretere Ausstiegsfristen gehört - in guter Erinnerung an den einmal gefaßten 10-Jahres-Beschluß der SPD. Auch vermissen wir Festlegungen zum Abschalten von Schrottmeilern, die weit älter als 18 oder 19 Jahre sind, und zur Endlagerfrage. Ebenfalls hörten wir nichts über die Beendigung der Genehmigungsverfahren für die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben und den Schacht Konrad. Werden Sie deren Inbetriebnahme verhindern? Wir hoffen, daß es nicht bei Ihren vollmundigen Ausstiegsbekundungen bleiben wird. Wir fordern einen zeitnahen Einstieg in den Ausstieg. ({5}) Nehmen wir auch die Ökosteuer. Was als Königsweg hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise inklusive der Lösung der Arbeitsmarktprobleme und der Sanierung der Sozialversicherungssysteme verkauft wird und was auch ein dem ökologischen Umbau dienendes Instrument sein könnte, endet leider wie immer unter dem Druck von Industrie und Lobbygruppen als reine Entlastungsdiskussion. Kein Wort mehr über die Verwendung eines Teils der Einnahmen aus höheren Energiepreisen für den ökologischen Umbau! Diese Ökosteuer auf Samtpfoten wird nicht den notwendigen Druck in Richtung Energieeinsparung, effizientere Energienutzung und Modernisierung der Produktionsstrukturen entfalten. Vor allem aber fehlt diesem Konzept aus Sicht der PDS jede soziale Kompensation, wie etwa die Förderung eines flächendeckenden, preiswerten ÖPNV aus den Mitteln der Benzinpreiserhöhung, was ja möglich wäre. ({6}) Als letzter Punkt, ganz aktuell: die Klimapolitik. Schon im Vorfeld der gerade stattfindenden Konferenz in Buenos Aires hat sich Umweltminister Trittin bewußt in die Kontinuität der Vorgängerregierung gestellt. Allein die Verabschiedung eines verbindlichen Zeit- und Arbeitsplans hält er nun schon für einen Erfolg. Im Gegensatz zu Umweltverbänden und dem umweltpolitischen Sprecher der Grünen ist er der Ansicht, daß bis zu 50 Prozent der Reduktion aus den sogenannten flexiblen Instrumenten bestritten werden könnten. ({7}) Lassen Sie mich zum Schluß sagen: So sieht für uns eine konsequente Klimapolitik nicht aus. Wir meinen: Je leichter die Industriestaaten - immerhin Hauptverursacher der Klimaveränderungen - ihre nationalen Pflichten auf billigem Wege im Ausland erfüllen können, um so mehr schwindet der Druck, die eigene Art des Wirtschaftens und des Lebensstils auch hier in Deutschland zu verändern. Wir erwarten, daß Deutschland auf EUEbene auf eine anspruchsvolle Regelung hinwirkt, um die selbstgesetzten Reduktionsziele zu erreichen, die Reduzierung aus den flexiblen Instrumenten auf höchstens 30 Prozent festzuschreiben und in diesem Sinne Druck auf die USA auszuüben. Ein persönlicher Satz zum Schluß: Das wäre für mich das mindeste, um wirklich zu einem Politikwechsel zu kommen - und nicht nur zu einem Regierungswechsel. Für diesen Politikwechsel möchte ich hier in diesem Hause in den nächsten vier Jahren streiten, egal wie oft ich persönlich noch in einem Verfassungsschutzbericht auftauchen werde. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Frau Kollegin Marquardt, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. ({0}) Ich erteile nun dem Abgeordneten Michael Müller das Wort.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, daß die Koalitionsvereinbarung die ökologische Modernisierung in das Zentrum der zukünftigen Politik stellt. Das wird von der SPD als die richtige Antwort auf die Probleme unserer Zeit angesehen. Ich sage Ihnen: Die ökologische Modernisierung ist in dreierlei Hinsicht von zentraler Bedeutung: Erstens. Sie ist die Chance für einen neuen Konsens in unserer Gesellschaft. Diesen Konsens gibt es beispielsweise in der Frage des Ausstiegs aus der Atomkraft schon lange. Das muß jetzt auch im Bundestag Konsens werden, wo er bisher verhindert wurde. ({0}) Zweitens. Die ökologische Modernisierung ist die große Chance für die Erneuerung der Gesellschaft und vor allem für die Weckung der kreativen Kräfte in unserer Gesellschaft. Ökologische Modernisierung heißt nämlich, kreativ neue Ansätze zu entwickeln und dabei auch den Faktor Arbeit zu stärken. Drittens. Wir werden auf keinen Fall eine Politik unterstützen - eine solche haben wir in der Vergangenheit leider oft erlebt -, in der Arbeit gegen Umwelt ausgespielt wird. Im Gegenteil: Es wird ein Kernbereich unserer Politik sein, Arbeit und Umwelt zusammenzuführen und beides als zwei Seiten eines Problems zu betrachten, nämlich die Umweltzerstörung zu bekämpfen und gleichzeitig die Arbeitsplatzvernichtung zu stoppen. ({1}) Es geht um die zentrale Frage: Wie sieht eine zukunftsfähige Wirtschaftsordnung aus? Der Kern der ökologischen Modernisierung liegt darin, ein modernes Fortschrittsmodell zu entwickeln, statt beispielsweise in der Umweltpolitik die öffentliche Verordnungswirtschaft durch eine private Verordnungswirtschaft zu ersetzen, wie wir dies in den letzten Jahren erlebt haben. Das ist nicht unser Weg. Der Einstieg in die ökologische Steuerreform ist von zentraler Bedeutung, weil damit ökologische Entscheidungen sinnvollerweise direkt in die Wirtschaftsprozesse einbezogen werden. ({2}) Ich meine allerdings, daß die ökologische Steuerreform nicht das einzige Instrument sein kann. Sie ist ein wichtiger Weg. Ich würde sie aber nicht als den Königsweg bezeichnen. Ich glaube auch, daß das kaum jemand tut. Sie ist vielmehr eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung, um die ökologische Modernisierung in Gang zu bringen. Gerade wer beispielsweise die soziale Verträglichkeit ernst nimmt, muß mit der ökologischen Steuerreform weitere Instrumente verbinden. Auch das werden wir tun. ({3}) Von zentraler Bedeutung ist es also, die beiden großen Krebsübel unserer Zeit, nämlich die Probleme der Arbeitsplatzvernichtung und der Umweltzerstörung, gemeinsam zu lösen. Deshalb sage ich in Richtung Bundesregierung: Für die SPD ist es wichtig, in das Bündnis für Arbeit auch die ökologischen Fragen einzubeziehen. Wir halten es für richtig, ein Bündnis für Arbeit und Umwelt zu schaffen, um nicht von vornherein in der Gesellschaft neue und falsche Fronten aufzubauen. ({4}) Meiner Meinung nach gleicht die Situation, in der sich die neue Regierung befindet, in etwa einem Suchprozeß. ({5}) Wir sind aufgefordert, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen und neue Wege zu gehen. Denn - ich glaube, das war der entscheidende Grund für die Wahlniederlage der alten Regierung - die Menschen wissen, um es mit Erich Kästner zu sagen, daß es auf keinen Fall so weiterging, wenn es weitergegangen wäre. Jetzt gibt es sozusagen eine Suchbewegung dahin gehend, wie wir in der Gesellschaft wieder zu mehr Verständigung, zu mehr Modernisierung und vor allem zu mehr Solidarität kommen. Auch eine neue Solidarität ist ein ganz wichtiger Punkt. Die ökologische Modernisierung kann hier eine zentrale Rolle spielen. ({6}) Aus meiner Sicht gibt es drei zentrale Herausforderungen an die künftige Politik. Das ist erstens die große Krise der Erwerbsarbeit. Wir erleben heute, daß sich die Produktivität einseitig auf die Verdrängung des Faktors Arbeit richtet, weil die Produktivität weit höher als die Nachfrage ist. Wenn man das hinnimmt, bedeutet das, auch die Massenarbeitslosigkeit hinzunehmen. Das wollen wir nicht. Deshalb ist die Forderung nach einem Bündnis für Arbeit und Umwelt auch die Forderung nach neuen Wirtschaftsstrukturen, neuen Zukunftsmärkten, neuen Produkten und einer zukunftsfähigen Entwicklung „Arbeit und Umwelt“ bedeutet Beschäftigungspolitik und damit Zukunftspolitik. ({7}) Die zweite wichtige Herausforderung ist: Wir wissen, daß quantitatives Wachstum nicht mehr ausreicht, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wir haben die letzten Jahrzehnte als Jahrzehnte erlebt, in denen Wachstum die Gesellschaft wie ein Fahrstuhl nach oben gehoben und allen mehr Chancen gegeben hat. Dieser Mechanismus funktioniert nicht mehr. Die Zukunft zu gestalten bedeutet, daß Wachsen und Schrumpfen gleichermaßen stattfinden müssen. Der Ernstfall für diese neue wirtschaftspolitische Strategie wird der Umstieg in der Energiepolitik sein. Wir müssen ein systematisches Schrumpfen der Atomenergie bei einem gleichzeitigen Wachsen von Effizienztechnologien und von Solarwirtschaft erreichen. Das heißt, Wachsen und Schrumpfen gleichzeitig, das ist unsere Strategie. ({8}) Im Zusammenhang damit, daß quantitatives Wachstum nicht mehr ausreicht, ist auch von großer Bedeutung, daß wir lernen, mit Grenzen umzugehen. Das ist für die moderne Zivilisation eine völlig neue Herausforderung. Ökologie bedeutet auch, sich selbst zurückzunehmen, Solidarität nicht nur mit den gegenwärtigen Generationen, sondern auch mit künftigen Generationen zu üben und vor allem zu begreifen, daß die Einführung einer Zukunftsverantwortung in die Gegenwart eine Grundlage für die Stabilität der Ökonomie, für Beschäftigung und für soziale Solidarität sein wird. Zu lernen, mit Grenzen umzugehen, das ist die große kulturelle Herausforderung für unsere Gesellschaft. Und sie ist vor allem eine ökologische Herausforderung. ({9}) Als dritte Herausforderung haben wir es mit den in vielen Bereichen sichtbaren Grenzen des Nationalstaats zu tun - vor allem in der Steuer-, in der Finanz- und in der Geldpolitik. Wir müssen wissen, mit welchen Mitteln wir die Globalisierung gestalten können. Aus meiner Sicht ist die Leitidee der Nachhaltigkeit die wichtigste Antwort, um das globale Zeitalter zu gestalten. Nachhaltigkeit ist ein Weg, der kein globales Regime voraussetzt - das auch nicht kommen wird und das auch nicht wünschenswert ist -, der aber die große Chance eröffnet, daß überall in der Welt gesellschaftliMichael Müller ({10}) che Gruppen, Städte, Wirtschaftsvereinigungen und Regierungen mit unterschiedlichen Maßnahmen für dasselbe Ziel, nämlich das Ziel einer dauerhaften Entwicklung, arbeiten. Nachhaltigkeit ist die große Chance, in einer Welt, die noch keine Regel hat, auf die Gefahr eines entfesselten neuen Weltkapitalismus, der uns in die Krise führt, neue soziale und ökologische Antworten zu geben und damit Stabilität, Frieden und Demokratie zu sichern. Es ist eine Zukunftschance! ({11}) Diese Herausforderung stellt sich in besonderer Weise an Europa. Max Horkheimer hat in den 60er Jahren die Frage gestellt: Setzt sich in Europa der Gedanke von Rationalität, Vernunft und Aufklärung fort? Der Paradigmawechsel hin zu einer sozial-ökologischen Wirtschaftsentwicklung ist die große Chance für Europa. Ich halte weder den amerikanischen Weg des Individualkapitalismus ({12}) noch das asiatische Modell, das zentralistisch von oben dirigiert, für zukunftsfähig. Ich sehe vielleicht eine große Chance für Europa, das damit auch ein Vorbild für eine sozial-ökologische Weltinnenpolitik sein kann. Das ist das Modell, das wir wollen. Es ist auch im Sinne von Weizsäcker und wird uns voranbringen. ({13}) In den 30er Jahren hat Franklin D. Roosevelt nach der großen Weltwirtschaftskrise gesagt: Außergewöhnliche Herausforderungen brauchen auch außergewöhnliche Antworten. Das ist richtig und gilt auch noch heute. Deshalb wird die entscheidende Frage für uns sein: Sind wir fähig, nicht nur zu reagieren, sondern auch ein sozialökologisches Bündnis in unserer Gesellschaft zu erreichen? Folgende Fragen stellen sich konkret: Wie setzen wir den Prozeß von Rio fort? Wie füllen wir konkret die Debatte zur Agenda 21? Und vor allem: Wie mobilisieren wir unsererer Gesellschaft mehr Demokratie und mehr Mitbestimmung, um neue Wege gehen zu können? Denn wir wissen, die ökologische Modernisierung wird nur erreichbar sein, wenn mehr Demokratie möglich wird, wenn die Menschen mitziehen, wenn sie sehen, daß die Veränderungen gerecht und solidarisch organisiert werden. Das heißt, daß Ökologie nicht ein Gegensatz zur bisherigen sozialstaatlichen Politik dieses Jahrhunderts ist, sondern eine Fortsetzung und Erweiterung. Sie ist die große Zukunftschance. Wir werden in der neuen Regierung im Bündnis zwischen sozialen und ökologischen Reformen diesen Weg solidarisch und vertrauensvoll gehen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Wir kommen nun zu dem letzten Themenbereich für den heutigen Tag, zum Thema Landwirtschaft. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Horst Seehofer. ({0})

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stelle eine gewisse Überraschung fest. Deswegen möchte ich hier mein erstes Erlebnis, das ich als Gesundheitsminister mit den Zahnärzten hatte, wiedergeben. Die Zahnärzte waren damals auch überrascht und haben mir die Frage gestellt: Haben Sie schon jemals einen Zahn gezogen? Diese Frage wurde mir nach vier Wochen nie mehr von ihnen gestellt. ({0}) Nun beginne ich mit der Koalitionsvereinbarung der neuen Regierung. Ländliche Räume stärken - Landwirtschaft sichern, so lautet die Zielsetzung von SPD und Grünen. Wie sieht die Realität aus? In der Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers kein Wort zu den strukturellen und wirtschaftlichen Problemen der Landund Forstwirtschaft und ihren in der überwiegenden Zahl bäuerlichen Familienbetrieben. Kein Wort in dieser Regierungserklärung zu den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Leistungen der Landwirtschaft. Kein Wort zur Versorgung der Bevölkerung mit Produkten, die in Deutschland höchsten gesundheitlichen Standards und den Verbraucherinteressen entsprechen. ({1}) In der Regierungserklärung kein Wort zu den weitgehend unentgeltlich erbrachten Leistungen der Bauern für Natur- und Landschaftspflege ({2}) und auch kein Wort zur Nutzung landwirtschaftlicher Rohstoffe für regenerative Energien. ({3}) Meine Damen und Herren, wenn an der Schwelle zum 21. Jahrhundert in einer Regierungserklärung, die Aufbruchstimmung auslösen soll, zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige unseres Landes, zu den Problemen der Bauern und zum Agrarstandort Deutschland, so gut wie kein Satz verloren ist, dann drückt dies den Stellenwert aus, den diese Regierung den Bauern einräumt. ({4}) Michael Müller ({5}) Ich kann heute sagen: Bei dieser rotgrünen Regierung haben die Bauern null Stellenwert, diese Regierung hat die Bauern im Kern abgeschrieben. ({6}) Die Ausgestaltung der Agenda 2000 wird sowohl für die Landwirtschaft als auch für den ländlichen Raum von größter Bedeutung sein. Auch zu diesem Punkt findet man im Koalitionsvertrag nur diplomatische Poesie und nichts Konkretes. Die Agenda 2000 hat existentielle Bedeutung für die Zukunft der deutschen Bauern. In der Koalitionsvereinbarung findet man alleine den Satz, daß man diese Agenda 2000 fristgerecht im ersten Halbjahr 1999 umsetzen will. Die eigentlichen inhaltlichen Probleme, nämlich die höheren Agrarkosten, die Einkommenseinbußen der Landwirte und die vermehrte Bürokratie, die mit dieser Agenda verbunden sind, werden mit keinem Wort erwähnt. Wenn ich nun sehe, daß die Agenda 2000 in der Regierungserklärung nicht erwähnt wird, daß in der Koalitionsvereinbarung auf eine fristgerechte Umsetzung der Agenda Wert gelegt wird, aber zu den inhaltlichen Problemen der Agenda für die deutschen Bauern und den ländlichen Raum kein Wort verloren wird, dann müssen wir von einer Grundzustimmung, Herr Minister, zu den Kommissionsvorschlägen ausgehen, obwohl - darauf möchte ich hinweisen - eine Sonderagrarministerkonferenz am 28. Mai 1998, an der Sie teilgenommen haben, einstimmig, ferner die Ministerpräsidenten aller Bundesländer ebenfalls einstimmig und schließlich auch der Bundesrat noch im Juni dieses Jahres wiederum einstimmig die Agenda 2000 abgelehnt haben ({7}) Die agrarpolitischen Vorschläge in der Agenda 2000 wurden zurückgewiesen, und damals haben sowohl die Agrarminister als auch die Ministerpräsidenten wie der Bundesrat festgelegt, daß die Agenda 2000 so überarbeitet werden muß, daß einseitige Belastungen und Benachteiligungen der deutschen Landwirtschaft vermieden werden sowie die Funktionsfähigkeit der ländlichen Räume erhalten bleibt. ({8}) Meine Damen und Herren, wenn man im Juni dieses Jahres, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, wenige Wochen vor der bayerischen Landtagswahl, bei der diese Frage eine wesentliche Rolle gespielt hat, noch einhellig die Agenda 2000 in ihrem agrarpolitischen Teil ablehnt, eine Überarbeitung einfordert und jetzt - das muß man aus der Regierungserklärung und der Koalitionsvereinbarung schließen - ganz offensichtlich eine Grundzustimmung zu den Kommissionsvorschlägen gibt und damit nach der Wahl auf den Kurs des Kommissars Fischler einschwenkt, muß man dies als Täuschungsmanöver gegenüber den Wählern einstufen. ({9}) Das ist ein Täuschungsmanöver. Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben heute die Möglichkeit, dies hier zurechtzurücken. Mit Recht haben sich Union und F.D.P. - ich habe das im Kabinett selbst miterlebt - gegen die vorliegende Fassung der Agenda 2000 gestemmt. Denn, meine Damen und Herren, die Agenda 2000 bringt auf der einen Seite höhere Kosten und auf der anderen Seite weniger Einkommen für die Landwirte. Allein im Marktordnungsbereich müßte Deutschland rund 1,7 Milliarden DM mehr bezahlen, würde es bei dieser Fassung bleiben, die deutschen Nettozahlungen erhöhten sich um rund 1 Milliarde DM, und unsere Landwirte hätten gleichzeitig durchschnittlich 10 Prozent, im Futterbau sogar deutlich mehr als 20 Prozent weniger Einkommen und insbesondere auch vermehrte Bürokratie. ({10}) Meine Damen und Herren, das ist unerträglich. Die Union hat vor der Wahl gesagt, das wollen wir nicht, und wir bleiben auch nach der Wahl dabei. ({11}) Wenn darauf hingewiesen wird, eine solche Änderung sei wegen der Osterweiterung der Europäischen Union notwendig, sagen wir klar ja zur Osterweiterung. Sie ist eine einmalige historische Chance, eröffnet neue wirtschaftliche Perspektiven. Aber, meine Damen und Herren, die Osterweiterung der Europäischen Union darf nicht auf dem Rücken unserer deutschen Landwirte ausgetragen werden. ({12}) Hier, Herr Landwirtschaftsminister, wäre es sehr gut gewesen, wenn Sie sich rechtzeitig und nicht erst nachträglich zu Wort gemeldet hätten. Natürlich brauchen wir hier lange Übergangsfristen. Aber von Übergangsfristen ist bei der Osterweiterung der Europäischen Union nur bezüglich der gewerblichen Arbeitnehmer die Rede, aber nicht beim Auffangen und beim Abfedern der Probleme in der deutschen Landwirtschaft. ({13}) Es muß dringend nachgebessert werden. Natürlich, meine Damen und Herren, steht die Agenda 2000 auch im Zusammenhang mit der wichtigen Frage der Verhandlungen, die bei der Welthandelsorganisation zu diesem Gebiet anstehen. Das Ziel der Liberalisierung der Agrarmärkte darf aber nicht bedeuten, daß die deutsche Landwirtschaft von ihren hohen Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutzstandards Abstriche macht. Deshalb wäre die richtige Reihenfolge, Herr Minister, daß man nicht zuerst die Agenda 2000 auf europäischer Ebene verwirklicht und die deutsche Landwirtschaft in einen weltweiten Preiskampf mit dem Verlust vieler Existenzen treibt, sondern der erste Schritt, meine Damen und Herren, Herr Minister, muß sein, bei diesen Verhandlungen der Welthandelsorganisation dem europäischen Niveau entsprechende Gesundheits-, UmweltHorst Seehofer und Sozialstandards durchzusetzen. Das muß der erste Schritt sein, meine Damen und Herren! ({14}) Wir wollen nicht, daß die Liberalisierung für unsere Verbraucher in Deutschland bedeutet, daß sie Produkte akzeptieren müssen, die sie nicht wollen, Hormonfleisch und Milch von Turbo-Kühen, daß unsere Märkte von solchen Produkten überschwemmt werden. Deshalb wollen wir, daß die richtige Reihenfolge eingehalten wird, daß man sich nicht im Vorfeld dieser Verhandlungen auf europäischer Ebene den Weltmarktpreisen aussetzt, daß man die deutschen Landwirte nicht diesem ruinösen Wettbewerb aussetzt, und die Standards für die Schutzbestimmungen, die ja weltweit vereinbart werden müssen, nicht angleicht. Das hält kein Wirtschaftsbereich aus. Ich hätte es sehr gut gefunden, Herr Landwirtschaftsminister, wenn Sie sich nicht im nachhinein, nach den Koalitionsverhandlungen, nach der Regierungserklärung zu Wort gemeldet hätten. Beinahe täglich höre ich von Nachbesserungen und davon, daß dieses oder jenes neu überlegt werden müsse. ({15}) Vielmehr hätten Sie dafür sorgen müssen, daß für die Landwirtschaft schädliche Vereinbarungen in Ihrer Koalition gar nicht erst getroffen werden. ({16}) Wir brauchen keinen Landwirtschaftsminister, der sich als Reparateur betätigt, sondern jemanden, der von vornherein vermeidet, daß überhaupt Schaden entsteht. ({17}) Das ist eine existentielle Frage für die deutschen Landwirte. Sie haben die verdammte ({18}) Pflicht und Schuldigkeit - auch wenn wir Europa und die Erweiterung Europas bejahen -, vitale deutsche Interessen und damit auch die Interessen des ländlichen Raumes und der deutschen Landwirte in diesen Verhandlungen zu vertreten. Es geht ja nicht nur um die Agenda 2000. Dazu kommt noch, was wir im Bereich der Umweltpolitik von der SPD und den Grünen gehört haben, welche Belastungen auf unsere Landwirte - übrigens die Umweltschützer Nummer eins, die größte Umweltbewegung in der Bundesrepublik Deutschland ({19}) zukommen sollen. Weiter ist festzuhalten, was Sie im Steuerrecht an Belastungen den Landwirten aufbürden wollen. In diesem Zusammenhang möchte ich folgenden Satz sagen: Ich verstehe manche Kommentare in der Öffentlichkeit überhaupt nicht, wonach es hier um einen Abbau von Steuerprivilegien bei den Landwirten gehe. Wenn ich daran denke, daß Landwirte an Sonn- und Feiertagen arbeiten und hier nicht in den Genuß von Steuervorteilen und Abschreibungsmöglichkeiten kommen - wie viele Arbeitnehmer -, dann fällt es mir schwer, zu verstehen, wie von einem Steuerprivileg geredet werden kann. ({20}) Sie von der Regierung belasten auf der einen Seite die Landwirte überproportional, während auf der anderen Seite die deutschen Bauern von der Entlastung bei den Lohnnebenkosten nichts haben. ({21}) Dazu kommt die mittelbare Wirkung der Energiebesteuerung. Wenn man im ländlichen Raum lebt, weiß man, was das bedeutet - von der Benzinsteuer bis zur Stromsteuer. Wenn ich diese vier Punkte zusammen nehme, die Agenda 2000, der Sie offensichtlich in der vorliegenden Form zustimmen wollen, weil Sie der Zeitschiene den Vorrang vor dem Inhalt geben, die Steuerreform mit einer hemmungslosen und massiven Belastung der Landwirte und der ländlichen Räume, die Energiebesteuerung, die Stromsteuer, die ebenfalls wieder eine einseitige Belastung der landwirtschaftlichen Existenzen und der landwirtschaftlichen Räume mit sich bringt, und die Belastungen durch SPD und Grüne im Bereich des Umweltrechts, dann kann ich zu keinem anderen Ergebnis kommen als zu dem, daß die Bauern zu den Verlierern der neuen Regierungspolitik gehören. ({22}) Dagegen stemmen wir uns mit aller Macht. ({23}) Herr Landwirtschaftsminister, wenn ich diese Sachverhalte der Regierungserklärung gegenüberstelle, in der vom Aufbruch die Rede ist, dann komme ich zu dem Schluß: Ihre Politik für den ländlichen Raum führt nicht zum Aufbruch, sondern zur Stagnation und zum Verfall. Bei den Steuern gibt es statt Entlastung eine massive Belastung, und, was die Verwaltungsabläufe betrifft, so gibt es nicht Vereinfachung, sondern eine massive, zusätzliche Bürokratie. Statt Aufbruch Verfall, statt Entlastung Belastung, statt Vereinfachung Bürokratie. ({24}) Dies alles haben die Landwirte auszubaden. Nun kenne ich Sie ja, Herr Funke, als wir miteinander wegen BSE zu tun hatten. ({25}) Ich möchte auch gar nicht verschweigen, daß wir da ordentlich zusammengearbeitet haben. Sie haben eine ordentliche Chance verdient. Wir werden Sie ganz einfach an den Zielen messen, die wir heute hier formulieren. Wir wollen nicht, daß Sie sich ständig, jeden Tag, mit Agenturmeldungen in der Öffentlichkeit zu Wort melden ({26}) und sagen, Sie hätten diesen oder jenen zur Korrektur, zur Nachbesserung aufgefordert. Vielmehr wollen wir, daß Sie das, was für die Landwirte gut ist, von vornherein durchsetzen. ({27}) Sie sollten nicht immer nur nachbessern und sich dann möglicherweise feiern lassen mit der Bemerkung, Sie hätten noch Schlimmeres verhindert. Nein, Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben die Aufgabe, den Agrarstandort Deutschland in Europa zu sichern. ({28}) Sie haben Ihren Beitrag dazu zu leisten, daß es eine dynamische, unternehmerische und eigentumsorientierte bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland auch weiterhin gibt. ({29}) Sie haben alles zu verhindern, damit - neben dem Strukturwandel, der in der bäuerlichen Landwirtschaft ohnehin stattgefunden hat und auch weiterhin stattfindet - der Staat diesen Strukturwandel in der Landwirtschaft nicht noch über die Rahmenbedingungen des Steuer- und Umweltrechtes verschärft. Das ist Ihre Aufgabe. Daran werden wir Sie messen. ({30}) Wir sind nicht so blauäugig, zu sagen, daß es in Gegenwart und Zukunft keinen Strukturwandel gibt. Aber es ist nicht Aufgabe einer Regierung, nicht Aufgabe eines Staates, diesen Strukturwandel in der Landwirtschaft durch eine falsche Steuer- und Umweltpolitik noch zu verschärfen. ({31}) Daran werden wir den Landwirtschaftsminister messen. Wenn Sie das erfüllen, Herr Funke, dann werden Sie unsere Unterstützung haben. ({32}) Aber bis zur Stunde haben wir noch nicht den Eindruck, daß Sie das erfüllen. Sie haben viele Ankündigungen, gerade im Steuerrecht, in die Welt gesetzt, auf Grund deren die Annahme berechtigt ist, daß Sie sich ohne die Rückkopplung mit dem Finanzminister, dem Bundeskanzler oder dem Koalitionspartner zu Wort gemeldet haben. Wir bieten Ihnen unsere Unterstützung an, wenn Sie sich an den Interessen der bäuerlichen Landwirtschaft und den deutschen Interessen in Europa orientieren. ({33}) Aber, Herr Landwirtschaftsminister, Sie stoßen auf den erbitterten Widerstand der CDU und der CSU, wenn Sie eine Politik zu Lasten der deutschen Bauern, die sich nach der Regierungserklärung und der Koalitionsvereinbarung vermuten läßt, realisieren wollen - auf erbitterten Widerstand, das kann ich Ihnen heute ankündigen. ({34}) Ich bin da als jemand, der sechseinhalb Jahre als Minister im Gesundheitsressort überlebt hat, einiges gewohnt. ({35}) Sie dürfen sich darauf einstellen, daß wir mit den Landwirten und mit Ihnen einen ordentlichen Kampf führen werden. Herzlichen Dank. ({36})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat Herr Bundesminister Karl-Heinz Funke das Wort.

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005293

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich nehme zur Kenntnis, Herr Kollege Seehofer, daß auch Sie in Ihrem Hause lediglich „überlebt“ haben. ({0}) Wer lediglich überlebt - das ist ja wohl der Sinn des Begriffes -, kann nicht davon reden, daß er großartig Aufgaben erfüllt hätte. ({1}) Ihre Selbstkritik ging da weiter als die Kritik, die ich Ihnen gegenüber zu üben hätte. ({2}) - Was gut ist und was schlecht, möchte ich nicht alleine Ihrer Beurteilung überlassen wollen. Da kämen wir sehr schnell ins kurze Gras. ({3}) Ich gebe auch zu - bevor Sie sich empören -: Der Kollege Seehofer hat viel Richtiges und Neues gesagt. Nur war das Neue nicht richtig und das Richtige nicht neu. ({4}) Es ist doch hochbemerkenswert, daß er beanstandet hat, was in Sachen Landwirtschaft alles nicht in der Regierungserklärung stehe. ({5}) - Herr Kollege Seehofer, ich bin ja nicht neu - zwar hier in diesem Parlament, aber ansonsten nicht. Darum tut es gut, sich einfach einmal anzusehen - historisch Bewanderte interessiert es auch -, was eigentlich in der Regierungserklärung des Jahres 1994 zur Landwirtschaft gestanden hat. ({6}) - Mit dem Zwischenruf, Herr Glos, wäre ich vorsichtiger. Unter der Überschrift „Aufbruch in die Zukunft“ Sie haben viel von Aufbruch geredet, aber zur Landwirtschaft hätte viel mehr gesagt werden müssen - stand in der Regierungserklärung 1994 des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl ein einziger Satz zur Landwirtschaft - ich zitiere -: Ich denke an die Bauern, die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Landschaft prägen. ({7}) Nicht ein Wort mehr stand dazu, und das unter der Überschrift „Aufbruch“! Daß Sie jetzt hier einfordern, was alles hätte drinstehen müssen, zeugt zumindest davon, daß Sie die damalige Regierungserklärung nicht gelesen haben, Herr Kollege Seehofer. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, angenommen, der Bundeskanzler hätte den Satz „Ich denke an die Bauern, die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Landschaft prägen“ so in die Regierungserklärung geschrieben und vorgetragen, dann hätten Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gesagt: Siehst du, die machen die Bauern ausschließlich zu Landschaftsgärtnern. Ökonomie zählt nicht mehr. - Diese Kritik wäre im übrigen berechtigt gewesen. Aber das war die Regierungserklärung des Jahres 1994. Daran gemessen haben wir in der Regierungserklärung dieses Jahres zentrale Probleme der Agrarpolitik angesprochen; das will ich Ihnen einmal sagen. ({9}) Im übrigen: Sie sprechen von sozialen und ökologischen Standards, die erfüllt werden müssen, insbesondere in Richtung WTO. Einverstanden! Ich glaube, darüber gibt es im ganzen Hause überhaupt keinen Streit. Aber ich wäre sehr froh gewesen, wenn - das zuzugeben fällt mir gar nicht leicht; aber auch die Grünen, auch wir Sozialdemokraten haben davon gesprochen - beim GATT-Abkommen des Jahres 1994 schon im Vorfeld der Verhandlungen und vor allen Dingen beim Abschluß über soziale und ökologische Standards gesprochen worden wäre. Das haben Sie nicht gemacht. Sie haben den GATT-Abschluß zu verantworten. Wir sind sehr wohl der Auffassung - das sprechen wir in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich an -, daß es auch um soziale und ökologische Standards gehen muß. ({10}) - Ich komme noch dazu. Warten Sie doch ab, Herr Seehofer. - Sie werden sagen: Das steht in der Koalitionsvereinbarung, wurde aber nicht in der Regierungserklärung angesprochen. Lesen Sie die Regierungserklärung Ihres Kanzlers von 1994. ({11}) Darin steht, Herr Kollege Deß, daß der Kanzler meinte, er müsse nicht all das wiederholen, was in der Koalitionsvereinbarung stehe und abgemacht sei. Genau das ist es. Wir können uns darauf im Grunde in jeder Weise beziehen. ({12}) Wenn Sie fragen „Wo war der Funke eigentlich?“, dann warten Sie einmal ab. Ich werde öfter dabeisein, wenn es Ihnen nicht paßt, als wenn es Ihnen paßt, Herr Seehofer. Warten Sie in Ruhe ab! Dafür kennen wir uns auch zu gut. ({13}) Was das Lebendgewicht anbelangt, Herr Kollege: Ich kenne Sie nicht, behaupte aber, daß wir ungefähr identische Maße haben und Gewicht einbringen können. Da liegen wir so weit nicht auseinander. ({14}) Zur Agenda will ich Ihnen sagen: Ich höre mit großem Erstaunen zum erstenmal, daß Sie offensichtlich der Auffassung sind, wir sollten die Agenda verschieben. Nur so kann ich das interpretieren. Wir müßten Sie einmal fragen, was Sie eigentlich damit meinen, wir müßten die Agenda verschieben, wir sollten sie nicht verabschieden. Meine Damen und Herren, ich bitte zur Kenntnis zu nehmen, was die anderen 14 Nationen der Europäischen Union dazu sagen würden, die Agenda zu verschieben, nicht darüber zu reden. Sie wissen doch ganz genau: Das hängt mit der WTO, mit Osteuropa, mit vielen Dingen zusammen. Wenn wir den Agrarteil der Agenda im nächsten halben Jahr nicht voranbringen, werden uns andere ins Stammbuch schreiben, was darin zu stehen hat. Das halte ich im Interesse der gesamten europäischen Landwirtschaft für nicht verantwortbar. ({15}) Das habe ich bisher im übrigen auch aus dem Munde von CDU-Politikern gehört. Ich weiß nicht, ob das heute abend revoziert worden ist oder nicht. Das ist der Stand der Dinge. Meine Damen und Herren, wir müssen einige Dinge verabschieden; der Kollege Weisheit wird Ihnen das noch sagen. Wollen Sie denn die Landwirtschaft wirklich darüber im unklaren lassen, wie die Milchpolitik ab 31. März 2000 aussieht? Die Bauern wissen schon heute nicht, woran sie sind, weil Sie versäumt haben, dort klare Rahmenbedingungen zu schaffen und zu sagen, wie es ab dem 1. April 2000 weitergehen soll. ({16}) Das wissen Sie doch ganz genau. Die Bauern aus Bayern, aus dem Allgäu waren bei mir, um mir das vorzutragen. Das ist der Sachverhalt. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hornung?

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005293

Ja, das mache ich gerne eigentlich.

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie waren gestern auf dem Deutschen Raiffeisentag und haben dort ein Grußwort gesprochen. Ich habe aufmerksam zugehört und muß sagen, daß Sie dort zu der künftigen Agrarpolitik nichts Konkretes - auch nicht in Richtung Europa - gesagt haben. Ich habe die „dlz“ gelesen, der Sie ein fast hervorragendes Interview gegeben haben. Davon könnte ich viele Passagen unterstreichen. Anschließend habe ich aber dem „Ernährungsdienst“ entnommen, daß das, was Sie zuvor gesagt hatten, bereits wieder Vergangenheit ist. Ich habe das heute im Internet überprüft. Dort richtet sich alles, was im Zusammenhang mit Steuerfragen angekündigt wird, gegen die Landwirtschaft. Meine Frage ist: Wer hat recht? Was kommt auf die Bauern zu? Schon ab 1. Januar soll die Pauschalierung in Schritten fallen. Ich hätte gern die Antwort darauf. Was ist richtig?

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005293

Nun warten Sie mal in Ruhe ab! Dann werden Sie sehr schöne - vielleicht paßt Ihnen das gar nicht - Antworten auf diese Fragen bekommen. Daß ich in einem Grußwort beim Deutschen Raiffeisenverband nicht in extenso die Agrarpolitik darstelle, gebietet schon der Anstand. Dann müßte ich aus einem Grußwort eine anderthalbstündige Rede machen. Das geht doch gar nicht anders. ({0}) Aber wenn Sie wollen, bin ich jederzeit bereit, auch Einzelheiten zu erläutern. Da habe ich überhaupt keine Bedenken. Meine Damen und Herren, was die Agenda anbelangt, sind wir sehr wohl der Auffassung, daß wir sie erstens verabschieden müssen und daß es zweitens - das steht auch so in der Koalitionsvereinbarung - noch Änderungsbedarf gibt. Das ist doch unstrittig. Es handelt sich im übrigen um einen Entwurf. Die bisherige Haltung der Bundesregierung, ständig nein zu sagen, hat uns in Brüssel auch im Verhältnis zu den anderen Ländern der Europäischen Union in eine sehr mißliche Lage gebracht. ({1}) Ich will dazu jetzt nicht mehr sagen, um nicht zukünftige Verhandlungen zu erschweren. Aber ich könnte sehr schön darüber berichten, was die Agrarminister aus anderen Ländern dazu sagen, daß die Bundesregierung immer nur nein gesagt hat. Das erschwert die Situation gewaltig. Sie hätte sich schon im Vorfeld an der Diskussion beteiligen sollen. Andere Länder haben längst ihre Vorschläge abgeliefert. Von Deutschland ist offiziell überhaupt nichts vorhanden. Fragen Sie einmal den Agrarkommissar Fischler, was er dazu sagt! ({2}) Das so zu sagen ist nun wirklich nicht in Ordnung und entspricht auch nicht den tatsächlichen Verhältnissen. ({3}) - Ihnen paßt das alles nicht; das weiß ich. Wir haben in der Agrarministerkonferenz gemeinsam gesagt: So nicht! Es hat aber keiner in der Agrarministerkonferenz gesagt: In Bausch und Bogen weg damit! Nein! Es wäre auch völlig unsinnig, das zu tun, weil es keinen gibt, der einen Gegenentwurf zur Agenda hätte auf den Tisch legen können. Vielmehr ist die Agenda Grundlage der Diskussion. Dann können wir Produkt für Produkt, Feld für Feld durchdiskutieren und Änderungen herbeiführen. Im übrigen: Wen kritisieren Sie da eigentlich? Daß es die Agenda gibt, entspricht einem Beschluß aller nationalen Regierungschefs, der Ende 1995 in Madrid gefaßt wurde. Der Kanzler hat doch daran mitgewirkt, den Auftrag gegeben, eine Fortschreibung der Agrarpolitik unter anderem vor dem Hintergrund beginnender WTOVerhandlungen und des Beitritts der mittel- und osteuropäischen Länder zu besorgen. ({4}) Das hat die Kommission erfüllt. Nun müssen wir über das, was sie vorgelegt hat, diskutieren und können nicht so reden, wie Sie das hier tun. Das ist einfach nicht in Ordnung. ({5}) Sonst müßten Sie den ehemaligen Kanzler kritisieren, daß er diesen Beschluß der Regierungschefs von 1995 mit gefaßt hat. Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Eine leistungsstarke und wettbewerbsfähige Land-, Forstund Ernährungswirtschaft ist für uns das Ziel der Agrarpolitik. Ich nenne ausdrücklich auch die Ernährungswirtschaft, weil wir nicht nur den Urproduktionssektor sehen, sondern selbstverständlich die ganze Ernährungswirtschaft, Ernährungsindustrie, also einschließlich des vor- und nachgelagerten Bereiches, der mit Landwirtschaft verbunden ist. Es ist auch für uns ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, das Wirtschafts- und Beschäftigungspotential des Agrarsektors nicht nur zu erhalten, sondern auszubauen, auch und gerade unter dem Gesichtspunkt der Multifunktionalität der Landwirtschaft; ich glaube, ich brauche hier nicht zu erläutern, was wir bis dato gemeinsam darunter verstanden haben. Mit anderen Worten: Wir setzen ausdrücklich auf unternehmerisch denkende und handelnde Landwirte, die sich aber auch der Verantwortung vor der Natur, vor der Umwelt bewußt sind, die sich selbstverständlich dem technischen Fortschritt stellen, die sich zum Beispiel auch dessen bewußt sind, daß es heute um Tierschutz, um artgerechte Haltung geht. Das alles gehört dazu. Wenn ich diese Stichworte genannt habe, können Sie daraus eigentlich schon folgern, welche Schwerpunkte wir bei der Agenda-Diskussion setzen werden, im übrigen auch bei den folgenden WTOVerhandlungen, was die schon angesprochenen Standards anbelangt. Wir werden, auch was die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik angeht, aktiv mitmachen. Wir werden die Ungereimtheiten, die es in der Tat gibt - pauschale Preissenkungen bestimmter Größenordnungen über gewisse Zeiträume -, zu diskutieren, auch zu korrigieren haben - ich sage das ausdrücklich -, aber sehr unterschiedlich, nach den jeweiligen Produkten. Wir werden also eine offensive Diskussion führen. Ich bin überzeugt, daß wir auch mit den anderen Ländern entsprechende Resultate erzielen können. Die österreichische EU-Präsidentschaft faßt gegenwärtig die Diskussion, die auf europäischer Ebene bisher gelaufen ist, zusammen. Sie wird Absichten formulieren und Aussichten eröffnen, denen wir uns anzuschließen haben. Wir werden neben Naturschutz, Umweltschutz, Verbraucherschutz und Tierschutz eine Agrarumweltpolitik betreiben, weil sie in meinen Augen heute dazugehört. In einigen Ländern macht man es weitestgehend schon. ({6}) - Nein, nicht nur in Bayern. In Bayern macht man viel, ({7}) Herr Kollege Deß - darüber brauchen wir nicht zu streiten -, aber das passiert nicht nur dort, sondern auch woanders. Jemandem aus Niedersachsen den Stellenwert der Landwirtschaft im Zusammenhang mit dem des Agrarstandortes Deutschland erklären zu wollen, hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Das muß ich Ihnen einmal sagen. ({8}) Das ist unbestritten in der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Ich lade sogar die bayerischen Kollegen ein, sich einmal dort umzusehen, ganz zu schweigen von Kollegen aus anderen Ländern. Ich brauche die Stichworte nicht mehr aufzugreifen. Ich denke, daß ich mit den bisher angeführten Stichworten genug deutlich gemacht habe. Ich mußte auf Ihre Rede, Herr Kollege Seehofer, ein bißchen mehr eingehen. Deshalb kann ich hier nicht all das vortragen, was ich eigentlich vortragen wollte. ({9}) - Ja, das werden wir bei entsprechender Gelegenheit, Herr Kollege Carstensen, nachholen. - Wenn Sie hier ein Bild malen, als ginge es um den Abbruch der ländlichen Räume oder ähnliches, dann bitte ich Sie: Schauen Sie sich im Lande um! Landwirtschaft stellt sich - gerade auch als wichtiger Faktor im ländlichen Raum - so vielfältig dar, daß man nicht an einigen Stichworten Aufbruch oder Abbruch diskutieren kann, wenn man sachlich bleiben will. ({10}) - Wenn Sie das wußten, dann weiß ich nicht, warum Sie das den Kollegen Seehofer haben vortragen lassen. Ich beziehe mich ja nur auf seine Stichworte. ({11}) Die Behauptung jedenfalls, daß die jetzige Regierungsmehrheit nicht Anwalt landwirtschaftlicher Interessen sei, ist eine schiere Propagandaformel und nichts anderes. Seien Sie sicher: Die Landwirte draußen im Lande, die wissen wollen, wie es ab dem 1. April 2000 weitergehen soll, fallen auf solche Propagandaformeln nicht mehr herein. Sie haben genug davon, vor allen Dingen deshalb, weil solche Formeln während Ihrer Regierungszeit Ersatz für politisches Handeln waren. Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man kann ja ruhig auf andere Regierungserklärungen verweisen, aber, Herr Minister Funke, Tatsache ist, daß Bundeskanzler Schröder, der einmal den landwirtschaftlichen Bereich in Niedersachsen als den zweitwichtigsten Bereich nach der Automobilindustrie dargestellt hat, kein Wort über die Landwirtschaft verloren hat. ({0}) Er hat diesen wichtigen Bereich völlig vernachlässigt. Er hat nichts über die Osterweiterung im Zusammenhang mit der Landwirtschaft gesagt, nichts über die Agenda 2000. Er hat nichts über eine WTO-Runde gesagt, die es in der nächsten Zeit zu bestehen gilt. Er hat auch nichts dazu gesagt, welche Herausforderungen insbesondere auf die deutsche Landwirtschaft zukommen werden, wenn er in 49 Tagen - von heute an gerechnet - die Präsidentschaft in der Europäischen Union übernimmt. ({1}) Das ist der Punkt. Wir haben heute eine Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder und nicht eine Regierungserklärung von sonst irgend jemandem in der Vergangenheit zu diskutieren. ({2}) Ich sage Ihnen: Das, was Sie, Herr Minister Funke, hier abgeliefert haben, vor allem im allerletzten Teil Ihrer Rede, in dem Sie dargestellt haben, wie Sie zur Landwirtschaft stehen, stellt genau das Gegenteil von dem dar, was Sie uns hier im Rahmen der Steuerreform schwarz auf weiß vorgelegt haben. ({3}) Es gehört schon ein ganz gehöriges Stück Unverfrorenheit dazu, Herr Minister, wenn Sie so reden, obwohl Sie wissen, daß der deutschen Landwirtschaft auf Grund der nationalen Agrarpolitik - nach dem, was heute vorliegt mehrere Milliarden DM verlorengehen. Man muß einmal überlegen, wie so etwas überhaupt zustande kommt. Natürlich war nicht der Minister daran beteiligt, sondern diejenigen, die das Steuerkonzept ausgearbeitet haben. Diese haben keine Ahnung von der Landwirtschaft, keine Ahnung von der Existenznot, in der sich viele Betriebe befinden. Zusätzlich diese sogenannte Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in einer solchen Radikalität anzukündigen, ist schon schamlos! ({4}) Das geht einher mit den beiden Worten „modern“ und „sozial“, die wir von Bundeskanzler Schröder in den zwei Stunden der Regierungserklärung so häufig gehört haben. All die flankierenden Maßnahmen, die in der jüngsten Vergangenheit steuerlicherseits zusätzlich erweitert wurden, um den Strukturwandel abzufedern - denn dem Strukturwandel kann sich niemand entziehen -, sollen jetzt gestrichen werden, und zwar mit dem Zusatz „modern und sozial“. Damit haben wir eine Situation, die sich nicht nur arbeitsplatzvernichtend, sondern auch absolut unsozial darstellt. ({5}) Hinzu kommen noch die Ankündigungen im Umweltschutz und im Tierschutz. Wo wollen Sie bei den einseitigen Belastungen, die Sie angekündigt haben, denn Halt machen? Das muß man sich schon fragen. Die Richtigkeit meiner Aussage von vor der Wahl, daß die Landwirte die ersten sein werden, die Opfer einer rotgrünen Regierung sind, zeigt sich bereits heute, bei dieser Debatte zur Aussprache der Regierungserklärung. ({6}) Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal klar sagen, daß diese Bundesregierung völlig unvorbereitet in die schwierigen Runden der Agenda 2000 geht; dies ist für uns gefährlich. Auch die Aussagen von dem Herrn Minister gerade waren so vage und so unbedeutend, daß man von dieser Debatte nichts, aber auch gar nichts mit nach Hause nehmen kann. Herr Minister, Sie sind die Exekutive und vertrauen darauf, daß wir im Parlament die Dinge in Ihrem Sinne verändern! Sie, meine Damen und Herren, sind aufgefordert, eine Vorlage aufzulegen, die Sie durchsetzen wollen. Sie aber setzen auf uns. Das ist ein trauriges Stück, das Sie hier abliefern. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Kollege Heinrich hat endlich zu seiner richtigen Rolle gefunden, der Opposition. ({0}) Das war das, was er im Agrarausschuß und in den Wahlkämpfen immer gespielt hat. Herzlichen Glückwunsch! Da wir schon vom Zähneziehen gesprochen haben: Am Anfang der Legislaturperiode wollten Sie ihnen die nicht mehr ziehen, aber am Ende haben es dann die Zahnärzte wohl gemeinsam mit den Wählerinnen und Wählern getan, Herr Ex-Minister Seehofer. Nach 16 Jahren CDU/CSU-F.D.P.-Regierung ist die Landwirtschaft von völliger staatlicher Abhängigkeit, von Bürokratie, schlechter Einkommenslage der Mehrzahl der Betriebe, Betriebsaufgaben, Skandalen und gesellschaftlicher Isolation geprägt. Das ist das Ergebnis von 16 Jahren unter Ihrer Regierung. ({1}) Die Scherben sind jetzt aufzukehren. In der Agrarpolitik gilt es, vieles besser zu machen und einiges zu ändern. Die neue Bundesregierung setzt politische Akzente und Schwerpunkte, die der gesamtgesellschaftlichen Rolle der Landwirtschaft wieder neu Rechnung tragen. Das macht sie nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern auch in der Person von Landwirtschaftsminiter Funke deutlich. ({2}) Die Bauern bekommen endlich wieder einen Landwirtschaftsminister, der auch so aussieht. ({3}) Die rotgrüne Bundesregierung trägt darüber hinaus der Tatsache Rechnung, daß 85 Prozent der Fläche landund forstwirtschaftlich bewirtschaftet werden - Landwirtschaft als wesentlicher Faktor des Umweltschutzes -; daß die Ernährungsindustrie ein wesentlicher Industriezweig - der viertgrößte in Deutschland - und mit der Landwirtschaft ein bedeutender Arbeitgeber, besonders im ländlichen Raum, ist; daß Deutschland weltgrößter Agrarimporteur und viertgrößter Agrarexporteur ist und in dieser Situation eine erhebliche Verantwortung für die Gestaltung des Welthandels trägt. Weiterhin trägt die rotgrüne Bundesregierung der Tatsache Rechnung, daß die Massentierhaltung gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel ist; daß Verbraucherschutz und die klare Berücksichtigung von Verbraucherinteressen nicht - wie bisher - ein Wettbewerbshemmnis, sondern eine große Chance am Markt darstellen; daß die heutige Subventionspolitik keine Akzeptanz mehr findet und alle Anstrengungen der Politik darauf ausgerichtet werden müssen, den Landwirten endlich die Chancen zur Marktorientierung zu eröffnen. ({4}) Der Koalitionsvertrag spricht im Hinblick auf Ökologie und Tierschutz eine klare Sprache. Im Gegensatz zur bisherigen Bundesregierung wird die Bedeutung der Landwirtschaft auf dem Arbeitsmarkt gestärkt. Ein Bündnis für Arbeit soll die Landwirtschaft mit einbeziehen. ({5}) Die bislang kaum genutzten Möglichkeiten zur regionalen Verarbeitung und Vermarktung kommen in eine bessere Förderung. Die Märkte sollen aufgebaut werden. Im übrigen sollen auch Nebenerwerbslandwirte eine Chance erhalten. Nach jahrelangem Nichtstun der alten Bundesregierung und der Verschleppung der Probleme wird das Problem der Milchpolitik endlich angepackt. Lieferrechte sollen unter besonderer Berücksichtigung der Probleme der Grünlandstandorte ausgestaltet werden, und zwar so schnell wie möglich. ({6}) Zur Agenda 2000: Herr Seehofer, Ihre Worte in Borcherts Ohr - wäre es jetzt nicht bereits zu spät; denn es war der frühere Minister Borchert, der in diesen Prozeß im Grunde nichts eingebracht und sich am liebsten unter den Tisch gesetzt hat. ({7}) Nach unseren Vorstellungen soll die Agenda 2000 die flächendeckende Landwirtschaft in Europa und in Deutschland stützen; sie soll Umwelt-, Natur- und Tierschutz auf europäischer Ebene mit einbeziehen und die Förderung neu orientieren. Dabei soll auch den ostdeutschen Betrieben nicht der Boden unter den Füßen weggezogen werden. ({8}) Die Planungssicherheit im Bereich der Altschulden und im Bereich der Pachtverträge soll so ausgestaltet werden, daß die Existenzfähigkeit dieser Betriebe gesichert wird. Natürlich gibt es nichtsdestotrotz Korrekturbedarf; aber die Einbeziehung des Kriteriums der Beschäftigungswirksamkeit wird hier zur Gleichberechtigung dieser Betriebe und auch zur Sicherung der ländlichen Räume in Ostdeutschland führen. ({9}) Ich muß sagen, ich war etwas irritiert von der Rede unseres Bundeskanzlers Schröder im Hinblick auf den Agrarbereich, als er davon gesprochen hat, daß er dann, wenn die Preise auf dem Weltmarkt angeglichen werden, für einen fairen Ausgleich sorgen will. Ich glaube, er hat einen freien Weltmarkt im Sinn gehabt. Aber solange es diesen nicht gibt, solange sowohl die USA als auch Europa die „Preisbildung“ mit erheblichen Subventionen massiv beeinflussen, wird man diese Preise nicht als Orientierung nehmen können. Wir werden uns dafür einsetzen, der globalen Produktion, dem globalen Handel auch globale soziale und ökologische Standards beizugeben und das Menschenrecht auf Ernährung zum Kriterium der Welthandelsvereinbarungen zu machen. Nicht nur die Länder der dritten Welt, alle Länder dieser Welt müssen durch Außenhandelsvereinbarungen in ihrer Agrarproduktion und Lebensmittelversorgung geschützt und gesichert werden. In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz ein Wort zur Gentechnik verlieren, die schon heute morgen ein paar mal mit Bezug auf die Welternährung strapaziert wurde. Technologie ist gut, solange sie ihren Zielen tatsächlich gerecht wird. Aber in bezug auf den Bereich der Grünen Gentechnik muß man sagen: Bislang hat sie alle Befürchtungen bestätigt, die die Kritiker vorgebracht haben: Resistenzen erweisen sich als labil. Ernteausfälle können zur Bedrohung der Welternährung werden. Gentechnische Organismen können sich unkontrolliert ausbreiten. Solange diese Risiken nicht gelöst werden können, so lange die Sicherheit der Gentechnik nicht gewährleistet werden kann, solange wird Gentechnik auch ökonomisch ein Flop sein und in ihrer Entwicklung noch ein wenig reifen müssen. ({10}) Der Deutsche Bauernverband ist einem alten Reflex und damit der alten Bundesregierung in die Opposition gefolgt. Ich sage zur Steuerpolitik der neuen Bundesregierung nur folgendes: Es gibt das Angebot, sich in die Beratungsprozesse einzuklinken, wie es übrigens auch bei der alten Regierung der Fall gewesen ist; ich erinnere nur an die Petersberger Beschlüsse. Auch hier wird es eine entsprechende Diskussion geben, und der Ausschuß wird Anhörungen durchführen. Ich verweise diejenigen, die jetzt Kritik vorbringen, auf diese Beteiligungsmöglichkeiten. Auch im Rahmen der Unternehmensteuerreform wird es eine Korrektur geben müssen - sie ist von unserer Fraktion schon angekündigt worden -, ({11}) um nicht zum Beispiel agroindustrielle Betriebe gegenüber bäuerlichen Betrieben besserzustellen. Ein letzter Blick zurück - Minister Funke hat bereits auf die Regierungserklärung verwiesen -: Die alte Bundesregierung hat ihre in der Koalitionsvereinbarung von 1994 gemachten Versprechungen nicht erfüllt; ich denke nur an die Milchpolitik. ({12}) Sie wollten hier doch eine Verbesserung herbeiführen; aber nichts ist passiert. Die rotgrüne Bundesregierung wird eine neue, moderne Agrarpolitik einleiten, die Landwirtschaft wieder in ihrer umfassenden gesellschaftlichen Rolle stärken, dabei die Interessen der Bauern und Bäuerinnen, genauso aber auch die der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen und der Verbraucher und Verbraucherinnen sowie der Umwelt und des Tierschutzes im Blick haben. Und sie wird sich für ein Gelingen der Osterweiterung einsetzen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß die Reihenfolge auf der Tagesordnung keinen Schluß auf die Bedeutung zuläßt, die die Bundesregierung dem wichtigen Bereich der Agrarpolitik beimißt. ({0}) Die Erfahrungen aus der letzten Legislaturperiode besagen, daß es zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS in vielen parlamentarischen Vorhaben eine weitgehende Übereinstimmung der Positionen gab. In einigen Grundpositionen, zum Beispiel bei dem Ausgleich von Währungsschwankungen und der Ablehnung der Agenda 2000, waren sich sogar alle im Bundestag vertretenen Parteien einig, was ja in diesem Haus eher die Ausnahme ist. Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen erwarten wir natürlich, daß die Koalitionsparteien nicht hinter ihre Anträge aus der letzten Legislaturperiode zurückgehen. Wir vertrauen darauf, daß sie jetzt die Chancen für eine neue Politik im Interesse der Bauern und der Nahrungsmittelkonsumenten nutzen. ({1}) Eine Vielzahl von Vorhaben aus der Koalitionsvereinbarung unterstützen wir nachdrücklich, zum Beispiel die Ausdehnung des ökologischen Landbaus und die Erweiterung des Vertrags-Naturschutzes, die Förderung nachwachsender Rohstoffe, das Verbot von antibiotisch wirksamen Futtermittelzusatzstoffen und die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz. ({2}) Bei folgenden Formulierungen der Koalitionsvereinbarungen ist uns jedoch noch völlig unklar, was zum Beispiel gemeint ist mit der Einbeziehung der „ländlichen Räume und der Landwirtschaft in das Bündnis für Arbeit“, mit einer „befriedigenden Altschuldenregelung“ und mit der „Neuorganisation der agrarsozialen Sicherung“. Für Irritationen über die Politik der Koalition hat auch in der letzten Woche wieder der neue Agrarminister, Herr Funke, gesorgt. Die Hoffnung, daß er als Bauer großes Verständnis für die Interessen seiner Berufskollegen entwickelt, wurde maßlos enttäuscht. Ich wiederhole hier gern noch einmal, was ich schon in der vergangenen Woche zu der Absicht, Obergrenzen für Ausgleichszahlungen einzuführen, erklärt habe: Das ist eine Provokation. ({3}) Wir unterstützen dazu nachdrücklich die Haltung des Deutschen Bauernverbandes. Es ist für uns völlig unverständlich, wie sich Obergrenzen mit gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle Betriebe vereinbaren lassen. ({4}) Wir fragen deshalb den Minister, warum Mehrfamilienbetriebe gegenüber Einfamilienbetrieben schlechter gestellt werden sollen. Geharnischter und berechtigter Protest des Bauernverbandes war auch notwendig, um die Regierung zu veranlassen, ihr unsoziales Vorhaben der steuerlichen Mehrbelastung der Bauern wenigstens teilweise zurückzunehmen. Das jetzige Konzept ist jedoch immer noch nicht akzeptabel. Das Kernthema ist für uns das Koalitionsvorhaben. Ich zitiere: Die neue Bundesregierung wird die ländlichen Räume stärken und die Landwirtschaft auf der Grundlage einer reformierten EU-Agrarpolitik mit ihren unterschiedlichen Strukturen in Ost und West sichern. Dieser Satz ist eine Spitzenleistung der Formulierungskunst. Jeder kann ihn so interpretieren, wie er gern möchte. Aber aussagen tut er leider nichts. ({5}) Und selbst die Untersetzung mit dem Satz: „Die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft . . . ist zu stärken“ bringt nicht mehr Klarheit. Auf die existentiellen Sorgen der Bauern wird damit keine Antwort gegeben. Die Agenda 2000 bedroht mit ihrer Liberalisierungs- und Globalisierungsstrategie, mit ihrem Verdrängungswettbewerb in den kommenden 15 Jahren mehr als 250 000 Bauernbetriebe in Deutschland und damit fast eine halbe Million Arbeitsplätze. Wir erwarten - gemeinsam mit dem Bauernverband von der Regierung eine klare Antwort zum „europäischen Modell der Landwirtschaft“, zu seiner umweltschützenden Funktion, zu seinem Beitrag zu gesunder Ernährung und zur flächendeckenden Landwirtschaft. Die PDS wird sich vor allem für die Sicherung der Einkommen der Bauern durch den Absatz ihrer Produkte am Markt und für die Zukunftschancen ihrer Betriebe einsetzen. ({6}) In der vergangenen Legislaturperiode wurde die Agrarpolitik mit den Attacken auf die Bodenreform durch die bekannten restaurativen Kräfte belastet. Das Thema ist auch in Brüssel noch nicht vom Tisch. In einer Annonce der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 31. Oktober 1998 wurde inzwischen eine neue Front eröffnet. Es geht nicht mehr allein um die Bodenreform in Ostdeutschland, sondern, wie zu lesen war, um alle Enteignungen durch „totalitäre Regime“ in Europa. Aber in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung findet sich dazu kein Wort. Deutschland wird die Präsidentschaft bei der abschließenden Beratung der Agenda 2000 haben. Die Bäuerinnen und Bauern in Ostdeutschland und jetzt auch in Osteuropa haben ein Recht darauf, von der neuen Regierung zu erfahren, welchen Kurs sie in dieser Frage verfolgen und wie sie die große Verunsicherung beseitigen will. ({7}) Ich beurteile die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder nicht nach der Anzahl der Worte, die er der Landwirtschaft und dem ländlichen Raum gewidmet hat; denn das Urteil wäre vernichtend. Ich erwarte aber, daß die Koalitionsfraktionen ihre Positionen zu diesem Thema einer kritischen Prüfung unterziehen. Angesichts von 800 Millionen Hungernden auf dieser Erde, deren Zahl ständig wächst, braucht auch die Landwirtschaft zukunftsfähige, ökonomische, ökologische und soziale Rahmenbedingungen. ({8}) Sie sind mit den Schlagworten „Modernisierung“ und „Innovation“ nicht beschrieben. Die PDS wird sich jedenfalls an der Gestaltung des „europäischen Modells der Landwirtschaft“ aktiv beteiligen. Danke schön. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem Parlament. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des Hauses. ({0}) Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Carstensen.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Leeve Herr Minister Funke, an Sie kunn ik dat ja up plattdütsch moken, wenn Sie ut Norddütschland komen. Wi kunnt uns dor ja mehrst beter verston. Aber ut Rücksich ok darop, dat Sie een Staatssekretär ut Sachsen hebben, un ut Rücksich ok op de Stenographen hier will ik dat denn mal op hochdütsch moken. ({0}) - Nee, ok nich wegen de Mekelnborger. Ik mok dat schon op hochdütsch, un dann kunnt ji dat ok all verston.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir haben immer mal eine plattdeutsche Debatte.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte Ihnen, lieber Herr Minister Funke, ganz herzlich gratulieren und Ihnen die besten Wünsche übermitteln. Sie wären an sich ein idealer grüner Minister. Sie sind hier ohne Mandat, also sozusagen mit Trennung von Amt und Mandat. Sie werden wahrscheinlich irgendwann, zumindest nach Ihrem Einstieg, rotieren. Das ist das Idealste, was man einem grünen Minister bzw. Abgeordneten wünschen kann. Ich kann mir keinen klassischeren Fehlstart vorstellen als den, der jetzt von Ihnen hingelegt worden ist. Ich kann Ihnen aus alter Freundschaft nur empfehlen, lieber Herr Minister Funke: Sorgen Sie dafür, daß Sie sich gut mit uns, der Opposition stellen. ({0}) Sie werden unseren Beistand beim Abwehren Trittinscher Vorstellungen und Lafontainscher Begehrlichkeiten noch bitter nötig haben. ({1}) Wir bieten Ihnen dabei unsere Hilfe nicht Ihretwegen an, sondern weil wir es nicht zulassen wollen und können, daß unsere Bauern von der Last rotgrüner Beschlüsse erdrückt werden. Herr Minister Funke, Sie haben sich wochenlang von der Presse und vom Deutschen Bauernverband als Retter der Landwirtschaft in Sachen Steuerreform feiern lassen. Aber der Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes, der uns seit einigen Tagen vorliegt, läßt für die Zukunft unserer Landwirtschaft Düsteres erwarten. Sie sind nicht müde geworden, den Landwirten in vielen Presseerklärungen Entwarnung im Hinblick auf die Steuerpläne der rotgrünen Bundesregierung zu geben. Sie haben mit den Ihnen eigenen markigen Worten versprochen, ohne Wenn und Aber die vereinfachten Regelungen bei der Umsatzsteuer für die Landwirte zu erhalten. Sie haben versprochen, es gebe keine Änderung der Umsatzsteuerpauschalierung, und gesagt, eine Abschaffung des § 24 Umsatzsteuergesetz sei politisch geradezu widersinnig. Nach dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf werden sämtliche bisherigen Freibeträge und Ermäßigungen gestrichen. ({2}) Faktisch bleibt von Ihren eindeutigen Zusagen, das bisherige System der Umsatzbesteuerung werde beibehalten, nichts bestehen. Die mit der Steuerreform beabsichtigte Senkung der Lohnnebenkosten geht an den bäuerlichen Familienbetrieben völlig vorbei. Diese werden vielmehr im Energiebereich durch die Einführung der Ökosteuer noch zusätzlich belastet. Herr Minister Funke, Sie verweisen stets - auch heute wieder - auf die Zusagen von Herrn Schröder und Herrn Lafontaine, diesen Frontalangriff auf die Landwirtschaft zurückzunehmen. Diese beiden Herren haben Ihnen aber schon bei den ersten Diskussionsrunden über die Steuerreform immer das gleiche gesagt. Ich frage Sie: Ist es Ihnen eigentlich nicht peinlich, wenn der Bauernverband an den Finanzminister folgendes Schreiben richten muß? Ich zitiere: Vielmehr erklärte er, - Minister Funke die Bauern würden nicht zu Steueropfern gemacht. In Gesprächen mit dem neuen Bundeskanzler Schröder und Ihnen als neuem Bundesfinanzminister habe er auf die besonderen Produktionsbedingungen des Agrarbereichs aufmerksam gemacht und dabei Einvernehmen auf ganzer Linie erzielt . . . Speziell gab er dabei Garantien für+ die Beibehaltung des vorhandenen Systems der Umsatzbesteuerung sowie für die Besteuerung kleinerer Betriebe nach Durchschnittssätzen. Der Bauernverband schreibt weiter: Wir haben als Deutscher Bauernverband diese klaren und unmißverständlichen Aussagen ausdrücklich anerkannt. Um so mehr bin ich jetzt betroffen, daß von diesen Aussagen - der Koalitionsvereinbarungen und des Bundeslandwirtschaftsministers - im Gesetzentwurf zur Steuerreform faktisch nichts mehr übrigbleibt. Ich finde, es ist schon peinlich, wenn man so etwas auf den Tisch bekommt. ({3}) Meine Damen und Herren, einen einzigen, einen nichtssagenden und kümmerlichen Satz hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung für die Bauern übrig gehabt. ({4}) Kein Wort über die Landwirtschaft und den ländlichen Raum. Das, wie auch die Präsenz der Regierungsmitglieder heute abend, zeigt den Stellenwert, den die Landwirtschaft bei dieser Regierung einnimmt. Sie, Herr Minister Funke, haben darauf hingewiesen, in der letzten Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl hätte auch nicht mehr gestanden; ich darf Sie daran erinnern, daß Ihr Kollege Trittin kürzlich einmal gesagt hat, der Schwerpunkt der Umweltpolitik werde sich auf das Lieblingsthema des alten Bundeskanzlers konzentrieren, nämlich auf die Landwirtschaft. Wenn das schon bis zu Ihnen durchgedrungen ist, sollten Sie hier so etwas nicht sagen. Wenn auch in der Regierungserklärung von Herrn Schröder nur ein Satz steht ({5}) als Ministerpräsident von Niedersachsen hat sich Herr Schröder ja viel ausführlicher geäußert. Er hat sogar einen vollständigen Satz über die Landwirte gebracht, in dem er sagte: Ich teile die Sorgen der Landwirte. Seine Sorge ging damals so weit, daß er den niedersächsischen Agrarhaushalt innerhalb von acht Jahren um fast 50 Prozent zusammengestrichen hat. ({6}) Seine Umweltministerin, Frau Griefahn, durfte im Bundesrat ungestraft Landwirte mit Ladendieben vergleichen. ({7}) Mentalität von Ladendieben schreibe ich denjenigen zu, die als Minister die Vetternwirtschaft bis zur Ehegattenwirtschaft kultivieren, indem sie der eigenen Familie Aufträge der Regierung zuschanzen. Auf dem Bauerntag 1997 in Braunschweig sang Herr Schröder das Hohelied auf die vielfältigen Leistungen unserer bäuerlichen Landwirtschaft. Die Leute haben applaudiert. Zur gleichen Stunde lehnte sein Vertreter im Bundesrat - wie alle rotgrün regierten Bundesländer - den finanziellen Ausgleichsanspruch der Bauern für Naturschutzauflagen ab. ({8}) Herr Minister Funke, ich finde, dies ist keine redliche Politik. Auch zu diesem Punkt sollten Sie sich äußern. ({9}) Lieber Karl-Heinz Funke, wie treten Sie eigentlich Ihren Fischern an der Nordsee und an der Ostsee entgegen? Was werden Sie Willi Heimat sagen, wenn Sie ihm erklären müssen: Die Steuerbefreiung für DieseltreibPeter H. Carstensen ({10}) stoffe in der Schiffahrt wird abgeschafft. Sie werden nämlich feststellen, daß die größeren Fischereibetriebe ins Ausland gehen und dort tanken werden - zusätzlich auch anlanden werden -, wenn sie den Diesel hier zum alten Preis nicht mehr bekommen. Die kleinen Betriebe werden Ihre Politik auszubaden haben. Herr Funke, ich bin schon gespannt darauf, wie Sie das den Menschen dort erklären wollen. ({11}) Nun wissen wir nicht ganz genau, was auf uns zukommt. Man kann nur auf die entsprechenden Regierungsmodelle schauen und sich fragen: Wie haben die Rotgrünen bis jetzt gewirtschaftet? Ich erinnere mich an die sogenannte Wiesensteuer in Schleswig-Holstein, die inzwischen für rechtswidrig erklärt wurde. ({12}) - Sogar für verfassungswidrig erklärt wurde. - Die Landesregierung wollte ihren maroden Haushalt durch Gebühren für die Durchführung der Agrarreform aufbessern. Jetzt gibt es entsprechende Regreßforderungen. Auch das ist die Mentalität von Ladendieben - und nichts anderes. ({13}) Auf der einen Seite wird den Bauern das Geld aus der Tasche gezogen. Aber die Mittel, die der Bund im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung stellt, werden nicht an die Landwirte weitergegeben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber ausgesprochen gerne.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn ich von Ladendieben und von Geldern höre, die in der Landwirtschaft nicht ankommen, werde ich langsam unruhig. Ich möchte einmal auf die landwirtschaftliche Sozialversicherung verweisen. Hier mußte doch die badenwürttembergische Landwirtschaftsministerin, die ja keine Grüne ist, Anzeige erstatten und auf Grund von Verquickungen und ungeklärtem, sehr intransparentem Verhalten - zum Beispiel im Zusammenhang mit den DBVGeschäftsstellen - die Staatsanwaltschaft einschalten. ({0}) Es gibt eine Unterrichtung der Bundesregierung beispielsweise zum VDGB-Vermögen. ({1}) Was sagen Sie dazu? Dazu gibt es eine Menge ungeklärter Fragen. 4,2 Millionen DM wurden zugunsten des Deutschen Bauernverbandes ausgezahlt. An diese Auszahlung waren doch einmal Bedingungen geknüpft. Weiterhin sind 10,7 Millionen DM aus den Grundstücksverkäufen auf ungeklärte Weise verschwunden. Zumindest im Bericht ist davon nichts enthalten. Es gibt also eine Menge Fragen, die wir jetzt an dieser Stelle stellen könnten, zum Beispiel im Zusammenhang mit AID, CMA oder Holzabsatzfonds. Wir hätten wirklich eine Menge Fragen. Vielleicht könnten Sie darauf antworten. ({2})

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Höfken, der Begriff „Ladendiebe“ stammt nicht von mir. Er wurde von Frau Griefahn benutzt, ({0}) die jetzt nicht mehr anwesend ist. Sie war eine Stunde hier und ist dann wieder gegangen. Sie können ja einmal Frau Griefahn fragen, was sie denn unter Ladendieben und unter der Mentalität von Ladendieben versteht. ({1}) Frau Höfken, ich stimme Ihnen zu: Wenn es Unregelmäßigkeiten gibt, dann müssen diese Dinge - unabhängig von der Parteizugehörigkeit - aufgeklärt werden. Es ist offensichtlich in den von Ihnen genannten Fällen so gewesen, daß die Rechtsstaatlichkeit gegriffen hat. ({2}) Das Geld wird den Bauern aus der Tasche gezogen und die Mittel aus der GA werden nicht gegeben. Wer wie Sie, Herr Minister Funke, und wie Ihr Bundeskanzler die politische Zielsetzung und den Zeitablauf für die Agenda 2000 für richtig hält und unterstützt - das haben Sie ja heute in Ihrer Antwort auf die Zwischenfrage des Kollegen Seehofer und im Rahmen des kleinen Disputs bestätigt -, der muß doch in erster Linie dafür sorgen, daß die Bauern für die Herausforderungen, die auf sie zukommen werden, fitgemacht werden. Zu dem Fitmachen gehören drei Dinge: erstens Entlastung von Auflagen und Wirtschaftserschwernissen. Wir brauchen einen Abbau von hausgemachten Wettbewerbsnachteilen. Rotgrün baut neue Nachteile auf und bezahlt sie nicht. ({3}) Dazu paßt folgender Vergleich, Herr Minister: Aus Agrarumweltprogrammen werden in Schleswig-Holstein 29 DM je Hektar, in Niedersachsen 42 DM je Hektar das ist das Bundesland, das sie gerade so gelobt haben -, in Nordrhein-Westfalen 21 DM je Hektar gezahlt. In Bayern werden je Hektar 329 DM gezahlt, in Sachsen 407 DM und in Baden-Württemberg 428 DM. Dazu sollten Sie sich auch einmal äußern. ({4}) - Dat weet ik im Moment nich. Da könnt wi ja mol nokieken. Zweitens. Wir brauchen eine Stärkung der Verarbeitung und Vermarktung. Dazu gehört ehrlicherweise die Kosteneinsparung durch Sturkturbereinigung, Fusion Peter H. Carstensen ({5}) und Kapazitätsabbau, insbesondere in der Milch- und Fleischwirtschaft. Auch das darf man nicht verschweigen. Drittens. Die Mittel insbesondere aus der Gemeinschaftsaufgabe müssen den wirtschaftenden Betrieben für ihre Entwicklung zur Verfügung gestellt werden. Was erleben wir? 1996 hat das rotgrün regierte Nordrhein-Westfalen Mittel in Höhe von 13,5 Millionen DM für die Landwirtschaft nicht ausgegeben. In SchleswigHolstein sparte man im gleichen Jahr 11 Millionen DM zu Lasten der Bauern ein und verzichtete dort auf Bundesmittel in Höhe von 6,7 Millionen DM. 1997 hat allein Schleswig-Holstein nach einer Umschichtung, auf Grund deren Bundesmittel in Höhe von 11 Millionen DM zurückgenommen wurden, zusätzlich noch Bundesmittel in Höhe von 5,6 Millionen DM nicht ausgegeben. Das sind rund 16,5 Millionen DM, auf die man verzichtete. Zusammen mit den Eigenmitteln des Landes sind den Bauern, der Landwirtschaft, dem ländlichen Raum und auch dem Küstenschutz vorgesehene Mittel in Höhe von 28 Millionen DM nicht zur Verfügung gestellt worden. Bei einer Förderrate, Herr Minister Funke, von zirka 20 bis 25 Prozent mußte der ländliche Raum allein in diesem Bundesland auf Investitionen in die Zukunft in Höhe von 120 Millionen DM verzichten. Machen Sie das einmal einem mittelständischen Handwerksbetrieb auf dem Lande in SchleswigHolstein klar. Statt dessen halten Sie hier große Reden über ein Bündnis für Arbeit. Das wäre Arbeit gewesen, die wir im ländlichen Raum hätten gebrauchen können. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluß. - Unsere Landwirtschaft hat für die Zukunft bessere Rahmenbedingungen verdient als das, was in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben wurde. ({0}) Voraussetzung für die auch von Ihnen, Herr Funke, gewollte Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirtschaft ist vor allem eine effiziente Vermarktungsstruktur. Wenn man aber, so wie Sie das tun, hier nur die Ökoprodukte vor Augen hat, dann springt man zu kurz. Wir haben die große Sorge, daß Sie zu kurz springen. Ich biete Ihnen noch einmal an, daß wir Ihnen auch bei den Sprüngen helfen. Wir wollen Ihnen nicht nur bei den Schwierigkeiten helfen, die Sie mit Herrn Trittin und Herrn Lafontaine bekommen werden. Wenn Sie beim Sammeln für das Astronautenkostüm von Frau Däubler-Gmelin noch etwas Geld benötigen, wollen wir Ihnen auch dabei gerne helfen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Weisheit.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst, daß ich dem neuen Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke im Namen meiner Fraktion recht herzlich gratuliere. Es hat sich über die Grenzen von Niedersachsen hinaus herumgesprochen: KarlHeinz Funke, Sie machen Politik mit Augenmaß, suchen das Gespräch mit den Menschen im ländlichen Raum, sprechen ihre Sprache, verstehen sie und sind ein Mann des schnellen Entschlusses. Das ist auch notwendig, wenn ich an das denke, was in den letzten 16 Jahren im Bereich der Landwirtschaft geschehen ist. Die Beiträge der Kollegen Seehofer, Heinrich und Carstensen waren ein Musterbeispiel dafür, wie schnell man verdrängt, wofür man 16 Jahre lang verantwortlich war. Hier zu beklagen, Herr Kollege Heinrich, wie schlecht es der deutschen Landwirtschaft gehe, ist nicht richtig. Das ist doch das Ergebnis der Politik der Koalition gewesen, die jetzt endlich zu Recht abgelöst worden ist. ({0}) Jetzt zu behaupten, die Bauern seien Opfer der rotgrünen Regierung, das ist nun wirklich völlig neben der Sache. Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben gemerkt: Es ist kein leichtes Erbe, das Sie antreten. Wir haben zum Beispiel im Milchbereich, der auch Gegenstand der Agenda 2000 ist, erlebt, daß die vorherige Regierung zwei Jahre lang keinerlei Entscheidung getroffen hat, wie es weitergehen solle. Jetzt müssen wir das machen. Jetzt müssen wir das hinkriegen. Ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar, daß die Bauern damit rechnen können, daß wir ab April 2000 ein Lieferrecht ohne Kapitalbindung haben. ({1}) - Aber selbstverständlich geht das! - Wir werden das kapitalfreie Lieferrecht bei der Milch bis zum Jahr 2000 eingeführt haben. Die Bauern können sich darauf einstellen. Bis jetzt konnten sie sich auf gar nichts einstellen und mußten Poker spielen und entscheiden, ob sie nun mit hohen Summen eine Quote kaufen oder nicht kaufen. Investitionen konnten nicht stattfinden. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich. Peter H. Carstensen ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Weisheit, können Sie mir bitte Ihre Meinung zum Steuerreformkonzept sagen: Wird es unsere Landwirtschaft zusätzlich belasten oder nicht?

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Heinrich, ich verstehe die Aufgeregtheit in diesem Zusammenhang überhaupt nicht. Wir haben im letzten Jahr gemeinsam ein Steuerkonzept der damaligen Koalition auf den Tisch bekommen, das ganz erheblich geändert werden mußte, bei dem der Bauernverband und andere genauso Protest gelaufen sind - zum Teil übrigens zu Recht. Wir haben das im Ausschuß gemeinsam vernünftig beraten. Ich verspreche Ihnen: Wir werden am Schluß der Ausschußberatung ein Steuergesetz haben, das die Landwirtschaft nicht übermäßig belastet. ({0}) Das sage ich für meine Fraktion zu. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. ({1}) Wir sind - um noch einmal darauf zurückzukommen -, sehr froh darüber, daß wir diese Quotenregelung, die den aktiven Milcherzeugern als Klotz am Bein hängt, ab April 2000 durch ein entkapitalisiertes Lieferrecht ersetzen können. Für uns steht fest, daß sich Bäuerinnen und Bauern, die das Rückgrat des ländlichen Raumes bilden, auf erkennbare Entwicklungen einstellen können müssen. Das konnten sie in den letzten Jahren nicht. Das wird sich ändern. Eine Politik, die dies durch Klarheit ermöglicht, dient dem Wohle der Menschen, die im ländlichen Raum leben und arbeiten. In diesem Zusammenhang erwähne ich einige Themen, die wir nicht wegdrücken können und zu denen wir Aussagen brauchen: Das sind die bestehenden WTOVerhandlungen, die von allen in diesem Hause gewollte und beschlossene Osterweiterung - niemand hat dagegen gestimmt, alle wollen sie -, ({2}) das sich ändernde Verbraucherverhalten bezüglich Qualität und Herstellungsverfahren für Nahrungsmittel sowie die zunehmende Bedeutung des Umwelt- und Naturschutzes. Die Regierungserklärung und die Ausführungen von Karl-Heinz Funke haben deutlich gemacht: Die neue Bundesregierung sieht im Gegensatz zur Vorgängerregierung die auf Sie zukommenden Anforderungen. Sie wird ihre Politik entsprechend gestalten. ({3}) In dieser Beziehung ist für uns die Weiterführung der 1992 begonnenen Agrarreform richtig. Allerdings muß sie anders gestaltet werden. Ich weiß gar nicht, was dieses Geschrei hier heute sollte. Wir haben in verschiedenen Podiumsdiskussionen doch immer wieder gemeinsam gesagt: Die Agrarreform muß kommen. - Sie muß zum 31. März nächsten Jahres fertiggestellt sein, sonst bestimmen Finanzminister oder Regierungschefs über die Landwirtschaft. ({4}) Darüber waren wir uns alle einig und brauchen deshalb gar nicht so hektisch zu tun. Wir müssen die Agrarreform gestalten. Dazu müssen natürlich die Vorschläge der Kommission in dem Sinne geändert werden, daß finanzielle Leistungen zielgenau und mit weniger Bürokratie bei den Bäuerinnen und Bauern ankommen und den unterschiedlichen Strukturen der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa gerecht werden. Strukturwandel wird es in der Landwirtschaft - das hat der Kollege Seehofer auch gesagt; manchmal meint man, ein Bauer in Bayern glaube, man könne die Strukturen ewig zementieren - immer geben. Er muß aber im Rahmen der historischen Vorgaben, der geographischen und klimatischen Bedingungen in den einzelnen Regionen stattfinden. Es kann nicht angehen, daß wir der ganzen Bundesrepublik oder ganz Europa eine landwirtschaftliche Struktur, die nur aus Großbetrieben mit riesigen Schlägen besteht, überstülpen. ({5}) - Ihr behauptet immer, wir wollten dorthin. Die Politik von 26 Jahren F.D.P. in der Landwirtschaft hat mit dazu geführt, daß wir auf dem jetzigen Weg sind. ({6}) Deshalb ist es für uns vorrangig, eine nachhaltige und funktionsfähige Landwirtschaft flächendeckend zu sichern, die auch im Non-food-Bereich in zunehmendem Umfang zuverlässige Marktchancen erhalten muß. Dazu gehört eine leistungsfähige Verarbeitung und Vermarktung von Agrarprodukten. Eine solche Politik sichert und schafft Arbeitsplätze im ländlichen Raum. Die neue Bundesregierung setzt im landwirtschaftlichen und ländlichen Bereich deshalb zu Recht einen besonderen Schwerpunkt bei der Beschäftigung und bei umweltverträglichem Handeln. ({7}) Unser Ziel ist, die Preisausgleichszahlungen der bereits 1992 eingeleiteten und jetzt fortzusetzenden Reform mit sozialen Kriterien zu verbinden. ({8}) Es soll in Zukunft die Wirkung bzw. der Beitrag zur Förderung der Beschäftigung stärker Berücksichtigung finden. ({9}) Vergleichbares streben wir bei der Agrarumweltpolitik an. Sie muß auf der Grundlage der Vorschläge der EUKommission verstärkt und verbessert werden. Wenn der Kollege Hornung gerade das Stichwort „Sozialhilfe“ in den Saal ruft, dann frage ich mich: Warum sind in Baden-Württemberg und in Bayern die durchschnittlichen Einkommen der Betriebe in den letzten Jahren ständig gesunken und in anderen Regionen gestiegen? ({10}) Das haben Sie doch mitzuverantworten. Daß das so ist, macht der letzte Agrarbericht deutlich. Damit bin ich gleich beim Kollegen Carstensen. Die hohen Ausgaben, die in diesen Ländern getätigt werden, haben trotzdem nicht verhindern können, daß die Gewinnsituation genau in diesen Ländern ungeheuer problematisch ist. ({11}) In diesem Zusammenhang unterstützen wir ausdrücklich die Absicht der neuen Bundesregierung, den ökologischen Landbau auszudehnen. Erfolgreich wird dies jedoch nur dann sein, wenn - wie in der Koalitionsvereinbarung hervorgehoben - diese Ausdehnung vorrangig durch eine grundlegende Verbesserung des Absatzes und der Vermarktung erfolgt. Das gilt übrigens nicht nur für den ökologischen Landbau, sondern für den Landbau insgesamt. Wir haben uns im letzten Jahr eigentlich schon geeinigt, daß in diesem Bereich etwas geschehen muß. Die Vermarktung war bisher ein Stiefkind der Politik. Das muß und wird sich ändern. Dies ist zwar kein Allheilmittel, aber ein Beitrag, Landwirtschaft, ländlichen Raum und Kulturlandschaft zu stabilisieren und für die Zukunft zu sichern. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Auch ich danke. Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen nicht mehr vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. November 1998, 10.30 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.