Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/30/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. ({0}) Der Deutsche Bundestag trauert um Dr. Hans Stercken, der dem Hause von 1976 bis 1994 als Abgeordneter angehörte und am Sonnabend der letzten Woche einem schweren Leiden erlag. Hans Stercken, am 2. September 1923 in Aachen geboren, zog nach der Bundestagswahl 1976 als direkt gewählter Abgeordneter seiner Heimatstadt in den Bundestag ein. Der Name Hans Stercken ist untrennbar mit dem Amt des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses verbunden, das er von 1985 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag im Jahre 1994 innehatte. Höhepunkt der politischen Laufbahn Hans Sterckens war zweifellos seine Wahl zum Präsidenten der Interparlamentarischen Union im Jahre 1985. Mit ihm wurde erstmals ein deutscher Parlamentarier in den Vorsitz dieser wichtigen weltweiten Abgeordnetenvereinigung berufen. Der Lebensweg Hans Sterckens war vom europäischen Geist der Grenzregion geprägt. Mit Entschiedenheit und großem Einfühlungsvermögen hat er sich insbesondere für eine Vertiefung der deutsch-französischen, der deutsch-israelischen und der deutsch-türkischen Beziehungen eingesetzt. Unermüdlich hat sich Hans Stercken weltweit für die Menschenrechte eingesetzt. Der Idee des Friedens verpflichtet, hat er sich darum bemüht, Konflikte zu lösen oder zu entschärfen. Er vertrat seine Standpunkte mit nachhaltigem Engagement vor allem in Zypern, dem Iran und dem Irak, in Nordkorea und immer wieder in Afrika. Zum Persönlichkeitsbild Hans Sterckens gehörten aber nicht nur seine Aktivitäten im Bereich der internationalen Zusammenarbeit. Stercken hat sich in seiner gesamten Abgeordnetenzeit auch stets ein Ohr für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger bewahrt. Der Deutsche Bundestag gedenkt seines früheren Mitgliedes Hans Stercken in Dankbarkeit und Anerkennung. Seinen Angehörigen spreche ich im Namen des Hauses unser tiefempfundenes Mitgefühl aus. Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fraktion der SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben fristgerecht beantragt, die im Ältestenrat erörterte und unter Vorbehalt gestellte Tagesordnung durch das Plenum feststellen zu lassen, da eine Vereinbarung im Sinne des § 20 Abs. 1 der Geschäftsordnung nicht getroffen wurde. Die Fraktion der PDS hat fristgerecht beantragt, die vorläufige Tagesordnung um die zweite und dritte Beratung ihres Gesetzentwurfs zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch zu erweitern. Das Wort zur Geschäftsordnung hat Kollege Roland Claus, PDS-Fraktion.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die PDS-Fraktion beantragt einen zusätzlichen Tagesordnungspunkt, und zwar - um es verständlicher zu sagen - die abschließende Lesung eines PDS-Gesetzentwurfes zur Wiedereinführung des Streikparagraphen. Wir haben dazu im Ältestenrat keine Einigung erzielt. Das ist relativ selten, aber nicht einmalig. Womöglich wird Kollege Schmidt nachher für die SPD sagen, die PDS, die sich bisher durch parlamentarische Seriosität ausgezeichnet habe, komme nun auch noch mit Geschäftsordnungstricks wie die CDU. ({0}) Deshalb sage ich schon einmal vorsorglich: Daran würde nur der erste Teil stimmen. Wir haben an diesem Verhandlungstage keinen originären PDS-Tagesordnungspunkt, wohl aber einen in verbundener Debatte. Das liegt nun aber, meine Damen und Herren, nicht an Ihrem Wohlwollen, sondern an unserem parlamentarischen Fleiß. Wir wissen sehr wohl - und ich will das auch nicht in Abrede stellen -, daß wir kein Aufsetzungsrecht für eine zweite und dritte Lesung haben. Sie hätten das aber auch nicht behindern müssen, denn es gibt umgekehrt keine Pflicht zur Verhinderung von PDS-Themen. ({1}) An diesem Problem werden - darauf möchte ich hier aufmerksam machen - gleich mehrere Behinderungen unserer Fraktion deutlich. Erster Punkt. PDS-Themen werden in der Regel in die Nachtstunden verbannt. Sie fragen uns immer kurz vor Ablauf der Plenarsitzungen, ob wir nicht bereit seien, unsere Reden zu Protokoll zu geben. Sie ärgern sich und sind entrüstet, wenn wir dazu nicht bereit sind. Ich weiß, daß es einige im Hause gibt, die die ganze PDS lieber ins Protokoll verbannen würden. Aber das haben die Wählerinnen und Wähler anders entschieden. ({2}) Zweiter Punkt unserer Kritik. Die abschließende Beratung parlamentarischer Initiativen wird der PDS nicht selten verwehrt. Ich möchte Ihnen einige Daten nennen, an denen die PDS Anträge gestellt hat: 26., 28. und 30. Oktober 1998 sowie 5., 9., 10., 11. und 19. November 1998. Die Themen - das ist vielleicht auch nicht uninteressant - waren Vermögensteuer, Airbus-Fertigung, Luxussteuer, ermäßigte Mehrwertsteuer. Dritter Punkt. Es kommt auch vor, daß die abschließende Beratung von PDS-Initiativen in diesem Hause so lange hinausgeschoben wird, bis es der Koalition in ihren politischen Zeitplan paßt. Ein Beispiel dafür ist die Vorlage zum Schlechtwettergeld, die wir heute lesen. Auch hier zeigt sich eine Parallele zu dem heutigen Problem. Wir wollen das nicht unwidersprochen hinnehmen, obwohl wir natürlich um die Mehrheitsverhältnisse hier im Hause wissen, die wir akzeptieren. Aber wir sehen darin eine unzulässige Einschränkung der Rechte einer Oppositionsfraktion und ärgern uns ein bißchen darüber, daß die CDU/CSU das auch noch mitmacht und zuläßt und keine Interessenallianz sieht. Nun möchte ich der sozialdemokratischen Fraktion keine unlauteren Absichten unterstellen. Schließlich ist sie unser aller Koalitionspartner - mit Ausnahme der CSU, die mit ihr nur verschwägert ist. Aber ich möchte trotzdem folgende Fragen stellen: Könnte es nicht auch sein, daß Sie sich bei der Diskussion über den Streikparagraphen nicht ausgerechnet von der PDS dabei stören lassen wollen, erneut ein Wahlversprechen zu brechen? ({3}) Könnte es nicht auch sein, daß Sie eine solche sozialdemokratische Bastion gegenüber den Gewerkschaften überhaupt keiner anderen Partei überlassen wollen? Könnte es nicht auch sein, daß Sie die IG-MetallKonferenz Anfang September dieses Jahres stört, weil dort über das spannende Thema der Aktualität des Streikparagraphen diskutiert wird? Könnten nicht alle Aspekte, die ich mit meinen Fragen angesprochen habe, ein bißchen zutreffen oder wenigstens ein paar davon? ({4}) Wäre es nicht besser, Sie würden sich inhaltlich mit unseren Vorschlägen und Themen auseinandersetzen, als sie von der Tagesordnung zu verbannen? ({5}) Ich bitte Sie also um Zustimmung zu unserem Vorschlag. Das wäre auch eine kleine Ausgleichsmaßnahme dafür, daß Sie unser spannendes Thema für die Aktuelle Stunde von der Tagesordnung verdrängt haben, welches lautete: Forderungen von SPD-Abgeordneten nach Kürzung der Ostförderung. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zweck der Übung des Kollegen Claus war wohl, über eine Geschäftsordnungsdebatte zu versuchen, in die Sachthemen einzuführen, obwohl das nun wirklich nicht zu einer Geschäftsordnungsdebatte gehört. ({0}) Deshalb sage ich nur: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Wir werden heute Ihrem Antrag nicht nachkommen. Das haben wir, die Vertreter aller Fraktionen des Hauses, Ihnen, Herr Claus, schon in der Runde der Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer mitgeteilt. So ist es auch im Ältestenrat bekanntgegeben worden. Es ist unerheblich, aus welchem Grunde wir heute diesen Tagesordnungspunkt nicht beraten wollen. Aus unserer Sicht ist er nicht beratungsreif. Entscheidend ist nun einmal, daß zum einen Tagesordnungen nur im Einvernehmen zustande kommen und zum anderen ein Aufsetzungsrecht einzelner Fraktionen zu Beschlußempfehlungen, die die Ausschüsse gemacht haben, nicht besteht. Deshalb ist das, was Sie heute hier gemacht haben, sehr vordergründig und aus unserer Sicht abzulehnen. Ich möchte, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch noch darauf hinweisen, daß wir einvernehmlich das Überweisungsgesetz auf die Tagesordnung setzen wollen. Darüber soll am Donnerstag morgen zu Beginn der Tagesordnung und noch vor der Debatte „50 Jahre Demokratie - Dank an Bonn“ beraten werden. Es wird zu diesem Zeitpunkt darüber beraten, weil es einen technischen Fehler bei der Aufsetzung und bei der Beratung gegeben hat, der heute nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wir werden morgen das Überweisungsgesetz ohne Debatte beraten und darüber abstimmen. Ich möchte Sie bitten, unter Berücksichtigung dieser beiden Aussagen die Tagesordnung für diese Woche so festzustellen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Geschäftsordnungsantrag der Fraktion der PDS auf Erweiterung der vorläufigen Tagesordnung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt. Wer stimmt für den Geschäftsordnungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Feststellung der unter Vorbehalt gestellten Tagesordnung mit der soeben vorgetragenen Maßgabe, daß über Tagesordnungspunkt 14 e - Überweisungsgesetz - erst Donnerstag morgen ohne Debatte abgestimmt wird? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der PDS und eine Stimme aus der CDU-Fraktion angenommen. Damit ist die Tagesordnung - wie verteilt, aber mit der soeben genannten Maßgabe - festgestellt. Liebe Kollegen, zum Ablauf der Tagesordnung ist nunmehr noch auf folgendes hinzuweisen: Interfraktionell ist vereinbart worden, die Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums vorzuziehen und bereits nach der Debatte über die Gesundheitsreform aufzurufen. Des weiteren soll die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte erweitert werden: ZP1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zur aktuellen Situation im Kosovo ZP2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({0}) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Dreiunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({1}) - Drucksache 14/866 Außerdem weise ich auf eine nachträgliche Ausschußüberweisung im Anhang der Zusatzpunktliste hin. Der in der 45. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf des Bundesrates zur Erleichterung der Verwaltungsreform in den Ländern ({2}) - Drucksache 14/640 überwiesen: Innenausschuß ({3}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 ({4}) - Drucksache 14/1245 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({5}) Innenausschuß Sportausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir legen heute einen Gesetzentwurf vor, der lange, bevor er die heute vorliegende und vom Parlament zu debattierende Fassung bekam, für viel Aufregung gesorgt hat. Ich will ganz deutlich sagen: Es ist meine ganz tiefe Überzeugung, daß wir Strukturreformen im Gesundheitswesen vornehmen müssen und daß mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf diejenigen Strukturreformen angegangen werden, die seit langem notwendig und zum Teil überfällig sind. Gerade wer unser Gesundheitssystem schätzt und bewahren will, der muß es verändern, und zwar durch Reformen innerhalb dieses Systems. ({0}) Ich will unsere Zeit nicht damit verschwenden, auf einige Entgleisungen der Debatte in den letzten Monaten einzugehen. Lassen Sie mich aber sagen: Ich finde es schon auffällig, wie sich plötzlich sehr viele, die ansonsten durchaus sehr unterschiedliche Interessen vertreten, in der Verteidigung des Status quo ganz einig sind - eines Status quo, der schon ganz lange kritisiert worden ist und plötzlich für das Bessere gehalten wird. Es gibt einen auffälligen Mangel an konstruktiven Vorschlägen bei denjenigen, die gegen dieses Gesetz opponieren und die Ansicht vertreten, es führe in die falsche Richtung. Wer das Gesetz nicht will, der soll uns sagen, was wir machen sollen oder ob wir einfach so weitermachen sollen wie bisher. Dann mag es vielleicht eine kurze Zeit des Aufatmens auf der Seite der Leistungserbringer geben, weil es keine finanziellen Beschränkungen gibt, aber nach einiger Zeit werden die Beiträge so sehr gestiegen sein, daß die Menschen kein Interesse mehr an einer solidarisch organisierten Krankenversicherung haben. ({1}) Ich meine, daß wir dieses System mit Reformen für die Zukunft fit machen müssen. Zu einer modernen Gesundheitsreform gehört als allererstes und oberstes Ziel, daß die Patienten im Mittelpunkt stehen und das Gesundheitssystem nach ihren Bedürfnissen ausgerichtet wird. ({2}) Die Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten haben sich verändert. Manche Strukturen passen nicht mehr darauf; manches ist an diesen Strukturen allerdings schon so lange kritisiert worden, daß ich, wie gesagt, der Meinung bin, daß wir diese Debatte endlich aufgreifen und eine wirkliche Lösung dafür finden müssen. Ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen, daß ich unser Gesundheitssystem für gut und leistungsfähig halte. Es kann sich im internationalen Vergleich sehen lassen. ({3}) Ich will auch ausdrücklich betonen, daß wir diese Reform durchführen, weil wir dieses System schätzen, das mit einer solidarischen Finanzierung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung für die notwendige Umverteilung zwischen Jung und Alt, zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Familien und Singles sorgt. Wir wollen diese Finanzierung genauso wie die paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer erhalten. Wir wollen auch das ganz wichtige Prinzip - darin unterscheiden wir uns wirklich in vielerlei Hinsicht positiv von anderen Ländern - erhalten, daß Leistungen unabhängig vom eigenen Einkommen gezahlt werden. Das halte ich für ganz elementar. ({4}) Vor welchen Herausforderungen stehen wir, und was müssen wir deswegen verändern? Die erste Herausforderung ist der demographische Wandel. Wir wissen alle, daß schon heute jede fünfte Person in unserem Land über 60 Jahre alt ist. Im Jahr 2030 wird es jede dritte sein. Jetzt liegt natürlich intuitiv die Vermutung nahe, daß damit auch die Kosten im Gesundheitswesen exponentiell steigen. Schon ein früherer Sachverständigenrat im Gesundheitswesen hat uns eines Besseren belehrt: Diese Korrelation liegt nicht zwangsläufig vor, denn der demographische Wandel ist ja unter anderem der Tatsache zu verdanken, daß die Menschen länger gesund sind und auch alte Menschen insgesamt gesünder sind. Wir können davon ausgehen, daß sie das Gesundheitssystem zwar über einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen, aber dafür nicht so stark, wie es früher bei anderen Krankheiten der Fall war. ({5}) Wir haben es vor allen Dingen mit veränderten Krankheitsbildern zu tun; das heißt, wir haben mehr chronische Krankheiten und Mehrfacherkrankungen. Wir können davon ausgehen, daß der Versorgungsbedarf in Rehabilitation und Pflege stärker steigen wird als der in der Akutversorgung. ({6}) Darauf sollten wir, wie ich meine, nicht so reagieren, daß wir die Geldzufuhr zum Gesundheitswesen exponentiell steigern. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, die Versorgungsstrukturen so zu verändern, daß Krankheitsbilder, die häufiger auftauchen, zum Beispiel chronische oder Mehrfacherkrankungen, angemessen behandelt werden können. Die Herausforderung der Stunde ist, eine stärkere Zusammenarbeit zwischen einzelnen Ärzten, zwischen Ärzten verschiedener Fachrichtungen sowie zwischen dem ambulanten und stationären Bereich herbeizuführen. Es geht also um die gute Zusammenarbeit aller Beteiligten im Gesundheitswesen. Dafür wollen wir mit diesem Gesetz die Weichen stellen. Die Maßnahmen, die dafür im Gesetz vorgesehen sind, sind die bessere Verzahnung des ambulanten und stationären Sektors, die Stärkung der Stellung des Hausarztes als Lotsen durch das Gesundheitssystem ({7}) und die Verbesserung der Rahmenbedingungen, damit integrierte Versorgungsstrukturen gefunden werden können und flexibler bei der Finanzierung von Gesundheitsleistungen, die in verschiedenen Sektoren erbracht werden, vorgegangen werden kann. Das Stichwort lautet hier, daß das Geld der Leistung folgen soll und nicht umgekehrt. Wir wollen auch die Rehabilitation durch eine Reihe von Maßnahmen stärken, die in diesem Gesetzespaket vorgesehen sind. Wenn man diese veränderten Krankheitsbilder als eine der gesundheitspolitischen Herausforderungen der Zukunft erkennt, kommt man zu der Feststellung, daß Gesundheitsförderung und -vorsorge das zentrale Gebot der Stunde sind. Wir müssen auch Präventionskonzepte für ältere Menschen entwickeln. Maßnahmen der Gesundheitsförderung sind immer sinnvoll, egal in welchem Alter sie durchgeführt werden. Der entscheidende Punkt aber, den wir vorgesehen haben, ist, daß die Kassen wieder über Leistungen der Gesundheitsförderung informieren dürfen, sie anbieten und finanzieren können und daß wir - das halte ich ebenfalls für einen ganz wichtigen Schritt - die Finanzierung von Selbsthilfegruppen und Selbsthilfekontaktstellen stärker ermöglichen. Aus der Tatsache, daß wir auch in der Zahnmedizin verstärkt auf Prophylaxe und Zahnerhalt setzen wollen, ({8}) können Sie ersehen, daß für uns die Frage der Vorbeugung ganz zentral ist. Die Bedeutung der Vorsorge kennt man schon lange. Trotzdem hat man mit dem Verweis auf einige negative Beispiele in den letzten Jahren all die guten Ansätze, die sich auf diesem Gebiet entwickelt hatten, zunichte gemacht. Meiner Meinung nach war es ein Etikettenschwindel, von der Stärkung der Eigenverantwortung zu sprechen, aber auf der anderen Seite darauf zu setzen, daß die Menschen mehr zahlen müssen. ({9}) Wir sagen: Die Selbstverantwortung beginnt bei der Verantwortung, die man für die eigene Gesundheit übernimmt. Die wollen wir fördern, weil es eine Zukunftsinvestition für unser Gesundheitssystem ist. ({10}) Die zweite Herausforderung, vor der wir stehen, betrifft den medizinischen Fortschritt, der uns in kurzen Abständen neue Erkenntnisse und neue Möglichkeiten sowohl im Bereich der Diagnostik und der Arzneimittel als auch bei den Behandlungsmethoden bietet. Ich sage ganz deutlich: Dieser Fortschritt soll, so er sinnvoll ist, den Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung stehen. Wir wissen, daß einige Neuentwicklungen teuer sind. Ich erwähne beispielsweise neue Medikamente gegen die Krankheit Aids. Wir wissen aber auf der anderen Seite, daß manche neue Verfahren zu Kosteneinsparungen führen. Ich nenne den Bereich der minimalinvasiven Chirurgie, durch die die Liegezeiten in den Krankenhäusern deutlich verringert werden. Es ist zu einfach, zu sagen: Der medizinische Fortschritt kostet Geld, also müssen wir immer mehr Geld draufpacken. Wir brauchen statt dessen eine ständige selbstkritische Überprüfung dieses Systems. Dazu gehört auch, zu fragen: Ist das Neue wirklich besser? In dem Fall können wir alte Verfahren durch neue Verfahren ersetzen. Wir wollen den Prozeß der ständigen Erneuerung befördern und nicht den vermeintlich einfachen Weg gehen, immer mehr Geld draufzupacken. Das ist eine moderne Sozialpolitik, die nicht einer Bruttoregistertonnen-Ideologie folgt. ({11}) Deswegen brauchen wir zum Beispiel für die im Bereich der Diagnostik eingesetzten Technologien eine ständige Überprüfung, ob deren Einsatz eigentlich sinnvoll ist. Wir haben es sehr wohl auch mit dem Problem zu tun, daß die Vergütungsstrukturen im Gesundheitssystem falsche Anreize geben und dazu führen, daß es Untersuchungen gibt, die zwar für denjenigen, dem das betreffende Gerät gehört, betriebswirtschaftlich zwingend notwendig sind, aber über deren medizinischen Nutzen trefflich gestritten werden kann. Für eine moderne Gesundheitspolitik steht die Frage der Qualität ganz obenan. Dabei geht es nicht nur darum, daß wir uns die Arbeit der einzelnen Institutionen im Gesundheitswesen anschauen. Es geht vor allen Dingen darum, die Qualität der Diagnose und des anschließenden Behandlungsprozesses zu überprüfen. Aus diesen Erkenntnissen müssen Leitlinien für die Therapie entwickelt werden. Das ist meines Erachtens eine wichtige Unterstützung sowohl für die Behandelnden im Gesundheitswesen als auch für die Behandelten, die informiert werden und damit besser über die Behandlung mit ihren Ärzten sprechen können. Wir müssen viel stärker das Qualitätsmanagement in Praxis und Klinik verankern. Ich will in diesem Zusammenhang ganz deutlich sagen, daß auch die Positivliste ein Instrument der Qualitätssicherung ist. ({12}) Wir wollen damit all denjenigen, die mit dem sehr unübersichtlichen Arzneimittelmarkt zu tun haben, Hilfestellung und Anleitung geben. ({13}) Sie wissen ja, daß die deutsche Ärzteschaft wirklich unverdächtig ist, unsere Reform in starkem Maße zu unterstützen. Aber sie hält zumindest die Positivliste für angemessen, ({14}) um Ordnung auf den Arzneimittelmarkt zu bringen und damit die Qualität der Behandlung zu erhöhen. Ich meine, daß wir auf der Ebene des Anreizsystems in unserem Gesetz auch zu Recht vorgesehen haben, durch andere Vergütungsstrukturen die Anreize für einen sinnvollen Einsatz aufwendiger Medizintechnik zu setzen und diese durch entsprechende Anwendungsleitlinien zu unterstützen. Die dritte Herausforderung, vor der wir stehen, besteht darin, daß sich die Haltung der Menschen zu allen sozialen Sicherungssystemen und damit auch zum Gesundheitssystem verändert hat. Die Menschen wollen nicht länger Objekt staatlicher Fürsorge sein, ({15}) sondern sie wollen aktiv mitgestalten. Wir wissen, daß Heilungsprozesse nur dann gelingen können, wenn Patientinnen und Patienten dabei eine aktive Rolle spielen. Deswegen ist die Stärkung der Patientinnen und Patienten, sowohl was ihre Information als auch was ihre Rechte anbelangt, ein wichtiger Ansatz dafür, daß wir mit den Mitteln im Gesundheitswesen sinnvoll umgehen können. ({16}) Wir wissen doch, sei es aus eigener Erfahrung, sei es aus entsprechenden Untersuchungen, daß man als Patient nicht dann am zufriedensten ist, wenn man die meisten Medikamente verschrieben bekommen hat, sondern dann, wenn man weiß, worum es geht, warum etwas getan wird oder auch warum etwas nicht getan wird und zum Beispiel auf das Verschreiben verzichtet werden kann. Deswegen halte ich es für sehr bedeutsam, daß wir in der Gesundheitsreform darauf setzen, daß Patienten mehr Rechte bekommen, daß sie besser informiert werden und bei Behandlungsfehlern stärker auf Unterstützung zählen können. Wir wollen ausprobieren, welche Möglichkeiten durch unabhängige Beratungsstellen geschaffen werden können. ({17}) Wir wollen auch das vielfältige Engagement von Selbsthilfegruppen wieder stärker fördern, als es bislang der Fall war, weil wir der Auffassung sind, daß gerade das Expertentum in eigener Sache in eine Gesundheitspolitik von morgen gehört. ({18}) Zweifelsohne einer der umstrittensten Bereiche in unserem Gesetzespaket sind die von uns vorgesehenen Reformen im Krankenhausbereich. Wir wollen - das ist der Gedanke, der hinter diesem Gesetzespaket steht ({19}) eine Versorgung, die den Grundsatz „ambulant vor stationär“ konsequent umsetzt. Wir können feststellen: Wir haben eine deutlich höhere Anzahl von Krankenhausbetten als vergleichbare Länder. Deswegen muß man sehr wohl die Frage stellen, ob wir in unserem Krankenhausbereich nicht eine veränderte Struktur brauchen. Dabei müssen wir über die Überkapazitäten reden, die wir dort aufgebaut haben. Zur Zeit fließt ein Drittel aller Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in den Krankenhausbereich. Obwohl es in den letzten Jahren auch von denjenigen, die sich jetzt über das, was wir machen, so aufregen, ({20}) reichlich Versuche gegeben hat, in diesem Bereich Kosten zu reduzieren, ist der Anteil der Ausgaben hier in den letzten Jahren zu Lasten der übrigen Bereiche in der gesetzlichen Krankenversicherung ständig gewachsen. Die Ausgaben der GKV für die Krankenhausbehandlungen sind von 59 Milliarden DM in 1991 auf 85 Milliarden DM in 1998 gestiegen. Das ist immerhin ein Wachstum von 44 Prozent in acht Jahren. Das bedeutet, daß ein immer größerer Anteil der GKV-Ausgaben durch den stationären Sektor gebunden wird. Das führt natürlich zu einer erheblichen Kritik aller anderen, die im Gesundheitswesen arbeiten, weil sie den Eindruck haben, daß die Bereiche in dieser Hinsicht ungleich behandelt werden. Trotzdem - auch das wissen wir - ist der Krankenhausbereich sehr sensibel, wenn man dort Veränderungen anstrebt. Das ist der Grund, aus dem wir vorhaben, die vorgesehenen Reformschritte sehr behutsam einzuleiten. Wir haben statt dramatischer Schnitte lange Übergangszeiten vorgesehen, weil die Beteiligten Zeit brauchen, um sich auf Veränderungen einzustellen. Es gibt keinen einfachen Weg zum Krankenhaus der Zukunft. Ich meine aber auch, daß die schlichte Forderung nach mehr Geld an den Herausforderungen, die sich auf dem Weg in die Zukunft der Krankenhäuser stellen, vorbeigeht. ({21}) Die Krankenhäuser brauchen mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeit. Sie brauchen dafür ein neues, ein pauschaliertes Finanzierungssystem - das ist übrigens einer der Punkte in unserem Gesetzespaket, dessen Notwendigkeit von fast niemandem bestritten wird ({22}) und den Übergang von der dualen zur monistischen Krankenhausfinanzierung. Ich weiß wohl, daß die Unzufriedenheit der Beschäftigten in den Krankenhäusern außerordentlich groß ist. Die Hauptklage dabei ist, daß die dortigen Einsparungen vor allen Dingen zu Lasten des Pflegepersonals gehen. ({23}) Ich nehme diese Proteste sehr ernst. Aber ein Ausweg kann nicht sein, zu leugnen, daß die Verantwortung für eine angemessene Personalausstattung vor Ort bei den dort Beteiligten liegt und nicht bei der Gesundheitspolitik des Bundes. Deswegen muß der Versuch scheitern, einen Konflikt zwischen den Tarifparteien auf Dritte zu verlagern, indem sich die beiden Beteiligten, die sich nicht einigen können, gegen die Bundesregierung verbünden. ({24}) Ich will es hier ganz deutlich sagen: Aufgabe der Verantwortlichen vor Ort - das bedeutet insbesondere der Krankenhausträger und der Krankenhausleitungen ist es, daß sie die für die Erfüllung der Aufgaben notwendige Personalausstattung vorhalten und den bestehenden Gestaltungsspielraum sinnvoll nutzen. Das heißt aber auch, daß für eine patientenfreundliche Betreuung, die auch die berechtigten Interessen der Beschäftigten berücksichtigt, die krankenhausinternen Strukturen auf den Prüfstand gehören: die Hierarchie, die Mitbestimmung und die Einbeziehung des Pflegepersonals. Darüber muß diskutiert werden und nicht nur darüber, daß wir mehr Geld benötigen. ({25}) Mit diesem Gesetz setzen wir die Rahmenbedingungen für einen solchen Prozeß. Wir werden alle Anstrengungen für eine Verbesserung der Ablauforganisation in den Krankenhäusern unterstützen. Ich meine, daß gerade unsere Vorschläge zur Verzahnung des ambulanten und des stationären Bereichs und die angestrebten Maßnahmen zur Qualitätssicherung bei der Pflege dazu beitragen, das Abteilungsdenken und die hierarchischen Strukturen zu überwinden. Das ist der entscheidende Punkt, mit dem die Kompetenz der Pflegenden in den Abläufen der Krankenhäuser angemessen berücksichtigt und die Arbeitszufriedenheit erhöht werden kann. ({26}) Ich möchte noch einige Worte zu Ostdeutschland sagen. ({27}) Wir wollen eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, und wir wollen dies auch im Gesundheitswesen. Ich will diejenigen, die in diesem Zusammenhang sehr keck daherreden, daran erinnern, daß wir im Vorschaltgesetz die Befristung der Solidaritätszahlungen von West nach Ost im Bereich der Krankenversicherung, die Sie auf drei Jahre festgelegt hatten, erst aufheben mußten. ({28}) Das heißt, daß die Krankenkassen in Ostdeutschland auch über das Jahr 2001 hinaus - nur bis zu diesem Zeitpunkt hatte die frühere Regierung entsprechende Zahlungen vorgesehen - mit beachtlichen Ausgleichszahlungen der Krankenkassen im Westen rechnen können. Wir haben uns damit dauerhaft von einer Diskussion verabschiedet, die von der ehemaligen Regierung über die Regionalisierung von Sozialversicherungsbeiträgen geführt wurde, und zwar in der Form, daß sich diejenigen, denen es gutgeht, von denjenigen abkoppeln, die eine Unterstützung brauchen. ({29}) Mit dem vorliegenden Gesetz koppeln wir die Ausgaben in Ostdeutschland nicht mehr an die ostdeutsche Lohnentwicklung, sondern an die gesamtdeutsche. Das ist über den materiellen Aspekt hinaus ein wichtiger symbolischer Akt für die Gesundheitspolitik in Ostdeutschland. ({30}) Wir haben außerdem vorgesehen, daß die Festsetzung der Transferzahlungen von West- nach Ostdeutschland auf eine Obergrenze entfällt. Statt dessen erfolgen Zahlungen, wie es im Rahmen des RSA notwendig ist. Ich will nicht verhehlen, daß wir bei den Einnahmen der Kassen im Osten ein Problem haben. Darüber führen wir seit Wochen mit allen Beteiligten intensive Gespräche, ({31}) um eine Lösung zu finden, die den Bedürfnissen in Ostdeutschland gerecht wird. Ich bin mir sicher, daß einige von denen, die zur Zeit so groß tönen, in Ostdeutschland anders sprechen als im Westen. Denn jede Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem Finanzausgleich zwischen West- und Ostdeutschland muß immer im Westen vermittelt werden. Das wissen Sie ganz genau; denn Sie haben in den letzten Jahren eine solche Debatte geführt. Wir suchen deswegen nach einer Lösung, die für Ost und West gleichermaßen tragbar ist. ({32}) Nun komme ich zu dem, was am stärksten kritisiert wird und angesichts dessen sich alle Beteiligten trotz ihrer widerstreitenden Interessen - da wollen sie gar nicht mehr zugeben, daß ihre Interessen nicht konfliktfrei vereinbar wären - im Protest zusammenfinden, zum Globalbudget. Sprachlich ist das Globalbudget sicherlich keine Meisterleistung. Es verbirgt sich aber zunächst einmal nichts anderes dahinter als die Forderung nach Beitragssatzstabilität. Das ist nicht meine Erfindung und nicht die Erfindung der neuen Bundesregierung. Dies ist vielmehr vor zehn Jahren in das SGB V aufgenommen worden. Meiner Erinnerung nach war ich damals nicht Ministerin für Gesundheit. ({33}) Die Beitragssatzstabilität ist also in der Gesundheitspolitik ein schon lange anerkanntes Ziel. Es geht doch nicht um eine Schikane aller Beteiligten. Wir alle haben in den letzten Jahren schmerzhaft erfahren müssen - unter anderem, weil Sie die Sozialversicherungsbeiträge ins Unermeßliche haben steigen lassen -, ({34}) wie schädlich die arbeitsmarktpolitischen Folgen sind, wenn die Sozialversicherungsbeiträge nicht stabil gehalten werden. ({35}) Wir wissen inzwischen - das können Sie nicht leugnen -, daß wir die Sozialversicherungsbeiträge senken müssen. ({36}) Diese Anforderung stellen wir an die Gesundheitsreform noch nicht einmal. Wir wollen zunächst einmal nur stabile Beitragssätze, weil wir wissen, daß auch das GeBundesministerin Andrea Fischer sundheitswesen ein arbeitsmarktpolitisch sensibler Bereich ist. Deswegen müssen wir diesen Mittelkurs fahren. Allen, die mit Blick auf die Arbeitsplätze im Gesundheitswesen meinen, man müsse die Beitragssätze steigen lassen, ({37}) will ich sagen: Dies wäre ein Eigentor. Dies würde auf dem Umweg über die Lohnnebenkosten wieder zu einer Belastung derjenigen führen, die dies fordern. ({38}) Und all diejenigen, die in bezug auf diese Reform das Rationierungsgespenst an die Wand malen, machen sich weniger gescheit, als sie es doch eigentlich sind. Jeder, mit dem man im Gesundheitswesen redet, weiß, was gemacht wird, obwohl es eigentlich nicht sein muß. Wir haben bergeweise Erkenntnisse darüber, was im Gesundheitswesen an Überflüssigem gemacht wird, was man aus Qualitätssicherungsmaßnahmen lernen kann. Ich sage nicht, daß diese Erkenntnisse im Verhältnis 1:1 umgesetzt werden können. ({39}) Ich sage nur: Wer so tut, als sei dieses System trotzdem nicht reformbedürftig, wer meint, man müsse nur mehr Geld fließen lassen, der geht wirklich den billigsten, den einfachsten Weg, den es gibt, der würde dieses System dadurch nur schlechter machen. ({40}) Wir müssen uns natürlich immer bewußt sein, daß wir es hier mit einem schwierigen Komplex zu tun haben, weil es hier einen Widerspruch gibt, der jeden betrifft: Einerseits möchte man so viele Leistungen bekommen, wie man nur kriegen kann, andererseits möchte man als Versicherter nicht so hohe Beiträge zahlen. Das sollte man sich doch fairerweise eingestehen. Jeder, der für die Lösung des Problems mehr Geld fordert, der muß schon sagen, woher er es nehmen will: über erhöhte Zuzahlungen, über erhöhte Beiträge oder über höhere Steuern? Steuern müssen auch gezahlt werden; sie fallen nicht vom Himmel. Das heißt: Hier ist wirklich intellektuelle Redlichkeit gefordert, ({41}) gerade angesichts dessen, daß in der Debatte das Globalbudget als Teufel an die Wand gemalt wird. ({42}) Auch wenn wir sagen, daß wir unterhalb der Grenze der Mittel bleiben wollen - falls Sie noch eine gute Idee haben, wie man jemandem Geld abnehmen kann, ohne daß er schreit: ich bin sehr gespannt darauf -, so sind die Mittel trotzdem begrenzt. Jedes System muß mit begrenzten Mitteln auskommen. Deswegen ist es so wichtig, daß wir im Rahmen dieser Gesundheitsreform Instrumente bereitstellen, wie man mit diesen begrenzten Mitteln - und eine Begrenzung ist notwendig - gut arbeiten und eine hohe Qualität bereitstellen kann. Vor dieser Aufgabe könnten auch Sie nicht fliehen. Wir wollen auch, daß im Rahmen des Globalbudgets die Gelder zwischen den Sektoren flexibler eingesetzt werden können. Jetzt sagen alle: Das ist uns zu riskant; wir fürchten uns vor dem, was bei den Verhandlungen herauskommt; wir glauben, daß dann die Kassen alles diktieren werden. - Meine Damen und Herren, heißt das im Klartext, daß Sie bei sektoralen Budgets bleiben wollen? Ich dachte, die wären immer kritisiert worden. Es ist doch in der Gesundheitspolitik eine uralte Debatte, daß gerade die strenge Trennung der finanziellen Sektoren dazu führt, daß die Leistungen die Sektorengrenzen nicht überwinden können. Wir müssen auf der Finanzierungsseite dieselbe Flexibilität haben, die wir in der alltäglichen Arbeit bei der Zusammenarbeit von den Beschäftigten im Gesundheitswesen wollen. Deshalb brauchen wir dieses Globalbudget. ({43}) Lassen Sie mich abschließend noch auf das Argument der Arbeitsplätze eingehen, da man dies sehr ernst nehmen muß. Ich will noch einmal darauf hinweisen: Bei einer Steigerung der Grundlohnsumme kommt jedes Jahr mehr Geld in das System. Es handelt sich hier nicht darum, daß weniger ausgegeben wird; hier wird nicht gekürzt, vielmehr wird der Zuwachs der Ausgaben begrenzt. Deswegen sind einige der kursierenden Zahlen zu der Frage, wie viele Arbeitsplätze abgebaut werden würden, völlig überdimensioniert und haben überhaupt nichts mit der Realität zu tun. Ich habe es eben schon einmal gesagt: Wenn wir zu Lasten der Beiträge im Rahmen des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung eine expansive Gesundheitspolitik betreiben, wird uns das arbeitsmarktpolitisch über die negativen Folgen der höheren Lohnnebenkosten wieder einholen. Selbstverständlich ist der Gesundheitsmarkt ein Wachstumsmarkt, aber dieses Wachstum muß sich nicht ausschließlich im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung abspielen. ({44}) Wir haben uns entschieden - und das schon vor sehr langer Zeit -, daß wir im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nur das Notwendige, Ausreichende, Zweckmäßige und das, was wirtschaftlich vertretbar ist, vorsehen wollen. ({45}) Das Wachstum findet sehr stark in den Bereichen statt, die darüber hinausgehen. Dabei geht es - das wissen wir alle - um Wellness, Fitneß, um Kuren, die jenseits dessen liegen, was medizinisch unbedingt notwendig ist. Hier liegen die großen Wachstumspotentiale. Die Forderung, dieses Wachstumspotential ausschließlich im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung auszuschöpfen, geht in die Irre. Ich will zum Abschluß folgendes sagen: Die heutige Lesung ist ja die erste Lesung. Das heißt, wir haben jetzt ein gutes halbes Jahr vor uns, in dem über diesen Gesetzentwurf weiter debattiert wird. Ich stelle mich dieser Kritik, und ich weiche ihr nicht aus. Ich denke, ich habe das in den letzten Wochen hinreichend bewiesen. Ich finde, es ist normal, daß in einer Demokratie die Menschen unterschiedlicher Meinung sein können. Aber es geht nach meiner Meinung nicht, daß diese Kritik eine persönliche Dimension bekommt, und was vor allen Dingen nicht geht, ist, daß die Auseinandersetzung, die sich auf Grund der unterschiedlichen Interessen in der Gesundheitspolitik ergibt, auf dem Rücken von Patientinnen und Patienten ausgetragen wird. ({46}) Ich denke, daß die Behandlung eines kranken Menschen der ungeeignete Zeitpunkt und der ungeeignete Ort ist, um über politische Differenzen zu sprechen. Ich erwarte, daß das von allen Beteiligten respektiert wird, ({47}) und ich erwarte auch, daß es nicht zu Verunsicherungskampagnen kommt. Wir werden über die Details dessen, was wir vorgelegt haben, noch viel zu reden haben, und es wird dafür reichlich Gelegenheiten geben. Ich bin trotzdem ganz sicher, daß auch am Ende dieses Diskussionsprozesses ({48}) sich an den Grundlinien nichts geändert haben wird. ({49}) Denn Patientennähe, Kooperation, hohe Qualität und Wirtschaftlichkeit sind einfach die Gebote der Stunde bei einer modernen Gesundheitspolitik. In diesem Sinne! ({50})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hermann Kues, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Fischer, Sie können hier heute morgen so schön reden, wie Sie wollen: Für mich steht eines fest: Heute ist ein schlechter Tag für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. ({0}) Was die rotgrüne Koalition hier als Reform verkaufen will, ist in Wirklichkeit nur eines: ein verhängnisvoller Rückschritt für die medizinische Versorgung unserer Bevölkerung. ({1}) Das Gesetz ist eine Ansammlung schöner Überschriften und schlechter Inhalte. Das Ziel, das Sie damit verfolgen, ist klar: Sie wollen verschleiern, worauf es hinauslaufen soll: auf ein von der Krankenkassenbürokratie gesteuertes Gesundheitswesen. Der Kranke wird nur noch als Kostenfaktor betrachtet, und die im Gesundheitswesen Tätigen werden zu Erfüllungsgehilfen degradiert. ({2}) Bleibt es bei den Plänen der Bundesregierung, dann werden nicht mehr die Ärzte, sondern die Verwaltungen der Krankenkassen entscheiden, ob eine medizinische Behandlung notwendig ist, ({3}) ob sie erbracht werden soll und ob sie bezahlt wird. ({4}) Dies wird sich nach der jeweiligen Kassenlage und daher nicht ausschließlich nach den Bedürfnissen der Kranken richten. Dieser Weg führt in die Irre, und wir gehen ihn nicht mit. ({5}) Frau Ministerin, Sie werden am Ende eines erreichen, was noch keinem Gesundheitspolitiker vor Ihnen gelungen ist, nämlich steigende Beitragsbelastungen der Versicherten und gleichzeitig eine Verschlechterung der Leistungen für die Kranken. ({6}) Das, was auffällig ist, ist Ihre Sturheit und Dickfelligkeit gegenüber der Kritik der Fachwelt. ({7}) Hinzu kommt, daß Sie mit Ihren Kürzungsorgien bei Arbeitslosen und bei Rentnern zu Mindereinnahmen in Höhe mehrerer Milliarden Mark bei der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen. Beispielsweise entziehen Sie mit Ihren Rentenkürzungen den Krankenkassen im Jahr 2000 mehr als 500 Millionen DM und im Jahr 2001 mehr als 1,5 Milliarden DM an Beitragseinnahmen. ({8}) Mit diesen Verschiebebahnhöfen zur Deckung Ihrer Haushaltslöcher gefährden Sie die finanzielle Grundlage der Krankenversicherung und steigern Sie, entgegen Ihren Behauptungen und Ihren Absichten, die Lohnnebenkosten. Verlierer der Reform sind - ich sage das noch einmal - die Patientinnen und Patienten. Ich bin sehr damit einverstanden, gesundheitspolitische Auseinandersetzungen nicht auf dem Rücken der Patienten auszutragen. Noch besser hätte ich es gefunden, wenn Sie - und auch Herr Dreßler und der Bundeskanzler - dies schon im letzten Bundestagswahlkampf beherzigt hätten. ({9}) Nach dem „630-Mark-Murksgesetz“ kommt jetzt das „Gesundheits-Pfuschgesetz“. ({10}) Wie ein roter Faden zieht sich durch alle rotgrünen Gesetze der Geist der staatlichen Lenkung und der Bevormundung. Sie glauben, alles zu wissen und das den Bürgern vorschreiben zu müssen. Jemand aus Ihren eigenen Reihen hat das so gut formuliert, wie ich es gar nicht könnte. Ihr langjähriger Fraktionsvorsitzender Hans-Ulrich Klose, ein unverdächtiger Zeitgenosse, hat folgendes gesagt - wörtliche Rede! -: Mein Hauptproblem ist die Philosophie, die dem Entwurf zugrunde liegt. Da wird in starkem Maße reglementiert, und man tut so, als ob es eine richtige, für alle Patienten anwendbare Medizin gäbe. Die wird vorgegeben nach der Melodie: Wir sagen euch, nach welcher Methode die Ärzte zu behandeln haben. Herr Klose sagt weiter folgendes: Ich habe ein anderes Menschenbild als jenes, das diesem Entwurf zugrunde liegt. Es geht um die grundsätzliche Entscheidung, ob man auf Reglementierung setzt oder auf individuelle Verantwortung. Kollege Klose hat recht. ({11}) Verbieten, kontrollieren und reglementieren, das ist Ihre ganze Philosophie, und damit werden Sie scheitern. Innerhalb weniger Monate haben Sie ein in den letzten Jahren finanziell stabiles und verläßliches Gesundheitswesen auf einen verhängnisvollen Kurs gebracht. ({12}) Das Ergebnis ist schon jetzt absehbar: Erstens. Mit einem Übermaß an Bürokratie ersticken Sie jeden Leistungswillen und halten Sie die im Gesundheitswesen Tätigen von ihrer eigentlichen Aufgabe ab, nämlich der Zuwendung zu den Patienten. Zweitens. Mit der Budgetierung riskieren Sie, daß Gesundheitsleistungen - das gilt, denken Sie an die Grundlohnentwicklung, vor allem auch für die neuen Bundesländer - künftig nach den Prinzipien einer Mangelverwaltung zugeteilt werden, ganz abgesehen davon, daß Sie damit Tausende von Arbeitsplätzen gefährden. Drittens. Mit der Verlagerung der Macht einseitig in die Hände der Krankenkassen merzen Sie alle auf selbständiges Handeln ausgerichteten Elemente in der gesetzlichen Krankenversicherung aus. Am Ende steht nicht mehr der Arzt, der seine Patienten nach gesundheitlichen Bedürfnissen versorgt, sondern der Arzt der Kassen, der seine Patienten nach den Regeln und ökonomischen Bedürfnissen der Kassen verarztet. Das ist ein falscher Weg, und den gehen wir nicht mit. ({13}) Viertens. Trotz all der von Ihnen geplanten juristischen Regelungen und Datenpyramiden drohen der gesetzlichen Krankenversicherung durch Ihre Gesetze Defizite in Höhe mehrerer Milliarden Mark. Die Kassen gehen von Mehrausgaben allein durch die Übernahme der Krankenhausfinanzierung von 8 Milliarden DM aus. Die AOK Baden-Württemberg rechnet mit Belastungen für die GKV durch Ihre Gesetze von bis zu 0,7 Beitragssatzpunkten. Das wollte ich zum Thema Lohnnebenkosten sagen. Fünftens. Ein Ergebnis ist klar: Die Verlierer dieser Gesetzespläne sind die Patienten, insbesondere die sozial Schwachen, die sich Gesundheitsleistungen anderweitig nicht beschaffen können. Sozialdemokraten sollten sich dafür schämen. ({14}) Ich will noch einmal an die Vergangenheit erinnern, damit wir uns auf die Zahlen verständigen: 1997 und 1998 hatte die gesetzliche Krankenversicherung Überschüsse von über 1 Milliarde DM jährlich ({15}) und ist mit finanziellen Reserven von 8 Milliarden DM in das Jahr 1999 gestartet, und dies - mit Ausnahme des Arzneimittelbereichs - ohne Budgets. Daß Ihre Taschenrechnerpolitik, völlig überstürzt und völlig unausgegoren Maßnahmen zu ergreifen, weil Sie vor der Wahl etwas Falsches versprochen hatten - das haben Sie im vergangenen Jahr gemacht -, nicht funktioniert, können Sie an der Entwicklung im ersten Quartal 1999 sehen. Die Kassen haben ein Defizit von über 2 Milliarden DM. Die Prognosen des Chefs der Ersatzkassen lauten, daß sie für das Jahr 1999 ein Defizit von über 8 Milliarden DM haben werden. Ausgerechnet dort, wo die Ausgaben gedeckelt sind, explodieren sie am meisten: bei den Arzneimitteln um 14 Prozent und bei den Krankenhauskosten um 4 Prozent. Es besteht also kein Zweifel: Durch Ihre Gesetze klafft schon jetzt ein großes Loch bei den Finanzen. Ein Wahlgeschenk war eine teilweise Rücknahme von Zuzahlungen. Ich habe jetzt mit Interesse gelesen, daß Sie im Argumentationspapier für die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen begründen, weshalb Zuzahlungen wichtig und unabdingbar sind. Vor diesem Hintergrund wäre es interessant zu diskutieren, wie Sie die Menschen im Wahlkampf hinters Licht geführt haben. ({16}) Sie verlagern einseitig Kosten für die Krankenhäuser auf die Krankenkassen und entziehen damit den Krankenkassen in hohem Umfang finanzielle Mittel. Andererseits knebeln Sie die Krankenhäuser, die Ärzte und den Arzneimittelbereich durch willkürliche Ausgabenobergrenzen in Form von Budgets. Das Herzstück Ihrer Veränderungen, nämlich die Budgetierung, gefährdet die medizinische Versorgung. Es ist ein großer Irrtum - hier sind Sie, Frau Ministerin Fischer, völlig auf der falschen Linie -, zu glauben, die Mittel für den notwendigen medizinischen Bedarf der Bevölkerung könnten durch strikte Anbindung der Ausgaben an die Entwicklung der Beitragseinnahmen gedeckt werden. Wer patientenorientiert denkt, kann nicht bereits heute durch schematische Budgets festlegen, was die Bevölkerung künftig an medizinischen Leistungen benötigt; denn die Häufigkeit und die Schwere von Krankheiten richten sich nicht nach staatlichen Vorgaben und den von Bürokraten festgelegten finanziellen Mitteln. Wer so handelt, nimmt bewußt Leistungskürzungen und eine schlechtere medizinische Versorgung in Kauf. ({17}) Der Bundeskanzler, der heute nicht da ist, der sich aber ausdrücklich für das Gesetz ausgesprochen hat - das heißt bei ihm natürlich nichts, erkundigen Sie sich bei Herrn Riester -, wird nicht zuletzt den Menschen in den neuen Ländern das Vorhaben erklären müssen. Er wird zum Beispiel der rheumakranken Rentnerin erklären müssen, weshalb wegen des Budgets eine notwendige Massage nicht verordnet wird. Er wird auch erklären müssen, weshalb die Hüftgelenksoperation des Kassenpatienten von Dezember auf das nächste Jahr verschoben und statt dessen der Privatpatient, dessen Behandlung das Budget nicht belastet, vorgezogen wird. Er wird der schwerkranken Frau auch erklären müssen, weshalb sie sich mit einem kostengünstigen, aber weniger wirksamen Mittel begnügen muß. Das ist allein Folge Ihrer unsozialen Politik, die auf die Knochen der Schwächsten geht. ({18}) Wir haben mit der letzten Gesundheitsreform gezeigt, in welche Richtung wir wollen. ({19}) Wir haben intelligente, beim einzelnen Leistungserbringer im Gesundheitswesen ansetzende Lösungen wie Arzneimittelrichtgrößen oder Regelleistungsvolumina entwickelt, die Sie mit einem Federstrich unwirksam gemacht haben, bevor sie überhaupt zur Anwendung kamen. Statt dessen greifen Sie auf alte Kamellen wie die simple Ausgabendeckelung zurück. Diese Form der kollektiven Haftung von Leistungserbringern ist Gift für die individuelle Verantwortung jedes einzelnen Krankenhauses, jedes Arztes und Patienten. ({20}) Sie beseitigen damit jeden Anreiz, mit den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung im eigenen Interesse wirtschaftlich umzugehen. Abgesehen davon sind die Regelungen für das Globalbudget, wie sie jetzt im Gesetz festgelegt sind, so kompliziert, daß es in der Umsetzung weder transparent noch praktikabel sein kann. Es ist falsch, die Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Ärzte und Patienten aufzuheben und den Einfluß einer anonymen Krankenkassenbürokratie ins Unermeßliche zu steigern. Die Krankenkassen sollen zu einer gigantischen Datensammel- und Überwachungsmaschinerie werden. Sie selbst wehren sich dagegen. In ihrer Stellungnahme vom 11. Mai 1999 sagen die Spitzenverbände der Krankenkassen, daß sie befürchten, daß der Medizinische Dienst zu einer „Datensammelstelle und zu einer zentralen Steuerungsbehörde umfunktioniert“ wird. Sie sind auch „gegen eine kostenträchtige Monopolisierung der Medizinberatung“. Also: Die Krankenkassen selbst warnen vor einer Aufblähung des Verwaltungsapparates. Das sollten Sie ernst nehmen. Im übrigen: Wo bleiben die von Ihnen so häufig genannten Rechte der Versicherten gegenüber den Kassen und gegenüber dem Medizinischen Dienst? Die Patienten werden schlichtweg vergessen; der Datenschutz bleibt auf der Strecke. Ein besonders tiefer Einschnitt in die Patientenrechte offenbart sich in der ungeahnten Leidenschaft der rotgrünen Koalition für das Sammeln von Daten. Die ehemaligen Boykotteure der Volkszählung wollen den „gläsernen Patienten“ und den „gläsernen Arzt“ schaffen. ({21}) Die Kollegin Knoche könnte sich dazu äußern. Sie hat schon ähnliches formuliert. Dieser Überwachungsstaat soll ausgerechnet unter tatkräftiger Mithilfe von grünen Politikerinnen geschaffen werden, für die dies noch vor einigen Jahren eine Schreckensvision war. Ich zitiere noch einmal Herrn Klose. Er hat gesagt: Das am meisten gebrauchte Hauptwort in dem Entwurf lautet „Richtlinie“. Bei solchen Wörtern fröstelt es mich immer - und es sollte auch die SPD frösteln lassen. Herr Klose hat wiederum recht. ({22}) Wir werden in den kommenden Wochen die Alternativen auch mit der Bevölkerung diskutieren. Wir werden die Alternativen aufzeigen: entweder ein freiheitliches Gesundheitswesen, in dem Versicherte ihre Krankenkasse, ihren Arzt frei wählen und sich für verschiedene Gestaltungsformen ihrer medizinischen Versorgung entscheiden können, oder eine Bevormundung und Reglementierung der Versicherten und Ärzte. Wir sagen: entweder die solidarische Absicherung einer hochwertigen medizinischen Versorgung und die Übernahme von Eigenverantwortung bei kleinen Risiken oder die Vollversorgung auf niedrigerem Niveau mit Leistungsausgrenzungen und eine Reduzierung der medizinischen Versorgung. Die Pläne der rotgrünen Koalition sind ein Irrweg. Es ist zu hoffen, daß sie so nie Wirklichkeit werden. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Rudolf Dreßler, SPD. ({0})

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir einen kleinen Ausflug ({0}) in die intellektuelle Tiefe der gerade gehörten Ausführungen. ({1}) Ich habe während der gesamten Rede des CDUVertreters an einer einzigen Stelle eine einzige Alternative zu unserem Gesetzentwurf vernommen. ({2}) Diese Alternative hieß - ich zitiere ihn jetzt wörtlich -, die CDU trete für Richtlinien ein. Daran werde sie festhalten. ({3}) - Die Richtgröße ist eine Richtlinie, Herr Kollege Zöller, ob Sie das nun wahrhaben wollen oder nicht. - Zwei Minuten später zitiert er meinen Fraktionskollegen Klose, der sich genau gegen die Einführung von Richtlinien in ein Gesetz wendet, und führt ihn als Kronzeugen gegen uns für die CDU/CSU an. Um 8.13 Uhr heißt es also: Richtlinie ist Kappes. Um 8.15 Uhr heißt es jedoch: Sie ist die Lösung des Problems, sobald die CDU sie im Munde führt. ({4}) Meine Damen und Herren, eine Opposition, die ernstgenommen werden will, macht das, was die SPD-Fraktion 1996, 1992 und 1989 gemacht hat, als wir hier große Auseinandersetzungen um die Gesundheitspolitik hatten: Sie legt dem Hause eine schriftliche, gesetzgebungsreife Alternative vor. Sie haben bis zu dieser Minute nicht einen Satz vorgelegt, nicht einen einzigen Satz! ({5}) Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf erfüllen die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen den zweiten Teil eines Versprechens, das wir vor den Bundestagswahlen gegeben haben, nämlich des Versprechens, zunächst die gröbsten Ungerechtigkeiten aus der CDU/CSU-F.D.P.-Zeit zu beseitigen - das haben wir mit dem sogenannten Vorschaltgesetz getan, das seit dem 1. Januar 1999 in Kraft ist - und sodann die gesundheitliche Versorgung auf eine neue, verläßliche Basis zu stellen. Das tun wir mit dem heute zur ersten Lesung anstehenden Gesetzentwurf. Anders ausgedrückt: Die Koalition hat in Sachen Umgestaltung des Gesundheitswesens Wort gehalten. Der vorliegende Entwurf bricht mit der Tradition fast aller Gesundheitsgesetze der letzten Jahrzehnte. ({6}) In denen wurde nämlich Reform als etwas verstanden, das mit Leistungsverschlechterungen und zusätzlichen Belastungen für die Patienten einherzugehen hatte. Damit ist Schluß, meine Damen und Herren. ({7}) Der vorliegende Entwurf erhöht keine einzige Zuzahlung, grenzt keine einzige Leistung aus und steuert gleichwohl das Ziel an, die Beitragssatzentwicklung zu stabilisieren. Mit ihm wird die Krankenversicherung ihren Beitrag zur wirtschaftlich erwünschten Entlastung bei den Lohnzusatzkosten leisten. ({8}) Nach Aussage des Gesundheitsministers der abgewählten Koalition, von Herrn Seehofer, verfügt unser Gesundheitswesen über Rationalisierungsreserven von rund 25 Milliarden DM. ({9}) Diese Zahl kommt den tatsächlichen Verhältnissen ziemlich nahe. Rationalisierungsreserven aber, Herr Lohmann - das liegt in der Natur der Sache -, sind verdeckte Unwirtschaftlichkeiten, die beseitigt werden können, ohne daß sich an der Qualität und LeistungsDr. Hermann Kues fähigkeit des Gesundheitswesens etwas ändert. Genau das tut die Koalition mit diesem Gesetzentwurf. ({10}) Gesundheit, meine Damen und Herren, gehört im Bewußtsein der Menschen zu den höchsten, in besonderem Maße schützens- und erhaltenswerten Gütern. Wir machen Schluß damit, daß dieses Bewußtsein der Menschen noch länger zu einem Alibi für das Geldverplempern umgebogen wird. ({11}) Wir wollen die 25 Milliarden DM an Wirtschaftlichkeitsreserven, von denen Herr Seehofer gesprochen hat, freisetzen, indem wir die Strukturen unseres Gesundheitswesens verändern, jene Strukturen also, die das Geldverplempern erst möglich werden lassen. Die Kritiker des vorliegenden Gesetzentwurfs sind zahlreich. Es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre; denn Gesundheitsgesetzen wird prinzipiell dieses Schicksal zuteil. Das ist also für die Koalitionsfraktionen weder Anlaß zur Besorgnis noch Anlaß zu politischen Kursänderungen. Anlaß zur Besorgnis allerdings bietet der Mangel an Glaubwürdigkeit, der mit dieser Kritik vielfach verbunden ist. Ich mache das an drei Beispielen deutlich. Fangen wir bei der Opposition in diesem Hause an, die am Gesetzentwurf der Koalition kein gutes Haar läßt. Wenn die Damen und Herren von CDU/CSU und F.D.P. den Weg der Koalition für falsch halten, dann sollten sie dem Hause ({12}) - ich halte Ihnen das erneut vor; Herr Lohmann, ich weiß, daß es unangenehm ist, wenn Sie hier mit leeren Händen auftauchen, aber ich muß es Ihnen immer wieder sagen, damit jeder sieht, daß Sie leere Hände haben ({13}) nicht länger vorenthalten, was ihrer Auffassung nach der richtige Weg ist. Das aber bleibt offenkundig Ihr Geheimnis. Außer Genöle und Genörgel liegt nichts vor. Es gibt noch nicht einmal den Hauch eines alternativen Konzeptes. Oder wollen Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und F.D.P., uns wirklich einreden, die Fortsetzung Ihrer eigenen Gesundheitspolitik der letzten Jahre sei das Konzept? ({14}) - Ich will dann auch festhalten, was das heißt: Fortsetzung der Leistungsausgrenzung für die Versicherten, noch mehr Zuzahlungen für die Kranken. ({15}) Ich stelle fest: Das war Ihre Politik der letzten Jahre. Die wollen Sie fortsetzen. Wir werden Sie daran hindern, meine Damen und Herren! ({16}) Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß wir diesen gesundheitspolitischen Kurs fortsetzen werden? Was also ist nun die Alternative der Opposition? Wir hören, und wir warten. Wollen wir einmal sehen, ob im Laufe dieser Debatte etwas kommt. ({17}) Das zweite Beispiel mangelnder Glaubwürdigkeit des Kritikerchors liefern uns Teile der Industrie. Die Forderung der Unternehmen nach stabilen Lohnzusatzkosten ist verständlich. Aber wenn sie gilt, dann gilt sie für alle. Es kann nämlich nicht sein, daß einerseits im Gewande von Bundesverband der deutschen Industrie oder von Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände etwas einzufordern ist und dann im Gewande der Pharma- und Medizingeräteindustrie alles getan wird, damit diese Forderung unerfüllbar bleibt. Wenn stabile Lohnnebenkosten für Siemens und Hoechst wichtig sind, dann können sie für die Firmenpolitik von Siemens Medizingeräte oder Hoechst Pharma nicht gleichgültig sein. Hier ist Glaubwürdigkeit angebracht, meine Damen und Herren. ({18}) Das dritte Beispiel läßt sich vortrefflich bei Krankenhäusern ansiedeln, vor allem bei der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Die Wirtschaftlichkeitsreserven im Krankenhaus seien restlos erschöpft, heißt es da. ({19}) Diese Behauptung verdient, höflich formuliert, Skepsis. Eine differenzierte Betrachtung zeigt nämlich, daß es höchst effektive, qualifizierte Krankenhäuser gibt, die keine zusätzlichen Reserven mehr haben, und sie zeigt, daß es, bezogen auf die Wirtschaftlichkeit, Krankenhäuser gibt, bei denen eigentlich der gnädige Mantel des Vergessens angebracht wäre. Das können wir uns nicht mehr leisten, meine Damen und Herren. Also auch hier bitte mehr Glaubwürdigkeit! Ich erlebe immer wieder das gleiche Ritual: Jede Seite erzählt, wo in den anderen Sektoren Wirtschaftlichkeitsreserven stecken. Das weiß ich aber alles schon. Ich wollte von den Vertretern jedes einzelnen Sektors eigentlich wissen, wo sie bei sich selbst, im eigenen Verantwortungsbereich, Wirtschaftlichkeitsreserven orten. Sankt Florian ist mittlerweile zum Schutzpatron der Leistungserbringer im Gesundheitswesen geworden. Der vorliegende Gesetzentwurf setzt nun neue Akzente in der Grundorientierung unseres Gesundheitswesens. Er verknüpft den Gedanken einer stärkeren wettbewerblichen Orientierung mit dem einer konsequenten Anwendung der sozialstaatlichen Prinzipien. ({20}) Da, wo es möglich ist, wollen wir unser Gesundheitswesen zukünftig wettbewerblich orientieren. Aber wir wissen: Der Markt der Gesundheitsleistungen ist kein Markt im klassischen Sinne. Der Nachfrager, also der Patient, geht nicht ins Krankenhaus, weil er Lust hat, sich den Blinddarm entfernen zu lassen, ({21}) sondern weil er entfernt werden muß. Er kann auch nicht die Blinddarmoperation durch eine Mandeloperation ersetzen, so wie der Verbraucher Fleisch durch Fisch. Eines der konstitutiven Merkmale jedes funktionierenden Marktes, den autonomen, souveränen Konsumenten, gibt es im Gesundheitswesen nicht oder es gibt ihn nur sehr begrenzt. ({22}) Eine weitere Besonderheit kommt hinzu. Der Gesundheitsmarkt reagiert invers. Hier bestimmt nicht die Nachfrage das Angebot, sondern das Angebot die Nachfrage. Wir könnten die Zahl der Krankenhausbetten um Tausende erhöhen, alle wären belegt. Wir könnten noch 50 000 Ärzte mehr zur Versorgung zulassen, die Wartezimmer wären gleichwohl voll. Und wir könnten die Zahl der Arzneimittel verdoppeln, alle würden verordnet. ({23}) Die dritte Besonderheit ist schließlich die fehlende Markttransparenz. Diese aber ist Voraussetzung für funktionierende Märkte. Im Gesundheitswesen ist Markttransparenz gar nicht herstellbar, weil deren konstitutive Instrumente - das sind Information und Werbung - eben nicht anwendbar sind. Oder kann sich etwa irgend jemand in diesem Hause bei den Apotheken Zustände nach dem Motto vorstellen: Rosenapotheke - das Angebot der Woche: 20 Aspirin für 1,99 DM? Das ist doch wohl undenkbar, meine Damen und Herren. Auch wenn Marktideologen niemals begreifen werden, gilt eine Grundsätzlichkeit: Die Gesundheitsversorgung der Menschen ist nicht marktwirtschaftlich organisierbar. ({24}) Der Gesetzentwurf der Koalition vermeidet deshalb diesen Irrweg. Allerdings intensivieren wir den Wettbewerb. Wir gewähren den Krankenkassen, die über das Instrumentarium der Nachfrageseite verfügen müssen, zukünftig entscheidende Mitgestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, was das Gesundheitsangebot angeht, also bei den Arzneimitteln, bei den Ärzten und Zahnärzten und bei den Krankenhäusern. Das bedeutet mehr Wettbewerb unter den Leistungserbringern, wofür Sie in den vergangenen Jahren kein Jota politischer Aktivität in diesem Hause gezeigt haben. ({25}) Wir intensivieren aber auch den Wettbewerb unter den Krankenkassen selbst, indem wir ihnen zusätzliche Wettbewerbsinstrumente an die Hand geben. Im Rahmen der sogenannten Integrationsversorgung können sie zukünftig speziell auf die Bedürfnisse ihrer Versicherten zugeschnittene innovative Versorgungsstrukturen anbieten. Sie können bestimmte Versorgungsnetze für alle oder spezielle Versorgungsnetze für erkrankte Gruppen wie zum Beispiel für Diabetiker oder für Rheumakranke einrichten und anbieten. Die für die Beteiligten wohl schmerzhaftesten Neuerungsprozesse gehen in diesem Gesetzentwurf von jenen Lösungsvorschlägen aus, vor denen sich CDU/CSU und F.D.P. - manchmal sogar klientelbedingt - immer gedrückt haben. ({26}) Unser Gesundheitswesen, meine Damen und Herren, hat ein Kapazitätsproblem. Wir haben zu viele Ärzte, wir haben zu viele Krankenhausbetten und zu viele Arzneimittel. Wenn wir 1976 mit 36 000 Kassenärzten die Versorgung sichergestellt haben und heute behaupten, sie mit 112 000 Ärzten sicherstellen zu müssen, dann ist das ein Unterschied von über 300 Prozent. Selbst wer Nachholbedarf, medizinischen Fortschritt und demographische Veränderungen in Rechnung stellt, weiß, das kann weder so weitergehen, noch kann es so bleiben. Vor allen Dingen aber kann es nicht mehr bezahlt werden. Wenn im vergleichbaren Frankreich 49 Krankenhausbetten auf 10 000 Einwohner kommen, um Französinnen und Franzosen adäquat stationär zu versorgen, wieso sollen wir dann in Deutschland 72 Betten auf 10 000 Einwohner benötigen? Jeder weiß: Auch das kann nicht so bleiben, weil es unbezahlbar ist. Wir haben in Deutschland rund 50 000 Arzneimittel am Markt, viele davon nicht einmal zugelassen, sondern lediglich nach Uraltrecht registriert. Die Schweiz kommt mit rund einem Fünftel dieser Zahl aus. ({27}) Wer behauptet, diese 50 000 Präparate seien für die qualitativ hochstehende Versorgung der Menschen notwendig, gehörte eigentlich aus dem Verkehr gezogen, weil er damit zugleich behauptet, er habe dabei auch noch einen Überblick. ({28}) Jeder Arzt, meine Damen und Herren, der mehr als 600 Präparate in seinem Verordnungsspektrum hat, wird von seinen Kollegen offen als Gesundheitsrisiko gebrandmarkt. Das alles sind Überkapazitäten - teuer und weitgehend nutzlos. Der vorliegende Gesetzentwurf belegt, daß die Koalitionsfraktionen diese Überkapazitäten zurückführen wollen. Wir wissen, wer die Kapazitätsfrage im Gesundheitswesen nicht löst, wird schon mittelfristig das Ziel, eine leistungsfähige, bezahlbare Gesundheitsversorgung für alle in Deutschland sicherzustellen, ernsthaft gefährden. Herr Lohmann, Ihre Zwischenrufe amüsieren mich. ({29}) Jetzt stelle ich Ihnen einmal eine Frage, Herr Lohmann. Während Ihrer Regierungszeit ist das ambulante Operieren in Deutschland eingeführt worden. In dieser relativ kurzen Zeit hat sich die Zahl der Kniearthroskopien verdoppelt. Die Knie in Deutschland sind gleich geblieben. Haben Sie das bei Ihren Nichtantworten auf die Kapazitätsfrage in Deutschland jemals überlegt? Nichts haben Sie gemacht! ({30}) Herr Lohmann, ich kann Ihnen noch ein zweites Beispiel geben. ({31}) - Nun seien Sie einmal ganz lieb, Herr Möllemann. Sie als gesundheitspolitischer Sprecher der alten Koalition während der Regierung haben genausowenig Antworten zu diesem Problem gegeben. ({32}) Ich komme zurück auf die Kassenärztliche Vereinigung in einem Bereich. Da sind, meine Damen und Herren, Honorare festgelegt worden in folgendem Verhältnis: 200 Kinderärzte haben die gleiche Honorarsumme bekommen wir acht Laborärzte. ({33}) Das ist alles bekannt. Aber es ist mit „medizinisch notwendig“ nicht zu begründen. Diese Zahlen lassen sich reihenweise fortsetzen. CDU/CSU und F.D.P. haben in den vergangenen 16 Jahren zu diesem Überkapazitätsproblem geschwiegen. Sie haben keine Aktivitäten entwickelt. Wir müssen heute die Probleme der letzten 16 Jahre lösen, meine Damen und Herren. Nichts anderes ist Sachverhalt. ({34}) In der ambulanten ärztlichen und zahnärztlichen Versorgung wird es eine strikte, an Verhältniszahlen orientierte bedarfsgerechte Zulassung geben. Das aber heißt: Das derzeit praktizierte Überlaufmodell der CDU/CSU und F.D.P., das zwar Zulassungsbegrenzungen bei nicht bedarfsgerechter Niederlassung vorsah, sie aber nie praktizierte, wird durch eine strengere Regelung ersetzt, die Zulassungssperren nicht nur andeutet, sondern sie auch anwendet. Denn wo das Boot voll ist, ist es voll. Wo alle Boote voll sind, sind auch alle Boote voll, mit allen Konsequenzen. Mit größter Gelassenheit sehen wir der Verfassungsklage des Marburger Bundes gegen diese Regelung entgegen; denn die Bestimmung des Grundgesetzes, meine Damen und Herren, die vorschreibt, daß alle zulassungswilligen Ärzte irgendwie auch zugelassen werden müßten - und sei es um des finanziellen Ruins der Krankenversicherung willen -, ist bis heute nicht bekanntgeworden. Das Verfassungsgerichtsurteil in Sachen ärztlicher Niederlassungsfreiheit aus den 60er Jahren ist dabei kein Fall, auf den man sich berufen kann. Es wurde zu Zeiten von Ärztemangel gesprochen; heute haben wir das Gegenteil. So gesehen gilt zwar, daß man auf hoher See und vor Gericht immer in Gottes Hand ist, aber da fühlen wir uns mit unserem Gesetzesvorschlag diesmal besonders gut aufgehoben. ({35}) In der Krankenhausversorgung wollen wir den Abbau zusätzlicher Betten. Wir erreichen das - übrigens in Übereinstimmung mit den sozialdemokratisch geführten Ländern - durch eine neugeordnete Krankenhausbedarfsplanung. Krankenkassen und Länder planen den Rahmen der Krankenhauslandschaft zukünftig gemeinsam. Das bedeutet, sie planen im Einvernehmen. Rahmenplanung heißt eben nicht Einzelbettplanung. Weil das so ist, wird der sogenannte Kontrahierungszwang - also die Pflicht der Krankenkassen, mit allen Krankenhäusern, die im Bedarfsplan aufgenommen sind, Versorgungsverträge zu schließen - aufgehoben. ({36}) Da mögen sich einige noch so sehr in Rage reden - an diesem strategischen Punkt entscheidet sich, ob diese Strukturreform ein Erfolg wird oder nicht. ({37}) Diese Veränderung in der Planung wird durch eine Veränderung in der Finanzierung unterstützt. Wir werden schrittweise die monistische Finanzierung einführen. Das heißt: Die Krankenkassen werden zukünftig auch die Investitionskosten der Krankenhäuser tragen. Dieser Umfinanzierungsprozeß wird 2008 abgeschlossen sein. ({38}) - Herr Zöller, hätten Sie zugehört, dann hätten Sie gerade einen längeren Beitrag von mir zum Kapazitätsabbau vernommen. ({39}) Da Sie aber weggehört haben, stellen Sie jetzt die dumme Frage, wie das finanziert wird. Hören Sie in dieser Debatte zu und machen Sie nicht solche wirklich dummen Zwischenrufe! ({40}) Eine weitere Neuerung in der Finanzierung wird die Einführung eines einheitlichen leistungsorientierten Preissystems im Krankenhaus sein. Ab 2003 werden nicht mehr Kosten erstattet, sondern Leistungen bezahlt. Die Entfernung eines Blinddarms ist in der Klinik der Maximalversorgung die gleiche Leistung wie in einem Kreiskrankenhaus. Deshalb wird es zukünftig dafür an beiden Plätzen den gleichen Preis geben. Die Zeit krankenhausindividueller Preise wird vorbei sein. ({41}) Ich bin mir sicher, dieses leistungsorientierte Preissystem wird die Krankenhauslandschaft in Deutschland im Hinblick auf mehr Wirtschaftlichkeit nachhaltig verändern - nachhaltiger als alle neuen Planungs- und Investitionsregelungen zusammen. Auch in diesem Zusammenhang stelle ich fest: Der Erfolg des gesamten Reformgesetzes wird sich an der Durchsetzung und dem Erfolg der Krankenhausregelungen entscheiden. Ich will mir an dieser Stelle ein Wort an die große Zahl der Mitstreiter im Wortsinne gönnen. Meine Damen und Herren, Reform- und Veränderungsbereitschaft erkennt man in der Regel an der Dialogfähigkeit. ({42}) Diese hängt allerdings von der Qualität der Argumente ab und nicht von deren Lautstärke oder Rüpelhaftigkeit im Tonfall. ({43}) Jeder muß wissen, auf was er sich einläßt. Ist man erst einmal in der Ecke der Dialogunfähigkeit angelangt, wird man so schnell nicht wieder herausfinden. ({44}) Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Krankenhäusern leisten wertvolle und unverzichtbare Arbeit. Sie muß gerecht entlohnt werden. Das ist ohne eine finanziell leistungsfähige und stabile Krankenversicherung unmöglich. Diese zu sichern dient also auch den Krankenhausbeschäftigten. Die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, die auch die Interessen der Krankenhausbeschäftigten vertreten und ihnen Gehör verschaffen, stehen vor einem schwierigen Abwägungsprozeß. Sie müssen diese Interessen mit den Interessen aller ihrer anderen, die Krankenversicherung durch Beiträge finanzierenden Mitglieder vereinbaren. Diese Interessenabwägung muß vollzogen werden, so schwierig sie auch sein mag. Deshalb treten wir in diesem Gesetzgebungsprozeß für die Dialogfähigkeit aller - Leistungserbringer, Beschäftigte und Krankenkassenversicherte - ein. ({45}) Wir bieten uns ausdrücklich an - ({46}) - Und wir nehmen es auf. Herr Lohmann, hätten Sie die Debatten der letzten Monate verfolgt, dann wäre Ihnen nicht entgangen, daß ich mit über 40 Institutionen, Organisationen und Verbänden geredet habe ({47}) und daß, Herr Lohmann, maßgebliche, aus diesen Gesprächen hervorgegangene Erkenntnisse in diesem Gesetzentwurf wiederzufinden sind. Man darf nämlich nicht nur hier sitzen und dumme Zwischenrufe machen, ({48}) man muß auch einmal lesen, was die Koalition vorschlägt. ({49}) Ich will zum Kapitel - ({50}) - Die Zwischenrufe waren dumm. ({51}) - Herr Ramsauer, unterhalten Sie sich mit sich selber. ({52}) Wenn Sie so einen Dialog mit mir führen wollen, hat das wirklich keinen Sinn. ({53}) In der Arzneimittelversorgung wird die Zahl der verordnungsfähigen Präparate begrenzt. Wir wollen eine Liste verordnungsfähiger Arzneimittel, die Positivliste, die dieses Haus mit den Stimmen derjenigen Abgeordneten von CDU/CSU und F.D.P., die sie heute ablehnen, bereits beschlossen hatte. Insofern ist die Kritik der OpRudolf Dreßler position daran allenfalls deshalb interessant, weil sie sich gegen deren eigenen Beschluß von 1992 richtet. Die Positivliste wird eingeführt. Sie ist für eine Qualitätsverbesserung in der Arzneimittelverordnung der Kassenpraxis notwendig. Sie bereinigt den deutschen Arzneimittelmarkt - soweit er für die Krankenkassen von Belang ist - von therapeutischen Zweifelhaftigkeiten und von Präparaten mit ungeklärtem therapeutischen Nutzen. Insofern ist die Kritik, die Positivliste sei innovationsfeindlich, schlicht absurd. Wer die Verordnungen auf qualitativ hochwertige, therapeutisch nützliche Arzneimittel konzentriert, wer also Zweifelhaftigkeiten beseitigt, der behindert nicht Innovation und Forschung, sondern fördert diese. ({54}) Uns wird kein einziger Vertreter der forschenden pharmazeutischen Industrie allen Ernstes einreden, daß sich deren Forschung auf Zweifelhaftigkeiten, aber nicht auf Innovationen konzentriert. Wäre das so, dann wäre das unternehmerische Konzept sicherlich renovierungsbedürftig. Die Positivliste ist so konzipiert, daß mit ihr die Rolle der natürlichen Arzneimittel, also der Homöopathika, der Phytotherapeutika und der Antroposophika, nicht tangiert wird. Auch sie können zukünftig verordnet werden. Sie werden, wenn über sie nicht eine schulmedizinische, sondern nur eine ihnen gemäße naturheilkundliche Erfolgsbilanz vorgelegt werden kann, ebenfalls im Anhang der Liste über verordnungsfähige Arzneien aufgelistet. ({55}) Zudem ist durch einen qualifizierten Minderheitenschutz sichergestellt, daß die Mitglieder des Arzneimittelinstituts, die die Aufnahme in die Liste empfehlen, nicht nach medizinischen Schulen entscheiden können. Jede Seite muß auch immer Vertreter der anderen Seite überzeugen. Dies halten wir für ein tragfähiges Verfahren. ({56}) Sie wissen, daß ebenfalls im Zentrum des Projektes „Strukturreform 2000“ die Einführung eines Globalbudgets für die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung steht. Ich möchte deshalb zum Schluß noch eine Bemerkung von Frau Ministerin Fischer ergänzend aufgreifen. ({57}) Sie als Oppositionsfraktionen haben jahrelang als Regierungsparteien Budgets im Gesetz festgeschrieben und vor diesem Deutschen Bundestag erklärt, daß eine Ausgabenbeschränkung aus Gründen der Beitragssatzstabilität notwendig sei. Dieses Ziel haben Sie selber formuliert. Wenn Sie diesen Kurs beibehalten wollen, dann müssen Sie sich bei allen von Ihnen hier gestellten Forderungen, die diese Ausgabenbeschränkung nicht gewährleisten, sondern für zusätzliche Ausgaben sorgen, zwischen zwei Lösungen entscheiden, nämlich zwischen Beitragserhöhungen, um die Zusatzausgaben zu finanzieren, ({58}) oder weiteren Leistungsausgrenzungen. ({59}) Sie haben sich in der letzten Legislaturperiode für Leistungsausgrenzungen und Belastungen der Patienten entschieden. Wenn Sie das weiterhin wollen, dann erklären Sie das hier. ({60}) Wenn Sie Beitragserhöhungen wollen, ({61}) dann erklären Sie das hier. ({62}) Solange Sie aber nur fordern und die Finanzierung ihrer Forderungen dem Deutschen Bundestag verschweigen, bleibt Ihre konzeptionelle Strategie nicht durchsichtig. Wir können nicht erkennen, was die CDU/CSU anders machen will als in den vergangenen Jahren, nämlich Patienten zu belasten oder die Beiträge zu erhöhen. ({63}) Wir wollen beides nicht. Wir wollen die Strukturen aufbrechen, um mit den daraus gewonnenen Ressourcen das System zu refinanzieren und damit die Beitragsatzstabilität zu garantieren. Wir laden Sie ein, mit uns für diesen Weg zu streiten, hart in der Sache, aber konstruktiv für die Patienten, Herr Zöller, und nicht auf ihrem Rücken. Schönen Dank. ({64})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Kollege Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf Grund der Aussagen der Ministerin sage ich Ihnen: Die Ministerin hat am Sonntag in Köln gezaubert - heute wird sie entzaubert. Dieses Gesetz ist von der Budgetierung geprägt. Budgetierungen in allen Ländern zeigen, daß sie zur Rationierung von Gesundheitsleistungen führen. Da gibt es kein Entkommen. Wenn ich England und Schweden heranziehe, wo über viele Jahre ein Budget gehandelt wird, dann stelle ich fest, daß es zu Rationierung, dann zu Warteschlangen und letztlich zu Altersgrenzen kommt. Wenn Sie den Weg dieser Politik gehen wollen, dann müssen Sie den deutschen Patienten sagen, daß Sie das alles - Wartelisten und auch die Diskussion über Altersgrenzen bei medizinischen Leistungen - in Kauf nehmen. ({0}) Sie alle wissen, daß in England und Schweden Altersgrenzen für gewisse Krankheitsbilder wie Hüft-, Herz- und andere Operationen eingeführt worden sind. Wenn Sie mit Budgets konsequent fortfahren, dann werden Sie sich dieser Frage stellen müssen. Ich sage den deutschen Patienten: Dies ist ein System, das wir auf keinen Fall wollen. Wir lehnen es ab. ({1}) Nachher werde ich Ihnen sagen, was wir wollen. Jetzt möchte ich auf das Globalbudget zu sprechen kommen. Das ist ein solcher Schwachsinn. Jede gesetzliche Krankenkasse bekommt ein Budget. Wir haben dann mindestens 500 Globalbudgets. Ferner haben wir die sektorale Budgetierung im ärztlichen Bereich, im zahnärztlichen Bereich, im Arzneimittelbereich, im Heilmittelbereich, neuerdings im Krankenhausbereich und nun auch im Rehabilitationsbereich. Ich möchte wissen, wie der Übergang der sektoralen Budgets zu den Kassenbudgets gehandlet werden soll - das kann Ihnen noch nicht einmal ein Vertreter der Krankenkassen sagen; vom Ministerium spreche ich gar nicht -; vom Ministerium ist nichts an Informationen ausgegeben worden. Ich sage Ihnen: Das Handlen wird nicht passieren. Damit den Patienten ganz deutlich wird, was diese Bundesregierung macht, möchte ich drei Beispiele hervorheben. Erstes Beispiel: Arzneimittelbudget. Natürlich kann ich die Patienten verstehen, die darauf hinweisen, die Zuzahlungen seien im Rahmen des Arzneimittelbudgets geringfügig reduziert worden. Aber es wird verschwiegen, daß das Budget insgesamt, also in der Summe, reduziert worden ist und daß der Arzt damit gar nicht mehr in der Lage ist, die Arzneimittel in bisherigem Umfang zu verschreiben. ({2}) Darin besteht der Betrug dieser Koalition. Sie belügen und betrügen die Patienten, weil Sie nicht die Wahrheit sagen, wie die Budgetierung in der Praxis aussieht. ({3}) Ich darf Ihnen ein zweites Beispiel nennen. Gehen Sie zu den Ärzten und Patienten, und fragen Sie, wie es im Massagebereich und in der Krankengymnastik aussieht. Wenn ein Patient dringend Krankengymnastik braucht, dann ist der Arzt auf Grund seines Budgets nicht in der Lage, mehr als drei oder vier Therapien zu verschreiben. ({4}) Es stellt sich die Frage, ob das medizinisch sinnvoll ist. Sie treiben die Patienten einfach dahin, gewisse Leistungen nicht mehr zu bekommen. Das ist das Brutale: Ein Budget grenzt aus; ein Budget gibt nicht mehr die Möglichkeit, die notwendigen Therapien zu ermöglichen. Das verschweigen Sie. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Thomae, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sofort. Sie betreiben eine Zweiklassenmedizin; denn nur der ökonomisch Starke kann sich diese Leistungen privat kaufen. Er kann sich Massage oder Krankengymnastik kaufen. Er kann sich - auch darauf komme ich nachher zu sprechen - im Arzneimittelbereich Arzneimittel kaufen, wenn sie ihm nicht mehr verschrieben werden, weil sie nicht in der Positivliste stehen. Das ist Ihre Zweiklassenmedizin. Sie schützen nicht mehr den sozial Schwachen - das haben wir getan - ({0}) - Ich weiß: Es paßt Ihnen nicht. Wir haben eine Härtefallregelung und eine Überforderungsregel. Was haben Sie? Sie haben ein Budget, und Sie verschreiben gewisse Therapien nicht mehr.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kirschner, Sie dürfen jetzt.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Thomae, glauben Sie, daß beispielsweise die Menschen im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Südbaden, wo ich wohne ({0}) - nein, das ist kein Spiel; das ist eine ernsthafte Frage, Herr Kollege Dr. Thomae, bezüglich Ihrer Ausführungen, mit denen Sie den Menschen Angst machen, sie würden nicht mehr ordentlich mit Medikamenten versorgt werden - und wo die Ärzte umgerechnet Arzneimittel für 328 DM pro Einwohner verordnen, während es beispielsweise im Einzugsbereich der KV Rheinhessen/Pfalz 403 DM sind, also über 20 Prozent mehr, nicht ordentlich mit Medikamenten versorgt werden? Wollen Sie den Ärzten dies unterstellen?

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kirschner, Sie sprechen die in Ihrem Gesetz enthaltene Thematik des Benchmarkings an. Darum geht es. Sie glauben, Sie könnten dieses Verfahren auf der Basis der von Ihnen angeführten zwei Kriterien, nämlich Geschlecht und Alter, bundesweit einführen. Damit machen Sie es sich erheblich zu einfach. Sie müßten in diesem Zusammenhang auch die Morbidität und das Verhältnis von stationärer und ambulanter Versorgung in den Regionen berücksichtigen. Wenn man nur mit zwei Kriterien arbeitet, wie Sie das machen, ist dieses Benchmarking in meinen Augen nicht zu akzeptieren. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun auf die Thematik der Positivliste zu sprechen kommen: Ich halte von einer Positivliste überhaupt nichts, weil jede Positivliste die Therapiefreiheit des Arztes einschränkt. Ich möchte, daß Patienten und Ärzte die Therapie miteinander absprechen. Diese Möglichkeit wird aber hierdurch eingeschränkt. ({1}) - Die Ärzte wollen sie, weil Sie ihnen so ein brutales Arzneimittelbudget vorgeben! Das ist doch der Grund. ({2}) Herr Dreßler, Sie sprachen von 50 000 aufgeführten Arzneimitteln. Aber Sie wissen doch ganz genau, daß bei diesen 50 000 Arzneimitteln die unterschiedlichen Darreichungsformen mitgezählt werden. ({3}) Wenn Sie diese mitzählen, ist die Zahl der Arzneimittel erheblich geringer. Sie wissen auch - darum haben wir damals von dieser Überlegung Abstand genommen -, daß der Arzneimittelverbrauch in den Ländern, in denen es eine Positivliste gibt, mindestens so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland liegt. ({4}) - Natürlich ist es so; in Frankreich ist er genauso hoch. Realisieren Sie das. Ich habe mich damit beschäftigt. Sie schränken durch eine Positivliste die Therapiefreiheit ein und bauen Forschungshindernisse für die mittelständische Pharmaindustrie in Deutschland auf. Das kann nicht unsere Absicht sein; von daher lehnen wir das ab. ({5}) Nun zum Thema Krankenhaus: Natürlich gibt es Krankenhäuser - das wissen wir aus der Vergangenheit -, die sehr effektiv geführt werden, und andere, die eben nicht so gut geführt werden. Wenn Sie, Herr Dreßler, diese Auffassung teilen, dann dürfen Sie in diesem Bereich aber nicht die Rasenmähermethode anwenden. ({6}) Das ist unmöglich. Sie müssen vielmehr mit jedem einzelnen Krankenhaus individuelle Verhandlungen führen. ({7}) - Lesen Sie es doch in Ihrem Gesetz nach! Das geschieht eben nicht. Der Fehler in Ihrem Gesetz ist, daß andere haften, wenn irgendwo unökonomisch gearbeitet wird. Das ist unfair. ({8}) Jetzt, meine Damen und Herren, gehen wir von der Basis aus. ({9}) Beim Budget gehen Sie von einem sehr niedrigen Ausgangsniveau aus. Außerdem sehen Sie den Abschlag, den wir als vorübergehenden Abschlag eingeführt haben, jetzt auf Dauer vor. Ich kann mich noch gut erinnern, wie intensiv die Ministerin und die Grünen diesen Abschlag kritisiert haben, aber scheinbar gilt auch hier: Was stört mich das Geschwätz von gestern! ({10}) Jetzt behalten Sie diesen Abschlag auf Dauer ein; dabei geht es um mindestens 1 Milliarde DM. Nun zum Thema Mehrerlös und Finanzierung bis zum Jahre 2007/2008: Sie reden von Wettbewerb, aber gleichzeitig streichen Sie beim Mehrerlös 1 Milliarde DM. ({11}) - Die Krankenhäuser, die effektiv arbeiten, können den Mehrerlös dafür einsetzen, in gewissen Bereichen zu investieren oder Perspektiven für die Zukunft aufzubauen. Diese Möglichkeiten, über mehr Leistung etwas zu erreichen, werden ihnen weggenommen, wenn dieser gestrichen wird. ({12}) - Sie wissen ganz genau, daß in unserem alten Gesetz keine 100prozentige Vergütung vorgesehen war. Hören Sie doch auf! Nächster wichtiger Punkt - ich merke, Sie werden nervös -: das ärztliche System. Von Ihrem Vorschlag „integrierte Versorgungsformen“ glauben Sie, das sei die ideale Lösung. Ich sage Ihnen: Dieser Vorschlag ist ein trojanisches Pferd; denn hinter diesem Begriff verbirgt sich das Einkaufsmodell. ({13}) Integrierte Versorgung bedeutet, daß mit einzelnen Ärzten und Arztgruppen Verträge abgeschlossen werden können. Damit gefährden Sie die flächendeckende Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. ({14}) Auch das müssen die Bürger wissen: Die integrierten Versorgungsformen werden zuerst aus dem Budget entlohnt, bevor die anderen finanziert werden. Darum sage ich Ihnen: Auf diese Weise werden viele Patienten - neben den Ärzten - erheblich benachteiligt. Dazu kommt noch, daß Sie durch die Budgets die floatenden Punktwerte weiter vorantreiben. Das heißt: Die Freiberuflichkeit wird weiter gefährdet. Ich frage mich manchmal: Wollen Sie wirklich die Freiberuflichkeit des Arztes abschaffen und den staatlich angestellten Arzt einführen? Ich glaube ja, denn sonst könnten Sie ein solches Gesetz nicht auf den Weg bringen. ({15}) Sie versprechen den Bürgern alles; Sie wollen die Leistungen ausdehnen. Sie dehnen sie aus - zum Beispiel: Soziotherapie und im zahnärztlichen Bereich -, aber die Budgets bleiben niedrig. Wie wollen Sie dem Bürger erklären, daß er eine optimale Versorgung im zahnärztlichen Bereich bekommt, obwohl für die Implantate ein niedriges Budget eingeführt werden soll? Wenn ich es höflich ausdrücke, ist es Augenwischerei; wenn ich ehrlich bin, ist es Betrug. Ihre Formulierung ist Betrug am Patienten. ({16}) Zur Selbstverwaltung. Ich will gar nicht über die Datensammelstellen reden. Auf diesen Punkt geht mein Kollege nachher ein. Sie wollen die Selbstverwaltung der Ärzte und der Zahnärzte völlig umbauen. Sie wollen Hauptamtliche etablieren. Das hört sich im ersten Moment vielleicht interessant an. Die erste Generation der Hauptamtlichen wird auch noch aus dem ärztlichen oder zahnärztlichen Bereich kommen. Aber die zweite oder dritte Generation wird aus Funktionären bestehen. Dann sind die Ärzte und Zahnärzte mundtot gemacht, was wir uns in unserer Gesellschaft nicht leisten können. ({17}) Sie wollen die Selbstverwaltung auflösen. Zu den neuen Bundesländern. Ich bin schon erstaunt, Frau Ministerin, daß Sie sagen: Wir wollen in den neuen Bundesländern etwas tun. Dann hätten Sie nämlich in der letzten Ausschußsitzung unserem Antrag zustimmen müssen. ({18}) Sie hätten nicht seit acht Wochen sagen dürfen: Wir müssen nachdenken. Acht Wochen zum Nachdenken sind für eine Bundesregierung angesichts der Problematik in den neuen Bundesländern eine viel zu lange Zeit. Jetzt schleppen Sie dieses Thema über die Sommerpause. ({19}) Wir haben kein schizophrenes Vorschaltgesetz gemacht. Wir haben Sie vielmehr vor acht Wochen darauf hingewiesen, daß dieses Vorschaltgesetz in den neuen Bundesländern im Krankenhausbereich zu katastrophalen Zuständen führt. Sie schleppen und schlampen sich damit über die Sommerpause. Das ist unverantwortlich. ({20}) Zu Europa. In dem Gesetzentwurf findet sich kein Wort über Europa, obwohl sonst immer von Europa geredet wird. Herr Schröder reist kreuz und quer durch Europa und spricht mit allen, um die Integration in Europa zu fördern. Aber der Gesundheitsmarkt, der fast der größte Markt ist, soll nicht integriert, sondern vom europäischen Ausland separiert werden. An dieser Stelle, Frau Ministerin, begehen Sie einen entscheidenden Fehler. Die Versicherten, die im Ausland Urlaub machen oder dort arbeiten, müssen Perspektiven für ihre gesetzliche Versicherung haben. Sie müssen den deutschen gesetzlichen Krankenkassen die Möglichkeit einräumen, innerhalb des gesetzlichen Systems Leistungen im Ausland zu finanzieren. Glauben Sie nicht, daß Ihr Traum vom Sachleistungssystem hier in Erfüllung gehen könnte. Es ist aus ökonomischen, aber auch aus verwaltungstechnischen Gründen einfach nicht machbar, ein solches System über Sachleistungen aufzubauen. ({21}) Ich sage Ihnen, was wir wollen: Wir wollen die Stärkung der Eigenverantwortung statt einer Rundumversorgung. ({22}) Wir wollen Wettbewerb statt Einheitskasse. Wir wollen echte Wahlmöglichkeiten für Patienten statt Einheitstarife. Wir wollen Verhandlungslösungen und kein Diktat der Krankenkasse mit ihren Partnern. Wir wollen eine leistungsgerechte Vergütung und keine floatenden Punktwerte. Wir wollen die Kostenerstattung statt des Sachleistungssystems. Wir wollen eine europäische Ausrichtung. ({23}) Wie können wir das erreichen? Wir haben in der vergangenen Wahlperiode gemeinsam mit der CDU/CSU einen Weg beschritten. Diesen Weg halten wir für richtig. Er kann aber nur gegangen werden, wenn wir eine vernünftige Steuerreform auf den Weg bringen, damit die Patienten Geld in der Tasche haben, um dies auch zu finanzieren. Es soll keine Leistungskürzungen geben, wo es nicht sinnvoll ist. Mit Ihrer Budgetierung treiben Sie die Patienten auf die Barrikaden. Das erleben Sie schon heute tagtäglich. Ich wünsche Ihnen bei dieser Gesetzgebung nicht viel Freude, sondern ich wünsche eine Umkehr. Wir jedenfalls werden diesem Gesetzeswerk nie zustimmen. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für eine Reform des Gesundheitswesens gibt es im Grunde genommen nur noch zwei Optionen, die mit einer eigenen Logik ausgestattet sind. Allerdings haben sie diametral entgegengesetzte Auswirkungen auf die soziale Qualität der gesundheitlichen Versorgung. Die erste Alternative besteht in der zunehmenden Privatisierung der Gesundheitskosten und einer damit verbundenen Zweiklassenmedizin. Meine Damen und Herren auf der rechten Seite, egal, was Sie heute sagen: Auf diesen Weg hat sich die alte Koalition begeben. Sie hat völlig auf weitgehende Strukturreformen im Gesundheitswesen verzichtet. ({0}) Diese Entwicklung hielten wir für verhängnisvoll, denn wir betrachten Gesundheitssicherung und medizinische Versorgung als soziales Menschenrecht. ({1}) Eine möglichst gute Gesundheit gehört zu den elementaren Voraussetzungen von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Hier liegt über das unmittelbare medizinische Wirken hinaus die unverzichtbare soziale Funktion des Gesundheitswesens. Genau das ist auch der Grund, weshalb uns soviel an einer Gesundheitsversorgung liegt, die unabhängig vom individuellen Einkommen und Vermögen bleibt und die allen gleichermaßen zugänglich ist. ({2}) Die andere, nach unserer festen Überzeugung notwendige und auch mögliche Alternative lautet: Verteidigung und Erneuerung einer sozial gerechten, solidarischen und humanen Gesundheitsversorgung, auch unter erheblich veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Um dies zu erreichen, ist es zunächst erforderlich, die Vorzüge und Stärken des bestehenden Gesundheitssystems nicht in Frage zu stellen, sondern zu festigen und auszubauen. ({3}) Deshalb befürworten wir, daß mit dem vorliegenden Gesetzentwurf an einer solidarischen Absicherung des Krankheitsrisikos, an der gemeinsamen paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, am Sachleistungsprinzip sowie an einem für alle gültigen und medizinisch vollwertigen Leistungskatalog festgehalten werden soll. Wer ein solidarisches Gesundheitswesen erhalten will, muß selbstverständlich auch bestrebt sein, bestehende Unwirtschaftlichkeiten durch Strukturreformen zu beseitigen und die Effektivität des Systems zu erhöhen. Auch in dieser Hinsicht sehen wir, daß die Regierung darum bemüht ist, den Reformstau zu überwinden und die Weichen für eine andere Gesundheitspolitik zu stellen. Das zeigt sich beispielsweise an den Absichten, zu mehr Kooperation und integrierenden Versorgungsformen zu kommen und insbesondere auf ein besseres Zusammenwirken von ambulantem und stationärem Sektor hinzuwirken. Das gleiche gilt für das Ziel, die Rolle der Hausärzte zu stärken und dazu auch von seiten des Gesetzgebers konkrete Festlegungen zu treffen. Für wichtig halten wir ebenfalls, daß der Gesetzentwurf Maßnahmen vorsieht, die auf eine rationellere Arzneimittelversorgung zielen, und natürlich alles was geeignet ist, Gesundheitsförderung, Prävention und Selbsthilfe einen höheren Stellenwert zu verleihen. Allerdings sind angekündigte Ziele und Absichten selbst dort, wo sie richtig sind, nur das eine. Entscheidend ist erfahrungsgemäß ihre Ausgestaltung im Sinne überzeugender und praktikabler Lösungen. Die bisher vorgelegten Vorstellungen von Rotgrün lassen aber gerade in dieser Hinsicht noch viele Fragen offen. Auffallend ist, daß inzwischen von einer weiteren Zurückführung der Zuzahlungen der Patienten so gut wie nicht mehr die Rede ist. Gerade dies aber war vor noch gar nicht langer Zeit erklärtes Ziel der heutigen Regierungsparteien. Für uns bleibt es dabei: Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen in einem solidarischen Krankenversicherungssystem sind unsozial und medizinisch kontraproduktiv. Sie müssen vollständig zurückgenommen werden. ({4}) Was die volle Übernahme der Krankenhausfinanzierung durch die Kassen betrifft, so ist die Regierung offensichtlich entschlossen, einen folgeschweren Irrweg zu beschreiten. Richtig ist, daß neue Krankenhauskapazitäten im Einvernehmen zwischen Ländern und Kassen entstehen sollen. Warum deshalb aber die ohnehin gebeutelten Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung nun auch noch mit Investitionskosten für die Krankenhäuser belastet werden sollen, ist nicht einzusehen. ({5}) Es gibt keinen Grund, die Länder aus der richtigerweise bei ihnen angesiedelten Verantwortung zu entlassen. Ein Grundfehler ist aus unserer Sicht auch, daß die neue Regierung offensichtlich gewillt ist, den ökonomischen Wettbewerb der Krankenkassen nicht nur beizubehalten, sondern ihn sogar auf die Leistungserbringer auszuweiten. Dabei haben Elemente des Marktes und ökonomischer Wettbewerb in der gesundheitlichen Versorgung eine höchst verhängnisvolle Wirkung: Sie fördern Risikoselektion und Entsolidarisierung; sie diskriminieren die sozial Schwächsten und führen zu weiterer Zersplitterung und Bürokratisierung des Systems. Dies steht im völligen Gegensatz zu den Intentionen einer sozial empfindenden und humanistischen Medizin. Die Grundsätze einer solidarischen Gesundheitssiche4170 rung werden auf diese Weise entgegen eigenen Absichten ebenfalls in Frage gestellt. ({6}) Fatal ist, daß die neue Koalition unmittelbar an die vorgesehenen Strukturveränderungen die Erwartung knüpft, sofort mit geringstmöglichen Zuwächsen auszukommen oder teilweise Mittel direkt freisetzen zu können, wie es sich beispielsweise beim vorgesehenen Übergang zur monistischen Krankenhausfinanzierung zeigt. Damit geht die Koalition in einer grundlegenden Frage von falschen Voraussetzungen aus. Weder von der notwendigen Stärkung der Hausärzte noch von neuen integrierten Versorgungsformen oder von einer Positivliste können kurzfristig Einsparungen erwartet werden. Denn während man mit den vorgesehenen Maßnahmen Rationalisierungsreserven bestenfalls schrittweise erschließen kann, wächst der Versorgungsbedarf weiter an. Außerdem gibt es im Gesundheitswesen nicht nur Überkapazitäten und Unwirtschaftlichkeiten, sondern auch große Felder mit Unterversorgung und Nachholbedarf. Hier sei nur an die Prävention, die Rehabilitation, den großen psychiatrischen Sektor oder an den noch immer tendenziell unterbesetzten Pflegebereich erinnert. Mit anderen Worten: Der dieser Reform zugrundeliegende Gedanke, daß durch notwendige Strukturveränderungen Mittel sofort eingespart und freigesetzt werden können, beruht weitgehend auf Wunschdenken. Daran knüpft sich ein weiterer Trugschluß der Koalition an. Sie glaubt, Beitragsstabilität mit einem Globalbudget zu erreichen, welches lediglich an die jährliche Steigerungsrate der Grundlohnsumme gebunden ist. ({7}) Bekanntlich haben sich die ökonomischen Rahmenbedingungen für die Finanzierung der Sozialsysteme und damit auch der gesetzlichen Krankenversicherung grundlegend verändert. An die Stelle weitgehender Vollbeschäftigung ist Massenarbeitslosigkeit getreten. Seit Mitte der 70er Jahre sinkt, gemessen am Bruttosozialprodukt, der Anteil der Einkommen der lohnabhängigen Beschäftigten. Statt um jährliche Wachstumsraten bei der Grundlohnsumme von 4 oder 6 Prozent geht es nur noch um bescheidene Zuwächse zwischen 1 oder 2 Prozent. In den neuen Bundesländern wurde 1998 sogar eine rückläufige Entwicklung von minus 0,5 Prozent verzeichnet. Es ist inzwischen eine Binsenweisheit: Die GKV hat nicht nur ein Ausgabenproblem, sondern vor allem ein zunehmendes Einnahmenproblem. ({8}) Das Gesundheitswesen wird auch zukünftig ein Wachstumsbereich bleiben, in dem insbesondere die Zahl der Beschäftigten weiter steigen muß. Dies erfolgt nicht primär als Ergebnis von Steuerungsfehlern, sondern in erster Linie wegen des wachsenden Leistungsbedarfs. Die Vorgängerregierung hat sich zuletzt dafür entschieden, nur noch das Einnahmenproblem zu sehen, und war gewillt, die zusätzlich benötigten Mittel vor allem aus den Taschen der Versicherten und Patienten zu holen. ({9}) Die rotgrüne Koalition zieht es nun unter dem Zwang des wirtschaftsliberalen und unternehmerfreundlichen Gesamtkurses ihrer Regierung vor, nur noch das Ausgabenproblem wahrzunehmen und ab sofort mit harten Budgetierungen zu beginnen. Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Verkennung der ökonomischen Stellung des Gesundheitswesens im Gesamtgefüge der Wirtschaft. Es ist nun einmal ein klassischer personenbezogener Dienstleistungssektor mit wachsendem und überwiegend hochqualifiziertem Beschäftigungsanteil. Die Möglichkeiten, durch Produktivitätssteigerungen Arbeitskräfte freizusetzen, sind äußerst begrenzt. ({10}) Es scheint die Koalition auch nicht zu irritieren, daß die verheerenden Folgen dieser Politik schon im laufenden Jahr sichtbar werden. Vor allem in Ostdeutschland sind die Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen gegenwärtig mit ernsten Finanzierungsengpässen konfrontiert, die sich aus der schon für 1999 festgelegten grundlohnorientierten Budgetierung ergeben mußten und die durch aktuelle Tarifabschlüsse noch erheblich verschärft wurden. ({11}) Die Folgen sind Androhung von Personalabbau und weiteren Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen sowie von Abstrichen bei der medizinischen Leistungsfähigkeit. Schon jetzt wächst der Widerstand gegen diese Art von Gesundheitspolitik. Man kann der Bundesregierung nur raten, die Forderungen der Beschäftigten ernst zu nehmen. ({12}) Notwendig ist unseres Erachtens, daß noch für 1999 Möglichkeiten eröffnet werden, den medizinisch unabweisbaren Versorgungsbedarf zusätzlich zu vergüten. Hier handelt es sich nicht, wie Sie sagten, Kollege Dreßler, um Verschwendung; denn in den neuen Bundesländern ist schon viel geschehen. Das hat eine andere Ursache. Hier muß etwas passieren. ({13}) Darüber hinaus muß sich die Bundesregierung den besonderen Finanzierungsproblemen des Gesundheitswesens in Ostdeutschland mit größerer Konsequenz stellen. Sie muß den Finanzausgleich zwischen West und Ost deutlich verbessern und endlich die nicht mehr zu vermittelnde Ungleichbehandlung der Gesundheitseinrichtungen in Ostdeutschland beenden. Bekanntlich hat die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern angekündigt - es gibt auch entspreDr. Ruth Fuchs chende Signale aus anderen neuen Bundesländern -: Wenn sich nicht etwas ändert - im Ausschuß wurde versprochen, daß sich etwas tut -, ({14}) wird sie diesem Gesetz ihre Zustimmung verweigern. Wir haben natürlich nicht übersehen, daß der Budgetentwicklung künftig in Ost und West der gemeinsame durchschnittliche Grundlohnsummenanstieg zugrunde gelegt werden soll. Aus unserer Sicht werden damit allerdings die Probleme weder für den Osten noch für den Westen befriedigend gelöst. In seinen tatsächlichen Auswirkungen bedeutet dies lediglich, daß künftig beide Teile gleichermaßen mit einem knallharten Sparprogramm für das Gesundheitswesen überzogen werden - auf Verlangen der Wirtschaft und im Zeichen der neoliberalen Angebotspolitik à la Schröder und Blair. Das sollte man, so glaube ich, ändern. Es ist in unseren Augen ein Grundfehler dieser Reform, daß sie entschieden zuviel von wirtschaftspolitischen Erwägungen und zuwenig von gesundheitspolitischen Notwendigkeiten geprägt ist. ({15}) Dazu paßt im übrigen auch, daß die Koalition den Schwarzen Peter für die Budgeteinhaltung allein den Leistungserbringern zuweist, ({16}) während sie bisher der Dominanz und dem Profitstreben der medizinischen Großindustrie nicht allzu nahe getreten ist. Es nützt auch gar nichts, wenn Herr Dreßler an die Verantwortung der Pharmaindustrie appelliert. Wir fragen: Wo bleibt das Bemühen der Regierung um die Senkung der zu hohen Sachkosten im Gesundheitswesen, beispielsweise durch Druck auf überhöhte Arzneimittelpreise? Wo bleibt der Ansatz einer möglichen Senkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel? Das scheint angesichts der Streichaktion von Herrn Eichel für Sie überhaupt nicht mehr diskussionswürdig zu sein. Wo bleibt das Bemühen, Fortschritte bei der Großgeräteplanung durchzusetzen? Dies sucht man in diesem Gesetz vergebens. ({17}) Meine Damen und Herren, bleibt es allein bei der bisherigen Finanzierung des Gesundheitswesens, dann wird die Schere zwischen Kosten und Beitragseinnahmen rasch weiter auseinandergehen. ({18}) Beitragssatzstabilität um jeden Preis, wie es der Koalition als oberstes Ziel ihrer Reform vorschwebt, wird so nicht zu haben sein. Das Gesundheitswesen braucht nicht nur Strukturreformen, um medizinisch unnötige Ausgaben möglichst zu vermeiden und vorhandene Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen. Es braucht zugleich eine Erweiterung der Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung. Davon ist im Gesetzentwurf allerdings nirgendwo die Rede. Beitragssatzstabilität kann gewährleistet werden, wenn die Solidargemeinschaft der Versicherten schrittweise finanziell gestärkt wird. Diesem Ziel dienen beispielsweise die Anhebung der Grenze der Versicherungspflicht und die Einbeziehung aller Bevölkerungsschichten, auch der Selbständigen, der Beamten und der Abgeordneten, in die GKV im Sinne einer allgemeinen Versicherungspflicht. ({19}) Aber diese Gedanken scheinen bei der sozialdemokratischen Partei und bei den Grünen auch nicht mehr zur Diskussion zu stehen, und es gibt nur noch das Entweder-Oder: Es gibt entweder die Zuzahlung der Patienten oder eine strenge Budgetierung. Ich denke, über den von mir angesprochenen Weg sollten wir nachdenken; er ist der richtige. Zugleich wird es nötig sein, gesundheitliche Leistungen stärker auch aus Steuermitteln mitzufinanzieren. Das ist allerdings genau das Gegenteil von dem, was die Koalition jetzt bei der Finanzierung der Investitionen der Krankenhäuser vorhat, wo der Staat massiv weiter aus seiner finanziellen Verantwortung für die gesundheitliche Daseinsvorsorge entlassen werden soll. Im übrigen gilt für das Gesundheitswesen und die gesetzliche Krankenversicherung ebenso wie für die anderen sozialen Sicherungssysteme aus unserer Sicht: Wer ihren solidarischen Charakter bewahren will, muß künftig die Einnahmen von ihrer alleinigen Lohnbezogenheit lösen und sie stärker beispielsweise an die Wertschöpfung binden. ({20}) Er muß die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen und den gesellschaftlichen Reichtum gerechter verteilen. Ich fasse abschließend zusammen: Der Reformentwurf von Rotgrün weist unseres Erachtens im Blick auf die anstehende Reform der Strukturen im Gesundheitswesen eine Reihe richtiger Ausgangspunkte und Ziele auf. Unserer Meinung nach greift er jedoch zu kurz, und gerade das andere große Problem, die Reform der Grundlagen der Finanzierung des Gesundheitswesens, bleibt völlig ausgeklammert. Das müßte sich ändern. Ein weiteres Manko besteht unserer Meinung nach darin, daß die Reform in ihren Prämissen und Zielen nahtlos in die wirtschaftsliberale Gesamtpolitik der rotgrünen Regierung eingeordnet ist. Einer qualitativ hochstehenden und vor allen Dingen humanen Gesundheitsversorgung kann dies nicht dienlich sein. Ich hoffe, daß wir im Verlauf der parlamentarischen Beratungen zu Veränderungen kommen werden. ({21}) Dann werden wir sehen, wie wir uns entscheiden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Für die PDS ist in unserem Entwurf zuviel Streben nach Wirtschaftlichkeit und nach Wettbewerb enthalten, für die F.D.P. zuwenig. ({0}) Ich denke, daß die Wahrheit in der Mitte liegt. ({1}) Einig sind wir uns hier alle zumindest in dem Punkt, daß wir ein sehr gutes Gesundheitssystem haben ({2}) und daß es gilt, es weiterzuentwickeln, den Anforderungen anzupassen und für die Zukunft zu sichern. Das, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wird uns nicht allein mit dem Slogan „mehr Geld ins System“ gelingen. ({3}) Dies wird uns letztendlich nur dann gelingen, wenn wir Verbesserungen der Qualität und einen zielgenauen Einsatz der Mittel erreichen. ({4}) Das sind wir, denke ich, letztendlich den Versicherten und auch den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die die Beiträge zur Krankenversicherung aufbringen, schuldig. Im Gegensatz zur F.D.P. fühlen wir uns nicht ausschließlich der Einkommenssituation einiger im Gesundheitswesen Tätiger verpflichtet. ({5}) Das Geld, das wir zur Verfügung haben, muß so eingesetzt werden, daß wir eine patientenorientierte Medizin mit hohem Qualitätsanspruch bekommen. Das Hauptanliegen dieses Gesetzes ist es daher, eine Unterversorgung zu vermeiden und die Überversorgung abzubauen, so daß wir die Unterversorgung hinter uns lassen und eine vernünftige Versorgung gestalten können. Es gibt in unserem Gesundheitssystem Überversorgung. Von ihr kann man dort sprechen, wo im erheblichen Umfang solche Leistungen erbracht werden, die medizinisch nicht erforderlich sind. Ich will einige dieser Bereiche ansprechen. In der invasiven Kardiologie werden in Deutschland so viele Linksherz-Katheteruntersuchungen vorgenommen wie in keinem anderen Industrieland. Diese Eingriffe sind für Patientinnen und Patienten nicht ohne gesundheitliches Risiko; sie können zum Herzinfarkt führen. Das heißt, die Vermeidung unnötiger Eingriffe in diesem Bereich spart nicht nur Beitragsgelder ein; sie ist zugleich auch ein Akt des Patientenschutzes. ({6}) Ein zweites Beispiel. Wir sind in Europa dasjenige Land - darauf machte jüngst die entsprechende Fachgesellschaft aufmerksam -, in dem - das bezieht sich jetzt auf die Teilgebietsradiologie - am meisten geröntgt wird. Auch unter dem Gesichtspunkt des Schutzes vor unnötiger Strahlenbelastung liegt eine Änderung im Interesse des Patienten. Untersuchungen des Medizinischen Dienstes weisen ferner darauf hin, daß in vielen Krankenhäusern zwischen 10 und 30 Prozent der Patientinnen und Patienten ohne medizinische Notwendigkeit stationär aufgenommen werden. Das liegt nicht alleine im Handeln der verantwortlichen Ärzte begründet, sondern im wesentlichen darin, daß zwischen der Krankenhausversorgung und der Versorgung in der Arztpraxis eine absolute Trennung herrscht. Neben dieser Überversorgung gibt es aber auch eine Unterversorgung, speziell im Bereich von chronisch kranken Patienten. Ich möchte dabei auf das Beispiel der Diabetes verweisen. Zur Prävention, Diagnostik und Behandlung dieser Erkrankungen liegen eindeutige, wissenschaftlich abgesicherte medizinische Erkenntnisse vor. Würden diese tatsächlich umgesetzt, könnte ein erheblicher Teil der Erkrankungen vermieden, die Krankheitsverläufe in ihrem Schweregrad positiver gestaltet, das heißt abgemildert werden, und viele Folgeerkrankungen wie Erblindungen, Beinamputationen, Nierenversagen mit der Notwendigkeit von Dialyse träten nicht auf. Das ist relativ lange bekannt. Der Sachverständigenrat hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine systematische Umsetzung der vorhandenen Erkenntnisse zu einer sehr stark verbesserten Versorgungssituation führen würde. Aber in der Situation optimaler Versorgung sind leider nur 20 Prozent der betroffenen Patientinnen und Patienten. Mit dem Weg, den wir einschlagen wollen, verfolgen wir das Ziel, diesen Prozentsatz zu erhöhen. Dazu brauchen wir Strukturreformen. Als erstes müssen wir die starren Grenzen zwischen den einzelnen Sektoren im Gesundheitswesen auflösen. ({7}) Das Gesundheitssystem muß sich künftig an den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten orientieren und nicht an der Ausgestaltung unserer sektoralen Budgets. Es müssen Anreize zur Errichtung qualitätsgesicherter Behandlungsketten quer durch alle Sektoren gebildet werden. Für alle Beteiligten, die dort arbeiten, muß das Erbringen von medizinischen Leistungen, die nicht unbedingt notwendig sind, unattraktiv sein. In diesem Zusammenhang möchte ich nur daran erinnern, daß für das gleiche Krankheitsbild oftmals an verschiedenen Orten Doppeluntersuchungen in einem Maße vorgenommen werden, das einfach nicht mehr vertretbar ist. Diese Erkenntnisse über die Defizite in unserem System hatten auch Sie schon, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, und zwar zu einer Zeit, als Sie noch bereit waren, über Strukturreformen zu diskutieren. Sie haben sich dann allerdings dafür entschieden, auf Strukturreformen zu verzichten und diese durch erhöhte Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten zu ersetzen. ({8}) Durch Ihre Haltung haben Sie wertvolle Jahre für eine Reform verstreichen lassen. Sie haben falsche Signale gesetzt. In der Zwischenzeit sind die Probleme gewachsen. Ihre Signale waren letztlich: Laufen lassen, mehr Geld ins System durch Erhöhung der Zuzahlungen bei Patientinnen und Patienten. ({9}) - Wenn Ihnen ein Minus drohte, haben Sie das nicht über Strukturreformen zu verhindern versucht, sondern nur bei Patientinnen und Patienten abkassiert. ({10}) Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, daß Sie abkassiert haben: durch erhöhte Zuzahlungen bei Arzneimitteln, bei Krankenhausaufenthalten, bei Mütterkuren, bei Rehabilitationsmaßnahmen, bei Heil- und Hilfsmitteln. ({11}) Sie haben Leistungen ausgegrenzt. Im Bereich der Rehabilitation hat es dramatische Einschränkungen gegeben. Sie haben Tausende von Arbeitsplätzen nicht nur gefährdet, sondern vernichtet. ({12}) Jetzt legen Sie einen Antrag vor, der all das, was Sie einmal gefordert haben, konterkariert. ({13}) Sie erwarten, daß wir jetzt das, was Sie in den letzten Jahren in der Rehabilitation kaputtgemacht haben, auf einen Schlag wieder reparieren können. Im Gesundheitswesen einmal Zerstörtes ist nicht in ein paar Wochen zu reparieren. Dazu werden wir Jahre brauchen. ({14}) Sie sind dann bei einer Gruppe, von der Sie glaubten, daß sie sich nicht wehren kann, den zweiten Weg gegangen: Sie haben den Zahnersatz bei Jugendlichen gestrichen. Wir haben in diesem Bereich inzwischen alles korrigiert. Wir haben die Zuzahlungen dort zurückgeführt, wo sie im wesentlichen chronisch Kranke belastet haben. Dort hätten wir gerne mehr gemacht, aber aus Gründen der Finanzverantwortung war das jetzt nicht möglich. ({15}) Nun möchte ich etwas zu Ihren Privatisierungsmaßnahmen sagen. Sie haben nichts anderes getan, als im Bereich des Zahnersatzes Kostenerstattungen einzuführen. Das hat dazu geführt, daß die Leistungen um 30 Prozent zurückgegangen sind. ({16}) Wir wissen heute noch nicht, ob der Bedarf tatsächlich zurückgegangen ist oder ob sich die Menschen die privatärztlichen Rechnungen nicht mehr leisten konnten. Das hat aber dazu geführt, daß im Bereich der Zahntechnik nicht nur 30 Prozent, sondern im Osten sogar 40 Prozent der Arbeitsplätze vernichtet worden sind. ({17}) Wir haben gestern mit den Zahntechnikern aus Ostdeutschland gesprochen. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg, einen Lösungsansatz für sie zu finden, mit dem eine Preissenkung vermieden werden kann. ({18}) Mit all den von Ihnen getroffenen Maßnahmen haben Sie letztendlich eines gemacht: Sie haben die Akzeptanz des Gesundheitssystems beschädigt. Wir haben jetzt die Verantwortung, sie wiederherzustellen. Das heißt, wir stehen vor der Notwendigkeit, strukturelle Reformen durchzuführen, und wir müssen dafür sorgen, daß das Geld dort hingelenkt wird, wo es gebraucht wird, und die Qualität der Gesundheitsleistungen und der Krankenversorgung weiter verbessert werden kann. Einige Ihrer Maßnahmen haben wir bereits mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz zurückgenommen. Wir haben zum Beispiel durch Einführung eines dauerhaften Finanzausgleichs, den wir einmal gemeinsam beschlossen haben, ein Stück mehr Solidarität mit dem Osten unseres Landes realisiert. ({19}) - Wir mußten es nicht nur, wir wollten es auch. Wir haben in dem neuen Gesetz eine gemeinsame Grundlohnsumme für Ost und West festgelegt; denn wir haben - ich sage es sehr offen - aus den Erfahrungen mit der negativen Grundlohnsumme im Osten gelernt. Wir haben ferner in dem Gesetzentwurf festgelegt, daß die Patientinnen und Patienten aus Ostdeutschland auch in Westdeutschland gesundheitliche Leistungen in Anspruch nehmen können. Wir wissen, daß die schwierige finanzielle Situation der ostdeutschen Krankenkassen trotz der bisher geleisteten milliardenschweren Hilfen dringend Handlungsbedarf erfordert. Die Staatssekretäre der neuen Bundesländer stehen in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung. ({20}) - Sonst ist Ihnen immer alles zu früh, was wir machen. Wir werden versuchen, bis Ende August eine Lösung zu finden, die die Situation der Kassen, die die Situation der Krankenhäuser, aber auch die zukünftige ZusamGudrun Schaich-Walch menführung von Ost und West auf gleichem Niveau gewährleistet. ({21}) Wir haben vor der Wahl nicht nur versprochen, daß wir einige Dinge, wie die Streichung des Zahnersatzes für Jugendliche und den Kostenanstieg der Zuzahlungen in Verbindung mit Beitragssatzsteigerung, zurücknehmen, sondern wir haben auch angekündigt, daß wir notwendige Strukturreformen durchführen werden, um die Versorgung der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Ein Kernelement unseres Gesetzentwurfs ist, den Krankenkassen die Möglichkeit zu geben, mit den im Gesundheitswesen tätigen Ärztinnen und Ärzten, aber auch Physiotherapeuten, Rehabilitationseinrichtungen, Krankenhäusern und Apotheken Versorgungsnetze zu bilden. Das kann außerhalb der GKV gemacht werden, es muß aber nicht außerhalb der GKV gemacht werden. ({22}) Deshalb glaube ich, daß wir trotz allem den Sicherstellungsauftrag der GKV respektieren. ({23}) - Sie können Vertragspartner sein, wenn sie es wollen. Wir wollen allerdings nicht, daß man derartige neue Behandlungsformen verhindern kann, weil wir davon überzeugt sind, daß wir durch eine bessere Koordination, durch bessere Zusammenarbeit all derer, die im Gesundheitswesen tätig sind, eine in der Qualität sehr viel bessere Versorgung der Patientinnen und Patienten erreichen. ({24}) Wir haben ferner versprochen, den Hausarzt zu stärken. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält Regelungen zur Förderung der Ausbildung von Fachärzten der Allgemeinmedizin und zur Verbesserung der Einkommen und der Arbeitssituation von Hausärzten. Besonders wichtig ist, daß jeder Facharzt, jedes Krankenhaus, jeder Physiotherapeut verpflichtet wird, die Behandlungsdaten seiner Patientinnen und Patienten an den Hausarzt weiterzuleiten. ({25}) Nur das bietet Gewähr dafür, daß der Hausarzt seinen Aufgaben als Koordinator und Lotse im System gerecht werden kann. Wir haben allerdings nicht - was Sie vorhin in einem Redebeitrag unterstellt haben - den freien Zugang zum Arzt, das heißt die Arztwahl beschränkt. ({26}) Wir sind uns dessen sehr bewußt, daß wir ein ausgesprochen gutes Facharztsystem haben, daß der Facharzt weiterhin seine Aufgabe hat. Es ist nur, glaube ich, sehr wichtig, daß der Patient und die Patientin zur rechten Zeit am rechten Ort die notwendige Behandlung finden. ({27}) - Wenn Sie den Ärzten so wenig zutrauen, dann wird es vielleicht eine Sprechblase bleiben. Wir haben da eine etwas andere Einstellung der gesamtdeutschen Ärzteschaft. ({28}) Wir haben in dem Gesetzentwurf ferner vorgesehen, die Gesundheitsförderung zu stärken. Das machen wir zum einen dadurch, daß eigene Verhaltensänderungen und auch die Veränderung der Lebenssituation Zielsetzung der Förderungsmaßnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung sein werden. Das machen wir zum anderen dadurch, daß wir die betriebliche Gesundheitsvorsorge, die seit 1997 nicht mehr möglich war, wieder einführen, weil wir glauben, daß es besser ist, mehr Geld für die Vermeidung von Erkrankungen aufzuwenden als für deren Reparatur. ({29}) Ich möchte noch etwas dazu sagen, wie das Geld zur Verfügung gestellt wird. Der vorgelegte Gesetzentwurf definiert für alle Krankenkassen eine Ausgabenobergrenze; das ist korrekt. Aber was Sie hier permanent unterschlagen, ist die Tatsache, daß es eine jährliche Steigerungsrate dieses Budgets gibt, und zwar entsprechend den beitragspflichtigen Löhnen und Gehältern. ({30}) Da sind wir im Moment bei 1,7 Prozent, Herr Zöller. Das bedeutet: Im Durchschnitt wird es in den nächsten Jahren jährlich 4 Milliarden bis 5 Milliarden DM mehr für die Versorgung der Gesundheit in der Bundesrepublik geben. ({31}) Diese 4 Milliarden bis 5 Milliarden DM stehen in diesem System zur Verfügung. Ich glaube, wenn man damit vernünftig umgeht, kann man die Gesundheitsversorgung in diesem Land über einen sehr langen Zeitraum leisten. Sie haben in Ihren Gesetzen folgendes Perfide gemacht: ({32}) - Ich hoffe, daß wir die auch wieder haben werden. ({33}) Sie haben ein Budget eingeführt, haben es aber nicht ehrlich gesagt. Sie haben vielmehr gesagt: Wenn eine Krankenkasse erhöhte Ausgaben hat, weil sie zum Beispiel ein ganz besonders hohes Risiko bei Ihren Versichertengruppen hat, dann müssen die Patienten diese Mehrbelastung der Krankenkasse durch erhöhte Zuzahlungen tragen. ({34}) Das ist bei Krankenkassen, die im Wettbewerb stehen, ein Knebelungsinstrument par excellence. Das verschweigen Sie. ({35}) Dieses Instrument haben wir abgeschafft. Ich denke, jedes Wirtschaftsunternehmen würde sich freuen, wenn es jetzt noch immer eine Zuwachsrate von nahezu 2 Prozent hätte. ({36}) Nun möchte ich noch etwas zur Qualitätssicherung sagen. Der Gesetzentwurf enthält die Verpflichtung für alle im Gesundheitswesen Tätigen, sich an qualitätssichernden Maßnahmen zu beteiligen. Er benennt Verantwortliche für die Definition von Qualitätsstandards und für die Durchführung von Qualitätsprüfungen. In Zukunft wird es also sehr viel einfacher sein, an Hand dieser Qualitätsstandards zu einer Mengenbegrenzung bei Leistungen zu kommen, die nicht notwendig oder im Sinne des Patientenschutzes sogar bedenklich sind. Wir werden auf diesen Bereich der Qualitätssicherung nicht verzichten können; er ist ein Kernpunkt unseres Gesetzentwurfs. Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der meiner Meinung nach geeignet ist, längst überfällige Strukturveränderungen ({37}) zu bewerkstelligen und die medizinische Versorgung zu gewährleisten. ({38}) - Auch wenn Sie jetzt so aufgebracht sind, ({39}) habe ich trotzdem die Bitte an Sie und an die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen, mit uns eine konstruktive, zielführende Diskussion zu führen. Dieses Angebot gilt auch für die Patientinnen und Patienten, die in Selbsthilfeorganisationen oder Patientengruppen tätig sind. Letztendlich richtet es sich auch an diejenigen, die in unserem Gesundheitssystem arbeiten. Ich danke Ihnen. ({40})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Bergmann-Pohl, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute von den Koalitionsfraktionen als Strukturreform 2000 im Gesundheitswesen vorgelegt bekommen haben, übertrifft alle meine Befürchtungen. ({0}) 1990 habe ich mich mit Engagement der Aufgabe gewidmet, einen Staat zu überwinden, der durch Planwirtschaft, zentralistische Strukturen und ein ausgefeiltes Überwachungssystem die Bürger in eine ausweglose Situation geführt hatte. Leider muß ich der „Ärzte Zeitung“ zustimmen, wenn sie kommentiert, daß sich die ehemaligen DDR-Bürokraten, die ihre Republik bis heute so schmerzlich vermissen, jetzt glücklich schätzen können, daß man in der Bundesrepublik die Planwirtschaft im Gesundheitswesen einführt und so der Sozialismus jedenfalls in diesem Bereich doch noch zu einem späten Erfolg kommt. ({1}) Frau Ministerin Fischer, haben Sie eigentlich schon einmal bemerkt, daß kaum jemand Ihre Gesundheitsreform begrüßt, nicht einmal diejenigen, ({2}) die nach Ihrer Ansicht davon profitieren sollen? Man höre und staune: Nicht einmal die Hausärzte sind mit diesem Gesetzentwurf so richtig einverstanden. Dank des Globalbudgets, das von Ihrer Koalition neu eingeführt werden soll, kommen Sie in Deutschland zu einer Zweiklassenmedizin: die erste Klasse für die Privatversicherten und die zweite Klasse für die gesetzlich Versicherten, aber zum Preis der ersten Klasse. ({3}) Die Deckelung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung steht in krassem Gegensatz zu den Herausforderungen der gesetzlichen Krankenversicherung, die auch Herr Schröder, jedenfalls nach dem SchröderBlair-Papier, ({4}) bei der Reform des Gesundheitswesens berücksichtigen will. Die Menschen in Deutschland werden immer älter; dank des medizinischen Fortschritts kostet das aber auch mehr, es sei denn, wir wollten die älteren Menschen vom medizinischen Fortschritt abkoppeln, wie es in England gemacht wird. ({5}) Eines wird die Bundesregierung damit auch erreichen: Sie wird die Folgen der Morbiditäts- und der demographischen Entwicklung auf die Leistungserbringer abwälGudrun Schaich-Walch zen. Das muß letztendlich zu Lasten der Versicherten gehen. Aber es gibt auch noch andere Verlierer Ihrer Gesundheitsreform. ({6}) Infolge Ihrer Gesetze rechnet man in Deutschland mit dem Verlust von mindestens 10 000 Arbeitsplätzen nur bei den niedergelassenen Ärzten. Das bedeutet einen Mitarbeiter pro Arztpraxis, und auch das wird sich auf die medizinische Versorgung der Patienten auswirken. ({7}) Die Politik sollte den Mut haben, deutlich zu machen, daß, bedingt durch den medizinischen, medizinischtechnischen Fortschritt und die demographische Entwicklung, bei begrenzten Finanzen der Krankenversicherung entweder der Leistungskatalog auf den Prüfstand gestellt und die Eigenverantwortung gestärkt werden müssen oder eine Verbreiterung der finanziellen Basis notwendig ist. ({8}) Ich wage zu bezweifeln, daß wir über nennenswerte Rationalisierungsreserven verfügen, die global durch gesetzliche Zwangsvorlagen zu erschließen sind. ({9}) Deutschland ist ein Sozialstaat, aber kein sozialistischer Staat mit einer Entmündigung durch eine Staatsmedizin. ({10}) Schröder und Blair führen in ihrem berühmten Papier aus: „Innerhalb des öffentlichen Sektors müsse es darum gehen, Bürokratie auf allen Ebenen abzubauen“. Wie wahr! Aber was tut die Bundesregierung mit ihrer Gesundheitsreform? ({11}) Sie schafft ein Berichtsunwesen ohnegleichen. Sie versucht mit einem wilden Gestrüpp bürokratischer Vorschriften, mit Budgetwirrwarr, mit einer Entmachtung der Selbstverwaltung und mit einem ins uferlose gehenden Berichtswesen davon abzulenken, daß am Ende der Patient die Zeche zahlen muß. ({12}) Nun ein paar konkrete Beispiele. Sie nennen es Stärkung der hausärztlichen Versorgung. Aber was tun Sie tatsächlich? Eine bessere Koordinierung zwischen Haus- und Facharzt einerseits und stationärer Versorgung andererseits ist ja zunächst durchaus wünschenswert. Aber sind diese Bürokratie, die Vermehrung der Paragraphen und die Gängelung der Ärzte und der Versicherten notwendig? Einer repräsentativen Umfrage des „Wido“ aus dem Jahre 1995 zufolge haben bereits 94,8 Prozent der Befragten einen Hausarzt. ({13}) Laut Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung und Gesundheitsforschung, München, liegt der Anteil der Patienten, die in einem Quartal parallel bei mehr als drei Fachärzten und bei mehr als zwei Allgemeinmedizinern in Behandlung waren, unter 3 Prozent. Ich wiederhole: unter 3 Prozent. ({14}) Keiner hat doch etwas gegen Befundübermittlung. Aber Sie schaffen für die Ärzte eine Verpflichtung zu übermäßiger Bürokratie, und zwar vor allem durch die Neufassung der Wirtschaftlichkeitsprüfung. ({15}) Sie nehmen - das ist das schlimmste, Frau SchaichWalch - den Ärzten die Zeit für die Patienten. Sie erreichen mit Ihren Regelungen, daß der Patient nur noch verwaltet und nicht mehr behandelt wird. ({16}) Sie nennen es Integrationsversorgung. Aber was tun Sie tatsächlich? Niemand wird widersprechen, wenn die Aufgabentrennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung gezielt durchbrochen werden soll. Aber was tun Sie? Sie lassen es zu, daß die Krankenkassen mit einzelnen Vertragsärzten, Gemeinschaften dieser Leistungserbringer, Krankenhäusern sowie Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen Versorgungsverträge abschließen können. Daraus ergibt sich das Ziel dieser Versorgungsform, welches sich wie ein roter Faden durch Ihr Konzept zieht: Alle Macht den Krankenkassen und Einkaufsmodelle durch die Hintertür. ({17}) Die Beteiligung und der Sicherstellungsauftrag der kassenärztlichen Vereinigungen werden dabei systematisch ausgehöhlt. Die Öffnung der Krankenhäuser für die ambulantfachärztliche Versorgung birgt auch die Gefahr der allmählichen Aushöhlung der fachärztlichen Versorgung durch niedergelassene Ärzte. ({18}) In Berlin verfolgt man zum Beispiel jetzt schon durch Grünen-Politiker dieses Ziel konkret in einem Modellversuch. Für den Versicherten - um den geht es Ihnen doch angeblich ({19}) wird das System immer unübersichtlicher. Denn die mühsam gewonnenen Strukturveränderungen durch Praxisnetze und andere Modelle werden plötzlich in Frage gestellt. Die stärkste Einschränkung der Versichertenrechte findet man aber ganz versteckt in einer Satzungsmöglichkeit für die Krankenkassen, mit der es darum geht, „die Rechte und Pflichten der Versicherten“ bei Teilnahme an der Integrationsversorgung festzulegen. Das ist eindeutig eine Beschneidung des Rechtes des Versicherten auf freie Arztwahl. ({20}) Eine Mehrheit der Bürger legt aber großen Wert auf dieses Recht. Ob der Versicherte, gelockt durch günstige Angebote und Preisnachlässe der Krankenkassen, dies tatsächlich überblickt, wenn er sich für die Integrationsversorgung entscheidet, wage ich zu bezweifeln. ({21}) Im Einzelfall, Frau Schaich-Walch, kann das nämlich heißen: Die Krankenkasse schreibt einer Patientin vor, welchen Gynäkologen, welchen Hausarzt, welchen Facharzt sie aufzusuchen hat. ({22}) - Natürlich. Anders kann Ihr System doch gar nicht funktionieren. ({23}) Nun zu den Qualitätssicherungsmaßnahmen. Gegen Qualitätssicherung kann man ja eigentlich nichts einwenden. Da wird aber gefordert, daß Leistung in der fachlich gebotenen Qualität wirtschaftlich erbracht werden muß. Die Bundesärztekammer spricht mit Recht von der Quadratur des Kreises. Was soll denn nun eigentlich im Vordergrund stehen: die Qualität oder die Wirtschaftlichkeit? ({24}) - Frau Schaich-Walch, Sie und die Frau Ministerin haben heute deutlich gemacht, was das bedeutet: daß der Staat und Bürokraten in Zukunft den medizinischen Fortschritt festlegen werden ({25}) und daß der Staat zum Beispiel festlegen wird, ob ein Patient ein Linksherzkatheter bekommt oder nicht. Nicht die Ärzte werden die Indikation stellen, sondern Sie wollen sie stellen. ({26}) Welcher Arzt soll denn noch durchblicken bei dem ganzen Budgethorror wie Gobalbudget, Arznei- und Heilmittelbudget, Krankenhausbudget, Hausarztbudget, Facharztbudget, Zahnarztbudget und kombinierte Budgets bei Integrationsversorgung? Der Arzt wird nicht mehr alles verordnen können. Er wird auch nicht mehr den medizinischen Fortschritt an die Versicherten weitergeben können. ({27}) Warum akzeptieren Sie denn nicht die von uns verfolgten sinnvollen Ansätze von Regelleistungsvolumina, Richtgrößen und auch einer sozialverträglichen Zuzahlung? ({28}) Die Auswirkungen auf die neuen Bundesländer werden dabei noch gravierender sein. Dank unserer bisherigen Gesundheitspolitik gibt es bei den Krankenkassen Finanzreserven. ({29}) In den alten Bundesländern sind das 9,2 Milliarden DM. Allerdings sieht es in den neuen Bundesländern auf Grund der negativen Einnahmeentwicklung und des fehlenden gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs nicht so gut aus. Dort haben die Krankenkassen Schulden in Höhe von 1,7 Milliarden DM. Glauben Sie, daß Ihre geplanten halbherzigen Maßnahmen die Probleme der neuen Bundesländer lösen? Auch die Entfristung des Finanzstärkungsgesetzes mit dem Entfallen der finanziellen Obergrenze wird nicht den gewünschten Erfolg haben. ({30}) Die Versicherten in den neuen Bundesländern werden die Scheinheiligkeit Ihrer Bemühungen bald durchblikken. ({31}) Sagen Sie einmal, was Sie sich eigentlich bei der Erweiterung der Aufgabe des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zu einer Superbehörde gedacht haben! ({32}) Wer hat Ihnen eigentlich diesen Floh ins Ohr gesetzt? Der MDK wird in Zukunft Zugriff auf alle medizinischen Leistungsdaten im ambulanten und stationären Bereich haben. Er wird auch Kontrollbehörde für die Versicherten werden. Ziel ist natürlich der gläserne Patient beim Arzt und im Krankenhaus. Wer aber kontrolliert eigentlich die Qualität dieser Mammutbehörde, und was kostet der ganze Spaß eigentlich? Das haben Sie uns nicht gesagt. ({33}) Meine Damen und Herren, kaum zu glauben: Zum Abschluß etwas Positives. Sie haben die richtigen Weichen in der Rehabilitation gestellt. Die Trennung und Klarstellung der Begriffe Vorsorge und Rehabilitation erschien mir schon immer wünschenswert. Auch die Qualitätssicherungsmaßnahmen sind zu begrüßen. Eines aber haben Sie verpaßt, nämlich für ein stärkeres Zusammenwirken der Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung zu sorgen. Es ist für die Qualitätssicherung und die betroffenen Versicherten, aber auch für die Einrichtungen nicht mehr nachvollziehbar, daß bei der Rehabilitation zwischen der Rentenversicherung und der Krankenversicherung nicht verbindliche gemeinsame Qualitätskriterien und Rahmenempfehlungen, zum Beispiel unter dem Dach der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, erarbeitet werden. ({34}) Aus meiner Sicht ist dies nur ein halbherziger Schritt. ({35}) Meine Damen und Herren, insgesamt ist dieser Gesetzentwurf nicht geeignet, die Probleme der Zukunft im Bereich der Solidargemeinschaft zu lösen. Sie werden schon gar nicht das angestrebte Ziel erreichen, die Sozialversicherungsbeiträge bei gleichbleibender Qualität der medizinischen Versorgung zu senken. Sie werden mit diesem Gesetzentwurf nur eines erreichen: Beitragsanhebung, Rationierung und Zweiklassenmedizin. Die Hauptverlierer der Reform sind die Kranken.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Letzter Satz. Unsozialer geht es eigentlich nicht mehr. Aber es ist konsequent, da dieses Ergebnis der Zielrichtung des Schröder/Blair-Papiers entspricht. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Frau Dr. Bergmann-Pohl, Sie haben davon geredet, daß wir mit diesem Gesetzentwurf die Reglementierung auf die Spitze treiben würden. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich empfehle Ihnen die Lektüre des „Handelsblatts“ - des „Handelsblatts“ und nicht des „Neuen Deutschlands“! - von heute. ({0}) Darin können Sie nachlesen, daß sich gerade diejenigen, die von dieser Reform profitieren werden, auch heute schon dem Wettbewerb im System stellen, einem Wettbewerb übrigens, den Sie immer wieder in die Schranken gewiesen haben. Ich glaube, wenn Sie das gelesen haben, werden Sie Ihre Meinung wohl ändern müssen, zumindest nach innen; ob Sie das nach außen zugeben können, werden wir noch sehen. ({1}) Ein zweiter Punkt. Sie haben gesagt, Qualität und Wirtschaftlichkeit zu prüfen sei Reglementierung. In wessen Sinne prüfen wir denn Qualität und Wirtschaftlichkeit, bitte schön? Wir tun das doch ganz sicher, damit Patientinnen und Patienten wissen, worauf sie sich einlassen können, und damit Patientinnen und Patienten in vollem Umfang, in hoher Qualität und mit Wirtschaftlichkeit - die sich am Ende doch auf das Gesamtsystem auswirkt - betreut werden können. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gesundheitsreform 2000 ist auf den Weg gebracht. Mit dem vorliegenden Entwurf wird dem Reformbedarf im System Rechnung getragen. Vor allem wird dafür gesorgt, daß das solidarisch finanzierte System auch langfristig bestehen kann. Es gibt viele Erwartungen an diese Reform, und es gibt auch viele Befürchtungen. Die zum Teil äußerst harsch vorgebrachte Kritik ist inzwischen in konstruktive Zusammenarbeit mit den meisten der Beteiligten umgewandelt worden. Bedauerlich ist nur, daß Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, mit Ihren hohlen Parolen und Anwürfen ein bißchen hinter der Zeit sind. ({3}) Erst wenn es gelingt, ein System zu gestalten, in dem nicht Leistungserbringer auf der einen und Kassen auf der anderen Seite miteinander aushandeln, womit Versicherte und Patienten am Ende irgendwie klarkommen müssen, werden wir tatsächlich von Solidarität reden können. Was in der Liebesbeziehung meistens nicht funktioniert, ist dabei das Ziel: ein kreatives Dreiecksverhältnis, in dem Leistungserbringer, Kassen sowie Patientinnen und Patienten gleichberechtigt sind. ({4}) Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt zu stellen und die Beitragszahler nicht über Gebühr zu beanspruchen, das ist der Geist des Gesetzes. Dafür legen wir uns übrigens auch gern mit denen an, die am System beteiligt sind. Dabei geht es nicht darum, denjenigen, die im Gesundheitssystem arbeiten, irgendwie den Schwarzen Peter zuzuschieben. Im Gegenteil: Wir wissen und gehen davon aus, daß dort Arbeit mit hoher Qualität erbracht wird. Wir wissen und gehen davon aus, daß der Wettbewerb um Qualität innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen gefördert werden muß und nicht behindert werden darf. Dieser Wettbewerb wird am Ende den Patientinnen und Patienten zugute kommen. ({5}) Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt der Befürchtungen der Leistungserbringerseite kommen. Die Gesundheitspolitiker der Koalition haben - zu Recht, wie ich finde - am Anfang ihrer Beratungen die Verabredung getroffen, daß bei der Erarbeitung des Gesetzes die Reform im System und die zu erschließenden Einsparmöglichkeiten Priorität haben. Heute stehen wir vor der Situation, daß insbesondere Krankenhausträger hergehen und uns sagen, jede weitere Einsparung würde automatisch mit Kündigungen einhergehen, und der Personalabbau würde sich selbstverständlich zuvörderst im Bereich der Pflegekräfte abspielen. Ich halte diese Debatte aus drei Gründen für verlogen. Erstens. Wenn man mit Pflegekräften spricht, so stellt man fest, daß sie es sind, die sehr klare Vorstellungen davon haben, wie Ressourcen etwa im Ablauf des Krankenhausbetriebes zu erschließen sind: zum Beispiel, indem Patientinnen und Patienten bewußt mobilisiert und am Heilungsprozeß beteiligt werden und indem es innerhalb eines Hauses Flexibilität zwischen den Stationen gibt. Das sind alles Vorschläge, die ich höre und bei denen ich mich frage, warum wir uns eigentlich noch Krankenhausstrukturen leisten können, in die die planerische Kompetenz der Pflegenden nur außerordentlich unzureichend einfließen kann. ({6}) Zweitens. Der Gesundheitsbereich wächst wie keine andere Branche. Immer mehr Menschen investieren in ihre Gesundheit. Das sind ganz sicher nicht nur die Gutverdienenden. Es werden Möglichkeiten erschlossen, in diesem Bereich ganz neue berufliche Chancen zu bekommen. Dazu gehören sicher Mut und Ideenreichtum. Aber wer wollte das ausgerechnet denjenigen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, nicht zutrauen? Drittens. Wir haben bereits festgestellt, daß die Ansprüche und Notwendigkeiten anders und größer werden. Die demographische Entwicklung wird zu mehr und nicht zu weniger Erkrankungen führen. ({7}) Wenn wir innerhalb dieser Reform sagen, daß wir zum Beispiel den Grundsatz „ambulant vor stationär“ endlich in die Praxis umsetzen wollen, dann heißt das doch, daß neue Betätigungsfelder entstehen und bereits bestehende ausgeweitet werden. Ganz gewiß - daraus wollen wir keinen Hehl machen - wird das Veränderungen bedeuten. Diese Veränderungen sind wünschenswert, weil gerade das Verharren im Bestehenden, wie Sie es heute wieder gepredigt haben, zu Leistungsabbau und weniger Beschäftigung führen würde. Das wollen wir nicht; wir wollen eine Trendwende. ({8}) Zum nächsten Punkt der Kritik, den ich gerne aufgreifen will. Budgetierung sei Rationierung, heißt es. Dazu zunächst folgendes: Das von uns vorgeschlagene Globalbudget wird in jedem Jahr anwachsen, und zwar um die Steigerung der Grundlohnsummenrate. ({9}) Das gilt übrigens - das haben wir heute schon besprochen - in Ost und West gleichermaßen. Es ist ein wichtiger und zentraler Schritt, bei der gesundheitlichen Versorgung das weitere Auseinanderdriften zwischen Ost und West zu verhindern. Herr Thomae, wir denken doch nicht seit acht Wochen im stillen Kämmerlein nach. Nein, wir haben genau das gemacht, was Sie uns vorgeworfen haben, nicht getan zu haben: Wir reden mit den Beteiligten und suchen nach einer Lösung für die Probleme, ({10}) die in diesem Jahr entstanden sind. Wir werden diese Lösung gemeinsam finden. Wir werden dafür sorgen, daß das Auseinanderdriften zwischen Ost und West, das Sie während Ihrer Regierungszeit zugelassen haben, daß diese Art der Zweiklassenmedizin, die Sie initiiert haben, endlich ein Ende hat. ({11}) In jedem Jahr wird, wie gesagt, mehr Geld zur Verfügung stehen. Alle, die heute behaupten, die Deckelung der Ausgaben im Gesundheitswesen bedeute Mängel in der Versorgung, seien an zwei Sachverhalte erinnert: Alle Beteiligten in der Politik, in den Verbänden, in den Vertretungen der Kassen haben immer wieder gesagt: Ja, es gibt Einsparmöglichkeiten. Daß diese Möglichkeiten jeweils immer bei den anderen eruiert wurden, verwundert kaum. Vor allem bitte ich alle, die so argumentieren, sich einfach selbst in die Rolle des Beitragszahlenden zu versetzen. Natürlich will jede Patientin und jeder Patient optimal behandelt werden. Aber natürlich möchte jeder auch Beiträge in einem erträglichen Maß zahlen. Reserven intelligent erschließen, neue Versorgungsformen auf den Weg bringen und zugleich die notwendigen Leistungen erbringen - das ist der Weg, den wir beschreiten werden. Wir werden damit Erfolg haben. Hier bietet auch die globale Budgetierung neue Chancen. Endlich legt die Politik nicht mehr fest - so wie Sie das noch für sich in Anspruch genommen haben -, wieviel Geld in welchem Bereich ausgegeben werden muß. Es wird dafür gesorgt, daß Patientinnen und Patienten zur richtigen Zeit am richtigen Ort behandelt werden, weil das Geld der Leistung folgt. Dieses Prinzip gilt auch zwischen den Sektoren. Was wird sich nun für Versicherte sowie Patientinnen und Patienten ändern? Sie werden nicht zu gläsernen Patientinnen und Patienten werden, sondern sich endlich in einem System zurechtfinden können, über das kaum noch jemand einen Überblick hat. Sie werden Veränderungen vor allem dort erleben, wo sie selbst aktiv eingreifen können. So ist der Prävention - das hatten Sie abgeschafft; Sie erinnern sich sicherlich - endlich wieder der ihr gebührende Platz eingeräumt worden. ({12}) Es ist schon schizophren, daß Sie bei der Prävention einsparen wollen, um das Geld anderswo selbstverständlich wieder drauflegen zu müssen. Ein weiterer Punkt betrifft das Hausarztsystem. Wenn man mündige Patienten will, die sich selber zurechtfinden, dann muß man dafür sorgen, daß sie einen Partner bekommen. Den wollen wir ihnen mit dem Hausarzt zur Seite stellen. Wir wollen niemanden zwingen, irgendeinen Hausarzt oder Facharzt zu besuchen. Die freie Wahl des Arztes ist nach wie vor gegeben. Auch dieses Prinzip wollen wir natürlich weiterhin aufrechterhalten. Ich erinnere an die Patientenberatungsstellen. Wir wollen die Beratung und Information des Patienten nicht mehr bunten Illustrierten überlassen, sondern durch eine tatsächlich objektive und unabhängige Stelle durchführen lassen. Damit wollen wir nicht das Vertrauensverhältnis zu den Ärzten zerstören, sondern ein zusätzliches Angebot machen. Mit der Stärkung der Selbsthilfe, die heute hier schon angesprochen wurde, werden diejenigen unterstützt, die selbst etwas im Prozeß der Gesundung oder auch im Umgang mit ihrer Krankheit beitragen wollen. Die Forderung, daß Kassen Patientinnen und Patienten bei Behandlungsfehlern unterstützen sollen, gehört auch dazu. Auch die Positivliste, die für mehr Transparenz sorgt und in deren Anhang die alternativen Medikamente enthalten sind, die auch nach entsprechenden Kriterien bewertet werden, ({13}) - ist kein Feigenblatt, sondern in allererster Linie ein Instrument zur Qualitätssicherung, die wir auch in diesem Bereich brauchen. ({14}) Ich bin überzeugt, daß diese Reform ein wichtiger und wirkungsvoller Schritt zu einem Gesundheitssystem im Interesse der Patientinnen und Patienten ist. Ich bin überzeugt, wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. ({15}) Mit der vorgelegten Reform sorgen wir dafür, daß es Modernität und Solidarität miteinander verbindet, daß es Eigenverantwortung und Selbstbestimmung stärkt und daß es künftig mehr auf das Setzen von Rahmenbedingungen denn dirigistisches Reglementieren zielt. Wir laden Sie noch immer ein, mit uns sinnvoll darüber zu diskutieren, nicht zu pöbeln und zu nörgeln. Ich glaube, daß wir auf einem guten Weg sind. ({16}) Vielen Dank. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Detlef Parr für die F.D.P.-Fraktion.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sehe die Plakate mit der Aufschrift „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ noch vor mir. Unter dieses Motto, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, haben Sie noch vor wenigen Monaten Ihren Wahlkampf gestellt. Jede Entscheidung sollte, bevor sie in Kraft tritt, hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt abgeklopft werden. Als wir dieses Thema vor 14 Tagen auf die Tagesordnung gesetzt haben, haben Sie die von uns beantragte Aktuelle Stunde zu den Folgen Ihrer Gesundheitsreform für die Arbeitsplätze von der Tagesordnung abgesetzt. ({0}) Das Pflegepersonal in den Krankenhäusern und Arzthelferinnen bangen um ihre Zukunft, und Sie drükken sich um die parlamentarische Auseinandersetzung herum. ({1}) Sie lassen diese Menschen allein, und Sie lassen sie mit den negativen Folgen auch für die Patienten im Stich. Statt dessen laden Sie in den Zirkus zu einem „Dialog“ mit einer Riesenanzahl von Gästen ein: Illusionstheater - schöner Schein statt ernsthafter Gespräche. Zwischen Ihren Ansprüchen und der Wirklichkeit klafft eine riesige Lücke. Sie behaupten, daß Sie den Ärzten ermöglichen wollen, Ihre Patienten optimal zu betreuen. Statt dessen strangulieren Sie sie, so daß ihnen kaum mehr Luft zum Atmen bleibt: Sie berauben sie ihrer ehrenamtlichen Selbstverwaltung; Sie konfrontieren sie mit sinkenden Punktwerten und Planungsunsicherheit; Sie pressen sie in ein Korsett unterschiedlichster Budgetvorgaben. So geht die Freiberuflichkeit als Garant für patientenorientiertes Handeln vor die Hunde. ({2}) Sie behaupten, dafür sorgen zu wollen, daß die Patienten eine gute Zahnprophylaxe und, wenn es notwendig ist, einen gut aussehenden Zahnersatz erhalten. Gleichzeitig senken Sie für diejenigen, die das garantieren sollen, die Vergütungen und nehmen dem Patienten jede Möglichkeit der freiwilligen Zuzahlung für eine höherwertige Leistung. High-Tech-Zahnersatz soll zukünftig in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden; aber eine zusätzliche Bezahlung dieser Leistungen kommt selbstverständlich nicht in Betracht, nach dem Motto: Wir haben ja das Globalbudget. Im Krankenhausbereich treiben Sie es ganz besonders toll. Sie wollen, daß die Patienten im Krankenhaus umfassend versorgt und betreut werden. Gleichzeitig entziehen Sie den Krankenhäusern massiv Geld. ({3}) - Milliardenbeträge. Als am schlimmsten empfinde ich - das sage ich vor allen Dingen der Fraktion der Grünen, Frau GöringKatrin Göring-Eckardt Eckardt und Frau Knoche - Ihre fehlende Sensibilität hinsichtlich der Datenerfassung. ({4}) Während der Datenschutz für Sie vor wenigen Jahren noch der entscheidende Grund für die Ablehnung der Volkszählung war, wollen Sie jetzt den Krankenkassen ohne mit der Wimper zu zucken und abweichend von der bisherigen Anonymität die Sammlung patientenbezogener Diagnosedaten in einer zentralen Datenannahmestelle zugestehen. ({5}) Damit sind wie selbstverständlich der Datenträgeraustausch, ({6}) die Prüfung der medizinischen Notwendigkeit von Leistungen, die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit, der Zweckmäßigkeit und der Qualität der ärztlichen Leistungen, Übermittlungen an besondere Prüfstellen und die Medizinischen Dienste der Krankenkassen, die als Kontrollorgane aufgebläht werden, und ihrer Spitzenverbände verbunden. Das bedeutet den gläsernen Patienten und den gläsernen Arzt. George Orwell hat aber gerade im Gesundheitswesen absolut nichts verloren. ({7}) - Dazu müßten sie Liberalität erst einmal etwas tiefer studieren. Ich möchte noch ein Wort an die Frau Ministerin richten. Sie tragen stets sehr gestenreich - bis hin zur Atemlosigkeit - Ihre Vorstellungen vor. Wir hoffen mit allen am Gesundheitswesen Beteiligten, daß diese kurzatmig vorgetragenen Vorstellungen ebenso kurzlebig sind. ({8}) Wenn Sie wirklich ein qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem erhalten wollen, wenn Sie es mit Qualitätssicherung ernst meinen, dann lassen Sie unsere Ärztinnen und Ärzte ihrem Beruf und ihrer Berufung wieder mit Freude nachgehen. ({9}) Das funktioniert eben nicht mit staatlichen Strangulierungs- und Disziplinierungsmaßnahmen, sondern nur in einem freiheitlichen System mit großzügigen Rahmenbedingungen. Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Zitat vortragen. Sophokles läßt Teiresias in seiner „Antigone“ folgendes sagen: ({10}) - Man muß auch ein bißchen klassische Bildung einbringen können. - Hören Sie genau zu, es ist ganz wichtig: ({11}) Der Irrtum ist zwar aller Menschen ganz gewisses Teil, doch wer auch irrt, er bleibt nicht ohne Rat, nicht ohne Segen, wenn er Heilung sucht von seiner Krankheit, nicht in Starrsinn fällt. Das wünsche ich mir für die weiteren Beratungen und vor allen Dingen für die Anhörungen im September. Danke. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Schuster für die SPD-Fraktion.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als sozialdemokratischer Arzt zur Gesundheitspolitik zu reden bedeutet eine Gratwanderung. Auf der einen Seite steht man im Geruch, befangen zu sein; auf der anderen Seite wird vermutet, daß jemand fahnenflüchtig sei und die Seiten gewechselt habe. ({0}) Trotzdem will ich mich gezielt an meine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen draußen im Lande mit der herzlichen Bitte um einen konstruktiven Dialog über fünf Punkte wenden. Viele Reaktionen offizieller Art von seiten der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sind für mich nur schwer nachvollziehbar: erstens die Verteufelung des Globalbudgets. Das ist absolut nichts Neues, Herr Lohmann. Der Beschluß von Lahnstein 1992 - Globalbudget als Summe der sektoralen Budgets - wurde mehrfach zitiert. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, waren damals mit uns einig. ({1}) Sie haben nicht ganz zufällig nach dem 24. März 1996, als die F.D.P. in drei Landtage einzog, Ihre gesundheitspolitischen Grundüberzeugungen an der Garderobe vom Thomas-Dehler-Haus abgegeben. ({2}) Wir bieten unseren Kolleginnen und Kollegen draußen an, innerhalb dieses Globalbudgets selber den Anteil der Sektoren zu bestimmen und festzulegen. Das halten wir für einen Fortschritt. ({3}) - Natürlich. Zweitens haben wir erklärtermaßen, Herr Zöller, gesagt, daß in Zukunft ambulante Behandlung vor stationäre Behandlung gehe. Frau Schaich-Walch hat darauf hingewiesen, daß das Geld der Leistung folgen soll. Das bedeutet doch im Klartext, daß der Markt für die niedergelassenen Ärzte zunehmen wird. Das ist eine große Chance, weil sie im Prinzip gegenüber Krankenhäusern konkurrenzlos preiswert sind. Ich fordere meine Kollegen auf, diese Chance zu nutzen. Trotzdem stimme ich meinem Kollegen Dreßler zu, daß wir nach wie vor zu viele und vor allem falsch ausgebildete Ärzte haben. Für die Umsetzung unseres Hausarztmodells brauchen wir eine ganz andere Art von Aus- und Weiterbildung. Zu viele Ärzte verschärfen außerdem das Verteilungsproblem. ({4}) Hier sind, Frau Ministerin und Herr Minister, Dr. Repnik, vor allem die Wissenschaftsminister der Länder gefordert, endlich ihr Vorgartendenken aufzugeben. Wir Gesundheitspolitiker könnten dann gemeinsam mit den Ärzten für eine gewisse Entspannung sorgen. ({5}) Drittens macht es mich nachdenklich, daß in Deutschland nach wie vor überproportional viele überflüssige Eingriffe sowohl in der Therapie wie auch bei der Diagnostik vorgenommen werden, obwohl wir Ärzte den berühmten Eid des Hippokrates geschworen haben: Wir wollen nicht schaden - nil nocere. Mich macht nachdenklich, daß epidemiologische Studien bei chronisch Kranken nachweisen, daß wir mehr als zwei Drittel sparen könnten, wenn wir Präventionsmaßnahmen ergriffen. Auf die Unterversorgung der Diabetiker wurde hingewiesen. ({6}) Mich macht es nachdenklich, wenn viele diagnostische und therapeutische Maßnahmen auch bei Anwendung der Kriterien der Schulmedizin umstritten sind. Mich macht es nachdenklich, daß die Kommunikation zwischen den behandelnden Ärzten in den drei Stufen nach wie vor häufig zu Lasten des Patienten geht, unvollständig ist und zu spät kommt. Diese Defizite sind uns seit langem bekannt. In dem Gutachten des Sachverständigenrates, Herr Kues, wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß hier offensichtlich die berühmte Selbstverwaltung versagt hat. Deswegen müssen wir gesetzlich regeln, was die Selbstverwaltung selber nicht schaffen konnte. ({7}) Viertens. Es gibt in der Gesundheitspolitik eine Reihe von Denkfehlern. Ein Denkfehler ist, zu glauben, daß die Interessen der Versicherten identisch mit denen der Patienten seien. Das gilt auch für die Krankenkassen, die nicht immer die Interessen der Patienten vertreten. Das gilt aber auch, Frau Kollegin Dr. Bergmann-Pohl, für uns Ärzte. Auch wir sind nicht die alleinigen Interessenvertreter unserer Patienten, ({8}) weil wir eigene Interessen haben. Unser Gesundheitsversorgungssystem ist nach wie vor deutlich überproportional ärzte- und zuwenig patientenorientiert. ({9}) Fragen Sie einmal chronisch kranke Patienten - nicht in der Sprechstunde, sondern im normalen Leben - nach ihrer Situation. Sie werden Ihnen erzählen, wie beschwerlich es für sie ist, wenn sie in diesem Irrgarten weitergereicht werden. Wir hoffen jedenfalls, mit unserem Vorschlag des Hausarztsystems für den einzelnen Patienten eine Erleichterung zu schaffen und durch die Stärkung der Selbsthilfegruppen die Patienteninteressen deutlicher in den Vordergrund stellen zu können. Wir Ärzte könnten uns auf Patientenforen mit Patienten zusammensetzen und sie fragen, wo es ihnen fehlt. ({10}) Wir müssen fragen, wo die Defizite im Bereich der niedergelassenen Ärzte und der Krankenhäuser liegen. Bei dieser Gelegenheit könnte man den Patienten einmal die Wahrheit sagen, daß man nicht für jede Krankheit gleich eine Pille braucht. Diese Diskussion können Sie aber nicht im Sprechstundenzimmer führen, sondern dazu brauchen Sie ein anderes Forum. ({11}) Fünftens. Der Sachverständigenrat hat in vielen Gutachten nachgewiesen, daß integrierte Systeme Vorteile haben. Die Kooperation zwischen Haus-, Fach- und Klinikärzten ist schon lange möglich. Aber leider sind die Strukturverträge erst aufgekommen, nachdem der Gesetzgeber Druck gemacht hat. ({12}) Anders als Sie kenne ich viele junge Ärzte, die gerne in solchen integrierten Systemen arbeiten würden. Auch hier gilt: Was die Selbstverwaltung nicht selber geregelt hat, müssen wir als Gesetzgeber initiieren. Zum Schluß noch eine Bemerkung an die Gesundheitspolitiker unter uns. Papst Johannes XXIII. - er war der Papst, der in den letzten 50 Jahren die meisten Reformen in der katholischen Kirche vorangebracht hat hat sich immer selber mit dem Satz ermahnt: Johannes, nimm dich nicht so wichtig! - Dieser Satz sollte auch für uns Gesundheitspolitiker gelten. Herr Thomae, wenn ich richtig gezählt habe, dann kann ich feststellen, daß wir heute bei der siebten Reform der Nachkriegszeit sind. Wir werden ganz sicher die achte Reform im Jahre 2004 haben. Das ist ja schon ein Fortschritt im Vergleich zu der Gesetzesflut in den letzten vier Jahren. Wir sollten zufrieden sein, wenn uns in diesen vier Jahren zwei Dinge gelingen sollten: erstens eine systematische Verbesserung der Zusammenarbeit - sie soll sich auf die drei Bereiche Prävention, Kuration und Rehabilitation beziehen - unter den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern und zwischen diesen beiden Säulen; zweitens das Vorhaben, die Patienteninteressen in den Mittelpunkt des Gesundheitssystems zu rücken. Wenn wir diese beiden Dinge erreicht haben, haben wir einen guten Job getan. Deshalb bitten wir Sie um Ihre breite Unterstützung. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Sozialminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Friedhelm Repnik. Dr. Friedhelm Repnik, Minister ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute in erster Lesung zu behandelnde Gesetzentwurf zur GKV-Gesundheitsreform 2000 ist meiner Meinung nach gründlich mißlungen. ({1}) Leider scheint die jetzige Bundesregierung nicht in der Lage zu sein, Reformen richtig anzupacken. Dabei wollte sie doch alles besser machen. ({2}) Nach der verheerenden Niederlage bei der Europawahl sagte Kanzler Schröder: Wir haben verstanden. - Ich kann nur erwidern: Sie haben nichts, aber auch rein gar nichts verstanden. ({3}) Die Zielsetzung der GKV-Gesundheitsreform 2000 hört sich eigentlich gut an, Frau Fischer. Angeblich soll eine hohe Qualität der medizinischen Versorgung mit stabilen Beitragssätzen durch mehr Wettbewerb zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern angestrebt werden. ({4}) Schaut man sich jedoch die geplanten gesetzlichen Bestimmungen genauer an, dann wird klar: Es handelt sich um einen reinen Etikettenschwindel. Tatsächlich setzt die Bundesregierung und die Bundesgesundheitsministerin nicht auf mehr Marktwirtschaft. Realität ist vielmehr ein Mißtrauen gegen Eigenverantwortung und Selbstverwaltung. ({5}) Statt eines freiheitlichen Gesundheitswesens steuert die rotgrüne Bundesregierung, Herr Kirschner, eine stärkere Bevormundung an. ({6}) Die Bundesregierung fördert nicht mehr marktwirtschaftliche Steuerungselemente, sondern Zentralismus, Reglementierung und Bürokratie. ({7}) - Das kommt noch. ({8}) Durch die enorme Ausweitung der Kompetenzen der Bundesverbände der Krankenkassen und des Medizinischen Dienstes wird ein zentral gesteuertes Gesundheitssystem angestrebt. Solche zentralistischen Bestrebungen bedeuten Kompetenzverlust und damit letztendlich eine Entmündigung der Krankenkassen auf Landesebene. ({9}) Ich fordere Sie auf, zu einer Politik des partnerschaftlichen Miteinanders zwischen Politik und den Leistungserbringern im Gesundheitswesen zurückzufinden. ({10}) Vergiften Sie die Atmosphäre in diesem wichtigen Bereich nicht durch staatlichen Dirigismus! ({11}) Ich will heute nicht die ganze Bandbreite der Unzulänglichkeiten und Fehlentwicklungen des Gesetzentwurfs darlegen. Ich würde dazu Stunden brauchen. ({12}) - Oder Tage. Vielmehr will ich mich als Landesgesundheitsminister, der vor Ort für ein gut funktionierendes Gesundheitswesen zuständig und verantwortlich ist, auf die wichtigsten Punkte konzentrieren. Punkt 1: die schrittweise Einführung einer monistischen Krankenhausfinanzierung. Als Land sind wir durch die geplante Einführung der Monistik in der Krankenhausfinanzierung zuallererst betroffen. In zwei Stufen sollen bis zum Jahr 2008 die Investitionskosten der Krankenhäuser, die bis heute von den Ländern getragen werden, von den Krankenkassen übernommen werden. Dies ist ein Griff in die politische Mottenkiste. Bis 1972 wurden die Investitionen schon einmal monistisch von den Krankenkassen finanziert. Leider hat die Erfahrung jedoch gezeigt, daß über Krankenhausentgelte keine ausreichenden Investitionen getätigt werden konnten. ({13}) Die Krankenhäuser hatten damals einen erheblichen Substanzverlust zu beklagen. Innovative Neuerungen blieben unfinanziert. Dies hatte zur Folge, daß der Anschluß an den Stand der Medizin und der Medizintechnik fast verlorenging. ({14}) Dieser Schuß ging wirklich nach hinten los. Leider haben aber einige anscheinend bis heute nichts daraus gelernt. ({15}) So, wie die Überleitung in die Monistik im Gesetzentwurf angelegt ist, fehlt darüber hinaus eine seriöse Gegenfinanzierung. Allein in Baden-Württemberg müßten über 600 Millionen DM pro Jahr aus dem Gesamtbudget erwirtschaftet werden. ({16}) Diese Annahme erscheint mir bei nach wie vor steigenden Leistungen mehr als unrealistisch. Zwangsläufige Folge wird die Unterfinanzierung der Krankenhäuser sein. ({17}) Sie werden, wie vor 1972, Schaden an der Substanz nehmen, und im Ergebnis wird nur die Versorgungsqualität verschlechtert. Verlierer Ihrer Reform, meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot und Grün, werden also die Patienten sein. ({18}) Wollen Sie das wirklich? Ich will es nicht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Dr. Friedhelm Repnik, Minister ({0}): Nein, ich habe zuwenig Zeit. Dann komme ich mit meiner Zeit nicht hin.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nein, die Zeit wird Ihnen nicht angerechnet. Dr. Friedhelm Repnik, Minister ({0}): Gut, Herr Kirschner, dann können Sie kurz fragen. Bitte.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Repnik, wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie, daß beim stationären Bereich, um dieses Beispiel zu nehmen, alles beim alten bleibt. Sie wissen aber doch, da Sie aus Baden-Württemberg kommen, daß die Krankenkassen dort beispielsweise Finanzhilfen für Berlin leisten, was mit einem Abbau der dortigen Kapazitäten gekoppelt ist. Da besteht ein Widerspruch, den Sie einmal aufklären müßten, Herr Kollege Repnik. Dr. Friedhelm Repnik, Minister ({0}): Herr Kirschner, das ist überhaupt kein Widerspruch; ich werde in meinen weiteren Ausführungen darauf eingehen. ({1}) Baden-Württemberg besitzt eine ausgezeichnete Krankenhauslandschaft - das wissen Sie, Herr Kirschner, am besten ({2}) und hat die effektivste und wirtschaftlichste Krankenhausversorgung aller Bundesländer. ({3}) Dennoch, Frau Fischer - dies nur als Nebensatz -, werden durch dieses Reformgesetz und durch die Budgetierung allein in Baden-Württemberg zirka 1 000 Arbeitsplätze im Krankenhausbereich, meist beim Pflegepersonal, abgebaut werden müssen. Das gute System in Baden-Württemberg ist im wesentlichen durch die staatliche Verantwortung für die Krankenhausplanung begründet, ({4}) die in Baden-Württemberg schon seit Jahren konsequent an einer echten Bedarfsnotwendigkeit orientiert ist. Auch die Beteiligung der Kostenträger war uns stets ein ehrliches Anliegen. Ich kann heute mit gutem Recht sagen, daß in über 99 Prozent der Fälle unserer Krankenhausanpassungen das Einvernehmen mit den Kostenträgern hergestellt worden ist. Wir haben in den letzten Jahren - mit den Krankenkassen abgesprochen, Herr Kirschner - in BadenWürttemberg über 6 000 Betten abgebaut oder umgewidmet und zirka 70 Krankenhäuser geschlossen. Wir werden in den nächsten Jahren noch weitere 3 000 Betten abbauen, und zwar im Einvernehmen mit den Kostenträgern. ({5}) Baden-Württemberg bekennt sich zu seiner Planungsverantwortung und zur Verantwortung für die Finanzierung der baulichen Maßnahmen von Krankenhäusern. Planung und Finanzierung gehören zusammen, und deswegen lassen wir uns das nicht aus der Hand nehmen. ({6}) Auch wenn es unser Land viel Geld kostet, sage ich: Der Staat ist es aus Gründen der Daseinsfürsorge seinen Bürgern schuldig, auch weiterhin für eine flächendekkende, leistungsfähige und wirtschaftliche Krankenhausversorgung und für die entsprechende Finanzierung einzustehen. Zweiter Punkt: Positivliste. ({7}) Sie ist ein Lieblingskind der rotgrünen Bundesregierung. Hierzu sage ich Ihnen klipp und klar: Eine Positivliste der verordnungsfähigen Arzneimittel lehnen wir ab. ({8}) Minister Dr. Friedhelm Repnik ({9}) Für uns ist die Einzelbewertung von Arzneimitteln Sache des Arzneimittelgesetzes und nicht Sache der Krankenversicherung. Eine derartige Bewertung der Arzneimittel führt nicht zur Qualitätsverbesserung. ({10}) Sie birgt vielmehr die Gefahr sozialer Härten und kann das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sehr stark belasten. ({11}) Sie ist der direkte Weg in eine Zweiklassenmedizin. ({12}) Wollen Sie das? Wir lehnen das ab. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dreßler? Dr. Friedhelm Repnik, Minister ({0}): Nein. Ich möchte im Zusammenhang vortragen. Ich habe gemerkt, daß sich, wenn ich meine Rede fortführe, die Fragen erübrigen. Außerdem hat mich Ihre heutige Rede, Herr Dreßler, sehr enttäuscht; denn Sie wollen mit Programmen aus dem Jahre 1992 die Gesundheitspolitik im Jahr 2000 retten. So geht es nicht. ({1}) Im übrigen sind Einsparungen mehr als fraglich. Denn Ausgrenzungen über eine Liste können massive Substitutionseffekte verursachen und hierdurch die Arzneimittelversorgung letztendlich verteuern. Ich bin schon verwundert, daß eine grüne Bundesgesundheitsministerin - trotz aller gegenteiliger Beteuerungen will, daß die Verordnung pflanzlicher Arzneimittel gestrichen und „chemische Keulen“ verordnet werden sollen. Das macht doch keinen Sinn. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, ich frage ein letztes Mal, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen. Dr. Friedhelm Repnik, Minister ({0}): Nein. Ich möchte im Zusammenhang fortfahren. ({1}) Außerdem sollten wir eines nicht übersehen: Die Ausgrenzungswirkung einer Positivliste wird gerade innovative mittelständische Arzneimittelhersteller und die forschende Pharmaindustrie in ihrer Existenz bedrohen. Dies können wir nicht hinnehmen. ({2}) Herr Kirschner, jetzt komme ich zu dem Punkt der finanziellen Hilfen in besonderen Notlagen oder zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Unser Grundverständnis von Föderalismus, aber auch unser Verständnis von Solidarität in einer gesetzlichen Krankenversicherung wird von dem neugefaßten § 265a des vorliegenden Gesetzentwurfes ganz erheblich tangiert, mit dem ein obligatorischer Finanzausgleich innerhalb der Kassenarten eingeführt wird. Bisher war dies freiwillig, Stichwort: AOK Baden-Württemberg und AOK Berlin. Dabei soll künftig allein der Vorstand des Spitzenverbandes über den Hilfeantrag einer Krankenkasse entscheiden. Die Zustimmung der beteiligten Landesverbände soll im Einzelfall nicht mehr erforderlich sein. Dieser drohende Finanzausgleich ist föderalismusfeindlich. Er ist im Ansatz ordnungspolitisch falsch, da die Beseitigung der Mitbestimmungsrechte der Landesverbände der Krankenkassen letztlich einen reinen Umverteilungsmechanismus fördert und die Anreize für wirtschaftliches Handeln schwinden. ({3}) Baden-Württemberg hat sich der Solidarität innerhalb der GKV nie verschlossen. Unsere Versicherten und Arbeitgeber tragen durch den Risikostrukturausgleich und durch die mischkalkulierten Beitragssätze der bundesweiten Krankenkassen jedes Jahr rund 1,6 Milliarden DM zur Mitfinanzierung der Krankenkassen in den anderen Bundesländern bei. Es kann doch nicht sein, daß weitere Gelder unkontrolliert zur Unterstützung unwirtschaftlicher Strukturen im Gesundheitswesen abfließen. Wir machen das nicht mit. Im übrigen ist durch die geplante Neuregelung zum kasseninternen Finanzausgleich der Weg in eine bundesweite Einheitskasse vorprogrammiert. ({4}) Ich hoffe, daß wir nicht die einzigen sind, die das nicht wollen. ({5}) Ein weiterer Punkt ist das Globalbudget. Der Gipfel der Planwirtschaft offenbart sich an dem vorgesehenen Globalbudget. Frau Fischer, auch wenn Sie es so nicht wollen: Ein Globalbudget führt zu sektoralen Budgets; Herr Thomae hat darauf hingewiesen. ({6}) Hier summieren sich Planwirtschaft, Bürokratismus und handwerkliche Mängel. ({7}) Minister Dr. Friedhelm Repnik ({8}) Das Globalbudget wirkt so, wie wenn man einen Autofahrer zwingt, mit 10 Litern Benzin unbekannte Entfernungen zurückzulegen. ({9}) Nach meiner Überzeugung ist ein Globalbudget zur strukturellen Weiterentwicklung der GKV der schlechteste aller denkbaren Ansätze. Globale Finanzierungsreserven, die über eine Budgetierung abgeschöpft werden könnten, sind im System kaum mehr vorhanden. ({10}) Die wichtigsten Leistungsbereiche wie Krankenhaus, Arzthonorare und Arznei- und Heilmittel sind doch bereits seit Jahren gedeckelt. Mit einem Globalbudget wird das Morbiditätsrisiko auf die Ärzte und Krankenhäuser übertragen. Diese werden bei ausgeschöpftem Budget gezwungen sein, Rationierungsentscheidungen zu treffen. Die Wartelistenmedizin ist vorgezeichnet, ohne Wenn und Aber. ({11}) Ein Globalbudget führt somit zur schleichenden Leistungsrationierung. Das Globalbudget ignoriert die wachsende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, behindert den medizinischen Fortschritt und führt zu erheblichen Qualitätseinbußen. Wollen Sie das? Wir wollen das nicht. Krankheiten lassen sich nicht budgetieren, Herr Dreßler! ({12}) Im übrigen sind die Überwachung und Einhaltung des Globalbudgets nur mit einem gewaltigen, kostenträchtigen bürokratischen Aufwand möglich. Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns liegt besonders der Grundsatz der Beitragssatzstabilität am Herzen. Die Beitragssatzstabilität, die wir in den letzten fünf Jahren hatten, wird durch die geplante Gesundheitsreform aufs höchste gefährdet. ({13}) Neben dem prognostizierten Defizit in der GKV für das Jahr 1999 fehlt für die im Reformgesetz vorgesehenen Leistungserweiterungen, zum Beispiel im Krankenhausbereich, bei der Prävention, beim Zahnersatz oder bei der Patientenberatung, die notwendige Gegenfinanzierung. Verschiedene Modellberechnungen gehen von Mehrausgaben in Milliardenhöhe aus; dies wird zwangsläufig zu erheblichen Beitragssatzsteigerungen führen. Herr Kues hat vorhin schon gesagt, daß die AOK Baden-Württemberg - ich wiederhole dies - mit einer Beitragssatzsteigerung in Höhe von 0,7 Prozent rechnet. ({14}) Dies hätte für die Versicherten und die Arbeitgeber und damit für den Wirtschaftsstandort Deutschland verheerende Folgen. ({15}) Die Beitragssatzstabilität ist auch deshalb in Gefahr, weil der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung eine Antwort auf die zu lösenden Finanzierungsfragen schuldig bleibt. Die Probleme der GKV bestehen nicht so sehr auf der Ausgabenseite - es gibt keine Ausgabenexplosion -, sondern insbesondere auf der Einnahmenseite. Wegen der Globalisierung des Standortwettbewerbs, des veränderten Erwerbsverhaltens, des medizinischen Fortschritts und der veränderten demographischen Bedingungen ist eine Anpassung der Systeme der sozialen Sicherung erforderlich. Die derzeitige, fast ausschließlich an das Arbeitseinkommen gebundene Form der GKV-Finanzierung ist diesen Herausforderungen auf Dauer nicht mehr gewachsen. Darüber müssen Gespräche geführt werden; je eher dies geschieht, desto besser. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ich fordere die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen auf: Nehmen Sie Ihre sozial- und gesundheitspolitisch falschen und wirtschaftspolitisch schädlichen Weichenstellungen im Gesundheitswesen zurück! Wir brauchen ein plurales Gesundheitswesen, das von den Prinzipien der Freiheit, der Eigenverantwortung, der Subsidiarität, der Regionalität und der Solidarität getragen wird. Die Gesundheit der Menschen in unserem Land ist zu wichtig, als daß diese Grundsätze vorschnell über Bord geworfen werden dürfen. ({16}) Hektisches Rudern, wie Sie es gerade tun, bringt uns nicht weiter. Die Richtung muß stimmen, und die Richtung stimmt bei diesem Gesetzentwurf leider überhaupt nicht. Ich bedanke mich. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Martin Pfaff, SPD, das Wort. ({0})

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe vier Fragen an Sie. Zu meiner ersten Frage. Sie haben die Positivliste verteufelt und die Krankenhäuser in Baden-Württemberg gelobt - übrigens nicht ganz zu Unrecht. Frage: Wenden die Krankenhäuser in Baden-Württemberg nicht seit Jahrzehnten eine Positivliste an? Heißt das, daß all Ihre Kritikpunkte an der Positivliste auch die Krankenhausversorgung in Baden-Württemberg betreffen? Meine zweite Frage bezieht sich auf die Entlastung des Krankenhausbereichs und die zusätzliche Belastung der Kassen, die Einsparungen für Investitionen vornehmen sollen. Ich frage Sie: Wie sieht es denn mit der Entlastung durch Mutterschafts- und Sterbegeld aus? Übrigens: Wenn Sie in Baden-Württemberg so viel für die Krankenkassen tun wollen, was hindert Sie dann, in Minister Dr. Friedhelm Repnik ({0}) anderen Bereichen eine effektive Entlastung der Krankenkassen zu erreichen, nämlich dadurch, daß das, was bisher über Beiträge finanziert wird, aus Steuermitteln gezahlt wird? Die dritte Frage bezieht sich auf den Risikostrukturausgleich. Wollen Sie nicht auch, daß Kassen in BadenWürttemberg vom Risikostrukturausgleich profitieren und von ihm begünstigt werden? Ich sage das, weil sie durch ihre Grundlohnsummen, durch ihre Versichertenstruktur und ähnliches ebenfalls Empfängerkassen sind. Können Sie das leugnen? Letzter Punkt. Sie haben das Globalbudget - wie andere auch - verteufelt. Können Sie uns erklären, was der Unterschied zwischen der Beitragssatzstabilität, die durchgesetzt wird, und dem Globalbudget ist? Wenn Sie diese Fragen überzeugend beantworten können, dann haben Ihre Argumente mehr Glaubwürdigkeit. Einen allerletzten Punkt möchte noch ansprechen: Vor Lahnstein haben wir uns in der Opposition, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der anderen Seite, nicht verweigert, weil uns die Probleme der Menschen, der Versicherten und der Patienten, zu ernst waren. Von Ihnen habe ich noch nicht gehört, ({1}) daß Sie ein konstruktives Angebot gemacht hätten, zumindest Teile unseres Gesetzes mitzutragen. Das möchte ich gern von Ihnen heute noch hören. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Minister Dr. Repnik, bitte. Dr. Friedhelm Repnik, Minister ({0}): Herr Pfaff, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich fange beim letzten Punkt an: Permanent wird hier von uns erwartet und gefordert, daß wir Vorschläge machen. Ich verstehe das überhaupt nicht. Wir hatten ein Gesundheitssystem, das seit Jahren Beitragssatzstabilität aufwies. ({1}) Dieses System hatte eine hohe Qualität. Die Ärzte waren zufrieden ({2}) - Moment; es geht weiter -; die Patienten waren zufrieden. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, dies zu verändern. Sie mußten das System aber letztlich verändern, weil Sie die Wahlversprechen, die Sie vor der Bundestagswahl abgegeben hatten, einhalten wollten. ({3}) Dazu sage ich: Sie haben es schlecht gemacht, weil Sie die Wähler belogen haben. Ich kann mich daran erinnern, wie die Roten und die Grünen durch BadenWürttemberg und Bayern gezogen sind und in bezug auf die Rehabilitationseinrichtungen und die Kureinrichtungen gesagt haben: Wir nehmen alle Zuzahlungen zurück. ({4}) Der Skandal ist der, daß Sie es eben nur marginal zurückgenommen haben. Es gibt auch weiterhin Zuzahlungen bei den Arzneimitteln. Hier haben Sie viel mehr versprochen. Sie haben es nicht gehalten; Sie haben Ihr Wahlversprechen gebrochen. ({5}) Sie fragen mich nach der sogenannten Positivliste im Bereich des Krankenhauses. Die Krankenhäuser BadenWürttembergs sind deswegen in einer so guten Verfassung, weil wir seit Jahren dabei sind, unwirtschaftliche Strukturen abzubauen, Betten abzubauen, Betten umzuwidmen. Das ist gemeinsam mit den Krankenkassen geschehen. Deswegen sage ich, Herr Pfaff: Wir haben das gemeinsam gemacht, um die Krankenhäuser fit für das nächste Jahrtausend zu machen. Wir können das auf Dauer nur dann durchhalten, wenn wir als Land die Verantwortung für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in der Fläche behalten und nicht die Krankenkassen entscheiden, wo welches Bett zu stehen hat. ({6}) Noch ein Wort, Herr Pfaff. Warum fällt der SPD eigentlich nichts anderes ein, als immer nur auf Steuermittel zurückzugreifen? Dieses System soll nicht aus Steuermitteln finanziert werden, sondern es soll von den Bürgerinnen und Bürgern und damit auch von den Krankenkassen über Beiträge finanziert werden, nicht durch Steuermittel. Wenn Ihnen sonst nichts mehr einfällt, dann kommen Sie immer auf Steuermittel zurück. Aus der einen Tasche heraus, in die andere Tasche hinein - dabei machen wir nicht mit. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt für die SPD-Fraktion der Kollege Horst Schmidbauer. ({0})

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir von der Koalition sind nicht darüber überrascht, daß die Opposition heute poltert. Man wird das Gefühl nicht los, daß dieses Poltern über die eigenen Versäumnisse hinwegtäuschen soll, ({0}) daß dieses Poltern auch darüber hinwegtäuschen soll, daß man - wir haben das Gegenteil praktiziert - heute keine Alternative zu dieser Gesundheitsreform vorlegt. ({1}) Ich denke, bei diesem Poltern spielt auch ein gewisser Neid auf das Stehvermögen von Andrea Fischer und Rudolf Dreßler mit. ({2}) Das Stehvermögen von Andrea Fischer und Rudolf Dreßler ist ein Symbol für Aufrichtigkeit und Durchsetzungskraft. ({3}) Das ist, glaube ich, momentan ganz zentral gefragt. Ich wollte eigentlich damit beginnen, daß ich die vielen Fragen, die offengeblieben sind, beantworte und die vielen Falschmeldungen korrigiere. Aber gestatten Sie mir den Hinweis, daß meine Redezeit nicht annähernd ausreichen würde, das klarzumachen. Mir ist ganz wichtig, daß bei diesem Gepolter und dem Aufschrei der Anbieter das Beifallklatschen der Betroffenen nicht untergeht. ({4}) Wir müssen dafür sorgen, daß nicht nur diejenigen zu Wort kommen, die, über Beitragsgelder finanziert, Millionen von Mark für große Werbekampagnen aufwenden, sondern auch die Betroffenenorganisationen und -verbände sich in der öffentlichen Auseinandersetzung Gehör verschaffen. ({5}) Ich verstehe natürlich, daß Sie das nicht wollen; denn der VdK, der Sozialverband Reichsbund, die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe, die Deutsche RheumaLiga, der Paritätische Wohlfahrtsverband begrüßen ohne Vorbehalt diese Reform nachdrücklich. Sie dagegen wollen dies nicht zur Kenntnis nehmen. Sprechen Sie doch endlich einmal mit den richtigen Leuten und nicht nur mit der einen Seite! ({6}) - Frau Präsidentin, dazu muß ich eine persönliche Erklärung abgeben: Ich finde das unerhört, Herr Kollege Thomae. Sie wissen ganz genau, daß zu diesem Zeitpunkt mein Vater verstorben ist und ich dort deswegen nicht hinkommen konnte. Ich finde es ungeheuerlich, daß Sie versuchen, sich auf diese Art mit mir auseinanderzusetzen. Dafür gibt es andere Gelegenheiten. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thomae?

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Schmidbauer, ich erinnere Sie an eine Veranstaltung in Bad Kissingen, für die Sie zugesagt hatten. Vor der Wahl sind Sie in den Kurorten herumgereist und haben dort vor den Bürgern Versprechen abgegeben, die Sie nie gehalten haben. ({0}) Als Sie jetzt die Chance hatten, dort an einer Diskussion teilzunehmen, haben Sie gekniffen. Das ist die Diskrepanz zwischen Versprechungen machen und Versprechungen halten. Ich rede nicht von der anderen Veranstaltung, sondern von dieser Sache. In bezug auf die Veranstaltung mit den Diabetikern muß ich Herrn Wodarg ansprechen, der dort anwesend war. Die Diabetiker waren darüber entsetzt, was in diesem Gesetz steht. Durch das Vorschaltgesetz zu diesem Gesetz spüren sie schon heute, daß ihre Versorgung nicht mehr gesichert ist. ({1})

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann Ihnen das erklären: Weil ich mit dem Auto unterwegs war - anders war es verkehrstechnisch nicht zu machen; denn zuvor ist, wie wir das öfters erleben, eine Flugverbindung ausgefallen -, konnte ich nicht rechtzeitig dort sein. Ich habe Bad Kissingen von unterwegs angerufen und dem Kurdirektor Bescheid gesagt, daß ich aller Voraussicht nach erst gegen 21.30 Uhr Bad Kissingen erreichen kann. Darauf hat mich der Kurdirektor gebeten, nicht mehr nach Bad Kissingen zu kommen, weil es keinen Sinn mehr habe. Das hat also nichts mit Kneifen zu tun. Wir haben auch überhaupt keine Veranlassung, Herr Kollege Thomae, in diesen Fragen zu kneifen. Denn wir haben eine ganze Menge von dem repariert, was Sie plattgemacht haben. ({0}) Sie tragen Verantwortung dafür, daß Tausende von hochqualifizierten Arbeitsplätzen im Bereich von Rehaund Kureinrichtungen weggefallen sind. Wir sind jetzt dabei, das, was Sie plattgemacht haben, schrittweise und unter Wahrung der Beitragssatzstabilität in Ordnung zu bringen. ({1}) Das gilt insbesondere für den Bereich der chronisch Kranken. Im Vordergrund unseres Gesetzes steht die Versorgung von chronisch Kranken. Entscheidend dabei ist, mittels der Auflösung von sektoralen Begrenzungen ressortübergreifende Behandlungskonzepte und -formen einzuführen. Die Versorgung der chronisch Kranken und der Diabetiker muß so gestaltet werden, daß das realiHorst Schmidbauer ({2}) siert wird, was Sie vor zehn Jahren unterschrieben hatten: die Zahl der Amputationen innerhalb weniger Jahre zu halbieren. Nichts ist geschehen. Die Amputationsrate in Deutschland ist gestiegen. Wir geben über 1 Milliarde DM für Amputationen aus. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen das Geld nicht für Amputationen, sondern für eine ordentliche, sachgerechte Versorgung von Diabeteskranken ausgeben. Nur so kann die Amputationsrate gesenkt werden. ({3}) Noch zu einem anderen Punkt: Heute ist immer wieder dargelegt worden, die GKV sei an uns, die neue Regierung, mit einem tollen, positiven Ergebnis übergeben worden. Ich habe von 2 Milliarden DM, aber auch schon von 8 Milliarden DM gehört. Deshalb habe ich mir erlaubt, nachzufragen. Es stellt sich heraus, daß der exakte Überschußbetrag bei 1 187 987 258 DM lag. ({4}) - Ja, der Überschuß. Der Überschuß ist von Ihnen bisher auf 2 Milliarden DM aufgerundet worden. ({5}) Ich möchte jetzt Ihren Trick in aller Deutlichkeit ansprechen. Sie müssen der Öffentlichkeit sagen, auf wessen Kosten und zu wessen Lasten Sie diesen Überschuß bei den Krankenkassen erreicht haben. Sie verschweigen nämlich, daß Sie die Menschen durch Ihr Gesetz, mit dem Sie die Versicherten beim Zahnersatz zu Privatversicherten gemacht haben, dazu gebracht haben, mit den Füßen abzustimmen. Sie ließen keinen Zahnersatz mehr vornehmen, und die Folge war: Es wurden den Versicherten exakt 2 582 498 210 DM für Zahnersatz vorenthalten. Das ist Ihr sogenanntes positives Ergebnis. Ich würde mich schämen, hier mit solchen Manipulationen anzutreten. ({6}) Was uns in der Sozialdemokratie so aufbringt, ist, ({7}) daß Sie die Frage der Eigenverantwortung zur Kaschierung mißbrauchen, um in Wirklichkeit Ihre Abzockerei weiter zu betreiben, ({8}) obwohl Sie längst erlebt haben, daß die Grenze der Belastbarkeit bei den Kranken bereits erreicht, ja überschritten ist. Wo haben wir das erlebt? Wir haben das beim Zahnersatz erlebt. Dort haben 30 Prozent der Menschen keinen Zahnersatz mehr gewollt, nachdem sie den Kostenvoranschlag vom Zahnarzt erhalten und von ihrer Krankenkasse gehört hatten, welchen Festbetrag sie dafür erhalten würden. Die Menschen haben die notwendige Behandlung nicht durchführen lassen, sondern sich bestenfalls für Reparaturen entschieden. ({9}) Das ist für uns das Zeichen, daß die Belastungsgrenze überschritten ist. Das gleiche haben wir auch im Bereich der Arzneimittel erlebt. Ich verstehe nicht, wieso man die EMNIDUmfrage, die die Apotheker seinerzeit in Auftrag gegeben haben, einfach weggesteckt hat. Was sagte diese EMNIDUmfrage? 41 Prozent der Patienten gingen nicht mehr zum Arzt, knapp 50 Prozent lösten ihr Rezept nicht voll oder gar nicht ein. 18 Prozent hatten Verordnungen nur noch bei schwerwiegender Krankheit eingelöst. Der Verbrauch rezeptfreier Arzneimittel ging um 11 Prozent zurück. Das war das Umfrageergebnis der Apotheker. Das zeigt auch, daß Ihre Abzockerei die Belastungsgrenze für die Patientinnen und Patienten erreicht hatte, und deswegen mußten die Zahlen zurückgehen. Wir sagen: Die hohen Zuzahlungen führen zu mehr chronischen Krankheiten, und die zusätzlich chronisch Kranken sind es, die letztendlich die Krankenkassen massiv Geld kosten. ({10}) Deswegen haben wir versprochen: Wir werden nicht nur das Sachleistungsprinzip für den Zahnersatz wieder einführen, sondern wir werden auch die Zuzahlungen sukzessive zurücknehmen. Ich freue mich ganz besonders darüber, daß wir in den ersten drei Monaten 400 Millionen DM an die Menschen zurückgegeben haben, die Sie ihnen unberechtigterweise abgezockt hatten. ({11}) Das nenne ich Worthalten. So wollen wir mit den Menschen umgehen. Wir wollen die Menschen nicht für dumm verkaufen. Ich ärgere mich über die ungesunde Entwicklung - das ist heute vielfach angesprochen worden - unseres Gesundheitswesens. Ich denke, wir brauchen zur Wiederherstellung eine ganz intensive Therapie. Wir sind fest davon überzeugt, daß mit dieser Therapie die Effizienz unseres Gesundheitswesens, nämlich Qualität und Wirtschaftlichkeit, wieder den Rang erreichen wird, den wir viele Jahrzehnte in Deutschland vorzuweisen hatten. ({12}) Diese Fehlentwicklung müssen wir wieder in Ordnung bringen. Auch Sie haben diese Fehlentwicklung gekannt, auch Sie haben von den unwirtschaftlichen Strukturen gesprochen, aber man muß feststellen: Die alte Regierung hatte nicht die Kraft, diese Probleme nachhaltig anzugehen. In dieser Frage hilft uns der neoliberale Ansatz, der Staat müsse sich nur zurückziehen, dann sei alles zum Besten bestellt, nicht. Ich will Ihnen einmal zur Kenntnis bringen, was der Augsburger Laborarzt Schottdorf vor kurzem von sich gegeben hat. Er meint, es geht vielen Medizinern nicht darum, wie man die Patienten am besten versorgen kann, sondern darum, wer sie versorgen darf, wer die Lizenzen hat und was man damit herausholen kann. Horst Schmidbauer ({13}) Ich denke, das sind die Folgen einer neoliberalen Gesundheitspolitik, die wir so nicht mehr fortsetzen wollen. Die Verantwortlichen müssen sich doch fragen lassen: Geht es noch um die Patienten oder nur um die Kassenlizenz, nur darum, mit dem Labor Geld zu drukken? Wir sagen: Nein, das kann nicht angehen. Wir brauchen einen aktivierenden Staat und keinen Nachtwächterstaat; denn wir müssen dafür sorgen, daß die Umstrukturierung in diesem Lande läuft. Wir haben zu viele Ärzte, die sich dem Existenzminimum nähern. Wir müssen davon wegkommen, daß nur einige wenige Ärzte kräftig einsacken. Wir müssen diesen Bereicherungsbazillus in Deutschland abtöten, damit wir letztendlich zu gerechten Vergütungen von Leistungen kommen können. ({14}) Ich habe das Gefühl, daß Sie uns zur Zeit mit Schlagwörtern wie „Globalbudget“ und „Rationierung“ in die Ecke treiben wollen. Wir sagen: Solange wir unwirtschaftliche Strukturen haben, die 20 bis 25 Milliarden DM kosten, haben wir die Verpflichtung, alles daranzusetzen, diese unwirtschaftlichen Strukturen aufzulösen und die dadurch gewonnenen Gelder gezielt dort einzusetzen, wo Unterversorgung herrscht. ({15}) Ich frage mich, wer denn diese unwirtschaftlichen Strukturen weiterhin gutheißen will. Noch zu Ihrer Zeit, unter der Verantwortung von Herrn Seehofer, wurde eine Qualitätssicherungsstudie in Auftrag gegeben, die die Gynäkologie und die Geburtshilfe betraf. Man muß sich einmal vor Augen halten, daß jede zweite Gebärmutterentfernung und mindestens 25 Prozent der Eierstockentfernungen in Deutschland nach diesem von Seehofer in Auftrag gegebenen Qualitätssicherungsgutachten überflüssig waren. Da geht es für mich um die Frage der Menschenwürde und um die Frage der Rechtsverletzungen, die damit einhergehen. Dahinter stecken aber natürlich auch die unwirtschaftlichen Strukturen. Ich frage: Wer entzieht sich der Verantwortung, beides in Ordnung bringen zu wollen, nämlich Unwirtschaftliches zu beseitigen und gleichzeitig die Qualität so zu sichern, daß wir sie auch akzeptieren können? Ich glaube, wir müssen das Thema Qualitätssicherung in den Vordergrund stellen. Für uns muß Qualitätssicherung - das kann man im Gesetz der Koalition erkennen - gewährleisten, daß möglichst wenig Geld für Dinge verpulvert wird, die der Heilkunst nichts nutzen. Wir müssen das Geld so effizient wie möglich einsetzen. Dazu brauchen wir in diesem Gesetz eine Qualitätssicherung, die einen zentralen Charakter hat und diese doppelte Aufgabe wahrnimmt. Ich denke, das ist der entscheidende Punkt, den wir umsetzen. Wir werden es nicht zulassen, daß 70 Millionen Kassenpatienten in eine Situation hineingezogen werden, welche die Qualitätssicherung vernachlässigt. Das ist nichts anderes als versuchte Geiselnahme. Wir werden uns schützend vor die Patientinnen und Patienten stellen, damit sie nicht mißbraucht werden. ({16}) Wir werden dafür sorgen, daß sie objektiv über ihre Zukunft informiert werden, damit sie darüber abstimmen können, wie sie das in der Vergangenheit getan haben. ({17}) Ich möchte mich aber am Schluß in meiner Bewertung zurückhalten. Ich möchte lieber einen Fachmann zitieren, der nicht im Verdacht steht, der rotgrünen Koalition besonders nahezustehen. Ich zitiere: Was nun in den Umrissen sichtbar ist, bietet Aussicht auf eine wirkliche Reform des Gesundheitswesens, die auch für die Vertragsärzte neue Chancen eröffnet. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß KBV und KVen mit Fundamentalkritik … antworten. Diese Organisationen, die ihren Monopolcharakter verlieren, nicht jedoch ihre Zwangsmitglieder, sind die wahren Looser dieser Reform. Für die Vertragsärzte entstehen dagegen neue Optionen: Sie können den Krankenkassen innovative, vernetzte Versorgungsformen anbieten und ohne die KV Verträge schließen. Die rotgrüne Koalition setzt damit bewußt auf die Reformfreudigkeit und Kreativität an der Versorgungsbasis, nachdem sich KBV und KVen über viele Jahre als viel zu schwerfällig erwiesen haben, notwendige Reformen anzupacken. Es wird auch Verlierer geben: die Ewiggestrigen, die Eigenbrötler, diejenigen, die nicht kooperationsfähig sind. Das ist die Soziallast der KVen, und die wird stärker spürbar. Dieses Zitat stammt aus einem Kommentar unter dem Motto „Die Reform als Chance sehen“, verfaßt von Helmut Laschet, dem stellvertretenden Chefredakteur der „Ärzte-Zeitung“. Dem ist nichts hinzuzufügen. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dreßler, ich gehe als erstes auf Sie ein. Sie forderten hier vorhin Alternativen der CDU/CSU. Dann frage ich Sie: Haben Sie ein so kurzes Gedächtnis, daß Sie nicht einmal mehr unser Gesetz von vor zwei Jahren kennen ({0}) Horst Schmidbauer ({1}) - das Zweite Neuordnungsgesetz -, das dazu geführt hat, daß die Beiträge stabil waren und daß die Patienten übers ganze Jahr eine Versorgungssicherheit hatten, und in dem wir Strukturverträge eingeführt haben? Diese Strukturverträge, die Sie jetzt zum Teil übernommen haben, sind übrigens einer der wenigen positiven Ansätze, die ich in Ihrem Gesetzentwurf erkennen kann. Aber unser Gesetz war so gut, daß man es nicht schon nach zwei Jahren ändern muß. Das hätte man ruhig systematisch fortführen können. ({2}) Was Ihre Äußerung hinsichtlich der 25 Milliarden DM angeht, so bitte ich Sie, Herr Dreßler, endlich zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Aussage vor vier Jahren getätigt wurde und daß gerade im Krankenhausbereich schon viel getan wurde. In den letzten zwei Jahren wurden 17 000 Betten abgebaut. Da können Sie doch nicht so tun, als sei diese Rationalisierungsreserve nach wie vor vorhanden. Seien Sie doch mit Ihren Zahlen etwas ehrlicher! ({3}) In dem Gesetzentwurf von Rotgrün zur Gesundheitsreform 2000 heißt es: Ein sozial gerechtes Krankenversicherungssystem muß sich zudem verpflichtet wissen, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Patientinnen und Patienten zu achten, ihre Eigenkompetenz zu stärken ... ({4}) Selbst wenn man von Gott und der Bibel nicht viel hält, gilt für Sie auch der Satz: „Nicht an ihren Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen.“ ({5}) Der heute von Ihnen vorgestellte Gesetzentwurf verbirgt hinter wohlklingenden Überschriften systemverändernde Maßnahmen. Ich sage nur beispielhaft: Sie sprechen von Positivlisten; in Wirklichkeit bedeuten sie Listenmedizin und Einschränkung der Therapiefreiheit. ({6}) Sie sprechen von Hausarztmodell; in Wirklichkeit führt es zur Einschränkung und Aufgabe der freien Arztwahl. ({7}) Sie sprechen von Globalbudget; in Wirklichkeit bedeutet es Krankenbehandlung nach Kassenlage. ({8}) Sie sprechen von Stärkung der Patientenrechte; in Wirklichkeit führt es zu Entmündigung und Bevormundung der Versicherten. Ich will versuchen, Ihnen an einigen Beispielen zu verdeutlichen, wie weit Reden und Handeln bei dieser Regierung auseinander liegen. Sie haben zum Beispiel vollmundig angekündigt, die Rechte der Patienten zu stärken. Wie haben Sie jetzt gehandelt? Erstens. Wir haben gesetzlich geregelt, daß die Patienten von ihrem Arzt endlich eine Rechnung bekommen. Dies bedeutete mehr Transparenz und eine Stärkung der Patientenrechte. ({9}) Aber das war das erste, was Sie abgeschafft haben. Mehr Patientenrechte à la SPD! Zweitens. Wir haben dem Patienten die Wahlmöglichkeit gegeben, sich auch als Privatpatient behandeln zu lassen. Sie haben den Patienten diese Wahlmöglichkeit wieder genommen. Mehr Patientenrechte à la SPD! Kurioserweise haben Sie diese Einschränkung teilnachgebessert, allerdings mit der fatalen Folge, daß jetzt nur Besserverdienende in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Wahlrecht haben und weniger Verdienende dieses Wahlrecht nicht mehr haben. Gerechtigkeit für die kleinen Leute à la SPD! ({10}) Drittens. In Ihrem sogenannten Hausarztmodell entmündigen Sie den Patienten, da er auf die freie Arztwahl verzichtet. Der Krankenkassenfunktionär und nicht mehr der Patient entscheidet, zu welchem Arzt er geht. Auch möchte ich jedem - besonders bei schweren Erkrankungen - eine Zweitmeinung zubilligen, ohne daß er dafür finanziell abgestraft wird. ({11}) Im übrigen bin ich der Meinung, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß die erfreulich hohe Qualität des Gesundheitswesens in Deutschland im wesentlichen eine Folge der freien Arztwahl ist. ({12}) Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierung, Ihre vielleicht gutgemeinte Idee, die Patientendokumentation beim Hausarzt zu sammeln, kann man auch unter Beibehaltung der freien Arztwahl verwirklichen, indem man einfach die gegenseitigen Informationen der Ärzte regelt. ({13}) Dies scheint jedoch nicht Ihr wahres Ziel zu sein. Sie wollen den ersten Schritt in Richtung Einkaufsmodell vollziehen. Das ist der wahre Hintergrund. Ich darf in diesem Zusammenhang einen von mir sehr geschätzten Politiker zitieren, der bemerkt hat, zugespitzt gesagt, es fehle in diesem sehr dirigistischen Entwurf nur noch der Schritt, alle Vertragsärzte gleich zu Angestellten der Krankenkassen zu machen; ({14}) denn unabhängige Selbständige würden diese nach dem Gesetz nicht mehr sein, sondern eher ScheinselbstänWolfgang Zöller dige. Und die Scheinselbständigenregelung läßt bei Ihnen ja auch grüßen. ({15}) - Wer das ist? Wenn Sie es nicht wissen, bin ich gerne behilflich. Das ist einer Ihrer Parteikollegen, Herr Klose, den ich wirklich sehr schätze. Viertens. Die Positivliste ist eine Liste verordnungsfähiger Arzneimittel im System der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie schafft nicht nur Medikamente erster und zweiter Klasse, sondern fördert auch die Zweiklassenmedizin. Außerdem gefährdet die Positivliste die Therapiefreiheit des Arztes; denn der Patient hat nur Anspruch auf das gelistete Medikament und nicht auf das für ihn sinnvollste. ({16}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dieser Ausgrenzung treffen Sie besonders chronisch Kranke, für die Sie sich doch angeblich besonders einsetzen wollen. Sie konterkarieren auch ein weiteres Versprechen, daß nämlich die chronisch Kranken von der Zuzahlung befreit würden. Es stimmt zwar, daß sie nichts zuzahlen müssen, sie müssen es aber ganz zahlen. Auch bei Ihrer Chroniker-Regelung benachteiligen Sie die Familien und stellen sie schlechter als bei unserer bisherigen Regelung. ({17}) Eine Familie mit einem chronisch Kranken und einem Einkommen von 4 000 DM zahlte bei uns maximal 480 DM jährlich zu. Bei Ihrer Regelung zahlt zwar der chronisch Kranke nichts, die Familie aber 960 DM. ({18}) Diese Regelung trifft bewußt für Lebensgemeinschaften nicht zu. Wen wundert es? ({19}) Nun zu Ihrem Einwand, bei der Zuzahlung würde abgezockt. Wie ehrlich Ihre Argumente sind, sieht man daran, daß Sie die Zuzahlung in einer Größenordnung von 0,8 Milliarden DM zurücknehmen und im gleichen Zeitraum Arzneimittel für über eine Milliarde DM ganz ausgrenzen. ({20}) Sie haben also die Leute nicht um 0,4 Milliarden DM entlastet, sondern Sie haben sie belastet. Da frage ich mich, wer hier wo abzockt. ({21}) Ein fünfter Punkt, der mit dem Patientenrecht zusammenhängt, ist Ihr sogenannter Patientenschutz, der die Kassen verpflichtet, die Kosten zu übernehmen, die entstehen, wenn Verbraucherschutzverbände und deren Rechtsvertreter medizinische Gutachten erstellen, um zum Beispiel gegen Ärzte vorzugehen. Dies wird letztendlich zu Lasten der Patienten gehen. Die Ärzte werden sich nun rechtlich mehr absichern müssen. Dies wird zu mehr Untersuchungen führen, die medizinisch nicht notwendig sind. Die Rechtsanwälte müssen künftig von den Krankenkassenbeiträgen ebenso bezahlt werden wie die überflüssigen Untersuchungen. Dies geht zu Lasten medizinisch notwendiger Leistungen in unserem Gesundheitssystem. ({22}) Als sechstes Beispiel bringe ich Ihnen: Die Einführung der monistischen Finanzierung der Krankenhäuser wird das Ende einer wohnortnahen stationären Versorgung sein. ({23}) Genauso wird Ihre zusätzliche Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Tätigkeiten zum Verlust der flächendeckenden Versorgung mit Fachärzten führen. Da nützt es auch nichts, wenn Ihr Redner sich hier hinstellt und ausführt, Sie würden besonders an die Fachärzte denken. Ich darf aus einem internen Papier der SPD zitieren. Da erkennt man auch Ihre Gesinnung. Da heißt es unter Punkt 3: Ziel: Liquidierung einer fachärztlichen Versorgung auf freiberuflicher Basis Ich würde mich schämen, so etwas auch nur zu denken. ({24}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, entschuldigen Sie bitte, wenn ich nochmals eine sehr treffende Bewertung Ihres Gesetzentwurfs aus Ihren eigenen Reihen zitiere. Sie ist so gut, daß ich sie gern wiederhole, zumal gute Äußerungen von dieser Seite leider sehr selten sind. Es geht um eine für mich sehr grundsätzliche Frage. Da kann man keine Kompromisse machen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Dieter Thomae?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, jetzt bei dem guten Zitat garantiert nicht. Ich habe ein anderes Menschenbild als jenes, das diesem Entwurf zugrunde liegt. Das Gesundheitssystem muß nach meiner Überzeugung auch den einzelnen Patienten und den einzelnen Arzt in seiner Verantwortung sehen. Es geht also um die grundsätzliche Entscheidung, ob man auf Reglementierung setzt oder auf individuelle Verantwortung. Wenn es mir auf meine Redezeit nicht angerechnet würde, würde ich dieses Zitat noch zwei-, dreimal vorlesen; denn es ist so gut. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, ich frage Sie noch einmal: Lassen Sie jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Dr. Dieter Thomae zu?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Zöller, ich habe eine Passage Ihrer Rede nicht ganz mitbekommen. Könnten Sie das bitte wiederholen und das Papier der SPD zum Thema Facharzt zitieren? ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hatte eine Überschrift über die Einschätzung aus einem SPD-internen Papier vorgelesen. Da heißt es: Liquidierung einer fachärztlichen Versorgung auf freiberuflicher Basis Die zweite Überschrift lautet: Zerschlagung der Kassenärztlichen Vereinigung Die weitere Überschrift lautet: Unbefristete Fortsetzung der Budgetierung Allein wenn man diese drei Überschriften sieht, kann man sich vorstellen, in welchem Geist solche Gespräche geführt werden. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbst das Bündnis Gesundheit 2000, ein Zusammenschluß von Krankenschwestern, Apothekern, Hebammen, Krankengymnasten und Ärzten, kritisiert Ihren Entwurf und stellt fest: Unser bewährtes Gesundheitssystem, das allen Patienten unabhängig vom sozialen Status offensteht, soll durch ein Planwirtschaftssystem ersetzt werden. Der große Verlierer wird der Patient sein. Deshalb komme ich zu der Schlußfolgerung: Es ist für mich zum einen sehr erfreulich, daß man endlich wieder klare Alternativen zwischen Rotgrün und der CDU/CSU erkennen kann: Auf der einen Seite haben wir ein freiheitliches und hochqualifiziertes System mit Eigenverantwortung, auf der anderen Seite ein Einheitssystem Richtung Staatsmedizin. Sollte dieser Gesetzentwurf trotzdem umgesetzt werden ({1}) - ich befürchte es, da eindeutige Erkenntnisse in Anhörungen von Ihnen bisher nie respektiert wurden -, ({2}) dann wird wohl der Satz von Bundeskanzler Schröder nach der Europawahl „Wir haben verstanden“ nachgebessert werden müssen in: „Ich habe fertig“. Ich wünsche dies uns allen von ganzem Herzen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Wolf Bauer, CDU/ CSU.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich habe diese Debatte sehr aufmerksam verfolgt. Als letzter Redner muß ich mich, da ich von der SPD und den Grünen gehört habe, daß wir ein gutes Gesundheitssystem haben, ehrlich fragen: Warum strengen Sie sich an und wollen dieses gute Gesundheitssystem mit aller Gewalt zerstören? ({0}) Es kann doch nur eine ideologische Zielsetzung sein. Minister Repnik hat die Alternativen aufgezeigt. Wir brauchen eigentlich gar keine neuen Modelle, weil die Alternativen mit unseren Vorhaben der letzten Jahre übereinstimmen. Das muß und kann man weiterentwickeln. Aber man darf es doch nicht einfach zerstören, nur weil man es will und nur weil es von der anderen Partei ist. Wenn Sie es - das will ich feststellen - mit Nachdruck durchsetzen wollen und stolz darauf sind, daß Sie das gegen den Widerstand von den Verbänden machen, dann kann ich nur sagen: Bei einigen wird offenbar Stehvermögen - wie es eben von Herrn Schmidbauer zitiert worden ist - mit Sturheit verwechselt. ({1}) Heute ist viel über das Globalbudget gesagt worden. Ich will nur eines wiederholen: Das ist der unintelligenteste Weg, unser Gesundheitssystem zu reformieren, ({2}) und es ist keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Das ist heute noch gar nicht gesagt worden. Es hat niemand von der demographischen Entwicklung gesprochen; es hat niemand von der veränderten Morbidität gesprochen; es hat niemand von steigender Erwartungshaltung und steigender Lebensqualität gesprochen. Ja, wollen Sie das denn den Versicherten vorenthalten? Das einzige, was angesprochen worden ist, ist der medizinische Fortschritt. Nun weiß ich, daß in den Debatten immer wieder kritisiert wird, daß der Arzneimittelverbrauch in dem ersten Vierteljahr zu stark gestiegen sei. Sie müssen dabei aber auch zur Kenntnis nehmen, daß es Untersuchungen gibt, nach denen 5,5 bis 6 Prozent dieser Ausgabensteigerung im ersten Quartal 1999 auf einer Verbesserung der Arzneimitteltherapie beruhen. Das dürfen wir doch den Patienten und Versicherten nicht vorenthalten! Ein Budget führt - da können Sie reden, was Sie wollen - zu einer Rationierung und - auch das ist mehrfach gesagt worden - zu einer Zweiklassenmedizin. ({3}) Ich kann nicht verstehen, daß Sie das wollen. Das gleiche gilt für die Positivliste, denn sie fügt sich nahtlos in dieses System ein. Warum ist die Positivliste patientenfeindlich? Weil den Patienten all die Arznei4194 mittel vorenthalten werden, die nicht darin stehen. Die müssen sie dann selber kaufen. ({4}) Was hat das zur Folge? Der sozial Schwache kann sich das nicht leisten; nur der Rest kann sich diese Ergänzungen leisten. ({5}) Herr Dreßler, Sie haben vorhin die 50 000 Arzneimittel angesprochen. Die sind doch nicht das Problem! ({6}) - Nein, sie sind nicht das Problem. Lassen Sie doch jeden Arzt und jeden Patienten individuell das aus diesen 50 000 Arzneimitteln auswählen, was für ihn das beste ist und was in die Therapie hineinpaßt! Das ist doch ausschlaggebend. ({7}) Mit der Positivliste werden Sie überhaupt nichts sparen. Das einzige, was Sie damit erreichen werden, ist, daß Ärzte gezwungen werden, letztlich stärker wirkende Arzneimittel und solche mit mehr Nebenwirkungen aufzuschreiben. Das kann doch nicht Sinn und Zweck der Sache sein! Aber genau das wollen Sie mit Ihrer Positivliste erreichen. ({8}) Heute ist schon viel gesagt worden. Ich möchte etwas erwähnen, was noch nicht zur Sprache gekommen ist. Ich möchte einen Versicherten sprechen lassen, weil es meiner Meinung nach ungeheuer wichtig ist, zu sagen, wie Sie die Versicherten in der kurzen Zeit seit Ihrer Regierungsübernahme verunsichert haben. Ich meine damit sowohl die Leistungserbringer als auch die Betroffenen selbst. Ich zitiere aus einem Brief: Nach einer Krebsoperation, Chemobehandlungen und Bestrahlungen wurde ich noch einmal in eine Klinik eingewiesen, um mich wieder aufzubauen und mein Immunsystem wieder auf normale Werte zu bringen. Nach einiger Zeit, als die Bemühungen der Ärzte Erfolge zeigten und es mir auch wieder besser ging, entließ man mich nach Hause mit einem Arztbrief, auf dem die weitere Medikation für die nächsten Monate stand. Da man in der Klinik Medikamente nur für die Zeitspanne bis zum nächsten Arztbesuch bekommt, war mein erster Gang zum Hausarzt. Nach anfänglicher freudiger Begrüßung kam schnell die Ernüchterung. Nachdem er gelesen hatte, was weiter verordnet werden soll …, sagte er dann, daß er dies nicht verordnen könne und es außerdem statistisch nicht erwiesen sei, daß dieses was bringt. Nach Einwendungen meinerseits sagte er mir, er könne ja verstehen, daß man nach jedem Strohhalm greift, wenn man an der Wand steht. Verordnen könne er mir nur die Lymphdrainagen - mit dem Nachsatz, daß mir das nächste Rezept der Frauenarzt verschreiben solle. Diese würden sein Budget nicht so überfordern. Dies war nun schon das zweite Mal, daß er mich wegen seines Budgets an andere Ärzte verwies. Nachdem ich darauf sagte, daß ich mir wegen seiner Einstellung einen Arzt mit Naturheilverfahren suchen wolle, entgegnete er mir, wenn ein Arzt so etwas vertritt, dann solle er es auch verschreiben; er hätte nichts dagegen. Dann wird die Patientin weiter an den Frauenarzt und wieder zurück an den Hausarzt überwiesen. Die Verantwortung wird hin und her geschoben. Die Vertreter der Krankenkassen sagen am Ende, man könne die Arzneimittel verschreiben. Aber durch die von Ihnen verursachte Verunsicherung findet sich kein Arzt, der dies tut. Der Schlußsatz in dem Brief heißt: Ist das der Sinn einer Gesundheitsreform? Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen: Wollen Sie eine solche Verunsicherung wirklich erreichen? So wie in diesem Beispiel wirkt sich das Globalbudget aus. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie alle, Ihre Plätze einzunehmen und auch dem letzten Redner in dieser Debatte zu folgen. Das ist ein Akt der Kollegialität.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte hier auch den Vorstandsvorsitzenden der Barmer Ersatzkasse zitieren. Er sagt: Das vorgesehene Globalbudget sei eine totale Fehlgeburt. Für das Jahr 2000 sei für die Krankenkassen ein Volumen eingeplant, das nur um 2,8 Prozent über dem von 1998 liege. Die Kassen lägen bereits in diesem Jahr um 3 bis 4 Prozent darüber. Der Vorstandsvorsitzende endet mit dem Satz: Ich kann schon heute sagen, ich kann dieses Globalbudget nicht einhalten. Wenn Sie uns, der Opposition, schon nicht glauben, dann glauben Sie doch wenigstens den Vertretern der Krankenkassen. ({0}) Sie müssen doch einmal folgendes bedenken: Jeder Arzt muß sich täglich die Frage stellen, ob eine Therapie notwendig, wirtschaftlich und ausreichend ist. Heute erwartet jeder Versicherte - das erwartet er zu Recht -, daß die bestmögliche Therapie angewendet wird. Der Arzt und nicht irgendein Mitglied einer Krankenkasse muß seinem Patienten mitteilen, daß nicht das Optimale, sondern nur noch das gerade medizinisch Notwendige getan werden darf. Ich frage Sie, ob Sie das wollen. Der Frau Ministerin, die so viel von Qualität spricht, sage ich: Hier bleibt die Qualität auf der Strecke. Diese Beispiele ließen sich fortsetzen. Herr Kirschner, ich möchte zum Beispiel noch das Benchmark-Modell ansprechen, obwohl die gesamte Koalition das Wort „Benchmark-Modell“ scheut wie der Teufel das Weihwasser. Sie wissen genau, was dahintersteckt. Durch Ihr Modell gibt es keine bessere Medizin. Ihr Modell orientiert sich am Billigsten. Sie können nicht einfach davon ausgehen, daß Sie mit den Kriterien „Alter“ und „Geschlecht“ dieses Problem lösen können. Sie müssen sich schon einmal die Mühe machen - ich habe es getan -, anzuschauen, wie sich die Arzneimittelausgaben zusammensetzen. Wenn Sie das tun, erhalten Sie auch eine Antwort darauf, warum es zwischen den einzelnen KVen große Unterschiede gibt. So ist zum Beispiel der Insulinumsatz pro Einwohner in der KV Südbaden nur etwa halb so hoch wie der in der KV Mecklenburg-Vorpommern. Solche Unterschiede gibt es auch zwischen den saarländischen und den badischen KVen. Daran können Sie erkennen, daß man mit sturem Festhalten an einem Globalbudget die Probleme nicht lösen kann. Mehr Flexibilität ist notwendig. Das fordern wir von Ihnen. Wir werden diese Forderung aufrechterhalten und sie immer wieder stellen, wenn Sie dieser Forderung nicht ausreichend nachkommen. Zum Schluß. Neben allen Ungereimtheiten bleibt die Frage offen, was Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, mit Ihrer Gesundheitsreform überhaupt erreichen wollen. Daß Sie Wahlversprechungen einlösen wollen und müssen, haben wir heute schon gehört. Daß Sie dabei in weiten Bereichen den vollkommen falschen Weg gehen, werden Sie noch einsehen. Aber machen Sie doch wenigstens nicht die gleichen Fehler, die wir zum Teil auch gemacht haben und die wir sofort korrigiert haben! Lernen Sie doch wenigstens daraus! Erkennen Sie, daß es so nicht weitergehen kann! Das, was Sie vorhaben, führt - ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht - zu Mangelverwaltung, zu Rationierung und zu großen Arbeitsplatzverlusten im Gesundheitswesen. Das kann nicht Ziel der Politik sein, die hier in diesem Hause betrieben wird. Verlierer - darauf möchte ich vor allem hinweisen sind die Versicherten - besonders die sozial Schwachen -, die sich mit den Gesundheitsleistungen zufriedengeben müssen, die SPD, Grüne und die Krankenkassen ihnen vorschreiben. Die Sozialhilfeempfänger und vor allem die Rentner bleiben auf der Strecke, wenn es zusätzlich zu den von Ihnen vorgesehenen Rentenkürzungen kommt. Verlierer sind auch die vielen mittelständischen Strukturen. Heute ist bereits das Einkaufsmodell angesprochen worden. Zum Schluß möchte ich nur noch darauf hinweisen, daß ich am 20. März dieses Jahres auf einer Veranstaltung der KV in Köln war. Auf dieser Veranstaltung hat unsere Ministerin gesagt, sie sei gegen Einkaufsmodelle. Sie hat aber auch gesagt, sie sei für Verkaufsmodelle. Man weiß doch, was dahintersteckt: Das Ziel ist, über Einkaufsmodelle dieses gute Gesundheitswesen kaputtzumachen. Ich kann Ihnen allen nur sagen: Wehret den Anfängen, damit die rotgrüne Koalition das deutsche Gesundheitswesen nicht ruiniert! ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Zöller hat hier gesagt, die SPD befürworte in einem Arbeitspapier - wohlgemerkt - die „Liquidierung der fachärztlichen Versorgung“. Kein einziger der hier anwesenden Gesundheitspolitiker, die ich gefragt habe, kann sich an ein solches Arbeitspapier erinnern. Ich versichere Ihnen: Das Thema Liquidierung der fachärztlichen Versorgung wurde nie und nimmer in unseren Reihen diskutiert. Wenn von uns von einer Umgewichtung des Zahlenverhältnisses zwischen Fachärzten und Hausärzten gesprochen wird, dann weise ich Sie darauf hin, daß das in vielen Gutachten des Sachverständigenrates und in einschlägigen Fachpublikationen zu lesen ist; aber nie und nimmer wurde von uns die Liquidierung der freiberuflichen oder der fachärztlichen Versorgung gefordert. Ich kann das nicht unwidersprochen im Raume stehenlassen. Herr Kollege Zöller, sind Sie bereit, das zu akzeptieren? Sie müssen wissen: Ihre Behauptung grenzt nicht nur an Verleumdung; vielmehr ist sie es auch, wenn sie angesichts meiner Aussage wiederholt wird. Das werden wir niemals akzeptieren. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Zöller, möchten Sie erwidern?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Pfaff, ich habe aus einem Schreiben zitiert. Es handelt sich um ein Arbeitspapier, das von der SPD stammt. Überschrift eins: „Unbefristete Fortsetzung der Budgetierung, Globalbudget“, Überschrift zwei: „Zerschlagung der Kassenärztlichen Vereinigungen“, Überschrift drei: „Liquidierung einer fachärztlichen Versorgung auf freiberuflicher Basis“. Mehr habe ich Ihnen nicht gesagt. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1245 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 3 auf: Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß § 4 des Gesetzes über die Parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes - Drucksache 14/1299 Dr. Wolf Bauer Die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. schlagen auf Drucksache 14/1299 den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele vor. Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Verfahren. Die erforderlichen Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch keine erhalten haben, können Sie sie jetzt noch von den Plenarsekretären bekommen. Für die Wahl benötigen Sie außerdem Ihren gelben Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, jetzt noch Ihrem Stimmkartenfach in der Eingangshalle entnehmen können. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt mindestens 335 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze erhalten, sind ungültig. Die Wahl ist nicht geheim. Sie können die Stimmkarte deshalb an Ihren Plätzen ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarten in eine der aufgestellten Wahlurnen werfen, geben Sie bitte Ihren Wahlausweis dem Schriftführer oder der Schriftführerin. Die Abgabe des Wahlausweises gilt als Nachweis der Teilnahme an der Wahl. Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Wahlurnen besetzt? - Ich bitte alle Schriftführerinnen und Schriftführer zu den Wahlurnen. Es dürfte doch kein Problem für die Fraktionen sein, ihre Schriftführerinnen und Schriftführer an die Urnen zu schicken. Es fehlt noch ein Schriftführer oder eine Schriftführerin von der Opposition. Ich frage ein letztes Mal: Sind die Urnen jetzt alle besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Wahl. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Haben alle Mitglie- der des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Wahlergebnis wird später bekanntgegeben.*) Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 c auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1999 - Drucksache 14/1056 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Tourismus Haushaltsausschuß --------- *) Seite 4201 A b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit für junge Menschen - Drucksache 14/1011 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung Ausschuß für Tourismus c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Maritta Böttcher, Rosel Neuhäuser, Rolf Kutzmutz und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur solidarischen Ausbildungsfinanzierung ({2}) - Drucksache 14/14 ({3}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) - Drucksache 14/583 Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Matthias Berninger Maritta Böttcher Zum Berufsbildungsbericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor. Ich weise darauf hin, daß wir nachher eine namentliche Abstimmung durchführen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Motivierte und gut ausgebildete Menschen sind für unser Land das entscheidende Kapital. Dafür brauchen wir moderne Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl. Der Berufsbildungsbericht 1999, den wir heute hier diskutieren, beschreibt die Berufsbildungssituation im Jahre 1998. Er erläutert Maßnahmen zur Sicherung des Ausbildungsplatzangebots und Initiativen zur strukturellen Weiterentwicklung der Berufsausbildung. In der aktuellen politischen Diskussion über den Berufsbildungsbericht 1999 geht es vor allem um die Ausbildungsplatzsituation im vergangenen Jahr. Diese Vizepräsidentin Petra Bläss Situation sah folgendermaßen aus: 1998 wurden bundesweit 612 771 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Das sind rund 25 000 mehr als im Jahr zuvor. Ein großer Teil davon, ungefähr 19 000, kam durch zusätzliche Angebote der Wirtschaft zustande. Ich möchte deshalb vor allen Dingen den Firmen danken, die über ihren Bedarf hinaus ausgebildet haben oder die sich bereit erklärt haben, jetzt auszubilden. ({0}) Obwohl 25 000 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen worden sind, können wir uns nicht mit der Situation zufriedengeben, weil wir 1998 kein ausgeglichenes Ausbildungsplatzangebot erreicht haben. Nach wie vor konnte ein Teil der Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz finden. Das hat im wesentlichen zwei Gründe: Einerseits ist es demographisch bedingt. Andererseits schieben wir sozusagen einen großen Stau von Jugendlichen vor uns her, der abgebaut werden muß. Viele Jugendliche, die in den letzten Jahren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben und die zunächst auf alternative oder Übergangsmaßnahmen ausweichen mußten, kommen nun aus diesen Warteschleifen zurück. Warteschleifen sind aber nicht gut, weil sie für die Jugendlichen belastend und volkswirtschaftlich unsinnig sind. ({1}) Obwohl diese demographische Entwicklung seit langem vorhersehbar war und obwohl wir wußten, daß die Anzahl der Jugendlichen pro Jahr zunimmt, meine Herren und Damen von der Opposition, haben Sie es in den vergangenen Jahren versäumt, die notwendige Vorsorge zu treffen, damit Jugendliche eben nicht in eine Warteschleife abgeschoben werden. Das heißt, die Berufsausbildung ist auf Kosten unserer Jugendlichen jahrelang sträflich vernachlässigt worden. Das, muß ich leider sagen, ist ein Vorwurf, den ich Ihnen machen muß. ({2}) Die neue Bundesregierung hat sich entschlossen, das zu ändern, und dieses Vorhaben auch sofort nach Regierungsantritt umgesetzt. Wir haben gesagt: Wir können so nicht weitermachen, wir müssen den Jugendlichen ein ganz konkretes Angebot machen. Deshalb haben wir zwei Initiativen ergriffen. Wir haben zum einen das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit beschlossen. Mit diesem Programm fördern wir Maßnahmen, die das betriebliche Lehrstellenangebot erhöhen, und spezielle Trainingsprogramme für Jugendliche, die noch nicht wissen, was sie wollen, was für sie der richtige Weg ist. Wer Ende 1999 noch keinen betrieblichen Ausbildungsplatz hatte, konnte eine Ausbildung in einer außerbetrieblichen Berufsbildungsstätte beginnen. Sehr viele Jugendliche haben diese Chance genützt. Ende Mai waren 101 000 Jugendliche in diesen Maßnahmen des Sofortprogrammes, entweder in Ausbildung oder in Beschäftigung. ({3}) Davon befanden sich 25 500 Jugendliche in einer außerbetrieblichen Ausbildung. In der Kürze der Zeit, in der wir dieses Programm auf den Weg gebracht haben und in der es umgesetzt worden ist, ist das ein beachtliches Ergebnis. Die große Resonanz, die dieses Programm bei den Jugendlichen gefunden hat, zeigt für mich vor allen Dingen eines: Die Jugendlichen in unserem Land wollen arbeiten. Sie brauchen eine Chance, um sich zu qualifizieren. Wenn sie eine Chance erhalten, nützen sie sie auch. Neben diesem ersten positiven Ergebnis des Sofortprogrammes gibt es ein zweites, wie ich finde, wirklich gutes Ergebnis: Es zeigt sich, daß viele Jugendliche, die die Chance ergriffen haben, auch durchhalten. ({4}) Aber - das will ich genauso deutlich sagen - Arbeitslosigkeit kann nicht alleine durch Maßnahmen der Bundesregierung beseitigt werden, und sie kann überhaupt nicht durch ein Regierungsdekret beseitigt werden. ({5}) Arbeitslosigkeit müssen wir im Dialog mit den Sozialpartnern verringern. Eine gute Ausbildung - ich denke, daß wir da nach wie vor übereinstimmen - lohnt sich. Sie lohnt sich für die Jugendlichen, und sie lohnt sich erst recht für die Unternehmen. ({6}) Investitionen in Ausbildung sind Investitionen in die Zukunft des Unternehmens. Deshalb haben wir im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“, das wir ins Leben gerufen haben, mit den Sozialpartnern die Fragen erörtert: Wie können wir mehr Betriebe für Ausbildung gewinnen? Wie können wir Betriebe dazu bringen, über ihren Bedarf hinaus auszubilden? Denn wir wissen, daß wir gemeinsam mit den Sozialpartnern, mit Wirtschaft und Gewerkschaften, die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen von Menschen, gerade von Jugendlichen, langfristig sichern müssen, damit wir von dem jährlichen Krisenhandeln wegkommen. Wir brauchen langfristig tragfähige Verabredungen. ({7}) Das gilt - lassen Sie mich das noch deutlich sagen insbesondere für Menschen mit schlechteren Startchancen. Wir haben im Bündnis inzwischen erste Erfolge erzielt. Wirtschaft und Gewerkschaften wollen zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um ab 1999 ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot sicherzustellen. Das geht von Vereinbarungen zur Steigerung des Angebotes in möglichst vielen Tarifverträgen bis hin zu einer gemeinsamen Lehrstellenkampagne zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze und nicht zuletzt - das ist ganz wichtig - zur Gewinnung neuer Ausbildungsbetriebe. Aber auch der Bund selbst nimmt seine Verpflichtung als Arbeitgeber ernst. Die Bundesverwaltung wird 1999 ihr Ausbildungsplatzangbot um über 4 Prozent steigern. Auch das ist in der jetzigen Situation notwendig und richtig.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Bundesministerin Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst Hinsken?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Selbstverständlich.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Minister, was würden Sie den Betrieben empfehlen, die händeringend versuchen, Auszubildende zu finden, aber keine an Land ziehen können? Ich möchte nur darauf verweisen, daß zum Beispiel in meiner ostbayerischen Heimat auf 100 Nachfrager 368 Ausbildungsplätze kommen. Da gibt es also eine große Diskrepanz. Ich sorge mich vor allen Dingen um die Unternehmer, die ausbilden wollen, aber leider keinen Auszubildenden bekommen. Was tun Sie dagegen?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Herr Hinsken, es besteht eine regional sehr unterschiedliche Situation. Das ist ein Teil des Problemes. Das gab es schon immer. Das ist auch heute so. Ich weiß, daß es Betriebe gibt, die keinen Auszubildenden bzw. keine Auszubildende finden. Wir haben in den Gesprächen mit den Sozialpartnern überlegt, wie wir dieses regional unausgewogene Verhältnis verändern können. Es gibt Jugendliche, die durchaus bereit sind, mobil zu sein. Aber wir müssen erreichen, daß wir auch Jugendlichen in denjenigen Regionen, in denen es viel zuwenig Ausbildungsplätze gibt, Ausbildungsplätze anbieten können. Denn Sie stimmen sicherlich mit mir überein, daß es zum Beispiel für einen 16jährigen jungen Mann oder eine 16jährige junge Frau nicht in jedem Fall zumutbar ist, nach München oder in Ihre niederbayerische Heimat zu ziehen, wenn dort kein Lehrlingsheim bzw. keine praktische Betreuung vorhanden ist. Wir werden also sicherlich nicht alle Probleme lösen können. Aber wir gemeinsam müssen schon erreichen, daß insgesamt ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot besteht. Aus den Debatten, die wir hier im Bundestag bisher miteinander geführt haben, weiß ich, daß Sie mit mir übereinstimmen, daß dies unser gemeinsames Ziel sein muß. Die Erfahrungen mit dem Sofortprogramm haben zum Beispiel gezeigt, daß Jugendliche nach einer guten Beratung durchaus bereit sind, ihren ursprünglichen Berufswunsch zu verändern. Deshalb halte ich es nach wie vor für richtig, den Weg so weiterzugehen, daß denjenigen Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, durch eine gute Beratung und Information und auch durch Trainingsmaßnahmen eine Perspektive eröffnet wird, so daß sie selber einen Ausbildungsplatz finden und nach Möglichkeit diejenigen Betriebe, die jetzt keinen Auszubildenden finden, dann einen Jugendlichen bzw. eine Jugendliche finden, der bzw. die den angebotenen Ausbildungsplatz dann auch wahrnimmt und damit eine berufliche Perspektive gewinnt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben gute Chancen, in den alten Ländern das Ausbildungsplatzproblem zu lösen. Die Hauptprobleme liegen zur Zeit in den neuen Bundesländern. Das hat konjunkturelle, aber auch strukturelle Gründe. Es fehlen immer noch gesunde und stabile Betriebsstrukturen in den neuen Bundesländern. Das ist leider das Hauptproblem. Sie aber sind Grundlage für ein ausreichendes Arbeitsplatz- und Ausbildungsplatzangebot. Deshalb werden wir in den neuen Bundesländern in den kommenden Jahren noch mit staatlichen Programmen helfen müssen. Ich denke, daran geht kein Weg vorbei. Das müssen wir akzeptieren. Wir werden daher im Rahmen des „Ausbildungsplatzprogramms Ost“ 17 500 zusätzliche Ausbildungsplätze für noch unvermittelte Jugendliche fördern. Da besteht eine Absprache mit den Ländern. Wir haben die Zahl erhöht, weil wir wissen, daß der Bedarf gestiegen ist, und weil wir nicht wollen, daß in den neuen Bundesländern Jugendliche ohne Ausbildung bleiben. Wir haben parallel dazu in den neuen Bundesländern das Programm für Ausbildungsplatzentwickler bis Ende 2001 verlängert und weiter ausgebaut. Die Handwerkskammern sowie die Industrie- und Handelskammern in den neuen Bundesländern haben gerade gestern gesagt, daß dies ein außerordentlich erfolgreiches Programm ist, mit dem sehr viele Betriebe für die Ausbildung gewonnen worden sind. Deshalb ist dies ein richtiger Ansatz. Wir haben in diesem Jahr die Zahl der Ausbildungsplatzentwickler von 160 auf 200 erhöht. ({1}) In der Arbeitsgruppe Aus- und Weiterbildung des Bündnisses für Arbeit werden wir nach der Sommerpause darüber beraten, wie wir die verschiedenen Programme, die es auf Bundes- und Länderebene gibt, noch besser aufeinander abstimmen und wie wir die Mittel insgesamt noch effektiver einsetzen können. Denn es gibt nicht nur Bundes- und Länderprogramme, sondern auch eine Reihe weiterer Programme, die wir noch besser aufeinander abstimmen müssen. Meine Herren und Damen, über die nach Regierungsantritt eingeleiteten Sofortmaßnahmen werden zahlreiche, zusätzliche betriebliche und außerbetriebliche Ausbildungsplätze mobilisiert. Außerdem hat die Wirtschaft zugesagt, daß das betriebliche Ausbildungsplatzangebot auch in diesem Jahr über den demographischen Zuwachsbedarf hinaus erhöht werden soll. ({2}) In der Kanzlerrunde am 6. Juli dieses Jahres geht es darum, dies zu konkretisieren. Zur mittelfristigen Sicherung eines ausreichenden betrieblichen Ausbildungsplatzangebots aber brauchen wir noch weitergehende strukturelle Reformen. Wir erarbeiten zur Zeit gemeinsam mit den Sozialpartnern und den Ländern im Rahmen des Bündnisses für Arbeit konsensfähige Entwicklungskonzepte. Dabei haben die folgenden Handlungsfelder Priorität: Erstens: Verstärkung der Aktivitäten zur Früherkennung des Qualifikationsbedarfes. Wir müssen noch besser und noch schneller neue Berufe in wachsenden Beschäftigungsfeldern erschließen. Dafür brauchen wir eine systematische Weiterentwicklung der beruflichen Bildung und vor allem eine systematische Weiterentwicklung des Informationssystems, um diesen Bedarf frühzeitig zu erkennen. Nur so können wir recht schnell die notwendigen und richtigen Entscheidungen treffen. Wir haben uns weiterhin darauf verständigt, die systematische Analyse neuer Beschäftigungsfelder und der dazugehörigen Qualifikationsprofile zu intensivieren. Wir müssen eben schon heute für die Berufe von morgen ausbilden. Ein Schwerpunkt wird sein, zu analysieren, welche neuen Beschäftigungsfelder sich im Dienstleistungsbereich bilden, da ein sehr großes Ungleichgewicht zwischen der Zahl der Auszubildenden und der Zahl der anschließenden Beschäftigungsverhältnisse besteht. Im Anschluß an die Ausbildung gibt es zwar gute Beschäftigungsmöglichkeiten, es gibt aber noch nicht in ausreichendem Maße Berufsbilder für die Ausbildung im Dienstleistungsbereich. Ein zweiter großer Komplex ist die rasche Modernisierung, Differenzierung und Flexibilisierung der Ausbildungsberufe. Moderne und neue Ausbildungsberufe sichern Arbeitsplätze und schaffen Ausbildungsmöglichkeiten vor allem in Betrieben, die bisher noch nicht ausbilden; und diese Betriebe müssen wir gewinnen. ({3}) Wir werden zum 1. August 26 modernisierte Ausbildungsordnungen in Kraft treten lassen und drei neue Berufsfelder einführen. Eine ganze Reihe weiterer Ausbildungsordnungen werden zur Zeit überarbeitet. Wir werden sie so rasch wie möglich zur Anwendung bringen. Bei den neuen und modernisierten Ausbildungsberufen streben wir noch mehr Flexibilität, Differenzierung und Praxisnähe an, weil wir wissen, daß wir dadurch mehr Betriebe für die Ausbildung gewinnen können. Die Betriebe sollen die Möglichkeit erhalten, die Ausbildungsinhalte auf ihre spezifischen Bedürfnisse hin zu variieren. Ausbildungsberufe müssen nach unserer Auffassung von den Anforderungen des Beschäftigungssystems her definiert werden und zur vollen Berufsbefähigung führen. Letzteres ist für mich ein ganz wichtiges Ziel. Ich will, daß die Jugendlichen im Anschluß an die Berufsausbildung auch wirklich einen Arbeitsplatz erhalten; sie sollen nicht in die Arbeitslosigkeit gehen. ({4}) Der dritte große Komplex ist die Förderung von Jugendlichen mit schlechteren Startchancen und die Senkung des Anteils von Jugendlichen ohne Berufsabschluß. Gerade für diese Jugendlichen müssen wir die Ausbildungschancen deutlich verbessern. Wir haben deshalb im Bündnis ein Konzept für die berufliche Förderung benachteiligter Jugendlicher beraten und erstmals gemeinsame Leitlinien und Umsetzungsschritte verabredet. Dazu gehören neben der Schaffung weiterer betrieblicher Ausbildungsmöglichkeiten Maßnahmen zur Motivierung, besseren Berufsvorbereitung, Ausbildung und Nachqualifizierung. Auch benachteiligte Jugendliche müssen in vollwertigen Ausbildungsberufen ausgebildet werden und entsprechende Weiterbildungsoptionen erhalten. ({5}) Um dies zu erreichen, müssen wir das volle Gestaltungspotential des Berufsbildungsgesetzes und der Handwerksordnung nutzen. Es kann also nicht darum gehen, teilqualifizierende Ausbildungsgänge unterhalb der Facharbeiterebene, sogenannte Einfachberufe, zu schaffen, wie es jetzt in dem Antrag der Opposition vorgeschlagen wird. Es geht darum, für Jugendliche mit unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen ein breites Berufsspektrum zu schaffen. Ziel ist eine volle Berufsbefähigung, damit - ich habe dies schon angesprochen - diese Jugendlichen anschließend einen Arbeitsplatz finden. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, keine Ausbildungsgänge zu entwikkeln, die in die Arbeitslosigkeit führen. Ich hoffe, daß wir uns in diesem Punkt einig sind. ({6}) Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es, den Übergang von der Schule in die Ausbildung zu verbessern. Hierauf müssen unsere Jugendlichen vorbereitet sein. Das gilt im übrigen auch für die zweite Schwelle, den Übergang von der Ausbildung in die Beschäftigung. Wir müssen uns besonders um lernschwächere Jugendliche und Jugendliche mit Motivationsproblemen kümmern. Dieses Problem haben wir im Bündnis aktiv in Angriff genommen. Wir werden im Bündnis auch den Dialog zum Thema Ausbildungsreife mit den Ländern fortsetzen. Unser Ziel ist es, neue Kooperationskonzepte zwischen Schule und Wirtschaft zu entwickeln und den Übergang von der Schule in die Wirtschaft zu erleichtern und zu verbessern. Meine sehr geehrten Herren und Damen, der Berufsbildungsbericht 1999 beschreibt die Ausgangslage, die wir vorgefunden haben. Er zeigt zugleich unsere ersten Schritte zur Sicherstellung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebots und zur Modernisierung der beruflichen Bildung. Das duale Ausbildungssystem muß durch eine flexiblere Gestaltung von Ausbildung, Ausbildungsordnung und Ausbildungsinhalten weiterentwikkelt werden. Wir brauchen mehr Betriebsnähe, mehr Effizienz und mehr Qualität in der beruflichen Ausbildung. Ein modernes Berufskonzept muß Fachkenntnisse mit Schlüsselqualifikationen und volle Berufsfähigkeit mit einem breiten Zugang zum Arbeitsmarkt verbinden. Ein solches umfassendes Konzept für die Reform der beruflichen Aus- und Weiterbildung erarbeiten wir zur Zeit im Konsens mit den Sozialpartnern. Wir haben mit dem Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit schnell gehandelt. Vor allem werden wir in den kommenden Jahren den Schulabgängern eine Perspektive geben, und wir werden mit diesem Sofortprogramm auch im kommenden Jahr dafür Sorge tragen, daß die Dauer der Warteschleife, die es gibt, deutlich verringert wird, so daß Jugendliche eben nicht noch längere Zeit warten müssen. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Minister Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Lenke?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ja.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, Sie sprachen eben von einer besseren Verknüpfung von Schule und Berufsausbildung. Ich frage Sie, welche Initiativen Sie ergriffen haben, um die Länder aufzufordern, für die Schüler erst einmal eine bessere Schulausbildung zu organisieren. Denn Sie wissen ganz genau, daß es da hapert und sich die Betriebe darüber beklagen, daß Deutschkenntnisse und Mathematikkenntnisse manches Mal unzureichend sind. Wir wissen alle, daß die Länder zuwenig Geld in diesen Bereich der Bildungspolitik stecken. Welche Initiativen haben Sie also gestartet?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ich habe mehrere Initiativen gestartet. Es werden zum einen mit Unterstützung des BMBF Modellversuche durchgeführt, mit denen wir Methoden einer besseren Kooperation zwischen Unternehmen und Schule ausprobieren wollen. Wir wollen herauszufinden versuchen, was eigentlich der bessere Weg ist. Zum anderen habe ich die Länder in die Beratungen der Arbeitsgruppe Ausbildung und Weiterqualifizierung in das Bündnis für Arbeit mit einbezogen, weil ich davon überzeugt bin, daß wir die Verbesserung zusammen mit den Ländern gestalten müssen. Deshalb halte ich es auch für richtig, daß sie - im Gegensatz zum Verfahren in den anderen Arbeitsgruppen - hier mitwirken. Wir haben im Bündnis für Arbeit gemeinsam mit den Ländern, den Unternehmen und den Schulen verabredet, daß wir über Länderprogramme Modellversuche der Kooperation durchführen. Die Länder werden die Erfahrungen, die sie mit diesen Modellen gemacht haben, auswerten und austauschen. Ebenfalls habe ich initiiert, daß wir mit den Ländern gemeinsam ein Forum für Bildung einrichten wollen, das heißt, Bundesregierung und Bundesländer. Das ist das erste Mal seit vielen, vielen Jahren, daß wir gemeinsam in einer Arbeitsgruppe mit Experten aus Wirtschaft, aus Gewerkschaften, aus Kirchen, aber vor allen Dingen auch mit den Jugendlichen selber miteinander beraten, Fragen erörtern und auch Vorschläge erarbeiten, wie wir insgesamt Bildung und Ausbildung verbessern können. Ich denke, das ist der richtige Weg, daß man es nämlich in Kooperation mit den Ländern und mit den Sozialpartnern macht. Wir können zwar allein entsprechende Beschlüsse fassen. Aber wenn wir bei der Umsetzung erfolgreich sein wollen, müssen wir es mit diesen drei Partnern gemeinsam hinbekommen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie eine zweite Frage?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ja.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, Sie haben also die Länder aufgefordert, mehr in die Bildungspolitik, sprich: mehr in die Schulausbildung, zu investieren. Denn Sie wissen, daß überall Unterrichtsausfälle zu verzeichnen sind. Ich frage Sie: Haben Sie das gemacht?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Wir haben im Bündnis für Arbeit, wie ich das eben dargestellt habe, mit den Ländern gemeinsam erörtert - wir haben auch entsprechende Modelle entwickelt -, wie wir erreichen können, daß vor allen Dingen die Jugendlichen auf der Hauptschule eine bessere Kenntnis von der Arbeitswelt haben, wie wir erreichen können, daß die Betriebe selber stärker in die Schule hineingehen und daß Jugendliche in Betrieben arbeiten können, und wie wir erreichen können, Bildung und berufliche Tätigkeit miteinander zu kombinieren. Denn wir wissen, daß das gerade für diese Gruppe von Jugendlichen ein erfolgversprechender Ansatz ist. Das machen die Länder mit. ({0}) Das ist - das sage ich ganz offen - ein Erfolg im Vergleich zu der Politik der vergangenen Jahre. Denn die Konfrontation und Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Vielmehr müssen wir solche gemeinsamen Projekte auf den Weg bringen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen den jungen Menschen Chancen und Perspektiven geben. Wir haben in diesem Haus in der letzten Woche eine Debatte darüber geführt, daß wir Perspektiven dadurch aufzeigen müssen, daß wir auf der einen Seite sparen - wir haben ein Sparpaket verabschiedet -, daß wir aber auf der anderen Seite Investitionen an den richtigen Stellen tätigen. ({2}) Das haben wir gemacht. Wir haben nicht nach Rasenmähermethode gespart, sondern Prioritäten gesetzt. Die Zukunftsinvestitionen in Forschung, Bildung und Wissenschaft werden Jahr für Jahr erhöht, ({3}) und wir werden das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit fortsetzen. Wir werden unserer Jugend mehr Ausbildung bieten und weniger Schulden zumuten. Dafür lohnt es sich zu arbeiten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich komme zum Tagesordnungspunkt 3 zurück. Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Mit- glieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums be- kannt. Mitgliederzahl: 669. Abgegebene Stimmen: 594. Ungültige Stimmen: 6. Mit Ja haben gestimmt: 349 Ab- geordnete. Mit Nein haben gestimmt: 227 Abgeordnete. Enthaltungen: 12.*) Der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele hat die nach § 4 Abs. 4 des Gesetzes über die Parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderliche Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Er ist damit als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums gewählt. ({0}) Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer von der CDU/CSUFraktion.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 1999 werden rund 690 000 junge Menschen einen Ausbildungsplatz suchen. Das sind rund 40 000 mehr als im vergangenen Jahr. Erhebliche Anstrengungen werden notwendig sein, um dieser Nachfrage gerecht zu werden. Ich möchte gleich zu Beginn feststellen: Das von der Bundesregierung aufgelegte Sofortprogramm hat die Erwartungen bei weitem nicht erfüllt und ist den Anforderungen nicht gerecht geworden. ({0}) Das zentrale Thema unserer Gesellschaft ist, jungen Menschen eine Lebensperspektive zu geben. Nach Be- endigung der Schulzeit muß ihnen eine Ausbildung und danach der Einstieg in das Berufsleben ermöglicht wer- den. Auch und gerade heute ist eine Berufsausbildung die beste Vorsorge gegen spätere Arbeitslosigkeit. Die Grundlagen für eine gute Ausbildung werden be- reits im Elternhaus gelegt. Darüber hinaus ist eine enge --------- *) Verzeichnis der Namen der Abgeordneten, die an der Wahl teilgenommen haben, siehe Anlage 2 Kooperation zwischen Wirtschaft und Schule dringend notwendig. Nur mit einer zukunftsorientierten Ausbildung und Qualifizierung hat der Wirtschaftsstandort Deutschland eine Chance. ({1}) Bildung und - dies möchte ich ganz bewußt hinzufügen - Erziehung sind wesentliche Faktoren, um Innovation und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und damit Wohlstand und berufliche Existenz eines jeden einzelnen zu sichern. ({2}) Das deutsche Bildungssystem muß zur Erfüllung dieser Voraussetzungen schlanker, effizienter und internationaler werden. ({3}) Wenn wir über die Ausbildungssituation in Deutschland sprechen, dann sollten wir auch einige positive Beispiele herausstellen und vielleicht auch einmal Dank abstatten. Wir danken der deutschen Wirtschaft, die mit steigender Tendenz Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt. Dabei können wir feststellen, daß der Mittelstand die entscheidende Vorreiterrolle spielt. ({4}) In diesen Dank einschließen möchte ich unsere Arbeitsverwaltungen, die erhebliche Anstrengungen unternehmen, um jungen Menschen eine Ausbildungsstelle zu vermitteln. Ich danke aber auch den Lehrerinnen und Lehrern an den Haupt- und Realschulen, die den Jugendlichen mit viel Idealismus beistehen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Hofbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte gerne eine Frage zu dem von Ihnen eben Geäußerten stellen: Können Sie die zunehmende Ausbildungsbereitschaft der Industrie, vor allem der Großindustrie, mit Zahlen belegen?

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann es nicht generell mit Zahlen belegen. Aber ich habe heute einer Pressemitteilung des bayerischen Handwerks entnommen, daß wir in Bayern eine Jugendarbeitslosigkeit von 4,8 Prozent haben. Wenn man weiß, daß die Struktur hier mittelständisch ist, sieht man auch, daß der Mittelstand eine entscheidende Rolle gespielt hat. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Böttcher?

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich. ({0})

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, ich will alles genau wissen. Das war nicht meine Frage. Das Handwerk und die kleinen und mittelständischen Betriebe stehen überhaupt nicht zur Diskussion. Sie leisten in Gesamtdeutschland Hervorragendes. Sie haben aber gesagt, in Deutschland habe sich die Industrie besonders hervorgetan, Ausbildungszuwächse zu sichern. Ich möchte noch einmal nachfragen, woher diese kommen.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nicht von der Industrie gesprochen, sondern von der Wirtschaft, insbesondere vom Mittelstand. ({0}) Zu dieser Aussage stehe ich, weil sie mit Zahlen belegt werden kann. Ich möchte einmal den jungen Menschen selbst danken. Wir sprechen immer von den jungen Menschen, die keinen Ausbildungsplatz haben. Ich möchte aber insbesondere von den jungen Menschen sprechen, die sich mit viel Idealismus, mit Fleiß und Einsatzbereitschaft ihren Ausbildungsplatz selbst gesucht haben. 90 bis 95 Prozent unserer jungen Leute sind motiviert und bereit, zukunftsorientiert tätig zu werden. ({1}) Ernst Hinsken hat bereits die Ausbildungssituation in Bayern angesprochen. Ich bin in seinem Nachbarwahlkreis Schwandorf/Cham tätig. In diesem Wahlkreis gibt es genauso viele Ausbildungsplätze, die von der Wirtschaft angeboten werden, wie Auszubildende am Markt - wenn ich es so banal ausdrücken darf - vorhanden sind. Unsere Region ist mittelständisch geprägt. Das belegt meine eingangs gemachte Aussage. Die positive Ausgangslage kommt nicht von ungefähr. Günstige politische Rahmenbedingungen sind bei uns in Bayern möglich. Ich möchte ein Beispiel nennen, das bei uns in Bayern praktiziert wird. Ich war über 15 Jahre hinweg Projektleiter. Wir haben Eltern, Schulen, Gewerkschaft, Ausbildungsbetriebe und die Wirtschaft an einen Tisch zusammengeholt. Die Wirtschaft bestätigt uns, daß wir keine Ausbildungsprobleme haben. ({2}) Ganz anders ist die Situation auf Bundesebene. Die Situation hat sich durch die neue Bundesregierung noch verschlechtert. Die rotgrüne Bundesregierung hat zwar versprochen, Hemmnisse abzubauen, in Wirklichkeit belastet sie jedoch die Wirtschaft immer mehr. Die Stichworte sind: Steuerreform, 630-DM-Gesetz und Scheinselbständigkeit. Diese negativen Fakten werden sich auf Dauer auch negativ auf die Arbeitsplätze und insbesondere auf die Ausbildungsplätze auswirken. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Sofortprogramm der Bundesregierung für 100 000 Ausbildungs- und Arbeitsplätze hat nicht das gehalten, was versprochen wurde. Im letzten Herbst wurde recht vollmundig angekündigt, daß 100 000 Jugendliche mit einem Sofortprogramm schnell in Ausbildung und Beschäftigung gebracht werden sollen. Nach wenigen Monaten müssen wir feststellen, daß die Ankündigungen bei weitem nicht erfüllt wurden. Ganz offensichtlich haben nur wenige Jugendliche einen festen Ausbildungsplatz und vor allen Dingen eine Arbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt erhalten. Über 50 000 sind in sogenannten Trainingsprogrammen untergebracht worden, die nach einem Vierteljahr beendet sind, und dann stehen die Jugendlichen wieder auf der Straße. Wir treffen deshalb folgende Feststellung: Mit viel Geld wurde bei diesem Programm viel zu wenig erreicht. ({4}) Wir lehnen eine Ausbildungsplatzumlage aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Ausbildungsplätze können nicht verordnet werden. Mit Zwang, Dirigismus und bürokratischer Gängelung kann nichts erreicht werden. Es bedarf im Gegenteil ständiger Bemühungen vieler Seiten: der Wirtschaft, der Schulen und der Berufsberatung. Unabdingbar sind gute politische Rahmenbedingungen. Damit ist auch unsere Haltung zu dem heute ebenfalls zu diskutierenden PDS-Antrag umschrieben. Diese Umlage würde mehr Bürokratie und höhere Kosten für die Betriebe bedeuten, aber voraussichtlich weniger Ausbildungsplätze wegen des dann zu erwartenden Freikaufs der Unternehmen von der Ausbildungspflicht bringen. ({5}) Wir bekennen uns grundsätzlich - das möchte ich betonen - zur dualen Ausbildung. Gewisse ergänzende Maßnahmen sind notwendig, um insbesondere den kleinen Handwerksbetrieben eine Chance zu geben. In diesem Sinne, meine sehr geehrten Damen und Herren, meine Schlußfeststellung: Mit dem Antrag unserer Fraktion, der CDU/CSU, wollen wir neue Impulse für eine bessere Ausbildungssituation geben. Wir wollen jungen Menschen eine sichere Zukunft geben. Wir sind uns dabei bewußt, daß die Politik alleine dieses Anliegen nicht lösen kann. Viele gemeinsame Initiativen auf allen Ebenen sind notwendig. Unser Antrag enthält praktische Anregungen, die jedenfalls zum Teil ohne großen finanziellen Aufwand umzusetzen sind. In diesem Sinne bitte ich, unserem Antrag endgültig zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das war die erste Rede des Kollegen Hofbauer. Ich möchte Ihnen dazu im Namen des Hauses gratulieren. ({0}) Ich gebe nunmehr das Wort der Kollegin Antje Hermenau vom Bündnis 90/Die Grünen.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man dem Kollegen Hofbauer hier so zuhört, müßte man meinen - bei dem vielen Lob für die jungen Leute und für die Unternehmen, die sich alle anstrengen -, daß die CDU/CSU JUMP gemacht hätte. Hat sie aber nicht. Er hat dann auch ein bißchen Kritik hineingestreut, damit das ja nicht als Verdacht aufkommt und gemeint, die Erwartungen wären nicht erfüllt worden. Tja, Herr Hofbauer, wessen Erwartungen denn? Meinen Sie, Ihre Erwartungen sind nicht erfüllt worden? Oder meinen Sie, die Erwartungen der jungen Leute sind nicht erfüllt worden? ({0}) Ich kann verstehen, daß nach mehreren Jahren einer wirklich schlechten Versorgung mit Lehrstellen die jungen Leute natürlich sehr hohe Erwartungen haben, weil sie sagen, es muß ja endlich einmal besser werden. Es mag sein, daß JUMP vielleicht noch nicht jedem Jugendlichen alle Erwartungen erfüllen konnte. Aber wenn Sie den Enthusiasmus zugrunde legen, mit dem die jungen Leute das JUMP-Programm angenommen haben, weil sich endlich wieder einmal jemand um diese Leute kümmert und fragt, wie es ihnen geht und was sie aus ihrem Leben so machen können, ({1}) dann, denke ich, ist es gar nicht schlimm, daß wir noch ein bißchen hinter den Erwartungen der jungen Leute zurückgeblieben sind. Ihre Erwartungen halte ich für nicht so wichtig; denn wir haben jahrelang beobachten müssen, wie Sie von einem Sofortprogramm zum nächsten gejumpt sind, ohne daß da der Enthusiasmus der jungen Leute irgendwie gedeckt worden wäre. ({2}) Ich finde es sehr wichtig, daß wir in der Lage gewesen sind, den Zeitgewinn herauszuarbeiten, den wir einfach nötig hatten, um die Gespräche im Bündnis für Arbeit in aller Ruhe - auch zu diesem Themenbereich zu führen. Wir werden in der nächsten Woche herausfinden, was das Ergebnis dieser Gespräche ist. Ich persönlich bin da guten Mutes. Natürlich bin ich auch sehr froh darüber, daß wir im Herbst eine sehr vernünftige und, wie ich hoffe, auch sehr qualifizierte Debatte über den Maßnahmenkatalog aus dem diesjährigen JUMP-Programm führen werden. Es wird wichtig sein, daß wir uns mit den einzelnen Maßnahmen auseinandersetzen, ihre Wirksamkeit überprüfen, das rausschmeißen, was nicht so sinnvoll ist, und das verstärken, was sehr sinnvoll ist. Vielleicht werden wir die Dinge auch neu zuordnen. Das muß man alles sehen. Aber es wurden ja auch Experimente mit den Möglichkeiten dieses JUMP-Programms gemacht. Die Leute haben Kreativität entwickelt. Industrie- und Handelskammern haben sich zu regionalen Ausbildungskonferenzen zusammengesetzt. Sie haben überlegt, wie man zum Beispiel aus einer vierteljährlichen Qualifizierungsmaßnahme, die Sie in Ihrer Rede so herabgewürdigt haben, etwas machen kann, damit ein junger Mensch, der schon eine Berufsausbildung hat, für die Bedürfnisse in seiner Region zusätzlich qualifiziert werden kann, um dort vermittelbar zu werden. ({3}) Das sind sehr sinnvolle Experimente, die erst durch diesen Katalog überhaupt möglich wurden, weil man ein bißchen mit den verschiedenen Möglichkeiten spielen konnte. Man hatte endlich die Möglichkeit, auf die individuelle Situation von jedem einzelnen jungen Menschen einzugehen. Ich halte das für einen großen Fortschritt in der ganzen Debatte über die Lehrstellensituation. ({4}) Was ich hingegen nicht verstehen kann, ist, wie dann einzelne Bundesländer komischerweise auf die Idee kommen, solche Maßnahmen zu konterkarieren oder sogar zu boykottieren. So ist es zum Beispiel in Sachsen neuerdings Usus, nach vielen Jahren einer sehr vernünftigen Auslegung der Richtlinie zur Berufsausbildung bei den Ausbildungsverbünden, diese jetzt enger auszulegen, weil die Finanzen im Land Sachsen durch den Finanzminister knapp bemessen werden. Es ist dem Kultusminister nicht gelungen, sich durchzusetzen. Sie haben vorhin nach der Verantwortung der Länder gefragt. Es stellt sich heraus, es wird jetzt so eng ausgelegt, daß die Ausbildungsverbünde, die existieren und wirklich gut sind, wahrscheinlich daran scheitern werden, daß der Kreis nicht mehr finanziert. Damit kann dieser Verbund nicht mehr überregional funktionieren. Das halte ich für ein großes Problem. Sie versuchen immer, irgendwelche sozialdemokratischen und rotgrünen Landesregierungen in Verruf zu bringen. In Sachsen kann das nicht der Fall sein. Das ist eindeutig schwarz regiert. Dann haben Sie davon gesprochen, daß wir noch so viele Bewerber haben, die noch nicht versorgt sind. Ja, natürlich; wir alle kennen die Herbstzahlen und die Frühjahrszahlen. Wir werden im nächsten Herbst noch einmal über dieses Thema sprechen. Wir wissen, daß die Frühjahrszahlen immer eine hohe Zahl unversorgter Bewerber beinhalten, die bis zum 1. September noch Lehrstellen finden werden. Trotzdem - da gebe ich Ihnen recht - werden wir wahrscheinlich mit mindestens 10 000 jungen Leuten rechnen müssen, die keine Ausbildungsstelle finden, so daß noch nicht einmal ein rechnerischer Ausgleich zu erreichen sein wird. Also werden wir uns noch etwas einfallen lassen müssen. Aber nachdem Sie jahrelang in diesem Bereich politisch geschlampt haben, können Sie natürlich nicht erwarten, daß wir innerhalb eines Jahres alle strukturellen Probleme lösen, und das womöglich noch neben aktuell auftretenden Nachfragespitzen. ({5}) Insgesamt wird deutlich - das ist eine Tendenz, die mich mit Sorge erfüllt -, daß es einen gewissen Verdrängungsprozeß bei der Nachfrage von Lehrstellen gibt. Er hat damit zu tun, daß der Lehrstellenmarkt sehr eng bemessen ist. Wir haben eine steigende Anzahl von jungen Leuten. Auch gibt es immer mehr sogenannte latente Bewerber. Das sind diejenigen, die eigentlich gern eine Ausbildung machen würden, aber keine Ausbildungsstelle bekommen haben und inzwischen herumjobben. Da hat sich eine große Gruppe junger Leute gebildet - vielleicht bin ich bei diesem Problem als Ostdeutsche ein bißchen empfindlicher, weil die Zahlen bei uns in den fünf neuen Ländern viel höher sind -, mit der wir uns nach meiner Einschätzung ein Problem an den Hals ziehen, das wir in den Diskussionen im Herbst ebenfalls anpacken müssen. Wir können uns nicht darum herummogeln, sondern müssen eine Lösung dafür finden, daß diese Leute nachträglich die Möglichkeit bekommen, eine ordentliche Berufsausbildung zu absolvieren. Ansonsten werden wir in den ostdeutschen Ländern mit dem Phänomen konfrontiert, daß bei uns die Anzahl der nichtqualifizierten Arbeitnehmer gewachsen ist, seitdem wir zur Bundesrepublik Deutschland gehören. Wir hatten früher einen viel niedrigeren Prozentsatz von unqualifizierten Arbeitnehmern, als er im Altbundesgebiet üblich war. Dieser Prozentsatz steigt jetzt, und das ist unvernünftig. Ich hoffe, daß wir - vielleicht erst einmal nur im Osten als Testgelände - zu einer vernünftigen Lösung kommen, um diesen Berg von Altbewerbern und latenten Bewerbern abzubauen. Ich habe mit sehr viel Wohlwollen gehört, daß im Ministerium daran schon auf Hochtouren gearbeitet wird. Die meisten Menschen in Deutschland haben schon sehr wohl gespürt, daß man sich dieses Problems endlich ernsthaft annimmt, viele verschiedene Wege probiert, um herauszufinden, welche am ehesten zum Ziel führen, und sich nicht mehr damit begnügt, so zu tun, als gebe es kein Problem oder als könnte man das Problem, wenn es denn doch eines gibt, aus Finanzgründen nicht lösen. Ich bin mit der Prioritätensetzung der Bundesregierung in diesem Bereich sehr zufrieden ({6}) und hoffe, daß wir im Herbst erfolgreich über die Qualität der einzelnen Maßnahmen weiter diskutieren können, die nötig sind, um Fortschritte zu erzielen. Schönen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine der größten sozialen Herausforderungen unserer Zeit ist es, jedem jungen Menschen mit einem Ausbildungsplatz eine Perspektive für sein Leben zu geben. ({0}) Gleiche Chancen beim Start und eine moderne, qualifizierte Ausbildung heute ersparen uns soziale Probleme von morgen. Bundespräsident Roman Herzog sagte, die beste Eintrittskarte für den Arbeitsmarkt sei eine gute Ausbildung. Ich meine sogar, die jungen Menschen in diesem Lande haben einen Anspruch auf die beste Ausbildung als Gegenleistung für eine später geringere Rentenleistung. Aber entsprechen unser Schulsystem und die Ausbildung den modernen Anforderungen einer Wissens- und Informationsgesellschaft von morgen? Von betroffenen Eltern, Schülern und Experten hören wir ein klares Nein. Hier möchte ich Sie, Frau Bulmahn, auffordern, insbesondere in den SPD-regierten Ländern die Hausaufgaben erst einmal selbst zu erledigen. ({1}) Das heißt für uns von der F.D.P., mehr Vielfalt und Differenzierung im Schulsystem zuzulassen, nicht auf Gleichmacherei einer Einheitsschule zu setzen, Schulen besser auszustatten und Unterrichtsausfall zu verhindern. ({2}) Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, in Niedersachsen beträgt der Unterrichtsausfall an den Berufsschulen fast 20 Prozent. ({3}) Damit ist Niedersachsen Spitzenreiter aller Bundesländer. Hier muß man unbedingt etwas tun. Aber hier sind Sie in Ihren Landesregierungen selbst gefordert. ({4}) Dazu gehört auch, deutlich zu machen, daß wir Reformen bei den Bildungsinhalten brauchen. Wirtschaft und Technik müssen verstärkt Einzug in den Unterricht aller Schulformen halten. ({5}) Was die berufliche Ausbildung anbelangt, beklagt sich die Wirtschaft zu Recht über die zurückgehende Ausbildungsreife zum einen und über die fehlende Praxisnähe der Ausbildung zum anderen. Allein 40 Prozent der Auszubildenden fallen nämlich bei den Kammerprüfungen durch. Lehrpläne sind überfrachtet. Wenn ein junger Mensch nach drei Jahren Installationslehre nicht einmal den Durchmesser berechnen kann, muß man die Qualität des Unterrichts in Frage stellen dürfen. ({6}) Eine Differenzierung in der beruflichen Bildung findet nicht statt. Es gibt weder berufsfachliche Zusatzqualifikation für Begabte noch Förderunterricht für eher praktisch orientierte Auszubildende. Ich meine, daß bei praktisch orientierten Berufen ein Berufsschultag künftig ausreicht. Bei theorieorientierten Berufsbildern ist mehr Flexibilität in Form der theoretischen Ausbildung im Block gefragt. ({7}) In den neuen IT-Berufen werden Fachkräfte gesucht, aber es mangelt an Ausbildungsplätzen. Auf diese Probleme haben Sie, Frau Ministerin, in Ihrem Berufsbildungsbericht meines Erachtens keine ausreichenden Antworten gegeben. Die F.D.P.-Fraktion hält eine Reform der beruflichen Ausbildung im Interesse der Chancen junger Menschen für dringend geboten. Die duale Ausbildung zu stärken, indem wir sie reformieren, muß das eigentliche Ziel sein. Die Reform des dualen Berufsbildungssystems muß umgehend in Angriff genommen werden. Die F.D.P. setzt sich schon lange für eine Modularisierung der beruflichen Ausbildung nach dem Muster eines Baukastensystems ein. Dabei haben wir leistungsstarke und leistungsschwache junge Menschen gleichermaßen im Auge. Eine Modularisierung von Ausbildungsgängen mit berufsqualifizierenden Abschlüssen bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Berufsbilder auch auf jene zuzuschneiden, die nicht durch ihre guten theoretischen Begabungen auffallen und eher praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten aufweisen. ({8}) Die jungen Menschen erhalten in einem solchen System eine echte Chance für ihren Einstieg in den Beruf. Gerade das ist wichtig; denn die Zahl der Einfacharbeitsplätze sinkt Jahr für Jahr. Ungelernte haben immer weniger Chancen. ({9}) Unser Modell, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist nicht der Anfang einer Schmalspurausbildung. Grundberufe mit Spezialisierungsrichtungen, zwei- und dreijährige Ausbildungsgänge, einige Ergänzungslehrgänge bzw. Anpassungslehrgänge sind der richtige Ansatz. Ich füge hinzu: Die Schaffung einer modularen vierten Aufbaustufe in den Berufs- und Berufsfachschulen soll künftig die Möglichkeit zu Fachhochschulreife bzw. zum Fachabitur bieten. Wir brauchen dringend diese Reform. Ich sage es noch einmal. Die Probleme sind mit dem Sofortprogramm der Bundesregierung alleine nicht gelöst, schon gar nicht in Ostdeutschland. Wenn im Osten Deutschlands 70 Prozent der jungen Menschen außerbetriebliche Ausbildungsstätten besuchen, können wir davon ausgehen, daß immer weniger von ihnen anschließend Chancen auf einen Arbeitsplatz haben werden. ({10}) Mit anderen Worten: Wir haben nicht nur ein Ausbildungsplatzproblem. Wir haben Dank dieser rotgrünen Bundesregierung vor allem ein Arbeitsplatzproblem für junge Menschen in diesem Land. ({11}) Wenn bisher Dreiviertel aller Ausbildungsplätze im Handwerk und im Mittelstand entstanden sind, dann ist es richtig, zu sagen: Die beste Ausbildungsplatzpolitik ist eine ordentliche Mittelstandspolitik. Die Politik Ihrer Regierung ist mittelstandsfeindlich und damit ausbildungsplatzgefährdend. Das muß an dieser Stelle auch einmal gesagt werden. ({12}) Das, meine Damen und Herren von der rotgrünen Regierungskoalition, hat das Bündnis für Arbeit auch nicht verhindern können. Es hält vielleicht doch nicht das, was Sie sich von ihm versprechen. Ich komme zum Schluß. Verehrte Frau Ministerin, ich bleibe dabei: Es gibt zwar im Moment keine Alternative zum Sonderprogramm, ({13}) aber ich sage es deutlich: Ihnen fehlt jeglicher Mut für Reformen sowohl in der Steuer- und Wirtschaftspolitik als auch in der Bildungspolitik. Fassen Sie Mut! Wir sind reformfreudig genug. Wir werden Sie dabei unterstützen. ({14}) Erledigen Sie Ihre Hausaufgaben, und wir kommen im Interesse der jungen Menschen ein gutes Stück voran. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als nächste Rednerin spricht für die PDS die Kollegin Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Bulmahn, obwohl ich eine gewisse Hochachtung für Ihre Offenheit bezüglich dieses Problems habe, wie sie in Ihrer Rede zum Ausdruck gekommen ist, bin ich nicht zufrieden. Auch wenn sich das Ausbildungsangebot dank vielfältiger Fördermaßnahmen etwas stabilisiert hat, so verfestigt sich der Trend des Rückgangs betrieblicher Ausbildungsstellen insbesondere in den neuen Ländern. Dies haben Sie auch so ausgeführt. Diese Tendenz setzt sich im aktuellen Vermittlungsjahr leider fort. Die „Lausitzer Rundschau“ vom 8. Juni 1999 titelt: Der Staat wird zum Ausbilder Nummer eins. Im Klartext: In Südbrandenburg erlangen in diesem Jahr erstmals mehr Jugendliche einen Beruf in öffentlich finanzierten Programmen als in Betrieben. Die als Notlösung gedachten Sonderprogramme verfestigen sich zur Dauereinrichtung. Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen geht weiter zurück. Die Cottbuser Berufsberater zum Beispiel rechnen mit nicht viel mehr als 2 500 Lehrstellen, aber über 11 000 Ausbildungsanwärtern. Ein weiterer Trend, der sich bereits im vergangenen Jahr verstetigte, ist die Steigerung des Anteils von Altbewerbern sowie die Verdrängung der Hauptschulabsolventen durch Bewerber und Bewerberinnen mit mittleren Abschlüssen oder Hochschulreife. Die ersten Bilanzen des Sofortprogramms weisen in dieselbe Richtung. Im Osten besaß mit 54 Prozent das Gros der Vermittelten einen mittleren oder höheren Schulabschluß. Darüber können nur Leute staunen, die die verbreiteten Märchen von der dummen und faulen Jugend tatsächlich geglaubt haben. Jetzt wird dagegen von regierungsamtlicher Stelle immerhin bestätigt, daß die Jugend wirklich und wahrhaftig ein Problem hat und kein Problem ist. Es ist ja auch nicht mehr zu leugnen, wenn Hunderte von Anrufen täglich eingehen und plötzlich Leute leibhaftig vor den Vermittlern stehen, die zwar in keiner Statistik mehr auftauchen, weil sie es irgendwann aufgegeben hatten, sich an der Nase herumführen zu lassen, aber nun trotzdem noch einmal auf eine Chance hoffen. Schon allein dieser Effekt des Sofortprogramms darf auf keinen Fall unterschätzt werden. Aber in der Koalitionsvereinbarung hieß es, daß im Mittelpunkt des Sofortprogramms die Vermittlung in betriebliche Ausbildungs- und Arbeitsplätze steht. Die Bilanz unter diesem Aspekt nimmt sich eher dürftig aus. Im Osten wurden bisher 25 Projekte mit 200 betrieblichen Stellen, im Westen 160 Maßnahmen mit 1 700 Stellen gefördert. Dagegen nahmen zwischen 30 und 40 Prozent an sogenannten Trainingsmaßnahmen teil, die zwischenzeitlich vielfach bereits wieder beendet worden sind. Sehr viel mehr als erwartet landeten die Jugendlichen in der außerbetrieblichen Ausbildung und sehr viel weniger als erhofft in der betrieblichen. Das ist eigentlich kein Wunder, wenn man bedenkt, daß wir es hier mit nichts weiter als klassischer Arbeitsmarktpolitik zu tun haben. Das Programm verstärkt die Angebote, die es schon immer gab, für eine bestimmte Personengruppe. Das ist zwar mehr als früher; das sind aber auch gleichzeitig die Grenzen. Mit solchen Methoden können zwar Jugendliche von der Straße geholt werden. Ausbildungs- und Arbeitsplätze entstehen so jedoch nicht. Es wird eine weitere Bugwelle - es gibt auch andere Begriffe dafür - aufgebaut. Betriebliche Angebote gehen weiter zurück. Das Grundproblem ist wieder um ein Jahr verschleppt und vertagt worden. Weitere Jahre werden vergehen, bis Sofortprogramme analysiert, verstetigt oder abgebrochen sind. Diejenigen, um die es hier und heute geht, sind dann nicht mehr 20, sondern vielleicht schon 30 und wissen dann wohl selbst am besten, was mit Perspektiven gemeint war. Die aktuelle Vermittlungsstatistik weist - genau wie die erste Bilanz des Sofortprogramms und der Berufsbildungsbericht - in eine Richtung, die die Regierungsparteien schon einmal beschritten hatten. Allerdings waren sie da noch in der Opposition. Unser Gesetzentwurf zur Umlagefinanzierung liegt Ihnen heute zur Abstimmung vor. Zur Erinnerung seien mir einige Zitate erlaubt. In der Begründung des Gesetzentwurfs der SPD vom Oktober 1997 heißt es: Eine überbetriebliche Ergänzung der Finanzierung der betrieblichen Berufsausbildung durch eine Ausbildungsplatzumlage ermöglicht ... - besser als durch staatliche Subventionierung die Bereitstellung eines qualitativ und quantitativ ausreichenden und strukturell bedarfsgerechten Ausbildungsplatzangebotes, ({0}) - eine Stärkung der betrieblichen Ausbildung gegenüber außerbetrieblichen Angeboten, - den Ausgleich regionaler Unterschiede durch gezielten Einsatz der Mittel aus dem Aufkommen der Ausbildungsplatzumlage, - eine gerechtere Verteilung der Ausbildungskosten zwischen den Betrieben und Verwaltungen sowie die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen aufgrund unterschiedlicher Ausbildungsleistungen, - die Entlastung der öffentlichen Haushalte von Subventionierungskosten durch Bereitstellung der Mittel seitens der Betriebe und Verwaltungen selbst sowie - einen ordnungspolitisch, finanzpolitisch und wirtschaftspolitisch gewollten Rückzug des Staates aus der Verantwortung für die finanzielle Absicherung der bestehenden Ausbildungsplatzlücke. Es gab aber noch einen weiteren Gesetzentwurf im parlamentarischen Gang. Bei den Grünen hieß es: Durch dieses Gesetz soll erreicht werden, - daß alle Jugendlichen eine qualifizierte Ausbildung erhalten; - daß die Betriebe auch künftig ihren Bedarf an qualifizierten Angestellten und Facharbeiterinnen und Facharbeitern decken können; - daß die Inhalte der Ausbildung den ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und technischen Anforderungen gerecht werden; - daß Betriebe, die nicht ausbilden, keine Wettbewerbsvorteile erlangen. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. ({1}) Ich weiß nicht, warum das alles heute plötzlich nicht mehr wahr sein soll, ({2}) wenn man in der Regierungskoalition die Möglichkeit erhält, praktische Veränderungen vorzunehmen können, zu denen weder Sofortprogramme - in welcher Dimension auch immer - noch Bündnisgespräche jemals führen werden. Frau Hermenau sprach in ihrem Beitrag von verschiedenen Wegen, die bei dieser komplizierten Materie zu gehen seien. Sehr richtig; auch ich sehe das so. Deshalb appelliere ich: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu und füllen Sie ihn aus, um in der Problemlösung endlich ein gutes Stück voranzukommen! ({3}) Es sei mir gestattet anzumerken: Wenn es denn wirklich nicht funktioniert, dann kann man - das tun wir in diesem Hause ja sehr oft - das auch wieder ändern. Danke schön. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Antje Hermenau das Wort.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Böttcher hat um Aufklärung gebeten, warum wir zur Zeit keinen Gesetzentwurf zur Umlagefinanzierung vorlegen. Das ist ganz einfach zu erläutern. Wir haben schon immer gesagt - Sie wissen das auch; wir haben das diskutiert -, daß wir diesen Gesetzentwurf als Drohkeule benutzen wollen, falls sich keine Bewegung in den Gesprächen herausstellt. Diese Bewegung ist eingetreten; die Diskussionen verlaufen - soweit ich das beurteilen kann - positiv. Vor diesem Hintergrund wäre es albern, eine Woche vor dem Ende der Gespräche zum „Bündnis für Arbeit“ einen Gesetzentwurf zu diesem Thema zu verabschieden. Sie wissen das. Ich halte das für einen eigentlich völlig unpolitischen Vorgang - es sei denn, es geht Ihnen wieder nur um den Eigennutz Ihrer Partei. Danke. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun hat für die SPD-Fraktion der Kollege Ernst Küchler das Wort.

Ernst Küchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Berufsbildungsbericht 1999 weist - trotz der insgesamt positiven Entwicklung, was die Zahl der Ausbildungsplätze angeht - auf das nach wie vor drängende Problem der Jugendarbeitslosigkeit hin. Die Zahl der Ausbildungsverträge konnte 1998 um 4,3 Prozent gesteigert werden. Das ist in erster Linie ein Erfolg der Betriebe und Unternehmen, die mehr Ausbildungsplätze angeboten haben, aber auch einer der Wirtschaftsverbände, der Kammern und der Bundesanstalt für Arbeit mit ihren intensiven Aktivitäten und Initiativen. ({0}) Konsequenterweise ist damit auch die Zahl der noch nicht vermittelten Bewerber rückläufig, und zwar um über 24 Prozent gegenüber 1997. Diese Zahlen belegen, daß es nicht nur gelungen ist, den demographischen Trend auszugleichen, sondern auch, die Zahl der Ausbildungsplätze deutlich zu steigern. Der Berufsbildungsbericht weist jedoch auch darauf hin, daß zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und zu einem angemessenen Ausbau der Ausbildungskapazitäten in den kommenden Jahren gerade wegen der demographischen Entwicklung noch erhebliche Anstrengungen unternommen werden müssen. ({1}) Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur eine Frage des Auseinanderklaffens der wachsenden Zahl von Jugendlichen, die eine Ausbildung suchen, und der damit nicht Schritt haltenden Zahl der Ausbildungsplätze. Bei genauerer Betrachtung müssen wir feststellen, daß die erforderlichen Ausbildungsvoraussetzungen viel zu häufig nicht gegeben sind. Deshalb muß eine Strategie zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit immer differenziert angelegt sein. Mit vollmundigen Versprechungen, wie wir sie von der Kohl-Regierung Jahr für Jahr gehört haben, mit Appellen an die Betriebe, Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, sowie mit Verdächtigungen und Schuldzuweisungen an die Jugendlichen, Ausbildungsbereitschaft, Mobilität und Flexibilität vermissen zu lassen, konnte das Problem nicht gelöst werden. ({2}) Wer ausschließlich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Blick hat, aber die Rollen des Staates und der Gesellschaft vernachlässigt und die Bedingungen, unter denen Jugendliche und Kinder heute aufwachsen, ausblendet, kann nicht die richtigen Antworten geben. Es ist eine Binsenweisheit, daß letztlich nur die Betriebe Ausbildungs- und Arbeitsplätze schaffen können. Dennoch kann sich der Staat nicht der Verantwortung entziehen, jene Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Chancen der Jugendlichen verbessern. ({3}) Die Untätigkeit der konservativen Regierung in den letzten Jahren, das Ausblenden der Jugendlichen, die häufig nicht über die Voraussetzungen verfügen, eine Ausbildung zu beginnen, und die Ignoranz gegenüber dem Reformbedarf im Ausbildungssystem haben zu der Situation geführt, die wir heute beklagen. Uns unterscheidet nicht das Ziel, allen Jugendlichen eine Ausbildung zu ermöglichen, sondern die Bewertung des sozialen und ökonomischen Bedingungsrahmens. Sie sprechen von Freiheit und individueller Verantwortung, nach dem modischen Möllemann-Slogan: Mach aus dir, was in dir steckt. Sie diffamieren sowohl die politischen Anstrengungen wie das Sofortprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit als auch die Jugendlichen, denen es angeblich an Ausbildungwillen und Ausbildungsbereitschaft fehlt. CDU/CSU und F.D.P. sprechen ungern von der ökonomischen und sozialen Verantwortung der Wirtschaft und der Gesellschaft, weil sie in ihrer ideologischen Verblendung allein auf die Kräfte des Marktes setzen. ({4}) Die neue Bundesregierung hat nach ihrem Amtsantritt unmittelbar und - wie sich schon jetzt erkennen läßt erfolgreich die ersten Schritte zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit unternommen. Das Sofortprogramm, das mit 2 Milliarden DM ausgestattet wurde, ist ein voller Erfolg. ({5}) Mit dem Sofortprogramm wollten wir 100 000 jungen Frauen und Männern unter 25 Jahren eine qualifizierte Berufsausbildung ermöglichen oder ihnen durch Qualifizierung, Beschäftigung und Betreuung den Einstieg in das Berufsleben ermöglichen, ihnen also Brücken in Ausbildung und Beruf bauen, vielen eine zweite Chance eröffnen. ({6}) Die beeindruckende Vielfalt und Intensität des Programms, mit dem alle Instrumente der Förderung ausgeschöpft werden, macht den Erfolg aus, der schon heute mit eindrucksvollen Zahlen belegt werden kann. Von Januar bis Mai 1999 sind insgesamt 141 792 Jugendliche in das Programm einbezogen worden. Dieses Programm hat auch bereits auf den Arbeitsmarkt durchgeschlagen. So ist nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren in den ersten fünf Monaten dieses Jahres dank des Sofortprogramms um über 40 000 zurückgegangen. ({7}) Während im Mai 1998 noch 422 400 junge Menschen unter 25 Jahren arbeitslos gemeldet waren, sank diese Zahl im Mai 1999 auf 368 100. Das sind 13 Prozent weniger als im Vorjahr. Das Programm ist deshalb so erfolgreich, weil es als Teil aktiver Arbeitsmarktpolitik sowohl auf die Aktivierung des Ausbildungsmarktes als auch auf die Qualifizierung und Integration jener Jugendlichen setzt, die die Ausbildungsvoraussetzungen noch nicht erfüllen. Wenn der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Schäuble dieses Programm als milliardenschweres Programm diffamiert, mit dem lediglich Jugendliche ohne Beschäftigung ruhiggestellt werden sollen, und wenn die F.D.P. in ihrem sogenannten Neun-Punkte-Konzept zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen formuliert, das Programm erweise sich bei näherer Betrachtung als „Augenwischerei“ und schiebe „die Jugendlichen hauptsächlich auf die lange Vorsorgebank“, dann muß ich feststellen, daß dies nichts anderes als der untaugliche Versuch ist, den Erfolg dieses Programms kleinzureden. ({8}) Der Erfolg des Programms ist auf das gelungene Zusammenwirken der Arbeitsverwaltungen, der Betriebe, der Kammern und der Wirtschaftsverbände zurückzuführen, die sich aktiv und engagiert in das Programm eingeklinkt haben. ({9}) An dieser Stelle möchte ich denjenigen danken, die sich engagiert für die Umsetzung dieses Programms eingesetzt haben. Die Jugendlichen haben all die Vorurteile der Opposition eindrucksvoll widerlegt, die sie bisher so gerne bemüht hat, um von ihrer Tatenlosigkeit abzulenken. ({10}) Angesichts der eindrucksvollen Zahlen, die den Erfolg des Sofortprogramms belegen, wirkt es geradezu absurd, wenn der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble in seiner Rede am 24. Februar dieses Jahres formuliert hat: Das 2-Milliarden-Sofortprogramm für Ausbildungsplätze führt nach Auskunft der Arbeitsämter überwiegend dazu, daß Geld in Hülle und Fülle vorhanden ist, ausbildungswillige und -fähige junge Menschen aber eher Mangelware sind. Abgesehen davon, daß der Satz in sich nicht gerade schlüssig ist, möchte uns Herr Schäuble wohl glauben machen, daß die überwiegende Zahl der arbeitslosen Jugendlichen weder ausbildungswillig noch ausbildungsfähig ist. Das paßt in das fahrlässige Gerede von der mangelnden Leistungsbereitschaft der Jugendlichen. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einen anderen Aspekt ansprechen, der bei der Suche nach den Gründen für die Jugendarbeitslosigkeit oft vernachlässigt wird: Es handelt sich um die sozialen Verwerfungen, die Sie maßgeblich mit zu verantworten haben. Sie sind immer öfter die Ursache dafür, daß Jugendliche die Voraussetzungen nicht erfüllen, eine Ausbildung aufzunehmen. Das Scheitern vieler Jugendlicher in der Schule und an der Schwelle von der Schule in den Beruf hat hier seine Ursachen. Viele Maßnahmen zur Herstellung von mehr Chancengerechtigkeit haben Sie von der Opposition eingeschränkt und beschnitten. Ich erinnere nur an die sogenannte Reform des Arbeitsförderungsgesetzes. Gerade hier hat das SofortproErnst Küchler gramm neue Akzente gesetzt. Es wendet sich auch und besonders an jene Jugendliche, die die Ausbildungsvoraussetzungen noch nicht erfüllen. Auch im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ hat die berufliche Aus- und Weiterbildung einen besonderen Platz. In der Arbeitsgruppe „Aus- und Weiterbildung“ wurden mit den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften Gespräche aufgenommen, um zu Vereinbarungen über die Sicherung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebots für 1999 und die kommenden Jahre zu kommen. Bereits in der zweiten Sitzung des Bündnisses am 25. Februar 1999 haben die Wirtschaftsverbände erklärt, daß sie das betriebliche Ausbildungsplatzangebot 1999 erneut über den demographisch bedingten Zusatzbedarf hinaus erhöhen werden. ({12}) Die Bündnispartner haben folgende flankierenden Maßnahmen vereinbart: Die Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften wollen in ihren Tarifverhandlungen möglichst viele ausbildungsfördernde Vereinbarungen zur Steigerung des Ausbildungsplatzangebotes treffen. Die Bundesregierung hat zugesagt, das Ausbildungsplatzangebot in der Bundesverwaltung um 4 Prozent zu steigern. Die Bundesregierung hat bereits mit den neuen Ländern eine Fortsetzung des Ausbildungsprogramms Ost mit einem Umfang von 17 500 zusätzlichen Ausbildungsplätzen vereinbart. 200 Millionen DM stehen im ERP-Ausbildungsplatzprogramm für zusätzliche Ausbildungsplätze in kleinen und mittleren Betrieben zur Verfügung. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich möchte noch kurz ein anderes Kapitel des Berufsbildungsberichts ansprechen. Es widmet sich auch dem Thema der beruflichen Weiterbildung. Vom Bedeutungszuwachs der Weiterbildung ist lange genug geredet worden. Alle sprechen vom lebensbegleitenden Lernen, von den Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft angesichts des rasanten technischen Wandels stehen. Auch bei der Beschreibung der Defizite sind sich alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte sehr schnell einig: mangelnde Transparenz, unzureichende Qualitätssicherung, Ressourcenverschwendung, fehlende Verschränkungen der Erstausbildung mit den Systemen der Weiterbildung und eine erkennbare Schieflage, was die Zugänglichkeit zu den Angeboten der Weiterbildung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeht. Die Bundesregierung hat erstmals zu diesem Bereich des Bildungswesens Stellung bezogen. Weiterbildung soll zu einem gleichberechtigten Bereich des Bildungssystems ausgebaut, ({13}) lebensbegleitendes Lernen soll als Querschnittsaufgabe aller Bildungsbereiche verwirklicht werden. Dies wird eine nicht leicht zu bewältigende Aufgabe sein. Ich will nur auf eine richtungweisende Passage in dem Bericht aufmerksam machen. Im Kapitel über berufliche Weiterbildung heißt es: Es gilt, die Weiterbildungsbeteiligung besonderer Personengruppen, insbesondere benachteiligter und in der Weiterbildung unterrepräsentierter Gruppen zu verbessern. …Hier sind insbesondere zusätzliche Weiterbildungsanstrengungen für weniger Qualifizierte bzw. für Erwachsene ohne formalen Berufsabschluß erforderlich. Konsequenterweise haben die Arbeitsämter 1999 ihre Mittel für Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung um 1 Milliarde DM auf 14 Milliarden DM erhöht. ({14}) Nur in einer konzertierten Aktion aller Verantwortlichen wird es möglich sein, das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zu bewältigen. Die CDU formuliert in ihrem Antrag, der einige durchaus begrüßenswerte Vorschläge enthält, daß es bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eines Konsenses für die Zukunft der jungen Menschen in Deutschland bedarf. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wenn Sie dies ernst meinen, dann beenden Sie Ihre ignorante und von Passivität geprägte Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik, und beteiligen Sie sich endlich aktiv und konstruktiv an den Bemühungen, den Jugendlichen in unserer Gesellschaft eine Perspektive zu geben! ({15}) Ich bin sicher, daß wir dann bei der Debatte über den nächsten Berufsbildungsbericht im Jahr 2000 eine positive Entwicklung der Arbeitsmarktdaten feststellen können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Auch dies war eine Jungfernrede; Ihnen gilt der Glückwunsch des Hauses. ({0}) Nun gebe ich dem Kollegen Dr. Rainer Jork für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei einem ersten Blick in den Berufsbildungsbericht ist Kontinuität feststellbar. Dort steht, daß sich die im Jahre 1997 begonnene positive Entwicklung fortgesetzt hat. Das ist ja sicherlich als Kompliment an die alte Bundesregierung aufzufassen. ({0}) Wenig später steht dort aber auch: Allerdings stand einem deutlichen Zuwachs in den alten Ländern Ernst Küchler - gemeint ist: an Ausbildungsplätzen ein Rückgang in den neuen Ländern gegenüber. Diese Problemsituation ist ein Kernpunkt, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Früher wurde die Situation um diese Zeit immer wieder, spätestens zum dritten Male, mit dem Begriff „Lehrstellenkatastrophe“ bezeichnet. Es hat im Zusammenhang mit meinen früheren Erfahrungen und vielleicht auch mit der Rede von Herrn Küchler einen gewissen Liebreiz, Frau Ministerin, daß Sie vorhin sagten, Konfrontation und Schuldzuweisung würden nicht weiterhelfen. Beim genaueren Hinsehen stellt man fest, daß im Berufsbildungsbericht viel steht und viele Fragen angesprochen werden, aber nicht alle beantwortet werden. Unklar bleibt für mich zum Beispiel, wie einerseits attraktive Ausbildungsmöglichkeiten für Leistungsschwächere geschaffen werden, andererseits aber dann Leistungsstärkeren besondere Chancen eröffnet werden sollen. Mir fällt beim Berufsbildungsbericht weiterhin auf, daß neben Chancengleichheit einzig und allein Interessen und Neigungen der Jugendlichen als Teilhabekriterium genannt werden. Es geht hier nicht um Beschimpfungen, aber wir wissen, daß das Berufsbildungssystem ein duales System ist und dort ganz wesentliche Unterschiede zu anderen Bildungsbereichen bestehen. Der Vorteil und der Reiz bestehen ja eben darin, daß es um eine partnerschaftliche Orientierung auf ein Ergebnis mit Zukunftseffekten geht, an dem beide Partner, die Betriebe und die Jugendlichen, beteiligt sind. Die Wirtschaft ist ein markierender Partner und hat ein Interesse, ihren Beitrag zu leisten. Da helfen - das sage ich noch einmal, Herr Küchler - Konfrontation und Schuldzuweisungen nicht weiter. Es muß dann doch wohl auch richtig sein, daß man nach Eignung und Bedarf fragt. Ohne die Berücksichtigung von Eignungen provoziert man Enttäuschungen. Ohne den Bedarf in der Wirtschaft zu berücksichtigen, riskiert man Arbeitslose. Auf diese Frage wird im Bericht auf mehreren Seiten eingegangen. Ich frage die Bundesregierung: Wollen Sie Enttäuschungen und Arbeitslosigkeit riskieren? Die Bundesregierung - das ist bemerkt worden - hat sehr zügig dieses 100 000-Stellen-Programm auf den Weg gebracht. ({1}) Wir erkennen grundsätzlich an, daß etwas für die Jugendlichen getan wird, Herr Tauss. Ich bin mit meinen Kollegen dankbar für das, was in den Arbeits- und Sozialämtern dafür getan worden ist. ({2}) Dieses Programm ist nicht dem Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zugeordnet. Es ist offenbar in erster Linie eine soziale Maßnahme. Ich muß darauf hinweisen, daß die Jugendlichen praxisnahe Ausbildungsplätze und praxisnahe Arbeitsplätze in der Wirtschaft benötigen. Mit Blick auf dieses Hauptziel, Chancen auf Arbeit zu bekommen, muß ich einfach auf folgende Mängel eingehen, die sicher, wie ich hoffe, bei der weiteren Bearbeitung oder Neuauflage noch berücksichtigt werden. Zum ersten: Lehrstellenabbrecher werden belohnt. Es kann doch wohl nicht sein, daß jemand, der die Lehre abbricht, mit einem Betrag in Höhe von 80 Prozent der Qualifikations-ABM mehr Geld bekommt, als einem anderen an Ausbildungsvergütung bezahlt wird. ({3}) Zum zweiten: Strukturelle Probleme auf dem Ausbildungsmarkt werden nicht gelöst. Das haben wir hier schon wiederholt gehört. Darauf muß man aber eingehen. Ich sehe ja ein, Frau Hermenau, daß man nicht alles am Anfang und sofort machen kann, aber auf Ihre Bemerkung, ein bißchen Spielen sei ganz schön, ({4}) muß ich entgegnen, daß es um 2 Milliarden DM, um Qualität und auch um Verantwortung geht. Zum dritten: Vorleistungen, die im Rahmen des Programms erbracht werden, sollen und müssen in der folgenden Ausbildung honoriert werden. Es geht darum, daß die Ausbildung, die mit diesem Programm ermöglicht wird, auch Sinn macht. Zum vierten: Die Ausbildung ist zuwenig auf die Berufspraxis bezogen. Zum fünften: Wehrdienstleistende werden benachteiligt. Wir sind und waren uns einmal über die drei wesentlichen Kriterien einig, an denen sich die Güte der Berufsausbildung zu messen hat: Qualität, Praxiskontakt und Einstieg in die Berufstätigkeit. Wenigstens zwei dieser drei Kriterien werden im Programm nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. Ich möchte auf die Wirtschaft zurückkommen. All jene, die wertschöpfend arbeiten - also Handwerk, Industrie und der Hauptteil des sogenannten Mittelstandes -, leben von Leistungen, verkaufsfähigen Ergebnissen und Produkten. Sie leben nicht von Behauptungen, Versprechungen oder Nachbesserungen. Handwerk und Industrie brauchen Planungssicherheit und stabile Ausbildungsbedingungen. Was aber tut die Bundesregierung? Sie schafft eine nicht ökologische Ökosteuer, die die Energiekosten hochtreibt. Sie bringt eine Gesetzgebung über 630-Mark-Jobs auf den Weg, die die Schwarzarbeit fördert. ({5}) - Schwarzarbeiter bilden nicht aus, Herr Tauss. Vielleicht ist Ihnen diese Tatsache entgangen. - Letztlich verhindert die Bundesregierung mit Kündigungsfristen die Risikobereitschaft. Die Ministerin hat gesagt: Hier helfen staatliche Programme nicht allein. Sie hat an dieser Stelle recht. Es geht um ein Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Staat. Wer heute bereit ist, Lehrlinge auszubilden, denkt an den zukünftigen Facharbeiter, und zwar meist im eigenen Betrieb. Hier schneiden sich die Interessenlinien derer, die im Bereich der Berufsausbildung Verantwortung tragen. Diese Situation ist also anders als die Situation in jedem anderen Bildungsbereich. Vergessen wir nicht: Es sind die Handwerksmeister, die im wesentlichen den praktischen Teil der Berufsausbildung praxisnah und qualitätsgerecht sichern. Der Vorteil unseres dualen Bildungssystems ist das direkte Lernen in der Arbeitswelt. Die Berufsbezogenheit ist das Herzstück der Berufsbildung. Sie ist zu sichern und zu fördern. Lernen und Arbeit müssen eine Einheit bleiben. Ich fordere darum die Bundesregierung auf: Gefährden Sie nicht die praktische Berufsausbildung, den Hauptakteur im Betrieb, indem Sie den Meisterbrief und seine Relevanz in Frage stellen! Führen Sie die im Berufsbildungsbericht angeführte Modernisierung der Berufe und der Berufsbildung fort! Geben Sie auch leistungsschwächeren Jugendlichen eine Chance, indem Sie angemessene Berufe und Berufsbefähigung zulassen! Ich denke in diesem Zusammenhang an die Diskussion um den modularen Aufbau der Berufe. Aber auch das Satellitenmodell kann zugrunde gelegt werden. Nur sollte man sich über die Begriffe klarwerden, bevor man prophylaktisch anfängt, zu schimpfen und ideologische Probleme darüber auszukippen. Ich fordere die Bundesregierung weiter auf: Hören Sie mit Ihrer politischen Versuchs-/Irrtumspraxis in bezug auf den Umgang mit jungen Leuten auf! Frau Hermenau hat dieses Vorgehen als Spielen bezeichnet. ({6}) Schaffen Sie stabile Rahmenbedingungen hinsichtlich der Motivation, ohne die die Ausbildungsbereitschaft nicht wächst! Fördern Sie die allseitige Innovationsbereitschaft - vor allem in den neuen Bundesländern! Es trifft die Wirtschaft schon hart, wenn die Bundesregierung die Patentgebühren anhebt. Wir waren uns früher einmal einig, daß dieses Vorgehen ausgesprochen schädlich ist, weil dieser Bereich die Innovation fördert. Auch diese Betriebe bilden Lehrlinge aus, so daß auch dort eine Rückkopplung zu den Lehrstellen gegeben ist. Ich danke. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Maritta Böttcher das Wort.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Vielen Dank. - Herr Jork, strukturelle Probleme gibt es in der Berufsausbildung seit mindestens acht Jahren. Ich will daran erinnern, daß während dieser Zeit bekanntlich Sie in der Regierungsverantwortung standen. Mir sind noch Ihre Worte im Ohr, mit denen Sie die Beseitigung der mangelnden Flexibilität, der schlechten Schulausbildung und damit der schlechten Vorbereitung der Auszubildenden für den Arbeitsmarkt angemahnt haben. Ich möchte sagen: Auch Sie haben schließlich nichts dafür getan, außer zu appellieren, um dieses Problem zu lösen. Es bestreitet niemand, daß das direkte Lernen in der Arbeitswelt notwendig und wichtig ist. Sie wissen aber sehr gut, daß das gerade hinsichtlich des dualen Systems nicht erst seit heute in Gefahr ist. Eine weitere Anmerkung möchte ich zur Rede von Frau Hermenau machen. Nach Ihren Ausführungen, Frau Hermenau, werden wir uns möglicherweise auf eine Sondersitzung einrichten müssen, denn es wird ja dann sicherlich Ergebnisse geben, die hier im Hause zu behandeln sind. Schließlich: Wer in Regierungsverantwortung die Drohkeule einpackt, die er zu Zeiten der Opposition geschwungen hat, kann wohl nicht sehr ernst genommen werden. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Erwiderung hat das Wort der Kollege Jork.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bloß ein paar kurze Bemerkungen, Frau Böttcher. Sie haben nicht klar gesagt, daß die meisten Probleme bei den Lehrstellen in den neuen Bundesländern liegen. Wir haben dort durch den Übergang von der volkseigenen Industrie eine erhebliche Strukturänderung; das wissen Sie ganz genau. ({0}) Wenn Sie von Struktur reden, müssen Sie einmal darüber nachdenken, inwieweit das bei dem Stand, dem Niveau und den Möglichkeiten paßfähig war. Ihre Umlage ist wieder nur auf eine zentralstaatliche Lösung mit Umverteilung orientiert. ({1}) Sie haben das Problem überhaupt nicht erkannt. Sie meinen, es sei überhaupt nichts getan worden. Aber das drückt sich nicht nur in Geld aus. Ich empfehle Ihnen: Vergleichen Sie doch einmal den diesjährigen Berufsbildungsbericht mit den früheren Berichten; dann werden Sie erkennen, was die frühere Bundesregierung auf dem Weg der Modernisierung alles getan hat. ({2}) Wenn Sie das einmal zur Kenntnis nehmen, werden Sie unsere Situation vielleicht etwas zeitnäher beurteilen und von Ihrem siebten Himmel des realen Sozialismus etwas herunterkommen. Danke. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Christian Simmert.

Christian Simmert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003237, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Widerstandskämpfern äußere ich mich jetzt nicht, sondern eher zum Berufsbildungsbericht. Auch dieses Jahr werden die Zahlen der Absolventinnen und Absolventen von allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen um 1,4 Prozent steigen. In absoluten Zahlen sind das 19 000 Jugendliche mehr als im Vorjahr, die in diesem Sommer eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle suchen werden. Knapp eine halbe Million junger Menschen suchen zur Zeit eine Ausbildung oder Arbeit. Ihnen wird verwehrt, was bis heute für unser aller Identität wichtig ist: die Erwerbsarbeit. Der Luxemburger Beschäftigungsgipfel hat nochmals festgestellt, daß den Jugendlichen keinerlei Wartezeiten zuzumuten sind. Kommt es zum Beispiel zu einer Lücke zwischen Schule und weiterer Ausbildung oder Arbeit, hat dies immer nachhaltige negative Folgen für das Selbstwertgefühl eines jungen Menschen. Bis zu 5 500 junge Anrufer bei der Hotline der Bundesanstalt für Arbeit im Rahmen des Sofortprogramms der Bundesregierung haben gezeigt, wie motiviert die Jugendlichen sind. Das bedeutet allerdings auch, daß jetzt große Erwartungen an uns gerichtet werden. Junge Menschen, die schon lange aus der Statistik herausgefallen waren und sich nicht mehr beim Arbeitsamt gemeldet hatten, wurden durch das Sofortprogramm angesprochen. Diese jungen Menschen, denen - auch von der rechten Seite des Hauses - nur allzuoft der Schwarze Peter für ihr angebliches Versagen zugeschoben worden ist, sind nun motiviert, ihren Anteil an der Erwerbsarbeit zu leisten. Selbstverständlich wollen wir keine Maßnahmenkarrieren. Deswegen klopfen wir alle Maßnahmen, ob auf nationaler oder auch auf europäischer Ebene, darauf ab, ob junge Menschen nur irgendwie aus der Statistik verschwinden sollen, also in einer Warteschleife „geparkt“ werden, oder ob sie mit Hilfe einer staatlich geförderten Maßnahme wirklich eine Qualifikation erhalten, die ihnen etwas bringt und sie auf den Arbeitsmarkt vorbereitet. Zum Beispiel die von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, bundesweit geforderten AQJMaßnahmen sind deshalb ein wichtiger Bestandteil des Sofortprogramms, ebenso wie viele andere Punkte, die Sie in Ihrem Antrag einfordern. Sie sehen, das klappt schon ganz gut. Aber selbstverständlich werden wir dabei nicht stehenbleiben, sondern das stetig verbessern. In der Mehrzahl haben junge Menschen mit mittleren und höheren Schulabschlüssen von diesem Programm profitiert. Das zeigt einerseits, daß Erwerbslosigkeit heute wirklich ein Massenphänomen ist. Das ist nichts Neues. Es macht aber auch deutlich, daß wir für wirklich benachteiligte Jugendliche, die angesichts der allgemeinen Misere gar keine Chance mehr auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt haben, dringend Initiativen brauchen. Auch junge Mütter konnten zum Beispiel von diesem Programm nicht profitieren. Doppelt so viele junge Frauen wie gleichaltrige Männer leben von Sozialhilfe. Viele von ihnen würden gerne eine Arbeit oder Ausbildung aufnehmen. Hier fehlen innovative Möglichkeiten der Maßnahmenausgestaltung, aber auch Rahmenbedingungen struktureller Art, wie zum Beispiel eine flächendeckend ausreichende Kinderbetreuung. Generell sind junge Frauen bislang von nur zwei Maßnahmen des Sofortprogramms angesprochen worden. Das wollen wir ändern und verbessern. Junge Migrantinnen und Migranten erfahren zu häufig Benachteiligungen durch eine schlechte Ausbildung. Das beginnt bereits beim Schulabschluß. Besonders die Gruppe der älteren Jugendlichen zum Beispiel türkischer Herkunft, in der jeder zweite ohne Berufsabschluß geblieben ist, macht uns große Sorgen. Die Beispiele zeigen: Hier ist differenziertes Maßnahmendenken gefragt. Pilotprojekte in den neuen Bundesländern zeigen, daß sie, wenn sie auf den Bedarf vor Ort genau zugeschnitten sind, selbst in den schwierigsten Situationen Erfolg haben können. Deswegen halte ich das, was Frau Hermenau gerade angesprochen hat, für richtig. Solche innovativen Projekte wollen wir verstärkt fördern. Staatlich geförderte Maßnahmen sind erst dann ein Erfolg, wenn die Jugendlichen den Schritt in den ersten Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt geschafft haben. Deshalb setzen wir uns dafür ein, daß das Förderprinzip verändert wird: weg von der Individualförderung hin zur Projektförderung. Denn es kann nicht angehen, daß der Träger, der die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Maßnahme in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt hat, an seinem Erfolg pleite geht und weniger Förderung erhält. Ganz individuell müssen wir die Beratung gestalten. Viele von uns schielen auf Großbritanniens New Deal und wünschen sich eine deutsche Neuauflage. Diesen Kolleginnen und Kollegen möchte ich mit auf den Weg geben: Dort gibt es pro Betreuerin oder Betreuer nur 40 und nicht, wie hierzulande, 250 Jugendliche, die begleitet werden. Davon können wir tatsächlich lernen. Auch die Zusammenarbeit aller beteiligten Institutionen sowie die Jugendsozialarbeit müssen wir stärker fördern. Dafür müssen wir uns auch in den Bildungsinstitutionen unseres Landes ganz genau umsehen. Eine Reform der beruflichen Bildung steht für meine Fraktion ganz oben auf der Agenda. Denn Bildung - das zeigt der Berufsbildungsbericht ganz deutlich - ist das Schlüsselkriterium schlechthin für einen gelungenen Eintritt in das Erwerbsleben. Wir werden deshalb nicht zulassen, daß das duale System allein dadurch weiter in die Krise gerät, daß die Betriebe nicht ausbilden, aber immer besser ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen wollen. Die neue Bundesregierung ist dem Prinzip verpflichtet, möglichst im Konsens mit allen Beteiligten Lösungen zu suchen, so auch bei der Bekämpfung des Lehrstellenmangels und der allgemeinen Ausbildungsund Arbeitsplatzmisere. Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit hat hier einen großen Vertrauensvorschuß erhalten. Diesem muß es gerecht werden. Sollte das Bündnis für Arbeit in diesem Sommer und angesichts der neu auf uns zukommenden Lehrstellenmisere möglicherweise keine Anzeichen für eine Verständigung aufweisen, wird, so denke ich, über den Koalitionsvertrag diskutiert werden. Dort haben wir uns darauf festgelegt, daß man, sollte dies eintreten, überlegen wird, welche Maßnahmen erforderlich sind. Ich selbst möchte an dieser Stelle alle Unternehmer auffordern, in diesem Sommer in ausreichendem Maße Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, damit wir im Bündnis für Arbeit endlich weiterkommen und berufliche Chancen für Jugendliche eröffnen können. Vielen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Haupt.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir sind uns einig: Ausbildung und Qualifizierung der Jugend entscheiden die Zukunft unserer Gesellschaft. Deshalb ist die Jugendarbeitslosigkeit eines der größten gesellschaftlichen Probleme. Wir als F.D.P. begrüßen, daß auch die jetzige Bundesregierung hier gesteigerten Handlungsbedarf sieht. ({0}) Ich komme aus einer Region mit einer Arbeitslosenquote von 27 Prozent. Die Notwendigkeit staatlicher „Feuerwehr“-Programme ist für mich als Liberalen unbestritten. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß das Sonderprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit fortgeführt werden soll; denn es wäre unverantwortlich gewesen, mit viel Getöse Hoffnung zu wecken und die Jugendlichen dann praktisch in die Warteschleife zu schicken. Aber selbst bei 100prozentiger Umsetzung des Programms dürfen wir nicht vergessen, daß 400 000 Jugendliche ohne Arbeit und Ausbildung bleiben. Gestatten Sie mir auf Grund der Erfahrungen in meiner ostsächsischen Problemregion einige kritische, sachliche, aber, Kollege Küchler, weniger parteipolitische Bemerkungen. Jugendarbeitslosigkeit stellt sich sehr unterschiedlich dar. Deshalb ist eine maximale Umsetzungsfreiheit für die Beteiligten vor Ort wichtig; nur so können effektive und effiziente Maßnahmen wirklich ergriffen werden. ({1}) Bei der Fortschreibung des Programms muß verstärkt auf die Qualifikationsstruktur der arbeitslosen Jugendlichen geachtet werden - dies gilt vor allen Dingen für die neuen Bundesländer -: auf Jugendliche ohne Schulabschluß, Jugendliche ohne Berufsabschluß und Jugendliche mit Berufsabschluß. Das Sofortprogramm ist im Dezember vorigen Jahres unter erheblichem Zeitdruck entwickelt und umgesetzt worden. Zu der Vielzahl bereits existierender Programme kamen nun weitere Angebote hinzu. Dies hatte zur Folge, daß schnell gestrickte Projekte entstanden, auch, wie bereits erwähnt, mit vergütungsrechtlichen Verwerfungen: Zwei Jugendliche lernen beim gleichen Bildungsträger mauern. Der eine bekommt dafür 1 800 DM, der andere nichts. Es hatte zur Folge, daß eine zielgenaue Zuweisung der Jugendlichen in Maßnahmen häufig schwer möglich war. ({2}) Es hatte zur Folge, daß die notwendige Kontinuität in der Maßnahmeplanung und -umsetzung gelitten hat. Es hatte auch zur Folge, daß bewährte Projekte beeinträchtigt wurden. ({3}) Bei der Fortführung des Programms müssen vor allem die Qualität von Projekten sowie die Effektivität für den einzelnen und damit eine gelungene Integration jugendlicher Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt im Vordergrund stehen. ({4}) Dazu ist eine Harmonisierung der bewährten Aspekte des Sofortprogramms - das ist die eine Seite - und der Strukturen der traditionellen Programme - das ist die andere Seite - notwendig. Es kommt auf eine stärkere Vernetzung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen mit Projekten der Jugendhilfe an. Die Zusammenarbeit mit den Bildungsträgern muß dem Ziel dienen, bedarfsorientierter auszubilden und zu qualifizieren, damit zielgruppengenaue und zeitgemäße Angebote für Jugendliche garantiert werden. ({5}) Nicht zuletzt muß der bisher hohe Verwaltungsaufwand dringend verringert werden. Immer neue Staatsprogramme helfen aber nicht, der Jugendarbeitslosigkeit auf Dauer Herr zu werden. Ein nachhaltiger Abbau der Jugendarbeitslosigkeit ist nur zu erreichen, wenn die Rahmenbedingungen in Deutschland wieder stimmen. ({6}) Dies kann erreicht werden durch ein vereinfachtes Steuersystem, einen umfassenden Bürokratieabbau und eine mutige Bildungsreform. ({7}) Ich sage Ihnen: Der Gesetzesmurks, den die Bundesregierung in den letzten Monaten fabriziert hat, steht dazu in krassem Widerspruch. ({8}) Ich möchte dies an einem Beispiel beweisen: Die zu Recht vielgescholtene 630-Mark-Neuregelung hat auch - von der Politik fast unbemerkt - zu einer erheblichen Steigerung der Lohnkosten für Ausbildungsplätze geführt. ({9}) Ein konkretes Beispiel, Herr Kollege: Der Fachverband Sanitär, Heizung, Klima Sachsen hat mir mitgeteilt, daß nach Anhebung der Geringverdienergrenze auf 630 DM die Ausbildungsvergütung nun teilweise unter der Grenze liegt, bis zu der ein Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge komplett zahlen muß. Das heißt: Der Ausbildungsplatz in diesem Bereich kostet zwischen 1 400 und 3 000 DM mehr. Das trägt nicht zu einer Verbesserung der Ausbildungsbereitschaft beim Handwerk bei. ({10}) Ein Wort zur Ausbildungsplatzabgabe, wie sie von der PDS gefordert wird. ({11}) Durch Vorgabe eines Ausbildungssolls greift der Staat doch massiv in die Personalplanung der Firmen ein. Das weckt für mich Erinnerungen an längst vergangene Planwirtschaftszeiten. Die Betriebe werden nicht nur finanziell, sie werden auch mit einem gewaltigen bürokratischen Aufwand belastet. Schließlich wird auch zusätzliche staatliche Bürokratie geschaffen. Das haben wir bei Rotgrün schon genug erlebt. Weder akute Staatsprogramme noch planwirtschaftliche Vorschriften werden das Problem der Jugendarbeitslosigkeit lösen können. ({12}) An der Reform der beruflichen Bildung führt kein Weg vorbei, ebensowenig an der Entlastung der Wirtschaft, die die berufliche Bildung wesentlich trägt. Ich füge aber auch noch hinzu: Wer Ausbildungsplätze und damit Chancen für die Jugend schaffen will, muß auch das gesellschaftliche Umfeld in den Blick nehmen. Denn über die Chancen, die ein Jugendlicher hat, wird nicht erst bei der Ausbildungsplatzfrage entschieden. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Heinz Wiese.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend stehen wir in der Bildungs- und Sozialpolitik vor neuen großen Herausforderungen. Für eine zukunftsorientierte Beschäftigungspolitik müssen neue Prioritäten gesetzt werden. Vor allen Dingen geht es um eine nachhaltige Verbesserung der Zukunftschancen für unsere junge Generation. Wir gehen davon aus, daß Ausbildung und Qualifizierung auch künftig der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit sind. ({0}) Unsere Jugend will gefördert, sie muß aber auch gefordert werden. Vor allen Dingen brauchen wir über kurzfristige Programme hinaus, die teilweise nur einen Strohfeuereffekt haben, neue Strukturen, die langfristig halten und realistische Zukunftsperspektiven beinhalten. Das Sofortprogramm der Bundesregierung ist in dieser Hinsicht bei weitem nicht der große Wurf, ({1}) es ist aber als Einstiegsprogramm und in seiner Brükkenfunktion durchaus angemessen zu werten. ({2}) Die meisten Teilnehmer an diesem Hilfsprogramm wurden ja bekanntlich in öffentlich finanzierte Trainingsprogramme, Umschulungskurse und AB-Maßnahmen geschickt. Es ist vorher schon - auch von der Frau Ministerin - das Wort Warteschleife gefallen. Wir gehen davon aus, daß bisher 3 100 Jugendliche auf einen Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft vermittelt werden konnten. Aber leider - das ist das große Dilemma bei diesem Programm - erhielten nicht einmal 1 000 Schulabgänger einen Ausbildungsplatz im dualen System. Das ist natürlich für ein milliardenschweres Programm entschieden zuwenig. ({3}) Mit unserem Antrag „Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit für junge Menschen“ wollen wir uns neuen Herausforderungen unserer Zeit stellen. Es sind dies: die Globalisierung der Märkte, der rasante Strukturwandel in der Berufs- und Arbeitswelt und nicht zuletzt die sogenannte digitale Revolution im Informationszeitalter. Die japanische Kultusministerin hat kürzlich die Prognose gewagt: Wer mit 30 Monaten nicht anfängt, spielerisch mit dem Computer umzugehen, der kann mit 30 Jahren nicht zur Spitze gehören. Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf die noch steigende Zahl der Schulabgänger, auf die bereits hingewiesen wurde, haben wir in den nächsten zehn Jahren im Bereich Bildung, Ausbildung und Qualifizierung große Aufgaben vor uns. Bildung gewinnt auch als neuer Standortfaktor zunehmend an Bedeutung. Unser heute scheidender Bundespräsident Roman Herzog hat Bildung als das Megathema der nächsten Jahre bezeichnet. Wie recht er hat! Der Bedarf an qualifizierten Erwerbstätigen wird ständig zunehmen. Wir brauchen fundierte fachliche Kompetenzen und Berufserfahrung, um gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Hinzu komKlaus Haupt men soziale Kompetenzen wie Flexibilität, Teamfähigkeit, Leistungsbereitschaft und selbständiges Handeln. Ich glaube aber, daß die entscheidende Voraussetzung für eine gute Berufsausbildung eine solide Schulbildung ist. Dieser Erkenntnis muß in allen Bundesländern Rechnung getragen werden. ({4}) Wir brauchen einen breiten nationalen Diskurs über Lehren und Lernen, eine Anpassung der Bildungsziele, die Professionalisierung und Qualitätssicherung der Schulbildung. Endlich muß die Vergleichbarkeit der Abschlüsse in allen Bundesländern hergestellt werden. ({5}) Nur so kann das bildungspolitische Süd-Nord-Gefälle in Deutschland endlich beseitigt werden. ({6}) Die politischen Rahmenbedingungen sind bereits angesprochen worden. Sehr wichtig wird sein, wieder zu einer soliden wachstumsorientierten Politik zurückzukommen. Denn wenn wir glauben, die Ausbildungsplätze für die Zukunft mit einem Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent schaffen zu können, sitzen wir einem verhängnisvollen Irrglauben auf. Betriebe und Unternehmer brauchen wieder Planungssicherheit. Zumindest für den Mittelstand und das Handwerk gilt noch heute der Grundsatz: Die Gewinne der Wirtschaft von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeits- und Ausbildungsplätze von übermorgen. ({7}) Bei uns, in der mittelständisch orientierten Wirtschaft in Baden-Württemberg, funktioniert das. In puncto Ausbildungsumlage nur einen Satz: Es muß endlich Klarheit geschaffen werden. Beenden Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, diese schädliche Verunsicherung. Lassen Sie die Finger weg von jeder zusätzlichen Abgabe! ({8}) Ein großes Problem stellen für uns die weniger qualifizierten Menschen dar. Wir haben in Deutschland ein erhebliches Defizit an einfachen Arbeitsplätzen. Prognosen zufolge wird sich die Zahl dieser Arbeitsplätze bis zum Jahr 2010 noch einmal halbieren und dann nur noch 10 Prozent aller Arbeitsplätze ausmachen. ({9}) - Die mittelständische Industrie bei uns wird - das werden wir im Wege von Konsensgesprächen erreichen entsprechende Arbeitsplätze bereitstellen. Wir müssen die Steigerung der Berufsreife in den Vordergrund stellen. Das ist die eine Forderung. Eine weitere Forderung ist, ausbildungswilligen Schülern mit kognitiven und sozialen Defiziten eine besondere Förderung zukommen zu lassen. Sie im besonderen laufen Gefahr, sich in gesellschaftliche Randständigkeit und Ausgrenzung hineinzubewegen. Für diese schwer vermittelbaren Jugendlichen, die oft ein eher praktisch orientiertes Begabungsprofil haben, fordern wir teilqualifizierende oder modulare Ausbildungsgänge und neue Berufsbilder mit theoriegemindertem Anforderungsprofil. Das Satellitenmodell des DIHT ist vorhin schon angesprochen worden. All dies sind neue Wege zu einer modernen Beruflichkeit. Ich appelliere an alle Teilnehmer der Gespräche im Bündnis für Arbeit und Ausbildung, gerade im Hinblick auf diese Jugendlichen konsensfähige Maßnahmenbündel zu vereinbaren. Ich gehe davon aus, daß die Bundesländer voneinander lernen können. Es sollte einen Ideenwettbewerb zwischen den einzelnen Bundesländern geben, einen fruchtbaren Wettstreit um bessere Modelle und Programme. Die Jugendberufshelfer in Baden-Württemberg beispielsweise haben genauso wie in Bayern das Projekt der Einrichtung von Praxisklassen Modellcharakter. Gleiches gilt für einen Schulversuch für Fachpraktiker in Dienstleistungsbranchen - ein Projekt, das der Sozialminister von Baden-Württemberg, Herr Repnik, angeschoben hat. Vielen Dank dafür! ({10}) Themen wie die Senkung der Lohnnebenkosten für weniger produktive Arbeitsplätze, die Reduzierung der Arbeitskosten bei einfachen Dienstleistungen sowie Kombilohnmodelle sollten Eingang in die Bündnisgespräche finden. Wir brauchen in Zukunft noch mehr Ausbildungsverbünde. Wir müssen den kleinen Betrieben helfen, die aus verschiedenen Gründen bisher zuwenig Ausbildungsplätze anbieten. Meine Damen und Herren, die Probleme der neuen Bundesländer sind bereits angesprochen worden. Es wird im besonderen darauf ankommen, daß wir im Osten die Lehrstelleninitiative Ost fortsetzen und den höheren Stellenwert von beruflicher Ausbildung immer wieder klar betonen. Eines kann ich für ganz Deutschland sagen: Statt mit dem Rotstift zu wüten, muß die Maßgabe gelten, eine neue Bildungsinitiative und Bildungsoffensive für die berufliche Bildung zu starten. Lassen Sie uns gemeinsam an der Zukunft unserer Jugend arbeiten! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Auch das war eine erste Rede. Deswegen möchte ich dem Kollegen Wiese den herzlichen Glückwunsch des Hauses aussprechen. ({0}) Nun gebe ich für die SPD-Fraktion das Wort dem Kollegen Willi Brase. Heinz Wiese ({1})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Jeder Mensch hat das Recht auf berufliche Bildung. Besonders wichtig ist der Zugang zu einer breitangelegten qualifizierten Ausbildung für alle Jugendlichen. Die Aktivitäten von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik müssen darauf gerichtet sein, Chancengleichheit in einem umfassenden Sinne zu ermöglichen. Der Anspruch unserer jungen Menschen auf Ausbildung und Zukunftsperspektive unabhängig von ihrer Herkunft und den Einkommensverhältnissen der Eltern ist Zielsetzung staatlicher Politik und muß gemeinsam von den entscheidenden Trägern in der beruflichen Bildung umgesetzt werden. ({0}) Das duale Berufsausbildungssystem hat sich trotz mancher quantitativer Schwierigkeiten bei der Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungsplätzen im Grundsatz bewährt. Dies belegt der Berufsbildungsbericht eindrucksvoll; er zeigt aber auch auf, wo das Angebot durch zusätzliche staatliche Maßnahmen und Aktivitäten stabilisiert und ergänzt werden mußte. Dabei ist es aus unserer Sicht richtig, das Berufskonzept in der beruflichen Ausbildung auch für die Zukunft als unverzichtbar darzustellen. Angesichts der zu erwartenden schnellen Veränderungen in der Arbeitswelt der Zukunft müssen die Erstausbildungen neben einer breiten Grundausbildung auch gleichzeitig eine große Flexibilität und umfassende Verwertungsmöglichkeiten mit sich bringen. Fachkompetenz, Sozialkompetenz, Methodenkompetenz und die immer stärker notwendig werdende Medienkompetenz zeigen sehr deutlich, in welche Richtung die Modernisierung der Ausbildungsinhalte und der Ausbildungsordnungen gehen müssen. Zusammengefaßt geht es um die Fähigkeit zum vernetzten Denken, um Schlüsselqualifikationen und um ganzheitliches Lernen. ({1}) Wird dies in den nächsten Jahren umgesetzt, verbessern sich die Zukunftsperspektiven unserer jungen Menschen. Auch der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands zeigt auf, welche Bedeutung die Ausbildungs-, die Bildungs- und die Weiterbildungspolitik im Wandel zur Wissensgesellschaft mit sich bringt. ({2}) Mittlerweile verfügen gut 72 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der gewerblichen Wirtschaft über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Der Anteil Geringqualifizierter ist im Verlauf der letzten Jahre um mehrere Prozentpunkte gesunken. Hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden verstärkt nachgefragt. Die Beschäftigungschancen für Geringqualifizierte haben sich weiter verschlechtert. Der Trend zur Verschiebung der Qualifikationsstruktur setzt sich damit weiter fort. Die Zahl der Einfacharbeitsplätze wird künftig weiter sinken; bis zum Jahre 2010 sollen 40 Prozent der sogenannten Einfacharbeitsplätze des Jahres 1997 entfallen. Diese wenigen Zahlen und Perspektiven verdeutlichen, daß wir insbesondere leistungsgeminderten und sozial benachteiligten Jugendlichen eine vernünftige Qualifizierung und Ausbildung ermöglichen müssen, um ihnen überhaupt eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben. ({3}) Dieses Problem in der beruflichen Ausbildung und in der Arbeitsmarktpolitik zu lösen ist wichtig. Die immer wiederkehrende Debatte über Perspektiven für leistungsgeminderte, schulisch weniger qualifizierte Jugendliche und eine generelle Verkürzung der Ausbildungszeit auf zwei Jahre mit entsprechenden Angeboten wird den zukünftigen Erfordernissen nicht gerecht. Diese Forderung muß abgelehnt werden. ({4}) Der schon erwähnte Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit, aber auch die Lektüre der Berufsbildungsberichte der letzten Jahre zeigen: Nur mit einer breiten Qualifizierung sind junge Menschen in der Lage, sich auch am Arbeitsmarkt der Zukunft zu behaupten. Unter Pädagogen und Wissenschaftlern ist unstreitig, daß gerade Menschen mit schulisch weniger qualifizierten Abschlüssen häufig mehr Zeit brauchen, um die Inhalte und das Wissen aufnehmen zu können, als diejenigen, die als Begabte und Höherqualifizierte bezeichnet werden. Es ist angesichts in Zukunft fehlender sogenannter Einfacharbeitsplätze geradezu widersinnig, Jugendliche mit Teilqualifizierungen in massiver Art und Weise ausschließlich auf eine zweijährige Ausbildungsdauer zu orientieren. Dies ist nicht akzeptabel; dieses Problem muß anders und besser gelöst werden. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollgen Grehn?

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, Sie haben wiederholt auf die Anzahl der Un- und Angelernten verwiesen. Stehen Ihnen oder Ihrer Regierungskoalition konkrete Angaben darüber zur Verfügung, wie viele der Un- und Angelernten deshalb in der Statistik stehen, weil sie durch langanhaltende Arbeitslosigkeit dequalifiziert worden sind und von den Arbeitsämtern als Unund Angelernte geführt werden, selbst wenn sie einen höheren Bildungsabschluß haben?

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich will auf diese Frage folgendes antworten: Den Arbeitsämtern ist in der Praxis sehr wohl bewußt, vor welchem Hintergrund und mit welchen Problemen Jugendliche mit Teilqualifizierung dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Es gibt Möglichkeiten, die gerade in den Arbeitsamtsbezirken vor Ort umgesetzt werden und so aussehen, daß man für diese Jugendlichen mit den Betrieben zusammen besondere Qualifizierungsmaßnahmen vorsieht, um ihnen über den sogenannten Klebeeffekt eine Perspektive in der realen Wirtschaftswelt, das heißt in den Unternehmen zu eröffnen. Das halte ich für wesentlich besser und wichtiger, als auf eine Ausbildungszeit von zwei Jahren zu zielen. ({0}) Die vorgelegten Zahlen im Berufsbildungsbericht 1999 belegen, daß es regionale Unterschiede bei der Bereitstellung und Schaffung von Ausbildungsplätzen gibt. Unsere Erfahrungen zeigen deutlich, daß in den Regionen, wo der Wille zur Kooperationsbereitschaft und zur Umsetzung gemeinsamer Lösungsschritte in der beruflichen Bildung vorhanden ist, Ausbildungsplätze und Ausbildungsqualität miteinander verzahnt und das Ausbildungsplatzangebot insgesamt verbessert worden sind. Wir wissen alle: Die Innovationsfähigkeit der Unternehmen wird durch Ausbildungsbereitschaft und Ausbildungsfähigkeit verbessert. Erstausbildung und Zusatzqualifikation im Sinne von lebenslangem Lernen führen dazu, daß sich die entsprechenden Unternehmen zukunftsgerichtet jederzeit am Markt behaupten können. Dieses Klima der Kooperationsfähigkeit und der Bereitschaft zum Konsens hat dazu geführt und führt dazu, daß größere Probleme bei der Versorgung mit Ausbildungsplätzen unterbleiben. Deshalb muß es Ziel der Politik sein, diesen Ansatz zur Lösung der Ausbildungsplatzprobleme zu stärken und voranzutreiben. ({1}) Wir ermuntern die Bundesregierung ausdrücklich, diesen Weg zu beschreiten und die entsprechenden Ergebnisse aus den Ländern und Regionen in die Diskussion einzubeziehen. Es fällt doch auf, daß gerade da, wo man sich gemeinsam mit den zuständigen Stellen der Ausbildungsproblematik annimmt, mit dem Sofortprogramm wesentlich mehr Erstausbildungsplätze für die Jugendlichen angeboten werden als in den Regionen, die in der Kooperationsfähigkeit noch nicht so weit sind. Wir sehen daher gute Chancen, daß die mit dem Sofortprogramm eingeleiteten Maßnahmen in betrieblicher Ausund Weiterbildung weitergeführt werden. Das ist eine Aufgabe für das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsverbesserung. ({2}) Lassen Sie mich noch eine Erfahrung deutlich ansprechen, die wir in den Regionen unseres Landes immer wieder machen. Allzu häufig haben wir unabhängig von der jeweiligen wirtschaftspolitischen Lage eine Entkoppelung des Ausbildungmarktes vom Arbeitsmarkt erlebt. Das bedeutet, daß unabhängig von der konjunkturellen Situation in den Regionen mit großer Kooperationsbereitschaft und mit der Fähigkeit, miteinander zu handeln, die Ausbildungsplatzgestaltung als zentrale Aufgabe begriffen und entsprechend bearbeitet wurde. Dies hatte als Positives die Verbesserung der Zukunftschancen unserer jungen Menschen in ihrer Heimat zum Ausdruck gebracht, und das wollen wir fortsetzen. ({3}) Der Berufsbildungsbericht 1999 und der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion bieten die Grundlage, um sachlich und inhaltlich fundiert über die Zukunftsperspektiven für Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit für junge Menschen zu diskutieren. ({4}) Abschließend weise ich für meine Fraktion darauf hin, daß wir den von der PDS vorgelegten Gesetzentwurf ablehnen, da wir auf die Anstrengungen der Bundesregierung mit dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit, den Verabredungen im Bündnis für Arbeit, Ausbildungs- und Wettbewerbsverbesserung und den vor Ort immer stärker werdenden Bündnissen für Ausbildung setzen. Die Einführung einer Ausbildungsumlagefinanzierung wäre derzeit kontraproduktiv und wird von uns hier und heute abgelehnt. ({5}) Zum Entschließungsantrag der F.D.P. verweise ich darauf, daß die Frage der Ausbildungsverbünde schon längst in der Praxis positiv geregelt ist. Dadurch konnten wir kleinere Unternehmen stärker an der Ausbildung beteiligen. ({6}) Man kann nicht auf der einen Seite beklagen, daß Jugendliche nach der Ausbildung keinen Arbeitsplatz haben, wenn gleichzeitig die Tarifpartner über Tarifverträge zumindest eine zeitlich befristete Übernahme ermöglichen. Wir ermuntern sie ausdrücklich dazu, diesen Weg gemeinsam weiterzugehen. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute eine eineinhalbstündige Bildungsdebatte mit dem Schwerpunkt geführt, wie man junge Menschen in Ausbildungs- und Arbeitsplätze bringt. Als Resümee der Debatte möchte ich folgendes festhalten. Wer Ausbildungsplätze schaffen und junge Menschen in Arbeit bringen will, muß zunächst vorrangig dafür sorgen, daß die Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze in der Wirtschaft stimmen, ({0}) der muß für Wirtschaftswachstum sorgen, der muß Steuerreformen großer Art angehen ({1}) und der muß die Lohnnebenkosten senken, ohne neue Belastungen zu schaffen. ({2}) Davon sind Sie in der rotgrünen Koalition weit entfernt. ({3}) - Wenn Sie es nicht glauben, will ich es Ihnen gerne belegen. ({4}) Wir haben am Ende unserer Regierungszeit ein Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent hinterlassen. Das erste Quartal dieses Jahres brachte als Ergebnis Ihrer Politik ein Wachstum von nur 0,7 Prozent. ({5}) Es standen für eine Steuerreform 20 Milliarden DM bereit. Die hat Ihr inzwischen davongelaufener Finanzminister Lafontaine verwurstelt. Jetzt müssen Sie sparen. Wir haben eine Rentenstrukturreform gemacht. Sie haben diese Reform ausgesetzt und kommen jetzt mit neuen Überraschungen. All das schafft nicht die Bedingungen, die dazu führen, daß mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen werden. ({6}) Ich sage Ihnen auch noch einmal, was Sie im Bereich der Arbeitsmarktpolitik bisher geschafft haben. Die Arbeitslosigkeit ist saisonbereinigt im April um 10 000 und im Mai noch einmal um 10 000 gestiegen. Das sind nicht die Ergebnisse, die die Wähler von Ihrer Politik erwartet haben. ({7}) - Wenn Sie rufen: „Unter 4 Millionen!“, dann will ich Ihnen noch eines deutlich sagen. Die Basis dafür, daß die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr niedriger ist, ist im letzten Jahr gelegt worden. In diesem Jahr ist saisonbereinigt nichts hinzugekommen. ({8}) Wer Ausbildungsplätze schaffen und junge Menschen in Arbeit bringen will, meine Damen und Herren von der rotgrünen Koalition, der muß vorrangig Ausbildungsplätze im dualen System, die in den ersten Arbeitsmarkt führen, schaffen. Ich habe den Eindruck, daß Sie mit Ihrem Programm, das Sie überall verkünden, ein wenig von diesem Weg abkommen. ({9}) Wer Arbeitsplätze schaffen und junge Menschen in Arbeit bringen will, der muß den Weg weitergehen, den wir begonnen haben, neue Ausbildungsberufe bereitzustellen und Ausbildungsgänge zu modernisieren. Das wird zum Teil auch die Quintessenz der Erfahrungen sein, die Sie nach einem Jahr mit Ihrem Programm gesammelt haben werden. Wir müssen uns die Frage stellen: Was machen wir mit den Jugendlichen, die es einfach schwer haben, in eine normale Ausbildung zu kommen? Machen Sie gemeinsam mit den Gewerkschaften im Bündnis für Arbeit den Weg frei, daß es künftig zweijährige Ausbildungen mit einer qualifizierten Abschlußprüfung gibt! ({10}) Das ist für junge Menschen, die einen dreijährigen Abschluß nicht erreichen können, notwendig. Helfen Sie mit! Meine Damen und Herren, wer Ausbildungsplätze schaffen und jungen Menschen Arbeit verschaffen will, der muß Maßnahmen mit möglichst direktem Übergang in den ersten Arbeitsmarkt schaffen - das ist ein wesentlicher Punkt -, und der muß - das sage ich in Richtung PDS, aber auch zur SPD - vor allem Überlegungen hinsichtlich einer Ausbildungsplatzabgabe und ähnliches fallenlassen. ({11}) Das ist Gift für die Wirtschaft, das sind Belastungen, das sind Kosten, aber das bringt keinen Arbeitsplatz. ({12}) Meine Damen und Herren, wer Ausbildungsplätze schaffen und jungen Menschen Arbeit bringen will, der muß in der Schule anfangen. Es kann nicht hingenommen werden, daß 60 000 junge Menschen jedes Entlassungsjahrgangs nicht ausbildungsreif und nicht ausbildungsfähig sind. Daß wir mit der Politik in der Schule anfangen müssen, sage ich auch in Richtung SPD, weil zumindest zur Zeit noch die Mehrheit der Länder SPDregiert ist. ({13}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch ein paar Worte zur Bewertung des 100 000-Jobs-Programms verlieren. ({14}) - Ich glaube Ihnen schon, daß es weh tut, wenn Sie das hören müssen. ({15}) Diesem 100 000-Jobs-Programm für junge Leute fehlt die Nachhaltigkeit. Zum einen fehlt die Nachhaltigkeit bezüglich der Laufzeit. Das Programm ist zunächst auf ein Jahr beschränkt. Wir müssen gemeinsam klären, was danach mit den jungen Leuten passiert. Ist es ein Strohfeuerprogramm für ein Jahr, oder wird es fortgesetzt? Die Aussage im Sparprogramm reicht nicht aus. Die Finanzierung muß geklärt sein. Diesbezüglich haben Sie sich durchgemogelt, indem Sie Ende letzten Jahres das Gesetz geändert und 2 Milliarden DM hierfür aus den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit bereitgestellt haben. Das ist eigentlich nicht vorgesehen gewesen. Das sollte eine Ausnahme sein. Wir müssen regeln, wie es weitergeht. - Soweit zur Nachhaltigkeit, was die Laufzeit angeht. Wir müssen auch die Frage der Nachhaltigkeit in der Wirkung angehen. Dies ist auch eine Frage der Bewertung des Programms: Bringt es jungen Menschen wirklich dauerhaft Ausbildung oder Arbeit, oder ist es nur eine statistische Beruhigungspille? Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß gerade die Kurzzeittrainingsmaßnahmen einen relativ breiten Raum einnehmen. Man muß darüber reden, ob das wirklich gewollt ist. Das bringt die Zahl nach oben. Damit können Sie draußen herumtönen. Es hilft den jungen Leuten aber nicht, weil sie nach dem Kurzzeitlauf wieder dastehen und einen Ausbildungsplatz suchen. ({16}) Wichtig ist auch die Nachhaltigkeit bezüglich der Qualität. Hierzu ist eine konkrete Analyse des ersten Durchganges notwendig. Wir dürfen nicht einfach weitermachen oder plötzlich aufhören, sondern wir müssen dieses Programm im Hinblick auf funktionierende Maßnahmen bewerten und sehen, wie wir gemeinsam Quantität und Qualität unterscheiden können. Nicht die Zahl derjenigen, die an diesen Maßnahmen teilnehmen, ist entscheidend, sondern die Qualität. Wir sollten möglichst viele erreichen, aber möglichst auch Ausbildungsplätze schaffen. ({17}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß auf das zu sprechen kommen, was Sie im Wahlkampf verteilt haben, die Garantiekarte. „Bewahren Sie die Karte auf. Sie werden sehen, daß wir halten, was wir versprechen.“ - Das haben Sie im Wahlkampf freiwillig gesagt. ({18}) - Sehen Sie, die Schwierigkeit fängt wirklich damit an, daß Sie schon beim Erwähnen der Garantiekarte klatschen. Das ist ein Grundfehler Ihrer Politik. ({19}) Sie haben sich so unter den Druck dieser Karten gesetzt, daß Sie gar nicht gemerkt haben, mit welcher Hektik Sie an Probleme herangegangen sind und wie Sie gerade dadurch Unsinn in der Politik verzapft haben. ({20}) Da steht hier als erstes Versprechen: mehr Arbeitsplätze durch eine konzertierte Aktion für Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit. Arbeitslosigkeit kann man bekämpfen. ({21}) Ich wiederhole - klatschen Sie nicht zu früh -: Bisher ist es Ihnen nicht gelungen. Sie hatten im April und Mai saisonbereinigt jeweils 10 000 Arbeitslose mehr. ({22}) Das ist Ihre Garantiekarte wert. ({23}) Sie haben versprochen, durch ein Sofortprogramm 100 000 Ausbildungsplätze für Jugendliche und mehr Lehrstellen durch eine Ausbildungsoffensive 1999 zu schaffen. ({24}) Wenn Sie sich die Maßnahmen anschauen, werden Sie feststellen, daß Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze in einem ganz bescheidenen Umfang entstanden sind. Die Zahl von 140 000, die Sie zustande kriegen, kriegen Sie in großem Umfang durch Kurzläufergeschichten hin. Das sind nicht die Dinge, die Sie versprochen haben. Auch da liegen Sie daneben. ({25}) Meine Damen und Herren, ich will Ihnen ersparen, die anderen Punkte hier vorzutragen, weil sie zum Teil andere Bereiche betreffen. Aber man kann Ihnen sagen: Wenn Sie das Versprechen erfüllen wollen, müssen Sie ganz schön hart arbeiten. ({26}) Sonst heißt es nämlich am Ende: versprochen, gebrochen. Schönen Dank. ({27})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/1056 und 14/1011 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der F.D.P. auf Drucksache 14/1225 soll an dieselben Ausschüsse wie der Berufsbil- dungsbericht überwiesen werden. Sind Sie damit einver- standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf der Fraktion der PDS zur solidarischen Ausbil- dungsfinanzierung auf Drucksache 14/14. Es gibt eine gemeinsame persönliche Erklärung zur Abstimmung, die ich Sie bitte zu Protokoll nehmen zu dürfen, und zwar von den Abgeordneten Nahles, Kort- mann, Lambrecht, Moosbauer, Nietan, Röspel, Roth, Sauer, Violka und Marhold.*) Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann nehmen wir das zu Protokoll. ------ *) Anlage 3 Der Ausschuß für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung empfiehlt auf Drucksache 14/583, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Ge- setzentwurf der PDS auf Drucksache 14/14 abstimmen. Die PDS verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstim- mung. Ist jemand anwesend, der seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das scheint so zu sein. Dann warten wir noch ein wenig. - Möchte noch jemand abstimmen? - Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Ich schließe die Ab- stimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekanntgegeben.*) Wir setzen die Beratungen fort, und zwar mit einer ganzen Reihe von Abstimmungen. Deswegen bitte ich, die Gänge für eine bessere Übersicht frei zu machen und die Gespräche nach Möglichkeit nach draußen zu verlegen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Überweisung im vereinfachten Verfahren Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Rahmenabkommen vom 28. Oktober 1996 über den Handel und die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits - Drucksache 14/1200 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent- wurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse und zusätzlich an den Ausschuß für wirtschaftli- che Zusammenarbeit und Entwicklung zu überweisen. Der Zusatzpunkt 2 - das betrifft das Lastenaus- gleichsgesetz auf Drucksache 14/866 - soll abgesetzt werden. Sind Sie mit der Überweisung einverstanden? - Das ist der Fall. Sind Sie auch mit der Absetzung einverstan- den? - Ebenfalls. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14a bis o auf. Es handelt sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu de- nen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 14 a: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 26. März 1998 zum Übereinkommen vom ------ *) Seite 4422 D 18. August 1948 über die Regelung der Schifffahrt auf der Donau ({1}) - Drucksache 14/1007 ({2}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) - Drucksache 14/1273 Berichterstattung: Abgeordnete Annette Faße Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/1273, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 b: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. April 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Japan über Soziale Sicherheit - Drucksache 14/1018 ({4}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5}) - Drucksache 14/1291 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Dreßen Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/1291, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 c: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Mai 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über Soziale Sicherheit - Drucksache 14/1019 ({6}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({7}) - Drucksache 14/1289 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Dreßen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/1289, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die, sich zu erheben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 d: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 5. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Republik Polen über das Multinationale Korps Nordost - Drucksache 14/1103 ({8}) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({9}) - Drucksache 14/1303 Berichterstattung: Abgeordnete Uta Zapf Eckart von Klaeden Dr. Helmut Lippelt Ulrich Irmer Wolfgang Gehrcke-Reymann Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1303, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Der Tagesordnungspunkt 14 e wird morgen aufgerufen. Tagesordnungspunkt 14 f: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz - Drucksache 14/870 ({10}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({11}) - Drucksache 14/1293 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Norbert Geis Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1293, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 g: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Gerhard Jüttemann, Dr. Evelyn Kenzler, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe - Drucksache 14/461 ({12}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({13}) - Drucksache 14/1304 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Hacker Dr. Wolfgang Götzer Hierzu liegt eine persönliche Erklärung der Abgeord- neten Ostrowski vor, die zu Protokoll gegeben werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Dann wird die Er- klärung zu Protokoll gegeben.*) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe auf Drucksache 14/461. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1304, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 14/461 abstimmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 14 h: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({14}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Elfter Bericht der Bundesregierung über die Art, den Umfang und den Erfolg der von ihr oder den Länderregierungen vorgenommenen Beanstandungen betreffend die Anwendung des Artikels 141 ({15}) EG-Vertrag über gleiches Entgelt für Männer und Frauen - Be- richtszeitraum 1995 bis 1997 - - Drucksachen 14/227, 14/305 Nr. 1.3, 14/1290 - Berichterstattung: Abgeordnete Leyla Onur ------ *) Anlage 4 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist damit einstimmig angenommen worden. Wir kommen nun zu den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 14 i: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 52 zu Petitionen - Drucksache 14/1248 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 52 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 j: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 53 zu Petitionen - Drucksache 14/1249 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 53 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 k: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 54 zu Petitionen - Drucksache 14/1250 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 54 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 l: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 55 zu Petitionen - Drucksache 14/1251 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 55 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 m: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 56 zu Petitionen - Drucksache 14/1252 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 56 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der PDS gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 n: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 57 zu Petitionen - Drucksache 14/1253 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 57 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 14 o: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 58 zu Petitionen - Drucksache 14/1254 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 58 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur solidarischen Ausbildungsfinanzierung bekannt. Abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 30, mit Nein haben gestimmt 550, Enthaltungen keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt worden. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 580; daovn: ja: 30 nein: 550 Ja PDS Dr. Dietmar Bartsch Maritta Böttcher Eva Bulling-Schröter Heidemarie Ehlert Dr. Heinrich Fink Wolfgang Gehrcke-Reymann Dr. Gregor Gysi Dr. Barbara Höll Ulla Jelpke Sabine Jünger Gerhard Jüttemann Dr. Evelyn Kenzler Rolf Kutzmutz Heidi Lippmann-Kasten Heidemarie Lüth Angela Marquardt Manfred Müller ({23}) Christine Ostrowski Petra Pau Christina Schenk Gustav-Adolf Schur Dr. Winfried Wolf Nein SPD Brigitte Adler Rainer Arnold Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Hermann Bachmaier Ernst Bahr Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({24}) Klaus Barthel ({25}) Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({26}) Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({27}) Bernhard Brinkmann ({28}) Hans-Günter Bruckmann Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({29}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann Rudolf Dreßler Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Lothar Fischer ({30}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({31}) Harald Friese Anke Fuchs ({32}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({33}) Angelika Graf ({34}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl Hermann Haack ({35}) Hans-Joachim Hacker Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Uwe Hiksch Reinhold Hiller ({36}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({37}) Walter Hoffmann ({38}) Frank Hofmann ({39}) Ingrid Holzhüter Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Dr. Uwe Jens Volker Jung ({40}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Marianne Klappert Hans-Ulrich Klose Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Helga Kühn-Mengel Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({41}) Detlev von Larcher Christine Lehder Robert Leidinger Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({42}) Christa Lörcher Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({43}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({44}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Siegmar Mosdorf Michael Müller ({45}) Jutta Müller ({46}) Christian Müller ({47}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({48}) Gerhard Neumann ({49}) Dr. Edith Niehuis Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Georg Pfannenstein Johannes Pflug Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({50}) Birgit Roth ({51}) Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Bernd Scheelen Siegfried Scheffler Horst Schild Dieter Schloten ({52}) Ulla Schmidt ({53}) Silvia Schmidt ({54}) Dagmar Schmidt ({55}) Wilhelm Schmidt ({56}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({57}) Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Brigitte Schulte ({58}) Reinhard Schultz ({59}) Volkmar Schultz ({60}) Ilse Schumann Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Rita Streb-Hesse Dr. Peter Struck Joachim Stünker Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Wolfgang Thierse Franz Thönnes Adelheid Tröscher Rüdiger Veit Günter Verheugen Simone Violka Ute Vogt ({61}) Hedi Wegener Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({62}) Matthias Weisheit Gert Weisskirchen ({63}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Hans-Joachim Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek ({64}) Jürgen Wieczorek ({65}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz Heino Wiese ({66}) Brigitte Wimmer ({67}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf ({68}) Waltraud Wolff ({69}) Heidemarie Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Norbert Barthle Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Otto Bernhardt Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Dr. Maria Böhmer Sylvia Bonitz ({70}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler ({71}) Hartmut Büttner ({72}) Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({73}) Leo Dautzenberg Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß Renate Diemers Thomas Dörflinger Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ulf Fink Dirk Fischer ({74}) Axel E. Fischer ({75}) Dr. Gerhard Friedrich ({76}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({77}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Dr. Heiner Geißler Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Gottfried Haschke ({78}) Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser ({79}) Hansgeorg Hauser ({80}) Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Peter Hintze Klaus Holetschek Dr. Karl-Heinz Hornhues Hubert Hüppe Georg Janovsky Dr. Harald Kahl Dr. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Dr. Helmut Kohl Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Thomas Kossendey Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers ({81}) Dr. Norbert Lammert Dr. Paul Laufs Vera Lengsfeld Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({82}) Eduard Lintner Dr. Klaus Lippold ({83}) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({84}) Julius Louven Dr. Michael Luther Erich Maaß ({85}) Erwin Marschewski Dr. Martin Mayer ({86}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({87}) Elmar Müller ({88}) Bernd Neumann ({89}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Eduard Oswald Norbert Otto ({90}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({91}) Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Dr. Jürgen Rüttgers Anita Schäfer Hartmut Schauerte Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Dietmar Schlee Andreas Schmidt ({92}) Hans Peter Schmitz ({93}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Wolfgang Schulhoff Diethard W. Schütze ({94}) Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Heinz Seiffert Bernd Siebert Werner Siemann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Dr. Rita Süssmuth Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Dr. Theodor Waigel Peter Weiß ({95}) Gerald Weiß ({96}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({97}) Hans-Otto Wilhelm ({98}) Gert Willner Klaus-Peter Willsch Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Aribert Wolf Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gila Altmann ({99}) Marieluise Beck ({100}) Volker Beck ({101}) Angelika Beer Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Rita Grießhaber Winfried Hermann Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Monika Knoche Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske ({102}) Kerstin Müller ({103}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Claudia Roth ({104}) Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt ({105}) Werner Schulz ({106}) Christian Sterzing Jürgen Trittin Ludger Volmer Sylvia Voß Helmut Wilhelm ({107}) F.D.P. Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Ulrike Flach Horst Friedrich ({108}) Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({109}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Walter Hirche Birgit Homburger Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Sabine LeutheusserSchnarrenberger Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({110}) Cornelia Pieper Gerhard Schüßler Marita Sehn Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Fragestunde - Drucksachen 14/1270, 14/1298 Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres erschienen. Ich rufe als erstes die Dringliche Frage 1 der Abgeordneten Birgit SchnieberJastram auf: Wie steht die Bundesregierung zu den Berechnungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger vom 28. Juni 1999, wonach das Nettorentenniveau bei Umsetzung der Sparpläne der Bundesregierung unter Berücksichtigung der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bei Nettostellung des Kindergeldes 2002 auf 63,9 % sinkt und 2030 bei 64,8 % liegt?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Frau Kollegin Schnieber-Jastram, auf Grund der Revision der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erhöht sich das Rentenniveau um insgesamt rund einen Prozentpunkt. Die Wirkung setzt sich aus zwei gegenläufigen Effekten der Revision zusammen. Die Bruttostellung des Kindergeldes, das nach der Revision nicht mehr zur Nettolohn- und -gehaltssumme zählt, erhöht das Rentenniveau um rund 2,5 Prozentpunkte. Die sonstigen rückwirkenden Änderungen der Revision senken das Rentenniveau um rund 1,5 Prozentpunkte. Die Maßnahmen der Bundesregierung führen unter Berücksichtigung der Revision der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu einer Senkung des Rentenniveaus von zur Zeit rund 70 Prozent auf bleibend rund 67 Prozent. Dies bestätigen auch die Berechnungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, der dies gestern so nochmals ausdrücklich in einer gemeinsamen Presseerklärung mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung klargestellt hat. Ohne volkswirtschaftliche Gesamtrechnungsrevision würde das Rentenniveau von rund 69 Prozent auf rund 66 Prozent sinken. Die Bundesregierung ist gehalten, auf der Basis der jeweils gültigen Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu rechnen. Weitere fiktive Vergleichsrechnungen, wie sie der VDR darüber hinaus angestellt hat und die zu anderen Rentenniveaus führen, finden in den amtlichen VGR-Daten keine Stütze. Unabhängig von allen Vergleichsrechnungen bleibt folgendes festzuhalten: Das Rentenniveau sinkt durch die Maßnahmen der Bundesregierung um rund drei Prozentpunkte. Das können Sie auch in den von Ihnen angesprochenen Vergleichsrechnungen nachvollziehen. Im Rentenreformgesetz 1999 der früheren Bundesregierung war dagegen eine Absenkung des Rentenniveaus von 68,9 Prozent auf 64 Prozent, also um rund fünf Prozentpunkte, vorgesehen. Dies belegen die Ausführungen in der finanziellen Begründung zum Rentenreformgesetz 1999.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär Andres, Sie haben soeben selbst den Effekt der Umstellung von der bisherigen Nettostellung des Kindergeldes auf die Bruttostellung des Kindergeldes mit zweieinhalb Prozentpunkten beziffert. Inwiefern können Sie dann von einer fiktiven Rechnung sprechen, nachdem Sie selber diesen Effekt quantifiziert haben?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Storm, ich habe zwei Daten genannt: Wenn man das Kindergeld herausrechnet, ergibt sich eine Steigerung um 2,5 Prozent, aber durch andere Maßnahmen eine Absenkung um 1,5 Prozent. Das führt nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung dazu, daß das Nettorentenniveau um etwa 1 Prozentpunkt ansteigt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Nachfrage des Kollegen Grund, bitte.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, die Senkung des Rentenniveaus um 3 Prozentpunkte bleibt ja ziemlich abstrakt. Das wird für die Rentnerinnen und Rentner ja erst konkret greifbar, wenn sie wissen, wieviel weniger sie ab dem Jahre 2001 zur Verfügung haben. Können Sie Berichte bestätigen, daß ab dem Jahr 2001 dem Rentner in den alten Bundesländern monatlich etwa 100 DM weniger verbleiben, als ihm nach den bisherigen Erwartungen zustände, und den Rentnern in den neuen Bundesländern 124 DM monatlich gegenüber den Steigerungen, die ihnen zustehen würden, vorenthalten werden?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Grund, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben. Deswegen kann ich sie weder bestätigen noch dementieren. Ich stimme Ihnen aber bei einer Aussage Ihrer Frage ausdrücklich zu: Diese Debatten sind völlig abstrakt und für kaum jemanden noch nachvollziehbar. Deswegen will ich noch einmal festhalten, daß die Bundesregierung erklärt hat - sowohl der VDR als auch die BfA haben es heute bestätigt -, daß wir durch die beschlossenen Maßnahmen das Nettorentenniveau künftig bei zirka 67 Prozent stabilisieren können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich kann Ihnen noch einmal bestätigen - weil ich selber daran teilgenommen habe -, daß bei den Beratungen des Rentenreformgesetzes 1999 eine Absenkung um rund 5 Prozentpunkte vorgesehen war. ({0}) Ich denke, daß es angesichts der vielen Modellrechnungen, die die Öffentlichkeit beschäftigen, wichtig ist, den Menschen zu vermitteln, daß durch Beschluß des Bundeskabinetts die Renten in den nächsten beiden Jahren in Höhe der Preissteigerungsrate ansteigen werden und daß das den Effekt hat, daß das Nettorentenniveau bei einem gleichzeitig stabilen Beitrag von zirka 19 Prozent über lange Zeit stabil bei zirka 67 Prozent liegen wird. Das ist eine wichtige Botschaft, die man auch draußen vermitteln muß.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage des Abgeordneten Dreßen.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann es sein, daß die Unklarheiten daher kommen, daß die Opposition und Teile der Presse zwar die Berechnungen des VDR, die ja jetzt bekanntgeworden sind, auf der einen Seite mit dem Blüm-Modell und auf der anderen Seite mit dem Riester-Modell vergleichen, aber dabei vergessen, daß der VDR in Wirklichkeit von der aktuellen Gesetzeslage ausgegangen ist, also die zweijährige Aussetzung des Demographiefaktors schon berücksichtigt hat?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Dreßen, wir sehen das auch so. Wer auf der Grundlage der aktuellen Gesetzeslage rechnet, der rechnet natürlich auf der Grundlage, die im Herbst des vergangenen Jahres mit Wirkung zum 1. Januar dieses Jahres vorgesehen war. Wir haben aktuell beschlossen, daß der sogenannte Demographiefaktor aus dem Rentenreformgesetz 1999 der alten Koalition für dieses und nächstes Jahr ausgesetzt wird. Wenn man auf dieser Grundlage rechnet, erhält man natürlich ganz andere Vergleichszahlen, als man eigentlich heranziehen müßte. Es wäre ja nicht davon auszugehen gewesen, daß die alte Koalition, wenn sie die Wahl noch einmal gewonnen hätte, den Demographiefaktor ausgesetzt hätte. Also muß man sozusagen von den Auswirkungen der Blümschen Reform ausgehen, wie sie damals beabsichtigt und beschlossen war. Daraus ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit auch das muß man zugeben. Wenn man jeweils gleiche Stände miteinander vergleichen will, zieht das außerordentlich komplizierte Rechenoperationen nach sich, die der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr zu vermitteln sind. Deswegen ist es der Bundesregierung ganz wichtig, deutlich zu machen, daß wir mit unseren Maßnahmen im Grunde genommen mehrere Dinge gleichzeitig erreichen: Wir erreichen ein stabiles Nettorentenniveau in Höhe von zirka 67 Prozent, also ein deutlich höheres Niveau, als es durch die Reform der alten Koalition erreicht worden wäre, und stabile Beiträge von zirka 19 Prozent, die deutlich niedriger liegen als die der alten Koalition. ({0}) Wir werden mit unserer Reform der Rentenversicherung erreichen, daß die Rentenversicherung auf lange Sicht zum einen zukunftsfest und zum anderen armutssicher ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage der Abgeordneten Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, Sie haben in all Ihren Aussagen bisher die Angabe von Jahreszahlen sorgfältig vermieden. Das heißt, Sie haben in keiner Ihrer Aussagen gesagt, wann das von Ihnen in den Raum gestellte Rentenniveau erreicht ist. Stimmen Sie mir zu, daß nach den Berechnungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger die von Ihnen durch das Aussetzen der nettolohnbezogenen Rentenanpassung angestrebte Absenkung des Nettorentenniveaus in den nächsten zwei Jahren von heute zirka 71 Prozent auf zirka 64 Prozent im Jahre 2002 die brutalste Absenkung ist, die man sich überhaupt nur vorstellen kann? ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau AdamSchwaetzer, ({0}) ich stimme Ihnen ausdrücklich nicht zu. Wenn Sie sich auf die Zahlen des VDR berufen, dann muß ich Ihnen sagen, daß diese Zahlen Ihre Schlußfolgerung nicht stützen. Im übrigen bitte ich um Entschuldigung. Sie heißen nicht mehr Adam-Schwaetzer, sondern nur noch Schwaetzer. ({1}) - Frau Präsidentin, darf ich dazu etwas sagen? - Frau Schwaetzer hat mich eben ausdrücklich gebeten, sie nicht mehr mit Adam-Schwaetzer anzureden. Ich bedaure, daß ich sie eben mit Adam-Schwaetzer und nicht mit Schwaetzer angeredet habe. Was ist daran falsch? Vielleicht kann es mir jemand erklären? ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich denke, dieser Punkt ist endgültig geklärt. Wir kommen zur Zusatzfrage des Abgeordneten Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, nicht hinreichend klar sind die Auswirkungen auf das Nettorentenniveau für den Fall, daß Ihre Überlegungen verwirklicht werden sollten, die bisherigen freiwilligen Beiträge für die betriebliche und private Altersvorsorge in einen Pflichtbeitrag umzuwandeln. Die Auswirkung auf das Rentenniveau wäre dergestalt, daß eine entsprechende Berechnung eine für Sie günstigere Prognose ergeben würde. Damit würde aber gleichzeitig die Vergleichbarkeit mit der bisherigen Berechnung auf Grundlage der jetzigen Rentenformel noch weniger gegeben sein, wodurch noch mehr Wirrwarr in die öffentliche Diskussion käme. Wie beurteilen Sie also die Umwandlung der Beiträge im Bereich der privaten Altersvorsorge in Pflichtbeiträge in Hinblick auf das Nettorentenniveau?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Singhammer, ich kann Ihnen ausdrücklich bestätigen, daß es in der öffentlichen Debatte einen unglaublichen Wirrwarr über die sehr unterschiedlichen Zahlen gibt. ({0}) Wir haben die ganze Zeit über das Nettorentenniveau geredet. Dieses Niveau liegt nach übereinstimmender Aussage des VDR, der BfA und der Bundesregierung in den nächsten Jahren stabil bei 67 Prozent. Ich weiß nicht, worauf Ihre Bemerkungen zum Pflichtbeitrag beruhen. Dieser Punkt wird in der Debatte um eine zukünftige Rentenreform diskutiert werden müssen. Darüber hat es zwar öffentliche Äußerungen gegeben, aber ich kann Ihnen nicht bestätigen, daß die Bundesregierung bisher irgendeine Regelung zu einem zusätzlichen Pflichtbeitrag beschlossen hat. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage des Kollegen Weiß.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, räumen Sie ein, daß die Renten nach Ihrem schwerwiegenden Eingriff in die Rentenanpassung im Jahr 2000 nur um 0,7 Prozent statt um die ansonsten fälligen 3,7 Prozent angepaßt werden und daß das jedenfalls erheblich weniger ist, als wenn noch die alte Formel mit dem Demographiefaktor gelten würde, so daß die Darstellung, Sie würden mit Ihrer Rentenanpassung günstiger liegen, als es nach der Rentenreform 1998 der Fall war, völlig unzutreffend ist?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Weiß, wir haben jetzt die ganze Zeit über das Nettorentenniveau diskutiert. Ich räume folgendes ein: Die Bundesregierung hat per Kabinettsbeschluß festgelegt, daß die Rentenanpassungen für das Jahr 2000 und für das Jahr 2001 entsprechend den Preissteigerungsraten stattfinden werden. Der Bundesfinanzminister und andere haben hier in öffentlichen Debatten deutlich gemacht, warum wir das für notwendig halten. Wir glauben, daß es möglich ist, das Rentensystem durch eine Stabilisierung des Nettorentenniveaus sowie durch vernünftig reduzierte Beitragssätze, beispielsweise über die Ökosteuer, in einem umfassenden Konzept zukunftsfest und gleichzeitig armutsfest zu machen. Ich will Sie darauf verweisen, daß der Bundesfinanzminister deutlich gemacht hat, daß wir von vielen Menschen in unserem Lande auf Grund der verheerenden Haushaltssituation, die wir von Ihrer Regierung übernommen haben, erwarten, daß sie in den nächsten Jahren sozusagen ein Stück weit innehalten. Es gibt einen Ausgleich des Preisanstiegs und damit keine Verschlechterung der Lebenssituation. Wir werden anschließend wieder die nettolohnbezogene Rentenanpassung vornehmen, wie das bisher üblich war. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt kommt die Zusatzfrage des Kollegen Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, könnten Sie mir eine Jahreszahl benennen, wann etwa das Rentenniveau über dem liegt, was den Rentnern nach dem Blümschen Modell zugestanden hätte?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich will noch einmal darauf verweisen, daß ich in der Antwort auf die Frage, die Frau Schnieber-Jastram hier als erste Dringliche Frage gestellt hat, deutlich gemacht habe, daß nach dem Rentenreformgesetz 1999 von Norbert Blüm eine Senkung des Nettorentenniveaus auf 64 Prozent geplant war. ({0}) - Entschuldigung, ich bin gerade dabei, die Frage des Abgeordneten Brecht zu beantworten. Nach dem Stand der damaligen Diskussionen war vorgesehen, daß das Nettorentenniveau nach dieser Reform bereits im Jahre 2010 bei 65 Prozent gelegen hätte und wahrscheinlich im Jahre 2012/13 auf 64 Prozent abgesenkt worden wäre. ({1}) Die Bundesregierung geht davon aus, daß sie mit den Maßnahmen, die sie jetzt beschlossen hat und die hier diskutiert werden, auf längere Frist, bis zum Jahre 2030, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer ein Nettorentenniveau von 67 Prozent gewährleisten kann. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt kommt die Zusatzfrage des Herrn Kollegen Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wären Sie in der Lage, einzusehen, daß die Bundesregierung zu den auch von Ihnen beklagten Verwirrungen in der Öffentlichkeit über die Zahlen unter anderem dadurch beiträgt, daß Sie, auch jetzt bei der Beantwortung der Fragen, wenn Sie über das Rentenniveau der Blümschen Rentenreform sprechen, permanent die Zahlen nennen, die sich vor der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergeben haben, während Sie, wenn Sie über Ihre eigenen Reformvorhaben sprechen, die Zahlen nehmen, die sich nach der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergeben, so daß Sie 64 Prozent mit 67 Prozent vergleichen, obwohl der Unterschied geringer wäre, wenn Sie seriös wären und in beiden Fällen die Zahlen vor oder nach der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nehmen würden? Können Sie mir die Frage beantworten, ob das Absicht ist oder nur Versehen? ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Schäuble, ich bin nicht in der Lage, das einzusehen. ({0}) Ich würde Ihnen empfehlen, sich die VDR-Vergleichszahlen, die Anlaß für die Fragen waren, anzuschauen. Da ist es völlig unerheblich, von welchem Niveau man bei den Modellrechnungen jeweils ausgeht; in dem einen Fall, bei Ihnen, wird um 5 Prozentpunkte gesenkt, während bei uns um 3 Prozentpunkte gesenkt wird. Und das bleibt auch so. Um Ihnen das zu belegen, möchte ich, was die Daten angeht, darauf verweisen, daß in § 68 des Rentenreformgesetzes 1999 festgelegt ist, daß das Nettorentenniveau nicht unter 64 Prozent absinken darf. In Nr. 7 dieses Paragraphen heißt es: Bei der Bestimmung des neuen aktuellen Rentenwerts sind für das vergangene Kalenderjahr die dem Statistischen Bundesamt zu Beginn eines Kalenderjahres vorliegenden Daten und für das vorvergangene Kalenderjahr die bei der Bestimmung des bisherigen aktuellen Rentenwerts verwendeten Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zugrunde zu legen. Nichts anderes hat die Bundesregierung getan. Das heißt, wir halten uns an rechtliche Bestimmungen, die noch unter Ihrer Koalition durch das Rentenreformgesetz 1999 so beschlossen wurden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Kollegen Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, können Sie mir angesichts dessen, daß der Herr Bundeskanzler die Absenkung des Rentenniveaus auf 64 Prozent durch Einführung des demographischen Faktors nach der alten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bis zum Jahre 2015 während des Wahlkampfes als unanständig bezeichnet hat, mitteilen, wie der Herr Bundeskanzler die Absenkung des Rentenniveaus auf 65 Prozent innerhalb von zwei Jahren nach der neuen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bezeichnet?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich kann nur das wiederholen, was ich bereits mehreren Fragestellern geantwortet habe: Die Bundesregierung muß sich an das halten, was gesetzliche Grundlage ist. Nach der gesetzlichen Grundlage ist es so - dies war auch bei der früheren Koalition so -, daß man sich auf die Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stützen muß. Das habe ich hier ausgeführt. ({0}) Ich habe schon erläutert, daß wir im Zusammenhang mit einer umfassenden Reform der Rentenversicherung - wir wollen sie zukunfts- und armutsfest machen - eine Reihe von Maßnahmen beschlossen haben. Eine dieser Maßnahmen für das nächste und das übernächste Jahr ist die Anpassung der Renten an die Preissteigerungsrate. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Niebel, Sie können nur einmal fragen. Aber es sind ja noch genügend Fragesteller im Raum. Jetzt rufe ich die Zusatzfrage des Kollegen Strobl auf.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben eingeräumt, daß hinsichtlich der Rentenpläne der Bundesregierung öffentliche Verwirrung entstanden ist. Zählen Sie dazu auch Äußerungen aus den Reihen der Koalitionsfraktionen, beispielsweise der Abgeordneten Scheel, den von Ihnen abgeschafften Demographiefaktor im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wiedereinführen zu wollen, und wie beurteilt die Bundesregierung eine solche Äußerung?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich habe die Verwirrung, die Sie eingangs Ihrer Frage unterstellt haben, natürlich nicht zugestanden. Ich bitte Sie um Verständnis: Die Bundesregierung wird hier nicht zu Äußerungen einzelner Abgeordneter der Koalition oder sonstigen Äußerungen Stellung nehmen. Ich habe darzustellen - danach bin ich gefragt worden -, was die Bundesregierung zu tun beabsichtigt. Da gibt es Kabinettsbeschlüsse, die darauf hinauslaufen, in den nächsten beiden Jahren eine Anpassung der Renten nach bestimmten Kriterien vorzunehmen. Hierbei wird diskutiert, welche Auswirkungen das auf das Beitragsniveau und auf das Rentenniveau hat. Dazu habe ich mich zu äußern, und ich gedenke hier nicht, öffentliche Äußerungen der Frau Abgeordneten Scheel zu kommentieren.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Hauser.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, welches Rentenniveau hätte sich im Jahre 2001 nach dem Modell Blüm auf der Basis vor Umstellung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergeben, und welches Rentenniveau hätte sich im Jahre 2001 nach dem Modell Riester vor der Veränderung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergeben? Welches Rentenniveau ergibt sich demgemäß zum Jahre 2001 für beide Modelle nach der Umstellung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Kollege Hauser, das ist eine Frage, die man so nicht beantworten kann. ({0}) Ich kann Ihnen beantworten, wie dies im Zusammenhang mit den Planungen bezüglich eines Rentenreformgesetzes des Bundesarbeitsministers Blüm ausweislich der Bundesratsdrucksache 603/97 ausgesehen hat: Da wäre es zu einem Nettorentenniveau in einer Größenordnung von 69,8 Prozent bei einem Rentenbeitrag von 20,7 Prozent gekommen. Inzwischen aber liegt der Beitragssatz nicht mehr bei 20,7 Prozent. Auf Grund der Korrelationen ist ein Vergleich nicht möglich. ({1}) - Doch, er hat nach einem Vergleich von zwei völlig verschiedenen Dingen gefragt. Da schon mehrfach danach gefragt wurde, möchte ich folgendes deutlich machen: Auf Grund der veränderten Rechtslage ist ein unmittelbarer Vergleich nicht möglich. Ich habe schon ein Beispiel genannt: Wir haben den Demographiefaktor für die Jahre 1999 und 2000 ausgesetzt. Wenn man davon ausgeht und die Blümsche Rentenreform nimmt, dann gilt der Faktor als ausgesetzt, obwohl ich unterstelle, daß die alte Koalition nie daran gedacht hätte, ihn außer Kraft zu setzen. Wir haben zugesagt, den Demographiefaktor auszusetzen, und dies auch umgesetzt. Nun ergeben sich ganz andere Zahlen. Ich kann nur wiederholen, daß wir die Absicht haben - das hat das Kabinett beschlossen -, die Renten im nächsten Jahr in einer Größenordnung von 0,7 Prozent anzupassen, im Jahr darauf in einer Größenordnung von 1,6 Prozent. Wir haben bereits zum 1. April den Rentenversicherungsbeitrag von 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent gesenkt. Dies steht in Abhängigkeit zueinander. Es macht also überhaupt keinen Sinn - das habe ich bereits darzustellen versucht -, auf Grund der unterschiedlichen Ausgangspositionen verschiedene Modelle miteinander zu vergleichen. Wäre der Demographiefaktor beibehalten worden, hätte man errechnen können, was sich verändert; das ist in den entsprechenden Gesetzentwürfen nachzulesen. Da wir ihn aber ausgesetzt haben und bestimmte Veränderungen vornehmen, ergibt sich eine ganz andere Wirkung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage des Kollegen Grehn.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, zunächst einmal zur Ausgangsposition: Wir haben vor kurzer Zeit beschlossen, daß die Ausnahmeregelung für die Sozialhilfeempfänger weiterhin gilt. Danach wird die Erhöhung der Sozialhilfe der Rentenanpassung angeglichen. Nun aber werden wir bei den Renten eine Talfahrt erleben. - Meine Frage: Welche Auswirkungen hat dies für die Sozialhilfeempfänger und die Arbeitslosenhilfeempfänger?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Kollege, ich teile Ihre Einschätzung in bezug auf die Talfahrt nicht. Um das Rentensystem zukunftsfest und sicher zu machen, wird die Rentenanpassung in den nächsten zwei Jahren nach einem bestimmten Mechanismus vorgenommen. Wir haben ausdrücklich festgelegt, daß dieser Mechanismus auch für die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe gelten wird. Für diese Bereiche und auch die verwandten Rentensysteme bedeutet dies - um mit den Worten des Bundesfinanzminsters zu sprechen - ein zweijähriges Innehalten. Es wird gewährleistet, daß jeder für zwei Jahre seinen Lebensstandard behält, indem die Preissteigerungsrate ausgeglichen wird. Uns schafft dies ausreichend Luft und Möglichkeiten, die Systeme so zu gestalten, daß sie durch die Beitragszahler weiterhin vernünftig zu finanzieren sind, daß sie ein ausreichendes Versorgungsniveau gewährleisten und zukunftsfest werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage des Kollegen Seehofer.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Jetzt fehlt nur noch Norbert Blüm. Dann haben wir sie alle.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es gibt noch so viele, die nachfragen wollen. Ich nenne einmal diejenigen, die ich auf der Liste vermerkt habe: Herrn Weiß ({0}), Herrn Meckelburg, Herrn Heinrich, Frau Schnieber-Jastram und Herrn Kraus.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin, darf ich eine Frage stellen?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ja.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau SchnieberJastram hätte als Fragestellerin das Recht gehabt, zwei Zusatzfragen zu stellen. Darauf hat sie verzichtet. Hat sie erneut die Möglichkeit der Fragestellung? - Ich unterhalte mich gerne mit Ihnen, Frau Schnieber-Jastram. Ich frage nur.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie haben völlig recht. Wenn sie darauf förmlich verzichtet hat, hat sie dieses Recht nicht. Wenn sie ihre Fragen nur hat ruhen lassen, hätte sie das Recht wieder. Jetzt wollen wir aber doch die Frage des Kollegen Seehofer hören. Bitte.

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist es nicht so, daß unter den Fachleuten in der Rentenversicherung seit jeher die Auswirkung einer Veränderung in der Rentenversicherung danach beurteilt wird, wie von ihr ein Durchschnittsverdiener, der sein volles Arbeitsleben Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt hat, betroffen ist? Das ist der sogenannte Eckrentner. Wenn man ihn zugrunde legt, sieht man, daß dadurch, daß Sie die Rentenerhöhung in den Jahren 2000 und 2001 kappen, diesem Durchschnittsverdiener im Jahr 1 200 DM weggenommen werden. Die Absenkung des Rentenniveaus, die damit verbunden ist, wäre bei der Reform von Norbert Blüm frühestens 10 Jahre später erreicht worden. Das heißt, daß Sie 10 Jahre lang Rentner, die im Bestand sind, aber auch Neurentner - wenn es sich um Durchschnittsverdiener handelt - um 1 200 DM im Jahr erleichtern. Könnte darin der Grund dafür liegen, daß der saarländische Ministerpräsident gestern erklärt hat, daß er sich angesichts eines solchen unsozialen Einschnitts außerstande sehe, dieser Reform zuzustimmen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Seehofer, selbstverständlich arbeiten wir in der Rentenversicherung mit dem sogenannten Eckrentner. Das ist derjenige, der 45 Jahre lang Beiträge in die Versicherung eingezahlt hat und der dabei im Durchschnitt der Beitragszahlungen aller Versicherten lag. Dafür kann man bestimmte Dinge ausweisen. Ich will Sie aber darauf hinweisen, daß beispielsweise diese Regierung den sogenannten Demographiefaktor, der bei der Rentenanpassung bereits in diesem Jahr gewirkt hätte - ({0}) - Entschuldigen Sie, ich darf doch bei einer Frage, die etwas komplizierter ist, etwas umfassender antworten. Oder nicht? Herr Seehofer hat gesagt, es gebe keine Anpassung. Ich wiederhole noch einmal: Das stimmt nicht. Es wird eine Anpassung für alle Rentnerinnen und Rentner im Jahre 2000 und im Jahre 2001 auf der Grundlage der Rate der Preissteigerung geben. Wer Vergleiche zu Norbert Blüm zieht, dem muß ich einfach sagen können, daß die Rentenanpassung, die morgen wirksam wird, Herr Abgeordneter Seehofer, 1,34 Prozentpunkte ausmacht. Diese Rentenerhöhung kommt nur dadurch zustande, daß die neue Bundesregierung den Demographiefaktor ausgesetzt hat. Wäre er nämlich in Kraft geblieben, wäre diese Rentenanpassung - ich beziehe mich jetzt ausdrücklich auf den Westen - um 0,55 Prozent geringer ausgefallen. Damit hätte die Rentenanpassung in diesem Jahr 0,79 Prozentpunkte betragen und hätte damit hauchdünn über dem Inflationsausgleich gelegen. Wer bestimmte Dinge anspricht, der muß wissen, in welchen Wirkungsmechanismen sie zueinander stehen. Mehr versuche ich hier nicht darzustellen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt ist der Kollege Weiß mit seiner Zusatzfrage dran. Ich möchte darauf hinweisen: Es gibt noch weitere Fragen, und dazu kann man wiederum weitere Zusatzfragen stellen, und zwar zu einer Frage nur jeweils eine Zusatzfrage. Bitte.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär Andres, nachdem Sie mehrmals Vergleiche zwischen der geplanten Rentenreform der derzeitigen Bundesregierung und der Rentenreform unter Verantwortung von Herrn Bundesminister Blüm in der früheren Regierung gezogen haben - Sie haben immer wieder Vergleiche gezogen zwischen der Absenkung um 3 Prozentpunkte und der um 5 Prozentpunkte -, möchte ich Sie fragen, ob Sie noch einmal darlegen könnten, wann das Rentenniveau von 67 Prozent - nach Ihrer Berechnung - nach Ihrem Rentenreformmodell erreicht wird und wann der sogenannte demographische Faktor nach dem unter Federführung von Bundesminister Blüm beschlossenen Rentenreformgesetz voll zur Geltung gekommen wäre. Ich möchte Sie bitten, diese Jahreszahlen noch einmal einander gegenüberzustellen.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich will zunächst noch einmal feststellen, daß ich ausdrücklich gesagt habe - das ist ja der Kern dessen, worüber wir uns hier auseinandersetzen; das ist die Ausgangsfrage von Frau Schnieber-Jastram -: Wenn man für unterschiedliche Wirkungsweisen bestimmte Modellrechnungen macht - ich nehme jetzt die Rentenreform 1999 und nehme die Absichten, die diese Bundesregierung hat -, dann gibt es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer in bezug auf verschiedene Veränderungen unterschiedliche Ausgangslagen. Mir ist völlig klar: Wenn ich in diesem Jahr von der geltenden Gesetzeslage ausgehe und dann den Demographiefaktor einbeziehe, komme ich zu anderen Werten, als wenn ich das im vergangenen Jahr berechnet hätte. Denn der Demographiefaktor ist - ich wiederhole das - in diesem und im nächsten Jahr ausgesetzt. ({0}) Deswegen ist die Vergleichbarkeit bestimmter Positionen - das muß man öffentlich deutlich sagen - nicht gegeben. Es hilft überhaupt nichts, sich Modellrechnungen von diesem, von jenem und von Dritten anzuschauen. Sinnvoll ist lediglich, sich mit der konkreten Beschlußlage auseinanderzusetzen. Die derzeitige Beschlußlage ist folgendermaßen: Wir haben bestimmte Teile des Rentenreformgesetzes 1999 aufgehoben. Das ist eine Tatsache. Das Bundeskabinett hat beschlossen, die Rentenanpassung für das nächste und das übernächste Jahr gemäß einer bestimmten Grundlage vorzunehmen. Eine dieser Grundlagen ist - ich bin immer noch dabei, Ihre Frage zu beantworten -, daß die Anpassung im nächsten Jahr 0,7 Prozent, im Jahr darauf 1,6 Prozent betragen soll. Das nämlich sind die für die beiden Folgejahre geschätzten Preissteigerungsraten. Was passiert nun eigentlich, wenn die Preissteigerungsraten geringer oder höher ausfallen? Da die Anpassung dann auf der Grundlage eines davorliegenden Vorganges erfolgt, kann man diesbezüglich nur Annahmen auf Grund gesetzter Daten treffen. Wenn sich die Raten ändern und höher oder niedriger ausfallen, sind die Folgen für die Folgejahre schon andere. Deswegen sage ich ausdrücklich - das ist die Position unseres Hauses -: Es macht überhaupt keinen Sinn, sich über unterschiedliche Modellrechnungen mit unterschiedlichen Ausgangslagen auseinanderzusetzen. Das führt nur zur Verwirrung der Bürgerinnen und Bürger. Viel sinnvoller ist es, deutlich zu machen, was beschlossen ist und womit wir umgehen. Äußern kann ich mich - das habe ich auch getan - zu den Auswirkungen der Gesetzgebung nach der Blümschen Rentenreform 1999 sowie zu dem jetzigen Stand, zu dem, was die Bundesregierung jetzt gemacht hat: Sie hat den Demographiefaktor ausgesetzt, die geplanten Veränderungen im Bereich BU/EU zurückgenommen und festgelegt, wie die Anpassungen für die nächsten zwei Jahre aussehen sollen. Darüber kann ich Aussagen treffen. Alle weiteren Aussagen helfen nicht weiter und ändern nichts an der Position, die ich hier dargestellt habe. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt eine Zusatzfrage des Kollegen Meckelburg. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, es verdichtet sich hier der Eindruck, daß Sie nicht bereit sind, zwischen den beiden Modellen Vergleichbarkeit herzustellen. ({0}) Ich beziehe mich in meiner Frage jetzt noch einmal auf Ihre Aussage, man könne das nicht berechnen. Die Höhe des Kindergeldes ist bekannt. Warum ist es nicht möglich, Herr Staatssekretär, zu Vergleichszwecken die Nettolohnentwicklung - unter Einbeziehung der Kindergelderhöhung - zu berechnen und damit das Nettorentenniveau auf bisheriger Basis anzugeben? Wir möchten, daß Sie Dinge vergleichen, die vergleichbar sind. Sie weigern sich bisher, das zu tun. ({1})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich weigere mich überhaupt nicht. Der VDR hat mitgeteilt - dies war ja Ausgangspunkt und Veranlassung für diese Fragen -, daß das durchschnittliche Jahresnettoentgelt West durch die Bruttostellung des Kindergeldes von 33 651 auf 33 150 DM gesunken ist. Die Renten sind bisher nicht geändert worden; insofern ist überhaupt nichts passiert. Sinkt das durchschnittliche Jahresnettoentgelt - weil das Kindergeld aus der Nettobewertung in die Bruttobewertung gestellt wird; weil es, wie Sie alle wissen, auf anderem Wege ausgezahlt wird -, erhöht sich der Prozentsatz des Rentenniveaus automatisch, wenn die Renten gleichbleiben. ({0}) Ich weigere mich überhaupt nicht, Vergleiche anzustellen. ({1}) - Ich kann Ihnen ganz unterschiedliche Zahlen vom VDR, von der BfA und von anderen vortragen. Das macht aber, so finde ich, überhaupt keinen Sinn, weil man sich mit der jeweiligen Berechnungsgrundlage auseinandersetzen muß. Dann gelangt man wieder zu der spannenden Frage, ob der Demographiefaktor einbezogen ist oder nicht. Ich kann Ihnen also folgendes sagen - ich wiederhole das, weil das hier konkret beschlossen worden ist -: Um das Rentenversicherungssystem zukunftsfähig zu machen und gleichbleibende Beitragsbelastungen zu erreichen, haben wir Maßnahmen für die nächsten zwei Jahre veranlaßt, die dazu führen, daß das Nettorentenniveau bei 67 Prozentpunkten liegt. (Andreas Storm [CDU/CSU]: Das hat doch nichts mit der Frage zu tun! - Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Herr Staatssekretär, beantworten Sie doch einmal die Frage! In dieser Fragerunde haben Sie keine einzige Frage beantwortet! - Johannes Singhammer [CDU/ CSU]: Keine Märchenstunde!]

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie wissen, daß das Stellen von komplizierten Fragen und das komplizierte Beantworten von Fragen von jeher zu den Schulungen hier im Haus gehört, Zusatzfrage des Kollegen Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin die Kompliziertheit der Situation der Rentenversicherung und die Verwirrtheit der Öffentlichkeit über deren Zukunft attestiert. Sie tragen heute mit dazu bei, indem Sie sich weigern, Dinge, die man miteinander vergleichen kann, vergleichbar darzustellen. Das BMA ist sicherlich in der Lage, das zu berechnen. Sie sind nicht bereit, uns die Zahlen zu liefern. Ich frage Sie deshalb: Stimmen Sie mir zu, daß die Rentenanpassung in der Blümschen Rentenreform mit dem demographischen Faktor eine Reform im System war und Ihre vorgeschlagene Rentenanpassung, bei der Sie willkürlich Zahlen für die Anpassung annehmen wollen, für die Rentnerinnen und Rentner ein nicht kalkulierbares Risiko darstellt, da sie in ihrer Zukunftsplanung nicht auf gesetzliche Grundlagen zurückgreifen können? ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich verstehe, daß bei diesem Thema die Emotionen hochgehen. Ich muß trotzdem darum bitten, sie zu dämpfen, weil jetzt der Herr Staatssekretär die Frage beantworten wird.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Der Kollege Heinrich hat gesagt, daß wir die gesetzlichen Grundlagen verlassen. Selbstverständlich, Herr Kollege Heinrich, wird unsere Anpassung, wie ich mehrfach geschildert habe, auf gesetzlicher Grundlage geschehen. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Ich will Ihnen noch einmal ausdrücklich zusichern: Es gibt eine unterschiedliche Bewertung, aber wenn man in Berechnungen Tatbestände miteinander vergleicht, dann kann man wirklich nur vergleichbare Dinge miteinander vergleichen. Ich wiederhole: Wir haben seit einem halben Jahr geänderte gesetzliche Bedingungen. Nach den Beratungen des Rentenreformgesetzes 1999 wären wir bei einem Nettorentenniveau von 65 Prozent im Jahre 2010 angekommen. Das können Sie in den Protokollen des Deutschen Bundestages nachlesen. Wir sagen Ihnen, daß wir durch die Maßnahmen, die wir beschlossen haben, nicht nur auf der einen Seite die Rentenversicherungsbeiträge zum 1. April dieses Jahres von 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent gesenkt haben, sondern daß wir auf der anderen Seite über eine lange Laufzeit ein Nettorentenniveau von etwa 67 Prozent erreichen und stabilisieren werden. Das ist die Absicht der Bundesregierung. Das kann ich hier nur wiederholen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Schnieber-Jastram, hatten Sie nun verzichtet oder nicht? ({0}) Vielleicht einigen wir uns auf eine Nachfrage.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wie steht die Bundesregierung zu Meldungen der „Süddeutschen Zeitung“ vom 28. Juni 1999, wonach das Herausrechnen des Kindergeldes aus der Lohnstatistik nicht zwingend notwendig gewesen wäre und damit das Nettorentenniveau um 2,6 bis 2,8 Prozent zu hoch ausgewiesen wird?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau SchnieberJastram, ich will darauf hinweisen, daß wir uns auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die das Statistische Bundesamt vornimmt, bezogen haben und daß das gesetzeskonform ist. Wie sich Zeitungen dazu verhalten, muß ich hier nicht kommentieren. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Kollegen Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, hat sich die Bundesregierung einmal darüber Gedanken gemacht, wie sich die neue Beitragsberechnung bei Arbeitslosen auf das Renteniveau der Menschen auswirkt, die lange arbeitslos sind? Sind meine Informationen richtig, daß ein Mensch, der ein Bruttogehalt von 4 400 DM hatte, bislang durch die Beiträge der Arbeitslosenversicherung an die Rentenversicherung in einem Jahr einen Rentenanspruch von 37,90 DM erwarb und jetzt nach Ihrer Regelung nur noch einen Rentenanspruch von 14,90 DM erwartet? Sind Sie nicht der Meinung, daß Sie damit viele Menschen, die länger arbeitslos sind, im Rentenalter in die Sozialhilfe abdrängen? Wie rechtfertigen Sie diese starke Absenkung der Rentenansprüche für diese Menschen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Laumann, das Bundeskabinett hat im Rahmen der Aufstellung des Haushaltes für das Jahr 2000 im Bereich der Arbeitslosenhilfe in der Tat Änderungen vorgenommen. Die Zahlungen, die die Bundesanstalt für Arbeit beispielsweise an die Rentenversicherung gewährt, wird die fiktive Größe „80 Prozent des letzten Nettoeinkommens“ auf den Zahlbetrag reduziern. Das hat - wenn das über längere Zeit geschieht; man kann es auf ein Jahr oder auf längere oder kürzere Zeiträume fixieren - für die betroffenen Menschen dahin gehend Auswirkungen, daß sich ihre Rentenansprüche im späteren Rentenfall verringern. ({0}) - Sie präsentieren mir in der Frage Zahlen, von denen Sie erwarten, daß ich sie bestätige oder nicht bestätige. Ich kann keine Zahlen bestätigen, die in irgendeiner Zeitung gestanden haben. Wenn Sie mir diesen Artikel aber zur Verfügung stellen, Herr Laumann, werde ich gerne etwas dazu sagen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Kollegen Kraus.

Rudolf Kraus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001202, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ich werde mich bemühen, eine ganz einfache Frage zu stellen. - Sie rühmen die Rücknahme des Demographiefaktors ständig als eine Großtat. Können Sie vielleicht überblicken, ob die 1 200 DM, die für den Eckrentner bei Ihrer Rentenzahlung in der Zukunft herauskommen, weniger ist als das, was herausgekommen wäre, wenn wir bei der Blümschen Reform geblieben wären? Ich vereinfache die Frage: Können Sie wenigstens bestätigen, daß für die Menschen ganz erheblich weniger Rente herauskommt als sie nach den Aussagen Ihrer Partei im Wahlkampf glauben mußten?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Kollege Kraus, die konkreten Zahlen kann ich Ihnen so nicht bestätigen. Ich kann Ihnen aber eines bestätigen - das tue ich gerne -: Wir werden in den nächsten beiden Jahren die Rentenanpassung nach einem bestimmten Mechanismus vornehmen, den wir hier schon mehrfach erläutert haben. ({0}) Wenn man diesen Mechanismus nicht anwenden würde, dann würde es zu höheren Rentenanpassungen kommen. ({1}) Es ist völlig klar - das haben die Bundesregierung, der Finanzminister und andere im Plenum dieses Hauses bereits dargelegt -, daß wir aus Gründen, die mit der Beitragsstabilität und mit einer umfassenden Rentenreform, die das Rentensystem zukunfts- und armutsfest machen soll, zusammenhängen, eine Maßnahme ergreifen, durch die auf der einen Seite die Beiträge auf längere Sicht bei ungefähr 19 Prozent stabilisiert werden und die auf der anderen Seite zu einem Nettorentenniveau von um die 67 Prozent führt. Man muß sich jeweils im einzelnen anschauen, was das für den einzelnen Rentner bedeutet. Das tun wir; das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Damit ist die Anpassung natürlich geringer als wenn man die übliche Anpassung vorgenommen hätte. Sie wäre aber auch in diesem Jahr schon geringer gewesen; das habe ich eben schon einmal dargestellt. Sie ist höher, weil wir für dieses Jahr den Demographiefaktor ausgesetzt haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kraus, Sie haben zu einer Frage nur eine Nachfrage. Jetzt kommen noch Nachfragen der Kollegen Ostertag, Seifert und Blüm. Herr Kollege Ostertag, bitte.

Adolf Ostertag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Wenn Sie gestatten, möchte ich das statistische Grundseminar verlassen und den Staatssekretär fragen - ({0}) - Doch, natürlich sind Zahlen wichtig. Aber für eine Rentendebatte sind nicht nur die statistischen Spitzfindigkeiten, sondern auch praktische Fragen entscheidend. ({1}) Daher möchte ich den Staatssekretär fragen, ob es zutrifft, daß in den letzten vier Jahren, in denen die heutige Opposition regierte, die heute mit statistischen Daten argumentiert, die Rentenerhöhungen jeweils niedriger als die Preissteigerungsrate waren, ({2}) ob er uns dazu eventuell Zahlen nennen kann und ob das nicht ein wichtiges Argument gegen die Kampagne der Opposition ist.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Kollege Ostertag, ich habe Ihnen schon die Zahl für dieses Jahr genannt. Für dieses Jahr beträgt die Rentenanpassung 1,34 Prozentpunkte, weil wir die Demographieformel außer Kraft gesetzt haben. Wäre sie in Kraft geblieben, hätte es eine Rentenanpassung um nur 0,79 Prozent gegeben. Die Rentenanpassung liegt in diesem Jahr knapp 0,9 Prozent über der Inflationsrate. ({0}) Im vergangenen Jahr betrug die Preissteigerungsrate 1 Prozent, die Rentenpassung 0,44 Prozent. ({1}) Im Jahr 1997 betrug die Preissteigerungsrate 1,9 Prozent, die Rentenanpassung - ich beziehe mich immer auf die Daten für Westdeutschland - 1,65 Prozent. ({2}) Im Jahr 1996 betrugen die Preissteigerungsrate 1,4 Prozent und die Rentenanpassung 0,95 Prozent. ({3}) In den Jahren seit 1992 - ich möchte jetzt hier nicht die gesamte alte Statistik vorlesen ({4}) gab es nur ein einziges Mal eine Rentenanpassung, die über der Preissteigerungsrate lag. Das war 1994. ({5}) In dem Jahr betrug die Preissteigerungsrate 2,7 Prozent und die Rentenanpassung 3,39 Prozent. Das Problem, das hier jetzt offensichtlich zu Geschrei und Auseinandersetzungen führt, ist, daß man über zurückliegende Daten relativ präzise Auskunft geben kann, daß aber über die Auswirkungen zukünftiger Daten auf eine Rentenreform und die Entwicklung des Nettorentenniveaus nur sehr schwierig verbindliche Zahlen genannt werden können. Beispiele dafür habe ich erwähnt. Kein Mensch weiß, wie die Preissteigerungsrate im nächsten Jahr ist. Nach dieser Preissteigerungsrate wird sich die Rentenanpassung im Jahr darauf richten. Es handelt sich also nur um angenommene Daten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt eine Nachfrage des Kollegen Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, ich kann mich des Eindrucks schwer erwehren, daß es Ihnen ziemlich schwer fällt, auch auf verhältnismäßig präzise Fragen präzise Antworten zu geben, wenn es um einen Vergleich mit der früheren Regierung geht, ({0}) es sei denn, es sind bestellte Fragen aus Ihrer Fraktion. ({1}) Vielleicht gelingt es Ihnen, eine präzise Antwort auf eine Frage zu geben, die innerhalb Ihres Systems angesiedelt ist. Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, haben Sie gesagt, daß die Rentensteigerungen der nächsten zwei Jahre ausschließlich an die Inflationsrate gebunden sein werden. Heißt das im Umkehrschluß, daß man, wenn man den Rentnerinnen und Rentnern in Zukunft ein hohes Rentenniveau wünschen will, sich für zwei Jahre eine hohe Inflationsrate wünschen muß?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Das Problem ist, Herr Abgeordneter - ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Dr. Seifert, wenn man sein eigenes Recht wahrnimmt, muß man immer aufpassen, daß man nicht das Recht anderer diffamiert. Alle Kollegen haben hier ein Fragerecht, und wir gehen davon aus, daß sie davon auch frei Gebrauch machen. Etwas anderes sollte man sich untereinander nicht unterstellen. - Jetzt kommt die Antwort.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Seifert, ich möchte zunächst noch einmal darauf hinweisen - darin liegt der Unterschied -, der Streitpunkt in der Frage von Frau Schnieber-Jastram sind Daten, die auf Grund unterschiedlicher Rechenmodelle unterschiedlich ausfallen. Es ist ein Unterschied, ob ich verschiedene Rechenmodelle habe und über die Prognosen von VDR, BfA usw. rede oder ob ich darüber rede, welche gesicherten Daten ich über die Vergangenheit habe. Ich habe Daten über die Preissteigerungsraten und über die Rentenanpassung. Ich habe hier erklärt, wie die Rentenanpassung für das nächste und das übernächste Jahr aussehen soll. Außerdem habe ich erklärt, daß auf Grund verschiedener gesetzgeberischer Maßnahmen bestimmte Dinge vor der Bundestagswahl nicht einfach mit Heutigem vergleichbar sind, weil es - das habe ich zugestanden - gesetzliche und statistische Änderungen gegeben hat. Nun zu Ihrer zweiten Frage, ob man eine hohe Inflationsrate wünschen müsse. Nein, das macht natürlich keinen Sinn. Mit der Rentenanpassung der nächsten beiden Jahre verbinden wir die Absicht, den Rentnerinnen und Rentnern zuzusichern, daß ihr Lebensstandard gehalten wird. Wenn wir die Preissteigerungsrate als Grundlage der Steigerung der Rentenzahlbeträge nehmen, dann ist damit garantiert, daß sie ihren Lebensstandard wahren. Im Gegensatz hierzu habe ich soeben vorgetragen, daß es in den letzten sieben Jahren eine ganze Reihe von Jahren gegeben hat, in denen die Rentenanpassung deutlich niedriger als die Preisanpassungsrate ausgefallen ist. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt warten wir auf die Frage des Abgeordneten Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, darf ich Ihnen behilflich sein, eine Frage präzise zu beantworten? ({0}) Ich beziehe mich auf die Frage: Was bedeutet es, wenn, wie Sie dargestellt haben, der Beitrag für die Arbeitslosenhilfebezieher - das sind die Langzeitarbeitslosen; ich sage das, damit Sie genau wissen, um wen es geht - von 80 Prozent vom Brutto auf den Zahlbetrag der Arbeitslosenhilfe - 53 Prozent vom Netto - reduziert wird? Da Sie diese Frage nicht beantworten konnten, was das für den Langzeitarbeitslosen bedeutet, will ich Ihnen helfen. Das bedeutet für ihn im Durchschnitt mindestens die Halbierung des jährlich erworbenen Rentenanspruchs während der Zeit des Bezugs von Arbeitslosenhilfe. Sie halbieren den Rentenanspruch des Langzeitarbeitslosen für die Zeit seiner Arbeitslosigkeit. - Ich wollte Ihnen nur bei der Präzisierung Ihrer Antwort behilflich sein. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Aber jetzt fragen wir uns alle, Herr Kollege Blüm, wo die Frage in Ihrem Redebeitrag war.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage war: Darf ich Ihnen helfen? Ich kann es noch präzisieren: Können Sie die einfache Rechnung - von 80 Prozent des Brutto auf 53 Prozent des Netto - nachvollziehen und bestätigen, daß das im Durchschnitt für die Langzeitarbeitslosen die Halbierung ihres Rentenanspruches bedeutet, Herr Staatssekretär?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Staatssekretär!

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Blüm, Ihre Frage war ja, ob Sie mir helfen dürfen. Ich bedanke mich herzlich für Ihre Hilfeversuche. ({0}) Ich kann Ihnen bestätigen, daß es selbstverständlich, wenn man den Rentenzahlbetrag verändert, auch zu veränderten Leistungen kommt. Aber der spannende Punkt dabei ist: Wie hoch war das Einkommen, und wie hoch ist der Zahlbetrag, den der Betroffene erhält? ({1}) - Nein, ich kann die Halbierung nicht bestätigen. ({2}) Wie sich dies auswirkt, hängt entscheidend davon ab, wie hoch die Leistung in der Arbeitslosenhilfe ist. Ich will noch ein Zweites sagen. Herr Abgeordneter Blüm, ich habe mich für Ihre Hilfeversuche bedankt. Wir kennen uns ja lange genug. Ich habe in den vergangenen Legislaturperioden eine Reihe von Diskussionen miterlebt, die der damalige Bundesarbeitsminister Blüm hinsichtlich der Frage von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe geführt hat. Ich will Ihnen sagen: Ihr Ziel war die Vereinheitlichung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. ({3}) - Entschuldigen Sie. Herr Abgeordneter Blüm, ich habe eine schriftliche Unterlage mitgebracht, weil ich dachte, man muß auch das Kurzzeitgedächtnis ein wenig benutzen: Wer im Rahmen einer Debatte bezüglich neuer Initiativen zur Beschäftigungsförderung im Zusammenhang mit der Veränderung der Arbeitslosenhilfe erklärt, es sei völlig unverständlich, daß wir zwei Versorgungssysteme haben, daß wir eine Arbeitslosenhilfe und eine Sozialhilfe haben, ({4}) der muß auch die Frage beantworten, wer eigentlich für Sozialhilfeempfänger Rentenversicherungsbeiträge bezahlt und in welcher Weise dies stattfindet. Ich sage Ihnen: Eine der Maßnahmen, die wir treffen - das habe ich schon geschildert -, besteht in der Veränderung der Rentenversicherungsbeiträge für Bezieher von Arbeitslosenhilfe, mit der Auswirkung, Herr Blüm, daß sie später geringere Rentenansprüche haben. Aber ich weise gleichzeitig darauf hin, daß wir im Rahmen der beabsichtigten Rentenreform so etwas wie eine soziale Grundsicherung und andere Dinge einführen. Wir sind also gewillt, bestimmte Dinge dort wieder auszugleichen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Mir liegen zu dieser - ich weise darauf hin: immer noch ersten Dringlichen Frage noch zwei Wünsche nach Zusatzfragen vor, nämlich vom Kollegen Girisch und von der Kollegin Barnett. Ich werde dann weitere Fragen zu dieser ersten Frage nicht mehr zulassen und möchte dann die Frage 2 aufrufen. Es sind nämlich jetzt eine Stunde lang Nachfragen zur ersten Frage beantwortet worden. ({0}) Kollege Girisch!

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, was soll ich einem Rentner in meinem Wahlkreis sagen, der 45 Jahre lang gearbeitet hat und durch die Blümsche Reform in diesem Jahr 2 000 DM Rente bezieht: Was bekommt er nach Ihrer Reform im Jahre 2000 und im Jahre 2001? Bitte nennen Sie mir die Zahlen.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Das erste Problem ist: Es kommt immer auf den Rentner an. ({0}) Im übrigen würde ich Ihnen empfehlen, bei der Fragestunde zuzuhören. Dann können Sie ihm sagen, daß er nach der Beschlußlage im nächsten Jahr 0,7 Prozent und im darauffolgenden Jahr 1,6 Prozent Rentenerhöhung bekommt, wenn die Preissteigerungsrate 1,6 Prozent ausmacht. Das können Sie dem Rentner sagen. Je nach Rentenfall wird sich das ganz unterschiedlich auswirken.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Barnett, bitte.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, vorausgesetzt, es stimmt, daß wir in diesem Hause die Lohnnebenkosten senken wollen - wegen der Arbeit, die wir doch schaffen wollen -, und vorausgesetzt, daß damit die Beiträge zur Rentenversicherung sinken sollen, hätte ich von Ihnen gerne gewußt, wie die Entwicklung aussehen könnte, wenn wir alles das vollziehen, was sich die Opposition wünscht, so mit dem großen Füllhorn nach dem Motto: Weiter so! Am besten nichts kürzen, sondern noch mehr draufgeben. Wie würden sich erstens die Beiträge entwickeln, und wie wäre zweitens die Leistungsentwicklung, insbesondere in bezug auf die Preissteigerung?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Kollegin Barnett, ich will zunächst sagen, daß die neue Bundesregierung zum 1. April dieses Jahres eine Absenkung des Rentenversicherungsbeitrages durchgesetzt hat. Er betrug bekanntermaßen 20,3 Prozent. Wir haben ihn auf 19,5 Prozent abgesenkt. Es gibt die Absicht, diesen Rentenversicherungsbeitrag weiter abzusenken. Wir wollen über lange Zeit erreichen, daß der Rentenversicherungsbeitrag stabil bei etwa 19 Prozent gehalten werden kann. Ich kann Ihnen sagen: Die 20,3 Prozent, die wir von der Vorgängerregierung übernommen haben, waren auch nur durch ganz schwierige Maßnahmen zu reduzieren, weil wir in den Rentenkassen im Oktober des vergangenen Jahres ein Defizit vorgefunden haben und die Schwankungsreserve nicht erreicht werden konnte. Wir versuchen, mit den Maßnahmen, die wir ergreifen, drei oder vier Dinge miteinander zu kombinieren: Wir wollen, daß die Rentnerinnen und Rentner in den nächsten zwei Jahren ihren Lebensstandard halten können. Das garantieren wir auch. Wir wollen unser Rentenversicherungssystem zukunftsfähig machen. Das bedeutet für uns, eine Reform auf den Weg zu bringen, mit der wir stabile Beiträge, ein stabiles Nettorentenniveau erreichen, indem wir eine neue Regelung der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten durchsetzen, und mit der wir eine Reform der eigenständigen Alterssicherung der Frau vollziehen, was ein ganz wichtiger Tatbestand ist. Um dies alles unter einen Hut zu bringen, um also für die Zukunft Vorsorge zu treffen, ist es notwendig, diese Maßnahmen zu ergreifen. Dazu hat die Bundesregierung den ersten Schritt beschlossen, nämlich die Anpassung für das nächste und übernächste Jahr. Die Einzelheiten einer Rentenreform werden der Debatte in den nächsten Monaten überlassen bleiben. Wir haben die Absicht, diese Rentenreform im nächsten Jahr gesetzgeberisch umzusetzen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt rufe ich die Dringliche Frage 2 der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram auf: Aus welchen Gründen hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die Öffentlichkeit nicht darauf hingewiesen, daß bei Umsetzung der Sparpläne der Bundesregierung unter Berücksichtigung der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bei Nettostellung des Kindergeldes das Nettorentenniveau um gut 2,5 Prozentpunkte niedriger liegt als bei den vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung angegebenen Ergebnissen? Bitte, Herr Staatssekretär.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Kollegin Schnieber-Jastram, die Bundesregierung hat die Finanzwirkung ihrer Maßnahmen stets auf Basis der aktuellen amtlichen Statistik dargestellt. Im übrigen verweise ich in diesem Zusammenhang auf meine Antwort zur Dringlichen Frage 1.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Möchten Sie nachfragen, Frau Kollegin?

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte sehr.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin immer wieder deutlich gemacht, daß es eine Anpassung geben wird. Wenn wir darüber reden, dann müssen wir, finde ich, das ein bißchen konkreter machen, damit man es auch wirklich versteht, denn wir betreiben ja sehr viel Zahlenspiel. Deswegen noch einmal die Frage: Ist es richtig, daß Ihre Anpassung, die Sie in den Jahren 2000 und 2001 vornehmen werden, für den normalen Eckrentner bedeutet, daß er im Westen 100 DM und im Osten sogar 140 DM im Monat weniger als bei der Blümschen Reform hat?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau SchnieberJastram, ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Für den Eckrentner bedeutet das eine Rentenanpassung von 0,7 Prozent und von 1,6 Prozent für das nächste bzw. für das übernächste Jahr. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Kollegin Schnieber-Jastram, bitte.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, meine Frage war eine andere. Da Sie auf diese Frage offensichtlich nicht antworten wollen, möchte ich darauf zurückkommen, daß es neben den Beitragsempfängern auch Beitragszahler gibt. Das IfoInstitut hat in einer Stellungnahme gesagt, daß die Rentenreform à la Riester die jungen Menschen langfristig höher belasten werde. Können Sie dazu Stellung nehmen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Die Berechnungen des Ifo-Instituts sind eine Berechnung wie die des VDR, der BfA oder anderer. Das Problem ist - ich habe mehrfach versucht, das deutlich zu machen -, daß wir eine Balance zwischen der Beitragszahlung, die wir deutlich unter 20 Prozent - nämlich auf 19 Prozent - halten wollen, und einem Nettorentenniveau, das nach den Aussagen, die ich jetzt schon mehrfach getroffen habe, bei etwa 67 Prozent liegt, erreichen müssen. Wenn wir das hinbekommen, glauben wir, daß das auf der einen Seite zur Entlastung der Beitragszahler - das ist dann auch eine Entlastung der jüngeren Generation, weil sie ja entsprechend in die Rentenversicherung einzahlen muß - und auf der anderen Seite zu einer vernünftigen Stabilisierung des Rentenniveaus führt. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Kollegen Storm.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, in Ihrer Antwort zur Frage 1, auf die Sie gerade verwiesen haben, haben Sie bestätigt, daß der isolierte Effekt der Umstellung von der Nettostellung auf die Bruttostellung des Kindergeldes bei 2,5 Prozentpunkten liegt. Warum hat Ihre Kollegin Frau Mascher in einer Mitteilung des BMA vom 24. Juni diesen Effekt auf nur einen Prozentpunkt beziffert?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich habe Ihnen gesagt, daß es nach den Berechnungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 2,5 Prozentpunkte ausmacht und daß man andere Veränderungen mit 1,5 Prozentpunkten dagegenrechnen muß, so daß sich das Nettorentenniveau durch diese Operationen rechnerisch um einen Prozentpunkt erhöht. Ich möchte einmal vermuten, daß sich meine Kollegin Ulrike Mascher auf exakt diesen einen Prozentpunkt, der den Unterschied ausmacht, bezieht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Kollegen Dreßen.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann das auch dadurch entstehen, daß wir die Steuern und Beiträge gesenkt haben und sich damit die Einkommen der Arbeitnehmer in den nächsten Jahren natürlich sehr stark erhöhen werden? Dadurch entwickelt sich doch die Nettoerhöhung entsprechend. Berühren die guten Taten, die wir beschlossen haben und die die Opposition nie in dieser Form vorhatte - deswegen kann die Berechnung so auch nicht funktionieren -, berühren also die Senkung der Steuern und die damit verbundene Entlastung von Familien mit Kindern um bis zu 1 200 DM bzw. 2 000 DM im Jahr die Rentenentwicklung - jeweils mit Blick auf die Nettoentlastung?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Selbstverständlich ist das so. Ich nenne als Beispiel die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages um immerhin 0,8 Prozentpunkte. Durch die Senkung dieses Beitrags erhöht sich auf der anderen Seite das Nettoeinkommen. Es fließt also dort ein. Die Erhöhung des Kindergeldes und Steuerentlastungen, wie zum Beispiel durch die Senkung des Eingangssteuersatzes um zwei Prozentpunkte, führen dazu, daß auf der einen Seite die Nettoeinkommen steigen und damit auf der anderen Seite auch die Nettoanpassungen steigen würden. Als weiteren Punkt möchte ich das Familienurteil vom Januar dieses Jahres nennen, in dem Karlsruhe angemahnt hat, daß die Familienleistungen deutlich erhöht werden müssen. Die Erhöhung dieser Leistungen - ganz abgesehen von der Erhöhung des Kindergeldes -, die auf Grund dieses Urteiles notwendig sind, würde dazu führen, daß die Nettoanpassungen höher ausfallen müßten. Ich weise in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin: Es kann doch keinen Sinn machen, daß man all diese Leistungen einrechnet und sie an die Rentnerinnen und Rentner unmittelbar weitergibt. Es muß eine vernünftige Balance zwischen denjenigen, die jung sind und Kinder erziehen, und der älteren Generation, die in Rente ist, geben. Deswegen sehen wir in den Maßnahmen, die wir für die nächsten zwei Jahre umsetzen wollen, einen Pakt für die Zukunft, um das Rentenversicherungssystem zukunftsfähig zu machen. Dafür erwarten wir natürlich auch einen entsprechenden Beitrag der Rentnerinnen und Rentner. Genau aus den Gründen, die Sie genannt haben, ist es schwierig und macht es gar keinen Sinn, irgendwelche konkreten Zahlen zu bestätigen. Denn es ist noch völlig unklar, wie hoch die Nettorentenanpassung im nächsten Jahr sein wird. Das kann auch keiner von den Damen und Herren von der Opposition darlegen. Ich kann nur darauf verweisen, daß es jetzt eine Steigerung um 0,7 Prozent gibt. Aber wie hoch im Vergleich dazu die Nettorentenanpassung sein wird und wieviel sie in D-Mark betragen wird, kann momentan niemand sagen. Zwar können hier viele Zahlen genannt werden, aber ich werde das nicht tun, weil ich das nicht für vernünftig und verantwortbar halte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort auf Frage 1 verwiesen. Ich möchte auf den Punkt zurückkommen, den der Kollege Blüm angesprochen hat. Sie wollen offenkundig keine konkreten Zahlen nennen. Deswegen erlaube ich mir, meine Frage anders zu formulieren: Stimmen Sie mir - ohne konkrete Zahlen zu nennen - im Grundsatz zu - vorhin haben Sie darauf verwiesen, daß es wichtig sei, wieviel beispielsweise ein Langzeitarbeitsloser zuletzt verdient habe -, daß 80 Prozent vom Brutto in aller Regel mehr sind als 80 Prozent von 53 Prozent vom Netto?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Wie war das noch einmal? Ich habe die Frage nicht verstanden; vielleicht können Sie sie noch einmal etwas deutlicher formulieren. Wie verhalten sich 80 Prozent vom Brutto zu Netto?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

80 Prozent vom Brutto sind mehr als 53 Prozent vom Netto.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, als 80 Prozent von 53 Prozent vom Netto. Der Kollege Blüm hat vorhin richtigerweise darauf hingewiesen, daß der Rentenversicherungsbeitrag von Arbeitslosenhilfeempfängern nach dem Brutto berechnet wird. Es werden 80 Prozent des letzten Bruttoeinkommens zugrunde gelegt. Nach Ihren Vorschlägen und nach den Diskussionsgrundlagen, die wir hier kennen, werden jetzt 53 Prozent vom Netto, also die Arbeitslosenhilfe, als Bemessungsgrundlage bei Langzeitarbeitslosen angenommen. Stimmen Sie mir zu, daß das weniger ist als vorher? ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Erstens teile ich nicht die Position von Herrn Blüm. Zweitens stimmt Ihre zweite Annahme nicht. Die Höhe der Rentenversicherungsbeiträge wird auf Grund der realen Zahlbeträge festgelegt. Ich stimme Ihnen gerne darin zu, daß die bisherigen Zahlungen höher waren als die, die wir durch gesetzliche Veränderungen anstreben. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Kollegin Ostrowski. ({0})

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, es ist doch keine Auslegungsfrage, ob Sie Herrn Blüm zustimmen oder nicht, sondern einfach Arithmetik, also Mathematik. Da beißt die Maus nun keinen Faden ab. ({0}) Ich möchte auf die Frage von Frau Schnieber-Jastram nach der Lage der jungen Generation zurückkommen, die Sie nur ausweichend beantwortet haben, indem Sie sinngemäß sagten: Dadurch, daß die Regierung eine Senkung des Rentenbeitrags auf - ungefähr - stabile 19 Prozent anstrebe, werde auch die junge Generation entlastet. So weit - so gut. Ich frage Sie jetzt: Stimmt es denn, daß die Senkung des Rentenbeitrages auf 19 Prozent durch die Einnahmen aus der Ökosteuer, an der wiederum alle privaten Haushalte, sprich: auch die gesamte junge Generation, beteiligt sind, erreicht werden soll?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Vielleicht darf ich Sie darauf hinweisen, daß wir schon die bisherigen Einnahmen aus der Ökosteuer dazu genutzt haben, beispielsweise folgendes herzustellen: Erstens. Für Kindererziehungszeiten zahlt der Bund jetzt reale Beiträge an die Rentenversicherung. Wir haben etwas durchgesetzt, was dazu führt, daß es zu einer vernünftigen Finanzierung der Rentenversicherung kommt. Ich sage noch einmal: Mein geschätzter Kollege Norbert Blüm, der früher einmal Bundesarbeitsminister war - er hat Vorschläge in Form einer Familienkasse und ähnlichem gemacht - , hätte gejubelt, wenn er eine andere Finanzierung der Anteile an der Rentenversicherung zustande gebracht hätte, die durch den Gesetzgeber veranlaßt worden wäre, aber früher nur den Beitragszahlern zugeschoben wurde. Zweitens. Wer die EU-Rente und die BU-Rente für das kommende Jahr neu ordnen will, der muß wissen, daß das in einem bestimmten Maße Geld kostet. Wir wollen das Ganze verändern, weil wir die Arbeitsmarktsituation so vorfinden, wie sie nun einmal ist, und weil wir Menschen, die erwerbs- oder berufsunfähig werden, dafür nicht bestrafen können. Das bedeutet, daß die Ökosteuer zu einem Teil in die Beitragsabsenkung und in die Beitragsstabilisierung einfließt; aber sie fließt beispielsweise auch in eine bedarfsorientierte Grundsicherung ein, die steuerfinanziert ist, so daß eine einfache Rechnung, nach dem Motto: „Hier habe ich eine Ökosteuer, und um den Anteil der Ökosteuer müßte auf der anderen Seite einfach der Beitrag absinken“, nicht stimmt. Diese Rechnung ist zu kurzschlüssig; denn man muß die soziale Grundsicherung, die normalerweise über die Sozialhilfe der Sozialämter geleistet wird und steuerfinanziert ist, entsprechend gegenfinanzieren. Unser Konzept ist ausgewogen und vernünftig. Ich sage noch einmal: Es geht darum, die Rentenversicherung zukunftsfähig zu machen. Wir glauben, dieses Ziel damit zu erreichen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Kollegen Weiß.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär Andres, nachdem Sie in Beantwortung einer vorher gestellten Frage ausgeführt haben, es für gerechtfertigt zu halten, daß Nettolohnsteigerungen, die sich durch politische Entscheidungen ergeben haben, bei einer Rentenerhöhung nicht voll zu Buche schlagen, frage ich Sie: Halten Sie es auch für gerechtfertigt, daß durch politische Entscheidungen herbeigeführte Mehrbelastungen für die Rentnerinnen und Rentner aber zu Buche schlagen? Ich spreche konkret von den Auswirkungen der Ökosteuer. Die Rentnerinnen und Rentner haben nichts von der Senkung des Rentenversicherungsbeitrages. Sie werden aber mit rund 100 DM monatlich voll durch die Ökosteuer zur Kasse gebeten. Wie erklärt es sich, daß Sie auf der einen Seite Leistungen, die sich im Nettolohnbereich positiv auswirken, nicht an die Rentnerinnen und Rentner weitergeben wollen, aber andererseits Belastungen durch Ihre politischen Entscheidungen, sprich: Einführung und Erhöhung der Ökosteuer, voll an die Rentnerinnen und Rentner weitergeben wollen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich will noch einmal sagen: Wenn Sie bei der Beantwortung der Frage eben zugehört hätten, dann hätten Sie festgestellt: Es ist nicht so, daß das Ökosteueraufkommen nur der Beitragsabsenkung zugute kommt; vielmehr kommt das Ökosteueraufkommen auch einer vernünftigen Stabilisierung und Ausstattung des Systems zugute. Daß Kindererziehungszeiten in dem System so finanziert sind, wie sie finanziert werden müssen, oder daß wir die Absicht haben, eine soziale Grundsicherung einzuführen, die man ebenfalls zusätzlich finanzieren muß und die den davon betroffenen Rentnerinnen und Rentnern zugute kommt, all das - ich könnte es wieder aufzählen läßt Ihren Rückschluß gar nicht zu; denn wenn Sie sagen, die Rentnerinnen und Rentner hätten nichts von der Ökosteuer, dann stimmt schon diese Annahme nicht. In denjenigen Punkten, von denen ich gerade gesprochen habe, haben die Rentnerinnen und Rentner sehr wohl etwas von der Ökosteuer. Wir leisten damit einen Beitrag, das Rentenversicherungssystem auf lange Zeit stabil und zukunftsfähig zu halten. Auch davon haben die Rentnerinnen und Rentner etwas.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage der Kollegin Barnett.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, bezüglich der Ökosteuer interessiert mich, ob in Ihre Berechnung auch die Verhaltensänderung der Verbraucher und der durch den wahrscheinlich geringeren Verbrauch verbundene Ausgleich eingegangen ist?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Es ist davon auszugehen, daß Verbraucher auch auf Preisfragen reagieren. Von daher kommt auch dieser Aspekt zum Zuge.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zusatzfrage des Kollegen Grehn.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, in Kenntnis der bisherigen Diskussion und Ihrer Antworten frage ich Sie: Arbeitet Ihr Ministerium zur Zeit daran, eine Veröffentlichung herauszugeben, die den Betroffenen aller Kategorien „eineindeutig“ erklärt, was Sie eigentlich planen und was für sie dabei im Detail herauskommt?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Grehn, ich wiederhole jetzt noch einmal, was ich schon mehrfach gesagt habe. Sie als Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wissen das auch. Das Kabinett hat bisher beschlossen, daß wir die Renten im nächsten und übernächsten Jahr nach einem bestimmten Mechanismus anpassen. Das wird das Bundesarbeitsministerium auch öffentlich mitteilen. Alle weiteren Fragen, die mit einer umfassenden Reform des Rentenversicherungssystems zusammenhängen, werden in den nächsten Monaten öffentlich diskutiert und Anfang nächsten Jahres dem Gesetzgebungsverfahren zugeleitet. Das habe ich allerdings schon mehrfach gesagt. Sie werden sicherlich wissen, daß der Bundesarbeitsminister öffentlich und umfassend darüber informieren kann, was das Kabinett beschlossen hat und was Recht und Gesetz wird. Das werden wir tun.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage der Kollegin Reinhardt.

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben gerade ausgeführt, daß es dringend notwendig ist, daß der Bundeszuschuß zur Rentenkasse erhöht wird. Stimmen Sie mir dabei zu, daß im letzten Jahr 117 Milliarden DM als Zuschuß von der alten Regierung bezahlt wurden, so daß das Defizit voll ausgeglichen werden konnte? ({0}) Beabsichtigen Sie, den Ausgleich an die Inflationsraten anzupassen, wie dieses 1979, 1980 und 1981 unter Ihrer Regierung geschah?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Kollegin, den Betrag von 117 Milliarden DM kann ich nicht bestätigen, weil es sich in den letzten Jahren um unterschiedliche Größenordnungen handelte. Wir haben beispielsweise alle gemeinsam daran mitgewirkt, daß die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht wurde und die Einnahmen daraus der Rentenversicherung zugeführt worden sind. Das ändert aber nichts an der Tatsache - das habe ich vorhin gesagt -, daß die neue Bundesregierung zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt hat, um beispielsweise die Kindererziehungszeiten mit Zeiten realer Beitragszahlung gleichzustellen. Dadurch sind die Beträge in diesem Jahr höher geworden und werden auch in den nächsten Jahren noch steigen. Dafür sind zum Beispiel Einnahmen aus dem Ökosteueraufkommen vorgesehen. Peter Weiß ({0}) Was Sie hinsichtlich der Rentenanpassung der Jahre 1979, 1980 und 1981 gesagt haben, kann ich Ihnen nicht bestätigen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage des Kollegen Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich formuliere betont einfach und verzichte auf die Angabe genauer Zahlen in Ihrer Antwort. Der Bundeskanzler hat am 17. Februar 1999 in Vilshofen ausgeführt: Ich stehe dafür, daß die Renten in Zukunft so steigen wie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. 126 Tage später hat der Bundeskanzler in einem Interview ausgeführt: Wir haben die Nettolohnformel für die nächsten zwei Jahre nur ausgesetzt. Meine Frage: Was war der Grund für diesen doch überraschenden Meinungsumschwung innerhalb der Bundesregierung? ({0}) Könnten Sie sich vorstellen, daß viele Rentnerinnen und Rentner dies als eine Lüge empfinden, bei der sich die Balken biegen? ({1})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Singhammer, ich kann Ihnen zunächst einmal die Aussage des Bundeskanzlers bestätigen. Sie wissen - das habe ich hier schon mehrfach dargestellt -, daß wir im Rahmen der Diskussionen um den Haushalt und des Versuchs, schon im nächsten Haushaltsjahr das Defizit um 30 Milliarden DM zu senken, für das nächste und übernächste Jahr eine andere Form der Rentenanpassung wählen. Danach wird die nettolohnbezogene Rentenanpassung wieder in Kraft gesetzt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage des Kollegen Bierling.

Hans Dirk Bierling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000179, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben die Frage meines Kollegen Peter Weiß zwar weitschweifig, aber dennoch ziemlich unklar beantwortet. Deswegen möchte ich die Frage sinngemäß kurz und präzise wiederholen. Sie haben die Absenkung des Rentenversicherungsbeitrages um 0,8 Prozentpunkte, die die Bundesregierung vorgenommen hat, gepriesen. Wären Sie bereit, mir und den Rentnern zu bestätigen, daß die Rentner an der Absenkung des Rentenversicherungsbeitrages um 0,8 Prozentpunkte auf Grund der Finanzierung über die Ökosteuer zwar beteiligt sind, aber von der Absenkung nichts haben?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Der Sachverhalt ist viel komplizierter. ({0}) - Wenn Sie komplizierte Fragen stellen, dann müssen Sie auch hinnehmen, daß es komplizierte Antworten gibt. Ich habe eben schon einmal gesagt, daß die Einnahmen aus der Ökosteuer zum Teil für Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung genutzt worden sind. Darin ist die Finanzierung der Lasten enthalten, die sich aus der Übertragung unseres Rentensystems auf die neuen Bundesländer ergeben haben. Auch diese Lasten - einschließlich der Kindererziehungszeiten - werden über die Ökosteuer als Bundesaufgabe gegenfinanziert, wie das immer unsere Auffassung war. Ein anderer Teil der Einnahmen aus der Ökosteuer wird dazu benutzt, die Beiträge abzusenken. Angesichts der Diskussionen, die wir in den vergangenen Jahren gehabt haben, glaube ich, daß die Rentnerinnen und Rentner auch ein Interesse daran haben müssen - Sie haben gesagt, die Rentner hätten nichts von dieser Regelung -, daß das Rentenversicherungssystem mit vernünftigen, kalkulierbaren und akzeptablen Beiträgen aufrechterhalten werden kann. Auch daran müssen Rentnerinnen und Rentner ein Interesse haben. Insofern haben sie etwas von dieser Regelung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich rufe jetzt die Dringliche Frage 3 des Abgeordneten Andreas Storm auf: Wo wurden die Ergebnisse der revidierten Nettolohnstatistik bisher veröffentlicht?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Kollege Storm, die revidierte Nettolohnstatistik wurde vom Statistischen Bundesamt noch nicht amtlich veröffentlicht. Sie liegt auf Arbeitsebene vor und ist - wie in früheren Jahren - von diesem Zeitpunkt an bei den Berechnungen berücksichtigt worden. Das Statistische Bundesamt beabsichtigt, im März 2000 die amtlichen Zahlen zu den Nettolöhnen für die Jahre 1998 und 1999 in der Zeitschrift „Wirtschaft und Statistik“ zu veröffentlichen. Im September 1999 wird zur Methodik und zu relevanten Änderungen eine Veröffentlichung erfolgen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zusatzfrage? Bitte.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Es ist eine Umstellung der Statistik mit massiven Veränderungen erfolgt, die Sie unter anderem im Kindergeldbereich auf die Größenordnung von 2,5 Prozentpunkten beim Rentenniveau angesetzt haben. Sie haben hier erklärt, daß diese Statistik bisher noch nicht veröfParl. Staatssekretär Gerd Andres fentlicht worden ist. Das heißt, Dritten außerhalb des Bundesarbeitsministeriums und der Rentenversicherungsträger sind diese Zahlen nicht zugänglich. Solange Sie Ihre Fakten nicht auf den Tisch legen, hat die Opposition in diesem Hause bis zum März 2000 keinen Zugang zu diesen Daten.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich habe Ihnen gerade in meiner Antwort dargelegt, daß die Daten auf Arbeitsebene vorliegen und daß mit diesen Zahlen gearbeitet wird, so wie es in den früheren Jahren ebenfalls der Fall war. Ich habe Ihnen die Veröffentlichungsgrundlagen und die Auswirkungen im Rahmen meiner Antwort auf die von Frau Schnieber-Jastram zuerst gestellte Frage genannt.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben damit bestätigt, daß sämtliche Daten, mit denen Sie bisher rechnen, Dritten nicht zugänglich sind. Beabsichtigen Sie, die Daten, auf deren Basis Sie Ihre Berechnungen angestellt haben, der Opposition zur Verfügung zu stellen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich will Sie noch einmal darauf hinweisen, daß das, was Sie sagen, nicht stimmt. Ich habe das auch nicht bestätigt, sondern Ihnen dargelegt, daß diese Daten auf Arbeitsebene vorliegen und daß inzwischen auch die Rentenversicherungsträger und andere damit arbeiten. Von daher stimmt Ihre Annahme nicht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt muß ich den Abgeordneten Strobl fragen - ich habe Sie eben mit dem Kollegen Singhammer verwechselt, weil Sie nebeneinander saßen; deswegen sind Sie nicht auf meiner Liste gelandet -: Paßt Ihre Frage auch zu dieser Frage, oder paßt sie eher zu der nächsten? ({0}) Ich weise darauf hin, daß wir den Rahmen mit den Fragen schon lange gesprengt haben. Bitte.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich weiß nicht, ob die Frage dem Herrn Staatssekretär paßt, aber sie paßt jedenfalls in den Zusammenhang. ({0}) Eine Begründung des Bundesministeriums für Arbeit für die von der Bundesregierung geplanten Rentenkürzungen war, die Umsetzung des Familienurteils des Bundesverfassungsgerichts würde zu erheblich steigenden Kindergeldzahlungen und damit zu erheblich steigenden Rentenzahlungen führen. Nun hat sich aber herausgestellt, daß das Kindergeld nach der neuen Berechnungsmethode überhaupt nicht mehr im Nettolohn enthalten ist. ({1}) Damit ist die erste Begründung, die das Bundesministerium für Arbeit für die Rentenkürzungen gegeben hat, hinfällig. Jetzt ist meine Frage, ob Sie diesen Zusammenhang am Anfang fahrlässigerweise nicht gesehen haben oder ob das Bundesministerium für Arbeit mit Absicht eine falsche Begründung gegeben hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich muß jetzt einmal der Redlichkeit halber sagen, daß diese Nachfrage eigentlich weder zur vorigen noch zur jetzigen Frage gehört. ({0}) - Nein. Sie müssen jetzt auch ein bißchen fair sein. Der Herr Staatssekretär beantwortet jetzt seit anderthalb Stunden Fragen und Nachfragen, die immer zu der entsprechenden Frage gehören. ({1}) - Ich will ihm das ja freistellen, ob er darauf antwortet. Aber ich habe Sie vorhin gefragt, ob Ihre Nachfrage zu dieser Frage gehört, und zu dieser Frage paßt sie nun tatsächlich nicht. ({2}) Aber vielleicht beantworten Sie die Frage ja trotzdem.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich will noch einmal darauf hinweisen, wie die Frage des Abgeordneten Storm lautete: „Wo wurden die Ergebnisse der revidierten Nettolohnstatistik bisher veröffentlicht?“ Aber ich bin gerne bereit, auf Ihre Frage einzugehen; denn ich habe den Eindruck - obwohl ich das schon zehnmal getan habe; ich mache das auch noch ein elftes Mal -, daß man das erklären muß. Es ist so, daß die Kindergeldzahlungen auf Grund statistischer Grundlagen, EU-Bestimmungen und ähnlichem, nicht mehr in den Nettolohn einberechnet, sondern brutto gestellt werden. Es war, wenn Sie sich erinnern, bis zum vergangenen Jahr so, daß Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Kindergeld bekamen, dieses vom Arbeitgeber ausgezahlt wurde, also sie das sozusagen jeden Monat netto bekommen haben. Erstens haben wir das geändert, und zweitens wird diese konkrete Zahlung nun nicht mehr in die Jahresnettosumme einbezogen. Das ist das eine Problem. Das andere Problem ist: Wenn wir beispielsweise dazu übergehen, Kinderfreibeträge zu ändern, hat das mit dem Kindergeld erst einmal überhaupt nichts zu tun. Wenn Sie aber Kinderfreibeträge ändern, verändern sich auch bestimmte andere Dinge. Also müssen Sie schauen, welche Kriterien in welchem Zusammenhang in die Nettolohnsumme eingerechnet werden oder wie sich bestimmte steuerliche Veränderungen im Nettobereich auswirken. Das heißt, die Veränderungen beim Kindergeld sind kein Willkürakt von uns. Ich habe ganz zu Anfang der Fragestunde die rechtliche Grundlage vorgelesen; ich kann sie auch noch einmal vorlesen. Sie ist mit dem Rentenreformgesetz 1999 verabschiedet worden. Darin steht genau, auf welcher Grundlage man was zu tun hat. Die Bundesregierung hält sich schlicht an Recht und Gesetz, das bei uns gilt. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich rufe jetzt die Dringliche Frage 4 des Abgeordneten Andreas Storm auf: Um wie viele Prozentpunkte sinkt das Nettorentenniveau durch die von der Bundesregierung geplanten Sparmaßnahmen im Vergleich zum Basisjahr 1998 - bis zum Jahr 2002 - bis zum Jahr 2030? ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Kollege Storm, durch die von der Bundesregierung geplanten Maßnahmen wird das Nettorentenniveau mittel- und langfristig um rund 3 Prozentpunkte gesenkt, und zwar von rund 70 Prozent auf bleibend rund 67 Prozent. Im Jahre 2030 liegt das Rentenniveau bei 67,3 Prozent. Lediglich im Jahre 2002 ergibt sich auf Grund der Anhebung der Nettolöhne durch die dritte Stufe der Steuerreform ein Niveau von 66,3 Prozent. Auf Grund der höheren Rentenanpassung im Folgejahr, im Jahre 2003, steigt das Nettorentenniveau jedoch wieder auf über 67 Prozent. Nach dem Rentenreformgesetz 1999 der früheren Bundesregierung dagegen wäre das Rentenniveau langfristig um 5 Prozentpunkte abgesunken. Da durch die revidierte Nettolohnstatistik das rechnerische Ausgangsrentenniveau um etwa 1 Prozent angehoben wird - ich habe vorhin erläutert, warum das so ist -, wäre, eine entsprechende Verlängerung der Lebenserwartung vorausgesetzt, nach dem Rentenreformgesetz 1999 auch eine Absenkung des Rentenniveaus um mehr als 5 Prozentpunkte möglich gewesen, da die sogenannte Sicherungsklausel mit einer Untergrenze von 64 Prozent von einer Statistikrevision gesetzlich unberührt bleibt. Ein statistisch erhöhtes Ausgangsniveau könnte so zu einer stärkeren Absenkung führen, als die frühere Bundesregierung noch 1997 angenommen hat, nämlich um bis zu 6 Prozentpunkte. Damit wäre die Niveauabsenkung doppelt so hoch ausgefallen wie jetzt von uns geplant. Die Wirkung von Maßnahmen ist am Rentenniveau des Jahres vor Einsetzung dieser Maßnahmen zu messen, das heißt am Rentenniveau 1999. Der Rückgang des Rentenniveaus von 1998 auf 1999 hat nun wirklich nichts mit den geplanten Maßnahmen der Bundesregierung zu tun, die im Jahre 2000 ihre erste Wirkung haben.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Erste Zusatzfrage, Herr Kollege Storm, bitte.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, meine Frage zielte weder auf einen Vergleich mit der Blüm-Reform noch auf andere Dinge, sondern auf einen Vergleich des Rentenniveaus der Jahre 2002 und 2030 mit dem Rentenniveau des Jahres 1998. Ist die Bundesregierung nicht in der Lage, das Rentenniveau des Jahres 1998 anzugeben?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Sie haben nach einem Vergleich vom Basisjahr 1998 bis zum Jahr 2002 und 2030 gefragt. Beide Größenordnungen, die für das Jahr 2002 und die für das Jahr 2030, habe ich Ihnen genannt. Das Nettorentenniveau des Jahres 1998 hat eben schon mehrfach eine Rolle gespielt. Herr Kollege, das war nicht Gegenstand Ihrer Frage. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich habe Sie nach der Veränderung zum Basisjahr 1998 gefragt. Stimmen Sie mir zu, daß das Nettorentenniveau im Jahre 1998 auf der Basis der geänderten Statistik bei 71,7 Prozent liegt, die Effekte der Absenkung des Rentenniveaus damit erheblich stärker sind und Ihre Verweigerung der Antwort auf meine Frage nach dem Jahr 1998 nur einen Zweck hat, nämlich die Wirkungen Ihrer Maßnahmen zu verharmlosen? ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Storm, ich stimme Ihnen ausdrücklich nicht zu. Ich wiederhole Ihre Frage, die Sie schriftlich gestellt haben. ({0}) Sie haben gefragt: Um wie viele Prozentpunkte sinkt das Nettorentenniveau durch die von der Bundesregierung geplanten Sparmaßnahmen im Vergleich zum Basisjahr 1998 - bis zum Jahr 2002 - bis zum Jahr 2030? Beides ist exakt beantwortet worden. ({1}) Deswegen teile ich Ihre Auffassung nicht. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat Frau Dr. Schwaetzer zu einer weiteren Zusatzfrage das Wort. Bitte sehr.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, ich versuche es noch einmal: Es war vom Jahre 2002 die Rede. Schon in meiner ersten Frage habe ich Sie danach gefragt - Sie haben mir keine Antwort gegeben -, ob es richtig ist, daß im Jahre 2002 das Nettorentenniveau niedriger ist als das, das gelten würde, wenn die veränderte Nettorentenanpassungsformel inklusive des demographischen Faktors der früheren Regierung in Kraft geblieben wäre? ({0}) Das ist eine Frage, die man mit Ja oder Nein beantworten kann.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, die Antwort wird jetzt der Herr Staatssekretär geben. - Bitte sehr.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Schwaetzer, ich habe eben dargelegt, daß das Niveau im Jahre 2002 bei 66,3 Prozent liegen wird. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich habe den Herrn Staatssekretär so verstanden, daß das die Antwort war. ({0}) - Sicher. Als nächster hat der Herr Kollege Grehn das Wort zu einer Zusatzfrage.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, jenseits aller Statistiken, jenseits der 53 Prozent und der 80 Prozent, möchte ich Sie fragen: Stimmen Sie mit mir überein, daß für die mehr als 1,5 Millionen Langzeitarbeitslosen - die Sozialhilfeempfänger nicht eingerechnet -, die schon heute einem erheblichen Armutsrisiko unterliegen, das Armutsrisiko im Alter nach Ihrer gegenwärtigen Vorstellung erheblich ansteigen wird?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Nein.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Es gibt keine weiteren Zusatzfragen. Damit ist Frage 4 beantwortet. ({0}) Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Hörster. ({1})

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Nachdem es nun in immerhin eineinhalb Stunden nicht gelungen ist, dem Herrn Staatssekretär klare Antworten auf unsere Fragen zu entlocken und damit Klarheit über die künftige Entwicklung des Rentensystems zu schaffen, möglicherweise auch über einen Wortbruch gegenüber den Rentnern, beantrage ich namens meiner Fraktion im Anschluß an die Fragestunde eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Vielen Dank, Herr Hörster. Die Fraktion der CDU/CSU hat, wie Sie gehört haben, zur Antwort der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen zur Entwicklung des Nettorentenniveaus auf Drucksache 14/1298 eine Aktuelle Stunde verlangt. Das entspricht Nr. 1b unserer Richtlinien für die Aktuelle Stunde. Für die, die sich darauf vorbereiten müssen: Die Aktuelle Stunde findet im Anschluß an die Fragestunde statt, also in 20 Minuten und 29 Sekunden. ({0}) Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Fragen 1 und 2 werden schriftlich beantwortet. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Dr. Michael Naumann zur Verfügung. Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Norbert Hauser ({1}) auf: Mit welchem Ergebnis wurden die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Bundesstadt Bonn zum sog. BonnVertrag abgeschlossen, deren Ende der Staatsminister Dr. Michael Naumann in der Fragestunde vom 3. März 1999 für Juni 1999 angekündigt hat? Herr Staatsminister, bitte sehr.

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Herr Abgeordneter, die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Bundesstadt Bonn zur Bonn-Vereinbarung 2000 sind noch nicht abgeschlossen. Wie Sie sicher schon wissen, wurde aber vorsorglich in den Finanzplan für das Jahr 2000 für kulturelle Angelegenheiten der Bundesstadt ein Betrag von 65 Millionen DM eingestellt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zusatzfrage, Herr Kollege Hauser? - Bitte sehr.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, können Sie einen Zeitraum angeben, in dem Sie mit dem Abschluß der Verhandlungen rechnen?

Not found (Gast)

Die Verhandlungen sind de facto abgeschlossen. Es gibt indes noch Gespräche mit dem Kulturreferenten und der Frau Oberbürgermeisterin über Einzelheiten. Ich hoffe, daß diese Gespräche in den nächsten Tagen oder Wochen zu einem Abschluß kommen werden.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Noch eine Zusatzfrage? - Bitte sehr, Herr Kollege.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, da die Verhandlungen im Prinzip abgeschlossen sind, obwohl sie noch nicht abgeschlossen sind: Ist es Ihnen möglich, die Kürzung der Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland an die Bundesstadt Bonn in den nächsten Jahren zu bestätigen, die die Oberbürgermeisterin genannt hat: 47 Millionen DM im Jahr 2000, um 57 Millionen DM im Jahr 2001, etwa 67 Millionen DM im Jahr 2002 und 92 Millionen im Jahr 2003?

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Herr Abgeordneter Hauser, wie Sie wissen, schätze ich die Bonner Oberbürgermeisterin sehr. Ich hänge buchstäblich an ihren Lippen und höre dem, was sie sagt, genau zu. Ich weiß nicht, ob auch Sie ihr so genau zuhören. Diese Zahlen betreffen zweifellos andere Zuwendungen. Es sind auf keinen Fall die Zahlen, die für die kulturellen Zuwendungen der Stadt Bonn aus der Bundeskasse gelten. Diese Angaben über die Kürzungen übertreffen das, was jemals vorgesehen war. Mit anderen Worten: Die Zahlen, die Sie eben vorgetragen haben, stimmen mit denen, die mir für mein Ressort geläufig sind, nicht überein.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Damit ist die Frage beantwortet. Ich danke dem Herrn Staatsminister für die Beantwortung der Fragen. Die Fragen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes - das waren die Fragen 4 und 5 - werden schriftlich beantwortet. Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Inneren auf; das sind die Fragen 6 und 7. Auch sie werden schriftlich beantwortet. Nun rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie auf. ({0}) Zur Beantwortung der Fragen ist eigentlich der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf anwesend. Aber ich höre gerade, daß die Fragen zu diesem Geschäftsbereich - das sind die Fragen 8 und 9 des Kollegen Peter Ramsauer - schriftlich beantwortet werden sollen. Damit sind auch diese Fragen erledigt. Wir kommen somit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Hier steht zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Thalheim zur Verfügung. Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Ulrich Heinrich auf: Zu welchen Preisen können nach Kenntnis der Bundesregierung die Landwirte in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre Traktoren mit Kraftstoffen betanken, und in welchen Mitgliedstaaten ist das Betanken der Traktoren mit Heizölen erlaubt? Herr Staatssekretär, bitte.

Dr. Gerald Thalheim (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002311

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Verehrter Herr Kollege Heinrich, für Dieselkraftstoffe in der Gemeinschaft wurden nach Angaben des Agrarberichts 1999 der Bundesregierung - niedergelegt im Materialband auf Seite 78 - im ersten Halbjahr 1998 in den EU-Mitgliedstaaten folgende Nettoverkaufspreise ermittelt: Belgien 0,33 DM pro Liter, Luxemburg 0,34 DM pro Liter, Dänemark 0,43 DM pro Liter, Finnland ebenfalls 0,43 DM pro Liter, Vereinigtes Königreich 0,45 DM pro Liter, Spanien 0,49 DM, Niederlande 0,49 DM, Deutschland 0,58 DM, Portugal 0,63 DM, Frankreich 0,64 DM, Italien 0,69 DM, Griechenland 0,98 DM, Schweden 0,98 DM und Österreich 1,05 DM pro Liter. Das Betanken der Traktoren mit Heizöl ist nach Kenntnis der Bundesregierung nur in Frankreich - mit roter Einfärbung - erlaubt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Erste Zusatzfrage, Herr Kollege? - Bitte sehr.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ihre Antwort auf die Frage, wo Heizöl getankt werden kann, ist bemerkenswert. Heizöl hat ja bekanntlich einen wesentlich niedrigeren Preis, als das in Ihrer Antwort für Frankreich mit einem Preis um die 60 Pfennig - wenn ich das gerade in der Eile richtig verstanden habe - zum Ausdruck kam. Worauf führen Sie hier die Differenz zurück?

Dr. Gerald Thalheim (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002311

Aus der Zahlenreihe, die ich vorgetragen habe, wird deutlich, daß in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union hinsichtlich der Verbilligung des Dieselkraftstoffs für die Landwirtschaft sehr unterschiedliche Regelungen gelten. In Deutschland gibt es eine Rückerstattung; in anderen Ländern gibt es einen verminderten Mineralölsteuersatz. Die Ausnahme ist eben Frankreich, wo Heizöl verwendet werden kann. Sie sehen also, daß es sehr unterschiedliche Regelungen gibt, die in der Konsequenz zu sehr unterschiedlichen Preisen für die Landwirtschaft - wie ich das auch in der Antwort dargelegt habe - führen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege? - Bitte.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Heizöl hat aber einen geringeren Preis als den, den Sie für Frankreich genannt haben. Worauf - das war meine Frage - führen Sie den Unterschied zurück?

Dr. Gerald Thalheim (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002311

Ich kann mich nur auf die statistischen Angaben beziehen. Sie besagen, daß der Preis in Frankreich 0,64 DM pro Liter beträgt. Dieser Wert ist bezogen auf den Heizölpreis in Frankreich.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun rufe ich die Frage 11 des Kollegen Ulrich Heinrich auf. Welche Wettbewerbsnachteile entstehen durch die Streichung der Gasölbeihilfe und die Erhöhung der Mineralölsteuer von 24 Pfennig pro Liter für die landwirtschaftlichen Betriebe in den verschiedenen Betriebszweigen, und wie verträgt sich dies mit der in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Landwirte? Herr Staatssekretär, bitte.

Dr. Gerald Thalheim (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002311

Herr Kollege Heinrich, richtig ist, daß bei Wegfall der Gasölverbilligung und bei der beabsichtigten Mineralölsteuererhöhung die Anforderungen der deutschen Landwirte für Dieselkraftstoff deutlich ansteigen. Die Wettbewerbsnachteile können jedoch nicht quantifiziert werden, da die Entwicklung bei der Mineralölsteuer in den anderen Mitgliedstaaten nicht vorhergesagt werden kann. Die Bundesregierung wird die Situation jedoch sorgfältig beobachten. Hinsichtlich der Wirkungen ist jedoch zu beachten, daß dadurch deutliche Anreize für die Einsparung von Energieträgern durch technische Verbesserungen gegeben sind. Die Bundesregierung geht davon aus, daß Landmaschinenhersteller und Landwirtschaft diese Möglichkeiten nutzen werden.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Erste Zusatzfrage, Herr Kollege? - Bitte sehr.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, können Sie den Wettbewerbsnachteil, den die deutsche Landwirtschaft auf Grund der bestehenden Situation hat, bestätigen und quantifizieren?

Dr. Gerald Thalheim (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002311

Die Unterschiede in der Wettbewerbssituation der Landwirtschaft der einzelnen Mitgliedstaaten liegen nicht nur in der Höhe der Mineralölsteuer - bzw. der Höhe der Rückgewährung, wie das in Deutschland üblich ist - begründet. Vielmehr sind eine ganze Reihe weiterer Punkte zu berücksichtigen, so zum Beispiel die Strukturproblematik: Wie groß sind die Betriebe? Wie hoch ist der Pachtanteil? So müssen wir feststellen, daß sich die Ausgaben für die Pacht innerhalb der Betriebe der Europäischen Union erheblich unterscheiden. In einigen Ländern liegt der Anteil deutlich über dem deutschen, in anderen darunter. Insofern ist es nicht möglich, die Wettbewerbssituation der deutschen Landwirtschaft allein an der Höhe der Ausgaben für die Gasölbeihilfe festzumachen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Haben Sie noch eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege? - Bitte sehr.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß zusammen mit der Einführung der Ökosteuer insgesamt 30 Pfennig pro Liter zusätzlich zusammenkommen, so daß - unter Berücksichtigung des ohnehin höheren Preises, den die deutsche Landwirtschaft schon heute zu tragen hat - der Unterschied zu anderen Mitgliedsländern insgesamt mehr als 50 Pfennig pro Liter zu Lasten der deutschen Landwirtschaft beträgt? Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Ich habe in der Antwort auf die Frage deutlich gemacht, daß die Konsequenz der Entscheidungen aus dem Sparpaket ist, daß auf die deutsche Landwirtschaft durch den Wegfall der Gasölbeihilfe bis zum Jahr 2002 zusätzliche Belastungen zukommen. Allerdings gehen wir davon aus, daß es auch Anpassungsreaktionen geben wird, zum Beispiel Einsparungen im Energiebereich. Darüber hinaus muß man deutlich darauf hinweisen, daß bei der Entscheidung zu Einsparungen die Belastungen der Landwirtschaft nicht verkannt wurden. Vielmehr geht sie auf die Haushaltssituation in Deutschland und die Belastung des Bundes mit Schulden zurück, die sich auf 1,5 Billionen DM belaufen. Deshalb mußten wir Einsparungen im Bundeshaushalt vornehmen, zu denen die Landwirtschaft natürlich beitragen muß. Wir sahen keine andere Möglichkeit, einen verfassungsgerechten Haushalt vorzulegen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin, bitte sehr.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, welche Auswirkungen das für die neuen Bundesländer haben wird? Es gibt dort viele kleine landwirtschaftliche Einrichtungen, die dringend auf diese Beihilfen angewiesen sind. Wenn wir Arbeitsplätze schaffen wollen, dann frage ich mich, wie diese Betriebe mit derartigen Belastungen klarkommen sollen. Wir können meines Erachtens nicht nur den Haushalt sehen. Wenn wir Arbeitsplätze brauchen, müssen auch wir die Gesamtwirtschaft im Blick haben. ({0})

Dr. Gerald Thalheim (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002311

Verehrte Kollegin, meine Kenntnisse gehen eher dahin, daß die Landwirtschaft in Ostdeutschland von Großbetrieben dominiert wird. Durch das erfolgreiche Wirken von Bundesminister Funke konnte bei den Verhandlungen zur Agenda 2000 erreicht werden, daß diese Betriebe von der konzipierten Degression der Ausgleichszahlungen ausgenommen wurden. Dadurch entsteht diesen Betrieben ein Vorteil in erheblicher Größenordnung, so daß sie die Konsequenzen aus der Absenkung bzw. dem Wegfall der Gasölbeihilfe - selbst nach Aussagen der Betriebe - verschmerzen können.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort auf die Fragen meines Kollegen Heinrich deutlich gemacht, daß der Sparbeitrag der deutschen Landwirte etwa 1,5 Milliarden DM betragen wird und somit im Vergleich zu anderen Berufsgruppen ausgesprochen hoch ausfällt. Können Sie angesichts dessen Zahlenangaben des Deutschen Bauernverbandes bestätigen, wonach ein 50-HektarBetrieb auf Grund dieser Sparbeschlüsse mit etwa 7 000 DM jährlich zusätzlich belastet wird?

Dr. Gerald Thalheim (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002311

Diese Aussagen kann ich nicht bestätigen, weil in den Projektionen des Deutschen Bauernverbands, was die Auswirkungen der Beschlüsse der Agenda 2000 bzw. die Auswirkungen der Steuerreform anbelangt, immer der ungünstigste Fall angenommen wurde. Das ist grundsätzlich nicht anzunehmen. Die Erfahrungen der Reform von 1992 im Getreidebereich, die auf europäischer Ebene damals bekanntermaßen von Ignaz Kiechle durchgesetzt wurde, haben zum Beispiel gezeigt, daß die Getreidepreise sehr schnell über dem Niveau der Getreidepreise innerhalb der Europäischen Union gelegen haben. Es ist nicht auszuschließen, daß eine ähnliche Entwicklung in der Zukunft eintreten wird. Das heißt, die Projektionen, die immer den ungünstigsten Fall annehmen, sind in der Sache falsch. Außerdem muß man davon ausgehen, daß es auf seiten der Landwirtschaft Anpassungsreaktionen geben wird. Das heißt, der Wegfall der Gasölbeihilfe wird, obwohl das schwierig ist - das gebe ich zu -, auch zu Einsparreaktionen bei der Landwirtschaft durch einen effizienteren Maschineneinsatz und somit Einsparungen von Energie führen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beantwortet. Ich danke Herrn Staatssekretär Dr. Thalheim. Wir kommen zum Bereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Frage 12 wird schriftlich beantwortet. Aus dem Bereich des Bundesministeriums für Gesundheit wird die Frage 13 schriftlich beantwortet. Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Pick zur Verfügung. Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Dr. Rainer Jork auf: Inwieweit kann die Bundesregierung ausschließen, daß es durch die geplante Erhöhung von Patentgebühren zu einer Beeinträchtigung der technologischen und innovativen Leistungsfähigkeit Deutschlands und zu einer Vernichtung von Arbeitsplätzen, insbesondere in den neuen Ländern mit vielen kleinen oder gerade in Gründung befindlichen Unternehmen, kommt? Herr Staatssekretär, bitte sehr.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Kollege Dr. Jork, die Gebühren beim Deutschen Patent- und Markenamt sollen zum 1. Januar 2000 erhöht werden, weil das Amt bisher nicht kostendeckend arbeitet. Bekanntlich wurden die Patentgebühren seit 1976 nicht mehr erhöht. Überdies ist es in den vergangenen Jahren leider versäumt worden, das Deutsche Patent- und Markenamt zu modernisieren und so auszustatten, wie es die technische und innovative Leistungsfähigkeit unseres Landes verlangt. Die Bundesregierung setzt hier die notwendigen Schwerpunkte und holt das Versäumte unter anderem durch Schaffung neuer Prüferstellen nach. Im übrigen wird die Gebührenerhöhung gerade mit Rücksicht auf die forschenden Kreise in der Wirtschaft und namentlich die kleinen und mittleren Unternehmen moderat bemessen sein.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Erste Zusatzfrage, Herr Kollege. Bitte sehr.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß vor allem in den neuen Bundesländern Innovationen die einzige Chance sind, neue Produktionen aufzubauen? Ist ihr ferner bekannt, daß zum Beispiel die finanzielle Basis für die Patentanmeldung von den nicht mehr vorhandenen Industrieforschungseinrichtungen bzw. deren früheren Mitarbeitern schwerlich aufzubringen ist und durch diese Erschwerung dem Ziel, Arbeit in den neuen Bundesländern zu schaffen, entgegengewirkt wird? Läßt man hier die notwendige Hilfe angedeihen?

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Kollege Dr. Jork, die Gebührenanhebung ist mit durchschnittlich 15 Prozent so bemessen, daß sie auch für kleine und mittlere Unternehmen - darauf habe ich hingewiesen - tragbar sein wird. Die Eingangsgebühr beträgt 100 DM. Hier nehmen wir überhaupt keine Erhöhung vor, weil wir in der Tat um die Verhältnisse der kleinen und mittleren Unternehmen nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in den alten Bundesländern wissen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege? Bitte sehr.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß wir auch bei den alten Gebühren überparteilich das Ziel angestrebt hatten, Gebührenermäßigungen und Zahlungserleichterungen für die genannten Partner in den neuen Bundesländern umzusetzen? Wenn die Anmeldung mehrere Länder betrifft, dann sind die Gebühren so hoch, daß sie schwerlich bezahlbar sind. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß aus meiner Sicht und aus Sicht der Ingenieure in diesem Bereich, vor allem in den neuen Bundesländern, Handlungsbedarf besteht.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Kollege Dr. Jork, die Gebühren, die das Bundespatent- und Markenamt verlangt, sind moderat bemessen; ich habe das eben dargestellt. Wir dürfen diese Gebühren nicht mit den Gebühren verwechseln, die entstehen, wenn es um eine europaweite Anmeldung geht. Dafür ist das Europäische Patentamt zuständig. Hier sind die Gebühren in der Tat sehr viel höher. Es gibt im Moment Bestrebungen, die Gebühren des Europäischen Patentamtes herabzusetzen. Sie sind aber trotz aller Bemühungen, die zum Teil schon verwirklicht worden sind, noch immer um ein Mehrfaches höher als die des Deutschen Patent- und Markenamts.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Eine Zusatzfrage der Kollegin Margot von Renesse. Bitte sehr.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da Ihre Bemerkung zu dem Fehlen der Prüfer etwas untergegangen ist, erlauben Sie mir dazu eine Nachfrage: Wie beurteilt die Bundesregierung im Verhältnis zu der Frage der Höhe der Gebühren das Fehlen der Prüfer für den Patent- und Innovationsschub?

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Kollegin von Renesse, die Bundesregierung hat bei ihrem Amtsantritt feststellen müssen, daß es beim Deutschen Patent- und Markenamt erhebliche Rückstände gab. Diese Rückstände sind zum Teil abgebaut worden; sie machen uns aber noch immer Sorge. Es ist in den letzten Jahren ein erheblicher Abbau von Stellen gerade im Prüferbereich erfolgt. Wir bemühen uns zur Zeit, die Zahl der Prüferstellen zu erhöhen. Die vorgesehenen Erhöhungen um 76 Stellen durch die Bundesregierung - ich bitte das Parlament sehr herzlich um Unterstützung - würden einen großen Beitrag leisten und uns helfen, vor allen Dingen mittelstandsfreundlich zu arbeiten und einen besseren und schnelleren Service zu bieten.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Die übrigen Fragen werden schriftlich beantwortet. ({0}) - Nein, ich habe keine zweite Frage aufgerufen, weil die Fragestunde zu Ende ist. ({1}) Ich bitte um Nachsicht, daß ich das so streng handhabe. Es ist mit den beiden Schriftführern abgestimmt: Wir hatten zwei Stunden; diese sind nun vorüber. Damit kommen wir zur Aktuellen Stunde: Entwicklung des Nettorentenniveaus - Drucksache 14/1298. ({2}) - Herr Hörster, ich lasse mich jetzt mit Ihnen auf eine Debatte ein, damit wir Zeit gewinnen. Frau Staatssekretärin Mascher nimmt Platz, damit die Bundesregierung durch das Ressort vertreten ist. Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Andreas Storm das Wort.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten zehn Tagen konnten wir erleben, daß der Bundesarbeitsminister im Hinblick auf die Auswirkungen seiner geplanten Rentenreform den Deutschen Bundestag und die Öffentlichkeit an der Nase herumgeführt hat. ({0}) Der Eiertanz, den der Kollege Andres vorhin hier aufgeführt hat, hat alle Chancen, als Wackeltango in die deutsche Sozialgeschichte einzugehen. Fakt ist: Erstens. Auf der Basis der vom Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger am Montag vorgelegten Ergebnisse ergibt sich, daß die veränderte statistische Erfassung des Kindergelds das Rentenniveau um nahezu 2,5 Prozentpunkte höher ausweist als nach der bisherigen Vorgehensweise. So ist die Aussage des Bundesarbeitsministers, daß das Rentenniveau auf der Basis der neuen Berechnungen im Jahr 2002 auf 66,4 Prozent sinkt und langfristig bei rund 67 Prozent liegt, zwar formal korrekt. Rechnet man - nur so sind die Zahlen wirklich vergleichbar - wie bisher das Kindergeld für die Durchschnittslöhne hinzu, dann sinkt allerdings das Rentenniveau im Jahr 2002 auf unter 64 Prozent und pendelt sich bis zum Jahr 2030 bei knapp unter 65 Prozent ein. Das bedeutet also, daß die faktische Senkung des Rentenniveaus erheblich höher ist, als es der Bundesarbeitsminister bisher eingestanden hat. Zweitens, meine Damen und Herren. Warum ist diese Frage für uns überhaupt relevant? Das hängt damit zusammen, daß der Bundesarbeitsminister gemeinsam mit dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger derzeit ein Datenmonopol in der Frage der Nettolohnstatistik hat; denn der Staatssekretär hat vorhin selbst einge4248 räumt, daß das Statistische Bundesamt die relevanten Daten bisher noch nicht veröffentlicht hat, der Arbeitsminister aber über Arbeitsergebnisse verfügt, die er verwendet hat. Das heißt, die einzig zugängliche Datenquelle sind die Angaben des Bundesarbeitsministers und seit vorgestern eben auch die Angaben der Rentenversicherungsträger. Es wäre die Pflicht des Bundesarbeitsministers gewesen, darauf hinzuweisen, daß die für die Einschätzung der Auswirkungen seiner rentenpolitischen Sparmaßnahmen so wichtige Größe Rentenniveau nach seinen neuen Berechnungen um 2,5 Prozentpunkte allein auf Grund von statistischen Effekten höher ausgewiesen wird, als es bisher der Fall war. ({1}) Meine Damen und Herren, dieser Informationsverpflichtung ist der Bundesarbeitsminister offensichtlich bewußt nicht nachgekommen. Auf die Forderung der Union vom Wochenende, der Arbeitsminister solle nun alle relevanten Daten auf den Tisch legen, hat er vorgestern deutlich gemacht, daß er bis zur Vorlage des Rentenversicherungsberichts im Herbst keinerlei Angaben mehr zur Beitragsentwicklung und zum Rentenniveau vorlegen will. Das bedeutet, das Parlament hat bis zur Vorlage des Rentenversicherungsberichts keinerlei Chance, die von ihm in die Welt gesetzten Angaben zur Entwicklung des Rentenniveaus nachzuprüfen. ({2}) - In der Tat ein einmaliger Vorgang. Drittens, meine Damen und Herren. Der Vorsitzende des Sozialbeirats der Bundesregierung, Professor Winfried Schmähl, hat am vergangenen Sonntag in der „Welt am Sonntag“ zum Vorschlag eines zusätzlichen Pflichtvorsorgebeitrags folgendes geschrieben: Nach Rückkehr zur nettolohnbezogenen Rentenanpassung würden dann die Anpassungssätze geringer, die Renten also weniger steigen, und Rentenausgaben sowie Finanzbedarf der Rentenversicherung würden sich mindern. Faktisch würde dadurch eine weitere Senkung des Rentenniveaus eintreten. Er hat dies heute in der „Welt“ präzisiert. Nach seinen Angaben „reduzierte sich“ durch die Einführung des von Walter Riester vorgesehenen Pflichtvorsorgebeitrages in Höhe von 2,5 Prozentpunkten des Bruttolohns „auch das Rentenniveau um 2,5 Prozentpunkte. Geht man von einem Rentenniveau von 66 Prozent aus“ - das können Sie auch entsprechend mit 67 Prozent rechnen - „verringert sich der Level nach Einführung der Zweitrente auf nur noch 63,5 Prozent.“ ({3}) Meine Damen und Herren, der Wirtschaftsdienst der BHF-Bank hat dies ähnlich analysiert und diese faktische Niveauabsenkung des Vorsorgebeitrags wie folgt kommentiert: ({4}) Es kommt wohl auf den politischen Standort an, ob man diesen Riesterschen Einfall als geschickten Kunstgriff lobt oder als billigen Taschenspielertrick verurteilt. ({5}) Diese Analyse, die mit dem übereinstimmt, was nicht irgend jemand, sondern der Vorsitzende des Sozialbeirats dieser Bundesregierung deutlich gemacht hat, und Ihre Verhaltensweise in der Fragestunde, insbesondere die Verhaltensweise des Parlamentarischen Staatssekretärs im Arbeitsministerium, machen deutlich: Sie sind ein weiteres Mal als Trickser und Täuscher entlarvt worden. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich bitte Sie darum, auch in einer heftigen Debatte ein bißchen auf die Ausdrucksweise zu achten. Ich wollte vorhin auch etwas im Protokoll rügen, tue das jetzt aber nicht, sondern gebe dem Bundesarbeitsminister Walter Riester das Wort. ({0}) - Nein, es geht nur um den Ton, Herr Kollege. ({1}) - Wenn Sie sagen „Prolet bleibt Prolet“, ist das auch nicht so schön. - Ich schließe damit diese Debatte zwischen uns. Herr Minister, Sie haben das Wort.

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird Zeit, daß man die Leute beruhigt, die die Zahlenspielereien, die Sie produzieren, nicht mehr nachvollziehen können. ({0}) Worum geht es? Kein Rentner wird im nächsten Jahr weniger Rente haben. Die Rente eines jeden Rentners wird vielmehr angehoben werden. ({1}) Im Kern geht es um die Entscheidung: Besitzstandswahrung oder Zukunftssicherung? Wir setzen auf Zukunftssicherung. ({2}) Wir tun dies, indem wir das Rentensystem von mehreren Seiten dauerhaft stabilisieren, und zwar im Sinne der Rentner und im Sinne derjenigen, die jetzt die Rentenleistungen bezahlen. ({3}) Wir haben gesagt, daß wir dazu mehreres im Sinne der Zukunftssicherung tun. Zunächst werden wir die nächsten Stufen der Ökosteuereinnahmen einspeisen. ({4}) - Weil der Zuruf „Toll!“ gemacht wurde, darf ich an folgendes erinnern. 1994 lag der Rentenversicherungsbeitrag bei 17,5 Prozent. Ich habe bei 20,3 Prozent übernommen. ({5}) Dieses Ansteigen des Niveaus des Rentenversicherungsbeitrages bedeutet, 42 Milliarden DM zusätzlich, die Sie den Beitragszahlern abverlangt haben. ({6}) Das war die erste Rechnung. Nun zur zweiten Rechnung. Gleichzeitig ist der Bundeszuschuß inklusive der Mehrwertsteuererhöhung, bei der wir Sie unterstützt haben, um 25 Milliarden DM gestiegen. ({7}) Meine Damen und Herren, das sind innerhalb von fünf Jahren 67 Milliarden DM oder, in einer anderen Größe ausgedrückt, rund 4 Prozent Mehrwertsteuer, und das war nicht etwa eine Zukunftssicherung, sondern hat uns in eine Situation hineinmanövriert, auf Grund derer wir jetzt reformieren müssen. Diese Bilanz trage ich der Bevölkerung gerne vor, meine Damen und Herren. ({8}) Wir sagen jetzt: Wir stabilisieren das System, und zwar im Sinne der Menschen, die ein Anrecht darauf haben, nachvollziehbar nachgewiesen zu bekommen, wie sich die Situation in den Jahren 2010, 2020 und 2030 darstellt. ({9}) Der Beitrag, den die Rentner zur Sicherung des Systems, zum Erhalt der Rente auch für die zukünftige Generation einbringen, erfolgt in zwei Jahren, in denen wir ein höheres Niveau absichern als in den zurückliegenden vier Jahren auf Grund der Nettoanpassungsformel. ({10}) Auch in diesen zwei Jahren wird der Rentner die jeweilige Preissteigerungsrate des Vorjahres bekommen. Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, stelle ich mich gerne vor die Rentner hin. ({11}) Ich denke, daß die Rentner ein hohes Verantwortungsbewußtsein haben - darauf setze ich -, daß sie sich von Ihren Parolen nicht verrückt machen lassen. ({12}) Deswegen haben wir überhaupt kein Problem, ehrlich zu argumentieren. ({13}) Ich bin davon überzeugt, daß auch die vielen Rechenspiele, die jetzt - bewußt oder unbewußt - zur Verwirrung der Leute in den Medien auftauchen, letztendlich, wenn man vor die Leute hintritt und sagt: Das ist der Beitrag, den ihr einbringt - ({14}) - Ich habe vorher nie anders argumentiert. Sie dürfen mich gerne überall zitieren. ({15}) Ich kann für mich in Anspruch nehmen, daß ich vor der Wahl genauso argumentiert habe wie nach der Wahl. ({16}) Ich habe die Risiken des deutschen Rentenversicherungssystems niemals bestritten. Ich habe sie aufgezeigt. Ich habe auch hier im Parlament erklärt: Die Risiken der Demographie sehe ich sehr wohl. Gleichwohl bin ich nicht bereit, den Weg, den Sie angeboten haben, zu gehen. ({17}) Exakt um die besseren Lösungen zu schaffen, haben wir den Faktor ausgesetzt. ({18}) Den Zwischenruf, was daran falsch ist, nehme ich gern auf. Ich habe es hier schon einmal erläutert, aber ich erläutere es Ihnen gern noch einmal. Der Abschlagfaktor hat nur sehr mittelbar etwas mit Demographie zu tun. Wir wissen, daß er spätestens im Jahre 2012/2014 zu 64 Prozent Rentenniveau führt. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder das Gesetz wird geöffnet und das Niveau sinkt auf 60 Prozent, oder man zieht die Beitragsschraube an und der Beitrag steigt. Etwas anderes bleibt Ihnen dann nicht mehr übrig. Den Weg wollen wir nicht mitgehen. ({19}) Wir sind gern bereit, vor das ganze deutsche Volk zu treten und eine Generationenlösung anzubieten, die beide Seiten - diejenigen, die in Rente sind, und diejenigen, die Beiträge einbringen - in ein Solidarsystem einbezieht, das dauerhaft stabil bleibt. Das haben die Rentner, und das haben diejenigen, die aktiv arbeiten, verdient. ({20}) In der Form werden wir weiterhin ehrlich argumentieren. Danke schön. ({21})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Handeln der rotgrünen Koalition in den Rentenfragen ist in doppelter Hinsicht ein handfester Skandal. Der erste Teil liegt in der Vergangenheit. Da hat die christlich-liberale Koalition eine Rentenreform ’99 vorgelegt. Wir haben dabei ein doppeltes Ziel verfolgt: Sicherheit, Verläßlichkeit und Kontinuität in der Rentenpolitik zugunsten der Rentner und Schutz der jüngeren Generation vor einer Überforderung mit Beiträgen an die Rentenkasse in der Zukunft, das heißt Stabilisierung der Beiträge. ({0}) Es wird wohl jeder zugeben, daß das sehr ehrenwerte Ziele sind. Das haben wir mit Hilfe des demographischen Faktors in der Rentenformel erreichen wollen. Das heißt, die jährliche Steigerung der Renten sollte über fast 30 Jahre 0,4 bis 0,5 Prozentpunkte geringer ausfallen als die Steigerung der Nettolöhne. Die Rentner hätten sich aber jährlich auf eine Steigerung ihrer Renten verlassen können. ({1}) Bei Ihnen, bei Ihren Willkürmaßnahmen können sie das nicht mehr. Wer soll Ihnen denn noch abnehmen, wenn Sie zwei Jahre lang die Nettoformel aussetzen, daß Sie das nie wieder tun? ({2}) Der Schaden besteht im Vertrauensverlust gegenüber diesem wichtigen Alterssicherungssystem. ({3}) Mit welch infamer und populistischer Kritik ist die damalige Opposition aus SPD und Grünen über die damalige Regierungskoalition hergefallen! Sie haben jedes Angebot für ein gemeinsames Handeln in der Rentenpolitik ausgeschlagen, und zwar aus parteitaktischen Überlegungen heraus; nichts anderes stand dahinter. ({4}) Unsere Bemühungen um eine gesicherte Rentenkasse hat Herr Dreßler in der zweiten und dritten Lesung für die Rentenreform ’99 mit dem Wort „Rentenkürzung“ gegeißelt, was schlicht falsch war. Er wußte das, und Sie wußten das auch. Das ist das Infame! ({5}) Herr Riester, Sie haben damals nicht im Plenum gesessen. Ich finde es übrigens überhaupt nicht zum Grinsen, muß ich Ihnen sagen, wenn man die Rentner dermaßen hintergeht. Sie haben sie hintergangen. Sie wußten, daß es notwendig war, was wir damals gemacht haben. Sie wußten, daß wir es gemeinsam hätten machen können; das wäre besser gewesen. ({6}) Der Skandal ist aber auch, daß der heutige Bundeskanzler im Wahlkampf in allen Fernsehauftritten den Rentnerinnen und Rentnern gesagt hat, was wir da beschlossen hätten, sei unanständig. Meine Damen und Herren, was ist denn eigentlich unanständiger als Ihre drastische Senkung der Renten im Jahre 2002 unter das Niveau, das mit unserer Rentenpolitik erreicht worden wäre? Das ist ein wirklich drastischer Einschnitt. Sie bezeichnen das nicht als unanständig. Sie wußten, daß das, was wir damals gemacht haben, notwendig war. Sie aber haben sich verweigert. Sie werden es auch in der Zukunft spüren. Skandal Nummer 2 findet nach der Bundestagswahl statt. Nach Rücknahme der Rentenreform schlagen Sie jetzt bei den Rentnern zu. Wir wollten in der Tat eine sanfte Landung. Das hätte die Probleme gelöst. Herr Riester, Sie können sich hinstellen und Taschenspielertricks betreiben. ({7}) Ihr Staatssekretär hat das eben in der Fragestunde ausführlich getan. Sie vergleichen Unvergleichbares. Sie sagen 64 Prozent, wo Sie nach Ihren Berechnungen 66 Prozent sagen müßten, und Sie sagen 67 Prozent, wo Sie nach den alten Berechnungen 65 Prozent sagen müßten. Damit führen Sie die Leute wieder hinters Licht. Das sind Taschenspielertricks. ({8}) Sie müssen jetzt 30 Milliarden DM Mehrausgaben, die Sie 1999 aufwenden, um Ihre Wahlversprechen zu finanzieren, wieder einsammeln. Sie tun das vorwiegend bei den Rentnern und Arbeitslosen, und das nenne ich unsozial. ({9}) Ich fordere Sie deshalb auf - damit komme ich zum Schluß -: Erstens. Setzen Sie den demographischen Faktor wieder in Kraft. Zweitens. Fördern Sie betriebliche und private Altersvorsorge steuerlich so, daß sie echte Säulen der Altersversorgung in Zukunft werden. Drittens. Legen Sie endlich eine langfristige Konzeption zur Sanierung der Rentenversicherung vor, statt hier alle Welt mit irgendwelchen Eckpunkten, die am nächsten Tag wieder überholt sind, zu verunsichern. Danke. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verunsichern tun doch gerade Sie von der Opposition. Sie verunsichern gerade eine ganze Generation mit einer unsäglichen Kampagne, die alles mögliche aufbläht, die alles mögliche unterstellt, ohne ein einziges Mal die Daten, die Fakten und vor allen Dingen die Lage anzugucken, die Sie hinterlassen haben. ({0}) Sie haben ein Rentensystem hinterlassen, das für heute sicher ist und für morgen und übermorgen auf ein Wunder hofft. Warum müssen wir überhaupt eine Rentenreform machen? Wegen der demographischen Entwicklung beispielsweise. Das haben in der letzten Legislaturperiode auch Sie eingesehen. Sie wissen, daß Bündnis 90/Die Grünen gesagt haben, daß sie diesen Grundsatz richtig finden. ({1}) Was ist herausgekommen? Die übliche Halbherzigkeit, die das System nicht gesund gemacht hat, sondern nur weiße Salbe war, die einen Placeboeffekt hatte, aber auch nur für die alte Generation und nicht für die Jungen, die dafür geradestehen müssen. Was machen wir? Wir wollen mit der Rentenreform einen Ausgleich zwischen Jung und Alt herstellen. ({2}) Mit dem ersten Schritt haben wir sehr deutlich gemacht, daß wir das auch tun werden. Rentnerinnen und Rentner erhalten auch in den nächsten beiden Jahren mehr Rente. Sie erhalten einen Inflationsausgleich, in den übrigens auch die Teuerung durch die Ökosteuer einfließt. Zugleich werden wir dafür sorgen, daß die Beitragssätze auf einem für die heute junge Generation zumutbaren Niveau liegen. Wenn wir sagen, daß wir die Möglichkeiten der privaten und betrieblichen Vorsorge stärken, dann bedeutet das natürlich auch, daß wir Beiträge brauchen, bei denen die Menschen in der Lage sind, solche Vorsorge zu betreiben. Wir wollen freiwillige Vorsorge - das haben wir gesagt -; die Möglichkeit dazu wollen wir eröffnen. Was wollen wir weiter? Wir wollen Armutsfestigkeit, und zwar auf unterschiedliche Art und Weise. Erstens. Wir wollen mit einer bedarfsorientierten Grundsicherung nach unten absichern. Sie haben die alten Leute zum Sozialamt geschickt. Sie haben sie entwürdigt. ({3}) Damit machen wir Schluß. ({4}) Wir werden ihnen mit einer bedarfsorientierten Grundsicherung ihre Würde zurückgeben. Zweitens. Wir werden die Armutsfestigkeit auch über das Rentenniveau sicherstellen. Wer erwerbstätig war und auf die Rente angewiesen ist, wird genug bekommen. Die Zahlen, die im Raum sind, machen das, denke ich, ausreichend deutlich. Drittens. Wir werden die unterbrochenen Erwerbsbiographien, wie sie heute insbesondere bei Frauen üblich sind, in der Rentenpolitik der Realität entsprechend bewerten. Der Eckrentner, der 45 Jahre arbeitet, ist nicht mehr der Normalfall. Wir werden dafür sorgen, daß insbesondere Frauen, die Kindererziehungszeiten hatten, ({5}) und diejenigen, die aus anderen Gründen unterbrochene Erwerbsbiographien hatten, auf eine Rente zurückgreifen können, die ihre Existenz sichert. Was tun Sie dagegen? Sie spielen mit Ihrer Verunsicherungskampagne die Generationen erneut gegeneinander aus. Das machen wir nicht mit. Wir wollen den Ausgleich zwischen den Generationen und nicht das Ausspielen der Generationen gegeneinander. ({6}) Ihr heutiges Jonglieren mit den Zahlen spottet deshalb jeder Beschreibung. Dieses Jonglieren sorgt weiterhin für eine Verunsicherung der Alten wie der Jungen. Wir werden noch in diesem Jahr eine sehr durchdachte und ausgereifte Reform auf den Tisch legen. Sie können sich dann entscheiden, ob Sie noch immer der Vergangenheit anhängen oder tatsächlich an die zukünftigen Generationen und deren heutige Belastbarkeit, an die Familien mit Kindern und an diejenigen denken, die im Rahmen Ihrer Reformen immer vom Hund gebissen worden sind, die immer am Ende der Schlange standen und weder heute noch in der Zukunft eine Chance haben. Vielen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat die Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Nach fast 90 Minuten Fragen und Antworten konzentrierte sich letztlich alles auf eine Frage, die in der heutigen Ausgabe einer Zeitung so formuliert wurde: War die Reform Blüms für die Rentner wirklich schlimmer als die von Riester geplante, wie letzterer behauptete? Oder hat Riester es mit Zahlentricks geschafft, seine Reform als die bessere zu verkaufen, obwohl sie es gar nicht ist? Ich bin der Meinung, daß aus gegenwärtiger Sicht weder für die eine noch für die andere Seite ein Grund besteht, sich vor die Brust zu schlagen und sich als Retter der Rentnerinnen und Rentner aufzuspielen. ({0}) Wahr ist, daß nach dem Blümschen Modell das Rentenniveau im Jahre 2030 64 Prozent des Nettodurchschnittslohns betragen hätte. Das war nachvollziehbar. ({1}) Auf eine so genaue Zahl wollte sich Herr Staatssekretär Andres heute nicht festlegen. ({2}) Wenn man versucht, beide Modelle rechnerisch miteinander zu vergleichen, ergibt sich folgendes Bild: Beim Modell von Minister Riester wird von 81,7 Prozent des Nettolohns 1998 ausgegangen, 70,5 Prozent sind es beim Blümschen Modell. Nach dem RiesterModell beträgt das Rentenniveau im Jahre 2030 64,8 Prozent, nach dem Blümschen Modell 64 Prozent. Liegen die Zahlen wirklich soweit auseinander? Durch die Abkoppelung der Rentenanpassung von der Einkommensentwicklung in den Jahren 2000 und 2001 sinkt das Rentenniveau von derzeit 70 auf 64 Prozent der Nettoeinkommen. Die danach wieder vorgesehene Ankoppelung der Rentenentwicklung an die Nettolöhne vollzieht sich dann auf diesem niedrigen Niveau. Durch diesen Willkürakt, der der Sanierung des Haushaltes dienen soll, werden die Rentnerinnen und Rentner zu „Sparschweinen“ der Nation gemacht. ({3}) Besonders fatal wird sich das auf ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner auswirken, deren Rentenwert ohnehin nur bei 86,7 Prozent des Westwertes liegt und für die die Rente die einzige Einkommensquelle ist. ({4}) Bei diesen Plänen muß auch berücksichtigt werden, daß eine Vielzahl der Rentnerinnen und Rentner das durchschnittliche Rentenniveau erst gar nicht erreicht. Nach der letzten gültigen Statistik bezogen die Frauen in den alten Bundesländern eine Durchschnittsrente von 831 DM. Wenn für sie die Rentenanpassung ausfällt, ({5}) dann gleiten sie hoffnungslos in die Altersarmut ab. ({6}) Zusätzlich muß bedacht werden, daß der Rentenwert im Osten ohnehin nur 86,7 Prozent des Rentenwertes im Westen ausmacht. Durch die Aussetzung der Anpassung wachsen also die Abstände zwischen Ost und West. Die Willkür, mit der diese Reform umgesetzt wird, birgt große Gefahren für die Zukunft. Man kann sich wohl auf folgendes einstellen: Im Jahr der Bundestagswahl wird eine Rentenanpassung erfolgen. Da man im Wahlkampf wahrscheinlich verspricht, auch im nächsten Jahr eine Rentenanpassung zu realisieren, wird einiges dafür sprechen, daß auch im Folgejahr eine Rentenanpassung erfolgt. Dann wird sie für zwei Jahre ausgesetzt, um sie im Wahljahr wieder durchzuführen. Für diese Legislaturperiode bedeutet das, daß die Rentenanpassung in den Jahren 2000 und 2001 ausfällt, um sie im Jahr 2002 zu vollziehen. Man muß in den Jahren 2004 und 2005 mit der nächsten Rentensenkung rechnen. Als Vorsitzende des Arbeitslosenverbandes in Brandenburg - im übrigen im Ehrenamt - und als seniorenpolitische Sprecherin meiner Fraktion wende ich mich entschieden gegen diese Art der Rotstiftpolitik. Damit meine ich auch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosenhilfe. ({7}) Soziale Transferleistungen dürfen nicht von der aktuellen Kassenlage abhängig gemacht werden. Derartige Vorschläge sind sehr kurzsichtig und unverantwortlich. Durch eine solche Diskussion sinkt die Glaubwürdigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung vor allem bei jungen Menschen weiter. Ich danke. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile der Kollegin Birgit Schnieber-Jastram das Wort.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, bevor ich beginne, möchte ich Ihnen die Übergabe eines kleinen Geschenks avisieren. Ich denke, Sie sollten sich fit machen. ({0}) Ich werde Ihnen nach meiner Rede eine Rechenmaschine überreichen, damit das, was Sie sagen, in Zukunft auch stimmt. Was ich eben in der Aktuellen Stunde als ausgesprochen mißlich empfunden habe, das ist der Eindruck, den ich gewonnen habe, Herr Andres, daß Sie überhaupt nicht hinter Ihrer Reform stehen. Sie haben nicht mit einem einzigen Wort diese Reform verteidigt; vielmehr haben Sie anderthalb Stunden versucht, darum herumzureden. Wir kennen Ihre Lage. Aber wir haben auch hinter unpopulären Entscheidungen gestanden. Sie sollten lhr Verhalten ändern. Sehr geehrter Herr Riester, Sie haben in Ihrem Beitrag eben nicht einen einzigen Vorwurf meines Kollegen Storm zurückgewiesen; vielmehr haben Sie sich unendlich gedrückt. Sie haben kein Wort zu den Aussagen von Bundeskanzler Schröder gesagt, der noch im Februar verkündet hat: Liebe Leute, es gibt sicher eine Nettoanpassung. Statt dessen tricksen und täuschen, mixen und murksen Sie weiter. Sie tun das nicht nur mit den Rentnern, sondern gleicherweise auch mit den jungen Menschen; denn diese Maßnahmen haben nur einen Sinn: den Haushalt zu sanieren. Mit einer Verbesserung der Situation in der Rentenversicherung haben sie überhaupt nichts zu tun. ({1}) Wenn ein so ruhiger, besonnener und solider Mann wie Herr Schmähl heute vom „Sargnagel für die Rentenversicherung“ spricht, Herr Riester, dann muß Ihnen das wirklich zu denken geben. Bevor sich Herr Schmähl zu so einer Äußerung hinreißen läßt, dauert es sehr lange. Ich will noch einmal deutlich machen, worüber wir reden: Es geht um die Einkommenssituation eines Rentners. Ich denke, sie ist uns bewußt. Der Rentner wird mit Ihrer Reform monatlich 100 DM weniger erhalten, als wir ihm gegeben hätten. Er wird zusätzlich 20 DM Ökosteuer draufzahlen. Im Osten ist es noch mehr. Dort gibt es für den Rentner 140 DM weniger. Das ist die Realität. Wenn Sie meinen, daß die Rentner so viel Geld haben, locker und flockig auf 100 DM oder im Rahmen eines Rentnerlebens auf 20 000 DM verzichten zu können, dann ist dies nicht richtig. ({2}) Ihre Pläne für eine Zusatzrente, die sicherlich noch kommt - sie ist unverändert im Gespräch -, würden dazu beitragen, daß der Rentenbeitrag für diese Zusatzrente das durchschnittliche Nettoeinkommen senkt und damit das Rentenniveau um 2,5 Prozent gesenkt wird. Herr Andres, das wären noch einmal 52 DM weniger. Das ist nicht im Himmel geschrieben, sondern Ihre Reform. ({3}) Ich möchte Ihnen sagen, mit welchen Forderungen wir in diese Sommerpause und in die weitere Debatte gehen. Wir wollen gar nicht nur draufhauen; vielmehr wollen wir auch deutlich machen, was wir für wichtig halten. Wir wollen, daß die vom Bundeskabinett beschlossene Rentenanpassung in Höhe der Inflationsrate nicht umgesetzt wird. Wir halten dieses Vorgehen für sozial ungerecht. ({4}) Wir werden Sie auffordern, den demographischen Faktor bis spätestens 1. Januar 2000 in Kraft zu setzen. Wir wollen, daß ein Konzept zur Verbesserung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge vorgelegt wird. Wir werden uns intensiv über die Hinterbliebenensicherung unterhalten. Was Sie dazu vorgelegt haben, ist unter aller Kanone. Wir brauchen ein tragfähiges Konzept zur eigenständigen sozialen Absicherung der Frauen. ({5}) Ganz deutlich sage ich Ihnen noch einmal: Sie müssen damit anfangen, eine Generationenbilanz aufzustellen. Sie versuchen hier nämlich eine große Täuschung. In vielen Bereichen erhöhen Sie die Steuern und tun so, als ob dieses niemand bezahlen muß. Junge, Alte, alle müssen gleichermaßen die erhöhten Steuern bezahlen. ({6}) Da gibt es keine Entlastung. ({7}) Was Sie hier vorgelegt haben, ist keine Reform und bietet auch keine Eckpunkte für eine Reform, sondern es handelt sich wirklich um das Stochern im Nebel, um eine Haushaltssanierung auf Kosten der Rentner in diesem Lande, zu der auch die jungen Leute beitragen müssen. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß ich die Reihenfolge der Redner ein wenig vertauscht habe. Wundern Sie sich deshalb bitte nicht, wenn nach der Kollegin Lotz der Kollege Klaus Müller spricht. Jetzt also die Kollegin Lotz, dann der Kollege Müller, und danach geht es in der vereinbarten Reihenfolge weiter. Frau Kollegin, bitte sehr.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Da Sie, Frau Schnieber-Jastram, anmahnen, eine Generationenbilanz zu erstellen, möchte ich Sie doch daran erinnern, daß Sie während Ihrer Regierungszeit 1,5 Billionen DM Schulden aufgehäuft haben, was zu einer jährlichen Zinsbelastung von fast 90 Milliarden DM führt und dazu, daß fast jede vierte Mark aus Steuereinnahmen für Zinszahlungen draufgeht. Das war Ihr Beitrag zu einer Generationenbilanz. ({0}) Das Ziel der Aktuellen Stunde und dessen, was Sie hier heute abziehen, ist aus meiner Sicht ganz eindeutig: Sie wollen unsere Rentenreform miesmachen. Ich sage Ihnen voraus: Es wird Ihnen nicht gelingen. ({1}) Ich nehme es Ihnen aber übel, daß Sie die Rentnerinnen und Rentner wieder verunsichern. ({2}) Die Rentnerinnen und Rentner werden sich aber daran erinnern, daß die Rentenerhöhungen, die sie unter Ihrer Regie erhalten haben, niedriger als die Preissteigerungsrate lagen. ({3}) Diese Erfahrung werden sie mit uns nicht machen. ({4}) Sie haben auch dafür gesorgt, daß jedes Kind in unserem Lande mittlerweile weiß, was versicherungsfremde Leistungen sind. Auch daran möchte ich Sie noch einmal erinnern. ({5}) Welches Ziel verfolgten Sie denn mit Ihrem vielgepriesenen Demographiefaktor? Die Eckrenten sollten auf 64 Prozent abgesenkt werden. Mit der Bezeichnung Demographiefaktor haben Sie dem Ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich gegeben, aber in Wirklichkeit ging es nur darum, die Renten abzusenken. ({6}) Heute spielen Sie die Unschuldsengel. ({7}) Dr. Norbert Blüm sagte am 12. Januar 1998 in einem Schreiben an die Mitglieder der CDU/CSU- und F.D.P.Bundestagsfraktionen unter anderem: „Rentenversicherung - Entlastungswirkung 1997 60 Milliarden DM“. ({8}) Es handelt sich dabei um 60 Milliarden DM, die Sie letztendlich Rentnern und Rentnerinnen abgenommen haben. ({9}) Unser Reformgesetz sieht etwas anderes vor: Wir werden wieder Sicherheit für die Rentner und Rentnerinnen und für die junge Generation schaffen. Deshalb bieten wir auch eine bedarfsabhängige Grundsicherung an. ({10}) Sie haben zwar immer über Altersarmut geredet, aber unternommen haben Sie in dieser Beziehung nichts. ({11}) Wer nicht mehr arbeiten kann, hat Anspruch darauf, von der Gesellschaft versorgt zu werden. Dieser Grundsatz galt schon bisher. Trotzdem gab und gibt es Rentnerinnen und Rentner, die arm sind. Es gibt alte Menschen, die von weniger als dem Existenzminimum leben. Es gibt Rentnerinnen und Rentner, die die Sozialhilfe bitter nötig hätten und sie trotzdem nicht beantragen, weil sie zum Teil gar nicht wissen, daß sie darauf Anspruch haben, weil sie zum Teil befürchten, daß ihre Kinder dafür aufkommen müssen, oder weil sie sich einfach nur schämen. Dieser Zustand darf nicht so bleiben. Soziale Gerechtigkeit muß auch für unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger selbstverständlich werden. ({12}) Altersarmut jetzt und in Zukunft zu verhindern ist eines der wesentlichen Ziele der anstehenden Rentenreform. Sie können noch soviel dagegenreden: Dieses Ziel werden wir verwirklichen. ({13}) Wir wollen den Rentnern den Gang zum Sozialamt ersparen. Deshalb führen wir die bedarfsorientierte soziale Grundsicherung ein. Darauf hat jede und jeder mit 65 Jahren Anspruch oder auch derjenige, der dauerhaft erwerbsunfähig ist. ({14}) Damit machen wir deutlich, daß es das gute Recht derjenigen, die ein ganzes Leben lang gearbeitet haben, ist, im Alter existentiell abgesichert zu sein. Wir wollen, daß die Menschen wissen, daß sie den Zugriff auf das Einkommen ihrer Kinder nicht mehr befürchten müssen. Grundsicherungsberechtigte Rentner und Rentnerinnen werden in Zukunft wissen: Mit der Reform wird der Rückgriff auf das Einkommen unterhaltspflichtiger Kinder ausgeschlossen. Das ist unser Ziel, das Sie verschweigen. Wir werden aber dafür sorgen, daß die Menschen wissen, was sie an unserer Reform haben. Wir werden ferner dafür sorgen, daß der Pakt der Generationen wieder Gültigkeit hat und daß die Rentnerinnen und Rentner, aber auch die jungen Menschen keine Angst mehr haben müssen. Danke schön. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen.

Klaus Wolfgang Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003195, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schnieber-Jastram, wenn sich das Niveau Ihres Beitrages in der Rentendebatte darauf beschränkt, den Rechenschieber zu benutzen, dann sehe ich schwarz für Ihre weiteren Vorschläge und für Ihre Kritik. Ich glaube, daß sowohl der Kollege Riester als auch erst recht die Regierungskoalition inzwischen ein bißchen weiter im Hinblick auf die moderne Technik sind. Unsere Berechnungen beruhen auf etwas mehr als dem Hantieren mit ein paar Kugeln. Damit kann man zwar spielen, aber keine Rentenreform durchführen. ({0}) Wenn Sie in den Raum stellen, es gebe keine Steuerentlastung durch Rotgrün, dann ist das schlicht falsch. Ich bin sicher, daß Ihnen nachher der Kollege Seiffert das Finanztableau aus dem Finanzausschuß geben wird. Dort sind - nur zur Erinnerung - 20 Milliarden Nettoentlastung aus der Einkommensteuerreform enthalten. ({1}) Weiter sind dort 5,7 Milliarden DM Nettoentlastung für die Familien und 8 Milliarden DM Nettoentlastung für die Unternehmen enthalten. ({2}) Unter Rotgrün gibt es also eine klare Steuerentlastungspolitik ({3}) und dazu noch eine Abgabensenkung auf Grund der Ökosteuer. Wir müssen uns also nicht verstecken; Ihre Kritik geht ins Leere. ({4}) Das Problem ist, daß sich die CDU nicht entscheiden kann. Interessant war in diesem Zusammenhang die Rede des Kollegen Merz letzte Woche, der sonst immer sehr kluge Vorschläge macht, aber letzte Woche herumgeeiert hat. Das tun Sie bis heute immer noch. ({5}) Sie können sich immer noch nicht entscheiden, ob Sie das Sparpaket richtig finden oder ob Sie gegen jede Sparaktion polemisieren wollen. Die Rentnerinnen und Rentner, mit denen ich in den letzten Wochen gesprochen habe, sagen, daß sie das Sparpaket der Bundesregierung gut finden. Sie sagen, daß auch sie bereit sind, einen Beitrag dazu zu leisten, die Verschuldung, die Sie aufgebaut haben, in den nächsten Jahren abzubauen. ({6}) Ich finde, es ist ein Zeichen von wirklicher Solidarität, daß Menschen, denen es manchmal besser- und manchmal schlechtergeht, bereit sind, als Mitglieder der älteren Generation einen Beitrag zur Konsolidierung zu leisten, weil sie der Meinung sind, daß diese Verschuldung bis ins Mark unsozial ist und daß auch sie Verantwortung für die nächste Generation tragen. ({7}) Wir begrüßen, daß die Nettolöhne - auch wegen der Politik der neuen Koalition - so kräftig ansteigen. Das heißt aber noch lange nicht, daß man das Ganze automatisch auf die Rentnerinnen und Rentner übertragen muß. ({8}) - Wenn Sie rechnen könnten, dann wüßten Sie, daß Steuerfreibeträge dazu führen, daß die Nettolöhne steigen. Das ist im Familienentlastungsgesetz und bei der Einkommensteuerreform vorgesehen. Das können Ihnen die Finanzpolitiker Ihrer Fraktion ja bei Gelegenheit noch einmal erklären. ({9}) Überlegen Sie einmal in aller Ruhe, ob Sie jetzt wieder Unterschriften sammeln oder ob Sie Briefchen schreiben wollen. Das wird in der ganzen Debatte letztendlich zu nichts führen. ({10}) Ich würde mich freuen, wenn wir hier von Ihnen konkret etwas hören würden, ({11}) was jenseits Ihrer alten Pläne liegt. Übrigens, Frau Schwaetzer, waren wir in diesem Punkt im Wahlkampf gar nicht so weit voneinander entfernt. Auch die Grünen haben für einen demographischen Faktor gestritten, und dazu stehen wir auch. ({12}) - Brüllen Sie doch nicht so rum, mein Gott. ({13}) Lassen Sie uns darüber reden, wie wir die Rente zukunftsfähig und generationengerecht reformieren können, was wir dagegen tun können, daß Menschen im Alter in Armut stürzen, und was wir dafür tun können, daß auch jüngere Menschen dieses System akzeptieren. In meiner Generation hieß es unter dem verehrten Kollegen Blüm übrigens immer: „Die Rente ist sicher“ - das habe ich tausendmal von Ihnen gehört; im Nachsatz hieß es bei uns dann immer -, „und die Erde ist eine Scheibe.“ Das war das Niveau der Debatte, die unter jüngeren Menschen zu Ihrer Regierungszeit geführt wurde. Ich kann nur sagen: Wir denken an beide Seiten, an die Seite der Menschen, die jetzt Beiträge zahlen und bei denen wir eine Akzeptanz für eine solidarische Umfinanzierung, ergänzt durch eine private Altersvorsorge - das gehört für uns zusammen -, erreichen wollen, und Klaus Wolfgang Müller ({14}) an die Seite der älteren Menschen, die die Sicherheit brauchen, daß die Renten nicht sinken, sondern nach wie vor steigen. Wahrscheinlich werden sie sogar kräftiger steigen als in Ihrer Regierungszeit. ({15}) Das heißt, wir müssen uns hier nicht verstecken. Wir werden eine solidarische Debatte führen, mit den Rentnerinnen und Rentnern auf der einen und den Beitragszahlern auf der anderen Seite. Vielen Dank. ({16})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Johannes Singhammer, CDU/CSUFraktion. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Wichtigste, was Rentner brauchen, ist Verläßlichkeit. ({0}) Das einzige, worauf sich die 17 Millionen Rentnerinnen und Rentner bei der Regierung Schröder noch verlassen können, ist der Satz: Es gilt das gebrochene Wort. ({1}) Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben ein Bundeskanzler und eine Bundesregierung die Öffentlichkeit so mit der Unwahrheit bedient wie Gerhard Schröder. Gerhard Schröder hat am 17. Februar 1999 in Vilshofen erklärt: „Ich stehe dafür, daß die Renten in Zukunft so steigen wie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer.“ Nur 126 Tage später erklärt der Kanzler in einem Interview: „Wir haben die Nettolohnformel für die nächsten zwei Jahre nur ausgesetzt.“ Die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland sind Menschen mit Lebenserfahrung. Sie wissen: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. ({2}) Gerhard Schröder steht mit seiner Politik des „Versprochen und nicht gehalten“ im übrigen nicht allein. ({3}) So erklärte beispielsweise der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rudolf Dreßler vor der Bundestagswahl: „Selbstverständlich wird die SPD die Senkung des Rentenniveaus weder akzeptieren noch tolerieren.“ Deshalb hat Ihr Ministerpräsident Klimmt gestern zu Recht angekündigt, gegen derartige Überlegungen zu stimmen und dagegen Front zu machen. Ich sage Ihnen eines: Dieser Rentenbetrug bleibt der Regierung wie ein Kainsmal auf der Stirn geschrieben. ({4}) Die 110 DM, die der Durchschnittsrentner pro Monat weniger erhält, sind heute schon angesprochen worden. Wenn man eine durchschnittliche Rentenbiographie - Einstieg ins Arbeitsleben mit 18 oder 19 Jahren und durchschnittliche Lebenserwartung - zugrunde legt, kann man den Verlust, der sich daraus ergibt, leicht hochrechnen. Man kommt dann auf einen Betrag von sage und schreibe 20 000 DM. Hätte jemand von Ihnen das den Rentnerinnen und Rentnern vor der Wahl gesagt, hätten Sie viel weniger Stimmen erhalten, als es der Fall war. Deshalb sagen wir: Das, was Sie gemacht haben, ist schäbig. ({5}) Um all dies zu vernebeln, wird jetzt eine chaotische Debatte angezettelt ({6}) und ein Zahlensalat angerichtet, so daß draußen keiner mehr durchblickt. Das dient der Vernebelung. Bei der Berechnung der Rentenstatistik wird manipuliert, und es werden ständig neue Modelle für eine tarifvertragliche Zusatzrente ins Gespräch gebracht. Der Rentenbericht der Bundesregierung, der endlich Klarheit bringen soll, wird auf den Sankt Nimmerleinstag im Spätherbst verschoben. Der Gipfel des Ganzen ist: Mit Steuergeldern in Höhe von 900 000 DM - so ist zu lesen - wollen Sie eine Werbekampagne starten, um Ihre gescheiterte Rentenpolitik bei den Wählern zu verkaufen. Dazu stelle ich fest: Bei den Rentnern zu sparen und bei den Werbeausgaben der Bundesregierung zu klotzen, das nenne ich unsozial und schlimm. ({7}) Für den Fall, daß Sie richtig hätten sparen wollen, hätte ich Ihnen sagen können, wo etwas zu holen gewesen wäre. Um diese Antwort wollen wir uns nicht drükken. Ihr Bundeskanzler hatte ja angekündigt, die Zahlungen an die Europäische Union zu senken. Auf Ihrem letzten Parteitag hat er gesagt: „Die Hälfte des Geldes, das in Europa verbraten wird, stammt aus Deutschland.“ Da hat er recht. Aber zurückgeholt und eingespart hat er nichts. ({8}) Auf dem Europagipfel in Brüssel hat er sich eine Niederlage geholt. Nachdem er zunächst sehr viel angekündigt hat, hat er nichts für Deutschland erreicht. Da wären Klaus Wolfgang Müller ({9}) Summen einzusparen gewesen, aber nicht bei den Rentnern. ({10}) Ich sage Ihnen noch eines: Nirgendwo in der Politik ist Verläßlichkeit und Vertrauen so nötig wie in der Rentenpolitik. ({11}) Diese rotgrüne Bundesregierung hat mehr angerichtet, als sich nur selbst zu schaden. Sie hat nämlich das Vertrauen der Rentnerinnen und Rentner nachhaltig beschädigt. ({12}) Das haben diese Generationen nicht verdient. Sie haben nicht verdient, daß ihr Vertrauen zerstört wird, und sie haben auch diese Bundesregierung nicht verdient. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort der Kollege Kurt Bodewig, SPD-Fraktion.

Kurt Bodewig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003051, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir heute hier erleben, ist schon eigenartig. Zuerst erlebten wir in der Fragestunde Ihre mangelnde Kreativität. Ich glaube, daß Ihre Nummer mit der tibetanischen Gebetsmühle Ihnen nicht zur Ehre gereicht. ({0}) Dann erleben wir hier in der Aktuellen Stunde die Fortsetzung Ihrer schauspielerischen Künste. Dazu kann ich nur sagen: Jede „daily soap“ hätte eine höhere Einschaltquote verdient als das, was uns heute von Ihnen dargestellt worden ist. Ich bin ganz froh, daß eine von Ihnen beantragte Aktuelle Stunde nur wöchentlich stattfinden kann und nicht täglich. ({1}) Ich glaube, die Zuschauer hätten das nicht verdient. ({2}) Jeder Schülertheater-Workshop hat eine höhere schauspielerische Qualität als Ihre Laiendarstellung. ({3}) Hätte Herr Hörster die Aktuelle Stunde ein bißchen früher beantragt, nämlich anderthalb Stunden früher, also zu dem Zeitpunkt, zu dem darüber gemunkelt wurde, hätten wir statt der anderthalb Stunden dauernden Fragestunde und Ihren permanent wiederholten Fragen zu demselben Thema Zeit für Sinnvolleres gehabt. ({4}) Jetzt komme ich zu einem anderen Punkt. Ich habe den Eindruck, als ob Sie einen partiellen Gedächtnisverlust hätten. ({5}) Sie tun so, als ob Herr Blüm die letzten 16 Jahre im Vorruhestand war. Ich erinnere Sie daran, daß die Arbeitslosen bei Ihnen mit 60 Jahren zwangsverrentet wurden. Das bedeutet einen Abschlag von der Rente in Höhe von 18 Prozent. Das sind reale Eingriffe in das Portemonnaie der Betroffenen. ({6}) Herr Storm ist mittlerweile wirklich in der Gefahr, seine Seriosität zu verlieren. ({7}) Sie werfen immer wieder neue Zahlen in die Debatte, und dann erhalten Sie von fachkundigen Menschen immer wieder eine Widerlegung. ({8}) Gestern war es der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, der gesagt hat, daß Ihre Zahlen falsch und die des BMA richtig sind. Heute hat dies die BfA deutlich gemacht. Wir haben von allen Rentenversicherungsträgern bestätigt bekommen, daß wir dauerhaft ein Rentenniveau von 67 Prozent sichern. ({9}) Sie haben von allen bestätigt bekommen, daß bei Ihnen, würden Sie noch das Sagen haben, das Rentenniveau systematisch auf 64 Prozent abgesenkt worden wäre. ({10}) Wir haben prinzipielle Kritik am demographischen Faktor. Das sage ich als jemand, der Anfang vierzig ist. ({11}) Die Kollegin Eckardt hat eben deutlich gemacht, daß sie das mit Anfang dreißig noch anders sieht. Erklären Sie einmal dem Zwanzigjährigen, warum ausgerechnet er derjenige sein soll, der neben Ihrer systematischen Absenkung seines späteren Leistungsanspruchs die heutige Rentenversicherung finanzieren soll! Wir gehen einen anderen Weg, und ich glaube, daß unser Weg richtig ist. ({12}) Wir wollen einen neuen Generationenpakt, einen Generationenpakt, der mehrere Beteiligte hat. ({13}) Danach leisten alle ihren Beitrag: die Rentner, indem sie zwei Jahre lang nur eine um den Inflationsausgleich erhöhte Rente erhalten - das ist etwas, was Sie in den letzten Jahren nicht geleistet haben -, und die junge Generation, der die Verantwortung für ihre Eigenvorsorge übertragen wird. Mit der Ökosteuer als drittem Instrument stabilisieren wir dauerhaft die Beiträge. Wir finanzieren damit so wichtige Dinge wie die von der Frau Kollegin Lotz angesprochene soziale Grundsicherung im Rentensystem. ({14}) Wir schaffen Sicherheit, Sie machen das Gegenteil. Mit Ihren Zahlenspielereien zerstören Sie systematisch das Vertrauen in die Rentenversicherung. Das ist ein sehr gefährliches Spiel. Es wird Ihnen auch nicht helfen, sondern schadet nur der Demokratie und der Kultur in unserer Gesellschaft. ({15}) Ihre Einschnitte hatten Wirkungen: zum einen auf das Rentenniveau, zum anderen auf die realen Rentenbezüge. Ihre Einschnitte waren katastrophal. Was Sie durch das WFG angerichtet haben, durch die Reduzierung der Anrechnung der Ausbildungszeit von sieben auf drei Jahre, macht sich bei den Betroffenen sichtlich im Portemonnaie bemerkbar. ({16}) Die Zwangsverrentung habe ich schon angesprochen. ({17}) All das wirkt sich konkret aus, währenddessen Sie hier eine abstrakte Diskussion führen. ({18}) Fakt ist: Die Rentner erhalten in den Jahren 2000 und 2001 mehr als in den Vorjahren. ({19}) In den letzten zehn Jahren erhielten die Rentnerinnen und Rentner sechsmal weniger, als der Preissteigerungsrate entsprochen hätte. ({20}) In den letzten fünf Jahren war dies viermal der Fall, nur 1994 nicht - interessant, daß es ein Wahljahr war. Das zeigt doch, wie durchsichtig Sie hier argumentieren. ({21}) Ich sage Ihnen: Wir sichern dauerhaft das Rentensystem; die Aussagen von VDR und BfA belegen dies. Wir schaffen Chancen für Jüngere; dies ist im Generationenpakt enthalten. Unser Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit ist ungeheuer erfolgreich. Das ist etwas, was Sie in den letzten 16 Jahren nicht einmal im Ansatz erreicht haben. ({22}) Mit einem solchen Zukunftspakt, an dem alle Generationen beteiligt sind, werden wir die Probleme, die Sie uns hinterlassen haben, lösen können. Vielen Dank. ({23})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt spricht der Kollege Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bodewig, Sie haben im Zusammenhang mit der Rentenversicherung von Gedächtnisschwund gesprochen. ({0}) Ich frage Sie: Wo ist die von Arbeitsminister Riester und von Ihnen vor der Wahl versprochene „Rente mit 60“ geblieben? ({1}) Davon spricht kein Mensch mehr. Wissen Sie, was ein Riester ist? Ein Riester ist die Geschwindigkeit, mit der die vor der Wahl versprochene „Rente mit 60“ zu „60 Prozent Rente“ nach der Wahl wird. ({2}) Das ist kollektiver Gedächtnisschwund. Als „unanständig“ hat Gerhard Schröder im 98er Wahlkampf die Rentenreform von Norbert Blüm bezeichnet; ({3}) unanständig, weil mit der demographischen Komponente eine be- und ausrechenbare Komponente für mehr Generationensolidarität in die mathematische Rentenformel eingearbeitet worden wäre. ({4}) Das ist eine Rentenformel, die vor Norbert Blüm gegolten hat, die auch während der Ministerzeit von Norbert Blüm gegolten hat und die unter Arbeitsminister Riester nicht mehr gelten soll. Nach Minister Riesters Vorstellungen sollen die Renten in den neuen Bundesländern im Jahr 2000 statt um 4,7 Prozent lediglich in Höhe des westdeutschen Inflationsausgleichs in Höhe von 0,7 Prozent steigen, ({5}) im Jahr 2001 statt der gesetzlich vorgeschriebenen 4,5 Prozent lediglich um 1,6 Prozent. ({6}) Damit wird den Rentnern Rente vorenthalten, und zwar denen im Osten mehr als denen im Westen. ({7}) Ab 2001 erhalten die Rentner in den neuen Bundesländern monatlich 142 DM Rente weniger. ({8}) Über ein Jahr Rentenbezug wird ihnen eine Monatsrente vorenthalten, und bei einer Rentenbezugsdauer von 17 oder 18 Jahren sind das 20 000 DM und mehr. ({9}) - Herr Kollege Dreßen, dafür bekommen dann die Rentner in den neuen Bundesländern wahrscheinlich ein Dankschreiben, in dem steht: SPD und Grüne bedanken sich für Ihren unfreiwilligen Sparbeitrag, den Sonderbeitrag für den Aufbau Ost. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie tatsächlich die Rentenerhöhung an die Inflationsrate binden, untergraben Sie auf Dauer das Vertrauen in die Verläßlichkeit der gesetzlichen Rentenversicherung, ({11}) und in den neuen Bundesländern koppeln Sie die Rentner von der allgemeinen Einkommensentwicklung ab. Rente ist dann nicht mehr ausrechenbar und kalkulierbar, ({12}) wenn die Erhöhung in den Jahren, in denen die Inflationsrate niedriger ist als die Nettolohnanpassung, entsprechend der Inflationsrate erfolgt, in den Jahren aber, in denen die Inflationsrate darüber liegt, auch nach der Inflationsrate berechnet wird. Das ist Willkür, ebenso wie die Heranziehung der Inflationsrate Willkür ist. ({13}) Sie könnten genausogut den Pegelstand des Rheins bei Köln oder die Zahlen vom Mittwochslotto nehmen. Es ist das die gleiche Unberechenbarkeit, die gleiche Willkür. ({14}) Herr Minister Riester, Sie haben vor einigen Wochen an dieser Stelle gesagt, daß in 6 Jahren unter Norbert Blüm die Rentensteigerungen immer unter der Inflationsrate geblieben sind, nur im Jahr 1994, in einem Wahljahr, sei es anders gewesen. Sie haben gefragt, ob das Zufall gewesen sei. Herr Riester, für diese Ungeheuerlichkeit müßten Sie sich eigentlich bei Norbert Blüm entschuldigen. ({15}) Denn Sie unterstellen Norbert Blüm genau das an Rentenmanipulation, was Sie selbst vorhaben. ({16}) Herr Minister Riester, Sie haben dabei unterschlagen, daß die Rentensteigerungen in den neuen Bundesländern immer über der Inflationsrate gelegen sind, weil die Lohnsteigerungen in den neuen Bundesländern immer höher gewesen sind als die Lohnsteigerungen in den alten Bundesländern, damit der Ausgleich zwischen Ost und West erreicht werden konnte. So betrug zum 1. Juli 1993 die Rentensteigerung Ost 14 Prozent, am 1. Juli 1994 3,45 Prozent, zum 1. Juli 1997 5,55 Prozent. Ohne Ihre Eingriffe würden im Osten im Jahre 2000 die Renten um 4,7 Prozent steigen und danach um 4,5 Prozent. ({17}) Herr Minister Riester, ist Ihnen nicht bekannt, daß für die meisten ostdeutschen Rentner die Monatsrente alles ist, daß die wenigsten Vermögen, Wohneigentum oder Sparguthaben haben, auf das sie zurückgreifen können? Für einen ostdeutschen Rentnerhaushalt beläuft sich dann ab dem Jahre 2001 die Belastung auf 280 DM weniger Rente. Dazu kommen 30 DM auf Grund der sogenannten Ökosteuer. Das sind summa summarum 310 DM, die einem Rentnerhaushalt in den neuen Bundesländern fehlen. Die Rentner in den neuen Bundesländern können darauf nicht verzichten. Herr Minister Riester, wenn Sie die Rentenerhöhung im Osten am Inflationsausgleich festmachen, unterbrechen Sie dauerhaft den Rentenaufholprozeß zwischen Ost und West. Dann müssen Sie den Rentnern im Osten sagen, daß diese nie Westniveau erreichen werden. Sie spalten dieses Land in Rentner erster und Rentner zweiter Klasse. ({18})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Wir sind in der Aktuellen Stunde.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Wenn er nicht so lang ist.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie dieses Land spalten, werden wir Ihnen das nicht durchgehen lassen. Die Rentner, die sehr bewußte Staatsbürger sind, werden auf dem nächsten Wahlzettel das Kreuz entsprechend machen. Sie werden abstimmen und werden sagen: Wir haben fertig mit der SPD. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun kommt die Kollegin Ute Kumpf, SPD-Fraktion.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde zu beantragen ist das gute Recht der Opposition. Ich habe aber gedacht, das würde sich auf einem etwas höheren Niveau abspielen. ({0}) Das wäre unseren Verdiensten adäquat gewesen. Ich hätte nicht erwartet, daß es Ausflüge in die Landwirtschaft gibt. Frau Schnieber-Jastram hat ja von Schweinerei geredet. ({1}) Wir sind doch nicht dazu da, hier sozusagen Schweinezucht zu betreiben und zu überlegen, welches Schwein wir in einer Woche wieder durch diesen Saal treiben können. Vielmehr sind wir dazu da, politische Lösungen und Konzepte vorzulegen. ({2}) Ich frage mich schon: Haben CDU/CSU und F.D.P. vielleicht in einem Workcamp bei Scientology gelernt, wie man 16 Jahre ausradieren kann? In relativ kurzer Zeit haben Sie gänzlich verdrängt, wie die politische Lage davor aussah. ({3}) Es ist eine schiere Frechheit, daß Sie hier von „Rentenmanipulation“ und „Rentenlüge“ reden und Protestaktionen ankündigen. Das ist Populismus hoch drei. ({4}) Wo bleibt Ihr christliches Gewissen? Sie wissen genau: Man soll nicht lügen. ({5}) Das gilt heute, wie es in den Jahren zuvor galt. ({6}) Außer demagogischer Wortakrobatik kam bisher nichts. Sie sind nicht nur die Antwort schuldig geblieben, wie Sie einen Generationenvertrag für die Zukunft, einen Pakt zwischen Jung und Alt, gestalten wollen, ({7}) sondern auch, wie Ihr trübes frauenpolitisches Auge wieder klar werden soll. Denn neben einem Generationenvertrag muß auch ein Vertrag zwischen Mann und Frau gestrickt werden, getreu dem Motto: Ganze Männer machen halbe-halbe. Wir wollen eine solche eigenständige Alterssicherung für Frauen gestalten. Wenn Sie ein bißchen mehr Geduld hätten und genauer hinschauen würden, was in dem Rentenpaket insgesamt steht, dann wüßten Sie, daß wir in Eckpunkten diese eigenständige Alterssicherung für Frauen formuliert haben. Aber Sie haben ja keine Geduld, darauf einmal einzugehen. Insofern wünsche ich mir schlichtweg mehr Redlichkeit und Kompetenz. ({8}) Wir sind verantwortlich, dem Bürger, was unsere politischen Konzepte angeht, Rede und Antwort zu stehen. Wir wollen unser Konzept zukunftsfest und armutssicher machen, wollen stabile Beitragssätze garantieren und für die eigenständige Alterssicherung von Frauen sorgen, auf die Frauen seit 16 Jahren warten. Sie haben sie 1991 verschaukelt, Sie haben sie 1992 verschaukelt. Wir Frauen warten schon lange darauf, aber bislang ist von Ihrer Seite kein konkreter Vorschlag gekommen. Sie wissen ganz genau, daß eine Frau mit dem berühmten „Eckrentner“ nicht zu vergleichen ist, weil sie 45 Beitragsjahre in der Regel nicht erreichen wird. Deswegen sind wir gehalten, für die Frauen Sicherung zu betreiben. Denn die Situation der Frauen sieht anders aus: niedrigere Erwerbsquote, höherer Anteil an Teilzeit, häufigere und längere Unterbrechung der Erwerbstätigkeit, immer noch geringere Verdienste, weniger Versicherungsjahre, ({9}) geringere durchschnittliche Entgeltpunkte und damit eine geringere Rente als Männer. Dafür müssen wir einen Ausgleich suchen. Frauen verlangen mit Recht ihr Recht auf eine eigenständige Alterssicherung und wollen nicht wieder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet werden. Wir wollen das im Rahmen dieses Rentenpaketes lösen. Wir werden das zügig angehen und haben dazu diese Punkte vorgelegt. Sie wissen ganz genau, daß wir neben dem Koalitionsvertrag, in dem diese Ziele formuliert sind - zur Mindestsicherung sind schon vorhin Ausführungen gemacht worden; hinzu kommt die eigenständige Alterssicherung für Frauen -, ein Wahlmodell für die zukünftigen Ehen verfolgen. Die Entgeltpunkte für diejenigen Versicherten, die Kinder unter zehn Jahren erziehen, sollen entsprechend dem Mindesteinkommen aufgewertet werden. Dadurch fördern wir die Teilzeitbeschäftigung von Eltern. Dies soll auch für Ehen gelten, die bereits geschlossen sind - und hoffentlich auch zukünftig halten -, also bei geltendem Recht weitergeführt werden. Ich fordere Sie auf: Zügeln Sie Ihre Zunge, strengen Sie Ihren Kopf an, und machen Sie eigene Vorschläge für die Alterssicherung der Frauen und für die Zukunftssicherung der Renten! Ich glaube, das wäre Ihrer Gehaltsgruppe adäquat. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSUFraktion.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde meine Zunge zügeln, aber dennoch in aller Deutlichkeit einiges in Ihre Richtung sagen, Frau Kumpf. Das ist ja vermutlich die letzte Rentendebatte hier in Bonn. Ich sage bewußt: vermutlich. Denn in den letzten Wochen haben wir ja gelernt, daß eigentlich jeden Tag etwas Neues aus Riesters Rentenkiste kommt. Aber ich bleibe einmal dabei: Es wird die letzte rentenpolitische Debatte hier sein. Ich kann Ihnen in aller Deutlichkeit drei Vorwürfe nicht ersparen. Der erste Vorwurf bleibt - als Schlußbilanz in Bonn -: Das, was Sie mit den Rentnern gemacht haben, ist Wählerbetrug. Es bleibt dabei, und es wird immer wieder gesagt werden. ({0}) Sie haben im letzten Bundestagswahlkampf all das, was mit der Reduzierung des Rentenniveaus zu tun hatte, als Rentenkürzung diffamiert. Heute reduzieren Sie das Rentenniveau. Die Rentner haben von Ihnen etwas anderes erwartet. ({1}) Wollen Sie einen Beweis? Der geschätzte Kollege Jochen Poß, mein Gegenpart in Gelsenkirchen, hat ein Jahr vor der Wahl in der Presse gesagt: Rentnern steht das Wasser bis zum Hals, rettet die Rente. Private Zusatzversicherungen sind nach Ansicht von Poß nicht der richtige Weg, hieß es. Die Leute haben daher etwas anderes von Ihnen erwartet. Heute machen Sie eine Rentenniveausenkung. Noch im Februar hatte Bundeskanzler Schröder das Gegenteil behauptet. Wenn man es sich realistisch anschaut, sind Sie eigentlich einen Schritt auf Blüms Reform zugegangen. Hier wäre ein Ansatz gegeben, zu gemeinsamen Positionen zurückzukehren; denn Sie haben die Position, die Sie vor der Wahl hatten, verlassen. Das will ich hier deutlich festhalten. Mein zweiter Vorwurf betrifft etwas, worüber man nicht mit sich reden läßt, denn das ist noch schlimmer: Es ist der Eingriff ins Rentensystem. Was Sie hier machen, ist die Abkehr von der Rentenformel. Sie haben die Dreistigkeit besessen ({2}) - ich kann Sie wirklich nicht verstehen -, das, was als Rentenformel, als Vertrauensformel bei den Rentnern bekannt ist, ins Gegenteil zu verkehren. Sie haben den Vergleich gezogen, daß die Rentensteigerung in den letzten beiden Jahren unterhalb der Inflationsrate geblieben sei und Sie in den nächsten beiden Jahren darüber hinausgingen. Sie streuen den Rentnern damit erneut Sand in die Augen. Das Wichtige am System ist die Lohn- und Beitragsbezogenheit der Renten und nicht der willkürliche Austritt aus der Systematik, den Sie wollen. ({3}) Wer das einmal macht, macht es je nach Kassenlage auch ein zweites Mal. Sie machen aus der Rentenformel als Vertrauensformel eine Willkürformel. Das ist mein Hauptvorwurf. Das müssen Sie ändern. ({4}) Kehren Sie zu anderen Instrumenten zurück. Bleiben Sie bei der Formel. Lassen Sie mit sich darüber reden, wie man auf lange Sicht die Rentensicherheit zwischen den Generationen herstellen kann. ({5}) Mein dritter Vorwurf ist der heute lange durchgekaute Vorwurf der Zahlentrickserei. Ich fordere Sie auf, Herr Arbeitsminister - wir hatten bisher keine Chance, an die Zahlen zu kommen -, uns eine Vergleichsrechnung vorzulegen. Wir möchten wirklich auf gleicher Basis Blüms Reform und Riesters Reform vergleichen. Heute haben Sie sich geweigert. Ich fordere Sie auf, uns den Vergleich zu ermöglichen. ({6}) Eines möchte ich noch festhalten: Riesters Modell ist ein Modell, das gebraucht wird, um in zwei Jahren nur die Inflationsrate auszugleichen. Sie haben zwischenzeitlich überlegt, ob das ein Jahr geschoben oder vielleicht halbiert werden soll. Jetzt haben Sie die schöne Formel des Inflationsausgleichs gefunden. Das läßt sich besser verkaufen. Es bleibt aber gegenüber der normal zu erwartenden Formel eine Reduzierung. ({7}) - Nein, keine Lebensstandardsicherung. Das ist eine massive Kürzung. In zwei Jahren bringen Sie die Rentner auf die Rutsche. Die haben von Ihnen, Herr Andres, etwas anderes erwartet. Riesters Modell ist ein Abkassiermodell für den Haushalt. Blüms Modell hatte einen Demographiefaktor und hat damit wirkliche Zukunftssicherung zwischen den Generationen geschaffen. ({8}) Sie haben die Chance, hier in Bonn zu sagen: Das, was wir gemacht haben, war nicht so gut; wir nutzen den Umzug nach Berlin und legen die Riester-Geschichte zur Seite, ({9}) stellen die Gehirne neu an und versuchen, zu einer Rentenreform zu kommen, die wieder auf eine breite Basis gestellt werden kann. ({10}) Denn diese Basis geht, wenn Sie diese Reform durchziehen, wirklich verloren. ({11}) Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Herrn Riester eine lange Regierungszeit. Ich bin sicher, wenn das so weitergeht, sind wir beim nächstenmal wirklich wieder dran. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Ulrike Mascher das Wort.

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich: Was wollen Sie von der CDU/CSU eigentlich? ({0}) Wollen Sie - um es auf Bayerisch zu sagen - den verbalen „Watschentanz“, den Herr Singhammer hier vorgeführt hat? ({1}) - Herr Ramsauer, ich bin in München geboren. Ich bin also - so glaube ich - berechtigt, hier als Bayerin zu sprechen. - Oder wollen Sie bei der Rentenpolitik den von Herrn Schäuble geforderten verantwortungsbewußten Konsens? - Sie müssen sich entscheiden. ({2}) Herr Storm, Sie müssen sich entscheiden, ob Sie in einer heftigen Debatte weiterhin Begriffe verwenden, die langsam die Grenze des Erträglichen überschreiten. Sie überschreiten die Grenze, indem Sie hier dem Arbeitsminister, dem Arbeitsministerium oder dem Parlamentarischen Staatssekretär immer wieder vorwerfen, Trickser und Täuscher zu sein. ({3}) Herr Storm, zumindest bisher waren Sie ein seriöser Fachpolitiker. Sie müßten also genau wissen, daß wir auf der Zahlenbasis des Statistischen Bundesamtes arbeiten, also auf der Zahlenbasis, auf der Ihr Hintermann - der ehemalige Bundesarbeitsminister Blüm - bisher auch gearbeitet hat. Was also Tricksen und Täuschen ist, fällt auf Sie zurück, wenn Sie diese Argumentation verwenden. ({4}) Wenn Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, Blüm sei besser gewesen als Riester, dann frage ich Sie, ob folgende Punkte wirklich besser waren: War es besser, die Höherbewertung der ersten Berufsjahre zu kürzen, also etwas zu tun, Frau Schnieber-Jastram, wodurch vor allem die Frauen mit niedrigem Einkommen getroffen werden? Oder war es wirklich besser, die Altersgrenzen für Frauen im Turbotempo anzuheben? Sie wissen aus vielen Diskussionen genau wie ich, daß das die Frauen empfindlich getroffen hat - viel empfindlicher als eine Anpassung zum Inflationsausgleich. ({5}) Ich frage mich, ob Sie angesichts der wildgewordenen Debatte verantworten können, daß es inzwischen Rentnerinnen und Rentner gibt, die anfragen, ob sie denn nur noch 67 oder 64 Prozent ihrer Rente bekommen. Ich sage hier ganz deutlich: Keine Rente wird gekürzt; es gibt vielmehr eine Rentenanpassung entsprechend der Preissteigerungsrate. ({6}) Das ist etwas, was in den letzten Jahren von der alten Bundesregierung nicht erreicht worden ist. Frau Schnieber-Jastram, ich bin seit 1990 Abgeordnete in diesem Bundestag. Ich frage Sie: Was hat die Bundesregierung getan, um eine eigenständige Alterssicherung der Frauen zu erreichen? ({7}) Was hat die Bundesregierung getan, um die Beitragssätze abzusenken? ({8}) - Nichts! Was hat die Bundesregierung getan, um die betriebliche Altersrente zu verbessern? ({9}) - Nichts! Was wäre bei dem Demographiefaktor von Herrn Blüm herausgekommen? ({10}) - Ohne eine soziale Flankierung mehr Armut bei den Alten. Was wäre herausgekommen? - Eine Niveauabsenkung ohne alle Verbesserungen der Altersvorsorge. ({11}) Um es ganz schlicht und einfach zu sagen: Bei Norbert Blüm hätte es durch seinen Demographiefaktor eine Niveauabsenkung gegeben; Walter Riester dagegen schafft durch seine zusätzliche Altersversorgung ein höheres Versorgungsniveau und mehr materielle Sicherheit im Alter. ({12}) Wir werden den Generationenkonflikt nicht schüren, sondern werden den Generationenpakt neu befestigen. Ich kann Sie nur auffordern: Kehren Sie zu einer sachlichen Rentenpolitik zurück und versuchen Sie mit uns einen Konsens, den Sie, Herr Blüm, 1996 mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungesetz aufgekündigt haben. ({13}) Wir sind zu Gesprächen bereit. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Die Aktuelle Stunde zur Situation im Kosovo entfällt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes parlamentarischer Beratungen - Drucksache 14/183 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung - Drucksache 14/516 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes - Drucksache 14/1147 ({2}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({3}) - Drucksache 14/1292 Berichterstattung: Abgeordnete Roland Claus Steffi Lemke Dieter Wiefelspütz Zum Koalitionsentwurf liegen drei Änderungsanträge der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktionen von F.D.P. und PDS jeweils fünf Minuten erhalten sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem erteile ich dem Kollegen Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion, das Wort. ({4}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sind herzlich eingeladen, im Saal zu bleiben, weil auch der jetzt aufgerufene Tagesordnungspunkt interessant ist. Aber wenn Sie schon die Debatte nicht verfolgen wollen, dann bitte ich Sie, die Gespräche nicht im Saal weiterzuführen. Bitte, Herr Kollege!

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Umzug des Deutschen Bundestages und des Bundesrates nach Berlin stellt sich auch die Frage nach der sogenannten Bannmeile neu. Ich gebe zu, es gibt sicher wichtigere Fragen; aber auch diese muß von uns beantwortet werden. Brauchen wir eine Bannmeile und, wenn ja, in welcher Form, oder reichen die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes aus, um die obersten Verfassungsorgane zu schützen? ({0}) Von den 17 deutschen Parlamenten haben elf eine Bannmeile, sechs haben keine. Die Erfahrungen der Parlamente in der Bundesrepublik Deutschland sowie in anderen Ländern - ich denke etwa an Frankreich haben gezeigt, daß sich sowohl der Verzicht auf eine Bannmeile als auch die Existenz einer Bannmeile jeweils bewährt haben. Die Diskussion um ein derartiges Gesetz spiegelt genau dies wider. ({1}) - Ich weiß nicht, ob Frankreich ein solches Gesetz hat, aber ich lasse mich von Ihnen gern belehren. ({2}) Einige wollen gar keine Bannmeile haben, andere verlangen eine sehr wehrhafte Regulierung. Es geht in der Tat um eine Güterabwägung: einmal des Schutzes des hohen Gutes der Versammlungsfreiheit und zum anderen des ungehinderten Zuganges zum Parlament und der Arbeitsfähigkeit des Parlamentes. Letzteres bedeutet die Arbeitsfähigkeit aller Parlamentarier, weshalb wir eigentlich eine Regelung finden sollten, die einen Konsens in diesem Hause ermöglicht. Wir meinen, daß mit unserer Vorlage dieser Konsens eigentlich möglich ist. Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf trägt beiden Interessen und Zielen, dem der Versammlungsfreiheit und dem der Arbeitsfähigkeit, Rechnung. Wenn wir es auf einen Nenner bringen, so haben wir uns an der Maxime orientiert: So viel Regulierung wie nötig, so wenig Einschränkungen wie möglich. Mit der Beschränkung auf das Notwendige genügt unser Entwurf auch der Rechtsprechung der Bundesverfassungsgerichts und des OVG Münster, wonach die Versammlungsfreiheit nicht beliebig relativiert werden darf. Ein wie auch immer genanntes Bannmeilengesetz muß den Wesensgehalt des Art. 8 des Grundgesetzes respektieren. Wir sehen dies in unserem Gesetzentwurf verwirklicht. ({3}) Im übrigen haben wir mit diesem Entwurf das Rad nicht neu erfunden. Natürlich lag uns bei der Erarbeitung unseres Entwurfs auch der F.D.P.-Entwurf aus der vorigen Legislaturperiode vor. Die Differenzen zwischen Ihrem Entwurf und unserem Entwurf sind so gering, daß Sie eigentlich frohen Herzens unserem Entwurf zustimmen sollten. ({4}) Meine Damen und Herren, ich komme nun zu den wichtigsten Punkten unseres Entwurfes und beginne mit etwas, was sicherlich wieder eine fröhliche Diskussion auslösen wird. Gleichwohl halten wir es für notwendig, die Frage des Begriffes zu erörtern. Wir halten den Begriff der Bannmeile, unter dem heute eine Verbannung der Bevölkerung verstanden wird, für nicht mehr zeitgemäß und für vordemokratisch. Wir wollen nicht die Bevölkerung verbannen, sondern einen befriedeten Bereich für die Arbeit des Parlaments schaffen, ({5}) was übrigens nicht heißt, daß die anderen Bereiche unfriedlich sein könnten. Dieses Ziel sollte sich auch im Namen ausdrücken. Deshalb sprechen wir von befriedeten Bezirken. Meine Damen und Herren, bei dem Platz der Republik, dem Platz vor dem Reichstag, geht es nicht um einen noch so schönen Rathausplatz, sondern um einen historischen Ort. Ich bitte Sie, auch daran zu denken. ({6}) Auf diesem Platz haben sich Hunderttausende zu Freiheitskundgebungen und anderen Anlässen versammelt. Das muß auch zukünftig möglich sein. Ich frage mich allerdings, ob wir weiterhin Hunderttausende auf die Beine bekommen, ohne daß es zu einer Love Parade ausartet. Gerade angesichts der Bedeutung dieses Platzes besonders für die Berliner Bevölkerung, an die man vielleicht auch einmal denken sollte, darf kein Eindruck entstehen, der auch nur annähernd etwas mit Verbannen zu tun haben könnte. Dies wäre fatal. Meine Damen und Herren, ich habe mich gewundert, als Herr Hörster bei der ersten Lesung die polemische Frage gestellt hat: Warum muß denn unbedingt innerhalb der Bannmeile demonstriert werden? Ich meine, diese Frage ist entlarvend, und sie drückt auch eine totale Unkenntnis der Geschichte dieses Platzes der Republik aus. ({7}) Meine Damen und Herren, wir haben eine enge Begrenzung des befriedeten Bezirkes vorgenommen, und zwar einerseits, weil wir so wenig Einschränkung wie möglich wollen, andererseits aber auch aus polizeitechnischen Erwägungen heraus. Ich freue mich übrigens, daß die Berliner Polizei dies richtig findet und auch unterstützt. Im übrigen glaube ich, daß hinsichtlich der Begrenzung dieses Raumes eigentlich kein Dissens vorhanden ist, obwohl es einige gab, die das Bundeskanzleramt, den Pariser Platz usw. mit einbeziehen wollten. Dies ist aber zum Glück vom Tisch. Meine Damen und Herren, so wenig Einschränkung wie möglich bedeutet allerdings auch, daß sich diese Einschränkung nur auf die Gewährleistung der Parlamentsarbeit beziehen darf. Deshalb wollen wir, daß das Versammlungsverbot faktisch nur dann ausgesprochen werden kann, wenn auch Parlamentsarbeit stattfindet. Mit anderen Worten: Wenn keine Sitzung des Parlaments oder seiner Gremien stattfindet, wird unser Gesetz Versammlungen nicht verhindern. Ein dritter Punkt, meine Damen und Herren. In Zukunft soll die Verletzung des befriedeten Bereiches nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit behandelt werden. ({8}) - Das ist nicht das Schlimmste. Ich glaube, das ist das Wesentlichste an diesem Gesetz. ({9}) Meine Damen und Herren, man kann es Abrüstung nennen. Man kann auch sagen: Laßt es uns tiefer hängen. Das ist aber nicht der einzige Grund. Ich glaube vielmehr auch - wiederum kann ich mich, was mich sehr erfreut, auf die Polizei berufen -, daß durch den Verzicht auf das Legalitätsprinzip und die Statuierung des Opportunitätsprinzips für die Polizei sehr viel flexiblere Möglichkeiten bestehen, was zu einer Deeskalation beitragen kann und hoffentlich auch beitragen wird. ({10}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen: Im Vorfeld dieses Gesetzes hat es viele Diskussionen und, wie ich gehört habe, auch eine kleine Anhörung gegeben. Viele Befragungen wurden durchgeführt. Wir hatten den Eindruck - dies ist kaum zu widerlegen -, daß unser Entwurf auf große Zustimmung stößt. ({11}) Eckhardt Barthel ({12}) Er ist faktisch eine Brücke zwischen den beiden Polen, die ich anfangs genannt habe. Ich würde mich freuen, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie mit über diese Brücke gehen würden. Ich bedanke mich. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Barthel, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses. ({0}) - Aber sie war sehr gut. Herzlichen Glückwunsch! ({1}) Nun erteile ich dem Kollegen Dr. von Stetten, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. - Es ist ganz bestimmt nicht Ihre erste Rede, Herr Kollege. ({2})

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotzdem würde ich mich freuen, wenn ich auch so ein Lob bekäme wie der Kollege. ({0}) Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits in der letzten Legislaturperiode die Verabschiedung eines neuen Bannmeilengesetzes angemahnt, um rechtzeitig vor dem Umzug nach Berlin auch dort den Schutz der Parlamentsarbeit zu gewährleisten und abzusichern. Die Verhandlungen zogen sich deswegen hin, weil die CDU/CSU bei einer so wichtigen Angelegenheit einen breiten Konsens über die Parteien hinweg erreichen wollte. Bei uns gab es keine Diskussion über die Frage, ob eine Bannmeile notwendig ist oder nicht. Herr Kollege Barthel, uns mit anderen Ländern, beispielsweise mit Frankreich, zu vergleichen ist sicherlich nicht möglich. - Herr Barthel, hören Sie gerade zu? - Nun gut, dann nicht. - In Frankreich schützt sogar das Militär das Parlament, wenn es sein muß, und zwar auf Grund einer einfachen Verordnung. Wir halten es für eine selbstverständliche demokratische Notwendigkeit, daß die Parlamentarier ungestört, ohne Druck von der Straße und ohne Demonstrationen, arbeiten können, und erinnern uns noch gut an die Blokkadesituationen in Bonn, bei denen ohne die Bannmeile ein Arbeiten von Parlamentariern nicht möglich gewesen wäre. Dies ist auch keine Einschränkung des Demonstrationsrechts, und, Herr Kollege Barthel, die Frage des Kollegen Hörster, warum gerade in der Bannmeile demonstriert werden solle und nicht in 99,9 Prozent der Bundesrepublik Deutschland, ist doch berechtigt. ({1}) Dies dient der Erhaltung der Regierungsfähigkeit und der Freiheit der Abgeordneten, auch in schwierigen Situationen freie Entscheidungen zu treffen. Nach der Wahl wurde deswegen im Geschäftsordnungs- und Immunitätsausschuß vereinbart, gemeinsam ein solches Gesetz zu erarbeiten und zu beschließen. Dazu ist es leider nicht gekommen. Die Koalition aus SPD und Grünen hat zwar diese Gespräche angekündigt, die Zusage aber nicht eingehalten. ({2}) - Stellen Sie doch eine Frage, anstatt dazwischenzureden. Vor 14 Tagen wurde ein fertiger Entwurf auf den Tisch gelegt, und dabei wurde erklärt, daß dieser aber nicht verhandlungsfähig sei, so nach dem Motto: Vogel friß oder stirb. Wir, die SPD, wollen zwar eine breite Mehrheit. Aber eure Meinung müßt ihr für euch behalten. Ihr könnt nur akzeptieren oder ablehnen. Das geht uns leider bei vielen Gesetzen so, die entweder dahingeschludert werden oder sehr schlecht sind, weil der kleinere Koalitionspartner, die Grünen, die Sozialdemokraten unter Druck setzt. Das Ganze hat irgendwie Methode und Parallelen zu den Wählern der rotgrünen Koalition vom 27. September 1998, deren Meinung nicht mehr zählt. Wir haben heute nachmittag die Debatte über die Renten gehabt. Sie fühlen sich schlichtweg um ihre Stimme betrogen. Die CDU/CSU-Fraktion will eine Bannmeile. Es ist auch nicht das Thema, ob dies nun Bannmeile oder befriedeter Bezirk heißt. Herr Kollege, das ist bei uns nicht in der Diskussion. Wichtig ist der Zweck. Auch die räumliche Ausdehnung, die wir in der Tat lieber etwas größer gesehen hätten, aber die mit den Sicherheitsbehörden abgestimmt ist, kann akzeptiert werden. Wir wollen aber, daß dieser befriedete Bezirk ein wirklich befriedeter Bezirk ist, und zwar bei allen Sitzungen des Bundestages und der Bundestagsgremien. Deswegen fordern wir, die Bestimmung des bisherigen § 3 des Bannmeilengesetzes wiederaufzunehmen und an die Stelle des etwas schwammigen und unverständlichen § 5 neuer Fassung zu setzen. Damit wollen wir sicherstellen, daß nicht nur die unmittelbaren Sitzungen, sondern auch die durch die Fraktionen organisierten Arbeitsgruppen und die vielfach in sitzungsfreien Zeiten durchgeführten Fachgespräche, Anhörungen, Vor- und Nacharbeiten zu den Sitzungswochen und Fraktionssitzungen geschützt werden. Es muß für alle Bürger unmißverständlich klar sein, daß Demonstrationen in diesem Bezirk die Ausnahme bilden und nicht die Regel. Das heißt, es darf keine Beweislastumkehr geben. Wir werden deswegen einen entsprechenden Antrag stellen. Eckhardt Barthel ({3}) Für viel gravierender halten wir jedoch die Herabzonung der Verletzung der Bannmeile von einer Straftat gemäß § 106 a StGB zu einer bloßen Ordnungswidrigkeit. Konnte die Verletzung bisher mit bis zu 6 Monaten Freiheitsstrafe und die Aufforderung, sprich: Aufhetzung zur Verletzung mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden, so ist diese ganz wichtige Differenzierung nun aufgehoben worden und alles zusammen zu einer bloßen Ordnungswidrigkeit degradiert worden. Wir sind der Meinung, daß schon sehr deutlich ein Unterschied gemacht werden müßte zwischen dem, der rechtswidrig zu einer solchen Tat auffordert, und dem, der als Verführter diese Tat ausführt. Ähnlich - nur vielleicht in einem anderen System - hat die F.D.P. ja auch votiert. Wir sind auch der Meinung, daß es geradezu eine Aufforderung an linke Autonome oder rechte Chaoten darstellt, es doch einmal mit der Verletzung des befriedeten Bezirks zu versuchen; denn es wird ja nur so geahndet, wie wenn man bei Rot über die Ampel fährt. Es ist auch eine Frage des Selbstverständnisses der Abgeordneten und ihrer Verantwortung gegenüber anderen Verfassungsorganen, wie sie mit den demokratischen Institutionen umgehen und ob sie wirksam gegen Gewalt, Erpressung, physische und psychische Störungen geschützt werden. Hier versagt die rotgrüne Koalition, insbesondere versagen die Grünen, die nur noch mit einem Herrn vertreten sind - Herrn Ströbele, der Gegner der Bannmeile ist -, wegen ihres sowieso gestörten Verhältnisses zum Staat, vor allem zum Gewaltmonopol. Eigentlich müßten die Grünen nach ihrem letzten Parteitag die Lehren gezogen haben, auf dem sie selbst einmal gespürt haben, wie es ist, wenn man in der Bewegungs- und Meinungsfreiheit behindert wird. Sie haben sicher ein gewisses Verständnis für uns, Herr Ströbele, wenn wir Schadenfreude nur mühsam unterdrücken konnten, als wir sahen, daß diejenigen, die früher zu den Oberstoßern und den Oberwerfern gehörten, diesmal selbst zu Gestoßenen und Beworfenen wurden. Das wollen wir vor dem Reichstag, vor dem Bundesrat und dem Bundesverfassungsgericht vermeiden. Deswegen wollen wir ein vernünftiges Gesetz. Wir werden daher den Antrag stellen, daß Art. 4 Abs. 2 ebenso ersatzlos aufgehoben wird wie Artikel 5 des Gesetzes, damit die alte Strafbewehrung des § 106 a StGB weiter gilt. ({4}) Für geradezu absurd halten wir den Kotau der Sozialdemokraten vor den Grünen mit der Befristung des Gesetzes bis zum 30. Juni 2003. Ein befristetes Gesetz trägt immer den Schein des Unrechts. ({5}) Das Gegenteil wäre richtig: nicht befristen, sondern nach drei oder vier Jahren überprüfen, ob es geändert werden muß. Praktisch richtig, aber rechtssystematisch sicher falsch ist der Trost der Sozialdemokraten: Ihr könnt dann ja mit eurer Mehrheit nach der Bundestagswahl 2002 die Befristung aufheben. - Wir werden das tun, weil wir dann die Mehrheit haben werden. Aber ich darf hinzufügen, daß wir - und mit uns wohl die Mehrheit der Wähler in Deutschland - der Meinung sind, daß diese in sich zerstrittene Koalition schon jetzt wieder reif ist, abgelöst zu werden. Aber das Sich-Klammern-andie-Macht hält zusammen. Herr Beck, Sie sind einer dieser Klammerer, ein Oberklammerer. ({6}) Es gibt ganz unterschiedliche Gesetze. Es gibt solche, die wirklich inhaltlich neu sind, wo man eine Erfolgskontrolle machen muß und wo die Erfolgskontrolle dann dazu führen kann, daß man in der Tat ein Gesetz abändert oder ganz aufhebt, und es gibt solche - denken Sie an das BGB oder an Strafgesetze! -, wo es natürlich absoluter Blödsinn wäre, jetzt ein Verfallsdatum einzubauen. Das würde nur dazu führen, daß man Gesetze noch weniger gut berät oder daß die Verwaltung … nicht mehr weiß, was sie tun muß. Ich bitte jetzt um Entschuldigung: Ich habe nicht angekündigt, daß ich ein Zitat gebracht habe. Diese Sätze sagte wörtlich die heutige Justizministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin, damals noch stellvertretende SPDVorsitzende und Obfrau im Rechtsausschuß, am 8. Januar 1997 im Rundfunk, und wo sie recht hat, hat sie recht. Ich wiederhole: … denken Sie an das BGB oder an Strafgesetze …, wo es natürlich absoluter Blödsinn wäre, jetzt ein Verfallsdatum einzubauen. Das würde dazu führen, daß man Gesetze noch weniger gut berät … „Wie wahr, wie wahr!“ würde ich der Ministerin zurufen, wenn sie da wäre. Wir werden deswegen beantragen, daß dieses Verfallsdatum ersatzlos gestrichen wird, und wären dankbar, wenn die Aufrechten in der SPD - auch die sitzen hier - dem zustimmen würden. Das würde unsere Zustimmung zu dem Gesetz erleichtern. ({7}) - Ich habe Sie nur angeguckt, Herr Kollege. ({8}) Die zwei wichtigsten Arbeitsgruppen der CDU/ CSU - ({9}) - Ich habe Sie fixiert? ({10}) - Gott sei Dank ist das vorbei; reden wir im Ausschuß darüber. ({11}) Die Arbeitsgruppe für Recht und die Arbeitsgruppe für Inneres der CDU/CSU-Fraktion haben Ihren Gesetzentwurf, den wir schlichtweg nur als Mogelpackung bezeichnen können, abgelehnt; ihre Mitglieder haben in den Ausschüssen dagegen gestimmt. Wir wollen eine Bannmeile in Berlin um den Reichstag und um den Bundesrat am Potsdamer Platz und natürlich auch um das Verfassungsgericht in Karlsruhe. Wir wollen eine Lösung, die sich in Bonn und Karlsruhe bewährt hat; sie sollte nicht ohne Not - nur weil Sie als SPD mit den Grünen nicht zu Rande kommen - aufgegeben werden. Wir bitten daher um Zustimmung zu unseren Änderungsanträgen. Dann stände einer breiten Mehrheit für das Gesetz nichts im Wege. ({12}) Danke schön. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Hans-Christian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Gesetzentwurf geht von der Vorstellung aus, daß die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland nach 50 Jahren erwachsen und reif geworden ist ({0}) und daß sich dieses Parlament, wenn es nach Berlin umgezogen sein wird, nicht besonders vor der Bevölkerung Berlins oder den nach Berlin Angereisten schützen will und muß. Wir meinen, daß die Bevölkerung ein Recht darauf hat, auch auf der Straße durch Versammlungen und Demonstrationen ihre Abgeordneten zu beeinflussen und ihre Meinung kundzutun. Das sollen nicht nur die auch hier in Bonn in nahen Büros als Lobbyisten Tätigen tun können, die möglichst jeden Tag, in jeder Stunde mit viel Schriftlichem und Mündlichem die Abgeordneten zu beeinflussen und auf ihre Seite zu ziehen versuchen. Diese Möglichkeit soll auch die Bevölkerung haben. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem eine Bannmeile nicht mehr vorgesehen ist, wie sie in Bonn bis heute existiert. Wir verfolgen mit unserem Gesetzentwurf einen zweiten Grundgedanken. Wir wollen nicht, daß der Bevölkerung durch ein Gesetz verboten wird, auf dem Platz der Republik - darauf ist bereits hingewiesen worden -, auf einem der berühmtesten Plätze in Deutschland, auf dem nach dem Krieg große Demonstrationen für die Freiheit mit Ernst Reuter oder Willy Brandt stattgefunden haben, zusammenzukommen, zu demonstrieren, die Meinung kundzugeben und von ihm aus freiheitliche Signale rund um den Erdball zu senden. Das wollten wir nicht. Das Wort „Verbot“ finden Sie in unserem Gesetzentwurf nicht mehr. Wir wollen - ich denke, das ist ein richtiger und wesentlicher Schritt hin zu mehr Freiheit und auch zu mehr Selbstbewußtsein dieses Parlaments; es ist das Gegenteil von dem, was Sie erreichen wollen; man hat manchmal den Eindruck, daß Sie sich vom Volk umzingelt fühlen und Angst vor ihm haben - Demonstrationen und Kundgebungen immer dann zulassen - so steht es in unserem Gesetzentwurf -, wenn keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß die Arbeit des Parlaments behindert werden könnte. Das ist eine freiheitliche Regelung. Damit wird das Demonstrationsrecht, das Recht der Bevölkerung auf Meinungskundgabe, ernst genommen. Wir wollen Übertretungen der Zulassungsbeschränkung lediglich als Ordnungswidrigkeit geahndet wissen. Die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit liegt in der Disposition der Ordnungsbehörden, das heißt, daß sie nicht einschreiten müssen, wenn drei Behinderte vor dem Reichstag ein Schild hochhalten, was sie nach dem geltenden Gesetz tun müßten; denn damit ist das eine Demonstration im Bannkreis und somit eine strafbare Handlung. Wir wollen der Polizei wie bei allen anderen Ordnungswidrigkeiten einen Ermessensspielraum zubilligen, zu entscheiden, ob sie einschreitet. Aber sie soll nicht mehr durch Gesetz zum Einschreiten gezwungen sein. Sie soll im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Deutschen Bundestages die Entscheidung zum Einschreiten fällen. Nach unserem Gesetzentwurf werden Demonstrationen nicht nur in der sitzungsfreien Zeit, sondern auch zu anderen Zeiten in der Nähe des Reichstags und auch auf dem Platz der Republik stattfinden. Ich freue mich auf die vielen friedlichen Demonstranten, die uns bei vielen wesentlichen Entscheidungen, die wir treffen müssen, ihre Meinung mit auf den Weg geben - zur freien Beurteilung durch die Abgeordneten. Deshalb machen wir dieses Gesetz. Weil wir sicher sind, daß die Erfahrungen mit diesem Gesetz, mit der Bevölkerung und mit der Demonstrationskultur in Berlin positiv sein werden, werden wahrscheinlich am Ende dieser Legislaturperiode überhaupt keine Sonderregelungen mehr nötig sein. Wir werden die Erfahrung gemacht haben, daß die Strafgesetze und das Versammlungsgesetz völlig ausreichen. Wenn das zutrifft, dann hat sich unser Gesetz selber überflüssig gemacht. Dieses Ziel steht im letzten Teil unseres Gesetzentwurfes. Ab dem Jahre 2003 gibt es überhaupt keine Beschränkung mehr. ({1}) Das ist ein wesentlicher, richtiger Schritt hin zu mehr Demokratie, zu mehr Mitbestimmung und zu mehr Möglichkeiten der Bevölkerung, auf die Abgeordneten Einfluß zu nehmen. Dafür stehen wir. Deshalb wollen wir dieses Gesetz verabschieden. Das tun wir heute mit Mehrheit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion freut sich, daß heute eine Regelung gefunden wird, die weitgehend ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Der aus dem Bundestag ausgeschiedene Kollege Dr. Burkhard Hirsch hat sich in der Frage der Bannmeilenregelung besonders engagiert. Ich möchte ihm hier ausdrücklich dafür danken, daß er Denkanstöße gegeben hat, die im Hause - das zeigt die heutige Debatte - großen Widerhall finden, ({0}) nämlich die Überlegung, ob die bisher in Bonn praktizierte Bannmeilenregelung nicht zu starr ist. Wir alle hatten häufig ein schlechtes Gewissen, wenn wir zum Beispiel im Immunitätsausschuß mit Strafverfahren befaßt waren. Als ich in den Bundestag eingezogen bin, habe ich gesehen, daß die Fälle, in denen es große Zustimmung für Demonstranten gab und in denen außer gegen die Bannmeilenregelung gegen kein anderes Strafgesetz verstoßen wurde, anders als andere gehandhabt wurden. Das wurde dann akzeptiert, so will ich einmal vorsichtig sagen. Es gab aber auch Demonstranten, die diesen politischen Rückhalt nicht hatten und bei denen das Legalitätsprinzip in voller Wucht Anwendung fand. Als jemand, der aus der Justiz kommt und der sich daher sehr intensiv der Gerechtigkeit verpflichtet fühlt, habe ich dabei ein sehr ungutes Gefühl gehabt. Ich muß sagen, es gefällt mir jetzt sehr gut, daß wir in Zukunft besser abwägen können und daß wir das, was wir an Eingriffen vornehmen, auf das Notwendigste beschränken. Ich glaube, daß der Weg, den wir jetzt gehen, gut ist. Herr Ströbele, ich widerspreche Ihnen: Die Überlegung, ob möglicherweise das allgemeine Polizeirecht ausreicht, ist natürlich heranzuziehen. Für mich war die Asyldebatte - ich war bei dieser Debatte Verhandlungsführer meiner Fraktion - der entscheidende Punkt, an dem ich gemerkt habe, daß wir ohne eine Regelung, die einen Abstand vom Parlament gewährleistet, nicht auskommen werden. Die damaligen Vorgänge haben gezeigt, daß selbst diejenigen Kollegen, die damals gegenüber dem neuen Asylrecht kritisch eingestellt waren - ich erinnere an Professor Ullmann -, in einer unglaublichen Weise bedrängt wurden. Dem Kollegen Ullmann wurde sogar die Rede zerrissen. Er ist damals ohne sein gegen die Asylrechtsänderung verfaßtes Redemanuskript im Bundestag angekommen. Stellen Sie sich bitte vor, daß alles das, was wir damals an der Bannmeile erlebt haben, hier unmittelbar vor unserer Tür geschehen wäre. Diese Vorstellung macht deutlich, daß wir eine solche Bannmeilenregelung brauchen. ({1}) Ich bin deshalb anderer Auffassung als Sie, Herr Ströbele. Sie haben gesagt: Wir werden sie nicht brauchen. Daher wundert es mich, daß Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen. Denn wenn Sie diese Gewißheit haben, dann müssen Sie diesen Gesetzentwurf heute ablehnen. Das ist nun einmal so.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege van Essen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, geben Sie mir recht, daß die Polizei Sie an derselben Stelle, an der Sie bei der damaligen Debatte durch die Bannmeile geschützt wurden - ich kenne die Einzelheiten nicht -, allein auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes, wie es überall in der Bundesrepublik Deutschland gilt, genauso hätte schützen können? Auch ohne Bannmeile hätte die Polizei 1 Kilometer, 3 Kilometer, 300 Meter oder 500 Meter vor dem Parlament absperren können. Das macht doch keinen Unterschied. Dazu braucht man doch kein spezielles Gesetz. Dazu reichen die Möglichkeiten des Versammlungsgesetzes. Oder sehen Sie das anders?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ströbele, ich sehe das anders. Gerade die Asylrechtsänderung wurde in unserem Lande außerordentlich kritisch diskutiert. Wenn die Polizei damals beispielsweise einen Kordon gezogen hätte, dann hätte sie sich vielfältigen Fragen ausgesetzt gesehen. In diesem Zusammenhang wäre selbstverständlich der Rechtsweg beschritten worden. Wir kennen das von entsprechenden Verfügungen. Ein solches Vorgehen hätte dazu führen können, daß wir keine gültige polizeirechtliche Verfügung gehabt hätten, zum Beispiel weil der Rechtsweg noch nicht vollständig ausgeschöpft worden war. Dadurch, daß wir eine Bannmeilenregelung hatten, konnte sich die Polizei darauf berufen und eine klare Grenzziehung vornehmen. Das ist ein Vorteil, dessen wir uns nicht begeben sollten. Ich bin dem Kollegen Wiefelspütz dankbar, daß er in der Debatte des Geschäftsordnungsausschusses gesagt hat, daß der F.D.P.-Entwurf, der als erster eingereicht worden ist, in vielen Punkten Inspiration für den Entwurf der Koalition gegeben hat. Ich will aber deutlich machen, warum wir dem vorliegenden Gesetzentwurf - letztendlich aus drei Gründen - nicht zustimmen werden. Erstens. Wir können einer Befristung nicht zustimmen. Ich habe hier mit Nachdruck ausgeführt, warum wir eine Bannmeilenregelung für notwendig halten. Wir sind zwar dafür, Erfahrungen zu prüfen; aber das macht keinen Sinn - das ist unsere Auffassung -, wenn das Ergebnis von vornherein feststeht. Warum läßt man sich überhaupt noch einen Bericht geben, wenn man schon zuvor bestimmt, daß das Gesetz ausläuft, wenn dies mit der Begründung geschieht, die Herr Ströbele hier gegeben hat, man werde feststellen, daß es überflüssig ist? Damit nimmt man das Ergebnis der Überprüfung vorweg. Deswegen können wir uns einer solchen Befristung nicht anschließen. Zweitens. Wir möchten gerne, daß das Präsidium des Deutschen Bundestages über die Zulassung von Demonstrationen entscheidet. Wir möchten das deswegen, weil das Gesetz dem Schutz der parlamentarischen Beratungen dienen soll. Wir sollen geschützt werden. Deshalb möchte ich, daß wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages darüber entscheiden. ({0}) Ich möchte nicht, daß wir die Entscheidung an die Polizei abgeben. Ich kann mir vorstellen, daß die Polizei einen Sachverhalt aus polizeitaktischen Gründen sehr viel enger sehen wird als wir Politiker, weil wir es gewöhnt sind, daß man sich mit uns kritisch auseinandersetzt, und weil wir bereit sind, das eine oder andere Risiko einzugehen. Deshalb möchte die F.D.P.-Bundestagsfraktion, daß das Präsidium, das mehr Mut hat, mehr Mut haben kann, die letztendliche Entscheidung trifft. Diese Entscheidung soll es im Benehmen mit dem Innenminister treffen, denn es müssen natürlich dabei auch polizeiliche Erkenntnisse berücksichtigt werden. Aber die letztendliche Entscheidungsvollmacht in dieser Frage soll beim Präsidium des Deutschen Bundestages liegen. Es gibt einen letzten Punkt, bei dem man leider nicht auf unsere Vorschläge eingegangen ist. Wir sind zwar wie die Koalition der Auffassung, daß ein Verstoß gegen das Gesetz als Ordnungswidrigkeit geahndet werden soll, weil dann das Opportunitätsprinzip gilt, nach dem die Polizei lageangemessen entscheiden kann, und nicht mehr das Legalitätsprinzip, gemäß dem sie verfolgen muß. Wir möchten aber, daß die Hintermänner, die alles steuern und die Leute aufwiegeln, auch in Zukunft als Straftäter bestraft werden können. ({1}) Das sind drei wesentliche Punkte, die wir im Gesetz leider nicht wiederfinden und die letztlich dazu führen, daß wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Roland Claus von der PDS-Fraktion das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu dem jetzt vorliegenden Ergebnis nach den Beratungen in den Ausschüssen läßt sich sagen: Sie haben mit Ihrer Mehrheit die Bannmeile umbenannt, aber Sie haben sie nicht verbannt. Wir haben damit insgesamt als Parlament, wie wir finden, eine Chance vertan. Wir ziehen nach Berlin um und schränken als erstes das Versammlungsrecht der Berlinerinnen und Berliner ein. Jenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, denen wir noch bei der Reichstagseröffnung zugerufen haben, daß sie uns willkommen sind und daß wir mit ihnen in einen Dialog eintreten wollen, setzen wir erst einmal eine Einschränkung des Versammlungsrechts vor die Nase. Das kann unsere Zustimmung nicht finden. ({0}) Dennoch wollen natürlich auch wir nicht verkennen, daß die jetzige Beschlußempfehlung bedeutende Fortschritte gegenüber der Bonner Bannmeilenregelung mit sich bringt. Diese sind aus unserer Sicht durchaus anerkennenswert. Es reicht uns aber nicht aus, um hier zuzustimmen. Wenn Sie, Herr Kollege Ströbele, an wen auch immer die aus meiner Sicht sehr begrüßenswerte Botschaft richten, daß sich das Ganze im Jahre 2003 erledigt haben kann, sollten spätestens die Zwischenrufe, die Sie von Ihren Kollegen Koalitionspartnern hier bekommen haben, klargemacht haben, daß eine solche Äußerung ein frommer Wunsch ist und mit den Realitäten - auch in dieser Koalition - im Moment leider nichts zu tun hat. ({1}) Insofern empfinden wir dieses Gesetz als einen Anachronismus mitten in der Bundeshauptstadt, der auch nicht zu Europa paßt, insbesondere angesichts der Tatsache, daß es Bannmeilen bekanntlich nur in vier westeuropäischen Demokratien gibt - die anderen Staaten sind Belgien, Großbritannien und Österreich, über die hier schon gesprochen wurde - und daß in den neuen Ländern, wo ja die jüngsten Landtage agieren, sich nur ein einziger Landtag, nämlich der in Thüringen, für die Einführung einer Bannmeile entschieden hat. Dazu ist aus unserer Sicht nur zu sagen: Sie haben eben nicht verstanden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, klar.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, geben Sie mir recht, daß Sie auch heute, ohne daß ein solches Gesetz in Berlin gilt - es ist ja noch nicht in Kraft -, bei der Polizei anmelden müssen, wenn Sie vor dem Reichstag demonstrieren wollen - die Baustelle müßte man sich wegdenken -, und die Polizei dann abwägen dürfte und müßte, ob dieJörg van Essen ses Vorhaben angemessen und richtig ist und ob höhere Interessen gefährdet sind, und möglicherweise auch ein Verbot erlassen oder Auflagen verlangen könnte? Worin sehen Sie den Unterschied zu der Anmeldung, die schon heute gefordert ist, und der Anmeldung zur Zulassung, die Sie nach dem vorliegenden Gesetz vornehmen müßten?

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich gebe Ihnen da gerne recht, Herr Kollege. Aber: ich will nur darauf verweisen, daß es beim Bannmeilengesetz immerhin um eine Einschränkung des Versammlungsrechtes geht. Ich möchte Sie dann noch darauf hinweisen, daß die mir gestellte Frage in ihrer Logik genau diametral der Frage gegenübersteht, die Sie Herrn Kollegen van Essen vorhin gestellt haben. Wir wollen Ihnen einen Vorschlag machen, meine Damen und Herren. Schicken Sie allen Berliner Haushalten den Sitzungsplan des Bundestages zu und schreiben Sie einen freundlichen Text dazu, etwa in der Art: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, meiden Sie an rot und blau markierten Wochentagen das Zentrum in Reichstagsnähe. Es sind ja nur 100 Tage im Jahr. Verstehen Sie uns nicht falsch: Als Ihre Volksvertreter wollen wir für das Wohl des Volkes sorgen, von ihm aber nicht gestört werden.“ ({0}) Sagen Sie den Berlinerinnen und Berlinern bitte noch etwas - dieser Punkt gehört auch zur Wahrheit -: Die Rasenflächen vor dem Reichstag sind zwar sogenannte Ausgleichsflächen für die Bautätigkeit von Parlament und Regierung, aber sie liegen innerhalb der Bannmeile und können damit für den Ausgleich nicht herangezogen werden. ({1}) Wir werden mit den praktischen Folgen noch zu tun haben; Sie werden sich noch mit ihnen auseinandersetzen müssen. Sie haben eine weitere Folge nicht hinreichend bedacht: ({2}) Bei der Anwendung der Regeln für den befriedeten Bezirk werden Sie die zentrumschneidende Ost/WestAutomagistrale lahmlegen. Zum Schluß will ich Ihnen noch sagen: Sprache ist oft entlarvend. Sie nennen die Bannmeile jetzt befriedeten Bezirk. Das Wort „befrieden“ stammt aus der Kolonialzeit und meint sinngemäß - wohlgemerkt: im Sinne der Kolonialherren -, den Wilden Benimm beizubringen, und das vorwiegend durch Androhung und Ausübung von Gewalt. ({3}) Man muß in diesem Zusammenhang die Frage stellen: Was ist denn das Gegenteil von befriedetem Bezirk? Das sind unbefriedete Bezirke. Wer also befriedete Bezirke will, hält demnach die übrige Stadt für unbefriedet. Insofern ist Ihre Umbenennung eine Art sprachliche Vermummung, die Sie mit der Öffentlichkeit treiben. Deshalb unser Gegenvorschlag: Nehmen Sie das PDS-Gesetz zur Aufhebung der Bannmeile an. Das wäre, nebenbei gesagt, ein guter Beitrag des Deutschen Bundestages zur Berliner Love-Parade in zehn Tagen; das dürfte doch auch so recht im Interesse unseres an Pop-art interessierten Kanzlers liegen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Erika Simm von der SPD-Fraktion das Wort.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gerade vor dem Hintergrund des letzten Beitrages möchte ich auf die Diskussion eingehen, ob eine Bannmeile grundsätzlich zulässig sei. Ich habe nämlich den Eindruck, daß hier zum Teil in einer Art und Weise diskutiert wird, als gehe es um die Grundfesten der Demokratie. Ich plädiere stark dafür, die ganze Diskussion niedriger zu hängen. ({0}) Wenn ich in dem Entwurf der PDS lese, daß „die Bannmeilenregelung die für die Demokratie lebensnotwendige Kommunikation zwischen Wählern und Gewählten“ behindert, ({1}) dann denke ich, daß man sich ein bißchen versteigt. ({2}) Man mißt dieser Frage eine Bedeutung zu, die sie objektiv nicht hat. ({3}) Demonstration ist ja im Regelfall kein Kommunikationsprozeß, sondern eher eine einseitige Meinungsäußerung. Es ist daher sehr fraglich, ob die Adressaten diese überhaupt unmittelbar wahrnehmen. Im Zweifel tun sie dies nur vermittelt über die Medien. Der Diskurs zwischen Wählern und Gewählten findet regelmäßig bei anderen Gelegenheiten und an anderen Orten statt. Völlig absurd finde ich die Vorstellung, die Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichtes und seiner Entscheidungen werde wesentlich dadurch mitbestimmt, daß man zu jeder beliebigen Zeit in beliebiger Nähe des Gerichtsgebäudes demonstrieren könne. ({4}) Im übrigen hat die Rechtsprechung im Rahmen von Urteilen der Gerichte verschiedenster Instanzen mehrfach entschieden, daß das Versammlungsrecht durch Regelungen für geschützte Bereiche von Verfassungsorganen zulässigerweise eingeschränkt werden kann. Nicht umsonst steht Art. 8 des Grundgesetzes unter Gesetzesvorbehalt. Dieser Vorbehalt ist nicht zuletzt im Hinblick auf das mögliche Erfordernis von Bannmeilenregelungen in das Grundgesetz aufgenommen worden. Ich bin der Meinung, es handelt sich hier um eine Frage, die in erster Linie praktische Bedeutung hat. Sie sollte vor dem Hintergrund der Schutzbedürfnisse der Verfassungsorgane beantwortet werden. Da können wir feststellen, daß wir einen breiten Konsens haben: Das Bundesverfassungsgericht möchte eine solche Regelung, der Bundesrat möchte eine solche Regelung, und die Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages möchte eine solche Regelung. Dem haben wir in einer Art und Weise Rechnung getragen, die der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Einschränkung des Versammlungsrechts in, wie ich meine, vollem Umfang gerecht wird. Es ist ein ausgewogener Gesetzentwurf, der Ihnen jetzt zur Annahme empfohlen wird. In den Grundzügen haben wir, wie hier mehrfach gesagt worden ist, mit der F.D.P. vieles gemeinsam. Ich verstehe nicht so ganz, Herr van Essen, warum die Hürde für eine Zustimmung für die F.D.P. so hoch ist. Ihre Argumente überzeugen mich nicht. ({5}) Was die Regelung der Entscheidungsbefugnisse bei Ausnahmegenehmigungen angeht, haben wir vorige Woche das dringende Ersuchen des Bundestagspräsidenten übermittelt bekommen, ihm diese Entscheidung nicht zu übertragen. Der Vertreter des Bundesrates hat expressis verbis gesagt, das Präsidium des Bundesrates sei dafür ein ungeeignetes Gremium; das sei überhaupt nicht praktikabel, denn dieses Präsidium aus Ministerpräsidenten sei kein ständiges Gremium. Deshalb würde sich der Abstimmungsprozeß sehr schwierig gestalten. Auch die unterschiedliche Einstufung von Gesetzesverstößen - einmal Ordnungswidrigkeit, einmal Straftat - haben wir in zwei Ausschüssen erörtert. Das hat, außer bei der F.D.P., eigentlich nirgends besondere Begeisterung ausgelöst und ist überall auf rechtsdogmatische Bedenken gestoßen. Es wäre also möglich, daß die F.D.P. dem Gesetzentwurf der Koalition zustimmt. Aber darüber und über die Begründung einer eventuellen Ablehnung entscheiden Sie natürlich selber. Ich möchte noch einen Satz zu der Frage Befristung und Berichtspflicht sagen. Als Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses habe ich im Ausschuß Zustimmung zu meiner Anregung gefunden, daß sich dieser Ausschuß in dieser Legislaturperiode intensiv mit Fragen der Gesetzesfolgenabschätzung beschäftigen sollte. Unter diesem Aspekt finde ich die hier getroffene Regelung für beide Fragen sehr positiv. ({6}) Denn auch die Befristung ist ein - wenn auch unter Fachleuten durchaus kontrovers diskutiertes - Mittel der Gesetzesfolgenabschätzung. Ich finde es ganz gut, daß wir hier Gelegenheit haben, auch damit Erfahrungen zu sammeln. Zum Schluß möchte ich es nicht versäumen, den Mitgliedern aller Fraktionen des Geschäftsordnungsausschusses sehr herzlich dafür zu danken, daß sie es - indem sie keine Geschäftsordnungsanträge gestellt haben, die das verhindert hätten - ermöglicht haben, daß wir heute in zweiter und dritter Lesung über dieses Gesetz entscheiden und eine Regelung schaffen, bevor wir nach Berlin umziehen. Ich denke, es hätte schlecht ausgesehen, wenn der Bundestag hier nicht rechtzeitig zu einer Entscheidung gefunden hätte. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes, Drucksachen 14/1147 und 14/1292 Nr. 1. Es liegen drei Änderungsanträge der CDU/CSU-Fraktion und ein Änderungsantrag der F.D.P.-Fraktion vor, über die wir zunächst abstimmen. Wir fangen mit den Änderungsanträgen der CDU/ CSU-Fraktion an. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/1317? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen aller anderen Fraktionen als denen der CDU/CSU abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/1318? ({0}) Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Änderungsantrag mit gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/1319? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit wiederum gleichem Stimmenergebnis abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der F.D.P.-Fraktion auf Drucksache 14/1330? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion und einiger Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion sowie Enthaltungen anderer Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. ({1}) Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und einiger Stimmen aus der CDU/CSUFraktion gegen die Stimmen der anderen Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und der PDS-Fraktion angenommen. - Das war die zweite Beratung. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Lesung angenommen. Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der F.D.P. zur Neuregelung des Schutzes parlamentarischer Beratungen auf Drucksache 14/183. Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 14/1292 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion auf Drucksache 14/183 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und einiger Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltungen der anderen Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. ({2}) Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf der Fraktion der PDS zur Aufhebung der Bannmeilenregelung auf Drucksache 14/516. Der Aus- schuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- nung empfiehlt auf Drucksache 14/1292 unter Nr. 3, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetz- entwurf der PDS auf Drucksache 14/516 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen, den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der Frak- tion der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eben- falls die weitere Beratung. Wir sind damit am Ende des Abstimmungsverfahrens zu diesem Tagesordnungs- punkt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a und 6b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neuregelung zum Schlechtwettergeld noch in dieser Winterperiode - Drucksache 14/1215 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuß b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Ruth Fuchs und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes - Drucksache 14/39 ({4}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5}) - Drucksache 14/1230 Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Gilges Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Klaus Wiesehügel von der SPD-Fraktion das Wort. ({6})

Klaus Wiesehügel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003263, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Durch die Abschaffung des Schlechtwettergeldes in der 13. Legislaturperiode wurde einer der wichtigsten Binnenmarktbranchen nachhaltiger Schaden zugefügt, den wir nun mühsam reparieren müssen. ({0}) Auch bei der alten Schlechtwetterregelung gab es in vom Winter hart betroffenen Regionen schon immer die sogenannte Ausstellungspraxis: Arbeitnehmer wurden vor Weihnachten entlassen und zu Ostern teilweise wieder eingestellt. Das betraf, so zeigt ein Blick in die Arbeitsmarktstatistik, ungefähr 70 000 Arbeitnehmer, auch in den Wintern 1993 und 1994. Durch die von der heutigen Opposition zu verantwortende Streichung des Schlechtwettergeldes erhöhte sich die Zahl der Winterkündigungen im ersten Winter auf 174 000 und im nachfolgenden Winter auf 200 000. Bei einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von drei Monaten muß die Bundesanstalt für Arbeit pro Arbeitnehmer zirka 7 300 DM aufbringen; das waren allein im Winter 1996/97 1,4 Milliarden DM. Die Ausfälle an Sozialbeiträgen und Steuern eingerechnet, steigt der Betrag auf über 2 Milliarden DM an - und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms das alles nur, um 700 Millionen DM zu sparen, wider besseres Wissen. ({1}) Nur weil Sie damals Ihren Regierungsentwurf nicht nachbessern wollten, wurden die wenigen Sozialpolitiker unter Ihnen in die Schranken gewiesen und wurde die Streichung knallhart durchgezogen. ({2}) 1,3 Milliarden DM Mehrkosten und 130 000 zusätzliche Arbeitslose - das war der Preis. ({3}) Auch nachdem die Tarifvertragsparteien den Schaden durch erhebliche Aufwendungen der Arbeitnehmer einzudämmen versuchten, wurden noch im letzten Winter allein aus Witterungsgründen 160 000 Arbeitnehmer arbeitslos - und das, obwohl führende Arbeitgeberfunktionäre, die der CDU herzlich und auch parteilich verbunden sind, per Brief alle Bauunternehmen aufforderten, in diesem Winter auf Entlassungen zu verzichten, weil ein Regierungswechsel mit einer neuen Schlechtwettergeldregelung drohe. ({4}) Dennoch sind Entlassungen in dieser Größenordnung erfolgt. ({5}) Wie sieht es für den nächsten Winter aus? ({6}) Vor mir liegt ein Schreiben eines großen deutschen Konzerns - ich will den Namen nicht öffentlich nennen -, der darin ankündigt, daß allen gewerblichen Arbeitnehmern zum 31. Dezember 1999 gekündigt werden soll und daß man sich mit dem Betriebsrat einig sei, sie zum 1. Juni 2000 wieder einzustellen. Dieses Schreiben wurde am 27. Mai verfaßt. Es wurde also höchste Zeit, eine solche Vereinbarung, wie wir getroffen haben, in Angriff zu nehmen. ({7}) - Ich kann Ihnen das Schreiben unter vier Augen zeigen. Ich nenne den Namen nicht im Parlament. Es sind nicht nur die vielen Arbeitslosen und die gewaltigen Mehrkosten, die einen wirtschaftlichen Schaden verursacht haben. Seit Streichung des Schlechtwettergeldes leidet das Baugewerbe verstärkt unter einer saisonalen Auftragsvergabe. Weil jetzt viele Bauunternehmen auf jegliche Produktionsmöglichkeiten im Winter verzichten, werden die Bauaufträge so disponiert, daß am 1. April Baubeginn und - koste es, was es wolle - vor Weihnachten der Termin der Fertigstellung ist. Da ein großer Teil der Aufträge von der öffentlichen Hand vergeben wird und damit haushaltstechnischen Denkmustern unterliegt, erleben wir heute in der Bauwirtschaft eine produktionsfreie Zeit von mindestens drei Monaten. Volkswirtschaftlich gesehen ist das eine Katastrophe. Dies muß jetzt durch eine Neuregelung des Schlechtwettergeldes mühsam zurückgeführt werden. ({8}) In keinem unserer Nachbarländer in der EU wird so wenig praktischer und technischer Winterbau betrieben wie in unserem Land. Wir sind durch die Politik der alten Regierung in Sachen „technischer Winterbau“ in Europa mittlerweile zu einem Entwicklungsland geworden. ({9}) Die in der Zeit der sozialliberalen Koalition Mitte der 80er Jahre eingeführten Maßnahmen, zum Beispiel Investitionskostenzuschüsse zur Förderung des ganzjährigen Bauens, wurden von Ihnen sämtlich gestrichen; die mit hohem Sachverstand ausgestatteten Winterbauausschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit wurden aufgelöst. Wenn wir bei der technischen Fortentwicklung des Winterbaus im europäischen Vergleich an das Ende gerutscht sind, dann nur, weil Sie in diesen Fragen eine verbandsorientierte Interessenspolitik verfolgt haben. ({10}) Herr Rauen ist leider nicht hier. Er hat bei seiner letzten Rede zu diesem Thema noch einmal sehr deutlich gemacht, daß auch er mit diesem Entwurf nicht einverstanden ist. Er als Bauunternehmer vertritt ja auch Interessen - was Sie mir ebenfalls immer vorwerfen. Ich finde es ja in Ordnung, daß man hier von verschiedenen Positionen heraus diskutiert. Aber wir sollten hier keine falschen Positionen vertreten. Er hat hier - das können Sie nachlesen - gesagt, daß die Winterbauumlage von ihm nicht in Anspruch genommen wird. Ich habe das noch einmal genau nachgerechnet und das auch für seinen Betrieb berechnet. Nach dem heutigen Stand des Gesetzes bekommt er die Hälfte zurück. Wenn das neue Gesetz kommt, dann sind dies höchstens noch 33 000 DM, 0,25 Prozent der Bruttolohnsumme, und damit erhält er eine Risikoabsicherung gegen alle Winterausfälle, auch dann, wenn der Winter einmal besonders hart ist und er die Ansparkonten voll ausschöpfen muß. Ich werde es ihm auch noch einmal persönlich sagen. Ich habe gehofft, daß er sich das heute hier anhört. Meine Damen und Herren, das ist Sozialpolitik mit Augenmaß. Wir haben eine Regelung zum Wohl aller Beteiligten gemacht, zu der Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in den letzten 16 Jahren nicht bereit und leider auch nicht in der Lage waren. Die Streichung des Schlechtwettergeldes reiht sich in die zahlreichen Versuche der alten Bundesregierung ein, sozialpolitische Gesetzgebung auf die Schultern der TaKlaus Wiesehügel rifvertragsparteien zu laden. All diese Versuche sind gescheitert, mußten scheitern, weil Tarifverträge nun einmal keine Gesetze sind und in jeder Branche neu geregelt werden müssen. Schon die alte CDU-Regierung unter Bundeskanzler Adenauer hatte erkannt, daß tarifliche Vereinbarungen, die sozialpolitisch wirken sollen, einen gesetzlichen Rahmen brauchen. Dies galt und gilt insbesondere für die Schlechtwettergeldregelung. Sie ist in über 35 Jahren durch die Säulen Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer stabilisiert worden. Leider haben seine Enkel dies nicht begriffen. Sie haben, blinder Ideologie folgend, die Säule Staat einfach eingerissen, und damit ist das System, das von Konrad Adenauer geschaffen wurde, eingebrochen. Das müssen Sie sich anhören. ({11}) Die jetzt von uns eingebrachten Entwürfe, das, was wir mit den Tarifvertragsparteien vereinbart haben, stehen Ihnen in der Form von zehn Eckpunkten zur Verfügung. Wir wollen diese Eckpunkte zu einem neuen Gesetz machen, das wirklich verhindert, daß Arbeitslosigkeit im Winter nach wie vor eintritt, daß diejenigen, von denen ich eben gesprochen habe, solche Kündigungen vor Weihnachten bekommen. Wir erreichen das dadurch, daß wir die Arbeitgeber über Winterbauumlage in den liquiditätsschwachen Zeiten von Kostenbelastungen und Sozialversicherungsbeiträgen freistellen. Das wollen wir aber nicht der Allgemeinheit aufdrücken, sondern wir wollen, daß das über die Winterbauumlage gemeinsam finanziert wird. Wir erreichen ferner, daß diejenigen, die dennoch kündigen - obwohl Kündigungen in diesem Zeitraum verboten sind -, für den Schaden, den sie der Allgemeinheit zufügen, zur Kasse gebeten werden, und wir holen uns das Geld von ihnen zurück. Wahrscheinlich wird das dazu führen, daß wir in einem Gewerbe, in dem vieles auf Grund Ihrer Politik zugrunde gegangen ist, die Zahl der Kündigungen erheblich zurückführen können. Ich habe in den letzten Wochen öfters einen Vorwurf gehört, der mich geärgert hat, nämlich den Vorwurf, die Arbeitgeber des Baugewerbes seien erpreßt worden. Ich weiß nicht, wer einen solchen Blödsinn erzählt hat. Ich habe es aus den Unterschriften ersehen und zum Teil auch im Protokoll lesen können. Lassen Sie mich ein paar Arbeitgeber zitieren. ({12}) - Hören Sie doch damit auf. Andere sind auch in Verbänden. Herrn Göhner haben Sie in Ihren Reihen immer willkommen geheißen. Veranstalten Sie bei mir also nicht immer ein solches Trara und tun nicht so, als ob das etwas Besonderes wäre. Ich bin Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Lassen Sie diese Bemerkungen sein. ({13}) Herr Walter, Präsident des Hauptverbandes der Bauindustrie, sagt, daß er den Kompromiß als Erfolg für die Arbeitgeber wertet. Das können Sie in der „FAZ“ vom 10. Juni nachlesen. Herr Huber, Vizepräsident des ZDB, bewertet das als Erfolg für die Branche, weil die Lohnzusatzkosten nicht steigen, weil Flexibilität erhalten bleibt und auch die Winterbauumlage kostenneutral bleibt. Auch er äußert die berechtigte Hoffnung, daß im nächsten Winter hunderttausend Bauarbeiter weniger auf der Straße stehen. Der ZDB, der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes - Ihre Freunde! -, hat alle Fraktionen aufgefordert, den gefundenen Kompromiß zum Schlechtwettergeld zu unterstützen. Hören Sie darauf, was Ihnen empfohlen wird! Ich frage Sie: Redet so jemand, der erpreßt worden ist? Ich kann hier keine Erpressung erkennen. Die Tarifvertragsparteien haben die Regelung gemeinschaftlich begrüßt. Das neue Schlechtwettergeld wird ein Erfolg und untermauert den Anspruch der neuen Regierung, für Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen. Wir halten Wort, wir lassen sie nicht im Regen stehen. ({14}) Bestandteil dieser Debatte ist auch die Behandlung des Gesetzentwurfs der Fraktion der PDS mit Drucksache 14/39. Dieser Entwurf muß aus zwei Gründen abgelehnt werden. Erstens. Die von der Bundesregierung und den Tarifvertragsparteien geschlossene Vereinbarung vom Juni 1999, die ich gerade erläutert habe, enthält mehrere Punkte, die arbeitsmarktpolitisch eine hohe Wirkung erzielen. Diese Punkte fehlen in Ihrem Antrag völlig. Zweitens. Der Gesetzentwurf der PDS ist fehlerhaft, so daß mit Annahme Ihres Gesetzentwurfes die Probleme der Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft verschärft und nicht verbessert würden. Falsch ist schon die Problembeschreibung. Sie schreiben, die Bundesregierung trete ab der 151. Stunde ein. Nach der jetzigen Gesetzeslage ist dies nach der 121. Stunde der Fall. Nicht ganz sorgfältig gearbeitet! Zum Wintergeld, § 210 SGB - ich muß es kurz machen, weil meine Redezeit gleich abgelaufen ist -: Warum in aller Welt wollen Sie den Bauarbeitern das Wintergeld in der Zeit vom 25. Dezember bis zum 1. Januar nicht gewähren? Das nämlich ist der Vorschlag Ihres Gesetzentwurfes. Wußten Sie nicht, daß die Bauarbeiter die Tarifregelungen zur Vermeidung von noch größerer Arbeitslosigkeit mit dem Verzicht auf die Freistellung zwischen Weihnachten und Neujahr bezahlen mußten? Vom 26. Dezember bis zum 30. Dezember ist normale Arbeitszeit, mit Anspruch auf Wintergeld, schon jetzt, nach geltendem Gesetz. Sind Sie wirklich so naiv, zu glauben, mit der Verabschiedung Ihres Gesetzes würden die alten Tarifverträge automatisch wieder in Kraft treten? Zum § 212 SGB: Sie machen den Bezug von Schlechtwettergeld von genau diesem Lohnausgleichszeitraum abhängig. Die Arbeitgeber haben am Montag der IG BAU eine Kündigung auch des restlichen Lohnausgleichszeitraums ins Haus geschickt. Wenn es denen bei der IG BAU nicht gelingen sollte, Heiligabend und Silvester erneut in einen Lohnausgleichstarifvertrag einzubeziehen, hätte nach Ihrem Gesetzentwurf überhaupt niemand mehr Anspruch auf Schlechtwettergeld, weil Sie die Verbindung von Lohnausgleichstarifvertrag und Schlechtwettergeld nach wie vor aufrechterhalten, wobei dieser Lohnausgleichstarifvertrag nicht mehr in vollem Umfang wirkt, vielleicht bald gar nicht mehr. Mit Art. 2 wollen Sie das Einkommensteuergesetz ändern. Damit würde Ihr Gesetz, Frau Knake-Werner, im Bundesrat zustimmungspflichtig. Das ist nun einmal so. Ich habe wirklich keine Lust, die Zustimmung zu einer neuen Schlechtwettergeldregelung noch einmal von den Damen und Herren auf der rechten Seite des Hauses abhängig zu machen. ({15}) Frau Knake-Werner, ich weiß, daß Sie das alte Gesetz einfach abgeschrieben haben. Überhaupt bestehen Ihre Gesetzesinitiativen oftmals nur aus Abgeschriebenem. Ich hätte ja nicht so hart geantwortet, wenn Sie nicht etwas tun, mit dem ich absolut nicht einverstanden sein kann: Auf meine Bereitschaft hin, im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Kompromisse einzugehen, betreiben Sie jetzt billigen Populismus mit den Beschäftigten der Bauwirtschaft im Osten und gehen damit auf Stimmenfang. Das ist nicht in Ordnung, schon gar nicht, wo Sie einen so unsoliden Gesetzentwurf vorgelegt haben. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Heinz Schemken von der CDU/CSU-Fraktion.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir hätten diese Rede eigentlich nicht nötig gehabt. Der „SWGExpress“ schreibt: Donnerwetter: Die IG BAU hat es geschafft. Das Schlechtwettergeld, für das die Bauarbeiter und ihre Gewerkschaft seit sechs Jahren gekämpft haben, ist wieder da. ({0}) Tolle Sache! Hier wird ein Hochamt zelebriert, von dem - ich sage es Ihnen ganz offen - nicht einmal der Abschied in der Sakristei übrigbleibt. ({1}) Ich sage Ihnen auch, warum. Hier wird etwas zelebriert, das sich von der Grundlage her nicht mit Substanz füllen läßt. Die Betriebsräte haben am 31. Mai getagt. Das ist nachlesbar und nachvollziehbar. Ich zitiere aus diesem Bericht: „Kühle Nebelschwaden umziehen die Stadthalle.“ Die Stadthalle von Bad Godesberg ist gemeint. Das, was Sie hier vortragen, Herr Wiesehügel, ist der Nebel, der weiter verbreitet wird. Ich bedauere, daß hier eine große Schar von Bauarbeitern am Ende so hinters Licht geführt wird; denn es bleibt im Grunde genommen bei der gefundenen Regelung. ({2}) Es bleibt - da beißt keine Maus den Faden ab - bei der Regelung der Gravenbrucher Erklärung zwischen dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, der Bauindustrie und der Industriegewerkschaft BAU. Sie, verehrter Herr Kollege Wiesehügel, haben das seinerzeit unterschrieben. Ich habe mich nie einem Interessenverband verpflichtet gefühlt. Im Gegenteil: Ich habe seinerzeit sogar mit Ihren Kolleginnen und Kollegen wiederholt Gespräche geführt. Ich bedauere sehr, daß Sie uns global abstempeln. Ich bin guten Glaubens - ich bleibe nach wie vor dabei - für die Beitragszahler eingetreten, die entlastet werden sollten. ({3}) Insofern ist die Adenauer-Story gut. Es wäre schön, wenn Sie darauf Rücksicht nehmen würden. Aber es war eine andere Zeit, und wir müssen sie fortschreiben. Sie selbst haben davon gesprochen, daß die bautechnischen Vorbereitungen in der Bundesrepublik Deutschland bezüglich der Winterbausituation unterentwickelt sind. Also hätte man dies vor diesem Hintergrund sicherlich tun können. Falls die Unternehmen so handeln, bedauern wir das allemal. Es kann aber nicht angehen, daß wir dann, wenn schlecht gehandelt wird, mit einem Gesetz nachbessern. Die neue Regelung kann sich nur von dem abwenden, was wir noch miteinander - das ist belegt - geschafft haben. Durch die neue Regelung wurde die Arbeitszeit flexibilisiert, und der Nutzen von Arbeitskonten am Bau wurde zur Selbstverständlichkeit. Das Ziel der Neuregelung bestand auch darin, die Tarifparteien zu unterstützen, statt Vergütung von Überstunden ein ganzjähriges gleichmäßiges Einkommen, das Sie immer wollen und das auf dem Bau sehr wichtig ist, zu schaffen. Nun komme ich zu den Fakten: Laut amtlicher Statistik ist die Winterarbeitslosigkeit in diesem Jahr enorm zurückgegangen, und zwar im Februar im Vergleich zum Vorjahresmonat sogar um 9,4 Prozent. Das, was Sie sagen, ist also nicht richtig. Sie türmt sich nicht weiter auf. Im Gegenteil: Sie geht zurück. Die Arbeitnehmer können durch Vor- und Nacharbeiten für witterungsbedingten Arbeitsausfall ein höheres Bruttojahreseinkommen als bei der Gewährung von Schlechtwettergeld erzielen. Damit haben sie eine sichere Lohnbasis. Es wäre den Schweiß der Edlen, auch der Tarifpartner, wert, sich darauf zu einigen. Die Arbeitgeber und Handwerker könnten von Kosten für witterungsbedingten Arbeitsausfall entlastet werden. Die jetzige Winterbauumlage von 1,7 Prozent könnte ohne diese Neuregelung gesenkt werden. Die Lohnzusatzkosten könnten ebenfalls gesenkt werden, und zwar um 1 Prozent bis 1,2 Prozent. Das muß doch unser gemeinsames Anliegen sein, schließlich wollen wir Arbeitsplätze schaffen. Die Wintergeldkasse ist mit 600 Millionen DM gefüllt, da viele Betriebe wegen der Flexibilisierung der Arbeitszeiten die Wintergeldkasse nicht so sehr in Anspruch genommen haben und nehmen mußten. Die Arbeitslosenversicherung ist durch den Abbau der Winterarbeitslosigkeit der Bauarbeiter und die ganzjährige Beschäftigung im Baugewerbe entlastet worden. Daß die Kündigungen stattgefunden haben, bedauere ich sehr. ({4}) Das liegt aber am Verhalten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die von der alten Koalition eingebrachte Gesetzesinitiative ({5}) hat am 25. September 1997 die Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD in zweiter und dritter Lesung erhalten und ist auch im Bundesrat verabschiedet worden. Tun Sie doch nicht so, als sei außer ein paar Lobbyisten keiner beteiligt worden. ({6}) Das ist eine völlig falsche Ausgangslage. So können wir nicht miteinander umgehen, insbesondere dann nicht, wenn es demnächst ans Eingemachte geht. Dann werden wir noch so manches miteinander regeln müssen. Ich möchte Sie doch wirklich bitten, bei der Wahrheit zu bleiben. Ohne Not wird jetzt auch durch den Bundeskanzler - man kann das sicher nachvollziehen: man hätte sich diese Stunde eigentlich sparen können, hätte jedem das Blättchen gegeben, mit der Bitte, es gründlich durchzulesen - Druck auf die Tarifparteien des Baugewerbes ausgeübt, weil die Ankündigung, die im Wahlkampf gegeben wurde, umgesetzt werden muß. Man kann von September bis April und spätestens bis zum nächsten September - den haben wir schon bald - ja auch klüger werden. Ich sage nur eines: Die nun gefundene Lösung geht an der Zusage, die damals gegeben wurde, glatt vorbei. ({7}) Sie bestätigt im wesentlichen, daß die von der alten Koalition in dieser Regelung gefaßte Konzeption die richtige war. Daß dies ein fauler Kompromiß ist, wissen wir; daß das Neue an dem Kompromiß lediglich die Aufteilung der Lasten ist, wissen wir auch. Wir sind aber nicht bereit, dem Beitragszahler weitere Lasten zuzumuten. ({8}) Sie machen um 20 Stunden einen so großen Aufwand. Damit konterkarieren Sie eine Situation, die nicht mehr so dramatisch ist, wie Sie sie hier aufbauen, weil das eine Zusage im Wahlkampf war. Wir sollten uns lieber einer anderen Sache zuwenden: Sozial ist auch auf dem Bau das, was Arbeit schafft. In der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 29. Juni 1999 steht: Die Bauwirtschaft verlor über 100 000 Arbeitsplätze. Das wird in diesem Artikel auch begründet: Der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes fordert die Bundesregierung auf, die Bauwirtschaft nicht länger durch verschiedenste steuerliche „Grausamkeiten“ zu belasten. Der Präsident Fritz Eichbauer - auch Sie haben ihn eben zitiert ({9}) warf unter anderem der Regierung vor, mit ihrer Wohnungspolitik die Eigentumsbildung zu hemmen und den Mietwohnungsbau systematisch zurückzudrängen. Für Wohnbauten sei das Volumen der Bauinvestitionen im ersten Quartal um 3,1 Prozent geringer ausgefallen als im vergangenen Jahr. Das sind Fakten. Bei den Wirtschaftsbau-Investitionen - darauf kommt es an; dadurch entstehen Arbeitsplätze - ist im ersten Quartal ein dramatischer Einbruch mit 10,7 Prozent unter dem Vorjahresniveau zu verzeichnen. Hier hätte die Regierung - so meinen ich und die anderen auch - allen Grund, ein wirksameres Feld der Betätigung ins Auge zu fassen. Das bringt mehr Arbeitsplätze und mehr Beschäftigung in der Bauwirtschaft. Darum geht es uns. ({10}) Der Gesetzentwurf der PDS - darüber werde ich nicht viele Worte verlieren; wir haben ihn schon im Ausschuß besprochen - kann deshalb unsere Zustimmung nicht finden, weil er vollends das Rad der Geschichte zurückdreht: So kann man in Zukunft keine Arbeitsplätze schaffen; so kann man Investitionen nicht sichern; er trägt zur Verunsicherung der Wirtschaft bei. Dies betrifft insbesondere die Bauwirtschaft, die sehr sensibel ist, weil dort die Konjunktur unmittelbar greift und weil dort die Menschen unmittelbar von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wir werden uns im Ausschuß über eine Gesetzgebung noch unterhalten. Bis jetzt liegen uns ja nur Stichworte vor. Wie wir das kennen, kommt noch so manches hinzu, was noch nicht drinsteht. Ich darf nur wünschen, daß es nicht gegen die Bauhandwerker geht, sondern darum, daß wir mehr Arbeitsplätze schaffen und daß wir - das sage ich ganz offen - insbesondere in der Konkurrenzfähigkeit im internationalen Wettbewerb mithalten - der Arbeitsplatz am Bau ist flexibel und mobil -, damit wir nicht so viele deutsche Arbeitslose im Baugewerbe haben. Schönen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbach vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, daß wir mit dem Tarifvertrag der Baubranche und mit dem Antrag, der heute vorliegt, dem Gesetzentwurf, der im Herbst durch das Parlament gehen wird, und somit der Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit am Bau einen großen Schritt näherkommen. Diese hat in den letzten Jahren unerträgliche Ausmaße angenommen. Die Zahl der arbeitslosen Bauarbeiter lag in den Wintermonaten nicht selten bei 400 000; in diesem Jahr betrug sie im Februar noch immer ungefähr 350 000. Das ist viel zuviel. Dagegen müssen wir mit einer Neuregelung des Schlechtwettergeldes angehen. ({0}) Sie muß vor der nächsten Schlechtwetterperiode unter Dach und Fach sein. Das klare Versprechen der Regierung ist: Das wird sie auch. Worum geht es dabei? Die Situation im Baugewerbe ist geprägt von Spitzenbelastungen im Sommer und witterungsbedingten Beschäftigungseinbrüchen im Winter. Die Wintererwerbslosigkeit am Bau hatte vor der Einführung des Schlechtwettergeldes im Jahre 1959 einen riesigen Umfang: Im Winter 1956/57 betraf sie fast jeden zweiten am Bau Beschäftigten. Eine solche erzwungene Saisonarbeit - das müssen wir uns hier auch klarmachen - belastet die Betroffenen und ihre Familien in unzumutbarer Weise. Außerdem bringt sie immense gesellschaftliche Folgekosten mit sich: in erster Linie in der Arbeitslosenversicherung, aber auch darüber hinaus. Das Schlechtwettergeld wurde 1959 von einer CDURegierung eingeführt, um die Beschäftigungslage auf dem Bau zu stabilisieren. Es ist in seiner bewährten Form von einer CDU-geführten Regierung zum Januar 1996 abgeschafft worden, was sofort wieder zu einer erheblichen Zunahme der Winterarbeitslosigkeit geführt hat. Herr Schemken, machen wir uns doch nichts vor: Die Ersatzregelungen waren halbherzig und reichten nicht aus. Sie können die sozialpolitische Flankierung doch nicht ohne heftige soziale Folgen so weit zurückdrehen, wie Sie es getan haben und noch tun wollten. ({1}) Sie haben uns als Opposition das nicht geglaubt, später aber selbst nachgebessert. Auch das Ergebnis dieser Nachbesserung war nicht tragfähig, obwohl Sie das dann zum Vorbild für den neuen Sozialstaat überhöht haben, der nichts kosten darf. Frau Babel und Herr Blüm haben hier anrührende Grundsatzreden über dieses gescheiterte Projekt gehalten. ({2}) Herr Schemken, wenn Sie dieser Regelung nur zustimmen können und so tun, als würden wir damit nichts ändern, dann machen Sie das in Gottes Namen. Aber es stimmt nicht; denn hier ist unser Handeln eindeutig gefordert. Leider kann man die alte Regelung nicht ohne weiteres wieder einführen, denn dafür ist in der Baubranche in den letzten Jahren viel zuviel passiert, auch was die Tarifverträge angeht. Wir müssen nämlich davon ausgehen, daß sich die Arbeitgeber bei der Wiedereinführung der alten Regelung - das jedenfalls sind die Prognosen - aus der Verantwortung stehlen würden. Jetzt ist vorgesehen, daß die Bundesanstalt für Arbeit in die sozialpolitische Flankierung erheblich früher einsteigt, daß die Zahlung von Winterausfallgeld zwischen der 31. und der 100. Stunde aus der Winterbauumlage erfolgt und daß die Sozialversicherungsbeiträge den Arbeitgebern nicht mehr hälftig, sondern ganz erstattet werden. Das sind Versuche, keine Anreize für witterungsbedingte Kündigungen zu bieten; daraus darf dem Arbeitgeber kein Vorteil entstehen. Wenn er das tarifvertraglich vereinbarte Verbot witterungsbedingter Kündigungen trotzdem mißachtet, muß er künftig der Bundesanstalt für Arbeit die gezahlten Leistungen erstatten. Das zu prüfen wird natürlich nicht einfach sein; aber der Ansatz ist schlicht und ergreifend vernünftig. Sie kritisieren, daß wir uns mit dieser tarifvertraglichen Regelung, die noch die entsprechende gesetzliche und sozialpolitische Absicherung braucht, einen teuren Luxus für die Sozialkassen leisteten, daß wir die Lohnnebenkosten erhöhten und die Sozialversicherung erheblich belasteten. Herr Schemken, das Gegenteil ist richtig. Die Saisonarbeitslosigkeit wird doch schließlich auch von der Arbeitslosenversicherung bezahlt, und die Kosten für die 400 000 arbeitslosen Bauarbeiter sind zwar nicht einzeln ausgewiesen, aber durch die Bundesanstalt für Arbeit aufgebracht worden; ({3}) das wissen Sie doch genauso gut wie wir. Dies hat sich in den Lohnnebenkosten niedergeschlagen. Wenn wir jetzt eine Regelung finden, die Saisonarbeitslosigkeit wirklich vermeidet, sind die Kosten, die auf die Beitragszahler zukommen, natürlich erheblich geringer, ({4}) denn es ist einfach sinnvoller, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, als an dieser Stelle die Flankierung einer vernünftigen Regelung zu unterlassen. Wenn man Saisonarbeitslosigkeit vermeiden will, dann braucht man Regelungen, die dies leisten können, und zwar angepaßt an die jeweilige Branche, die mit diesem Problem konfrontiert ist. Für die Kollegen am Bau wird die Bundesregierung eine solche Regelung im Herbst vorlegen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dirk Niebel von der F.D.P.-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich erlaube mir, mit einem Zitat aus dem Kampfblatt der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, „SWG-Express“, zu beginnen. ({0}) Hier spricht der Bundesvorsitzende der IG Bauen-AgrarUmwelt: Beharrlichkeit bei der eigenen Interessenvertretung zahlt sich aus. ({1}) Herr Kollege Wiesehügel, Sie haben in diesem Kampfblatt als Vorsitzender Ihrer Gewerkschaft gesprochen, heute in diesem Haus als Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Ich stimme Ihnen dennoch zu; denn es handelt sich bei dieser Regelung tatsächlich um die Verteidigung der Partikularinteressen der Mitglieder der IG Bauen-Agrar-Umwelt. ({2}) Sie verlagern die Verantwortung und die Kosten beim Bau auf die Allgemeinheit. Die seit November 1997 geltende Regelung zur Arbeitszeitflexibilisierung ist mit den Stimmen Ihrer Partei hier in diesem Hause und im Bundesrat gebilligt worden. Die neue Regelung sieht vor, daß nur noch 30 statt 50 Stunden vorgearbeitet werden darf. Ab der 31. bis zur 100. Stunde greift die Umlage, ab der 101. statt der 120. springt die Bundesanstalt für Arbeit ein. Anstatt daß wir uns hier über eine Fortentwicklung der Flexibilisierung unterhalten, die ja der Weg in die richtige Richtung war, anstatt daß wir hier über Jahresarbeitszeitkonten diskutieren, machen Sie die Rolle rückwärts, und wir reden über gewerkschaftliche Ideologien und sozialdemokratische Umverteilungspolitik. ({3}) Der Abgeordnete Wiesehügel hat in Ihren Reihen Unterschriften gesammelt, um die Allgemeinheit bereits wieder ab der ersten Ausfallstunde am Bau belasten zu können. Es sind etliche Unterschriften zusammengekommen. Der Fraktionsvorsitzende Struck hat Sie zurückgepfiffen, ({4}) wohl deshalb, weil auch Teile der SPD erkannt haben, daß es Veränderungen in der Arbeitswelt gegeben hat. Der Durchbruch der 97er Regelung bestand nämlich nicht darin, daß irgend etwas gezahlt wurde. Der Durchbruch war das tarifliche Drei-Säulen-Modell, das Sie im Grundsatz beibehalten haben: erstens die Vorarbeit, zweitens die Umlage und drittens die Bundesanstalt für Arbeit. ({5}) Sie haben den Grundsatz unverändert gelassen, kommen bloß zu einer Verteuerung von mindestens 51 Millionen DM für die Bundesanstalt für Arbeit. Und was das Größte ist: Sie verkaufen diese Verschlimmbesserung in der Öffentlichkeit auch noch als den großen Hit, stellen sich hin und reden von einem kleinen Bündnis für Arbeit. Das ist geradezu lächerlich. ({6}) Stellen Sie sich vor Ihre Bauarbeiter. Sagen Sie ihnen: Wir sind im System geblieben; die andere Regelung war gar nicht möglich, weil es heutzutage einfach sinnvoll ist, daß man flexibler arbeitet. Seien Sie doch einmal ehrlich! ({7}) Die Bundesanstalt wird mit mindestens 51 Millionen DM mehr belastet. ({8}) - Herr Andres hat im Ausschuß schon von 55 Millionen gesprochen. - Kollege Rauen hat uns in der Aktuellen Stunde sehr plastisch vorgerechnet, daß die alte Regelung zu einer Senkung der Lohnnebenkosten um 20 Prozent geführt hat. Die Erhöhung der Lohnnebenkosten gefährdet Arbeitsplätze. Es gibt zudem keinerlei Veranlassung mehr, über diese 30 Stunden hinaus vorzuarbeiten. Man kommt weiter weg von den flexiblen Arbeitszeiten, die wir in Zukunft brauchen werden. Die technische Weiterentwicklung im Winterbau wird ohne Deutschland stattfinden. ({9}) Das verhindert und verschlechtert die Arbeitschancen deutscher Bauarbeiter in der internationalen Baubranche. ({10}) Sie haben aus dem Schröder/Blair-Papier nichts gelernt. Herr Schröder kann mit Herrn Blair Papiere schreiben, soviel er will. Sie, der Gewerkschaftsflügel mit 244 von 298 Abgeordneten - über 80 Prozent der SPD-Fraktion -, bestimmen die Richtlinien der Politik am Arbeitsmarkt, nicht der Herr Bundeskanzler. Das ist der falsche Weg. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Wiesehügel, Sie haben hier kräftig vom Leder gezogen. Aber Sie müssen mir schon eine Frage gestatten: Was kann denn an einer Regelung heute so falsch sein, die Sie noch vor wenigen Monaten selbst gefordert haben? Kann es vielleicht doch etwas damit zu tun haben, daß Sie heute an der Regierung sind? ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag, den die Koalition heute zum Schlechtwettergeld eingebracht hat, ist eigentlich völlig überflüssig. Er ist deshalb überflüssig, weil sein Inhalt - das hat Kollege Wiesehügel dargestellt - längst schon außerhalb dieses Hauses beschlossen wurde, und zwar, wie der Kanzler stolz verkündet, in einem kleinen Bündnis für Arbeit. So etwas bindet natürlich ein, lieber Kollege Wiesehügel. Wenn Sie heute Ihren Antrag dennoch stellen, so kann dies eigentlich nur eines bedeuten: Sie trauen Ihrer eigenen Regierung nicht, und Sie befürchten, daß der Kompromiß, der ausgehandelt wurde, nun auf dem Wege der bekannten Nachbesserungen weichgespült wird oder ganz dem Spardiktat zum Opfer fällt. Solche Bedenken finde ich überhaupt nicht grundlos, wenn ich mir anschaue, in welch kurzer Zeit Sie Ihre Position zum Schlechtwettergeld verändert haben. Ich erinnere an Ihren Kollegen Dreßler, der neulich in der „Frankfurter Rundschau“ sagte: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Sie mögen es völlig unmodern finden; wir als PDS aber sind bei unserer Position geblieben, und zwar aus gutem Grund: Wir halten es für falsch, das Schlechtwetterrisiko allein den ohnehin krisengeschüttelten Baubetrieben und vor allen Dingen den dort Beschäftigten zu überlassen. Wir alle haben doch ein Interesse daran, daß ganzjährig gebaut wird. Deshalb macht es durchaus Sinn, das Schlechtwettergeld von der Bundesanstalt für Arbeit bezahlen zu lassen. Das schafft zudem viel mehr Sicherheit für die Beschäftigten. Nun haben wir halt diesen Kompromiß auf dem Tisch, nachdem der Kollege Wiesehügel in seiner Fraktion lange vergeblich Druck für eine Lösung gemacht hat und mit eigenen Vorschlägen nicht durchgekommen ist. Dabei können Sie doch so wunderschön analysieren. Sie haben sich leider nicht durchgesetzt. ({1}) Ein Kompromiß, na gut, ist besser als nichts. ({2}) Allerdings - dies sage ich Ihnen auch - trägt er deutlich die Handschrift der Arbeitgeber, wie ich ohnehin der Meinung bin, daß Arbeitgeber zunehmend das Schrittmaß Ihrer Sozialpolitik bestimmen. Wo sie nicht mitgehen, geht gar nichts mehr. Das ist in der Tat nicht unser Konzept. So ist es denn auch gekommen, verehrter Kollege Wiesehügel, daß die Flexibilisierungslösung, die Sie so vehement bekämpft haben, in diesem Kompromiß dringeblieben ist. Das finde ich einfach schlecht, weil damit Mißbrauch nach wie vor nicht ausgeschlossen ist. Was passiert denn zum Beispiel mit den Kolleginnen und Kollegen vom Bau, die während des Sommers Überstunden über Überstunden zusammengeschuftet haben, wenn der kleine Baubetrieb, bei dem sie beschäftigt sind, wegen Auftragsmangels, nicht wegen Witterungsbedingungen, pleite geht? Wenn Sie jetzt die Mittel für den sozialen Wohnungsbau noch in dreistelliger Millionenhöhe kürzen, bereiten Sie dafür geradezu den Weg. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was glauben Sie wohl, was mit den 1,7 Prozent, die die Arbeitgeber in die Umlage zahlen, passiert? Die liegen doch bei jeder Lohnrunde - das wissen Sie viel besser als ich - auf dem Tisch und drücken auf die Lohnerhöhung, auf das Urlaubsgeld und das Weihnachtsgeld. In der Konsequenz heißt das - ganz zugespitzt -: Die Bauarbeiter zahlen bis zur 100. Stunde das Schlechtwettergeld selbst.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wir aber - ich komme zum Schluß - wollen ihre solidarische Sicherung und legen deshalb unseren Gesetzentwurf vor. Sie wollen mit Ihrem Kompromiß für ein bißchen Gutwetter auf den Baustellen sorgen. Aber die Gewitter werden Sie damit nicht verhindern können. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1215 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes auf Drucksache 14/39. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/1230, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt worden. Nach der Geschäftsordnung entfällt eine weitere Beratung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tagesordnungspunkte 7, 8 sowie 10 und 11 sind innerhalb der Fraktionen so vorbereitet, daß die Reden zu Protokoll gegeben werden sollen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann haben wir noch den Tagesordnungspunkt 9 zu beraten: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung - Drucksache 14/1247 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({0}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als erster Rednerin der Kollegin Margot von Renesse von der SPD-Fraktion.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, daß wir nun, in einer der letzten Sitzungen des Bundestages in Bonn, einen entscheidenden und wahrscheinlich endgültigen Schritt tun, um ein langes Stück Rechtsgeschichte endgültig zu beenden: von der „patria potestas“, der elterlichen - damals noch der väterlichen - Gewalt, über das gewohnheitsrechtliche elterliche Züchtigungsrecht und die - in der letzten Legislaturperiode von uns gemeinsam beschlossene - Regelung im Kindschaftsrecht - durch die die elterliche Gewaltausübung in der Tat um ein weiteres Stück verboten wurde - bis hin zur Abschaffung dieses gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsrechts in ganz unmißverständlicher Weise. Lassen Sie mich von den technischen Einzelheiten des Gesetzentwurfs absehen und nur vier Botschaften nachdrücklich zum Ausdruck bringen. Erste Botschaft. Wir machen die Anwendung elterlicher Gewalt gegen Kinder nicht strafbar. Sie ist es nämlich schon. ({0}) Seit der Kindschaftsrechtsreform, die wir in, wie ich finde, wirklich hervorragender Kooperation entwickelt und verabschiedet haben, dürfen Eltern nicht mehr sagen - manche tun es bis heute, weil sie es offensichtlich nicht verstanden haben -, daß es noch niemals jemandem geschadet habe, wenn er einmal eine ordentliche Tracht Prügel bekommen habe. Ja, sogar die elterliche Ohrfeige, Herr Funke, ist strafbar. ({1}) Viele wissen es nicht, aber es ist schon jetzt so. Jenseits dessen, was heute schon nach Strafgesetzbuch strafbar ist, können und wollen wir nichts strafbarer machen, als es schon ist. Zweite Botschaft. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf sicherstellen, daß auf elterliche Gewaltanwendung, auch wenn sie noch unterhalb der Ebene der Strafbarkeit liegt, reagiert werden kann. Denn - jeder Jurist weiß das - das Strafrecht ist ein sehr scharfes und darum auch sehr uneffektives Recht. Welcher Familienrichter wird denn schon, wenn die Ehegatten sich in einem Ehescheidungsverfahren gegenseitig vorwerfen, ihre Kinder geohrfeigt zu haben, oder wenn die ehemaligen Schwiegereltern diesen Vorwurf erheben - dort oder in Sorgerechtsverfahren ist eigentlich der Punkt, wo so etwas ans Licht kommt -, das der Staatsanwaltschaft übersenden, und welcher Staatsanwalt wird daraufhin schon ein Ermittlungsverfahren eröffnen? Das Ergebnis der ausschließlichen Ahndung von elterlicher Gewaltanwendung als Straftat kann sein, daß gerade nichts passiert. Meine Damen und Herren, es ist für das Aufwachsen von Kindern ungeheuer gefährlich, wenn sie nicht nur Zeugen, sondern auch Opfer erfolgreicher, ungeahndeter Gewalt werden. Das ist das Schlimmste, was man heranwachsenden Kindern antun kann. ({2}) Angemessene Antworten sind aber gerade in diesem Bereich vielfach nicht auf der Anklagebank zu finden. Deswegen brauchen wir viel mehr Hilfe, mitunter auch Grenzziehung für Eltern. Das wollen wir nicht bestreiten: Auch Eltern müssen manchmal vom hohen Roß geholt werden, auf dem sie kraft körperlicher und sozialer Überlegenheit ihren Kindern gegenüber zu sitzen pflegen. Auch das gibt es: Das darf ich doch; wer kann mich daran hindern? - Jawohl, es kann daran gehindert werden. Aber statt auf die Anklagebank gehören viele Eltern, die ihre Kinder ja lieben, in die Erziehungsberatung. Manchmal genügt auch eine größere Wohnung. Dritte Botschaft. Wir wollen die elterliche Gewaltanwendung sanktionieren und helfen, daß sie nicht mehr geschehen muß. Aber wir wollen, billigen und wünschen, daß Eltern ihren Kindern in der Erziehung Grenzen setzen und diese Grenzen durchsetzen. Die elterliche Gewaltanwendung ist nicht das einzige Mittel der Erziehung; das ist der häufig anzutreffende Irrtum, dem es entgegenzutreten gilt. Erziehung bedeutet vielmehr die Internalisierung, das In-sich-Aufnehmen von Wertsetzungen, die für das weitere Leben von Kindern und ihre Umgebung von großem Gewicht sind. Das gelingt am besten, wenn Grenzen von Menschen gesetzt werden, denen die Kinder vertrauen und die sie lieben. Dies wollen wir, und dazu gehören mitunter auch Strafen - das sage ich klar und deutlich -, aber eben nicht das Ausspielen körperlicher und sozialer Überlegenheit, durch die den Kindern Wertsetzungen unter gleichzeitiger Demütigung vermittelt werden. Wenn das geschieht, gehen diese Wertsetzungen nicht ins Innere. ({3}) Vierte Botschaft. Wir sind für elterliche Spontaneität. Ich möchte keine Eltern, die Dienst nach Vorschrift Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms machen. Die schlimmste Zeit in meinem Leben und wahrscheinlich auch im Leben meiner Kinder war, als ich glaubte, ich müßte mich durch einen halben Kilometer Erziehungsliteratur fressen, bevor ich meinen Kindern überhaupt gegenübertreten dürfte. Spontaneität von Eltern, die ihre Kinder lieben, schließt elterliches Versagen nicht aus, ja ich fürchte, sie schließt es ein. Ich bekenne mich in kollegialer Mitschuld zu dem, was mitunter auch meinen Kindern durch mich widerfahren ist. Aber es muß möglich sein, daß Eltern wissen, was gut und erlaubt ist. Es muß möglich sein, daß auch Eltern ihre Kinder um Verzeihung bitten, wenn sie - das ist nicht auszuschließen; das widerfährt uns immer wieder - auf Grund von Überforderung in einer Situation zu einem falschen Mittel greifen. Es ist nötig, daß die Eltern in diesen Fällen die Würde ihrer Kinder wiederherstellen. Eltern müssen mehr tun als das, was im Gesetz steht. Wir können gar nicht alles, was Eltern für ihre Kinder tun sollten, in die Gesetze hineinschreiben. Aber darum dürfen wir elterliches Versagen nicht immer mit den Mitteln des Verbotes oder der Bestrafung ahnden. Vielfach reicht Hilfe aus; denn es gibt selten Eltern, die ihren Kindern feindlich gesonnen sind. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich freue mich, mit Ihnen gemeinsam eine weitere Runde der Kindschaftrechtsreform zu bestreiten. Es war mir ein Vergnügen in der letzten Legislaturperiode. Lassen Sie uns wieder über Formulierungen streiten! Ich denke, in unseren Absichten werden wir uns einig sein. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Fischbach von der CDU/CSU-Fraktion.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau von Renesse, wir können das, was Sie gerade gesagt haben, wirklich nur unterstreichen und unterschreiben. Inhaltlich sind wir einer Meinung. Aber es gibt noch einige Fragen zum technischen Verfahren, wenn das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung umgesetzt wird. Wir beraten heute zum erstenmal über das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Es geht um Gewalt gegen Kinder und auch um das Wohl der Kinder. Zum Wohl des Kindes gehören seine körperliche und auch seine seelische Unversehrtheit. Jede Form der Körperverletzung und der Mißhandlung ist ein unverzeihlicher Eingriff in die Personalität und Würde des Kindes. Körperverletzungen gegenüber Kindern mit dem elterlichen Züchtigungsrecht zu rechtfertigen ist nach dem von uns in der letzten Legislaturperiode verabschiedeten Kindschaftrechtsreformgesetz nicht mehr möglich. Durch die Verabschiedung dieses Gesetzes in der Bundestagssitzung vom 25. September 1997 hat es bereits eine entscheidende Veränderung des § 1631 Abs. 2 BGB gegeben. Die damals geltende Regelung, daß entwürdigende Erziehungsmaßnahmen unzulässig sind, wurde konkretisiert und dadurch ergänzt, daß unter „entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen“ besonders körperliche und seelische Mißhandlungen fallen. Damit wurde eine entscheidende Veränderung des bis dahin geltenden Erziehungsrechts der Eltern vorgenommen, obwohl - das gebe ich auch zu - in dem über 500 Seiten starken Gesetzentwurf zum Kindschaftrechtsreformgesetz eine Änderung des § 1631 ursprünglich nicht vorgesehen war. Eine in der Politik seit Jahren umstrittene, aber von Kindesrechtlern lange geforderte Präzisierung wurde mit der Verabschiedung dieses Gesetzes verwirklicht und fand damit Eingang in das deutsche Recht. Gleichwohl wurden auch bei der dann gefundenen Lösung, dem jetzt geltenden Recht, Bedenken an der befürchteten Kriminalisierung von „Klapsen“ und damit auch der Eltern als Täter angemeldet. Der bloße „Klaps“ dürfte nicht den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen, wenn er wirklich nicht mehr als ein einfacher „Klaps“ ist. Insoweit fehlt die Definition für die in § 223 StGB vorausgesetzten üblen, unangemessenen Behandlungen. Aber alles, was darüber hinaus geht, soll nunmehr ganz bewußt unzulässig und damit gegebenenfalls auch strafrechtlich sanktionsfähig sein. In Ihrem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf verweisen Sie, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, allerdings selber darauf, daß Eltern bereits heute auf Grund der bestehenden gesetzlichen Regelung in Fällen von Körperverletzungen gegen ihre Kinder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Eine Ausweitung der Strafbarkeit soll es nicht geben. Ich zitiere: Nicht die Strafverfolgung oder der Entzug der elterlichen Sorge dürfen deshalb in Konfliktlagen im Vordergrund stehen, sondern Hilfen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern. ({0}) Einige Personen werfen die Frage auf, warum die Regelung bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine weitere Änderung erfahren soll, nachdem die Regelung erst zum 1. Juli 1998 in Kraft getreten ist und damit gerade einmal ein Jahr lang Geltung erlangt hat. Ich persönlich halte diese Fragestellung allerdings deshalb nicht für berechtigt, weil mit ihr verkannt wird, daß es auch bereits anläßlich der Beratungen zum Kindschaftsrechtsreformgesetz im Rahmen der Berichterstattergespräche mehrere Dutzend Vorschläge für Formulierungen des § 1631 Abs. 2 gegeben hat. Wir haben uns nicht leicht getan. Somit war nicht nur eine Lösung richtig, sondern mehrere. Wir haben uns auf eine geeinigt, von der wir glaubten, sie sei die beste. Daß dieses Suchen nach einer richtigen Formulierung auch die SPD-Bundestagsfraktion erfaßt hat, kann man dem Umstand entnehmen, daß die SPD noch im September 1997 im Plenum des Deutschen Bundestages beantragte, eine Formulierung in § 1631 aufzunehmen, die lautete: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen“. Gegen diese Formulierung, daß Kinder gewaltfrei zu erziehen sind, wurde damals von unserer Seite der Einwand der Unbestimmtheit entgegengehalten. Der Begriff der gewaltfreien Erziehung ist mißverständlich, er schafft UnMargot von Renesse klarheit und hilft damit den Eltern und vor allen Dingen den Kindern in der Tat nicht. ({1}) Die jetzt von der Koalition eingebrachte Formulierung „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.“ weicht daher deutlich von der ursprünglich von der SPD beantragten Formulierung aus dem Jahr 1997 ab. Aber genau diese neue Formulierung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB, daß Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben, wirft eine Reihe von Fragen auf. Wie soll denn im Konkreten das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung im Streitfalle rechtlich durchgesetzt werden? Von wem soll im Namen des Kindes das Recht auf gewaltfreie Erziehung wahrgenommen werden? Droht hier nicht möglicherweise ein neues Konfliktpotential im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, obwohl konfliktschonendere Modelle der Mediation einen besseren Erfolg bringen könnten? Wird durch den Rechtsanspruch auf gewaltfreie Erziehung durch zusätzliche Prozesse der Konfliktstoff zwischen Eltern und Kindern auf eine neue, nicht vertretbare „Qualitätsstufe“ verlagert? All diese berechtigten Fragen müssen im Rahmen der Beratungen zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung geprüft und abgewogen werden. Diesbezüglich ist es sicher sinnvoll, im Rahmen einer eigenen Anhörung Vertreter der Praxis zu diesem Komplex anzuhören. Die jetzt geltende Formulierung in § 1631 Abs. 2 BGB, daß entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Mißhandlungen, unzulässig sind, soll auf Grund der vorliegenden Gesetzesinitiative nunmehr durch die Formulierung ersetzt werden, daß körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen unzulässig sind. Materiell-rechtlich bedeutet diese beabsichtigte neue Formulierung nach meiner festen Überzeugung keine Veränderung gegenüber der jetzt bestehenden Rechtslage. Dies wird auch in der Begründung zu dem Gesetzentwurf von den Koalitionsfraktionen selber eingestanden. Ich räume jedoch ein, daß die Formulierung „Körperliche Bestrafungen … sind unzulässig.“ ein deutlicheres Signal als die zur Zeit geltende Formulierung gegenüber erziehungsberechtigten Eltern darstellt. Insofern hat die diesbezüglich beabsichtigte Änderung auf den ersten Blick einen gewissen Charme, den ich nicht verkennen will. Wie jedoch der Begriff der „seelischen Verletzungen“ terminologisch auszulegen ist, muß im Rahmen der sicher notwendigen Anhörung mit Fachleuten erörtert werden. Schließlich ist in den Gesprächen mit den Fachleuten des weiteren zu prüfen, ob die beabsichtigte Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch ausreichend ist, um den Inhalt der neuen Formulierung hinsichtlich des Erziehungsrechts der Eltern ausfüllen zu können. Im Hinblick auf die Zielsetzung des Entwurfs ist es sicher sinnvoll, die allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie ausdrücklich um solche Beratungsangebote zu ergänzen, die Eltern den Weg zu einem gewaltfreien Umgang mit ihren Kindern in Konflikt- und Krisensituationen aufzeigen. ({2}) Ob die gefundene Formulierung Ihres Gesetzentwurfs dieses Ziel erreicht, muß jedoch bezweifelt werden. Durch die beabsichtigte flankierende Ergänzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes um Angebote zur Förderung der gewaltfreien Erziehung fallen aber am Ende vermehrte Kosten bei den Jugendämtern an. Diese Mehrkosten sind unabwendbar, da anfallende Beratungsgespräche sicher auch einen vermehrten Personalaufwand zur Folge haben. Die damit verbundenen Kosten müßten vor allen Dingen die Kommunen und Kreise tragen. Hier bedarf es noch einer Erörterung mit den kommunalen Spitzenverbänden über die Frage, wie hoch im einzelnen dieser Mehraufwand beziffert wird und wie er finanziert werden soll. Aus all meinen Ausführungen können Sie entnehmen, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Reihe von Fragen geklärt wissen will, die ich im Rahmen meiner kurzen Ausführungen aufgezeigt habe. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung im BGB gewährleistet ja nicht, daß jedes Kind vor Prügel bewahrt wird. Dies stellte bereits Rita Grießhaber am 25. September 1997 fest. Gewalt muß schon frühzeitig aus dem Kinderzimmer verbannt werden. Deshalb muß in Deutschland ein Diskussions- und Bewußtseinsbildungsprozeß in Gang gesetzt werden, durch den klar wird, daß Gewalt, sowohl körperliche als auch seelische, nicht Gegenstand von und vor allen Dingen auch kein Mittel der Erziehung sein kann. Ein Rechtsanspruch allein hilft leider auch nicht weiter. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ekin Deligöz von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gewalt gegen Kinder ist ein ernstes Thema, das niemanden von uns kalt läßt. Bei Gewalt von Kindern ist das aber ähnlich. Ich denke an Jugendliche, die auf der Straße ältere Menschen überfallen, und an Kinder, die auf Klassenkameraden und sogar auf Lehrer losgehen. Uns allen steckt noch der Fall Mehmet mit seinen 60 Straftaten tief in den Knochen. Ein Kind, das schwere Straftaten zu verantworten hat, erschreckt, schockiert und lähmt. Viele, auch viele Politikerinnen und Politiker, überspielen die bei ihnen enstandene Verunsicherung dadurch, daß sie nach harten Maßnahmen rufen: nach Sanktionsmitteln, nach Recht und Gerechtigkeit und nach Mitteln, die zur Kriminalisierung dieser Kinder und ihrer Eltern führen. Sie verdrängen dabei aber die Ursachen dafür, warum ein Kind so wird. Es ist nämlich längst erwiesen: Körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder ist nicht nur inhuman, sondern sie schlägt auch direkt in unsere Gesellschaft zurück. ({0}) Die meisten Gewalt- und Sexualverbrecher waren in ihrer Kindheit oft, sehr oft Opfer brutalster Gewalt direkt zu Hause. Wenn wir Kinder besser vor Gewalt schützen, tun wir das nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für uns, die wir in dieser Gesellschaft zusammenleben wollen. Daß Täter oft auch Opfer waren und später andere zu Opfern machen, ist ein schrecklicher Kreislauf, den wir mit diesem Gesetz durchbrechen wollen. ({1}) Das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung ist dabei ein wichtiges rechtspolitisches Instrument. Andere Länder, vor allem die skandinavischen Staaten, haben uns dabei schon eine ganze Menge vorgemacht, woraus wir Erfahrungen sammeln können. Gewalt gegen Kinder ist dort ganz erheblich dadurch zurückgegangen, daß die Stellung der Kinder aufgewertet wurde, eine massive öffentliche Kampagne durchgeführt wurde und Aufklärung stattgefunden hat. Dort hat man außerdem auf die Kriminalisierung der Eltern bewußt verzichtet. Die rotgrüne Koalition setzt mit ihrer Initiative den Schlußpunkt unter eine Debatte, welche die bundesdeutsche Öffentlichkeit schon seit einem Vierteljahrhundert bewegt. Mit dem Gesetz werden zahlreiche praktische Probleme gelöst, die mit der gegenwärtigen Rechtslage verbunden sind. Schwere Gewalttaten waren schon bisher strafbar - das haben Sie bereits verdeutlicht -, aber bei unregelmäßiger Gewaltanwendung, die nicht gleich zu schwerer Körperverletzung führte, kam das differenzierte Instrument der Jugendhilfe oft nicht richtig zur Geltung. Wenn strafrechtliche Sanktionen aus Kindeswohlerwägungen unterlassen wurden, blieb oft nur das ebenfalls fatale Nichtstun, das Zuschauen oder - noch schlimmer - das Wegschauen übrig. ({2}) Das neue Gesetz weitet die Strafbarkeit nicht aus. Es kriminalisiert die Familien nicht. Aber es stellt ganz deutlich klar: Prügeln von Kindern ist immer ein Unrecht, immer eine Verletzung der Würde dieser Kinder. Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt gegen Kinder; es gibt auch keine erzieherische Rechtfertigung dafür. ({3}) Das neue Gesetz füllt hier eine riesige Lücke im Kinderschutz aus. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung soll frühzeitig sensibilisieren und eröffnet Eltern wie Kindern das Recht auf ein breites Hilfeangebot. Die Zielrichtung von Beratung wird auch um das Aufzeigen von gewaltfreien Konfliktlösungen erweitert. Da Gewalt immer zunächst im kleinen beginnt, können Kinder so früher und damit effektiver vor Gewalt geschützt werden. Wichtig auch: Die Träger des Rechts auf gewaltfreie Erziehung sind die Kinder. Sie werden also rechtlich nicht mehr als Objekte von Erziehungsmaßnahmen, sondern als Träger von Grundrechten definiert. ({4}) Nun ist es unsere Aufgabe, uns trotz der schwierigen Haushaltslage dafür einzusetzen, daß genügend Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden, damit wir eine öffentliche Kampagne starten können, damit wir in der Aufklärung der Gesellschaft fortschreiten können und damit wir Prävention und Beratung den Vorrang geben. Das müssen uns unsere Kinder wert sein; das sind wir ihnen schuldig. Nicht nur eine öffentlich wirksame Kampagne, sondern auch die konstruktive Zusammenarbeit in der Kinderkommission, in den Ausschüssen und in den Anhörungen sind hier angesagt. Ich finde es sehr gut, Frau Kollegin Fischbach, daß gerade Sie die Bereitschaft dazu signalisiert haben. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau von Renesse hat ja schon dargestellt, daß wir in der letzten Legislaturperiode wesentliche Verbesserungen im Kindschaftsrecht eingeführt haben. Trotzdem ist in der Tat das Thema Gewalt in der Familie und vor allem Gewalt gegen Kinder ein virulentes Problem, wie auch die Untersuchungen von Pfeifer und anderen bezeugen. Sosehr ich den Ansatz des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen teile, sosehr ist mir aber auch bewußt, daß durch gesetzliche Maßnahmen allein die Gewalt in der Familie nicht beseitigt werden kann. Vielmehr bedarf es gesellschaftlicher Aufklärung und Hilfe vor allem bei schwierigen Familienverhältnissen. Ob der Ruf nach dem Staat, der ein wenig in Ihrem Gesetzentwurf anklingt, der Ruf nach Sozialarbeitern und dem Hineinwirken des Staates in die Familie der richtige Weg ist, kann sehr wohl bestritten werden. Vielmehr sollten Ärzte und Lehrer, aber auch Sportfunktionäre und Trainer - also das gesamte soziale Umfeld der Kinder - darauf geschult werden, daß sie ein wachsames Auge auf schwierige soziale und familiäre Situationen werfen. ({0}) Dabei sind wir uns sicherlich in diesem Hause alle einig, daß Kinder gewaltfrei zu erziehen sind und daß sie einen Anspruch darauf haben. Diesen Anspruch haben Sie ja in Ihrem Gesetzentwurf formuliert. Der Teufelskreis muß durchbrochen werden, der heißt: Kinder, die körperlich und seelisch gezüchtigt worden sind, werden in Zukunft ihre eigenen Kinder körperlich und seelisch züchtigen. Auch diese Tatsache ist empirisch festgestellt und wurde von Ihnen, Frau Kollegin Deligöz, sehr richtig ausgeführt. Unsere Gesellschaft muß gewaltfrei erzogen werden, denn nur so kann auch eine innergesellschaftliche Befriedung erfolgen. Deswegen stimmt die F.D.P. diesem Gesetzentwurf grundsätzlich zu. Wir werden uns an den Beratungen intensiv beteiligen. Insbesondere muß der Begriff „Gewalt in der Familie“ klarer definiert werden, zumindest durch ausführliche Begründungen und durch entsprechende Beispiele, damit auch bei den Auseinandersetzungen, die später zweifellos vor Gericht ausgefochten werden und ausgefochten werden müssen, klare Definitionen und Beispiele vorhanden sind. Dabei sollten auch die internationalen Entwicklungen, zum Beispiel in den skandinavischen Ländern, aber auch in Österreich, untersucht und genutzt werden, genauso wie die möglicherweise vorhandenen Erfolge der UN-Kinderkonvention, die der damalige Außenminister Dr. Kinkel hier im Bundestag mit umgesetzt hat. Er hat dafür gekämpft, daß sie nicht nur in der UNO, sondern auch in diesem Hohen Hause durchgesetzt und beschlossen worden ist. ({1}) Ich glaube, daß wir da auf dem richtigen Wege sind. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Rosel Neuhäuser von der PDS-Fraktion.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die UN-Kinderkonvention verpflichtet die Vertragsstaaten, das Kind vor jeder Form körperlicher und geistiger Gewaltanwendung zu schützen. Der vorliegende Gesetzentwurf versucht, diese Vorgabe in geltendes nationales Recht umzusetzen. Wichtig und aus meiner Sicht auch gut ist, daß das Gesetz eindeutig festlegt, daß das Kind als eigenständige Person die Achtung seiner Würde auch von den Eltern verlangen kann. ({0}) Dieser Blick auf das Kind als Subjekt und Träger von Rechten und Pflichten ist in Deutschland leider noch nicht die Regel. Wer in seiner Kindheit selber Gewalt und Kränkung durch seine Eltern erfährt, und sei es zum Zwecke der Vermittlung von Gut und Böse, wird es später als Erziehender schwer finden, auf die Anwendung solcher Methoden zu verzichten. Dieser Kreislauf von Gewalt muß aus unserer Sicht unterbrochen werden. Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern - das ist eben schon angeklungen haben gezeigt, daß entsprechende gesetzliche Regelungen, verbunden mit intensiver Aufklärungs- und Informationsarbeit, die auch zu diesem Gesetz noch notwendig ist, durchaus Erfolg haben können. Die Intention der Autoren, durch eine gesetzliche Vorgabe gesellschaftliche Normen und letztendlich Bewußtsein zu verändern, findet unsere Unterstützung. Allerdings dürfen wir bei allem guten Willen nicht aus dem Blick verlieren, daß es mit dem Verbot von Gewalt allein nicht getan ist. Vor allem sollten wir die Ursachen von Gewalt hinterfragen. Sicher spielen die eigenen Erfahrungen und tradierte Anschauungen eine wichtige Rolle. Aber wie oft sind in der Gegenwart auch Hilflosigkeit, Angst und Ratlosigkeit Auslöser für ein Erziehungsverhalten, das die Eltern letzten Endes so nicht wollen? Wieviel von dem Druck, den unsere Gesellschaft gerade auf Mütter und Väter ausübt, die sich zum Beispiel an den strukturellen Rücksichtslosigkeiten aufreiben, landet letztendlich bei den Kindern, die sich als schwächstes und am meisten abhängiges Glied in der Kette am wenigsten wehren können? Ich meine, wenn wir von gewaltfreier Erziehung sprechen, sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, wieviel strukturelle und materielle Gewalt unsere Gesellschaft selbst ausübt. In unserem Antrag zur Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz hatten wir in der letzten Legislaturperiode die Forderung nach einem Recht der Kinder auf ein gewaltfreies Leben formuliert. ({1}) Das ist letztendlich das Ziel, auf das wir zusteuern sollten, und ich denke, es gibt keinen Grund, darüber zu lachen. Ein Schritt auf diesem Weg ist der Versuch, Kindern das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zu geben. Gleichzeitig sollte aber auch alles unternommen werden, um das Leben mit Kindern zu fördern und zu erleichtern. Dabei stehen zum Beispiel eine sozial gerechte Umgestaltung der Familienbesteuerung, innovative Regelungen für die bessere Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Kindererziehung und verbesserte öffentlich geförderte Betreuungsmöglichkeiten für Kinder ganz oben auf der Dringlichkeitsliste. Wir werden über den vorliegenden Gesetzentwurf in den Ausschüssen auch mit Experten weiter beraten. Ich hoffe, daß uns am Ende ein Gesetz gelingt, das Kinderrechte stärkt und einen Beitrag zu weniger Gewalt in unserer Gesellschaft leistet. Ich möchte noch einen Satz zu den Fragen der Erziehung, die vorhin angesprochen worden sind, sagen. Makarenko hat einmal gesagt: Erziehung ist Vorbild. ({2}) - Ja, Liebe und Vorbild. Ich denke, das sollte in der weiteren inhaltlichen Arbeit zu diesem Gesetzentwurf im Mittelpunkt stehen. Danke. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich gebe jetzt dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ächtung und Bekämpfung der Gewalt in der Erziehung hat sich die Regierung bereits in ihrem Regierungsprogramm und in der Koalitionsvereinbarung zum Ziel gesetzt. Der heute zu beratende Gesetzentwurf will dieses Projekt umsetzen. Im BGB soll das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung verankert werden. Die Forderung nach gewaltfreier Erziehung ist übrigens alt. Wir haben über sie bereits im Zusammenhang mit der ersten Reform des Familien- und Kindschaftsrechts in den 70er Jahren ({0}) sowie im Rahmen der Kindschaftsrechtsreform im vergangenen Jahr diskutiert. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Jahre ist bekannt, daß körperliche Gewalt in Familien weit verbreitet ist. Gewalt bedeutet dabei nicht der kleine Klaps, sondern Prügel und echte Mißhandlungen. Es kommt hinzu: Die Gewalt in den Familien nimmt nicht ab. Sie ist bei Familien, in denen Streß und Spannungen vorhanden sind, sehr viel größer als bei Familien, in denen sich Probleme mit Alkohol, Drogen, der Ehe oder den wirtschaftlichen Verhältnissen nicht oder nicht so deutlich zeigen. Zugleich - das ist mehrfach angesprochen worden ist wissenschaftlich belegt, daß Kinder, die in ihrer Familie schwer geschlagen oder mißhandelt worden sind, später vermehrt selbst gewalttätig werden, und zwar zwei- bis dreimal so häufig wie Kinder, die ohne Gewalt erzogen worden sind. Um diesen Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen, müssen wir gesetzgeberisch eingreifen. Wer sich die neueste Beilage der Wochenzeitung „Das Parlament“ anschaut, der findet dort eine Zusammenfassung der Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zu diesem Thema. Man kann sie jedem von uns zur Lektüre empfehlen. Der bisherige § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs verhindert nicht die Anwendung von Gewalt als Erziehungsmittel. Er erklärt entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Mißhandlungen, für unzulässig. Dabei ist der dem Strafrecht entlehnte Begriff der „körperlichen Mißhandlung“ weit auszulegen, so daß schon eine einzelne Ohrfeige ausreichen kann. Allerdings werden körperliche Erziehungsmaßnahmen nach wie vor als „pädagogisch mögliche Erziehungsreaktionen“ angesehen. Auch wird der Mißhandlungsbegriff in der Alltagssprache sehr viel enger aufgefaßt als in der Rechtssprache. Ein „Mißhandlungsverbot“, wie es das geltende Recht enthält, ist deshalb nicht geeignet, in der Öffentlichkeit zu verdeutlichen, daß die Ohrfeige oder eine Tracht Prügel unzulässig sind. ({1}) Der Gesetzentwurf schafft hier Klarheit. Er verbrieft das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung und beschreibt beispielhaft die verbotenen Handlungen. Eines ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: Mit diesem Entwurf soll die Familie nicht kriminalisiert werden. Zwar ist die körperliche Mißhandlung eines Kindes durch seine Eltern eine Straftat, die nicht mehr durch das früher anerkannte Züchtigungsrecht der Eltern gerechtfertigt wird. In Konfliktlagen dürfen allerdings nicht Strafverfolgung oder Entzug der elterlichen Sorge im Vordergrund stehen, sondern Hilfen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern. Aus diesem Grund sieht der Gesetzentwurf eine flankierende Regelung im Kinder- und Jugendhilferecht vor. Jugendhilfe soll den Eltern künftig Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können. Meine Damen und Herren, eine Gesetzesänderung, die nicht im Bewußtsein der Bevölkerung verankert ist, wird den angestrebten Erfolg nicht erreichen. Es wäre sinnvoll, das Vorhaben trotz der Sparzwänge mit einer breitangelegten Informationskampagne zu begleiten; dies ist schon ausgeführt worden. Schweden hat damit gute Erfahrungen gemacht. Dort wurde schon im Jahr 1979 die Gewalt gegen Kinder verboten. Eine Kampagne hat diese Regelung in weiten Teilen der Bevölkerung bekanntgemacht, so daß im Jahre 1981 etwa 99 Prozent der Schweden die Neuregelung kannten. Seitdem ist der Gewaltpegel dort insgesamt gesunken; er liegt heute weit unter dem Niveau in Deutschland. Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß es auch in Deutschland zu einer Bewußtseinsänderung kommen wird. Gewalt darf kein Erziehungsmittel sein. Es ist für unsere Gesellschaft von großer Bedeutung, schon in der Familie mit dem Leitbild der gewaltfreien Erziehung Ernst zu machen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1247 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie um etwas Geduld. Wir müssen noch zu den TagesordnungsRosel Neuhäuser punkten, zu denen die Reden zu Protokoll gegeben worden sind, die Überweisungen beschließen. Wir kommen zunächst einmal zu Tagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Paul Laufs, Dr. Christian Ruck, Dr. Klaus W. Lippold ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Reaktor-Sicherheitskommission mit unabhängigen, fachlich hoch qualifizierten Experten besetzen - Drucksache 14/1010 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Haushaltsausschuß Hier wird interfraktionell die Überweisung der Vor- lage auf Drucksache 14/1010 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.*) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit Homburger, Hildebrecht Braun ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Erarbeitung einer internationalen Bodenschutzkonvention - Drucksache 14/983 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung Auch hier wird die Überweisung der Vorlage - auf Drucksache 14/983 - an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.**) ------ *) Zu Protokoll gegebene Reden siehe Anlage 5 **) Zu Protokoll gegebene Reden siehe Anlage 6 Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung fälliger Zahlungen - Drucksache 14/1246 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({4}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Hier wird interfraktionell die Überweisung des Ge- setzentwurfs auf Drucksache 14/1246 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.*) Wir kommen schließlich zu Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von den Abgeordneten Manfred Grund, Dr. Michael Luther, Hartmut Büttner ({5}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Vertriebenenzuwendungsgesetzes ({6}) - Drucksache 14/1009 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({7}) Finanzausschuß Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Hier wird interfraktionell die Überweisung des Ge- setzentwurfs auf Drucksache 14/1009 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlos- sen.**) Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Donnerstag, den 1. Juli 1999, 9 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen.