Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, teile ich
mit, daß der Kollege Dr. Rolf Niese sein Amt als
Schriftführer niedergelegt hat. Die Fraktion der SPD
schlägt als Nachfolger den Kollegen Gerhard Rübenkönig vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre
keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Gerhard Rübenkönig als Schriftführer gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste
vorliegenden Punkte zu erweitern:
ZP2 Weitere Überweisungen im vereinfachen Verfahren
({0})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({1}), Dietrich Austermann, Otto Bernhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Wirtschaftli-
cher Ausgleich und Übergangsregelung für Duty-free -
Drucksache 14/1206 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Renate Blank, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Überprüfung von
Kraftfahrzeugen nach Unfallreparaturen - Drucksache
14/1207 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert Otto ({3}), Drik Fischer ({4}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Realisierung des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit ({5}) Nr. 8
Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-
Berlin - Drucksache 14/1208 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({6}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen im Fahrerlaubniswesen Drucksache 14/1209 ZP3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Politische Schlußfolgerungen aus dem Beschluß der Katholischen Bischofskonferenz zur Schwangerschaftskonfliktberatung
Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 10 b - es handelt sich um die zweite und dritte
Beratung des Gesetzentwurfs der F.D.P. zur Stärkung
der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung
- abzusetzen.
Außerdem weise ich auf eine geänderte Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste hin:
Die Mitberatung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung soll
bei der nachfolgenden Unterrichtung gestrichen
werden.
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 1999
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der
Bundesregierung - Drucksachen 14/347, 14/348
({7}) überwiesen:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({8})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
Haushaltsausschuß
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung:
Deutschland erneuern - Zukunftsprogramm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen ({9}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! „Deutschland erneuern - Zukunftsprogramm zur Sicherung von Arbeit, Wachstum und sozialer Stabilität“ heißt das Motto, unter dem die Bundesre3908
gierung ein wirtschafts- und finanzpolitisches Gesamtkonzept vorgelegt hat, mit dem die Weichen für die
Haushalts-, Finanz- und Steuerpolitik des beginnenden
21. Jahrhunderts gestellt werden.
Mit diesem Reformpaket, einem der umfassendsten
in der Geschichte der Bundesrepublik, gestalten wir die
Grundlagen für die Zukunft unserer Kinder.
({10})
Es umfaßt die Haushaltskonsolidierung, die strukturelle
Neuausrichtung des Haushalts, die Neuregelung des
Familienleistungsausgleichs, die Unternehmensteuerreform und die Fortsetzung der ökologischen Steuerreform.
Wir begegnen damit den Herausforderungen, denen
sich die Bundesregierung nach 16 Jahren konservativliberaler Politik stellen muß. Die Rekordarbeitslosigkeit,
die hohe Abgabenbelastung der Bürgerinnen und Bürger, die finanziellen Probleme der sozialen Sicherungssysteme, entsprechend hohe arbeitsplatzvernichtende
Lohnnebenkosten für Unternehmen und Arbeitnehmer,
insbesondere aber der immense Schuldenberg, der unseren Bundeshaushalt fast handlungsunfähig gemacht
hat, sind die Herausforderungen, denen wir uns mit unserem Paket gezielt stellen und auf die wir Antworten
geben.
({11})
Heute wird schon fast jede vierte Steuermark für Zinsen ausgegeben. Die Bürgerinnen und Bürger zahlen
Steuern und bekommen keine adäquaten Leistungen dafür mehr vom Staat. Der Schuldenberg ist unter der Regierung Kohl von 350 Milliarden DM auf heute 1,5 Billionen DM angewachsen.
({12})
- Meine Damen und Herren, ich nehme Ihre Zurufe gern
auf. Ich kritisiere nicht die Ausgaben für die deutsche
Einheit, die in besonderem Maße darin enthalten sind.
({13})
Ich kritisiere, wie ich das immer getan habe, die
leichtfertige, unsolide Finanzpolitik, mit der Sie die
deutsche Einheit finanziert haben.
({14})
Sie haben sich der Illusion hingegeben - das entsprach
übrigens gar nicht der Auffassung der Menschen -, daß
die deutsche Einheit nicht von uns allen Anstrengungen
verlangte. Die solidarische Bereitschaft im Volk, sich
für die Einheit ein Stück weit krummzulegen und Geld
dafür herzugeben, war doch vorhanden! Hätten Sie sie
nur abgerufen, hätten wir heute nicht diese Probleme.
({15})
- Lieber Herr Kollege Waigel, ich habe damals wie
viele andere sowohl aus den Gewerkschaften als auch
aus dem Unternehmerlager für höhere Steuern plädiert,
damit die deutsche Einheit verläßlich finanziert wird.
Wären wir damals so verfahren, stünden wir heute nicht
vor diesem furchtbaren Scherbenhaufen, den Sie hinterlassen haben.
({16})
Mit der Übernahme der Regierung müssen wir uns
nun dieser Verantwortung stellen. Wir können das Erbe
nicht ausschlagen und wollen es auch gar nicht. Wir
wollen die Zukunft gestalten; das tun wir mit diesem
Zukunftsprogramm.
({17})
Wir müssen die Umkehr schaffen und wieder eine finanzpolitisch solide, verantwortliche Politik machen.
Das gilt nicht nur für heute und morgen, sondern dieser
Anspruch reicht weit über eine Legislaturperiode hinaus.
Deshalb dürfen wir nicht wie bisher ständig über unsere
finanziellen Verhältnisse leben. Dies wäre gegenüber
unseren Kindern und der Zukunft unseres Landes verantwortungslos. Wir müssen verhindern, daß künftige
Generationen für die Schulden arbeiten und Steuern
zahlen müssen, die die jetzige Generation aufhäuft. Sparen ist für uns eben kein Selbstzweck, Sparen ist Mittel
zum Zweck, nämlich zur Schaffung von Arbeitsplätzen,
für nachhaltiges Wachstum in einer intakten Umwelt,
für die Förderung von Bildung und Innovation; vor allem aber sorgt Sparen für einen aktiven Staat, der sozialen Schutz und soziale Gerechtigkeit im Zeitalter eines sich immer mehr beschleunigenden wirtschaftlichen
Strukturwandels leisten kann. Das ist der Mittelpunkt
unserer Finanz- und Wirtschaftspolitik: Arbeitsplätze
und soziale Gerechtigkeit für alle.
({18})
Damit der Staat nicht seiner Handlungsfähigkeit beraubt wird, müssen wir jetzt handeln. Ohne eine konsequente Sanierung der Staatsfinanzen fehlt uns zukünftig
das Geld für Forschung und Entwicklung, für Bildung
und Ausbildung, für Infrastrukturmaßnahmen, Wohnungs- und Straßenbau, für den Aufbau in den neuen
Bundesländern, für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, für
die Unterstützung von Existenzgründern, für einen fairen Lastenausgleich zwischen den Generationen, für den
Erhalt einer lebenswerten Umwelt und für die steuerliche Entlastung von Familien, Arbeitnehmern und Unternehmen.
Die Wirtschaft braucht solide Staatsfinanzen, Investitionen erfordern ein stabiles Umfeld.
({19})
Mit unserer Haushaltspolitik schaffen wir Vertrauen
und Sicherheit. Das trägt ebenso zu einem stabilen Euro
wie zu dauerhaft niedrigen Zinsen bei.
({20})
Bundesminister Hans Eichel
Beides sind elementare Voraussetzungen für arbeitsplatzschaffende Investitionen.
({21})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
F.D.P., mit Ihrer Politik der Staatsverschuldung, mit der
Sie sich übrigens auch immer hart an der Grenze der
Maastricht-Kriterien bewegten und durch die Sie die Erfordernisse des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht erfüllen können, schafft man kein Vertrauen in den Euro. Das ist klar.
({22})
Eines haben Sie glänzend hinbekommen: sich auf der
einen Seite als Stabilitätspolitiker zu präsentieren und
auf der anderen Seite eine Verschuldungspolitik zu betreiben, wie es sie in Deutschland nie gegeben hat.
({23})
Wir müssen den Marsch in die Staatsüberschuldung
stoppen. Mittelfristig streben wir einen Haushalt ohne
Neuverschuldung an. Das bedeutet, daß die Neuverschuldung Jahr für Jahr gesenkt werden muß. Nur eine
Politik der Haushaltskonsolidierung bringt die dringend
notwendige Umkehr in der Finanzpolitik. Wenn sich alle
dieser Verantwortung stellen, können wir einen ausgeglichenen Haushalt bereits in der nächsten Legislaturperiode erreichen. Was Sie in Jahrzehnten angerichtet haben, braucht seine Zeit, um behoben zu werden. Aber in
dieser Zeit schaffen wir es.
({24})
Mit dem Zurückfahren der Neuverschuldung gewinnt
die öffentliche Hand nach und nach ihre Handlungsfähigkeit zurück und kann endlich wieder Impulse geben.
Das zeigt: Was die Medien verkürzt als „Sparpaket“ deklarieren, ist weit mehr als das: Es ist die Basis für ein
sozial gerechtes, zukunftsfähiges Gemeinwesen.
Mit unseren Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung haben wir einen ersten wichtigen Schritt zur Sicherung der Staatsfinanzen getan. Auch wenn es von vielen
nicht für möglich gehalten wurde: Wir haben unser Einsparziel von 30 Milliarden DM für das Jahr 2000 erreicht. Da können Sie in allen Einzelheiten kritisieren,
meine Damen und Herren; aber Sie sind beweispflichtig,
was Sie anders machen würden.
({25})
In den nächsten vier Jahren können wir mit unserem
Zukunftsprogramm insgesamt etwa 150 Milliarden DM
einsparen. Dieses Einsparziel werden wir auch umsetzen. Durchmogeln hilft nicht mehr. Mit einer Schönung
der Einnahmenseite, wie ich sie vorgefunden habe - da
waren ständig überhöhte Wachstumsschätzungen im
Spiel -, kann man den Haushalt zwar auf dem Papier
konsolidieren, aber in Wirklichkeit macht man Schulden.
({26})
Wenn ich heute von einem Wissenschaftler aus Kiel
höre, wir führten den Haushalt nur um den Betrag zurück, um den wir ihn 1999 aufgebläht hätten, dann muß
ich sagen: Ein Professorentitel ist eine schöne Sache,
aber er zwingt auch zum genaueren Hinsehen.
({27})
Um Ihnen etwas zu Ihrem Haushalt zu sagen, verehrter Herr Kollege Waigel, brauche ich nur auf meine
Rede im Bundesrat vom 25. September zurückzugreifen.
In dem Haushalt war der Haushaltsnotlagenzuschuß für
das Saarland und für Bremen nicht etatisiert. Darin waren die Lasten der viel höheren Arbeitslosigkeit nicht
etatisiert. Darin waren die Risiken aus den Rußlandkrediten nicht etatisiert. Das mußten wir drauflegen, um
den Haushalt ehrlich zu machen.
({28})
Das strukturelle Defizit hatten Sie durch enorm hochgefahrene Privatisierungserlöse verdeckt. Das ist doch
keine Zukunftspolitik!
({29})
Wir werden unser Einsparziel umsetzen. Durchmogeln hilft nicht mehr. Wenn wir jetzt nicht handeln,
würde die Neuverschuldung im Jahr 2000 auf rund 80
Milliarden DM ansteigen. Das wäre die zwangsläufige
Folge der Haushaltsstruktur, die wir von der Vorgängerregierung geerbt haben. Wer heute nicht bereit ist zu
sparen, steht morgen vor gänzlich unlösbaren Problemen. Ein handlungsunfähiger Staat ist sozial das
Schlimmste, was diesem Lande passieren kann.
({30})
Das bedeutet aber auch, daß jetzt von vielen Belastungen in Kauf genommen werden müssen. Nachdem
der Marsch, der Ausweg in die Verschuldung nicht mehr
möglich ist, stehen wir doch nur vor der Alternative, den
Bürgern durch höhere Steuern das Geld aus dem Portemonnaie herauszuziehen oder ihnen durch geringere
staatliche Leistungen weniger hineinzugeben. Wer plädiert da für höhere Steuern? Das würde ich gerne wissen.
Das bedeutet aber auch - ich sagte es schon -, daß
Belastungen in Kauf genommen werden müssen. Wir
haben jedoch darauf geachtet, das sozial gerecht zu gestalten, so gut der Haushalt das zuläßt.
Unser Zukunftsprogramm kann nur erfolgreich sein,
wenn alle gemeinsam mithelfen. Leider ist das SanktFlorians-Prinzip weit verbreitet: Sparvorschläge zu LaBundesminister Hans Eichel
sten anderer - die neueste Version heißt: intelligent sparen - werden gerne gemacht.
({31})
Ich könnte Ihnen noch viele Varianten zu diesem Thema
erzählen; das ist eine unendliche Geschichte. „Kreativ
sparen“ ist auch so eine Lösung.
({32})
Aber selber dazu beitragen möchte man lieber nicht. Mit
dieser Haltung muß Schluß sein, meine Damen und Herren; sie ist nicht zukunftsfähig.
({33})
Insofern sehe ich in dieser Umkehr in der Wirtschafts- und Finanzpolitik auch eine große Chance für
eine gesellschaftliche Erneuerung. Die Tendenz, nur
seinen persönlichen Vorteil zu Lasten anderer zu suchen, muß umgekehrt werden.
({34})
Gefragt sind Bürgerinnen und Bürger mit Verantwortungsbewußtsein und solidarischem Verhalten, die das
politische und gesellschaftliche Leben mitgestalten.
Dann können wir die Weichen für Innovation in Staat,
Wirtschaft und Gesellschaft stellen und diese zukunftsfähig machen.
Sparen allein reicht jedoch nicht aus. Man kann sich
nicht „gesundsparen“. Deshalb setzen wir mit unserer
Politik gezielt auf Wachstumsimpulse, die den konjunkturellen Aufschwung unterstützen. Wir schaffen ein
modernes, international konkurrenzfähiges Steuerrecht,
das wachstums- und beschäftigungsfreundlich sowie investitionsfördernd ausgestaltet ist. Gleichzeitig tragen
wir dazu bei, daß die Steuergerechtigkeit in unserem
Lande wiederhergestellt wird. Unser Steuersystem muß
wieder mehr auf eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ausgerichtet werden, wie es die Verfassung befiehlt.
({35})
Kleine und mittlere Unternehmen, Familien und Arbeitnehmer müssen entlastet werden. Bereits zu Beginn
dieses Jahres sind die Familien und Arbeitnehmer mit
der größten Einkommensteuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik, dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002
({36})
- ja, Sie haben es nicht fertiggebracht -, deutlich entlastet worden.
({37})
Auch wenn hierüber zur Zeit nicht viel in der Presse
steht: Wir senken den Eingangssteuersatz in dieser
Wahlperiode in drei Stufen von 25,9 auf 19,9 Prozent.
Das ist eine Entlastung um 36 Milliarden DM für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, meine Damen und
Herren.
({38})
Es ist ja kaum zu glauben, wie kurz inzwischen bereits
das Kurzzeitgedächtnis geworden ist.
({39})
Für eine Familie mit zwei Kindern ergibt sich daraus im
Jahre 1999 - wann haben Sie das je zuwege gebracht? eine Steuerentlastung von 1 200 DM, in den Jahren 2000
und 2001 eine Entlastung von jeweils 1 700 DM und ab
2002 eine Entlastung von 2 500 DM im Jahr.
({40})
Darüber hinaus haben wir den Spitzensteuersatz um 4,5
Prozentpunkte auf 48,5 Prozent gesenkt. Das allein sind
im Ergebnis weitere 9 Milliarden DM an Entlastung.
Diese Entlastungen muß man zusammen mit dem
Zukunftsprogramm sehen, das die Bundesregierung gestern beschlossen hat. Sie sind Bestandteil unserer Politik, die über die gesamte Legislaturperiode und darüber
hinaus angelegt ist. Weitere Steuerentlastungen für Familien und Unternehmen wird es mit der Neuordnung
des Familienleistungsausgleichs und der Unternehmensteuerreform geben.
Die steuerlichen Maßnahmen verbinden wir mit
Strukturmaßnahmen, die zu einer Stabilisierung des Sozialstaates beitragen, mit denen Chancen für neue Arbeitsplätze eröffnet werden und die soziale Gerechtigkeit wiederhergestellt wird. Ein erster Schritt war die
Senkung der Lohnnebenkosten im Rahmen der ökologischen Steuerreform. Das ist übrigens, meine Damen
und Herren, die erste Bundesregierung, bei der die
Lohnnebenkosten nicht mehr ständig weiter steigen, die
erste Bundesregierung, die den Anstieg gestoppt hat und
den Trend umkehrt.
({41})
Sie haben es ja nur mit Hilfe der damaligen Opposition
geschafft, den weiteren Anstieg der Rentenversicherungsbeiträge zu stoppen, weil Sie unsere Stimmen zur
Mehrwertsteuererhöhung brauchten. Wir haben zum erstenmal die Trendumkehr geschafft.
({42})
- Sie standen doch noch in der ersten Hälfte der 90er
Jahre für eine Politik, mit der die Mineralölsteuer viel
stärker erhöht wurde, als wir es jemals planen. Gleichzeitig sind die Lohnnebenkosten gestiegen, meine Damen und Herren.
({43})
Die politischen Schwerpunkte, die sich bereits im
Haushalt 1999 niedergeschlagen haben, werden aufrechterhalten und für die kommenden Jahre bekräftigt:
Die Zukunftsinvestitionen in Forschung, Bildung und
Bundesminister Hans Eichel
Wissenschaft werden Jahr für Jahr systematisch erhöht,
so daß die versprochene Verdoppelung in diesem Bereich zwar nicht nach fünf, aber nach sechs Jahren erreicht wird.
({44})
Die Investitionen in die Infrastruktur unseres Landes
werden im Jahre 2000 verstetigt. Außerdem wird die
Struktur des Haushaltes verbessert, weil sich der Anteil
der Investitionen erhöht.
Ich verhehle aber nicht, daß wir in den Folgejahren
noch große Probleme zu lösen haben. Wir müssen uns
endlich ehrlich vor Augen führen: Märchenbücher à la
Bundesverkehrswegeplan, in dem ungezählte Projekte
stehen, die alle nicht finanziert sind, oder wie ein Verteidigungshaushalt, in dem die Finanzierung der ganzen
Anschaffungen nicht enthalten ist - das ist doch keine
Politik!
({45})
Die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik werden auf hohem Niveau verstetigt. Das ist ein Stück Änderung in der politischen Philosophie: weg vom mehr
fürsorgenden, hin zum aktivierenden Sozialstaat. Das
schafft mehr Chancen für die Menschen, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Es wird sich lohnen, einmal
hinzusehen, was die Dänen, was die Holländer und die
Schweden auf diesem Wege zustande gebracht haben.
Vielleicht können wir in Deutschland davon etwas lernen.
({46})
Das schafft neue Chancen vor allem für Langzeitarbeitslose und Problemgruppen am Arbeitsmarkt. So
qualifizieren wir Menschen während ihrer Arbeitslosigkeit für die neuen Anforderungen am Arbeitsmarkt.
Das Sonderprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit wird fortgesetzt.
({47})
Ich bin stolz darauf, daß Deutschland im Rahmen der
Europäischen Union mit die wenigsten Sorgen im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit hat. Trotzdem sage ich:
Jeder arbeitslose Jugendliche ist einer zuviel. Wenn wir
in diesem Bereich noch mehr erreichen können, dann
wollen wir uns dafür krummlegen.
({48})
Im Rahmen einer Reform des sozialen Wohnens,
die Geben und Nehmen bedeutet, werden wir auf der einen Seite die Investitionen in die Neubautätigkeit etwas
zurücknehmen; dafür wird auf der anderen Seite das
Wohngeld für die Bürgerinnen und Bürger spürbar verbessert.
({49})
Der Aufbau Ost wird auf hohem Niveau fortgeführt.
In diesem Bereich - das, Herr Kollege Waigel, sage ich
anerkennend - habe ich im Haushalt ein paar positive
Luftbuchungen gefunden, weil das Geld nicht abgeflossen ist. Wenn das Geld, das gar nicht abfließt, aus dem
Haushalt herausgenommen wird, dann sollten Sie das
öffentlich nicht als eine Minderung des Aufbaus Ost
darstellen. Da bitte ich schon sehr um Ehrlichkeit;
({50})
denn die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder
ist und bleibt für die Bundesregierung ein besonderer
Schwerpunkt. Gleichzeitig stellen wir mit unseren
Sparmaßnahmen sicher, daß der Bundeshaushalt 2000
solide finanziert werden kann. Unser Sparpaket bringt
nicht nur eine kurzfristige Entlastung; vielmehr stellen
wir jetzt die Weichen für eine strukturelle und dauerhafte Konsolidierung des Bundeshaushalts. Unser Ziel
heißt: Wir wollen sobald wie möglich einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden.
Bei der Umsetzung der Einsparziele haben die Ressorts eigene Prioritäten gesetzt. Kürzungen nach der Rasenmähermethode hat es nicht gegeben. Wir haben, um
im Bild zu bleiben, jedem Ressort eine Rosenschere in
die Hand gegeben, damit mit gezielten Schnitten am Rosenstock sichergestellt werden kann, daß die Rosen
künftig wieder blühen. Bei Ihnen, meine Damen und
Herren, wären sie verdorrt!
({51})
Wenn Ihnen das Bild nicht gefällt, dann biete ich Ihnen ein anderes an: An die Stelle des süßen Gifts der
Staatsverschuldung, das mit Sicherheit zum Tode führt,
setzen wir die bittere Medizin der Gesundung.
({52})
Die Kraftanstrengung der Bundesregierung ist gelungen, weil sich jedes Ressort darauf verlassen konnte, daß
auch alle anderen Politikbereiche ihren solidarischen
Konsolidierungsbeitrag erbringen. Dieses Vertrauen darf
weder jetzt noch später in der parlamentarischen Beratung zerstört werden. Mir ist klar, die Umsetzung des
Zukunftsprogramms wird nicht ohne Widerstände vonstatten gehen. Das gilt, obwohl alle wissen, daß wir
dann, wenn jetzt nicht gehandelt wird, die Zukunft nicht
gewinnen können. Dieser Erkenntnis hat sich die alte
Bundesregierung verschlossen.
({53})
Unsere Aufgabe ist es, den Karren wieder aus dem
Dreck zu ziehen. Dies ist nicht immer populär. Dennoch
werden wir unsere Linie geradlinig und konsequent verfolgen. Daß sich die öffentliche Kritik dabei auf uns, also auf diejenigen, die die Misere beheben wollen, konzentriert und nicht auf diejenigen, die sie zu verantworten haben, finde ich allerdings etwas merkwürdig.
({54})
Bundesminister Hans Eichel
Es müssen sich nicht diejenigen, die den Karren aus dem
Dreck ziehen, entschuldigen, sondern diejenigen, die ihn
hineingefahren haben.
({55})
Wie dem auch sei: Wir werden den öffentlichen
Druck aushalten und uns nicht daran hindern lassen, das
Richtige für die Menschen in unserem Lande zu tun.
({56})
Schwerpunkte der Maßnahmen zur Konsolidierung
des Bundeshaushalts sind die Stabilisierung des Sozialstaats, der Subventionsabbau sowie die Modernisierung
und Straffung des öffentlichen Dienstes. Damit haben
wir dafür gesorgt, daß die Last der Sparmaßnahmen auf
viele Schultern verteilt wird.
Lassen Sie mich die wichtigsten Eckpunkte benennen: Im sozialen Bereich konzentrieren sich die Maßnahmen auf strukturelle Anpassungen der Renten, des
Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe. Auch
wenn diese Maßnahmen viele hart treffen werden: Wir
müssen jetzt die notwendigen Strukturveränderungen
einleiten, um auch zukünftig ein stabiles soziales Sicherungssystem erhalten zu können.
({57})
Wir stärken - das habe ich schon angedeutet - den
aktivierenden Sozialstaat. Es ist richtig, daß wir die
Lohnersatzleistungen etwas zurücknehmen. Aber dies
ist in der heutigen Lage die richtige Schwerpunktsetzung. Ähnliche Schwerpunkte setzen auch alle anderen
Länder in Europa, gerade auch im Norden Europas.
Auch in Zukunft müssen die Renten sicher sein, ein
menschenwürdiges Leben im Alter ermöglichen und bezahlbar bleiben. Dafür müssen wir jetzt sorgen.
({58})
Wir müssen an die heutigen Rentner denken, aber nicht
nur. Die junge Generation hat ebenfalls einen Anspruch
auf sichere Renten und bezahlbare Beiträge. Soziale Gerechtigkeit heißt, Verantwortung zu übernehmen, die
nicht einseitig ausgerichtet ist. Die junge Generation ist
der älteren ebenso verpflichtet wie die ältere zukünftigen
Generationen. Deshalb sorgen wir für einen Einstieg in
die Anpassung der Alterssicherungssysteme an die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung.
Zum einen wird es endlich eine soziale Grundsicherung für Rentnerinnen und Rentner geben. Das ist ein
sehr großer Erfolg der Rentenpolitik.
({59})
Niemand muß dann wegen einer kleinen Rente zum Sozialamt gehen. Der Gang zum Sozialamt ist unwürdig
für Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben.
({60})
Zum anderen werden die Renten auch weiterhin steigen. Aber die Rentensteigerungen in den nächsten beiden Jahren werden sich nicht an der Nettolohnentwicklung, sondern am Inflationsausgleich orientieren. Denjenigen, die das am meisten kritisieren, sage ich: Das sind
durchschnittlich höhere Rentensteigerungen als diejenigen, die Sie in den letzten Jahren zuwege gebracht haben.
({61})
Damit wird der überproportionale Anstieg der Nettolöhne durch die Senkung der Lohnnebenkosten im Rahmen
der Ökosteuerreform ausgeglichen. Ohne diese Anpassung müßten die Rentenversicherungsbeiträge wieder
steigen, mit fatalen Folgen für Investitionen und Beschäftigung.
Aber nicht nur die Rentner leisten ihren Beitrag.
Auch alle Angehörigen des öffentlichen Dienstes werden einbezogen. So wird es für Minister, Abgeordnete,
Staatssekretäre und hohe Beamte eine Nullrunde geben.
Für normale Beamte und Pensionäre wird es in den
nächsten beiden Jahren eine Gehaltssteigerung höchstens in der Höhe der Rentensteigerungen geben. Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe werden
wie die Rentner einen Inflationsausgleich erhalten. Zudem wird der Staatsapparat weiter konsequent modernisiert und gestrafft.
Die Sicherung der Staatsfinanzen erfordert auch einen
systematischen Subventionsabbau. Mit dem Steuerentlastungsgesetz ist bereits ein erster und wichtiger Schritt
zum Abbau steuerlicher Subventionen getan worden.
Und was haben Sie jede einzelne Maßnahme zum Subventionsabbau im Steuerentlastungsgesetz bekämpft!
({62})
Jetzt wird es in einem weiteren Schritt die Besteuerung der kapitalbildenden Lebensversicherungen geben. Damit stellen wir die Gleichbehandlung mit anderen Anlageformen, zum Beispiel den Aktien, her. Da
sich die Bundesregierung der Bedeutung der privaten
Altersvorsorge bewußt ist und da wir selbstverständlich
Vertrauensschutz gewähren, wird es bei den Versicherungsverträgen, die bereits abgeschlossen sind, bei der
heutigen Behandlung bleiben. Die Besteuerung gilt für
alle Versicherungsverträge, die neu abgeschlossen werden.
({63})
Weitere ausgewogene Schritte zum Subventionsabbau kommen hinzu. Das geht vom schrittweisen Abbau
der Gasölbetriebsbeihilfe in der Landwirtschaft bis zur
bedarfsgerechten Verringerung der Aufwendungen für
den sozialen Wohnungsbau.
Die Bundesregierung ergänzt ihre Maßnahmen zur
Haushaltskonsolidierung um eine konsequente Senkung
von Abgaben und Steuern. Für die Familien wird es
nach dem Steuerentlastungsgesetz durch das FamiBundesminister Hans Eichel
lienentlastungsgesetz eine weitere, verfassungsrechtlich
gesicherte Verbesserung geben.
({64})
Vorgesehen ist eine Erhöhung des Kinderfreibetrages
um 3 024 DM für Kinder bis zum 16. Lebensjahr. Das
Kindergeld für das erste und zweite Kind wird gleichzeitig um 20 DM angehoben, nachdem es zum 1. Januar
dieses Jahres bereits um 30 DM erhöht wurde. Damit
haben wir übrigens bereits in der ersten Hälfte der
Wahlperiode mehr erfüllt, als wir am Beginn der Wahlperiode für die ganze Wahlperiode hinsichtlich der Familienentlastung versprochen haben.
({65})
Ich erinnere mich sehr gut an frühere Jahre, in denen
wir Ihnen jede Kindergelderhöhung im Jahressteuergesetz einzeln aus der Nase ziehen mußten, meine Damen
und Herren. Deswegen ist es nicht glaubwürdig, wenn
Sie heute mehr fordern.
({66})
Für eine durchschnittlich verdienende Familie mit
zwei Kindern ergeben sich ab dem Jahr 2000 zusätzliche
Entlastungen von weiteren 480 DM pro Jahr. Zusammen
mit den Maßnahmen des Steuerentlastungsgesetzes
summieren sich die Entlastungen ab dem Jahr 2002 auf
fast 3 000 DM jährlich.
Das Ziel der Unternehmensteuerreform ab dem
Jahr 2001 ist die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Die im internationalen Vergleich hohen nominalen Steuersätze sollen gesenkt und die Bemessungsgrundlage dem internationalen Standard angepaßt werden. Für Kapitalgesellschaften soll es einen einheitlichen Körperschaftsteuersatz von 25 vom Hundert geben. Den gleichen Steuersatz sehen wir für Personengesellschaften und Einzelunternehmen vor. Damit werden alle betrieblichen Gewinne gleich besteuert. Unser Ziel ist es, die Unternehmen zu entlasten und durch die Begünstigung des im
Unternehmen verbleibenden Gewinns die Investitionen
zu erleichtern. Denn das schafft Arbeitsplätze; das ist die
Einsicht aller Länder in Europa.
({67})
Wie die Maßnahmen technisch umgesetzt werden,
wird noch intensiv durch Planspiele getestet, um Probleme in der Praxis frühzeitig zu erkennen und zu beheben.
({68})
- Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben doch - zu Recht! - gesagt, daß man Steuergesetze
so machen müsse, daß sie hinterher Bestand haben.
Dann braucht man auch diese Zeit. Sie sollten nicht Ihren eigenen Aussagen widersprechen.
({69})
Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Das Ziel ist klar
und wird konsequent angestrebt.
Durch die Fortführung der Ökosteuerreform werden
wir die Sozialabgaben weiter senken. Das durch mäßige
und stetige Erhöhung der Energiepreise erzielte Aufkommen wird auch in den weiteren Stufen für die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge verwendet.
Damit wird nicht abkassiert; vielmehr werden die Steuermehreinnahmen - anders als zu Ihrer Regierungszeit durch niedrigere Lohnnebenkosten im vollen Umfange
an die Bürgerinnen und Bürger und an die Unternehmen
zurückgegeben.
({70})
Die Bundesregierung wird darauf achten, daß die
deutsche Wirtschaft in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt, sondern gestärkt
wird und daß Energieeinsparmaßnahmen entsprechend
berücksichtigt werden.
Das Zukunftsprogramm zur Sicherung von Arbeit,
Wachstum und sozialer Stabilität ist mit einer großen
Kraftanstrengung zunächst der Bundesregierung auf den
Weg gebracht worden. Nicht jeder kann sich mit jeder
Maßnahme anfreunden. Das sehe ich aber insgesamt
eher als Plus. Wir wollen die Auseinandersetzung führen. Das ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer demokratischen Kultur. Ich erwarte allerdings angesichts
der Probleme - ich füge ganz freundlich hinzu: und der
Teilhabe so vieler an der Entstehung der Probleme Fairneß und Ehrlichkeit von jeder Seite und nicht nur
das Schielen auf Besitzstände.
({71})
- Herr Koppelin, eines werden Sie mir doch zugestehen:
Wir sind - das habe ich immer offen gesagt - alle Bestandteil dieses Systems Bundesrepublik, das insgesamt
ein gutes ist.
({72})
- Selbstverständlich. Aber tun Sie nicht so, als hätte der
Bundesrat die Bundesregierung gestellt. Sie waren es
doch über 16 Jahre.
({73})
Ihnen, verehrter Herr Koppelin, wird Herr Faltlhauser er sitzt ja hier - bestätigen können: Es ist schön, wenn
man von der einen Seite der Bank einmal auf die andere
kommt. Die Rolle Bayerns beim Föderalen Konsolidierungsprogramm - von dem Sie sagen, der Bund sei über
den Tisch gezogen worden - kenne ich jetzt viel besser
als damals, wo ich auf der Ministerpräsidentenbank mit
dabei war.
({74})
Ich bitte also um Fairneß und darum, daß die Lasten
von allen getragen werden. Jeder soll mitmachen entBundesminister Hans Eichel
sprechend dem Maß seiner Verantwortung für die Zustände. Das kann man wohl erwarten.
({75})
Reaktionen anderer Art stünden sonst nämlich im Widerspruch zu der grundsätzlich und allgemein akzeptierten Erkenntnis, daß jetzt rasch und konsequent gehandelt werden muß, wenn wir die Zukunft gewinnen
wollen.
Deshalb werden wir geradlinig unseren Weg gehen.
Dieser Weg bedeutet, Demokratie, Solidarität und soziale Gerechtigkeit zu leben und zu gestalten. Die Bundesregierung lädt alle gesellschaftlichen Kräfte, alle
staatlichen Ebenen ein, hieran mitzuwirken und so an
der politischen Gestaltung der Zukunft, vor allem der
Zukunft unserer Kinder, teilzuhaben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({76})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es scheint zum politischen Ritual
der Haushaltsreden der rotgrünen Finanzminister zu gehören,
({0})
daß wir immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert
werden, die Folgen der Überwindung der deutschen
Teilung seien falsch finanziert worden und wir seien
verantwortlich für einen unglaublichen Schuldenberg.
({1})
Herr Eichel, ich habe nicht nur ein Kurzzeitgedächtnis so, wie Sie das eben in Anspruch genommen haben -,
ich habe auch ein relativ gutes Langzeitgedächtnis.
({2})
Ich habe ziemlich gut in Erinnerung, wie der damalige
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und heutige
Bundeskanzler Gerhard Schröder - Herr Außenminister,
wenn ich Sie bei Ihrem Gespräch mit dem Bundeskanzler störe, bin ich gerne bereit zu warten ({3})
noch im Jahr 1991 auf politischen Kundgebungen in
Niedersachsen ausgerufen hat: „Keine Steuermark niedersächsischer Bürger für die deutsche Wiedervereinigung!“
({4})
- Herr Bundeskanzler, ich habe nichts dagegen, daß Sie
auf der Regierungsbank miteinander reden, aber daß Sie
einem Redner der Opposition bei einem solchen Vorhalt, wie ich ihn Ihnen mache, hier den Vogel zeigen,
({5})
ist nun wirklich der Tiefpunkt des politischen Anstandes, den dieses Haus erlebt hat.
({6})
Aber ich werde auch auf Sie gleich noch zu sprechen
kommen. Lassen Sie mich zunächst einmal - ({7})
- Wissen Sie, es ist ganz einfach: Wenn Sie aufhören zu
schreien, dann kann ich auch so reden, daß Sie mich
verstehen.
({8})
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal auf
die Ausgaben nach den einzelnen Etatansätzen zurückkommen. Ich habe in den letzten Tagen erfolglos festzustellen versucht, woran Sie sich denn eigentlich mit 30
Milliarden DM - ({9})
- Herr Präsident, es fällt wirklich schwer, gegen diese
künstlich erzeugte Geräuschkulisse der SPD noch zu
sprechen.
({10})
Meine Damen und Herren, ich bin auch in der Lage,
etwas lauter zu sprechen.
Kollege Merz, einen
kleinen Moment.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es Unruhe und
Zwischenrufe gibt, das ist verständlich und auch vertraut. Aber gelegentlich sollten Sie dem Redner auch eine Chance geben und zuhören.
({0})
Meine Damen und
Herren, ich bin durchaus in der Lage, auch etwas lauter
zu sprechen, wenn das notwendig sein sollte. Dann machen wir das halt.
({0})
Bundesminister Hans Eichel
Ich habe - um es jetzt noch einmal zu sagen - in den
letzten Tagen versucht herauszufinden, woran Sie sich
denn eigentlich mit 30 Milliarden DM Einsparungen
orientieren, was die Bezugsgröße für 30 Milliarden DM
Einsparungen eigentlich ist.
({1})
Ich habe es nicht herausgefunden, Herr Eichel.Wenn Sie
den Bundeshaushalt 1999 mit dem Bundeshaushalt des
Jahres 2000, den Sie jetzt in groben Zügen vorgestellt
haben, vergleichen, dann ergibt sich, daß die Ausgaben
des Bundeshaushaltes des Jahres 2000 nicht um 30 Milliarden DM, sondern genau um 7,5 Milliarden DM unter
den Ausgaben des Jahres 1999 liegen. Wenn Sie also
überhaupt ein Sparpotential realisieren, dann sind es
nicht 30 Milliarden, sondern 7,5 Milliarden DM.
({2})
Mit Ihrer Kritik allerdings - da stimme ich Ihnen
ausdrücklich zu; Sie haben vor einigen Tagen bei einer
Pressekonferenz in Wiesbaden oder in Frankfurt wörtlich gesagt: „Ich habe keine Lust, mich für die Sanierung eines Haushaltes zu entschuldigen, den andere vor
die Wand gefahren haben.“ ({3})
haben Sie recht, Herr Eichel. Aber Sie können nur Ihren
unmittelbaren Vorgänger gemeint haben, Oskar Lafontaine.
({4})
Der hat nämlich dafür gesorgt, daß der Bundeshaushalt
des Jahres 1999 gegenüber dem Etatentwurf von Theo
Waigel um 30 Milliarden DM aufgebläht worden ist.
Deshalb hat auch der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, den Sie eben auch schon einmal bemüht haben, völlig recht, wenn er wörtlich sagt:
Die 30 Milliarden, die für den Haushalt 2000 gestrichen werden, entsprechen genau der Steigerung
der Bundesausgaben im Haushalt 1999 um 6,3 Prozent.
Und weiter:
Es müssen jetzt die 30 Milliarden weggeeichelt
werden, die im Haushalt 1999 lafontainisiert worden sind.
Genau das ist der Punkt.
({5})
Nun will ich eine Vorbemerkung zum Sparen machen.
({6})
Niemand von uns bestreitet, daß wir sparen müssen.
Und Sie werden uns auf dem Weg zu Einsparungen im
Bundeshaushalt auf Ihrer Seite finden,
({7})
wenn es um grundlegende Korrekturen der Ausgaben
des Bundes geht, beispielsweise bei der Verschlankung
des öffentlichen Dienstes, beispielsweise bei der Beseitigung von Subventionen, beispielsweise bei der Einsparung von öffentlichen Ausgaben im konsumtiven Bereich. Da werden Sie uns auf Ihrer Seite finden.
Aber, Herr Eichel, wenn wir schon Rückschau halten,
möchte ich noch eine Bemerkung machen: Wir haben in
den letzten Jahren viele Sparanstrengungen unternommen. Wir haben einen der größten Subventionshaushalte
der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig gekürzt. Ich
meine die Steinkohle. Jedes Mal, wenn die alte Koalition so etwas gemacht hat, hat die damalige Opposition
mit der rotgrünen Mehrheit des Bundesrates, zu der Sie
auch gehört haben, dagegengestanden. Sie haben die
Leute gegen die Sparpläne der alten Bundesregierung
aufgehetzt und haben jede Sparanstrengung zu vereiteln
versucht. Auch das wird man Ihnen noch sagen dürfen.
({8})
Lassen Sie mich nun einige konkrete Punkte ansprechen. Ich habe in der Kürze der Zeit noch nicht alle Posten durchrechnen können, die Sie in Ihrem Tableau
vorgelegt haben. Aber eines ist mir aufgefallen: An einer
Stelle wollen Sie in einem Umfang sparen, der größer
ist, als die Ausgaben im Bundeshaushalt 1999 überhaupt
vorgesehen sind. Wenn ich es richtig sehe, sind die Ausgaben im Haushalt des Jahres 1999 für das sogenannte
Meister-BAföG bei 80 Millionen DM Soll etatisiert,
und Sie wollen im nächsten Jahr davon 122 Millionen
DM sparen.
({9})
Das ist rotgrüne Haushaltsführung. Sie wollen 42 Millionen DM mehr sparen, als Sie überhaupt ausgeben. Ich
weiß nicht, ob ich noch auf weitere solcher Etatposten
stoße; ich will nur diesen einen nennen.
Ich komme zu einem zweiten Punkt. Ich bestreite
nicht, daß im Bereich der Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme gespart werden muß. Davon können auch
die sozialen Sicherungssysteme der Landwirte nicht
verschont bleiben. Aber, Herr Bundeskanzler, es riecht
schon ordentlich nach später parteipolitisch motivierter
Rache an einer Bevölkerungsgruppe - die Sie richtigerweise überhaupt nicht gewählt hat -, wenn Sie jetzt gerade in der Sozialversicherung der Landwirte rund 700
Millionen DM einsparen wollen und die Gasölbetriebsbeihilfe vollständig streichen wollen. Das ist Rache für
Wahlverhalten.
({10})
Da wir auch in einem anderen Zusammenhang schon
über die Agrarpolitik gesprochen haben: Wenn Sie die
Gasölbetriebsbeihilfe streichen wollen - dafür gibt es
Argumente -, dann hätten Sie sich dafür auf europäischer Ebene einsetzen müssen, um Wettbewerbsgleichheit der deutschen Landwirte gegenüber ihren Konkurrenten in der Europäischen Union herzustellen.
({11})
Denn überall in unseren Nachbarländern gibt es eine
Mineralölverbilligung für die Landwirte. Die Wettbewerbsposition der deutschen Landwirtschaft wird durch
die geplante Maßnahme weiter nachhaltig geschwächt.
Sie werden die Leidtragenden dieser Politik sein.
Kollege Merz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Metzger?
Nein, ich möchte jetzt
im Zusammenhang fortfahren.
({0})
Meine Damen und Herren, der nächste Punkt, den ich
ansprechen möchte, ist der Verteidigungshaushalt. Der
Verteidigungsminister nimmt heute wohl aus guten
Gründen an dieser Debatte nicht teil. Sie, Herr Bundeskanzler, haben dem Verteidigungsminister zu Beginn
seiner Amtszeit zugesagt, daß im Verteidigungshaushalt
nichts gestrichen wird. Jetzt sind in Ihrem Finanztableau
beim Verteidigungshaushalt des Jahres 2000 Einsparungen von insgesamt 3,5 Milliarden DM ausgewiesen.
({1})
Ich glaube, daß dies die Leistungsfähigkeit und die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr im Kern trifft. Aber
unabhängig von dieser verteidigungspolitischen Beurteilung, die wir in Deutschland treffen müssen, möchte
ich sagen: Wenn Sie, Herr Bundesaußenminister, als
Konsequenz aus den Erfahrungen des Kosovo-Konfliktes zu Recht reklamieren, daß wir in der Europäischen
Union jetzt eine gemeinsame europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik entwickeln müssen, dann müssen Sie sich mit diesem Etatansatz Ihres Finanzministers
aus der Diskussion auf der europäischen Ebene verabschieden,
({2})
denn die Bundesregierung wird mit diesem zusammengestrichenen Etat an einer gemeinsamen europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht mehr teilnehmen können.
({3})
Meine Damen und Herren, eines der großen Reformprojekte dieser Bundesregierung ist die sogenannte
ökologisch-soziale Steuerreform. Wir haben darüber gestern im Zusammenhang mit den Renten schon gesprochen. Ich will noch einmal auf die Ökosteuer zurückkommen. Sie planen jetzt, in weiteren vier Schritten die
Mineralölsteuer jeweils um 6 Pfennige anzuheben und
dies zugunsten der Absenkung der Lohnnebenkosten
zu verwenden. Ich komme auf das, was sich Herr Struck
und Herr Schlauch vorgestern geleistet haben, auch noch
zu sprechen. Aber zunächst möchte ich Sie ansprechen,
Herr Bundeskanzler: Wir haben von dieser Stelle aus
mehrfach darauf hingewiesen, daß es eine Reihe von
großen Bevölkerungsgruppen gibt, die von der Absenkung der Lohnnebenkosten nichts haben, weil sie keine
Lohnnebenkosten zahlen.
Unter anderem haben wir Sie, Herr Bundeskanzler,
mehrfach angesprochen und Ihnen gesagt, daß die Rentner in der Bundesrepublik Deutschland nichts davon haben, wenn die Lohnnebenkosten abgesenkt werden, daß
sie aber die erhöhte Mineralölsteuer trifft, die sie zu
zahlen haben. Daraufhin haben Sie hier und an anderer
Stelle gesagt: Ja, das ist richtig, aber durch die Nettolohnbezogenheit der Renten wird es im Jahr darauf auch
eine entsprechende Anhebung der Renten geben. Sie,
Herr Bundeskanzler, haben - ich zitiere eines von vielen
möglichen Zitaten - am 17. Februar 1999 bei einer
großen Kundgebung Ihrer Partei in Bayern wörtlich gesagt:
Ich, Gerhard Schröder, stehe dafür, daß die Renten
auch weiterhin entsprechend der Entwicklung der
Nettolöhne erhöht werden.
({4})
Herr Bundeskanzler, das ist gerade einmal vier Monate her. Kann man sich eigentlich auf das Wort des
Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland nicht
mehr verlassen?
({5})
Sie haben diese Zusage, die an die Rentner gerichtet
war, gebrochen. Das ist ein Wahlbetrug. Es ist der Betrug an den Rentnern um die Rentenerhöhung, die ihnen
zustände, wenn sie auf das Wort des Bundeskanzlers der
Bundesrepublik Deutschland hätten vertrauen können.
({6})
Herr Bundeskanzler, nun wissen wir alle, daß Sie es
mit dem Wort nicht so genau nehmen, daß es Ihnen
mehr auf die Wirkung als auf den Inhalt ankommt.
({7})
Wir wissen, daß für Sie wichtiger ist, wie die Fernsehbilder sind, als das, was wirklich gilt.
({8})
Ich will Ihnen sagen: Vielleicht können Sie damit politisch eine gewisse Zeit überleben und auch eine gewisse
Zeit die Zustimmung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erhalten. Vielleicht könnte sogar einer
von uns versucht sein zu sagen: Es ist uns egal, wenn die
Glaubwürdigkeit eines maßgeblichen Repräsentanten
der Bundesrepublik Deutschland auf diese Art und Weise aufs Spiel gesetzt wird. Aber ich sage Ihnen: Ich empfinde es auch persönlich als eine große Belastung, daß
die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland durch
Ihr persönliches Verhalten den Politikern, wie sie dann
sagen, nicht mehr glauben, daß die Glaubwürdigkeit von
uns allen durch Ihre Verhaltensweisen aufs Spiel gesetzt
wird.
({9})
Herr Bundeskanzler, ich sage es Ihnen so, wie ich es
persönlich empfinde: Dieser Umgang mit der Wahrheit
und die eitle Art und Weise, wie nur auf Wirkung nach
außen gesetzt wird, empfinde ich vor dem Hintergrund
der Probleme, die zu lösen sind, als abstoßend.
({10})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf die
Ökosteuer zurückkommen. Den beiden Fraktionsvorsitzenden von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Herrn
Schlauch und Herrn Struck - der es vorzieht, jetzt nicht
hier zu sein, was ich gut verstehen kann -,
({11})
ist vorgestern abend ein schwerwiegender Fehler unterlaufen.
({12})
Sie haben sich nämlich bei der Berechnung der Entlastung, die durch die Ökosteuer bei den Lohnnebenkosten
vorgenommen werden soll, gerade einmal um den Faktor drei verrechnet. Meine Damen und Herren, das ist
nun wirklich ein peinlicher Verrechner, der Ihnen da
unterlaufen ist.
({13})
Zur Erinnerung: Beide Fraktionsvorsitzenden haben
in einer Pressekonferenz vorgestern abend die Absenkung der Lohnzusatzkosten nicht auf Jahresbasis dargestellt, sondern diese noch einmal addiert; sie kamen
dann bei den Lohnzusatzkosten auf eine Entlastung von
3,1 Prozentpunkten. Herr Schlauch, in Wahrheit ist es
nur 1 Prozentpunkt gegenüber heute. Sie beherrschen
noch nicht einmal die Grundrechenarten und haben sich
schon bei einer solchen Kleinigkeit verrechnet. Nach der
fünften Stufe der Ökosteuerreform beträgt die Absenkung der Lohnnebenkosten gerade einmal 1,8 Prozentpunkte, meine Damen und Herren.
({14})
Damit, Herr Schlauch, werden Sie Ihr Ziel, die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent zu senken, verfehlen. Sie
werden es nicht erreichen.
({15})
Herr Eichel, ich will zu den Lohnnebenkosten noch
etwas sagen. Sie senken die Lohnnebenkosten in Wahrheit gar nicht. Sie wählen nur eine andere Form der Finanzierung. Das ist alles.
({16})
Eine Absenkung auf unter 40 Prozent findet nicht statt.
Sie haben ein weiteres Versprechen nicht gehalten.
Diese Bundesregierung hat im Zuge des sogenannten
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 versprochen
- auch Sie, Herr Bundeskanzler, hier im Parlament und
auf großen Unternehmertagungen -, daß die Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2000 kommt. Dieses
Versprechen halten Sie nicht ein. Jetzt kommt eine Unternehmensteuerreform - so ist es geplant - zum 1. Januar 2001. Ich sage Ihnen, Herr Eichel: Eine grundlegende Unternehmensteuerreform hätten wir in der Bundesrepublik Deutschland bereits vor über zwei Jahren
gemeinsam beschließen können. Das wäre möglich gewesen.
({17})
Sie haben es damals im Bundesrat abgelehnt; Sie waren
daran beteiligt. Und in den zwei Jahren seit Ende Juni
1997 bis heute, Mitte Juni 1999 - zwei Jahre sind seitdem vergangen -, haben Sie Kommissionen eingesetzt,
neue Pläne gemacht. Alles, was dabei in zwei Jahren,
herausgekommen ist, sind drei oder vier Sätze. Sie lauten: 2001 wird es eine große Unternehmensteuerreform
geben. Dazu gehört auch eine Nettoentlastung der Unternehmen in der Größenordnung von 8 Milliarden DM.
Der Steuersatz für Unternehmen soll bei der Körperschaftsteuer und bei der Einkommensteuer auf 25 Prozent gesenkt werden - in Klammern: zuzüglich Gewerbesteuer. - Das ist alles, was diese rotgrüne Bundesregierung bei der Unternehmensteuerreform in zwei Jahren fertiggebracht hat.
({18})
Meine Damen und Herren, wenn Sie damals, als Sie
unsere Unternehmensteuerreform, unsere große Steuerreform, abgelehnt haben, wirklich Alternativen gehabt
hätten, dann hätten Sie in der Zwischenzeit längst ein
Gesetzgebungsverfahren einleiten müssen, hätten längst
eine Unternehmensteuerreform auf den Weg bringen
müssen, die diesen Namen wirklich verdient. Statt dessen brechen über den Jahreswechsel 1998/99 die
Wachstumserwartungen zusammen, bleiben jetzt die
erwarteten Zuwachsraten beim Bruttoinlandsprodukt
weit hinter dem zurück, was andere Mitgliedstaaten der
Europäischen Union erreichen, und ist das Vertrauen in
die Stetigkeit und Langfristigkeit der Wirtschafts- und
Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland im Kern
zerstört worden - durch die Politik der rotgrünen Bundesregierung.
({19})
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen zu dem sogenannten Unternehmensteuerkonzept, das Sie jetzt planen, noch einige sachliche, ganz nüchterne Anmerkungen machen,
({20})
die die Schwierigkeiten aufdecken,
({21})
die Sie bei diesem Konzept erwarten. Die künstliche
Unterscheidung zwischen Unternehmensgewinnen
und privaten Einkünften
({22})
wird Sie in der rotgrünen Koalition im Gesetzgebungsverfahren, wenn Sie es denn überhaupt hinkriegen, vor
allergrößte Schwierigkeiten stellen. Und sagen Sie bitte
nicht, daß es an guten und fachlich fundierten Ratschlägen in den letzten Jahren gefehlt hätte, wenn Sie sich auf
diesen Weg machen!
Ich zitiere Ihnen aus einem Festvortrag, der aus Anlaß des 50jährigen Bestehens des Wissenschaftlichen
Beirats beim Bundesfinanzminister am 19. Februar damals noch in Anwesenheit Ihres Vorgängers, Herr
Eichel - von einem der renommiertesten deutschen
Finanzwissenschaftler, der Jahrzehnte Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des BMF war und der genau dieses Thema Unternehmensteuerreform mit einer künstlichen Spreizung der Steuersätze zwischen Unternehmenseinkünften und sonstigen Einkünften angesprochen
hat, gehalten wurde. Professor Pohmer wörtlich:
Wer meint, mit der Begünstigung der Selbstfinanzierung Investitionen und Arbeitsplätze in
Deutschland fördern zu können, der irrt, weil die
Unternehmen die ersparten Beträge unter anderem
auch im Ausland investieren, in reinen Finanztiteln
anlegen, Schulden tilgen oder gar nach neuem
Handelsrecht zum Rückkauf eigener Aktien und
damit zur Steigerung ihres Shareholder-Value nutzen können.
Meine Damen und Herren, die Beschreibung ist genau richtig. Die von Ihnen so häufig verteufelte Shareholder-Value-Mentalität in Unternehmen werden Sie mit
der Begünstigung dieser Innenfinanzierung von Unternehmen geradezu fördern zu Lasten des entnommenen
Gewinns.
({23})
Derselbe Autor fährt fort:
Aber auch die Verteilungsgerechtigkeit bleibt auf
der Strecke, weil nur das Unternehmersparen im
Verhältnis zum Sparen der Nichtunternehmer privilegiert wird. Dies widerspricht der horizontalen
Gerechtigkeit, die im Gleichheitsgrundsatz unserer
Verfassung angelegt ist.
Herr Eichel, Sie kommen mit Ihrem Unternehmensteuerkonzept nicht nur steuerrechtlich und steuertechnisch,
sondern auch verfassungsrechtlich in eine Grauzone, aus
der wieder herauszukommen für Sie sehr, sehr schwer
werden wird.
Ich sage Ihnen deshalb: Wir lehnen diese künstliche
Unterscheidung zwischen Unternehmenseinkünften und
sonstigen Einkünften ab. Die Bundesrepublik Deutschland braucht eine Steuerreform, die eine Senkung aller
Steuersätze und eine Verbreiterung der steuerlichen
Bemessungsgrundlage im gesamten Bereich des Einkommensteuergesetzes beinhaltet. Nur dann werden wir
in der Bundesrepublik Deutschland ein zukunftsfähiges
Steuersystem bekommen.
({24})
Herr Bundeskanzler, ich möchte mich jetzt an Sie
wenden; denn ich habe mir die Pressekonferenz, die Sie
gestern gehalten haben, angesehen. Sie haben dort gesagt: Wir - die Sozialdemokraten - wollen die Unternehmen entlasten und nicht die Unternehmer. - Das
klingt erst einmal nicht schlecht. Aber Sie sollten dabei
im Blick behalten, daß fast 90 Prozent der Unternehmen
in der Bundesrepublik Deutschland keine Aktiengesellschaften und keine großen GmbHs sind, sondern Eigentümerunternehmen des Mittelstandes, bei denen das
Privatvermögen das haftende Betriebsvermögen dieser
Personengesellschaften ist.
({25})
Deswegen sage ich Ihnen noch einmal: Wenn Sie eine wirkliche Entlastung der Unternehmen von Steuern
und Abgaben wollen, dann dürfen Sie nicht umfinanzieren, sondern dann müssen Sie für alle die Steuersätze
und in sämtlichen sozialen Sicherungssystemen die Abgaben konsequent senken.
In diesem Zusammenhang will ich Sie, Herr Eichel,
auf ein weiteres Problem aufmerksam machen, das
vielleicht im Eifer des Gefechtes Ihrer Aufmerksamkeit
entgangen ist.
({26})
Sie wollen das körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren abschaffen. Nur, dieses körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren ist eine Regelung, die gegenwärtig insbesondere den Aktionären, die
Aktien in privater Hand halten, zugute kommt. Für den
Fall, daß Sie dieses Anrechnungsverfahren abschaffen
und an diese Stelle das sogenannte Halbeinkünfteverfahren - ich mußte mir dieses Wort aufschreiben, um es
auch wirklich fehlerfrei aussprechen zu können ({27})
setzen, sollten Sie wissen, daß Sie bei denjenigen Einkommensbeziehern, die auf ihren privaten Einkünften
einen Steuersatz von unter 40 Prozent haben, im Ergebnis eine wesentlich höhere Besteuerung der Dividendenerträge aus Aktienbesitz hervorrufen. Begünstigt
werden diejenigen, die Steuersätze von über 40 Prozent
haben; deren Steuerlast wird in Zukunft geringer werden. Diejenigen aber, die einen Steuersatz von unter 40
Prozent haben, werden auf ihre Dividendenerträge höhere Einkommensteuern zahlen. - So viel zum Bereich soziale Gerechtigkeit bei einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung.
({28})
Es ist ja nicht nur interessant, wer heute anwesend ist,
es ist auch interessant, wer fehlt. Der Kollege Dreßler,
der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, ist
nicht nur gestern während der Rentendebatte nicht anwesend gewesen, sondern fehlt ganz offensichtlich auch
heute. Statt dessen hat er vor zwei Tagen im Kreise
von Journalisten gesagt - es lohnt sich, das zu wiederholen -:
Wenn die alte Koalition solche Vorschläge gemacht
hätte, wie es jetzt die rotgrüne Regierung getan hat,
dann hätten wir
- gemeint waren die Sozialdemokraten den dritten Weltkrieg ausgerufen.
({29})
Das ist die Einschätzung zum Bereich soziale Gerechtigkeit in der rotgrünen Bundesregierung.
Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Tat vor
schwierigen Entscheidungen. Ich will bei aller Kritik im
Detail Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, noch einmal
ausdrücklich sagen: Wir sind bereit, notwendige strukturelle Reformen in der Bundesrepublik Deutschland - ({30})
Es hat offensichtlich Methode, daß auf der Regierungsbank ständig geredet wird, um den Redner zu stören.
({31})
Ich lasse mich davon aber nicht ablenken. - Ich will Ihnen noch einmal ganz klar zum Ausdruck bringen: Wir
sind bereit, auch an unpopulären Maßnahmen mitzuwirken.
({32})
Wir sind ebenso bereit, den Streit über das, was in den
letzten 16 Jahren richtig oder falsch war, auf die Seite zu
legen.
({33})
- Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, den Streit über
das, was in der Vergangenheit richtig oder falsch war,
auf die Seite zu legen, wenn wir uns jetzt darauf konzentrieren, die notwendigen Entscheidungen für die Zukunft in Deutschland zu treffen.
Zu diesen Zukunftsaufgaben gehört erstens, daß das
langfristige Vertrauen derer, die in Deutschland Arbeitsplätze schaffen sollen, wiederhergestellt wird. Das ist
eine Frage der Glaubwürdigkeit der Politik der Bundesregierung. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen.
Dazu gehört zweitens, daß wir eine grundlegende Reform unseres Steuersystems in Angriff nehmen, und
zwar nicht mit künstlicher Unterscheidung zwischen
guten und schlechten Einkünften, sondern mit einer
Steuersenkung für sämtliche Einkünfte, die es in unserem Einkommensteuersystem gibt.
Dazu gehört drittens, daß wir eine ehrliche und offene
Bestandsanalyse der sozialen Sicherungssysteme machen und daß wir nicht nach politischer Opportunität,
nicht nach Maßstäben obrigkeitsstaatlicher Willkür,
sondern nach objektiven Maßstäben - wie der Nettolohnbezogenheit der Rente - langfristig richtige und sichere Entscheidungen für die sozialen Sicherungssysteme treffen.
Dazu gehört viertens - dies ist auch ein Thema, das in
den Zusammenhang der heutigen Debatte gehört -, daß
diese Bundesrepublik Deutschland bereit ist, eine Nation
zu bleiben, die sich neuen Technologien öffnet, die eine
Hochtechnologienation bleibt.
Ich spreche diesen Sachzusammenhang mit Bedacht
an; denn nachdem wir in den 80er Jahren den Fehler
gemacht haben, aus der Bio- und Gentechnologie auszusteigen, und Jürgen Rüttgers es unter größten Schwierigkeiten geschafft hat, durch das Zurückkehren in die
Biotechnologie hier den Anschluß an den Weltmaßstab
wiederzufinden, wäre es nun ein verheerender Fehler ich spreche insbesondere Sie an, Herr Bundeswirtschaftsminister -, bei einer wichtigen Technologie, der
Energietechnologie, so einseitig auszusteigen, wie es
Ihre Regierung für die Bundesrepublik Deutschland
plant, meine Damen und Herren.
({34})
Wir brauchen auch in unserer Bevölkerung das Bewußtsein für Hochtechnologie, für ein Land mit hohem
technologischen Leistungsstand. Wenn Sie dies planen,
werden Sie uns auf Ihrer Seite haben. Wir werden allerdings nicht müde werden, Herr Bundesfinanzminister,
darauf hinzuweisen, daß das, was Sie hinsichtlich der
sozialen Sicherungssysteme planen, mit Willkür und mit
obrigkeitsstaatlichem Denken, ein Wahlbetrug und ein
grundlegend falscher Eingriff in diese Systeme ist. Das
wird das Vertrauen der Rentnergeneration in die Stetigkeit und Verläßlichkeit dieses Staates nachhaltig erschüttern. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen. Sie
müssen bessere Vorschläge machen.
({35})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Oswald Metzger das
Wort.
Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Merz, Polemik muß in einer Auseinandersetzung sein, aber gerade
Sie als jemand, der sachkompetent ist, sollten bei den
Fakten bleiben. - Ich habe mich vorhin zweimal zu Zwischenfragen gemeldet. Diese kleide ich nun in die Form
einer Kurzintervention.
Sie haben, wie gestern auch Ihr Fraktionsvorsitzender
Schäuble, zum wiederholten Mal behauptet, daß diese
Regierung den Etat 1999 um 30 Milliarden DM aufgebläht habe und durch die Konsolidierung nur diese Aufblähung korrigieren wolle. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß die von Ihnen und diesem Haus im letzten Jahr
beschlossene Mehrwertsteuererhöhung zur Senkung
der Rentenversicherungsbeiträge in diesem Jahr zusätzliche Ausgaben in Höhe von 6 Milliarden DM - diese
Zahl ist bereits bereinigt - verursacht hat. Ich darf darauf hinweisen, daß allein durch die offene Ausweisung
der Pensionen für die Postunterstützungskassen im
Bundeshaushalt - das haben Sie in der Vergangenheit
nie getan; Sie haben diese in einen Schattenhaushalt
eingestellt - das Haushaltsvolumen 1999 um 8,2 Milliarden DM aufgebläht wurde. Ich darf Sie auch darauf
hinweisen, Kollege Merz, daß die Ökosteuer - Sie kritisieren sie, bemerken aber gleichzeitig, daß dadurch die
Lohnnebenkosten nicht so stark gesenkt werden, wie wir
es versprochen haben - das Haushaltsvolumen in diesem
Jahr zwar um 9,1 Milliarden DM erhöht hat, daß aber
seit April die Lohnnebenkosten um 0,4 Prozent gesunken sind, das heißt: Die Arbeitgeber und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen weniger.
Diese Fakten müssen genannt werden. So wird die
30-Milliarden-DM-Lüge der Opposition sofort widerlegt. Die anderen Positionen zu nennen, erspare ich mir.
Nächster Punkt. Ihr anscheinend so augenfälliges
Beispiel dafür, daß wir an etwas sparen, was gar nicht
etatisiert war, stimmt einfach nicht. Stichwort: MeisterBAföG. Im Finanzplan von Theo Waigel - ich habe
nachgeschaut -, der noch immer gilt, weil der neue Finanzplan erst mit dem Etat 2000 beschlossen wird, sind
im Jahr 2000 für das Meister-BAföG 200 Millionen DM
etatisiert. Wir reduzieren diesen Ansatz um 122 Millionen DM und kommen damit auf 78 Millionen DM.
Diese 78 Millionen DM entsprechen exakt den IstAusgaben in diesem Bereich - der Wirtschaftsminister
wird es wissen -, weil 60 000 Förderfälle MeisterBAföG bekommen, und das wird auch künftig so bleiben. Das ist also keine Einsparung zu Lasten des Meister-BAföGs, zu Lasten der beruflichen Ausbildung,
sondern schlicht und einfach eine Anpassung des SollBedarfs an den Ist-Bedarf.
Vielen Dank.
({0})
Kollege Merz, bitte.
Herr Präsident! Der
Hauptpunkt unserer Auseinandersetzung bezieht sich ja
auf meine Aussage, daß im Bundeshaushalt 2000 etwas
gespart werden soll, was durch künstliche Aufblähung
im Bundeshaushalt 1999 von Ihnen an zusätzlichen
Ausgaben erst geschaffen worden ist.
({0})
Ich bedanke mich für die Gelegenheit, Ihnen noch einmal darlegen zu können, wie die mittelfristige Finanzplanung des neuen Bundesfinanzministers gegenüber der
von Theo Waigel aussieht.
({1})
Die Ausgaben des Jahres 1999 waren im Entwurf von
Theo Waigel mit 465 Milliarden DM geplant, im Entwurf der rotgrünen Bundesregierung mit 485 Milliarden
DM; das sind 20 Milliarden DM höhere Ausgaben. Für
das Jahr 2000 hatte Theo Waigel in der mittelfristigen
Finanzplanung 469 Milliarden DM angesetzt, die rotgrüne Bundesregierung nach der Sparoperation von 30
Milliarden DM - nach der Sparoperation! - 478 Milliarden DM.
({2})
Damit stelle ich fest: Der Bundeshaushalt der rotgrünen
Bundesregierung wird nach der Sparoperation um fast
10 Milliarden DM höhere Ausgaben ausweisen, als die
mittelfristige Finanzplanung der alten Bundesregierung
vorgesehen hatte.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Kollege Merz, wer finanzpolitisch soviel Dreck am Stecken hat wie CDU/CSU und F.D.P.,
({0})
der sollte sich hier nicht so aufblasen, wie Sie das heute
morgen gemacht haben.
({1})
Und wer die Glaubwürdigkeit der Politik so unter den
Schlitten gebracht hat wie die Regierung Kohl/Waigel,
der hat ebenfalls keinen Anlaß, so darüber zu lamentieren, wie Sie das gemacht haben. Wer steht denn in der
deutschen Geschichte für Steuerlüge? Das sind doch Sie
und nicht die Sozialdemokraten oder auch die Grünen!
({2})
Wenn man dann erleben muß, Herr Merz, wie Sie
hier in eitler Selbstgefälligkeit Ihr Langzeitgedächtnis
loben, dann muß ich doch einmal fragen, ob Ihrem phänomenalen Langzeitgedächtnis die Anzeige der CDU
vom November 1990 entfallen ist, in der gesagt wurde:
keine Steuer- und Abgabenerhöhung für die deutsche
Einheit. Was haben Sie denn für ein Langzeitgedächtnis,
frage ich mich da!
({3})
Man kann, ohne unnötige Schärfen hineinzubringen,
schon sagen: Unwahrhaftigkeit war doch das Kennzeichen dieser Politik von der Kohl/Waigel-Koalition.
Auch die F.D.P. sollte man dabei nicht vergessen. Insbesondere die Finanzpolitik war doch permanent durch
Unwahrhaftigkeit gekennzeichnet. Deswegen hatte der
Vorgänger von Herrn Eichel, Herr Lafontaine, auch dafür gesorgt, daß mehr Transparenz in die Haushaltspolitik kam, indem nämlich die Schattenhaushalte übernommen wurden. Das ist die Wahrheit hinsichtlich dessen, was Sie hier gesagt haben, Herr Kollege Merz.
({4})
Ich glaube, daß die derzeitigen öffentlichen Reaktionen, auch von „FAZ“ und anderen Medien, die diese
Koalition meistens nicht loben, doch eines deutlich gemacht haben: Nicht die wirtschaftliche Entwicklung
wird abbrechen, Herr Merz, wie Sie vorhergesagt haben,
sondern das einzige, was abbrechen wird, ist die Zustimmung in der veröffentlichten Meinung zu Ihren
demagogischen Kampagnen, nichts anderes.
({5})
Die Sozialdemokraten haben allen Anlaß, der Bundesregierung, dem Bundeskanzler, aber insbesondere
den Ministern Eichel und Riester für diese beispielhafte
Leistung zu danken, die sie in den letzten Wochen erbracht haben.
({6})
Mit der gestrigen Kabinettsentscheidung ist endgültig
dokumentiert: Die neue Koalition hat die verhängnisvolle Politik des Stillstandes und der zahlreichen Fehlentwicklungen der Regierung Kohl gestoppt. Wir haben
eine Trendwende zur Bewältigung der großen Herausforderungen herbeigeführt.
({7})
Weil Herr Merz das zur Seite geschoben hat, muß
man noch einmal daran erinnern: Seit Beginn der 90er
Jahre hat der Bund im Durchschnitt jährlich neue Kredite in Höhe von fast 60 Milliarden DM aufgenommen.
1996 hat die Kohl/Waigel-Regierung mit 78 Milliarden
DM einen traurigen Höhepunkt bei der staatlichen
Kreditaufnahme erreicht. Trotz einer historisch einmaligen Niedrigzinsphase hat der von Kohl und Waigel zu
verantwortende gewaltige Anstieg der Bundesschuld dazu geführt, daß mittlerweile mehr als 20 Prozent der
Steuereinnahmen des Bundes für Zinszahlungen für diesen Zweck verwandt werden müssen. Das und nichts
anderes ist unbestreitbar, Herr Merz und meine Damen
und Herren von der Opposition.
({8})
Unbestreitbar ist: Wenn bei steigender Staatsverschuldung ein immer größer werdender Teil der Einnahmen für Zinszahlungen aufgewendet werden muß,
stehen für Zukunftsaufgaben immer weniger Mittel zur
Verfügung. Folglich ist klar: Wer immer mehr Schulden
anhäuft, verspielt die Zukunft unserer Kinder.
({9})
Wenn Sie wiedergewählt worden wären, hätten Sie die
Zukunft unserer Kinder verspielt. Darum geht es politisch.
({10})
Mit ihrem gestern beschlossenen Paket wird die Koalition mit diesem verhängnisvollen Trend brechen.
Auch wenn das eine schwierige Aufgabe ist, wird in
den nächsten Tagen immer deutlicher werden, daß es
zum Zukunftsprogramm der Koalition keine Alternativen gibt. Bestandteil dieses Pakets sind wesentliche Weichenstellungen in der Steuer- und Abgabenpolitik.
Deshalb: Das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/
2002 und die erste Stufe der ökologischen Steuerreform
haben eine langjährige unheilvolle Entwicklung gestoppt. Wir und nicht Sie haben mit diesem Gesetz den
Marsch in den Lohnsteuer- und Abgabenstaat, den wir in
den letzten Jahren erleben mußten, gestoppt.
({11})
Damit ist jetzt Schluß. Es dürfen nicht länger Krankenschwestern, Handwerker, Industriefacharbeiter und
Ingenieure die Lastesel der Nation bleiben. Wir haben
Anfang des Jahres gegen den erbitterten Widerstand der
Opposition und mächtiger Interessengruppen eine
Trendwende zugunsten von Millionen von Arbeitnehmern und Familien mit Kindern in Gang gesetzt. Übrigens, Herr Merz, es kostet Geld, die Gerechtigkeitslükke, die Sie hinterlassen haben, zu schließen.
Vor diesem Hintergrund muß man auch die soziale
Ausgewogenheit der Maßnahmen in diesem Programm
beurteilen. Die letzte Steuerschätzung hat das deutlich
gemacht. Im Jahre 2002 werden allein durch die tariflichen Änderungen des Steuerentlastungsgesetzes die
Lohnsteuerzahler um 45 Milliarden DM entlastet werden. Die Familien sind die großen Gewinner unserer
Politik. Sie mußten schließlich hier in der Bundesrepublik Deutschland lange genug darauf warten.
({12})
Im Konzept für die Familienpolitik für das 21. Jahrhundert, das Anfang 1998, also zeitlich vor den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts, in der SPDFraktion beschlossen worden war, wurde gefordert, daß
Kinderbetreuungskosten nicht nur bei Alleinerziehenden steuerlich berücksichtigt werden müssen.
In diesem Zusammehang ist es mir ein Anliegen, unserer Kollegin Ingrid Matthäus-Maier zu danken. Sie hat
diese Ergänzung bei der Konzeption der SPDFamilienpolitik bewirkt. Ich glaube, sie hat sich durch
ihr Wirken hier im Bundestag in den letzten Jahrzehnten
um die Steuergerechtigkeit in Deutschland verdient gemacht.
({13})
Das SPD-Konzept zeigt deutlich: Die SPD mußte
nicht wie die Regierung Kohl vom Bundesverfassungsgericht aufgefordert werden, mehr für die Familien zu
tun. Die abgewählte Koalition und Herr Merz vorneweg
hat das Kindergeld immer als überflüssigen Sozialtransfer gebrandmarkt. Erinnern Sie sich doch an die Debatten, die wir im letzten Herbst im Deutschen Bundestag
geführt haben. Da wurde gegen unseren Plan, das Kindergeld zu erhöhen, eingewandt, das schaffe schließlich
keine Arbeitsplätze. Welch ein Gegensatz!
({14})
Es kennzeichnet doch Ihr Denken, meine Damen und
Herren, daß Sie Arbeitsplätze und Familienförderung
gegeneinander ausspielen.
({15})
Welche Ausgaben wären denn von den Einsparungen
im konsumtiven Bereich, die Herr Merz heute morgen
als Beitrag zum kreativen Sparen vorzunehmen gefordert hat, betroffen? Kindergeld, Erziehungsgeld, BAföG,
Renten und Arbeitslosenunterstützung gehören zum
konsumtiven Bereich.
Die CDU/CSU will natürlich von den Reden, die sie
noch vor wenigen Monaten zur Familienentlastung gehalten hat, heute nichts mehr wissen,
({16})
obwohl sie zusammen mit der F.D.P. dafür verantwortlich ist, daß Familien über Jahre verfassungswidrig besteuert wurden. Man muß sich dabei doch nur den von
der abgewählten Bundesregierung lange zurückgehaltenen Familienbericht anschauen. Können Sie sich noch
an den August letzten Jahres, kurz vor der Bundestagswahl, erinnern? Darin steht, daß Familien nicht nur
Ausgaben für Ernährung und Kleidung ihrer Kinder haben. Darauf hat die Regierung Kohl aber nicht reagiert.
Im Gegenteil, in der Stellungnahme der Regierung Kohl
vom 25. August 1998 zu diesem Bericht heißt es wörtlich: Die Bundesregierung hält an ihrer Auffassung fest,
daß die Existenzminima im Steuerrecht angemessen
sind. Mehr nicht. Wir haben diese Verweigerungshaltung der früheren Koalition gegenüber einer Entlastung
der Familien beendet, und wir werden diesen Weg auch
bei der nächsten Stufe im Jahre 2002 konsequent fortsetzen.
({17})
Ich komme jetzt zur Unternehmensbesteuerung:
Vor wenigen Wochen konnte man lesen, daß sich die
Deutsche Bank und andere Großunternehmen erfreut
dazu geäußert haben, daß in ihrer Bilanz die Senkung
des Körperschaftsteuersatzes, der ja in der öffentlichen
Diskussion bisher überhaupt keine Rolle gespielt hat,
von 45 auf 40 Prozent eine Ergebnisverbesserung bringt.
Das heißt, wir haben nicht nur an Familien und Arbeitnehmer gedacht, sondern auch an die Unternehmen. Das
betrifft ja auch diejenigen, die gewerbliche Einkünfte
beziehen.
Ich habe daran erinnert, weil wir diesen Weg jetzt
fortsetzen, aber nicht auf der Basis der Petersberger Beschlüsse. Hierdurch wäre nämlich keine moderne Unternehmensteuerreform in Gang gesetzt worden. Wir dagegen machen eine europataugliche Unternehmensteuerreform, durch die der Standort Deutschland gestärkt wird.
Der vorgesehene Steuersatz von 25 Prozent für alle Unternehmen und die deutliche Nettoentlastung in Höhe
von 8 Milliarden DM werden die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Unternehmen verbessern. Das Steuerentlastungsgesetz hatte den Mittelstand bereits um 5,5 Milliarden DM entlastet. Die Unternehmensteuerlast wird
gerechter verteilt, Investitionen werden belohnt, und die
Schieflage bei der Steuerbelastung zwischen kleinen und
mittleren Unternehmen einerseits und international operierenden Konzernen andererseits wird korrigiert. Diese
Schieflage haben Sie hinterlassen. Sie haben nämlich
keine konzeptionelle Steuerpolitik verfolgt, sondern es
nur behauptet.
({18})
Durch ein Planspiel mit verschiedenen Varianten
wird insbesondere geprüft, in welcher Form die konkrete
Besteuerung der vielen kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland am zweckmäßigsten erfolgen soll.
Das heißt, wir packen auch diese Reformaufgabe an und
werden sie zum Erfolg bringen.
Wichtig für die Unternehmen ist das jetzt gegebene
deutliche Signal. Das gilt übrigens auch für die ökologische Steuerreform. Wir setzen sie konsequent fort. In
berechenbaren Schritten wird Energie maßvoll verteuert;
die Arbeitskosten werden verringert; der Staat behält
nichts für sich.
Wir haben von der Regierung Kohl nicht nur eine
gewaltige Staatsschuld übernommen, sondern auch ein
riesiges Abgabenproblem sowie ein beschäftigungspolitisches Desaster von bedrückender Dimension. Der Kardinalfehler der letzten Jahre bestand in einer zunehmenden Verlagerung gesamtstaatlicher und damit dem
Grunde nach aus Steuern zu finanzierender Aufgaben
auf die Sozialversicherungsträger. Das war doch der
Kern Ihrer Steuerlüge.
({19})
Sie haben dadurch die Kosten der deutschen Einheit optisch niedrig gehalten.
Auch die Unternehmen, die anfangs lautstark protestiert haben, unterstützen jetzt unseren langfristig angelegten Weg. Die ökologische Steuerreform ist ein wichtiger Baustein für mehr Beschäftigung und ein Motor
zur Entwicklung neuer Energiespartechnologien in allen
Bereichen. Sie wird auch dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte auf den Weltmärkten
zu erhöhen.
Das Zukunftsprogramm der Koalition verbindet die
Notwendigkeit der Haushaltssanierung mit mehr sozialer
Gerechtigkeit und Sicherheit sowie den notwendigen
Impulsen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Dieses Konzept ist beschäftigungsfördernd. Es ist bei allen
Härten, die ich gerne zugeben will, sozial ausgewogen,
weil wir bereits in den letzten Monaten die Gerechtigkeitslücken weiter geschlossen haben.
Ich sage im Namen der SPD-Bundestagsfraktion,
damit die Menschen im Lande es wissen: Wir werden
die soziale Balance bei weiteren zu beschließenden
Maßnahmen im Auge behalten. Die Menschen können
sich darauf verlassen. Die SPD bleibt in ihrer Tradition.
Sie ist die einzige Volkspartei, die Innovation und Modernisierung mit sozialer Gerechtigkeit verbindet.
Danke schön.
({20})
Für die F.D.P.Fraktion erteile ich dem Kollegen Günter Rexrodt das
Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, Herr
Poß, wenn ich Ihnen zuhöre, dann bekomme ich den
Eindruck, daß wir dieses Land in den letzten Jahren an
den Rand des Abgrunds geführt haben
({0})
und Sie, sozialdemokratische und grüne Lichtgestalten,
gerade dabei sind, dieses Land zu retten.
({1})
Dann hören Sie sich einmal an, was die Menschen in
diesem Lande darüber denken.
({2})
Sie, Herr Bundesfinanzminister, wählen hier große
Worte für ein Paket, das sich schon nach kurzem Hinsehen als Mogelpackung - gemessen an Ihren eigenen Ansprüchen - herausstellt.
({3})
Der Bundeskanzler spricht von Paradigmenwechsel
und epochemachender Politik. Meine Damen und Herren, Sprechblasen sind das eine; eine Politik mit Substanz ist das andere.
({4})
Herr Eichel, gerade Sie sagen: Wir haben eine quasi
verantwortungslos entstandene Staatsschuld geerbt. Jetzt
sparen wir, um die Generationengerechtigkeit wiederherzustellen. Wir sparen so, daß wir ein paar Grausamkeiten begehen müssen; aber die müssen eben sein. Das klingt stark; das klingt gemeinwohlorientiert; das
klingt tapfer. Aber lassen Sie nicht außer acht, daß wir
in den letzten Jahren die finanziellen Lasten der Wiedervereinigung zu tragen hatten. Bitte vergessen Sie
auch nicht, daß in den ersten acht Jahren unserer Regierungszeit die Staatsquote von fast 49 Prozent auf 42
Prozent gesenkt worden ist.
({5})
Ich garantiere Ihnen: Auch Sie wären im Zuge der Wiedervereinigung nicht umhingekommen, die Staatsquote
vorübergehend ansteigen zu lassen. Wir haben bereits
im Jahre 1998 eine Wende erzielt.
Tun Sie nicht so, als hätte der Kollege Waigel eine
unsolide Finanzpolitik gemacht. Meine Damen und Herren, bei jedem Leistungsgesetz, bei jeder Steuervergünstigung waren doch Sie diejenigen, die auf einen Schelm
noch anderthalb draufgesetzt haben, die immer draufgesattelt haben. Sie sind die Verteilungspolitiker in diesem
Haus. Das können Sie doch nicht ernsthaft in Abrede
stellen.
({6})
Das, was hier als Sparpaket vorgelegt wird, enthält
darüber hinaus eine ganze Reihe von Luftbuchungen,
eine globale Minderausgabe, Herr Eichel, von 3,6 Milliarden DM und 1,6 Milliarden DM sonstige Ausgabensperren oder sonstige Einnahmen, die nicht quantifiziert
sind. Ich gehe darauf jetzt nicht weiter ein.
Wichtiger sind die politischen Punkte. Sie sagen, das
Ganze hat einen Sparzweck. Der bestehe darin, daß wir
Freiräume bekommen, um Arbeitsplätze schaffen zu
können. - Ich zitiere aus der Begründung des sogenannten Steuerentlastungsgesetzes vom 31. August
1998, das in Wirklichkeit ein Steuerbelastungsgesetz ist:
({7})
„Vorbereitung einer Reform der Unternehmensbesteuerung bis zum Jahre 2000“.
In der Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit vom 7. Dezember verkünden Sie:
Die am Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit beteiligten Seiten streben vor allem an, …
3. ein Inkraftsetzen der Unternehmensteuerreform
insbesondere zur Entlastung der mittelständischen
Wirtschaft zum 1. Januar 2000.
({8})
Ich frage mich: Gehören Sie denn nicht zu den Teilnehmern am Bündnis für Arbeit? Warum erklären Sie so
etwas am 8. Dezember 1998, wenn spätestens am 24.
Juni 1999 diese Aussage wieder Makulatur geworden
ist, meine Damen und Herren?
({9})
Aber das ist der Stil der Regierung Schröder. So etwas
hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht
gegeben.
({10})
Ich habe größte Zweifel, daß Sie das Unternehmensteuerreformkonzept, das Sie in den Raum gestellt haben, überhaupt durchsetzen werden. Wie wollen Sie eine
Spreizung des Spitzensteuersatzes von 48,5 Prozent bei
Einkünften aus unselbständiger Tätigkeit und bei sonstigen Einkünften und von 35 Prozent bei den Unternehmenseinkünften verfassungsrechtlich durchbekommen?
Sie haben da gar keine Chance. Diese Spreizung ist
überhaupt nicht zu machen; das Verfassungsgericht wird
Ihnen nicht folgen.
Dann steht noch eine Vermögensabgabe im Raum.
Ferner ist zu fragen, was das, was Sie unter dem irreführenden Begriff „Ökosteuer“ machen, nämlich die Erhöhung der Energiesteuern, für die mittelständischen Unternehmen bedeutet. Jetzt sollen noch viermal sechs
Pfennige draufgelegt werden. Meine Damen und Herren,
auf der einen Seite wollen Sie den Menschen etwas in
die Tasche stecken, auf der anderen Seite haben Sie es
ihnen entzogen. Das gilt auch für die mittelständischen
Unternehmen, die keine Chance haben, sich dieser Ökosteuer zu entziehen.
({11})
Wie kann man die Weichen nur so verkehrt stellen? Hier
wird kein Investor ermuntert. Die Leute klappen die Bücher zu und gehen woandershin. Die Wirtschaft braucht
Berechenbarkeit und Kalkulierbarkeit.
Wenn ich Kalkulierbarkeit sage, dann bin ich auch
schnell bei den Renten. Was machen Sie eigentlich mit
den Renten? Sie sprechen von Beitragsstabilisierung für
die nächsten Jahre, damit die Rente auf Dauer sicher
wird. Aber als erstes haben Sie die demographische
Komponente, die wir aus diesem Grunde eingeführt
hatten, wieder rückgängig gemacht. Wäre sie geblieben,
hätte sie schon im Jahre 1999 zu einer Verstetigung der
Rentenentwicklung beigetragen. Statt dessen wird von
Ihnen die Rentenerhöhung willkürlich an die Inflationsrate angekoppelt, was zur Folge hat, daß den Rentnern
eine ins Haus stehende Erhöhung in der Größenordnung
von zwischen 3 und 4 Prozent vorenthalten wird und daß
sie Angst bekommen, daß auch in Zukunft eine Politik
gemacht wird, die einfach an der Kassenlage des Bundeshaushalts orientiert ist. Das kann man mit den Rentnern nicht machen, meine Damen und Herren, und das
wissen sie auch.
({12})
Lassen Sie mich zu den Renten aber auch sagen: Wo
Sie recht haben, haben Sie recht. Ich beziehe mich auf
die von Ihnen in die Diskussion gebrachte Komponente
der privaten Eigenvorsorge. Ich sage Ihnen hier für
meine Partei: Wir lassen in dem Punkt der privaten
Eigenvorsorge mit uns reden, auch dann, wenn Sie weiter gehen, als Sie jetzt gehen werden. Es war unter den
gegebenen Umständen richtig, auf die Pflichtbeiträge zu
verzichten. Aber über diese Dinge kann man reden. Wir
sind auch offen, wenn es darum geht, eine steuerliche
Begünstigung für das vorzusehen, was Privatpersonen
zur privaten Eigenvorsorge leisten. Voraussetzung dafür
ist, daß das System transparent ist, und zwar auch hinsichtlich der, wie Sie es ausdrücken, eventuell nachgelagerten Besteuerung der Rente. Wenn es um private
Eigenvorsorge bei der Rente geht, ist mit meiner Partei
zu reden.
Lassen Sie mich nun auf Ihr Sparpapier im einzelnen
eingehen. Angesichts dessen, was Sie an Postulaten für
dieses Paket in den Raum gestellt haben, muß ich schon
Ihre Glaubwürdigkeit anmahnen. Ich möchte - so wie
der Kollege Merz - folgende Frage aufwerfen: Wo ist
die Bemessungsgrundlage für die 30 Milliarden DM?
Ich habe sie ebenso wie Herr Merz nicht gefunden. Es
handelt sich um eine fiktive Zahl. Wenn ich den Haushalt 2000 mit dem Haushalt 1999 vergleiche, dann stelle
ich eine Senkung der Ausgaben um lediglich 8 Milliarden DM fest. Das kann es wohl nicht sein.
Daran kann auch der Kollege Metzger mit Zahlenjonglierereien nichts ändern. Wissen Sie, lieber Herr
Kollege Metzger, es gibt immer gute Gründe dafür, auszuführen, warum ein Haushalt diese oder jene Dimension hat. Faktum aber ist, daß der Haushalt 2000 - gemessen am Haushalt 1999 - Minderausgaben von 8 Milliarden DM und nicht von 30 Milliarden DM vorsieht. Es
gibt also keine Bemessungsgrundlage von 30 Milliarden DM.
Der zweite Punkt. Sie senken die Beiträge der Bundesanstalt für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung der Bezieher von Arbeitslosenhilfe. Herr Eichel,
damit verlagern Sie Ihr eigenes Haushaltsproblem auf
die Haushalte der Versicherungsträger; nichts anderes
geschieht. Dies wird dazu führen, daß die Versicherungsträger auf Sie zukommen und das Geld an anderer
Stelle fordern. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß
die Kürzung der Beiträge auf den tatsächlichen Zahlbetrag an die Arbeitslosenhilfeempfänger mittelfristig dazu
führt - das sage ich in Richtung SPD -, daß diejenigen,
die ohnehin die geringste Rente beziehen, am Ende noch
weniger haben werden. Das, meine Damen und Herren,
ist Sozialpolitik nach sozialdemokratischem Muster.
({13})
- Das, Herr Wagner, ist zutreffend. Das wissen Sie
genau. Sie müssen mir dafür einen Gegenbeweis bringen.
Ein weiterer Punkt betrifft die Unterhaltszahlungen
aus den sogenannten Vorschußkassen und das Wohngeld. Diese Zahlungen sollen vermehrt durch die Gemeinden getätigt werden und weniger durch den Bund.
Kennen Sie denn nicht die Kassenlage der Gemeinden?
Haben Sie das mit den Gemeinden abgestimmt?
({14})
Herr Eichel, die Gemeinden werden Ihnen was husten.
Wenn Sie dies tatsächlich verwirklichen wollen, dann
werden die Länder im Interesse der Gemeinden mehr
Geld verlangen. Das Haushaltsproblem, das Sie verschieben wollten, haben Sie auf diese Weise wieder auf
dem Tisch.
({15})
Sie reduzieren fiktiv die Personalverstärkungsmittel
für das Jahr 2000 um 2 Milliarden, dann noch einmal um
2 Milliarden DM, dann um 3, 4 und 5 Milliarden DM.
Von welchen Steigerungen der Personalkosten sind Sie
eigentlich ausgegangen? Diese astronomischen Steigerungen hat man erst reingerechnet und dann wieder ausgerechnet und kommt dann im Rahmen des Sparpakets
auf eine Kürzung um 30 Milliarden DM.
({16})
Das sind nichts als Luftbuchungen und Luftnummern,
das ist ein Zahlenjonglieren. - Ich möchte von den RedDr. Günter Rexrodt
nern aus der Koalition, die nach mir reden werden, das
Gegenteil bewiesen haben. - So sind die Tatsachen.
({17})
Beim Verkehrs- und beim Bauministerium sollen
3,5 Milliarden DM eingespart werden. Die Mittel für die
Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes werden gekürzt. Wenn Sie
Haushalte nur ein bißchen kennen, dann müßten Sie
eigentlich wissen, daß Sie Investitionen rausschießen.
Diese Regierung wollte aber doch Arbeitsplätze schaffen. Wie das zusammenpaßt, muß mir erst einmal einer
erklären!
({18})
Zu den Kürzungen beim Wirtschaftsministerium. Der
einzige Punkt, bei dem man hätte Mut zeigen können,
wäre die Kürzung der Kohlesubventionen gewesen, die
immer noch 9 Milliarden DM ausmachen. Da wagt sich
aber keiner heran. Da ist Ideologie vor. Da werden die
Leute aufgehetzt. Was wird statt dessen gemacht? - Die
Mittelstandsförderung und die Ostförderung werden
gekürzt. Das wiederum ist ein Punkt, wo man sich an
den Kopf fassen muß. Die Regierung hat in ihrer Regierungserklärung gesagt, die Ostförderung werde ausgebaut, sie werde mehr für die neuen Länder tun. In Wirklichkeit werden Mittel beim Bundeswirtschaftsministerium und bei der Treuhand, also bei der BVS, gekürzt.
Der BVS wird fast 1 Milliarde DM weggenommen, zum
Teil verschoben auf eine Kreditfinanzierung der KfW.
Außerdem gibt es eine Streckung der Finanzhilfen für
die Pflegeeinrichtungen in den neuen Ländern. Dies
macht mehr als 1 Milliarde DM aus.
Auch ich sage: Alles gehört auf den Prüfstand. Auch
dies kann man auf den Prüfstand stellen. Aber das Vermessene ist, vor der Wahl und auch noch in der Regierungserklärung uns zu sagen: Wir wollen im Osten
draufsatteln. Wir wollen dort nicht kürzen. - In Wirklichkeit kürzen Sie jetzt um mehr als 1 Milliarde DM.
Das, was Sie versprochen haben, haben Sie nicht gehalten. Das ist eine Tatsache.
({19})
Es geht nicht darum, ob Sparen richtig oder falsch ist.
Sparen ist immer gut.
({20})
Es geht darum, ob jemand seine Wahlversprechen
einhält oder nicht.
({21})
Es geht darum, ob man zugibt, daß die Wirklichkeit
anders als das Parteiprogramm ist. Darum treffe ich die
einfache und erschreckende Feststellung, daß Sie die
Chaospolitik der ersten acht Monate, die Sie eigentlich
während der Kosovo-Krise Zeit hatten zu überdenken,
unbeirrt fortsetzen. Falsche Weichenstellungen, Fehler
im einzelnen! Sie können es einfach nicht. Das ist die
schlichte Feststellung. Sie sind nicht in der Lage, das
Richtige zu tun.
({22})
Wir brauchen in diesem Lande keine Verpackungskünstler. Wir brauchen Leute, die eine seriöse und solide
Politik machen und die das halten, was sie versprechen.
Sie liefern uns, der Opposition, jeden Tag eine neue
Vorlage. Das ist gut für die Opposition, aber das ist
schlecht für dieses Land. Die Menschen draußen erkennen das mehr und mehr.
({23})
Nun hat das Wort
Kollege Oswald Metzger, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte
an das anknüpfen, was Kollege Rexrodt zum Schluß gesagt hat, nämlich an die Gemeinwohlorientierung in der
Politik. Kollege Schäuble, wenn Eckhard Fuhr in der
heutigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ den Rollenwechsel, den die Union jetzt probiert,
kritisch kommentiert, nachdem diese Koalition jetzt versucht - vielleicht wider Ihre Erwartungen; deshalb
schäumen Sie so -, notwendige Konsolidierungsmaßnahmen quer durch alle Haushalte einzuleiten, und Sie
plötzlich Krokodilstränen über Themen vergießen, die
Sie früher verbal zu puschen versucht haben, aber nicht
durchsetzen konnten, dann stimmt hier etwas nicht.
Dann handelt es sich um eine pharisäische Diskussion,
in der diejenigen, die im Glashaus sitzen, nicht mit Steinen werfen sollten.
Schauen Sie sich die heutige Presselandschaft an: In
der Wirtschaftspresse genauso wie in der Boulevardpresse wird anerkannt, daß dieser Finanzminister einen
Paradigmenwechsel in der deutschen Finanzpolitik einleitet, indem er ganz deutlich sagt: Wir wollen künftig
mit den vorhandenen Einnahmen auskommen. Wir erhöhen die Steuern nicht, um damit die steigenden Ausgaben auszugleichen, sondern korrigieren den Etat des
Bundes auf der Ausgabenseite.
Ich selber gebe hier ohne Einschränkung zu: Ich habe
diesen Kraftakt nicht für möglich gehalten. Es ist ein
Ergebnis erzielt worden, zu dem unsere Fraktion, zu
dem auch der Haushaltssprecher der kleineren Regierungsfraktion uneingeschränkt steht. Wir werden bei der
Neuverschuldung einen Sinkflug einleiten. Das können
Sie daran ablesen, daß wir sie allein schon in dieser Legislaturperiode halbieren werden. Das steht im Gegensatz zu den Ergebnissen, die Herr Kollege Waigel und
die alte Koalition in den letzten vier Jahren erzielt haben. Diese Halbierung ist ein gigantischer Erfolg.
({0})
Denken Sie bitte immer daran: Auf jeden Bürger entfallen statistisch jedes Jahr 1 000 DM an Zinslasten.
4 000 DM der Steuerzahlungen, die eine vierköpfige
Familie im Jahr durchschnittlich leisten muß, müssen für
Zinszahlungen verwendet werden. Das entspricht der
Zins-Steuer-Quote von 22 Prozent, die wir beklagen.
Unsere Gesellschaft steht mit dem Rücken an der Wand.
Diese Regierung, die wirklich nicht immer die Performance hatte, die man sich selber als Koalitionsabgeordneter wünscht, macht das, was für diese Gesellschaft
jetzt unabweisbar notwendig ist. Wir haben nicht den
bequemen Weg gewählt, wie es die letzte Regierung, die
16 Jahre im Amt war, immer getan hat, nämlich die
Steuern zu erhöhen, die Lohnnebenkosten steigen zu
lassen und sich teilweise hinter den Kosten der Wiedervereinigung zu verstecken. Letzteres ist heute in der
„Financial Times“ kommentiert worden. Zu dem Sparpaket von Eichel schreibt sie: Die alte Bundesregierung
hat sich hinter der Wiedervereinigung versteckt, hat
immer davon gesprochen, daß der Gürtel enger geschnallt werden muß, aber nicht den Mut gehabt, tatsächlich die notwendigen Maßnahmen durchzuführen.
({1})
Die „Neue Zürcher Zeitung“ - ich bringe bewußt die
Auslandspresse, damit Sie die Sicht des Auslandes erkennen - kommentiert heute genauso: Das opportunistische Durchwursteln der Regierung Kohl/Waigel in ihren letzten Regierungsjahren habe viel zu der strukturellen Ausgangssituation dieses Landes, das sich volkswirtschaftlich in unterdurchschnittlichen Wachstumsraten ausdrücke, beigetragen. Seien wir doch einmal ehrlich! Warum liegt Deutschland mit den Wachstumsraten
real und nominal am Ende der europäischen Fahnenstange? Doch nicht, weil wir seit neun Monaten regieren!
({2})
In den 90er Jahren lag die durchschnittliche reale
Wirtschaftswachstumsrate dieser Republik bei 1,8 Prozent. Sie wissen genau, daß heute 2,5 Prozent reales
Wirtschaftswachstum nötig sind, um überhaupt die Beschäftigungsschwelle zu überschreiten. In den 90er Jahren haben wir bis dato neun Monate regiert, Sie aber die
restlichen neun Jahre. Wo liegt dann, bitte schön, die
Verantwortung? Gilt es an Ihrer Stelle dann nicht, etwas
weniger laut zu tönen und statt dessen darauf hinzuweisen, daß Sie selber eine wesentlich größere Verantwortung dafür tragen?
Herr Merz, wenn Sie am Schluß Ihre Rede - die eine
Attacke auf das Sparprogramm der Koalition war - sagen, Sie seien bereit, daran mitzuwirken, dann wirkt das
etwas seltsam. Wenn Sie uns noch bei der Beratung des
Etats für 1999 vorgehalten haben, wir würden nicht sparen und wir würden den Haushalt expandieren, dann
müssen Sie jetzt zur Kenntnis nehmen, daß wir die Ausgaben im nächsten Etat um 1,5 bis 1,6 Prozent redzudieren. Sie aber stellen sich bei Ihrer Erwiderung auf meine
Kurzintervention hin und sagen nichts anderes als:
„Waigel hatte eine Finanzplanung von 469 Milliarden
DM, und ihr macht einen Etat von 478 Milliarden DM.
Wo ist da die Einsparung?“ Ja, soll ich es noch einmal
wiederholen? Die 8 Milliarden DM für die Postunterstützungskasse waren noch nicht drin. Legen Sie die
drauf, sind wir bereits gleichgezogen. Die Ausgleichsmaßnahmen für Bremen und das Saarland waren noch
nicht drin. Sie können mit diesem unseriösen Vergleich
keine Punkte machen! Trotz Ihres Europawahlerfolges
sind Sie seit langer Zeit erstmals wieder in einer argumentativen Defensive,
({3})
weil es als Opposition schwierig ist, einen Stellungswechsel vorzunehmen und das zu diskreditieren, was das Sparpaket betreffend - heute sogar Barbier in der
„FAZ“ von der Grundrichtung her positiv kommentiert.
Als Unionsmann müßten einem schon die Ohren klingeln, wenn es so weit kommt, daß dieser Ordoliberale
sagt, das sei der richtige Ansatz.
({4})
Insofern geht Ihr Bausch-und-Bogen-Verriß absolut an
der Sache vorbei.
Was heißt Sparen? Natürlich bedeutet Sparen auch
Einschnitte. Wir probieren den Kraftakt quer durch alle
gesellschaftlichen Bereiche. Ich fange mit dem an, was
der Bundesarbeitsminister Riester bei der Rente mit seinem Inflationsausgleich für die nächsten zwei Jahre
macht. Das ist eben keine „Rente nach Kassenlage“. Wir
werden doch die Rentendiskussion erleben, wenn im
Herbst die neuen Sterbetafeln kommen, die zeigen, daß
die rechnerische Lebenserwartung in dieser Gesellschaft
noch höher ist und daß daher alle Hochrechnungen in
bezug auf den Rentenversicherungsbeitrag noch einmal
überprüft werden müssen. Die Regierungsfraktionen
werden gemeinsam mit dem Sozialminister eine Rentenformel entwickeln, die die Grundsicherung einführt, um
im Alter ein Einkommen auf der Sozialhilfebasis zu haben, ohne daß eine Bedarfsprüfung stattfindet und ohne
daß ein Durchgriffsrecht gegen die Angehörigen besteht.
Das werden wir steuerfinanziert machen; dafür stehen
Teile der Einnahmen aus der Ökosteuer zur Verfügung.
Das ist ein Fortschritt, der Altersarmut verhindert.
({5})
Kollege Metzger,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Aber bitte.
Herr Kollege Metzger, Sie
haben soeben gesagt, daß sich die Koalition bei ihren
Sparbemühungen an alle gesellschaftlichen Bereiche
wendet. Stimmen Sie mit mir überein, daß es auf Grund
der wahrlich gigantischen öffentlichen Verschuldung insbesondere der des Bundes - auch Nutznießer, um
nicht zu sagen: Profiteure, gegeben hat? Denn jene, die
genügend Geld haben, um es den öffentlichen Händen
zu pumpen, haben aus den zuverlässigen Zinszahlungen
der öffentlichen Hände einen ziemlich großen Nutzen
gezogen. Stimmen Sie mit mir darin überein, daß es angemessen wäre, darüber nachzudenken, ob man nicht jenen, die über Jahre hinweg daraus Nutzen gezogen haben, eine Steuer auferlegt, um aus dieser Haushaltsmisere, in der sich das Land befindet, herauszukommen und
sich so vielleicht einige harte Einschnitte in sensible Bereiche zu ersparen, die wahrlich die kleinen Leute treffen?
({0})
Die Debatte ist so alt wie der Haushalt selbst.
({0})
Im Zusammenhang mit Steuererhöhungen für die Nutznießer der Verschuldung kann man drei Themen ansprechen: erstens die Vermögensteuer, zweitens die Erbschaftsteuer und drittens eine Abgeltungsteuer für Zinserträge. Wenn Sie von mir eine Bewertung wollen, dann
schließe ich mich voll dem an, was der Kanzler gestern
gesagt hat. Mit der Wiedereinführung der Vermögensteuer oder mit einer Erbschaftsteuererhöhung diskreditiert man den konzeptionellen Ansatz des Sparens.
({1})
Sie wissen zudem genau, Frau Luft, daß der Aufwand
für die Erhebung der Vermögensteuer - man müßte die
Datenbasis erneut schaffen, außerdem ist es eine reine
Ländersteuer, von der der Bund gar nichts hätte - in keinem Verhältnis zum Ertrag steht.
Über eine Erhöhung der Erbschaftsteuer kann man
sicher lange diskutieren, aber diese Debatte stellt sich
jetzt überhaupt nicht. Denn viele Leute - vielleicht sogar
Wählerinnen und Wähler der PDS im Osten - sagen zu
Recht: Wenn ich in meinem Leben aus versteuertem
Einkommen Vermögen aufbaue oder Eigentum bilde,
dann darf das nicht noch einmal abgegriffen werden.
Zum dritten Bereich - damit Sie merken: ich differenziere -, der Abgeltungsteuer auf Zinserträge. Das
zu erreichen ist in der Tat ein gemeinsames Ziel auf europäischer Ebene. Sie wissen, seit letztem Jahr liegt von
der EU-Kommission ein Vorschlag auf dem Tisch - der
leider nicht mehrheitsfähig ist -, wonach EU-weit eine
20prozentige Abgeltungsteuer eingeführt werden soll.
Hier gibt es mit Sicherheit Handlungsbedarf. Denn auf
Grund der Halbierung des Sparerfreibetrages werden eine Reihe von Bundesbürgern im nächsten Jahr die Konten bei ihren Banken räumen. Von einer solchen Kapitalflucht ins Ausland hat diese Gesellschaft nichts, sie
nützt ihr gar nichts.
({2})
Ich war bei der Rente; die Grundrente hatte ich abgehandelt. Wir Grünen halten an der Beitragsfinanzierung der Rente fest. Wer mehr arbeitet in seinem Leben, soll im Alter auch höhere Rentenansprüche haben.
Dieses Äquivalenzprinzip ist wichtig. Trotzdem müssen
wir wissen: Auf Grund der steigenden Lebenserwartung
wäre eine Finanzierung der Altersrenten beitragsäquivalent nur bei einer Explosion der Beitragssätze möglich.
Kollege Metzger, es
besteht der Wunsch nach zwei weiteren Zwischenfragen
von der PDS.
Ich setze den Gedankengang zur Rente fort, dann komme ich auf Sie zurück.
Mit der Einführung einer obligatorischen privaten
Zusatzversorgung hat der Arbeitsminister einen Vorschlag gemacht, der eine riesige Diskussion auslöste.
Der Kern seiner Botschaft, seines Reformansatzes wurde
wohl nicht von allen verstanden, auch bei uns nicht von
allen.
({0})
Dieser Reformansatz - die Eigenvorsorge zu stärken ist, Kollege Rexrodt, die einzige Möglichkeit, um in den
nächsten zehn, 15 Jahren noch einen Kapitalstock mit
guten Nettorenditen aufzubauen. Denn in den nächsten
15 Jahren wird - dies ist aus der Alterspyramide ersichtlich - der aufgebaute Kapitalstock nicht verzehrt werden
müssen. Dies führt zu einer höheren Rendite und somit
dazu, daß der Lebensstandard im Alter auf relativ hohem
Niveau gesichert werden kann.
Das hat auch eine volkswirtschaftliche Komponente:
Wenn eine Gesellschaft älter wird, müssen die Menschen im Alter ein ausreichendes Einkommen haben.
Ansonsten funktioniert die Ökonomie in dieser Gesellschaft nicht mehr. Denn Menschen, die kein Einkommen
haben, können sich nichts leisten. Die wenigen Jungen
können - das ist das Gesetz des Wirtschaftskreislaufs dann nicht von der Nachfrage der älteren Generation
profitieren. Es ist also im Interesse der Generationengerechtigkeit, daß dieser Systemwechsel kommt. Ich glaube, daß diese Koalition eine Lösung finden wird, die den
demographischen Wandel einbezieht, wenn auch nicht
in Form eines solchen Faktors, wie Sie es machen wollten. Die Wirkung wird die gleiche sein, tendenziell muß
unser Vorschlag sogar noch ein bißchen weiter gehen,
weil die Lebenserwartung statistisch gesehen höher ist
als die, mit der Sie während Ihrer Regierungszeit gerechnet haben.
({1})
Können jetzt die
Zwischenfragen gestellt werden? - Kollegin Höll, dann
Kollege Rössel.
Herr Kollege Metzger,
wenn Sie über Sozialabbau unter der Überschrift Sparen
sprechen, möchte ich doch bitten, daß wir noch einmal
zur Einnahmenseite zurückkommen, denn ich glaube,
Sie haben die Frage von Frau Professor Luft nicht ausreichend beantwortet.
Nicht in Ihrem Sinne.
Sie haben es nur auf die
Steuern reduziert, aber wer wirklich große Vermögen in
den letzten Jahren anhäufen konnte, hatte natürlich dadurch die Möglichkeit, auch über die Zinsen eine zusätzliche Einnahme zu erzielen, die jetzt nicht doppelt
besteuert werden würde.
Sie wissen, daß es einen Vorschlag gibt, eine einmalige befristete Vermögensabgabe auf wirklich große
Vermögen einzuführen - natürlich wäre davon jedes
Einfamilienhaus freigestellt -, die bei Versicherungen
und Banken bestehen.
Die Frage bitte!
Ich möchte Sie fragen, Herr
Kollege Metzger, wie Sie sich zu diesem Vorschlag
einer einmaligen, zeitlich auf zehn Jahre befristeten
Vermögensabgabe positionieren, denn das ist etwas anderes im Unterschied zu der Frage, die Sie beantwortet
haben und die direkte Steuererhöhungen betraf.
Ich sage es kurz und bündig. Die Antwort auf die Frage
von Frau Luft war vielleicht nicht in Ihrem Sinne, aber
ich habe sie in meinem Sinne gegeben.
Zu Ihrer Frage: Eine einmalige Vermögensabgabe
halte ich für Quatsch. Damit treiben wir Kapital aus dem
Land, das diese Gesellschaft braucht. Gerechtigkeit im
Steuersystem gibt es nur dadurch, daß wir bei den direkten Steuern die Nominaltarife senken und die Bemessungsgrundlage verbreitern. Dann kommen wir zu einem
Steuersystem, bei dem in der Tendenz Gerechtigkeit
herrscht.
({0})
Kollege Rössel.
Kollege Metzger, wie
gehen Sie mit der deutlichen Kritik der kommunalen
Spitzenverbände um, die sich dagegen verwahren, daß
die Sanierung des Bundeshaushaltes, zumindest bestimmter Teile des Bundeshaushaltes, zu ihren Lasten
erfolgen soll?
Wie gehen Sie damit um, daß die gestern beschlossene Abschaffung des staatlichen Wohngeldes, die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe, die Übertragung
von Unterhaltszahlungen an die Kommunalkassen zu
Mehrbelastungen der Sozialhilfeetats von rund 3 Milliarden DM führen werden, ohne daß bisher erkennbar ist,
daß der Bund in irgendeiner Weise etwas zur Stärkung
der Finanzkraft der Kommunen tut?
Eine Frage bitte!
Wann endlich setzt
die Bundesregierung und die sie tragende Koalition die
Koalitionsvereinbarung um, die Finanzkraft der Kommunen zu stärken? Denn deren Finanzkraft hat wohl mit
kommunaler Selbstverwaltung wenig zu tun. - Ich bitte
um die Antwort.
Kollege Rössel, die Frage ist absolut berechtigt. Natürlich muß man beim Sparen immer darauf achten, ob es
Lastenverschiebungen auf andere staatliche Ebenen gibt.
Das wäre nämlich kein Sparen, es sei denn, es werden
dort gleichzeitig Strukturreformen wie bei der Rente
vorgenommen.
Was die kommunale Seite betrifft: Es ist richtig, daß
alle diese Bereiche, die Sie hier ansprechen, zunächst
die Einnahmenseite der Kommunen verschlechtern.
Wenn beispielsweise warme Wohnungen für Sozialhilfeempfänger, für die die Kommunen geradestehen müssen, nicht mehr durch das pauschale Wohngeld des
Bundes und auch durch Komplementärfinanzierung der
Länder finanziert werden können, dann erhöht das einerseits die Sozialhilfelasten. Andererseits erhöht es auch
die Verantwortung derer vor Ort, bei der Anmietung von
Wohnungen auf Kostenbewußtsein zu achten.
({0})
Wenn man Mitfinanziers wie den Bund hat, führte
das in der Vergangenheit dazu, daß beim Wohngeld inzwischen 53 Prozent als sogenanntes pauschaliertes
Wohngeld laufen und weniger als die Hälfte Tabellenwohngeld für den normalen Wohngeldempfänger und
Arbeitnehmer oder Rentner ist. Da stimmt etwas nicht,
und das wollen wir korrigieren.
Gleichzeitig ist es natürlich so, Kollege Rössel, daß
mit jeder Kindergelderhöhung, auch mit derjenigen im
Januar um 30 Mark pro Kind, die die Sozialhilfe auszahlenden Kommunen einnehmen, natürlich ohne daß
die Kommunen gesagt hätten, das Geld lehnten sie ab,
sich deren Einnahmen erhöhen. Das haben sie in diesem
Jahr eingenommen, und sie werden auch im nächsten
Jahr das um 20 DM erhöhte Kindergeld einnehmen. Sie
werden im Bereich der Umfinanzierung zwischen Bund
und Ländern auch durch Tatbestände im Steuerrecht
profitieren, so daß im Saldo über den Finanzplanungszeitraum die Länder und Kommunen insgesamt mit 4
Milliarden DM von diesem Sparpaket profitieren. Das
ist unser Ziel, und das können Sie in der Finanzplanung
nachlesen.
Ich bin viel zu sehr Kommunalpolitiker - und dafür
schäme ich mich nicht -, als daß ich diesen Verschiebebahnhof politisch vertreten würde, wenn es ein Verschiebebahnhof wäre, Herr Rössel.
({1})
Ich fahre fort: Wir waren bei dem Themenkomplex
Rente. Die strukturelle Änderung in der Rentenversicherung ist einer der Beiträge, an denen man sieht, daß wir
nicht als Selbstzweck sparen, sondern Generationengerechtigkeit wollen und langfristige Finanzierbarkeit dessen, was den Sozialstaat ausmacht. Wenn ich das Wort
vom Kaputtsparen, das aus vielen der Zwischenfragen
herauslugt, höre, dann frage ich mich: Wer spart denn
eine Gesellschaft kaputt? Doch derjenige, der jedes Jahr
50, 60, 70 Milliarden DM neue Schulden aufhäuft, die
automatisch die Steuererhöhungen von morgen nach
sich ziehen, die automatisch die Lohnnebenkostenerhöhungen von morgen bedingen. Das war die Strategie
vieler Jahrzehnte.
Wenn jetzt eine Regierung kommt, und dazu noch eine sozialdemokratisch-grüne Regierung, und sagt: „Mit
diesem Marsch in den Schuldenstaat räumen wir auf, wir
sagen der Bevölkerung ehrlich, daß wir unsere Ansprüche an die Gesellschaft sozial gerecht und ökonomisch
verträglich zurückfahren“, dann ist das eine Botschaft,
die den Sozialstaat in seinem Kern langfristig erhalten
will. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird der Sozialstaat an die Wand fahren.
({2})
Zum Stichwort Steuerpolitik: Auch hier haben wir
aus meiner Sicht ein absolut diffuses Bild
({3})
der Opposition, und zwar aus folgendem Grund, Herr
Kollege Austermann: Es ist in der Unternehmensteuerreform genau die Philosophie, für die Sie sich in Ihrer Regierungszeit immer auf die Brust geklopft haben, zum
Durchbruch gekommen, nämlich eine gewaltige Senkung der Nominaltarife, eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und bei der Unternehmensteuerreform
2001 sogar noch eine Nettoentlastung um 8 Milliarden
DM. Der Finanzminister hat es dargestellt. Wenn Sie
schauen, wie die Unternehmen insgesamt, aber vor allem der Mittelstand beim Steuerentlastungsgesetz unter
dem Strich entlastet wurden - die Versicherungs- und
die Energiewirtschaft tragen im wesentlichen die Gegenfinanzierung des Steuerentlastungsgesetzes in der Wirtschaft -, dann sollten Sie höllisch vorsichtig mit der Behauptung sein, daß diese Konzeption nicht greift.
({4})
Dieser Teil wird übrigens heute auch in der Wirtschaftspresse gelobt. Die Wirtschaftsverbände loben genau diesen Teil, und sagen: Damit wird insgesamt ein
international wettbewerbsfähiges Unternehmensteuerrecht angedacht, das wieder Investitionen nach
Deutschland zieht. Ich glaube, daß uns dieser Teil in
Verbindung mit der Konsolidierung in den nächsten
Wochen an den Märkten eine freudige Überraschung bescheren wird. Wir werden erleben, daß die Glaubwürdigkeit der größten Volkswirtschaft im Euro-Land insgesamt an den Märkten den Euro und auch den DAX
nach oben zieht, weil wir in Deutschland die Hausaufgaben machen, die im Hinblick auf die Stabilität in Europa nötig sind.
({5})
- Von Italien redet an den Märkten niemand mehr, wenn
Deutschland als größte Volkswirtschaft tatsächlich diesen Kraftakt macht.
({6})
Wir werden durch die Steuerpolitik im Herbst einen
weiteren Effekt erleben, nämlich eine Investitionsoffensive der Wirtschaft. Jedes Unternehmen, das sich darauf
verlassen kann, daß in zwei Jahren die Tarife deutlich
sinken, wird zu den jetzigen Tarifen und Abschreibungsbedingungen investieren, weil sich die Auftragslage verbessert. Lesen Sie doch die Zeitungen: Der Export
zieht an, die Stimmung in der Wirtschaft steigt. In dieser
Kombination vergessen viel zu viele von uns, daß wir
mit diesem Paradigmenwechsel der Regierungspolitik
genau das Signal geben, das wir als Koalition brauchen,
um in der Ökonomie tatsächlich Erfolg zu bekommen,
höheres wirtschaftliches Wachstum zu erzielen, am Arbeitsmarkt Signale zu erreichen.
Dafür sparen und gestalten wir, dafür ändern wir das
Steuerrecht, dafür machen wir Strukturreformen, damit
sich Deutschland insgesamt wieder in den Geleitzug der
anderen europäischen Volkswirtschaften mit einem
volkswirtschaftlichen Wachstum einreihen kann, das die
Arbeitslosigkeit bekämpft. - Da klatscht niemand mehr.
Offensichtlich ist es eine pure Selbstverständlichkeit.
({7})
Ich bin kein Freund von Polemik; das ist bekannt. Ich
glaube übrigens, daß auch die Zuschauer und Zuhörer,
aber auch Parlamentarier nüchterne Analysen und Debatten und nicht nur Polemik hören wollen. Ich finde es
wichtig, auch das hier zu sagen.
Wenn es jetzt um die Einladung der Opposition geht
- Eckhard Fuhr läßt mit seinem Leitartikel „Stellungswechsel“ wieder grüßen -, glauben Sie als große Volkspartei Union nur nicht, daß Sie mit etwas, was Sie in der
alten Koalition häufig verbal versucht hatten, jetzt einen
Stellungskrieg einleiten und die SPD sozusagen in die
Rolle drängen könnten, daß sie jetzt die Volkspartei der
sozialen Kälte ist, wegen der die Union abgewählt worden ist. Sie verlieren die Gemeinwohlorientierung aus
den Augen und kündigen den Konsens einer Gesellschaft auf, die davon lebt, daß Strukturreformen von einer maximalen Mehrheit getragen werden müssen. Auch
die Union steht in den von ihr regierten Bundesländern
unter dem Druck der knappen Kassen. Glauben Sie nur
nicht, daß Sie hier Lippenbekenntnisse liefern können
und dann wieder irgendwo im Sommer auf der Straße
Unterschriften sammeln können, wie es dieses Jahr
schon einmal der Fall war.
({8})
Diese Strategie ist gemeinwohlschädlich. Das werden
wir Ihnen nicht durchgehen lassen, weil Sie durch
16 Jahre Regierungszeit einen Großteil der Verantwortung für das tragen, was wir heute an Erblast zu bewältigen haben.
Finanzminister Eichel hat heute auf entsprechende
Einlassungen hier am Rednerpult gesagt: Es geht nicht
um vordergründige Schuldzuweisungen. Wir alle sitzen
auf Landesebene in Regierungen und haben in der Vergangenheit die gleiche Strategie gewählt. Insofern ist es
eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, die wir alle in
einem Kraftakt schultern müssen. Wenn unsere Gesellschaft nur noch aus Besitzstandswahrern besteht,
wenn jede Gruppe immer aufschreit, weil sie nur ihren
Geldbeutel sieht, wenn niemand in der Gesellschaft
mehr den gesamten Geldbeutel sieht, aus dem wir aber
alles bezahlen müssen, dann wird diese Gesellschaft im
Wettbewerb der Volkswirtschaften auf diesem Globus
keine Chance haben, und sie wird vor allem - das ist das
Traurige - ihre Sozialstaatlichkeit nicht behalten können.
({9})
Ich möchte noch auf ein paar Details der Debatte eingehen.
Erstens wurde zu Recht gesagt: Es sind im Haushalt
noch eine Reihe von globalen Minderausgaben zu finden. Aber im Kabinett wurde beschlossen, daß die Minister, die in ihren Etats globale Minderausgaben als
Sparvorschlag benannt haben, verpflichtet werden, bis
zum Beginn der parlamentarischen Beratungen in Berlin, also bis zum September, diese Einsparungen titelgenau zu belegen. Sie können sich darauf verlassen: Die
Haushaltspolitiker der SPD und der Grünen werden im
parlamentarischen Verfahren dafür Sorge tragen, daß
diese Einsparungen titelgenau belegt werden. Dieser
Vorwurf wird also schon in der Debatte bei der ersten
Lesung nicht mehr gelten.
Zweitens zu den angesprochenen Maßnahmen im
Verkehrsbereich. Im Raum steht, wir würden die Investitionen zurückfahren. Die Zahlen sprechen glatt gegen
diese Vorhaltung. Aus 58,2 Milliarden DM Investitionsausgaben in diesem Jahr werden im nächsten Jahr
57,6 Milliarden DM. Gleichzeitig reduzieren wir aber
das Haushaltsvolumen um rund 8 Milliarden DM. Das
heißt, in Relation zum Haushalt steigt die Investitionsquote.
({10})
Es war genau das Ziel dieser Koalition, bei den konsumtiven Ausgaben zu sparen und die Investitionen zu
schonen.
Verkehr und Bau sind ja jetzt zusammen; das wissen
Sie. Selbst im Verkehrsetat wird der größte Teil der Einsparungen im konsumtiven Bereich, nämlich durch den
Wegfall von 2,3 Milliarden DM pauschaliertem Wohngeld, erbracht.
({11})
Die Debatte haben wir eben geführt. Der kleinere Teil
wird im investiven Bereich eingespart. Dabei handelt es
sich um eine vergleichsweise kleine Summe, die auch
auf verschiedene Haushaltstitel verteilt wird.
Wenn ich „Verkehrshaushalt“ höre, will ich noch folgendes sagen: Sie haben im letzten Jahr - Wissmann
war damals noch Verkehrsminister - eine Spatenstichpolitik betrieben und Projekte begonnen, die überhaupt
nicht finanziert waren. Der Bundesverkehrswegeplan
ist in der Tat ein Märchenbuch.
({12})
Er ist kein Kassenbuch, das tatsächliche Finanzierbarkeit
aufweist. Jetzt kommen Sie und sagen: Die neue Regierung finanziert die angefangenen Projekte nicht; sie
sorgt für Stillstand. Wir sollten im Verkehrsbereich ganz
eindeutig darauf setzen, daß Lückenschlußpolitik betrieben wird, daß Schwerpunkte gesetzt werden, daß Maßnahmen abgeschlossen werden, daß durchgängige Verkehrswege im Schienenbereich wie im Straßenbereich
geschaffen werden. Es sollte nicht an jeder Ecke die Illusion geweckt werden, als ob diese Gesellschaft angesichts der Sparpolitik, die in den nächsten Jahren ansteht, in der Lage sei, dieses Märchenbuch zu finanzieren. Das wäre absurd.
({13})
Ich komme zum Schluß. Diese Koalition hat mit diesem Haushaltsplanentwurf und mit dieser Finanzplanung
das Versprechen des Koalitionsvertrages eingelöst,
ernsthaft an die Sanierung der Staatsfinanzen heranzugehen. Dies ist ein Kraftakt, der uns noch viele Diskussionen abverlangen wird, weil es natürlich auch in den
Reihen unserer beiden Fraktionen unterschiedliche Interessen gibt. Weil aber das Ergebnis, die Staatsverschuldung insgesamt zurückzuführen, sozial gerecht zu
sparen und die Gesellschaft im Vergleich zu den Konkurrenzvolkswirtschaften wieder in eine bessere ökonomische Position zu bringen, zählt, werden wir dennoch
daran festhalten. Es wird nicht die letzte große Reformanstrengung sein. Weitere werden folgen müssen. Aber
wir sind inzwischen auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({14})
Als
nächster Redner hat der Fraktionsvorsitzende der PDSFraktion, Dr. Gregor Gysi, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem die Bundesregierung uns das
erste Mal nach 1945 in einen Krieg geführt hat, ist das
vorliegende Sparpaket Ausdruck eines zweiten tiefen
Einschnitts in die Verfaßtheit der Bundesrepublik
Deutschland. Es ist übrigens auch nicht ehrlich, weil Sie
zum Beispiel die Kosten des Krieges einschließlich der
Folgekosten nicht einmal benennen, obwohl sie doch einer der Punkte waren, die mit zu entsprechenden Überlegungen geführt haben.
({0})
Herr Metzger, Sie haben hier der Opposition, insbesondere der CDU/CSU, einen Rollenwechsel vorgeworfen. Das kann man natürlich tun. Aber ohne den eigenen
Rollenwechsel dabei zu erwähnen, finde ich das schon
ein ziemlich starkes Stück.
({1})
Allein die Tatsache, daß Sie so häufig auf die „FAZ“
({2})
und deren wohlwollende Begleitung und auf die Wirtschaftsverbände hinweisen, ohne daß das der SPD zu
denken gibt, sagt ja wohl auch etwas über den Rollenwechsel in dieser Gesellschaft aus.
({3})
Ich habe mir in den letzten Tagen einmal überlegt,
was passiert wäre, wenn dieses Sparpaket - bitte seien
Sie nicht gleich beleidigt; ich sage es trotzdem - wortgleich von der letzten Regierung aus CDU/CSU und
F.D.P. hier vorgelegt worden wäre. Ich habe mir einmal
einen Moment lang überlegt, welche Reden aus SPD
und Bündnis 90/Die Grünen im letzten Jahr dazu gehalten worden wären. Das kann man wirklich als Theaterstück aufführen. Sie können einfach die Reden aus dem
letzten Jahr nehmen und werden dann feststellen: Sie
hätten das Ding in der Luft zerrissen. Das ist die Wahrheit. Das ist der Rollenwechsel, den Sie inzwischen
durchmachen.
({4})
Nun sind einige der Streichvorschläge natürlich
durchaus vernünftig. Vor allem ist vernünftig - das will
ich im Namen meiner Fraktion ausdrücklich würdigen die Einführung einer sozialen Grundsicherung für
Rentnerinnen und Rentner, um die Altersarmut bekämpfen zu können. Das werden wir auch unterstützen.
Auf der anderen Seite ist aber das ganze Sparprogramm auch willkürlich. Noch niemand hat erklärt: wieso eigentlich unbedingt 30 Milliarden DM - einmal unabhängig von den Luftbuchungen, die dabei sind -,
Wieso nicht 40, weshalb nicht 20 Milliarden DM? Noch
niemand hat erklärt, ob es überhaupt richtig ist, in einer
konjunkturell schwachen Zeit so rigoros zu sparen, und
ob man das Ganze nicht hätte etwas langsfristiger angehen müssen.
Wenn man sich dann die einzelnen Seiten dieses
Sparprogramms ansieht, stellt man fest: Es ist wirtschaftlich schädlich. Es wird zum Arbeitsplatzabbau
führen. Es vertieft die Kluft zwischen Ost und West, und
es ist darüber hinaus noch sozial ungerecht. Das, finde
ich, ist ein bißchen viel.
({5})
Wer die Wirtschaftsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe West und Ost drastisch reduziert,
die Strukturanpassungshilfen Ost abbaut, die Zuschüsse
für ERP-Kredite, Werften, Landwirte und landwirtschaftliche Betriebe rigoros kürzt, spart nicht nur falsch,
sondern auch teuer. Die Folge dieser Streichliste sind
Schließungen landwirtschaftlicher Betriebe, Entlassungen von Arbeitskräften in Werften und in kleinen und
mittelständischen Unternehmen, die bisher in den Genuß
von Wirtschaftsförderung, Zinszuschüssen oder Strukturanpassungshilfen kommen.
Die Regierung muß die Gegenrechnung vorlegen:
Wieviel kostet die Finanzierung von Tausenden von zusätzlichen Arbeitslosen? In welcher Höhe gehen dadurch
Beiträge in die Versicherungssysteme und Lohnsteuern
verloren? Abgesehen von den damit verbundenen
menschlichen Schicksalen kann sich jeder ausrechnen:
Die Kosten übersteigen die Einsparungen. Das gilt übrigens entsprechend für einen pauschalen Stellenplanabbau im öffentlichen Dienst um 6 Prozent.
Der Aufbau Ost wird durch die Reduzierungen der
Strukturanpassungshilfen, bei der Wirtschaftsförderung
und den Zinszuschüssen drastisch zurückgeworfen. Damit wird ein Wahlversprechen der SPD gebrochen.
Durch die zusätzliche Belastung der Kommunen fallen
diese insbesondere im Osten als Faktor zur Schaffung
regionaler Wirtschaftskreisläufe und damit zur Sicherung von Arbeitsplätzen aus.
Die Einsparungen beim BAföG für Studierende, beim
Meister-BAföG, bei Hochschulsonderprogrammen und
bei der Projektförderung im Bereich Bildung und Forschung sind Verzicht auf Zukunft und nicht Gestaltung
von Zukunft.
({6})
Die Kürzung bei der Forschung für erneuerbare Energien ist die Absage an ökologische Energiepolitik.
Die Vorstellungen zur Rentenkürzung, zum Abbau
von Arbeitslosenhilfe und zu Streichungen und Verlagerungen beim Wohngeld bei gleichzeitiger zusätzlicher
Belastung durch höhere Mineralöl- und Stromsteuern
sind sozial unverträglich und vergrößern die Schere zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft. Besserverdienende und Vermögen werden durch das Sparpaket nicht
mit einer Mark zusätzlich belastet. Im Gegenteil! Eine
sozialdemokratisch geführte Regierung muß sich schon
fragen lassen, wie sie es mit ihrer Tradition vereinbaren
kann, bei Alten und Arbeitslosen sowie im Rahmen der
Gesundheitsreform bei Kranken zu kürzen, um den Spitzensteuersatz der Bestverdienenden zu senken und die
Unternehmen völlig undifferenziert steuerlich zu entlasten.
So begrüßenswert die soziale Grundsicherung für
Rentnerinnen und Rentner - so sie denn eingeführt wird
- ist, so kritikwürdig ist es andererseits, für Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosenhilfe die Zuschüsse
zu den Rentenbeiträgen so zu senken, daß sie bewußt
nur in eine Grundsicherung statt in eine sozialverträgliche Rente gedrängt werden. Auch hier fehlt die Gegenrechnung. Was Sie heute bei den Beiträgen sparen, müssen Sie später bei der Grundsicherung doppelt drauflegen. So wird es kommen.
({7})
Lassen Sie mich ganz allgemein etwas zur Rente sagen: CDU/CSU, F.D.P. und SPD haben gemeinsam eine
große Rentenreform durchgeführt. Damals ging es um
die Einführung des demographischen Faktors. Man hat
gesagt: Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner wächst,
die der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nimmt
ab. Außerdem beziehen die Rentnerinnen und Rentner länger Rente. Also kann man die Entwicklung der
Rente nicht länger an das Bruttoeinkommen, sondern
muß sie an das Nettoeinkommen knüpfen, weil durch
steigende Beiträge Nettolöhne nicht so schnell steigen
wie Bruttolöhne. Das ist jahrelang so geschehen. Damit
war der demographische Faktor eingeschlossen. Mit
dieser Begründung hat übrigens die SPD in der letzten
Legislaturperiode die Rentenniveausenkung, wie sie
von der früheren Regierung vorgeschlagen wurde, abgelehnt.
Jetzt führen Sie eine Rentenniveausenkung durch, die
viel dramatischer ist. Sie koppeln die Renten von der
Nettolohnentwicklung ab. Das ist aus mehreren Gründen
verfassungsrechtlich bedenklich und ungerecht.
Ich will das ausführen: Erster Punkt. Wie lautete denn
zum Beispiel die Begründung für die Einführung der
Ökosteuer? Als die Ökosteuer eingeführt wurde, haben
wir gesagt, daß die Rentnerinnen und Rentner dadurch
voll zur Kasse gebeten werden. Da haben Sie gesagt, das
stimme nicht; denn der Nettolohn steige durch die Senkung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung;
da im nächsten Jahr eine Nettolohnanpassung erfolge,
seien sie zumindest indirekt zum Teil Nutznießer dieser
Entwicklung, und damit werde das ausgeglichen.
Jetzt stoppen Sie die Nettlohnanpassung, und damit
bewirken Sie, daß die Rentnerinnen und Rentner die
Ökosteuer einschließlich ihrer Folgestufen voll bezahlen.
({8})
Das ist einfach unerhört; denn Sie haben bei der Einführung der Ökosteuer nicht die Wahrheit gesagt. Das hätten Sie den Rentnerinnen und Rentnern gleich sagen
müssen.
({9})
Zweiter Punkt. Sie behaupten, die Nettolohnanpassung könne deshalb nicht erfolgen, weil Nettolöhne jetzt
schneller stiegen als Bruttolöhne. Dieses Vorgehen ist
an sich schon hart. Solange die Nettolöhne langsamer
stiegen als die Bruttolöhne, paßten Sie die Rente an. In
dem Moment aber, wo es umgekehrt ist, hören Sie damit
auf.
Abgesehen davon: Weshalb steigen denn die Nettolöhne schneller als die Bruttolöhne? Wegen der verfassungsrechtlich gebotenen Anhebung des Existenzminimums und der durch das Bundesverfassungsgericht nicht durch Eigeninitiative der Bundesregierung - angeordneten Steuerentlastungen bei den Familien. Aber was
heißt das? Wenn beides verfassungsrechtlich zwingend
ist, Sie also nur die Einhaltung des Grundgesetzes
durchsetzen und Sie dann sagen: „Bei der Anpassung
nehmen wir die Rentnerinnen und Rentner heraus“, dann
ist das nicht nur sozial ungerecht, sondern auch verfassungsrechtlich höchst problematisch.
({10})
Denn was bei den Nettolöhnen aus Verfassungsgründen
geschehen muß, müßte sich selbstverständlich auch auf
die Renten auswirken.
Wenn übrigens die Nettolöhne wegen einer zu hohen
Besteuerung verfassungswidrig zu niedrig waren, dann
bedeutet das, daß in den letzten Jahren auch die Nettolohnanpassung bei den Rentnerinnen und Rentnern verfassungswidrig zu niedrig war. Sie dann von einer verfassungsrechtlichen Korrektur auszuschließen ist für eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ein
starkes Stück.
({11})
Weil auch die alte Regierung Rentenkürzungen geplant
hatte, muß man sagen: Ob Schwarz oder Gelb, Rosa
oder Grün, es zahlen immer die Rentnerinnen und Rentner drauf. Dabei kann es in dieser Gesellschaft nicht
bleiben.
({12})
Wenn Sie, Herr Bundesfinanzminister Eichel, jetzt
die Besteuerung von Erträgen aus Lebensversicherungen einführen wollen, dann verhalten Sie sich doch völlig konträr zu dem, was Sie gerade ankündigen. Sie fordern mehr Eigenvorsorge. Schließen die Menschen jetzt
Lebensversicherungen ab - auch das hat doch etwas mit
Eigenvorsorge zu tun - und steht das Ergebnis dieser
Lebensversicherungen dem einzelnen dann zur Verfügung, steht schon der Staat bereit und kassiert zum
zweitenmal ab. Da die Beiträge aus bereits versteuertem
Einkommen gezahlt worden sind, ist dies nicht zu rechtfertigen.
({13})
Sie sagen: Wer das kritisiert, ist beweispflichtig, wie
er sparen würde. Ich will Ihnen einmal sagen, wie Sie 30
Milliarden DM sparen könnten, ohne damit zu sagen, ob
das sein müßte: Verkauf von 10 Prozent der überhöhten
Goldreserve der Deutschen Bundesbank - 5,1 Milliarden
DM, Verkauf der überschüssigen Bundesrohölreserve 650 Millionen DM, Wiedererhebung der Vermögensteuer bei reformierter Bemessungsgrundlage - 9 Milliarden
DM, unverzügliche Verbesserung der personellen Ausstattung von Steuerfahndung und Betriebsprüfung durch
Übernahme wenigstens der heutigen Anwärterinnen und
Anwärter und dadurch Reduzierung der Steuerhinterziehung - 10 Milliarden DM, unverzügliche Beendigung
der Verschwendung von Steuermitteln, wie sie insbesondere durch den Bundesrechnungshof aufgedeckt
wurde - 1 Milliarde DM, Ausgabenreduzierung bei der
Neuanschaffung - nur bei der Neuanschaffung - von
Waffen und Rüstungsgütern - 2,7 Milliarden DM, keine
Finanzierung des Transrapids mehr - 600 Millionen
DM, Verzicht auf den ökologisch schädlichen Ausbau
von Schleusen und der Havel in Brandenburg - 300
Millionen DM, Einstellung der Förderung des Prestigeobjektes Personenraumfahrt - 290 Millionen DM, Streichung zusätzlicher Vergünstigungen für Besserverdienende im Rahmen des Umzugs von Parlament und Regierung und kostengünstige Abwicklung der BonnBerlin-Fahrten mit der Deutschen Bundesbahn - 10
Millionen DM. All das ergibt 30 Milliarden DM.
Dies sind Maßnahmen, die keine einzige Sozialkürzung und keine einzige Steueränderung beinhalten.
({14})
All das wäre möglich, wenn Sie tatsächlich ein reines
Sparprogramm vorlegen wollen. Man kann über einzelne Punkte streiten.
({15})
Ich sage nur, daß dies durchaus möglich wäre.
Im übrigen: Wenn Sie wirklich einsparen wollen,
dann ist doch ein ganz anderer Weg wichtig, nämlich die
Überwindung der Massenarbeitslosigkeit. Dann sparen
Sie Sozialkosten, dann erhalten Sie mehr Beiträge und
nehmen mehr Lohnsteuer ein. So kann man einen Haushalt sanieren.
({16})
- Ich komme gerade darauf. - Dazu müßten Sie Überstunden abbauen und die Arbeitszeit verkürzen. Dazu
müßten Sie den Mut haben, einen öffentlich geförderten
Beschäftigungssektor zu installieren, um nicht länger
Arbeitslosigkeit, sondern endlich Arbeit zu finanzieren.
({17})
Das haben Sie übrigens früher selber schon einmal gefordert.
Dazu müßten Sie bereit sein, die Beitragspflicht im
Rahmen der sozialen Sicherungssysteme gerechter zu
gestalten: Auch die Gutverdienenden, Freiberufler, Selbständigen, Beamten, Abgeordneten und Minister müßten
endlich in die Systeme einzahlen.
({18})
Dazu müßten Sie bereit sein, bei den Unternehmen die
heutige Form der Lohnnebenkosten zu streichen und an
deren Stelle eine Abgabe der Unternehmen an die Versicherungssysteme zu setzen, die sich nach der Wertschöpfung richtet. Dies ist höchst flexibel. Sie richtet
sich immer nach der Leistungsfähigkeit des Unternehmens und nicht länger nach der Zahl der Beschäftigten
und der Höhe der Bruttolöhne.
({19})
Dazu müßten Sie dazu übergehen, Spekulationsgewinne höher zu besteuern als Gewinne aus Produktion
und Dienstleistung. Nur dann lohnen sich Investitionen
in einer Gesellschaft wirklich. Dazu müßten Sie dazu
übergehen, den Steuerentzug durch Konzerne, Banken
und Versicherungen zu beenden und endlich kleine und
mittelständische Unternehmen direkt zu fördern.
({20})
Dazu müßten Sie dazu übergehen, Vermögende, Besser- und Bestverdienende durch eine gerechte Einkommen- und Vermögensteuer entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zur Finanzierung des Gemeinwohls heranzuziehen. Das gilt entsprechend für die Nutznießer der
Zinseinnahmen aus der hohen Staatsverschuldung.
Sie müßten auch auf Prestigeobjekte wie den Jäger
90, den Luxusausbau der Immobilien in Berlin und den
Transrapid verzichten, und Sie müßten eine Reform der
Kommunalfinanzierung angehen, damit die verfassungsrechtlich gebotene Selbstverwaltung der Kommunen wiederhergestellt wird
({21})
und die Kommunen endlich wieder ein eigener Wirtschaftsfaktor werden - zur Verbesserung regionaler
Wirtschaftskreisläufe, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze
und zur Sicherung vorhandener Arbeitsplätze.
Herr
Gysi, kommen Sie bitte zum Schluß.
Herr Präsident, ich komme
zum Schluß: So, wie das Sparpaket der Bundesregierung
jetzt angelegt ist, wird es Investitionen einschränken,
Arbeitsplätze abbauen und den Abstand zwischen Arm
und Reich und zwischen Ost und West vergrößern. Zu
Recht nannte der Bundeskanzler das Sparprogramm das
größte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es ist aber auch das unsozialdemokratischste in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und es wird
uns alle teuer zu stehen kommen.
({0})
Als
nächster Redner hat der Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung, Walter Riester, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Rexrodt hat das Pult hier mit dem
Spruch verlassen: Sparen ist immer gut. Ich teile diese
Aussage nicht undifferenziert. Der Spruch von Ihnen als
ehemaligem Wirtschaftsminister und Angehörigen einer
Partei, die mit dafür Verantwortung trägt, daß in 16 Jahren Regierungszeit
({0})
die Schulden um etwa 700 Milliarden DM aufgebaut
worden sind, hört sich schon einigermaßen zynisch an.
({1})
Sie haben uns eine Riesenlast hinterlassen. Nun kann
diese Riesenlast dazu führen, daß man zum Sparen gezwungen ist. Das ist bitter, aber das ist dann notwendig.
Sparen ist gut, wenn es Investition in Zukunft ist.
({2})
Nun komme ich zuerst einmal zur Rente. Was haben
wir vorgefunden, was hat sich entwickelt? Der Rentenversicherungsbeitrag, der im Jahr 1993, also
schon nach der Eingliederung von Ostdeutschland, bei
17,5 Prozent lag, ist bis zum Jahr 1997 auf 20,3 Prozent
gestiegen. Das bedeutete 41 Milliarden DM zusätzliche
Beiträge, die die Betriebe und die Beschäftigten bezahlen mußten. In dieser Situation haben Sie uns als Opposition gebeten, mit Ihnen gemeinsam die Mehrwertsteuer
zu erhöhen, und zwar auch zugunsten der Rentenversicherung. Dadurch konnten die Einnahmen auf 57 Milliarden DM erhöht werden, und das in einem Zeitraum
von vier Jahren.
In diesem Zeitraum gab es keine sehr üppigen Auszahlungen an die Rentner. Wenn wir diesen Zeitraum
betrachten, können wir feststellen, daß die Rentenerhöhung innerhalb von sieben Jahren sechsmal unterhalb
der Inflationsrate lag. Nur einmal, zufällig im Jahr 1994
- ich gestehe, es hat mit dem Wahljahr nichts zu tun -,
lag sie etwas über der Inflationsrate.
Während der ganzen Zeit, in der das Rentenversicherungssystem vor existentiellen Problemen stand, haben
Sie erklärt, die Rente sei sicher. Ich habe diesen Spruch
nie gesagt. Ich sehe die großen Probleme, vor denen wir
stehen. Ich sehe Probleme auf der Einnahmenseite der
Rente, ich sehe Probleme auf der Ausgabenseite der
Rente, und ich sehe Strukturprobleme. Einige dieser
Probleme waren unbestritten. Unbestritten war, daß es
unmöglich ist, ein System stabil zu halten, aus dem sich
sechs Millionen Menschen entfernen, weil sie in geringfügige Arbeitsverhältnisse oder in Scheinselbständigkeit
gedrängt werden, wo sie keine Sozialversicherungsbeiträge mehr bezahlen müssen.
({3})
Unbestritten war das; geändert haben Sie daran aber
nichts. Wir sind dieses Problem angegangen. Das war
kein populärer Schritt, sondern es war ein schwieriger
Schritt, aber wir sind ihn gegangen.
Unbestritten war auf der Ausgabenseite, daß das
Rentenversicherungssystem mit Aufgaben belastet worden ist, hinter deren Qualität ich stehe, deren Finanzierung aber nicht Aufgabe der Beitragszahler, sondern der
Allgemeinheit war.
({4})
Einig waren wir uns in dieser Frage, aber geändert hat
sich nichts.
Wir haben in den ersten zwei Monaten in einem sehr
schwierigen Schritt entschieden, daß die Beträge im Zuge der Anrechnung von Kindererziehungszeiten und
die Auffüllbeträge für die Ostrenten - beides ist wichtig
- ab sofort steuerfinanziert werden.
({5})
Ich habe mich gefreut, als Hans Eichel mit der Botschaft kam, bei der normalerweise jeder Minister erschrickt: Wir gehen ran und konsolidieren den Haushalt.
Ich habe mir gesagt: Das kann wirklich der Schub werden, wenn die Entscheidungen so angelegt werden, daß
sie in die Zukunft gerichtete Entscheidungen sind.
Nun komme ich zu den Entscheidungen, die schwierig umzusetzen sind.
Unser Ziel - ich habe das schon sehr früh im Plenum
gesagt - ist: Die Rente muß zukunftssicher werden. Was
heißt das? Der Spruch geht schnell über die Lippen. Alle
Überlegungen zur Rentenversicherung und Systemverbesserung, auch die meiner eigenen Partei, haben im
wesentlichen immer im Jahre 2015 geendet. Aber genau
da beginnt erst die eigentliche dramatische Entwicklung
der demographischen Belastung.
Deswegen heißt Zukunftssicherung für mich: Wir
müssen ein Angebot machen, das bis zum Jahre 2030
reicht, also den Gipfelpunkt der Belastungen einbezieht.
Sonst halten wir diese Sache nicht aus.
({6})
Was bedeutet das? Das bedeutet, daß wir auf der Leistungsseite durchgehend ein vertretbares und akzeptables Niveau halten müssen. Ihr Ansatz war, einen Abschlagfaktor pro Jahr bei der Rentenerhöhung einzusetzen, bis das Leistungsniveau bei 64 Prozent liegt.
Schriebe man die gegenwärtige Entwicklung der Lebenserwartung fort, wäre dieser Punkt schon etwa im
Jahre 2012 erreicht gewesen. Ab diesem Zeitpunkt hätte
das Gesetz formal die 64-Prozent-Niveaugrenze gehalten.
Dann gibt es nur noch zwei Stellgrößen. Entweder
man öffnet und geht weiter herunter oder man läßt den
Beitrag nach oben floaten. Eine andere Stellgröße gibt es
nicht.
Sie haben den Vorschlag eingebracht, die Berufsund Erwerbsunfähigen aus der konkreten Betrachtung
der Arbeitssituation auszublenden und ihnen Renten zuzumuten, von denen ich sage: Diese werde ich ihnen
nicht zumuten.
({7})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
haben einen weiteren Punkt in Ihrem Gesetz verankert,
von dem ich sage, er ist bitter, aber ich trage ihn mit.
({8})
Sie haben vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter auf
65 Jahre anzuheben. Dieser Vorschlag ist für die MenBundesminister Walter Riester
schen und die Arbeitsmarktpolitik bitter. Gleichwohl
muß man verantwortungsvoll sagen, das System hätte
anderes nicht ausgehalten.
Die anderen beiden Punkte - das habe ich hier im
Haus immer gesagt ({9})
werden korrigiert, und zwar nicht deshalb, weil ich die
Probleme bestreite, sondern weil ich die Lösungen für
unangemessen halte.
({10})
Was bieten wir als Lösung an? Wir sagen, wir speisen
in das System die Mittel, die wir durch die Ökosteuer
einnehmen, zur Senkung der Beiträge und - das, was ich
jetzt sage, ist noch viel wichtiger - zur Stabilisierung
der Beiträge ein.
({11})
Was machen wir als zweites? Wir sagen, wir müssen
ein Stück von der aufgebauten Lebenslüge Abschied
nehmen, daß das Rentenversicherungssystem in einer
veränderten Arbeitswelt die Lebensstandardsicherung
allein gewährleisten kann.
({12})
Herr
Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kues von der CDU/CSU-Fraktion?
Nein, ich möchte meinen Gedanken zu Ende ausführen, Herr Kues. Ich komme dann gern darauf
zurück.
({0})
Wir wollen das Sicherungssystem auf etwa 67 Prozent ausrichten und gleichzeitig die breiten Bevölkerungsschichten in die Lage versetzen - das ist etwas anderes, das darf nicht miteinander verbunden werden -,
zusätzliche Eigenvorsorge für die Alterssicherung
aufzubauen.
({1})
Unser Ziel ist, mit der Rentenniveauabsicherung plus
Eigenvorsorge einen Altersvorsorgegrad von 75 Prozent
bis, je nach Rentierlichkeit, bis zu 80 Prozent abzusichern.
({2})
- Ich gehe gerne auf Ihren Zwischenruf ein.
({3})
- Mir ist das Thema zu ernst, als es jetzt durch irgendwelche Polemiken niedermachen zu lassen, Herr Kues.
({4})
Was bedeutet das für die Rentner?
({5})
- Jetzt spreche ich. ({6})
Auch die Rentner werden, und zwar nicht auf Grund von
Sparzwängen des Haushaltes, sondern um die Zukunft
ihres Systems zu sichern, einen Beitrag leisten.
({7})
- Den weisen wir aus.
({8})
Wir sagen, daß die Renten zwei Jahre lang im Rahmen
der Preissteigerungsrate des jeweiligen Vorjahres angehoben werden. Das ist der klar ausgewiesene Beitrag der
Rentner.
({9})
Ich bin davon überzeugt, daß dieser Beitrag zumutbar ist
und man ihn darstellen kann.
({10})
Dazu muß man sich hinstellen und dieses ehrlich sagen.
({11})
- Herr Gysi, ich gehe gerne auch auf diese Frage ein. Ich
möchte Ihnen aber zuerst einmal sagen, daß wir durch
die von uns vorgesehene Grundsicherung vor allem eine Sicherungslinie für die Menschen im Osten einziehen.
({12})
Diejenigen, die früher eine sehr kontinuierliche Erwerbsbiographie hatten, haben jetzt als Rentner relativ gute Renten. Die Menschen im Osten aber, die jetzt
im Produktionsprozeß stehen oder arbeitslos sind, die
ein niedriges Einkommensniveau oder stark unterbrochene Erwerbsbiographien haben, würden die LeidBundesminister Walter Riester
tragenden in einem System sein, das keine Grundsicherung hat.
({13})
Sie werden jetzt dank der Einführung einer Grundsicherung besonders begünstigt werden - das will ich gar
nicht hochrechnen, das ergibt sich aus dem System -, da
sie mit 65 Jahren nicht mehr durch den Rost fallen und
zum Sozialamt müssen.
({14})
Herr
Bundesminister, erlauben Sie jetzt eine Zwischenfrage
des Kollegen Kues?
Ja.
Bitte
schön, Herr Kues.
({0})
Ich könnte das in
aller Ruhe erzählen. ({0})
Ich möchte aber jetzt nach einer Zahl fragen: Können
Sie bestätigen, daß dem durchschnittlichen Rentner, dem
Eckrentner, auf Grund Ihres Konzepts monatlich 100
DM abgeknöpft werden?
Zweitens möchte ich fragen: Können Sie ebenso bestätigen, daß ein Arbeitsloser dadurch, daß Sie die Zahlungen an die Rentenversicherung für ihn absenken,
({1})
im Endeffekt eine geringere Rentenerwartung im Alter
haben wird? Damit wäre das, was Sie eben gesagt haben, irreführend.
({2})
Zum ersten Punkt darf ich Ihnen sagen:
Hier geht es nicht um den Eckrentner; das ist derjenige,
der 45 Jahre lang mit Durchschnittsverdienst in die
Rentenversicherung eingezahlt hat. Wir nehmen eine
Anhebung der Rente, die je nach früherem Verdienst
verschieden ausfällt, in Höhe der Preissteigerungsrate
vor. Wir unterstellen im Moment für die Rentenanpassung im nächsten Jahr
({0})
- mein Gott, vielleicht interessiert es wenigstens den
Herrn Kues -, daß die Löhne und Gehälter dieses Jahr
um etwa 3,5 Prozent steigen. Gleichzeitig unterstellen
wir für dieses Jahr eine Inflationsrate von 0,7 Prozent.
Die Differenz zwischen diesen beiden Werten kann man
ausrechnen; mit dem Ergebnis kann man vor die Menschen treten und es ihnen sagen.
({1})
- Das kommt auf den Verdienst an. Wenn jemand eine
Rente von 2 500 DM bekommt, können Sie ausrechnen,
um welchen Betrag sich die Rente bei einer Anhebung
um 3,5 Prozent bzw. 0,7 Prozent erhöht. Um diese Differenz geht es.
({2})
- Ich bin noch bei der Beantwortung Ihrer Frage und
möchte keinen Dialog führen.
Nun zum zweiten Teil Ihrer Frage: Arbeitslosenhilfeempfänger. Die Zahlbeträge der Arbeitslosenhilfe
werden unverändert weitergezahlt. Daran ändert sich
nichts. Was wir ändern werden, ist, daß die Sozialversicherungsbeiträge bei der Rentenversicherung auf den
Zahlbetrag ausgerichtet werden. Die Bemessungsgrundlage war bisher 80 Prozent. Das wird dazu führen,
daß ein Arbeitslosenhilfeempfänger, der 2 500 DM verdient hat und ein Jahr Arbeitslosenhilfe empfängt, später
eine Rentenminderung von etwa - ich kann es Ihnen
jetzt nicht auf die Mark genau sagen - 10 DM im Monat
hat; das kommt auf die Lebensssituation an.
({3})
- Nein, pro Monat auf ein Jahr Arbeitslosenhilfebezug.
Auch diese Frage steht im Zusammenhang mit der
von uns geplanten Verzahnung von Sozialhilfe und
Arbeitslosenhilfe. Ich sage Verzahnung, weil wir - entgegen der Diskussion auch von Ihrer Seite, an die ich
mich noch sehr genau erinnere - die Arbeitslosenhilfe
nicht zur Sozialhilfe machen wollen. Wir wollen die Systeme so ausrichten, daß der in der Wirklichkeit immer
wieder vorkommende Verschiebebahnhof der Stadtkämmerer zu Lasten der Bundesanstalt für Arbeit und
der Bundesanstalt für Arbeit zu Lasten der Kommunen
und der Sozialhilfeempfänger unmöglich wird. Wir
müssen entsprechende Lösungen finden. Das betrifft
auch die Ausgestaltung.
({4})
Herr
Bundesminister, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kues?
Ja, bitte.
Bitte
schön.
Herr Minister Riester, Sie haben gesagt, daß Sie keinen Verschiebebahnhof wollen. Sie haben in dem gestern vorgelegten Konzept für Ihren Haushalt, wo es um die Annäherung der
Bemessungsgrundlage - Sie haben das angesprochen für Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung für Arbeitslosenhilfebezieher von 80 Prozent des
vor der Arbeitslosigkeit bezogenen Bruttoentgeltes an
den Zahlbetrag der Arbeitslosenhilfe geht, eine Summe
von 4,5 Milliarden DM ausgewiesen. Sie sagen, das sind
Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung.
Eben hat die Bundesgesundheitsministerin vor der Bundespressekonferenz erklärt - da wurde sie gefragt, wo
die 2,8 Milliarden DM, die Sie ausweislich des Plans absenken, herkommen -, es stimme nicht, daß die Beiträge
zur Krankenversicherung um 2,8 Milliarden DM abgesenkt würden. Können Sie mir das erklären?
Ja, das kann ich Ihnen erklären. Die Differenz zwischen Zahlbetrag und 80 Prozent bei den gesamten Leistungen, die aus der Arbeitslosenhilfe an die
Kassen gehen, belaufen sich auf 7,2 Milliarden DM.
Von den 7,2 Milliarden DM gehen 4,1 Milliarden DM
an die Rentenversicherung, 400 Millionen DM an die
Pflegeversicherung und 2,7 Milliarden DM an die Krankenversicherung. Bei der Krankenversicherung werden
wir die Absenkung nicht machen, um die Gesundheitsreform und die Einnahmen der Kassen nicht zu gefährden.
- Das ist die Antwort darauf.
({0})
- Nein, die fehlen nicht. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Die 2,8 Milliarden DM sind bei mir hinterlegt. Die werden in meinem Bereich eingespart.
({1})
Herr
Bundesminister, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert von der PDS-Fraktion?
In diesem Fall ja.
Bitte
schön, Herr Seifert.
Vielen Dank, Herr Minister,
daß Sie mir die Zwischenfrage gestatten. - Sie sprachen
vorhin von der Erwerbsminderungsrente. Wenn ich
Sie richtig verstanden habe, kritisierten Sie die abstrakte
Betrachtungsweise, was innerhalb der Behindertenbewegung auf viel Gegenliebe stößt. Aber Sie haben leider
nicht gesagt, wie Sie das Problem lösen wollen. Ist die
Erwerbsminderungsrente ganz vom Tisch, was die Forderung aller Behindertenorganisationen ist? Oder wie
wollen Sie die umgestalten? Denn leider ist sie nur ausgesetzt und noch nicht abgeschafft.
In den Eckpunkten, die wir bisher entwikkelt haben, wollen wir, solange die Arbeitsmarktsituation so schwierig ist wie im Moment, die Erwerbsminderungsrente in der konkreten Betrachtung des Arbeitsmarktes halten. Darüber hinaus wollen wir bei der Erwerbsminderungsrente die Zurechnungszeiten bis zum
60. Lebensjahr anheben. Das sind die wichtigen Punkte,
auf die wir uns im Moment verständigt haben. Das greift
der konkreten Reform natürlich vor. Insofern kann ich
nur sagen: Das sind die im Moment vorliegenden Eckpunkte.
({0})
Meine Damen und Herren, wir werden über dieses
Thema im Bundestag sicherlich noch sehr breit diskutieren. Wir haben jetzt erste Eckpunkte vorgelegt. Ich sage
es erneut: Für mich war das kein Sparbeitrag für den
Haushalt, sondern für mich ist es ein Teil der Wirkungen
einer Reform, die auf Zukunft gerichtet ist.
({1})
Ich wiederhole heute mein Angebot, das ich gestern
gemacht habe: Ich bin der Auffassung, daß bei der Rentenreform, diesem großen Bereich sozialer Sicherung,
eine Zusammenarbeit auf breiter Ebene notwendig
ist. Das verdienen die Menschen.
({2})
Deswegen biete ich auch der Opposition an, an diesem
Projekt mitzuarbeiten, weil ich überzeugt bin, daß es ein
Projekt ist, das so wichtig und langfristig angelegt ist,
daß die Menschen ein Anrecht darauf haben, daß es breit
unterstützt wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin SchnieberJastram von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Riester, ich will jetzt gar nicht über die ganzen sozialpolitischen Schweinereien reden, die Sie hier veranstalten,
({0})
sondern ich möchte eine Frage stellen, die bei Ihnen offensichtlich keine Rolle spielt: Wo ist der beschäftigungswirksame Effekt Ihrer Vorhaben?
Zum zweiten möchte ich darauf hinweisen, daß Sie
aus der Rentenformel, die eine berechenbare Formel war
und den Menschen Stabilität und Zuverlässigkeit gegeben hat, eine Willkürformel gemacht haben, Herr Riester,
({1})
und zwar zu Lasten der Rentner. Im Sturzflug senken
Sie ab, was wir im Gleitflug verträglich gemacht hätten,
so daß sich die Menschen darauf hätten einrichten können.
({2})
Ich sage es hier noch einmal deutlich, damit es klar
wird: Wir haben niemals willkürlich Rentenhöhen bestimmt, sondern sie sind immer - Herr Riester, ich sage
das für den Fall, daß Sie es nicht wissen - nach der
Lohnentwicklung bemessen worden. Es hat bei den
Renten immer einen Lohnbezug gegeben. Statt einer
Anpassung von 63 DM im Jahr 2000 und von 73 DM im
Jahr 2001 nach der Rentenreform der alten Bundesregierung bekommt der Eckrentner bei Ihnen nur noch 14 DM
Rentenanpassung im Jahre 2000 und 33 DM im Jahre
2001. Auch wenn Sie hier bestreiten, daß es den Eckrentner überhaupt gibt, so muß man sich doch an irgendeinem Rentner orientieren. Der sogenannte Eckrentner das sind der Mann und die Frau, die 45 Jahre lang gearbeitet und Rentenbeiträge eingezahlt haben ({3})
bekommen von Ihnen unter dem Strich 100 DM weniger
im Monat. Im Laufe eines Rentnerlebens summiert sich
das; es bedeutet für die Menschen ein Minus von 20 000
DM. Das ist Ihr Betrug.
({4})
Noch ein Wort zu der von Ihnen so gepriesenen und
angeblich sozial gerecht erscheinenden Mindestrente.
({5})
Ich frage Sie, Herr Minister: Empfinden Sie es wirklich
als gerecht, daß derjenige, der als Aussteiger sein Leben
auf Bali verbringt, das gleiche wie die Mutter mit fünf
Kindern erhält, die auf Grund ihrer Biographie ebenfalls
zu einer niedrigen Rente kommt?
({6})
Ich frage Sie, ob Sie das für sozial gerecht halten, ganz
abgesehen davon, daß völlig ungeklärt ist, wie Sie die
wichtige Frage des Exports beantworten wollen. Jeder,
der hier einmal einige Jahre gearbeitet hat, kann am Ende Rente außerhalb des Landes beziehen.
Der Verschiebebahnhof. Es mutet schon zynisch
an -
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja. - Es
mutet zynisch an, wenn Sie Gelder in einer von Ihnen
sehr fein gesponnenen Art und Weise verschieben.
({0})
Aber Ihre Rechnung stimmt hinten und vorne nicht.
Frau
Deswegen
sage ich Ihnen: Ist es noch so fein gesponnen, so kommt
es doch ans Licht der Sonnen.
({0})
Herr
Bundesminister, möchten Sie erwidern?
({0})
Ich möchte nur folgende Bemerkung machen. Es gibt Formen, mit denen Fragen eingeleitet werden, auf die ich nicht antworte.
({0})
Wenn Sie ein solch wichtiges Thema, über das Sie gerade geredet haben, mit „Schweinereien“ einleiten, werden
Sie mit mir nicht in einen Dialog kommen.
({1})
Als
nächstem Redner gebe ich das Wort dem Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen, Bernhard Vogel.
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0}):
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Eichel, Sie
und das Bundeskabinett haben uns die Vorbereitung auf
die heutige Sitzung nicht leichtgemacht. In den letzten
Tagen kam mit der Meldung über das, was Sie heute
vortragen würden, meistens die Korrektur dieser Meldung.
({1})
Ich bin mir nicht sicher, ob der heutige Agenturstand
noch dem entspricht, was Sie planen. Ich gehe aber einmal davon aus.
Ich möchte mich gleichwohl sofort am ersten Tag zu
Wort melden, und zwar ausdrücklich als Ministerpräsident eines jungen Landes. Es war zu Beginn dieser Legislatur versprochen worden, der Aufschwung Ost werde Vorrang behalten und werde zur Chefsache gemacht.
Das war für mich eher eine Drohung als eine Hoffnung.
Aber so ist es gesagt worden.
({2})
Ich stelle fest, daß bei den Gesetzen, die in den letzten Monaten verabschiedet worden sind, diese Zusage
nicht gehalten worden ist:
({3})
Durch das 630-DM-Gesetz beispielsweise ist der Wegfall von Arbeitsplätzen in den neuen Ländern überdurchschnittlich hoch und die Zunahme der Schwarzarbeit
überdurchschnittlich groß.
({4})
Bei der Ökosteuer sind wir eher an die Sektsteuer Wilhelm II. erinnert worden als an eine Maßnahme zur Bekämpfung der Umweltbelastung. Beim Gesetz zur
Scheinselbständigkeit sind ausgerechnet Existenzen
junger Selbständiger bedroht worden, die wir im Osten
noch dringender brauchen als im Westen.
({5})
Das zu einigen Gesetzen der letzten Monate.
Für das heute vorgelegte Programm haben Sie angekündigt, Herr Kollege Eichel - ich zitiere Sie mit Erlaubnis des Präsidenten -, „daß der Aufbau Ost auf hohem Niveau ganz ungebremst weitergehe“. Ich kann allerdings bei dem, was Sie bisher vorgelegt haben, nicht
erkennen, daß Sie diese Ankündigung einhalten werden.
Ich möchte dazu ein paar Beispiele nennen:
Die Mineralölsteuer wird nach 6 Pfennigen in diesem
Jahr um viermal 6 Pfennige in den nächsten Jahren erhöht, also um insgesamt 30 Pfennige. Das trifft vor allem Pendler. Weil wir im Osten natürlich mehr Pendler
haben als im Westen, trifft es uns härter als den Westen.
({6})
Außerdem trifft sie vor allem die Auto- und Autozulieferindustrie. Und weil wir uns erfolgreich bemühen, wieder ein Land der Autoproduktion und der Autozulieferindustrie zu werden, trifft es uns als ein Land des
Ostens besonders hart; denn wer mehr zahlen muß, der
fährt weniger Auto und kauft seltener Autos. Wir sägen
an einem Ast, auf dem wir sitzen, und gefährden gerade
die Branche, die uns in den letzten Jahren in besonderem
Maße Arbeitsplätze gesichert hat.
Es trifft die Rentner, die zwar für die Ökosteuer zur
Kasse gebeten werden, aber nicht von den subventionierten Lohnnebenkosten profitieren.
Das Tarifgefälle zwischen West und Ost, Herr Kollege Riester, trifft alle Arbeitnehmer in den neuen Ländern. Diese Asymetrie läuft letztlich und zum erstenmal
auf einen Finanztransfer von Ost nach West hinaus. Wir
werden im Osten an der Ökosteuer voll beteiligt. Aber
an der Subventionierung der Lohnnebenkosten durch die
Ökosteuer wird der Westen wesentlich höher beteiligt
als der Osten. Das ist ein erstes Beispiel für einen Finanztransfer von Ost nach West.
({7})
Die Verdoppelung der Stromsteuer auf 4 Pfennig
kommt noch hinzu, obwohl es bis zur Stunde bereits eine bedauerliche wirtschaftsfeindliche Strompreisdisparität zwischen Ost und West gibt.
Eine Anmerkung, Herr Kollege Riester, zur Rentenreform. Innerhalb von zwei Jahren soll nun das übers
Knie gebrochen werden, was die alte Bundesregierung
innerhalb von zirka 20 Jahren entwickeln wollte,
({8})
nämlich die Dämpfung des Anstiegs der gesetzlichen
Rente. Ihre Ankündigung hat nicht nur bei mir, sondern
auch bei großen Teilen der Bevölkerung im Osten - man
muß nur die Agenturmeldungen lesen - einen Sturm der
Entrüstung ausgelöst. Der DGB-Vorsitzende von Thüringen spricht von einem Bruch eines Wahlversprechens. Der SPD-Landesvorsitzende von Thüringen, Herr
Dewes, verlangt, daß die Rentner in den neuen Ländern
verschont werden. Ihn möchte ich wörtlich zitieren:
Das darf nicht dazu führen, daß die Kluft zwischen
Ost und West noch größer wird.
Recht hat Herr Dewes.
({9})
Ich mache mir zwar die Wortwahl der Erklärungen von
DGB und vielen anderen Organisationen im einzelnen
ausdrücklich nicht zu eigen. Aber ich mache mir den
Standpunkt zu eigen, daß durch die Maßnahmen der
Bundesregierung die Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt
wird.
({10})
Mein Kollege Stolpe aus Brandenburg befürchtet
massive Benachteiligungen ostdeutscher Rentner. Mein
saarländischer Kollege Klimmt meint, der geplante Inflationsausgleich bei den Renten entspreche nicht dem,
was die SPD der Bevölkerung vor der Wahl versprochen
habe. Ich kann Herrn Stolpe und Herrn Klimmt beim besten Willen nicht widersprechen.
({11})
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({12})
Am 3. September 1998 haben Sie, Herr Bundeskanzler - damals waren Sie noch niedersächsischer Ministerpräsident -, von diesem Pult aus an die Adresse Ihres
Amtsvorgängers wörtlich gesagt:
An die Rente zu gehen ist nicht nur sozial ungerecht, nein, es ist unanständig.
In Ihrer Regierungserklärung, die Sie zwei Monate später, im November letzten Jahres, abgegeben haben, haben Sie gesagt:
Wir geben eine dreifache Garantie ab. Wir werden
den heute in Rente lebenden Menschen ihre Renten
sichern und ihnen ihre ohnehin schon geringen
Einkünfte nicht kürzen.
({13})
Ein paar Monate später haben Sie an einem Ort, an dem
man zugegebenermaßen die Worte nicht so auf die
Goldwaage legen muß wie hier, nämlich in Vilshofen,
({14})
wörtlich gesagt:
Ich stehe dafür, daß auch in Zukunft die Rente so
stark steigt wie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
({15})
also wie das, was sie in der Lohntüte haben. Das ist
ein Prinzip, das wir nicht antasten werden.
({16})
Diese Aussage stammt vom Februar dieses Jahres. Es
wäre gut, wenn sie im Juni dieses Jahres noch eine gewisse Gültigkeit hätte. Ansonsten setzen wir Glaubwürdigkeit aufs Spiel.
({17})
Eine Rentenreform nach Kassenlage ist für die Menschen in den neuen Ländern besonders schmerzlich. Ich
kann hier Ihrer Logik, Herr Riester, nicht folgen, wenn
Sie erklären, daß Sie Vorsorge treffen, damit es denen,
denen es schlechtergeht, durch die Reform nicht noch
schlechter gehen soll. Aber dann geht es diesen Menschen noch lange nicht so gut, wie wir es vereinbart haben.
({18})
Wir haben 1994 in der Vereinbarung der großen Koalition in Thüringen eine sehr vernünftige, weitsichtige
Regelung aufgenommen. Ich darf zitieren, was SPD und
CDU damals gesagt haben:
Wir sind einig, Bestrebungen, die auf eine Abschaffung der lohn- und beitragsbezogenen Rente hinauslaufen, abzulehnen.
Meine Damen und Herren, dieser Satz ist 1994 auf Bestreben meines Koalitionspartners in die Vereinbarung
hineingekommen, aber ich habe ihn mit unterschrieben,
und wir halten ihn beide für richtig. Wir bleiben bei dieser Ablehnung; denn die Ostrenten in Höhe von derzeit
86,7 Prozent des Westniveaus sind - wenn dazu noch
Betriebsrenten fehlen und Vermögenseinkünfte fast
nicht vorhanden sind - keine Perspektive für die Rentner
in den neuen Ländern.
({19})
Wir bleiben bei dieser Ablehnung; denn sonst würde
sich die Einkommensschere zwischen West und Ost
wieder öffnen, obwohl der Einigungsvertrag uns doch
alle verpflichtet, diese Schere zu schließen.
Die angekündigten Maßnahmen treffen die Länder
und Kommunen besonders hart. Für die Kommunen
spricht der Deutsche Landkreistag von einem Lastenverschiebungsprogramm. Immer wieder sind wir in den
jungen Ländern besonders betroffen. Wir vertragen die
Kürzungen bei den Strukturanpassungsmaßnahmen Ost
nicht; wir vertragen sie nicht beim Zuschuß für die
Treuhandnachfolgerin BvS und auch nicht bei den Pflegeeinrichtungen Ost. Zudem müssen wir das immer vor
dem Hintergrund der Aussagen „Aufbau Ost hat Vorrang!“ sehen.
Herr Eichel, Sie kürzen auch im Verkehrsetat. Sie
verstärken damit - Sie haben vorhin dazu noch eine illustrierende Bemerkung besonderer Art gemacht - unsere
Sorge um die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
und um die uns betreffenden Maßnahmen im Bundesverkehrswegeplan. Die Koalition hat - das ist, auch
wenn wir es nicht für notwendig halten, ihr gutes Recht
- eine Überprüfung der Verkehrsprojekte beschlossen.
Im April hat sie uns eine endgültige Klärung bis zum
Mai dieses Jahres zugesagt. Wenn ich nicht irre, ist
heute der 24. Juni.
Täglich verunsichern uns sich widersprechende
Äußerungen aus dem Kreis der Bundesregierung zu diesem Thema. Herr Verheugen, Spezialist für Verkehrsfragen, läßt uns in Kulmbach wissen, die ICE-Strecke
München-Erfurt-Berlin werde nicht gebaut. Wenige
Tage später teilt uns der Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium - ebenfalls in Kulmbach - mit, alle
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ würden mit Nachdruck fortgeführt. Meine Damen und Herren, es würde
der Glaubwürdigkeit nützen, wenn parlamentarische und
andere Staatssekretäre entweder nichts oder das gleiche
sagen, aber nicht jeden Tag etwas Widersprüchliches.
({20})
Von den Verkehrswegen hängt mehr als von fast allem anderen ab, nämlich langfristig die Zukunft der neuen Länder. Das trifft für alle Länder zu, aber besonders
für Thüringen mit der A 71 und der A 73 und für
Mecklenburg-Vorpommern mit der A 20. Am meisten
betroffen sind wir in Thüringen durch den Baustopp
beim Weiterbau der ICE-Strecke von Nürnberg über Erfurt nach Leipzig. Denn dabei geht es nicht um eine
kurzfristige Frage und auch nicht um die Frage, ob es
2007 oder 2008 wird, sondern darum, ob dieser Freistaat
an die überregionalen Verkehrsverbindungen Europas
angebunden wird oder ob er abgehängt bleibt.
({21})
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({22})
Verehrter Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern, so
wird berichtet, vom größten Reformvorhaben in der Geschichte der Bundesrepublik gesprochen.
({23})
Mut kann man Ihnen nicht absprechen. Ich habe gelernt,
man sollte solche Urteile immer erst hinterher abgeben.
Es ist gefährlich, solche Urteile bereits zu fällen, bevor
die Sache überhaupt in den Gesetzgebungsprozeß gegangen ist. Es ist sehr mutig, in diesem Zusammenhang
vom größten Reformvorhaben in der Geschichte der
Bundesrepublik zu sprechen. Ich erinnere mich nicht,
daß Ludwig Erhard die Einführung der sozialen Marktwirtschaft als größtes Reformvorhaben angekündigt hat
- hinterher hat sich allerdings herausgestellt, daß es das
war, und das ist gut.
({24})
Sie dürfen mir - bei grundsätzlich wohlwollender Einstellung von Ministerpräsidenten gegenüber Bundesregierungen - nicht verübeln, daß ich bisher nicht den
Eindruck eines „größten Reformvorhabens“, sondern
des größten Durcheinanders in der Haushalts- und Steuerpolitik in der Bundesrepublik habe.
({25})
Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich bin lernfähig. Aber
für den heutigen Tag stelle ich fest: Die Schere zwischen
Ost und West geht seit dem Amtsantritt dieser Bundesregierung wieder auseinander. Die Arbeitslosigkeit im
Osten ist nach wie vor unerträglich hoch, und die Kürzungsvorschläge von heute treffen vor allem die Rentner
und die Arbeitslosen. Weil wir im Osten mehr Arbeitslose haben als im Westen, sind wir durch dieses Programm stärker betroffen als der Westen. Das muß in der
Diskussion gesagt werden.
({26})
- Das kommt ja gerade. Sie sind zu schnell. Das ist nie
gut. Man darf nicht zu spät sein, aber bitte auch nicht zu
schnell.
({27})
„Sparen ist die richtige Mitte zwischen Geiz und Verschwendung.“ Das ist ein sehr gutes Wort von Theodor
Heuss. Ich möchte im Sinne dieses Wortes ausdrücklich
sagen: Auch wir, auch wir Länder, auch wir Länder im
Osten Deutschlands, wollen sparen. Wir werden im
Bundesrat die Vorlagen, die angekündigt worden sind,
nicht blockieren. Wir werden nicht der Devise Lafontaines folgen und den Bundesrat als Blockadeinstrument
mißbrauchen. Mit Lafontaine ist auch die Zeit der Bundesratsblockade passé.
({28})
Wir versagen uns nicht Reformen, denn Reformen
sind notwendig. Wenn Sie in Deutschland Leute mit Reformerfahrung brauchen, dann wenden Sie sich bitte an
uns in den neuen Ländern. Wir haben da einiges einzubringen.
({29})
Wir sind verständigungsbereit. Aber Verständigungsbereitschaft setzt voraus, daß man uns und unseren Argumenten zuhört und daß man auf diese Argumente eingeht. Veränderungsbereitschaft - ja, aber nicht so, wie in
einigen Punkten heute vorgestellt.
({30})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Christine Scheel vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann gut verstehen, daß sich in der Opposition ein gewisser Frust breitmacht. Auch uns ging es zwischendurch mal so; denn wir waren uns nicht ganz sicher, ob
das Ziel, das angestrebt wurde, in dieser Klarheit erreicht wird. Ich bin sehr froh, daß sich das Prinzip der
Nachhaltigkeit, das wir Grünen in der Umweltpolitik
immer geltend gemacht haben, mittlerweile auch in der
Steuer- und Finanzpolitik dieser Regierung niedergeschlagen hat.
({0})
Ich bin auch sehr froh, daß wir dem, was die Bevölkerung von uns erwartet, nämlich den Weg in die weitere Verschuldung zu stoppen, gerecht werden. Draußen
versteht kein Mensch mehr, daß jede vierte Mark, die
die Bürger und Bürgerinnen an Steuern bezahlen, letztendlich im zweitgrößten Einzeletat des Bundes verschwindet, nämlich für die Zinsen ausgegeben wird. Jeder sagt, ihr seid doch wahnsinnig geworden, das kann
doch nicht sein. Es kann doch keine solide Finanzpolitik
sein, wenn eine solch hohe Zinslast auf diesem Staat
ruht und die Politik unfähig ist, zu handeln. - Auch dies
haben wir in Angriff genommen. Ich finde, das ist ein
ganz wichtiges Signal, das man nicht unterschätzen
sollte, auch was die Frage des Vertrauens in diesen Staat
und generell in Investitionen betrifft, die für die Zukunft
dann wieder möglich werden.
({1})
Das zweite Prinzip ist das Prinzip der Ehrlichkeit.
Es wurde ja in den letzten Jahren immer so getan, als ob
es unheimlich viele Möglichkeiten gäbe, all das, was
sich irgendwer in diesem Land wünscht, zu bezahlen.
Ich habe hier bereits vor einigen Jahren gestanden und
gesagt: Große Sprünge mit leerem Beutel funktionieren
nur so lange, wie es gelingt, im Haushalt Luftbuchungen
zu machen. Die aber haben es an sich, daß sie irgendwann einmal wie Seifenblasen platzen. Wir legen jetzt
aber einen soliden, sauberen Haushalt vor ({2})
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({3})
ohne Schattenhaushalte und ohne daß irgendwelche
Dinge hin- und hergeschoben worden sind.
({4})
Das dritte wichtige Prinzip ist, daß man die Interessen der künftigen Generationen im Auge haben muß.
Herr Riester hat mit seinem Vorschlag zur Rentenreform
einen ganz großen Beitrag zur Vorsorge geleistet. Es
geht darum, Altersversorgungssysteme zu schaffen, die
zukunftsfest sind, bei denen man nicht - wie Sie es seinerzeit im Wahlkampf gemacht haben - schnell die
Mehrwertsteuer erhöht, um den Versicherungsbeitrag
stabil zu halten. Es geht um ein Reformwerk, das sowohl
für die alten als auch für die jungen Menschen nachvollziehbar und attraktiv ist und das über steuerliche Anreize die Möglichkeit eröffnet, Eigenvorsorge attraktiver zu
machen, damit wir letztendlich dem Prinzip der nachgelagerten Besteuerung in diesem Zusammenhang näherkommen, das andere Länder schon längst erreicht
haben.
({5})
Das ist zukunftsfähig, meine Damen und Herren von der
Opposition, und nicht Ihr Herumgemäkel in diesem Zusammenhang.
({6})
Zur Steuerpolitik, zur Unternehmensteuerreform:
Es wird von Ihrer Seite schon wieder versucht, ein Chaos oder irgend etwas in dieser Art zu beschreiben, was
überhaupt nicht existiert.
({7})
Wir haben klare Vorgaben. Wir haben einen Steuersatz
von 25 Prozent bei der Körperschaftsteuer.
({8})
Das ist ein Riesenerfolg für Investoren, und zwar national wie international, die sich überlegen, auch wieder in
Deutschland zu investieren. Das ist ein sehr großer Erfolg!
({9})
Wir haben immer gesagt: Die Höhe der Steuersätze hat
eine enorme psychologische Wirkung, und dieser Effekt
wird in diesem Zusammenhang erreicht.
Natürlich wissen auch wir, daß nur 10 Prozent der
Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland körperschaftsteuerpflichtig sind. 90 Prozent sind Personengesellschaften. Ich garantiere Ihnen, daß dafür gesorgt
werden wird, daß auch Personengesellschaften entlastet
werden. Das ist doch überhaupt keine Frage.
({10})
Es war immer unser Ziel, kleine und mittelständische
Unternehmen in diesem Land zu entlasten.
({11})
Das haben wir mit dem Steuerreformkonzept 1999/
2000/2002 in der Größenordnung von über 5 Milliarden
DM gemacht, und wir werden im Unternehmensbereich
eine Entlastung von noch einmal 8 Milliarden DM vornehmen. Wenn das nicht zukunftsfähig sein soll, dann
weiß ich nicht, was Sie unter Zukunftsfähigkeit verstehen.
({12})
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
({0})
Ich komme zum Schluß.
Ich meine, daß der Grundsatz der Kontinuität für die
Ökosteuer genauso gilt wie für das, was wir im Bereich
der Familien im letzten Jahr gemacht haben, womit wir
die Familien übrigens mehr entlastet haben, als die alte
Regierung es in ihrer Zeit jemals zustande gebracht hat.
({0})
- Im Gegenteil, Sie haben die Familien belastet, und wir
haben jetzt innerhalb von zwei Jahren das Kindergeld
um insgesamt 50 DM erhöht. Das gab es zu Ihrer Zeit in
dieser Größenordnung nie.
({1})
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte wirklich zum Schluß. Sie
sind schon weit über die Zeit.
Letzter Satz: Wir sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Es
tut manchem weh - das ist klar -, wenn Sparmaßnahmen eingeläutet werden. Aber sie sind sozial gerecht, sie
sind ökologisch ausgerichtet, und sie sind wirtschaftspolitisch vernünftig. Deshalb ist das eine gute und runde
Sache.
({0})
Als
nächster Redner hat der Staatsminister des Freistaates
Bayern, Kurt Faltlhauser, das Wort.
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({0}): Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede von
Herrn Riester war in besonderer Weise bemerkenswert,
({1})
weil er damit dokumentiert hat, daß er den Kern dessen,
was er hier vorschlägt, nicht zur Kenntnis nehmen will.
Wenn die Bürger ihr Arbeitsleben lang Geld in die Rentenversicherung einbezahlen, wollen sie die verläßliche
Zuversicht, daß sie am Ende dieses Arbeitslebens einen
berechenbaren Betrag wieder herausbekommen. Deshalb
haben wir eine Rentenformel, deshalb haben wir dieses
Rentensystem. Das ist eine Konstruktion des Vertrauens
für die Arbeitenden und diejenigen, die Rentenempfänger sein werden.
({2})
Wenn man die Rente plötzlich nicht mehr auf einer
Rentenformel aufbaut - gleichgültig, welche es ist; sie
muß langfristig wirken -, sondern nach der gerade aktuellen Kassenlage willkürlich ändert, dann zerstört man
das Grundvertrauen der arbeitenden Bevölkerung und
der Rentner, nicht nur in die Rentenversicherung, sondern auch in diesen Staat. Das ist der Kernpunkt dessen,
was wir Ihnen vorwerfen.
({3})
Ganz abgesehen davon, daß die Zahlen beeindrukkend sind, die Herr Kues zu dieser Frage vorgetragen
hat - ein Rentner, der 2 000 DM Rente bekommt, zahlt
102 DM pro Monat drauf -, kommen für die Rentner
noch die Belastungen durch die Ökosteuer hinzu. Ich
habe mir überlegt, wie es einem „normalen“ Rentner,
diesem sogenannten 2000-DM-Rentner, mit Ihren „Reformen“ ergeht: Er darf, mit Ihrer Genehmigung, doch
bitte schön ein Auto fahren, ein kleineres. Er fährt
12 000 km pro Jahr und hat einen Stromverbrauch von
4 000 Kilowattstunden pro Jahr. Dieser Mann zahlt dafür im Jahr 360 DM zusätzlich, ohne daß für ihn irgendeine Entlastung erfolgt. Das heißt, pro Monat kommen
noch einmal 30 DM hinzu. Der „normale“ Rentner mit
2 000 DM Rente zahlt also bei dieser großartigen Operation rund 130 DM pro Monat drauf. Das ist eine wirklich großartige Sache.
({4})
Und daß das nicht nur für zwei Jahre wirkt, ist doch
eine Sache der Arithmetik. Sie senken jetzt das Niveau
ab. Dies wirkt als sogenannter Basiseffekt langfristig
nach.
({5})
Die Rentner zahlen also für diese Notoperation langfristig. Ich halte das für unanständig.
({6})
Im übrigen will ich noch etwas festhalten, damit es
nicht untergeht: Herr Riester, Sie haben durch Ihre
Rede hier bestätigt, daß dieses großartige Paket - der
Bundeskanzler hat es als das größte aller Zeiten vorgestellt -,
({7})
noch ein zusätzliches Deckungsloch von 2,8 Milliarden
DM hat.
({8})
Wenn es richtig ist - ich habe es heute morgen auch
schon gelesen -, daß diese 2,8 Milliarden DM nicht von
der Krankenversicherung abgeliefert werden,
({9})
dann fehlen sie zusätzlich in diesem Paket.
({10})
Das wollen wir hier einmal festhalten.
Meine Damen und Herren, von den Rednern der Opposition, Entschuldigung, der Regierung - Sie sind jetzt
leider an der Regierung; ich muß das zur Kenntnis nehmen -, ist immer wieder die Vergangenheit bemüht
worden. Ich erinnere mich gut an das letzte Jahr, an die
großen Plakate der SPD: Arbeit, Arbeit, Arbeit! Die erst
vor kurzem erfolgte Feststellung des Präsidenten der
Bundesanstalt für Arbeit besagt jedoch: Wir haben im
Mai 11 000 Arbeitslose mehr als im April. Wen wundert das?
Wer die dringend notwendige Unternehmenssteuerreform um ein weiteres Jahr verschiebt, braucht sich nicht
zu wundern, daß nicht investiert wird, sondern Attentismus herrscht.
({11})
Wer die Ausgaben für Straße und Schiene in massiver
Weise weiter herunterfährt - und daß, obwohl sie schon
bei einer Investitionsquote von lächerlichen 11 Prozent
liegen -, braucht sich nicht zu wundern, daß keine Arbeitsplätze geschaffen werden. Wer den bedeutenden
Kosten- und Standortfaktor Energie für Privathaushalte
und die Wirtschaft verteuert, der schafft keine Arbeitsplätze. Wer aus der umweltfreundlichen und kostengünstigen Kernenergie aussteigen will, schafft ebenfalls
keine Arbeitsplätze, sondern nur weiteres Mißtrauen in
die Politik, in die Kontinuität der Politik in diesem Lande. Er muß sich dann über die zusätzlichen 11 000 Arbeitslosen nicht wundern.
Herr Metzger hat hier von ausländischen Zeitungen
gesprochen. Man braucht sich nicht zu wundern, daß in
ausländischen Zeitungen gegenwärtig vor allem vom
„kranken Mann in Europa“ die Rede ist. Das sind jetzt
wir. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wer ist
schuld daran? Sie sind schuld daran, daß der „kranke
Mann in Europa“ mittlerweile Deutschland heißt.
({12})
Sie haben es gewagt, in die Zeit der alten Regierung
zurückzuschauen. Ich sage nur: Die Wachstumsraten
Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({13})
während der Regierung Kohl waren deutlich höher als
heute.
({14})
Die Investitionen sowohl der Industrie als auch der öffentlichen Hände waren deutlich höher, und die saisonbereinigte Zunahme der Arbeitsplätze war auch deutlich
höher. Das ist die Wahrheit!
({15})
Ich frage mich, wie Herr Metzger dazu kommt, von
einem Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik zu sprechen. Ich habe eine ziemlich gute Erinnerung an die
Zahlen, die auch in diesem Hause diskutiert worden
sind: In der Zeit von 1993 bis 1997 hat die Regierung
Kohl, hat Theo Waigel Einsparungen von 125 Milliarden DM erwirtschaftet. Alleine 1997 waren es 22 Milliarden DM. Das war schwer genug. Und Sie kommen
jetzt daher, als sei es etwas völlig Neues, wenn man an
der einen oder anderen Stelle spart. Es wurde von uns in
unglaublichem Umfang gespart. Herr Kollege Glos,
Herr Vizepräsident Solms, wir haben gemeinsam steuerliche Subventionen abgebaut, die heute, im Jahre
1999, in einer Gesamtsumme von 45 Milliarden DM
wirken. Das sind Größenordnungen! Wie kommen Sie
da eigentlich zu Ihrer Aufgeblasenheit und dazu, zu sagen, Sie erreichten ganz neue Größenordnungen?
({16})
Eines ist mir sowohl in der Rede des Finanzministers
als auch bei dem, was Herr Metzger sagte, unangenehm
aufgefallen. Sie haben darauf hingewiesen, daß die alte
Regierung mit der Politik von Theo Waigel unglaublich
hohe Schulden angehäuft habe.
({17})
Wenn Sie sich das Papier anschauen, das Herr Eichel
gestern - mit der entsprechenden Statistik - selbst verteilt hat, dann können Sie an den jeweiligen Säulen ganz
leicht erkennen, daß wir 1989 500 Milliarden DM und
1993 rund 1 Billion DM Schulden hatten. Das bedeutet
zwar eine Verdoppelung. Aber warum? Das sind - und
das ist belegbar - bis auf die letzte Mark alles zusätzliche Leistungen für die neuen Bundesländer. Wer das völlig unzulässig - als Erblast diffamiert, der diffamiert
meiner Ansicht nach den Glücksfall der Wiedervereinigung. Das ist gut angelegtes Geld!
({18})
Vergleichen Sie das doch einmal an Hand des Haushaltes 1997, des letzten Haushaltes, den wir voll verantwortet haben. Damals betrug die Nettoneuverschuldung
Theo Waigels 63 Milliarden DM, und alleine die im
Haushalt veranschlagten Kosten der deutschen Einheit
betrugen 91 Milliarden DM.
({19})
Alleine durch diese Gegenüberstellung sehen Sie, daß
hier keine unvertretbar hohe zusätzliche Verschuldung
eingegangen worden ist, sondern daß den neuen Ländern
vielmehr geholfen wurde. Wir wollen auch weiterhin
helfen.
({20})
Das ist der entscheidende Punkt.
Ich will noch etwas sagen, was mir als Politiker des
Freistaates Bayern in besonderer Weise wichtig ist. Ich
erinnere mich daran, was der Bundeskanzler, was Vertreter dieser Bundesregierung im Vorfeld ihrer Verantwortung für die Präsidentschaft der Europäischen Union
gesagt haben. Sie haben immer wieder angekündigt, daß
die Agenda 2000 mit ihren aus Brüssel herrührenden
Unzumutbarkeiten so nicht durchgehen werde. Das waren bloße Ankündigungen. Wir wissen, daß das Ergebnis
insbesondere für die Landwirtschaft völlig unzureichend ist. Die Preise werden radikal nach unten gesenkt.
Viele Bauern wissen nicht, wie sie weiter existieren
sollen. Und auf diese unerträglichen Vorbelastungen aus
Brüssel, wo sich diese Regierung während ihrer Präsidentschaft nicht durchgesetzt hat, legen Sie jetzt noch
ein sattes Paket zusätzlicher nationaler Lasten. Das halte
ich für unglaublich!
({21})
835 Millionen DM Gas- und Ölbetriebsbeihilfe - weg!
460 Millionen DM für die Alterssicherung - weg! 115
Millionen DM für die Unfallversicherung - weg! Und
im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur
sind es zusätzlich noch einmal 100 Millionen DM. Das
ist für eine kleiner werdende, wirklich hart arbeitende,
sich in einer schwierigen Lage befindende Bevölkerungsgruppe, für die Bauern, ein Riesenpaket! Was Sie
hier machen, das nenne ich schlicht und einfach Bauernlegen.
({22})
Mit diesem 30-Milliarden-Paket müssen wir uns intensiver auseinandersetzen. 30 Milliarden? Es sind keine
30 Milliarden, es sei denn, Herr Poß, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Sie gehen
hier her und sagen, schlichtes Verschieben sei Sparen.
Ich nenne das nicht Sparen. Von diesen 30 Milliarden
DM sind ziemlich genau 10 Milliarden DM schlichte
Verschiebung. Das wurde schon gesagt, aber ich sage es
noch einmal, damit es wirklich deutlich wird und diese
Propaganda bei den Bürgern nicht durchdringt. Es ist so,
daß auf Grund der Änderung der Beitragsbemessungsgrundlage die Sozialversicherungsträger 7 Milliarden
DM tragen müssen. Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung - das ist der erste
Verschiebebahnhof.
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höfken von Bündnis 90/Die Grünen?
Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({0})
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({1}): Ja,
selbstverständlich.
Bitte
schön.
Sie
sind jetzt in der Rede schon ein bißchen weiter fortgeschritten. Dennoch möchte ich Sie fragen, ob Sie denn
nicht bitte zur Kenntnis nehmen möchten, daß die Zahlen, auf denen Sie hier Ihre Rede aufbauen, nicht die
Zahlen sind, die aktuell im Agrarbereich in der Diskussion sind.
({0})
- Ja, Sie beziehen sich auf Papiere, deren Ursprung etwas unklar ist. Aber wir jedenfalls werden dafür Sorge
tragen, daß die Eingriffe in den Agrarsozialbereich, die
Sie schildern und die Sie vielleicht selbst gemacht hätten, nicht zustande kommen werden. Dafür werden wir
uns einsetzen. Möchten Sie das bitte zur Kenntnis nehmen?
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({1}): Frau
Kollegin, hier muß ich mich jetzt entschuldigen. Die
Zahlen, die ich hier vorliegen habe, sind von gestern
mittag.
({2})
Die Zahlen sind hier ja mittlerweile sehr flüchtig und
werden innerhalb von Stunden geändert.
({3})
Wir haben heute wieder dazugelernt, daß es ein zusätzliches Deckungsloch von 2,8 Milliarden DM gibt. Ich lerne vielleicht auch hier noch hinzu. Ich dachte, nach langer, gründlicher Vorberatung - ganz anders als bei
Herrn Lafontaine - hat Herr Eichel jetzt solide gearbeitet und schlägt ein solides, fertiges, detailliertes Paket
vor. Aber die Realität, wenn man dahinterschaut - und
das tue ja nicht nur ich, sondern das tut eine ganze Menge qualifizierter Beamter in Bayern, die immer die aktuellen Zahlen herausfinden wollen -, ist die, daß jeden
Tag neue Zahlen vorgelegt werden, und daß auch die
Zahlen, die jetzt auf dem Tisch liegen, noch in großem
Maße unsicher sind. Das gilt zum Beispiel, wenn ich das
als Landesminister sagen darf, für den riesigen Posten
„Einsparungen bei Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst“. Das ist doch Sparerei nach dem Prinzip
Hoffnung. Zunächst einmal kommen doch die Tarifverhandlungen, und ob man es dann wagen kann, die Tarifergebnisse für die Beamten nicht umzusetzen, würde ich
sehr bezweifeln.
({4})
Ich will noch auf etwas anderes hinweisen, was ebenfalls eine Verschiebung zu Lasten von Ländern und
Kommunen ist: Originäre Arbeitslosenhilfe für Zeitsoldaten und Referendare: 1 Milliarde DM. Das zahlen die
Kommunen oder - indirekt - die Länder. Oder der Unterhaltsvorschuß: 218 Millionen DM. - Einfach weg! Da
muß doch eine Auffangposition her! - Das zahlen die
Kommunen und die Länder. Das Wohngeld für Sozialhilfeempfänger: 1 Milliarde DM. Das zahlen die Kommunen und die Länder. Wollen Sie das Sparen nennen?
Ich nenne es Verschieben. Und schwupps ist dieses riesige Paket von 30 Milliarden DM nur noch eines von 20
Milliarden DM. Und dann können wir herunterrechnen.
Großartig ist das wirklich nicht. Also weg mit diesen
Weihrauchkesseln! Es ist kein großer Wurf.
({5})
Herr
Staatsminister, der Bundesrat hat zwar immer Rederecht, aber jetzt ist die Redezeit der CDU/CSU-Fraktion
abgelaufen. Wenn Sie länger sprechen würden, müßte
die ganze Debattenzeit verlängert werden.
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({0}): Das
will ich nicht.
Ich darf
Sie dann bitten, zum Schluß zu kommen.
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({0}): Herr
Präsident, ich bin in der Disziplin dieses Hauses. Ich
hätte noch sehr viel sagen wollen, zu diesem Unternehmenssteuerkonzept,
({1})
das zu spät kommt, zu gering ist und de facto - das sage
ich als Landesfinanzminister - nicht durchführbar ist. Es
ist nicht administrierbar. Dies wird letztlich auch zu Lasten der Finanzverwaltung, auch unserer Beamten in
Bayern, gehen.
({2})
- Alle Länder tragen diese Last.
Eine nachhaltige Haushaltspolitik ist weiß Gott notwendig, damit wir unsere Kinder nicht jedes Jahr erneut
mit einer Nettoneuverschuldung belasten. Die Bundesregierung hätte schon im letzten Jahr die Chance gehabt,
Steuermehreinnahmen zur Reduzierung der Nettoneuverschuldung einzusetzen und keine Aufblähung des
Haushaltes zu betreiben. Es war ein schlechter Anfang
im letzten Jahr. Dies ist ein zweiter Schritt, der den
schlechten und falschen finanzpolitischen Weg fortsetzt.
({3})
Ich
werde bei der Redezeit der SPD-Kollegen entsprechend
großzügig verfahren, damit die Gerechtigkeit wieder3946
hergestellt wird, die Debattenzeit aber nicht verlängert
werden muß.
Als nächster Redner hat Staatsminister Rolf Schwanitz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede
von Herrn Ministerpräsident Vogel hat mich veranlaßt,
mich hier kurz zu Wort zu melden, um ein paar Bemerkungen zu seiner Rede und zu dem, was hinsichtlich des
Aufbaus Ost vermutet worden ist, zu machen. Herr
Vogel, ich habe Sie in den zurückliegenden Jahren eigentlich als einen seriösen Politiker kennengelernt. Was
Sie heute hier erzählt haben, hat wahrscheinlich mehr
mit dem Thüringer Wahlkampf zu tun als mit dem Auswerten des Bundeshaushaltes.
({0})
Zum Thema Rente will ich Ihnen nur sagen: Ich
glaube, Sie sind nicht die moralische Instanz, wenn es
um die Renten in Ostdeutschland geht. Das ist eine
schwierige solidarische Leistung, die wir unter der
Maßgabe einer gleichen Vorgehensweise in Ost und
West erwarten. Herr Vogel, ich erinnere mich noch
sehr gut daran, als die frühere Regierungskoalition
1994/1995 die Dynamisierung der Ostrenten von der
Halbjährlichkeit auf die Jährlichkeit umgestellt hat. Man
könnte einmal darüber nachdenken, welche Auswirkungen das auf die Rentendynamisierung, auf die Angleichung hatte. Ich erinnere mich nicht, daß damals, 1995,
von Ihrer Seite irgendein kritischer Ton kam. Sie sind an
dieser Stelle nicht die moralische Instanz.
({1})
- Ich bitte um Nachsicht. Ich habe eine Redezeit von nur
fünf Minuten.
({2})
Ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen. Herr
Grund, auch Sie können sich ja noch auf die Rednerliste
setzen lassen.
Herr Vogel, Sie haben gesagt, Sie könnten im Bundeshaushalt keine Priorität hinsichtlich des Aufbaus Ost
erkennen. Ich will jetzt nicht daran erinnern, was unlängst Herr Biedenkopf gesagt hat, als Frau Merkel die
Bundesregierung kritisiert hat. Da gab es ein paar interessante Zwischentöne, an denen Sie sich einmal ein Beispiel nehmen könnten. Er hat das ganz anders gesehen
als Sie, obwohl auch er im Wahlkampf steckt.
Ich will ein paar grundsätzliche Dinge in Erinnerung
rufen und Ihren Blick, falls Sie das nicht sehen können,
auf den Bundeshaushalt 2000 richten, auf das, was dort
zum Thema Aufbau Ost und den in diesem Zusammenhang errichteten Säulen steht. Ich beginne mit dem
Thema Förderung von Innovationen, Forschung und
Technologie. Da soll im Bundeshaushalt 2000 für Ostdeutschland ein Anteil von insgesamt 3,2 Milliarden
DM veranschlagt werden. Für 1998 wurden von der früheren Bundesregierung 2,8 Milliarden DM veranschlagt.
In diesem Jahr, 1999, stehen 3,2 Milliarden DM zur
Verfügung. In diesem Punkt besteht also Stabilität. Das
ist richtig so; denn das ist eine Zukunftsfrage für Ostdeutschland.
({3})
Ich will Ihren Blick auf das Thema aktive Arbeitsmarktpolitik richten. Wir werden im Haushalt 2000
insgesamt 11,8 Milliarden DM für aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in Ostdeutschland zur Verfügung
stellen können. Im Wahljahr 1998, unter der früheren
Bundesregierung, standen 7,9 Milliarden DM zur Verfügung. Das ist ein ganz wichtiges Entlastungsmoment
und keine Kürzung, wie Sie das hier dargestellt haben
und wie ich es auch von anderer Stelle aus der Opposition gehört habe.
({4})
Der Bereich Wirtschaftsförderung und Strukturhilfe wird mit 2,3 Milliarden DM Kontinuität symbolisieren, und zwar in der Mechanik, die wir kennen: zum
Beispiel bei der Gemeinschaftsaufgabe durch das Veranlagen der Barmittel aus der Verpflichtungsermächtigung
der Vergangenheit. Das wird ein wichtiges Element sein,
das uns im Jahr 2000 in den ostdeutschen Ländern, also
auch in Thüringen, Wirtschaftsförderung ermöglicht.
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grehn?
Nein, ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen.
Des weiteren möchte ich an das Thema Infrastrukturförderung erinnern. Wir werden für die Infrastrukturförderung - und für den Wohnungsbau und die
Städtebauförderung - in Ostdeutschland insgesamt
20,9 Milliarden DM bereitstellen können. Das ist mehr
als der Ansatz in 1998 und übrigens auch in diesem Jahr,
in 1999. Ich sage ausdrücklich: Ich bin froh, daß dies
gelungen ist. Ich bin übrigens auch froh, daß das KfWWohnraummodernisierungsprogramm, das die alte Bundesregierung noch nicht einmal in 1999 verlängern
wollte, im Jahr 2000 in einer neuen Modellform zur
Verfügung steht. Das ist eine richtige Entscheidung. Sie
haben kein Wort dazu gesagt, meine Damen und Herren.
({0})
Zum Schluß: Herr Vogel, an dem Mittelansatz für die
Treuhand-Nachfolgeeinrichtungen wird sich nichts
ändern. Ihr Krisenszenario, daß in diesem Bereich 900
Millionen DM herausgenommen werden sollen, baut
nicht auf dem auf, was wir in der jetzigen Situation festgeschrieben haben. Wir haben auf Grund unserer mittelfristigen Finanzplanung die Möglichkeit zur Korrektur.
Wir werden nach wie vor insgesamt 1,7 Milliarden DM
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
für die Treuhand-Nachfolgeeinrichtungen zur Verfügung stellen. Da ich Ihnen, Herr Vogel, unterstelle, daß
Sie wissen, daß die BvS seit 1995 ohne einen Zuschuß
aus dem Bundeshaushalt auskommt, und weil dies auch
im nächsten Jahr so ist, grenzt das, was Sie hier gesagt
haben, an Unredlichkeit.
({1})
Ich gebe
dem Kollegen Grund von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort zu einer Kurzintervention.
Da der Kollege
Schwanitz meine Zwischenfrage nicht zugelassen hat,
bediene ich mich des Instruments der Kurzintervention.
Herr Kollege Schwanitz, Sie haben sich auf die Rente
und deren Bezieher in den neuen Bundesländern bezogen. In den nächsten beiden Jahren, in den Jahren 2000
und 2001, kürzen Sie die Rentenanpassung um 3 bis 4
Prozent und gewähren nur einen Inflationsausgleich.
Das bedeutet, daß die Rentner dort im Jahre 2001 im
Monat 100 DM weniger an Rente erhalten werden, in
einem Rentenjahr auf eine Monatsrente verzichten müssen und, eine Rentenlaufzeit von 17 Jahren unterstellt,
insgesamt auf ungefähr 20 000 DM. Diese ostdeutschen
Rentner haben aber außer ihrer Rente kaum Grundbesitz
und Ersparnisse.
Sie haben die Umstellung des Rentenberechnungsverfahrens zum 1. Juni 1995 angesprochen. Wir haben
damals das Rentenberechnungsverfahren von ex ante auf
ex post umgestellt, weil in den ersten Jahren nach der
deutschen Einheit keine verläßlichen Werte für die Tarifentwicklung vorgelegen haben. Ab dem 1. Juni 1995
war ein Anpassungsverfahren für Gesamtdeutschland
möglich. Das hat mit einer Rentenkürzung, einer Rentenumstellung überhaupt nichts zu tun. Das bringen Sie
durcheinander.
({0})
Sie haben hier vehement das Sparpaket vertreten.
Ich sage es noch einmal - der Ministerpräsident von
Thüringen, Dr. Bernhard Vogel, hat es schon angesprochen -: Durch die Einsparungen bei der BvS können
umwelterhaltende Maßnahmen nicht mehr durchgeführt
werden, und auch bestandssichernde Maßnahmen für
privatisierte Unternehmen wird es in Zukunft nicht mehr
geben. Sie sparen bei der Pflegeinfrastruktur in den
neuen Bundesländern 120 Millionen DM pro Jahr ein,
obwohl diese Mittel nach dem Pflegeversicherungsgesetz hineinfließen müßten. Sie werden dies zahlen müssen, weil Sie das Gesetz nicht ändern können.
Sie greifen in bestehende Gesetze ein. Das, was Sie in
den neuen Bundesländern machen, sind Luftbuchungen.
Ebenso werden diese 30 Milliarden DM an Einsparungen nicht zustande kommen. Sie gaukeln den Leuten im
Land etwas vor.
({1})
Zu einer
weiteren Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Dr.
Klaus Grehn das Wort. Anschließend werde ich dem
Herrn Staatsminister Gelegenheit geben, auf die Kurzinterventionen zu erwidern.
Bitte schön, Herr Grehn.
Herr Staatsminister, Sie
haben in Ihren kurzen Ausführungen weniger deutlich
zu Ihrem Ressort, der Situation in Ostdeutschland, geredet. Da Sie aber einige Dinge angesprochen haben, von
denen ich, so glaube ich, etwas verstehe, möchte ich
darauf hinweisen, daß die Kürzungen bei SAM um 800
Millionen DM für die neuen Länder natürlich einen Arbeitsplatzabbau bedeuten, abgesehen davon, daß alle
weiteren Einsparungen, etwa bei der Subventionierung
von mittelständischen Unternehmen, diese Länder in besonderer Weise treffen werden - und das angesichts der
Tatsache, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in
den neuen Bundesländern momentan schon wegen des
hohen Überhangs der Verpflichtungsermächtigungen,
die im vorigen Jahr von den Arbeitsämtern ausgestellt
worden sind, erheblich zurückgefahren werden.
Sie wissen doch so gut wie ich, daß allein in Sachsen
monatlich 6 000 Menschen aus diesem Bereich entlassen
werden und neue nicht eingestellt werden können, weil
kein Geld mehr da ist. Wie Sie angesichts dieser Tatsache zu einer Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik auf
hohem Niveau kommen wollen, bleibt sicher Ihr Geheimnis.
({0})
Herr
Staatsminister, bitte schön.
Meine Damen und Herren! Herr Grund, daß Sie die
Veränderungen, die 1995 Platz gegriffen haben und die
auch mit der Dynamisierungsintensität zu tun haben - da
habe ich eine andere Auffassung als Sie -, als eine Angleichung zwischen Ost und West definieren, verstehe
ich schon. Aber daß die ostdeutsche Modalität auch in
der Intensität umgestellt worden ist - von halbjährlich
auf jährlich -, werden Sie doch als Fakt nicht abstreiten
wollen.
Zweite Bemerkung. Herr Grehn, Sie haben noch einmal die schwierige Situation im Haushaltsjahr 1999 auf
Grund der Bindungen aus dem Vorjahr angesprochen.
Ich kann sie nicht wegleugnen und werde das auch nicht
tun. Aber ich will schon noch einmal darauf aufmerksam
machen, worin die Ursache für die schwierige Situation
lag. Die Ursache bestand nämlich darin, daß im Wahljahr 1998 die aktive Arbeitsmarktpolitik als Wahlkampfinstrument mißbraucht worden ist.
({0})
Nachdem 1997 die Menschen in die Arbeitslosigkeit geschickt worden sind, weil die Maßnahmen gekürzt worStaatsminister Rolf Schwanitz
den sind und keine Neubewilligungen Platz gegriffen
haben, gab es 1998 einen massiven Zulauf zu den Maßnahmen - da brauchen Sie gar nicht so den Kopf zu
schütteln; das ist so -, wodurch wir im Jahr 1999 eine
massive Vorbindung hatten mit dem Effekt, den Sie beschrieben haben und der tatsächlich so ist. Dennoch
werden wir mit dem, was wir zur Verfügung stellen ich sage noch einmal: über 11 Milliarden DM; das ist
mehr, als wir 1998 zur Verfügung hatten -, eine neue
Situation bekommen, die Stabilität bedeutet. Wir werden
dort - auch das darf nicht verschwiegen werden selbstverständlich etwas für mehr Effizienz und gegen
Mitnahmeeffekte bei vielen dieser Maßnahmen unternehmen. Auch dies ist mit dem SGB III schon im parlamentarischen Verfahren.
({1})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Carl-Ludwig
Thiele von der F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Kollege Schwanitz, wenn ein gemeinsames Ziel
aller hier im Bundestag vertretenen Parteien darin besteht, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, dann müssen auch
die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze geschaffen
werden, insbesondere in den neuen Bundesländern.
Wenn Sie aber die Mittel für die Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern kürzen, vernichten
Sie dort Arbeitsplätze und Zukunft, weil Unternehmen
sich nur dort ansiedeln können, wo Verkehrsströme fließen können. Insofern wird das ein Punkt - nicht der einzige - sein, den Sie überprüfen müssen. Wir als F.D.P.
halten diesen Angriff auf die Infrastruktur insbesondere
in den neuen Bundesländern für grundfalsch.
({0})
Das heute zur Diskussion anstehende Sparpaket in
der Größenordnung von 30 Milliarden DM ist ein Riesenbetrag; aber darin stecken viele Luftbuchungen. Es
ist richtig, daß die öffentlichen Haushalte auf der Ausgabenseite nachhaltig entlastet werden müssen. Es ist
aber in keinem Fall verständlich, daß der Bund bei sich
Ausgaben streicht, die dann andere öffentliche Ebenen
zu tragen haben. Das ist kein Absenken der Ausgaben,
das ist Lasten verschieben. Die Kommunen werden Ihnen das nicht durchgehen lassen; sie werden auf Kompensation bestehen. Insofern sind die Sparmaßnahmen in
diesem Bereich kein Erfolg, denn Sie müssen den
Kommunen einen Ausgleich gewähren. Das ist eine
Luftbuchung.
({1})
Nächster Punkt. Es ist kein Sparerfolg, wenn Sie 1
Milliarde DM einsparen wollen, indem Sie von der
Treuhand-Nachfolgerin BvS in dieser Größenordnung
Aufgaben auf die KfW, die überwiegend dem Bund gehört, verschieben. Die Aufgaben müssen weiter erfüllt
werden. Das Geld muß weiter gezahlt werden. Auch hier
gilt: kein Spartitel, sondern eine weitere Luftbuchung.
({2})
Es ist auch kein Sparerfolg, wenn im Verteidigungshaushalt 3,5 Milliarden DM eingespart werden sollen.
Wir haben gerade in den letzten Wochen Diskussionen
darüber geführt. Der Bundesverteidigungsminister hat
unter Zustimmung des gesamten Hauses erklärt, daß wir
eine funktionsfähige Bundeswehr haben müssen. Wie
hier gespart werden soll, wie Sie das erreichen wollen,
ist überhaupt nicht deutlich geworden, und Sie werden
das auch nicht konkretisieren. Also: weitere Luftbuchung.
Wenn Sie dann sagen, die Ökosteuer sei eine Sparmaßnahme, muß ich feststellen: Steuererhöhungen als
Sparmaßnahmen auszugeben ist an Dreistigkeit nun
wirklich nicht zu überbieten.
({3})
Was ist denn daran öko, wenn Sie die Spediteure, den
gewerblichen Güterverkehr, in dem über 100 000 Menschen in unserem Land beschäftigt sind und die in internationalem Wettbewerb stehen, im nationalen Alleingang zusätzlich belasten? Das wird dazu führen, daß in
diesem Bereich weitere Arbeitsplätze verschwinden
werden. Das kann nicht der Sinn einer vernünftigen Politik sein.
({4})
Wenn Sie trotz Ökosteuer die Kohle mit keiner Mark
belasten, hat das mit Glaubwürdigkeit im Bereich der
Umwelt überhaupt nichts zu tun. Auch die Kohle ist ein
Emissionsverursacher. Gas, Strom und Mineralöl werden höher besteuert, während Sie die Kohle überhaupt
nicht besteuern. Wenn Sie ein Minimum an Glaubwürdigkeit erhalten wollen, müßten Sie hier herangehen.
Daß Sie das nicht tun, zeigt, daß das Ganze überhaupt
nicht der Umwelt dienen soll. Das Ganze soll nur ein
Alibi sein, um unter dem Deckmantel eines von allen
befürworteten Grundes, nämlich mehr Umweltschutz,
den Bürgern stärker in die Tasche zu greifen. Das lehnen
wir als F.D.P. ab.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Georg Wagner,
SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Zunächst möchte ich ein paar Sätze
zu Ihnen, Herr Ex-Kollege Faltlhauser, sagen. Früher
waren Ihre Reden besser. Sie haben gesagt, wir brauchen die Solidarität mit den neuen Ländern, und Sie haben theatralisch Vorschläge gemacht, wie man ihnen
helfen kann. Ich frage Sie: Warum hat die Bayerische
Staatsregierung eigentlich die Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, den Bund-LänderStaatsminister Rolf Schwanitz
Finanzausgleich zu Lasten der neuen Bundesländer zu
verändern?
({0})
Ich kann verstehen, Herr Kollege Faltlhauser, daß Sie
sich schützend vor die Beamten in Bayern stellen wollen. Das ist nur natürlich; denn wie wollen Sie den Beamten in Bayern erklären, daß der Bayerische Landtag
vor drei, vier Tagen eine Diätenerhöhung beschlossen
hat, so daß sich die bayerischen Diäten jenen des Bundestagsabgeordneten annähern, während sie nur einen
Inflationsausgleich bekommen sollen? Aber das ist Ihre
Sache.
Auch zu Ihnen, Herr Dr. Vogel, möchte ich ein paar
Sätze sagen. Sie haben die Rentenproblematik angesprochen. Ich will die Zahlen ganz konkret nennen. Im
Jahre 1995 betrug die Preissteigerungsrate in den neuen
Ländern 1,9 Prozent, die Rentenerhöhung 0,5 Prozent.
({1})
Im Jahr 1996 betrug die Preissteigerungsrate in den neuen Ländern 1,9 Prozent, die Rentenanpassung 0,95 Prozent. Im Jahr 1997 lag die Preissteigerungsrate in den
neuen Ländern bei 2,3 Prozent, die Rentenanpassung bei
1,65 Prozent. Im vergangenen Jahr, Herr Ministerpräsident, betrug die Preissteigerungsrate in den neuen Bundesländern 1,1 Prozent und die Rentenanpassung 0,44
Prozent. In diesem Jahr werden die Renten um 1,38 Prozent angehoben. Hätte man das alte Rentenmodell der
ehemaligen Koalition übernommen, läge die Anpassung
bei nur 0,79 Prozent, also wesentlich unterhalb der
Preissteigerungsrate.
({2})
Herr Ministerpräsident Vogel, wenn ich den Jargon
der Hamburger Kollegin, den sie in ihrer Kurzintervention gebraucht hat, aufnehmen würde - sie sprach von
Betrug und Lüge -, könnte ich sagen: Sie, Herr Ministerpräsident, haben die Rentnerinnen und Rentner in
den neuen Ländern in den letzten fünf Jahren bezüglich
der Rentenanpassung betrogen und belogen.
({3})
Noch etwas: Sie haben gemeint, Sie müßten etwas zu
den 630-Mark-Jobs sagen. Im Jahre 1997 fand der
Deutschlandtag der Jungen Union statt, und der damalige Bundeskanzler, Herr Dr. Kohl, Sie saßen ja einmal
mit ihm zusammen in einer Landesregierung, hielt dort
eine Rede. Die jungen Leute haben geschimpft und gesagt, die 610-Mark-Jobs - damals lag die Grenze bei
610 DM - müssen endlich weg, sie müssen sozialversicherungspflichtig gemacht werden. Dazu hat der Kanzler gesagt, er habe kein Patentrezept. Das war ehrlich.
Dann hat er aber auch wörtlich gesagt: Enormer Mißbrauch ist aufgetreten; da müssen wir etwas ändern.
Die Kollegen Schäuble und Schauerte haben sich
ähnlich geäußert. Letzterer war ja 1997 sogar Vorsitzender des Arbeitskreises 610-Mark-Jobs der CDU/CSUBundestagsfraktion. Auch Kollege Blüm hat sich ähnlich geäußert, indem er sagte, daß es gilt, den Mißbrauch
in diesem Bereich abzuschaffen. Sie waren dazu nur nie
fähig, weil der Koalitionspartner nicht mitgemacht hat.
Westerwelle und Gerhard haben Freudenschreie ausgestoßen, als es damals nicht gelang, eine Veränderung
herbeizuführen.
({4})
Nun hat der Kollege Merz - ich sehe ihn im Moment
nicht, aber das kann ihm ja übermittelt werden - der Koalition ein Angebot gemacht. Er hat gesagt, wir sollten
gemeinsam die letzten 16 Jahre vergessen. Ich sage Ihnen: Wir lehnen das Angebot ab; wir werden dafür sorgen, daß sie nicht vergessen werden.
({5})
Der Finanzminister hat heute morgen festgestellt, daß
ein bankrotter Staat der Idealzustand des Kapitalismus
ist. Damit hat er vollkommen recht. Sie haben den Staat
in den Konkurs getrieben, weil Sie damit Ihre Politik,
die einseitig den Großeinkommen nutzt, fortsetzen
konnten.
Sie haben es geschafft, daß im Jahr 80 Milliarden DM
für Zinsen gezahlt werden müssen. Wenn man das einmal pro Kopf der Bevölkerung betrachtet, dann kommt
man zu dem Ergebnis, daß in Deutschland ein Baby
schon bei der Geburt mit 1 000 DM für Zinszahlungen
belastet ist.
({6})
Selbst die mit 106 Jahren älteste Frau hat 1 000 DM
Schulden auf dem Buckel. Auf eine vierköpfige Durchschnittsfamilie in Deutschland, eine Familie mit zwei
Kindern, entfallen pro Jahr 4 000 DM an Zinsbelastung.
Sie rauben damit durch Ihre Politik dem Familienvater
einen Monatslohn.
({7})
Zu der Behauptung von Herrn Merz, es handele sich
nicht um Einsparungen in Höhe von 30 Milliarden DM,
sondern um den Betrag, der voriges Jahr draufgelegt
wurde, antworte ich: Wir haben die Schattenhaushalte
einbezogen, damit Klarheit und Wahrheit im Haushalt
herrscht. Sie haben die Unterdeckung des Haushaltes ja
immer verschwiegen und kaschiert.
({8})
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur
Familienpolitik ist ja zu Ihren Lasten ausgefallen. Es
wurde festgestellt, daß Sie im Familienbereich nichts
gemacht haben. Wir müssen das ausbaden. Daß wir es
geschafft haben, das Kindergeld schon zum 1. Januar zu
erhöhen und die Familien zu entlasten, ist eine ganz tolle
Leistung, die auch bei der Betrachtung dieses Haushalts
gesehen werden sollte.
({9})
Sie waren dazu nicht fähig. Sie waren nicht einmal in
der Lage, 5 DM draufzulegen. Wir erhöhen das Kindergeld zum 1. Januar 2000 erneut; ebenso erhöhen wir den
Hans-Georg Wagner
Kinderfreibetrag auf 3 000 DM. Hierzu waren Sie nie
fähig; Sie wollten es ja auch gar nicht tun.
({10})
Die mittelständische Wirtschaft haben wir durch
das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 um rund
5 Milliarden DM entlastet.
({11})
Wir sorgen jetzt auch dafür, daß reinvestierte Gewinne
durch die Steuergesetzgebung besonders gut behandelt
werden. Dieser Vorteil für die mittelständische Wirtschaft kann gar nicht hoch genug angesetzt werden.
({12})
Eben ist gesagt worden, früher sei der Bundeshaushalt ein Musterbeispiel gewesen. Aber die Zins-/
Steuerlastquote liegt bei 22 Prozent. Diese Zahl wird nur
noch in Bremen übertroffen. In allen anderen Bundesländern liegt diese Quote unter der des Bundeshaushalts.
Minister Eichel hat recht, daß Sie uns mit dem Bundeshaushalt den marodesten Haushalt der gesamten Bundesrepublik Deutschland als Erblast hinterlassen haben.
Wir sind jetzt dabei, diesen Zustand aufzuarbeiten.
({13})
Es ist doch ganz klar, daß wir als Sozialdemokraten
auch dafür sorgen werden, daß die Lasten gerecht verteilt werden. Es kann nicht sein, daß nur Rentnerinnen
und Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Beamte, Angestellte oder auch Abgeordnete und Minister
bluten sollen, sondern es muß auch diejenigen treffen,
die in den letzten Jahren privates Geldvermögen in einer
Höhe angehäuft haben, die fast nicht mehr darstellbar
ist.
({14})
Von 1992 bis 1997 sind die Einkommen aus Unternehmertätigkeit netto um 44,1 Prozent gestiegen, die
Lohn- und Gehaltssummen im gleichen Zeitraum nur
um 3 Prozent.
Zum Abschluß noch ein Wort zum Aufbau Ost und
zu Ihnen, Herr Ministerpräsident Vogel: Das Investitionsförderungsgesetz für die neuen Länder hat eine
Größenordnung von 6,6 Milliarden DM. Dort bringt
man das Geld aber einfach nicht weg. Das einzige Land,
das vom Angebot des Bundes Gebrauch gemacht hat, ist
Berlin. Sie, Herr Ministerpräsident Vogel, sind in Ihrem
Land nicht in der Lage gewesen - die anderen Länder
waren es auch nicht -, dieses Geld für die vorgesehenen
Maßnahmen auszugeben.
({15})
- Sachsen-Anhalt auch nicht. Das Land ist finanziell am
schlimmsten dran; das wissen Sie ja. - Das heißt, Sie
müssen dafür sorgen, daß die Gesetze in Ihren Ländern
auch umgesetzt werden. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands müßte das doch langsam
funktionieren. Wenn dort drüben Menschen mit einem
Sachverstand wie dem Ihrem sind, müßte es doch mit
dem Teufel zugehen, wenn das nicht klappen würde.
({16})
Wir werden die Nettokreditaufnahme bis zum Jahre
2003 auf unter 40 Milliarden DM absenken. Unser Ziel
ist, sie bis auf 30 Milliarden DM zu senken.
({17})
- Herr Kollege Waigel, Sie stellen immer so geistreiche
Fragen. Heute geht es um Hombach, das letzte Mal ging
es um Lafontaine. Sie müssen einmal Ihre Argumentation ändern. Haben Sie nichts anderes drauf, als nach
Namen zu fragen?
({18})
- Ich kann sagen: Beiden geht es glänzend.
({19})
Als
letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kollegin
Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion das Wort. Bitte
schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gern eine Vorbemerkung zu der Zwischenfrage einer Kollegin von der
CDU/CSU-Fraktion machen, die - wie ich sehr gut verstanden habe - Walter Riester nicht beantworten wollte.
Das war eine unsägliche Polemik zum Thema Grundsicherung. Wenn Sie mit dem Beispiel Bali kommen,
dann müssen Sie daran erinnert werden, daß vor allem
die Frauen, die Sie über Jahre ohne jede Chance auf soziale Sicherung in 630-Mark-Jobs getrieben haben, Anspruch auf eine soziale Grundsicherung haben. Ich bitte
Sie im Namen derer, die die Grundsicherung brauchen,
die Polemik in diesem Punkt zu unterlassen.
({0})
Daß Sie immer unrecht hatten, wenn Sie behauptet
haben, es könne nicht zusammengehen, die Familien ordentlich zu entlasten und zugleich eine vernünftige Politik für die Entwicklung von Unternehmen und für die
Schaffung von Arbeitsplätzen zu machen, zeigt sich daran, daß wir in unserem Zukunftsprogramm den Schwerpunkt genau darauf gesetzt haben, diese beiden Bereiche
miteinander zu verbinden. Sie sehen also, daß es sehr
wohl möglich ist, Angebots- und Nachfrageelemente
miteinander zu kombinieren, und daß es völlig falsch
war, immer so zu tun, als müsse das auseinanderdividiert werden.
({1})
Für uns war die Familienentlastung immer eine
zentrale Frage, weil diese Entlastung wirtschaftlich
sinnvoll und sozial gerecht ist. Für mich, für unsere Regierungsfraktionen ist es wichtig, daß Sie sehen: Zu einer fairen Familienentlastung gehört, daß die Freibeträge
um 3 000 DM und das Kindergeld um 20 DM erhöht
werden. Zu einer fairen Familienentlastung gehört natürlich auch die Frage: Wie verantwortlich gehen wir
mit dem Abbau der Staatsverschuldung um? Das ist
doch ein Paket. Ein Schwerpunkt liegt im Bereich der
Familienentlastung. Zu einer fairen Familienentlastung
gehört auch die Frage: Wie gehen wir mit den Staatsfinanzen verantwortlich um? Das ist nämlich auch ein
Stück Familienpolitik. Diesen Bereich haben Sie über
Jahre sträflich vernachlässigt.
({2})
Wir als sozialdemokratische Fraktion und als sozialdemokratische Partei haben eine sehr geradlinige und
sehr lange Tradition im Bereich der Familienpolitik.
Diese ist sehr positiv.
({3})
Wir haben bei unserer Argumentation immer Wert auf
einen sozialen Ausgleich bei der steuerlichen Entlastung
der Familien und der Förderung von Familien gelegt. Sie
haben sich immer geweigert, da ein Stück mitzugehen.
Wir mußten Sie immer wieder dazu zwingen.
({4})
Die von uns vorgelegten Eckpunkte zeigen: Wir
kombinieren. Wir machen das, was wir laut Bundesverfassungsgericht machen sollen: Wir sorgen für eine
steuerliche Entlastung der Familien. Wir fügen noch
etwas hinzu, was wir nicht machen müssen, was wir uns
aber als Schwerpunkt vorgenommen haben, weil wir
meinen: Auch die Familien, die steuerlich nicht oder
kaum belastet sind, müssen entlastet werden und ihren
Kindern die Chance geben können, sich zu entwickeln,
betreut und erzogen zu werden. Deshalb setzen wir völlig andere Schwerpunkte.
({5})
Besonders witzig finde ich, daß uns jetzt Pressemitteilungen der Opposition ins Haus flattern, in denen eine
Erhöhung des Kindergeldes ohne jegliche Begrenzung
nach oben verlangt wird. Sie scheinen vergessen zu haben, daß Sie eine Kindergelderhöhung mit uns nie mitmachen wollten. Sie scheinen ferner vergessen zu haben,
daß der Vorsitzende der jetzigen großen Oppositionsfraktion hier immer gesagt hat - das empfand ich wirklich als grauslich -, entweder Kindergeld oder Arbeitsplätze. Das ist eine Unverschämtheit gewesen. Wir zeigen mit diesem Zukunftsprogramm, daß Kindergeld und
Arbeitsplätze vereinbar sind.
({6})
Wenn Sie jetzt so tun, als hätten Sie keine lange und
unerfreuliche Tradition in diesem Bereich der Familienpolitik, dann darf ich Sie vielleicht daran erinnern, daß
Ihr leider verstorbener Kollege Fell vor noch nicht einmal vier Jahren von seinen finanzpolitischen Aufgaben
zurückgetreten ist, weil er Ihre katastrophale Familienpolitik nicht mehr mittragen wollte.
({7})
An zwei kleinen Punkte möchte ich Ihnen erneut
deutlich machen, daß wir nicht nur im großen, sondern
auch im kleinen auf Familien achten. Sie haben sich
über Jahre geweigert, Grenzgängern in die Schweiz ihren Anspruch auf Kindergeld zu erfüllen. Wir haben das
sofort nach dem Regierungswechsel getan.
({8})
Sie haben seit zwei Jahren gewußt, daß erwachsene
behinderte Kinder ihren Anspruch auf Kindergeld wegen der steuerlichen Voraussetzungen nicht mehr wahrnehmen konnten. SPD und Grüne haben schon vor zwei
Jahren im Ausschuß beantragt, einen Anspruch ins Gesetz einzufügen. Sie haben sich geweigert. Wir werden
das jetzt tun; es steht bereits in unseren Eckpunkten.
Was Sie zwei Jahre lang nicht gemacht haben, setzen
wir sofort mit unseren Eckpunkten um. Ich bin sicher,
daß die Familien wahrnehmen werden, wo es wirklich
langgeht.
({9})
- Sie können lange Zwischenrufe machen. Es wird Ihnen nichts nutzen, weil die Menschen ein Gedächtnis
haben und noch genau wissen, wie die Debatten hier abgelaufen sind.
Wir machen erfolgreiche Familienpolitik im kleinen
und im großen, und wir verknüpfen diese Familienpolitik mit Verbesserungen für Unternehmen, mit Entwicklungsschritten auf dem Arbeitsmarkt sowie mit positiven
Entwicklungen in den Bereichen Bildung, Forschung
und Investitionen. Wenn Sie einigermaßen kluge Entscheidungen für dieses Land treffen wollen, sollten Sie
sich diesen Maßnahmen aus unserem Zukunftsprogramm nicht verweigern.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 18 a bis i
sowie die Zusatzpunkte 2 a bis d auf:
- Überweisungen im vereinfachten Verfahren -
18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom 24. NovemNicolette Kressl
ber 1997 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Haschemitischen Königreich Jordanien andererseits
- Drucksache 14/1006 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 21. Dezember 1995 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Armenien über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/1008 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verleihung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit an
die Internationale Kommission zum Schutze
des Rheins ({2})
- Drucksache 14/1017 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({3})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 24. April 1998 des Übereinkommens vom 3. September 1976 über die Internationale Organisation für mobile Satellitenkommunikation ({4})
- Drucksache 14/1089 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. November 1998 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Arabischen Republik
Ägypten über ihre gegenseitigen Seeschifffahrtsbeziehungen
- Drucksache 14/1090 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Finanzausschuß
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Rechtspflege-Anpassungsgesetzes ({6})
- Drucksache 14/1124 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
g) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Angela Marquardt, Rolf Kutzmutz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Postgesetzes
- Drucksache 14/1108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({7})
Rechtsausschuß
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtursachen als Asylgrund
- Drucksache 14/1083 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Geis, Erwin Marschewski, Ronald Pofalla, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Maßnahmen zur akustischen Wohnraumüberwachung - Unterrichtungspflicht der Bundesregierung nach Artikel 13 Abs. 6 GG und
§ 100 e Abs. 2 StPO
- Drucksache 14/1146 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({9})
Innenausschuß
ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({10}), Dietrich Austermann,
Otto Bernhardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Wirtschaftlicher Ausgleich und Übergangsregelung für Duty-free
- Drucksache 14/1206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({11})
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({12}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Überprüfung von Kraftfahrzeugen nach Unfallreparaturen
- Drucksache 14/1207 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13})
Innenausschuß
Vizepräsidentin Petra Bläss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Otto ({14}), Dirk Fischer ({15}), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Realisierung des Verkehrsprojektes Deutsche
Einheit ({16}) Nr. 8 Schienenneubaustrecke
Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin
- Drucksache 14/1208 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({18}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen im
Fahrerlaubniswesen
- Drucksache 14/1209 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({19})
Innenausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis g auf. Es
handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 19 a:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({20}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Ursula
Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Sofortige Wiederaufnahme des Programmes
„Förderung der Forschungskooperation in der
mittelständischen Wirtschaft“
- Drucksachen 14/209, 14/672 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Sauer
Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung hat der
Kollege Rolf Kutzmutz, PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da es eher ungewöhnlich ist, der
Empfehlung zur Ablehnung eines eigenen Antrages zuzustimmen, möchte ich folgende Erklärung abgeben. Ich
stimme der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu,
weil die Bundesregierung nach Einbringung des PDSAntrages im Dezember vergangenen Jahres umgehend
die Bearbeitung vorliegender Anträge zu diesem Förderprogramm wieder aufnehmen ließ, das Begehren des
Antrages also schon während der parlamentarischen Beratung erfüllt worden ist.
Ich stimme der Beschlußempfehlung zu, weil ein
Nachfolgeprogramm, wenn auch mit zu kritisierender
mehrmonatiger Verspätung, gestartet wurde.
Ich stimme der Beschlußempfehlung in der Hoffnung
zu, daß Begünstigte nachträglich bewilligter Förderanträge bereits 1999 benötigte Mittel im Rahmen der
Haushaltsbewirtschaftung erhalten können, obwohl ihnen Zahlungen erst ab dem Jahr 2000 zugestanden wurden.
Ich stimme der Beschlußempfehlung in der Hoffnung
zu, daß im Bundeshaushalt 2000 für das neue Programm
„Innovationskompetenz“ deutlich mehr Mittel als einst
geplant bereitgestellt werden, damit es in der Praxis
überhaupt greifen kann.
Danke schön.
({0})
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/209 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses ({0})
Übersicht 2
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/1173 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist auch diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 c auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 47 zu Petitionen
- Drucksache 14/1168 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 47 ist bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 d auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 48 zu Petitionen
- Drucksache 14/1169 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 48 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 e auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 49 zu Petitionen
- Drucksache 14/1170 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 49 gegen
die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 f auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 50 zu Petitionen
- Drucksache 14/1171 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 50 mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU, F.D.P. und der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 g auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 51 zu Petitionen
- Drucksache 14/1172 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 51 mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion
gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-
Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
Wahlen zu Gremien
a) - Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Einsetzung des Parlamentarischen Kontroll-
gremiums gemäß § 4 des Gesetzes über die
parlamentarische Kontrolle nachrichten-
dienstlicher Tätigkeit des Bundes
- Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß § 4 des Gesetzes
über die parlamentarische Kontrolle nach-
richtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
- Drucksachen 14/1218, 14/1220, 14/1221 -
b) Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
§ 41 Abs. 5 des Außenwirtschaftsgesetzes zur
Kontrolle der Beschränkung des Brief-, Post-
und Fernmeldegeheimnisses
- Drucksache 14/1222 -
c) - Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Einsetzung des Gremiums nach Artikel 13
Abs. 6 Grundgesetz
- Wahl der Mitglieder des Gremiums nach
Artikel 13 Abs. 6 Grundgesetz
- Drucksachen 14/1219, 14/1223, 14/1224 Für die nachher durchzuführende Wahl zum Parlamentarischen Kontrollgremium benötigen Sie Ihren
weißen Wahlausweis. Diesen können Sie, soweit noch
nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen.
Außerdem benötigen Sie eine weiße Stimmkarte, die im
Eingangsbereich und hier im Saal verteilt wird.
Die Fraktion der PDS hat zu den gemeinsamen Anträgen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. zur
Einsetzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums
und zur Einsetzung des Gremiums nach Art. 13 Abs. 6
GG jeweils einen Änderungsantrag eingebracht. Mir
wurde mitgeteilt, daß die Fraktion der PDS das Wort zur
Begründung ihrer Änderungsanträge wünscht.
Das Wort hat der Kollege Roland Claus, PDSFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die PDS-Fraktion greift
mit ihrem Änderungsantrag einen Vorschlag der Koalitionsfraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen vom Herbst 1998 auf, nach dem die Geheimdienstkontrollgremien mit 15 Mitgliedern besetzt werden sollen, um alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zu beteiligen. Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich
jetzt nicht mehr so gerne an Ihren eigenen Vorschlag
erinnern, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Aber Sie können nicht ernsthaft - das
haben Sie heute morgen wieder getan - der CDU/CSU
mangelndes Vermögen, sich an 16 Jahre Politik zu erinnern, vorwerfen, und sich selber noch nicht einmal ein
halbes Jahr zurückerinnern.
({0})
Einen kleinen Unterschied gab es allerdings, wenn
man sich erinnert: Sie sind damals nach der konservativen Kritik eingeknickt. Heute versuchen Sie bereits vor
der konservativen Kritik, diese rechts zu überholen.
Unsere Fraktion sieht in der jetzigen Beschlußvorlage
eine unzulässige Einschränkung ihrer parlamentarischen Rechte und sieht diese Vorlage auch als verfassungsrechtlich bedenklich an. Es war immerhin der
Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Peter Struck, der
hier sinngemäß gesagt hat, man müsse das Parlamentarische Kontrollgremium klein halten, damit eine Fraktion
draußen bleibe. Darin sehen wir eine unzulässige Einschränkung unserer Rechte. Im übrigen stehen wir mit
dieser Kritik nicht allein. Sie können uns in dieser Frage
gesellschaftlich nicht so locker überstimmen, wie Sie es
sicherlich gleich im Bundestag tun werden.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Nun haben Sie eingewendet, daß es eine Reihe kleinerer Gremien gebe, in denen wir nicht vertreten seien.
Das stimmt natürlich. Wir haben es als eine Härte empfunden, nicht im Briefmarkengremium des Bundestages
vertreten zu sein. Aber hier gibt es einen Unterschied,
den ich Ihnen erklären möchte: Während wir uns über
die Themen, die in den Gremien diskutiert werden, in
denen wir nicht vertreten sind, über das Fragerecht und
im Rahmen der Plenardiskussionen durchaus kundig
machen und uns zu diesen Themen einbringen können,
können wir das bei den Themen, die in den Geheimdienstgremien diskutiert werden, nicht, wenn wir von
diesen Gremien ausgeschlossen werden. Ich möchte hier
nicht gleich mit dem Gang nach Karlsruhe drohen; denn
das würde Ihnen die Möglichkeit zum Umdenken nehmen, auf die ich noch hoffe.
Etwas Gutes ist mir in Ihrem Wahlvorschlag doch
noch aufgefallen: Sie haben die Freien Demokraten von
der Besetzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums
nicht ausgeschlossen, obwohl die F.D.P. nur etwa die
Hälfte der Stimmen der PDS bei den letzten bundesweiten Wahlen bekommen hat. Wir begrüßen ausdrücklich, daß sie die F.D.P. nicht ausgeschlossen haben, kein
Zweifel. Aber wie Sie es dann rechtfertigen können, die
PDS unbedingt aus der parlamentarischen Kontrolle der
Geheimdienste herauszuhalten, leuchtet uns nicht ein.
Das leuchtete im übrigen auch dem Sächsischen Landesverfassungsgericht nicht ein.
Ein Ruck soll durchs Land gehen, sagte der scheidende Bundespräsident. Wir haben verstanden, sagte der
Kanzler, und wandte seine Hau-Ruck-Methode an.
Sollten Sie sich bei so vielem Ruck im Lande nicht auch
einen kleinen Ruck geben, um alle Fraktionen des Bundestages an der Kontrolle der Geheimdienste zu beteiligen? Ich denke, die Wählerinnen und Wähler würden
Ihnen das alsbald danken; denn eine Entscheidung gegen
die Beteiligung der PDS an der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste wäre unseres Erachtens auch
eine Entscheidung gegen den Osten, gegen die neuen
Länder.
Wir haben es Ihnen mit unseren Anträgen leichtgemacht. Jetzt haben Sie die Wahl.
Vielen Dank.
({1})
Für die Fraktionen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU
und der F.D.P. erwidert jetzt der Kollege Wilhelm
Schmidt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Claus,
es geht natürlich nicht darum, die Ergebnisse der letzten
bundesweiten Wahlen oder andere in diesem Fall nicht
zu beachtende Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Es ist
vielmehr entscheidend, wie wir mit den wichtigen Gremien dieses Hauses umgehen und wie wir diese besetzen, um dem Auftrag, den wir nach der Verfassung haben, gerecht zu werden.
Darum antworte ich Ihnen im Namen der vier genannten Fraktionen, daß wir die bisherige Tradition fortführen und die Zahl der Mitglieder der Gremien zur
Kontrolle der Geheimdienste wie bisher belassen. Wir
wollen - das ist das Entscheidende -, daß dort die notwendige Vertraulichkeit gesichert ist und daß dort der
Kontrollauftrag wirksam und zielsicher ausgeübt werden
kann. Dies soll auch in der Zukunft mit der knappen
Zahl von neun Mitgliedern sichergestellt werden. Nach
unserer gemeinsamen Auffassung entspricht dies genau
dem Auftrag, den wir nach der Verfassung und nach den
Spezialgesetzen zu erfüllen haben.
Diese Festlegung richtet sich ausdrücklich nicht gegen die PDS, obwohl ich zugebe, daß Sie es uns in den
vergangenen Monaten nicht sehr leichtgemacht haben,
über Ihr Anliegen neutral und objektiv zu entscheiden.
Die PDS-Fraktion hat in diesem Hause alle Rechte, die
einer Oppositionsfraktion zukommen. Es war die Koalition, die Ihnen bei der Konstituierung das Amt einer Vizepräsidentin sowie die anteilige Zahl von Ausschußvorsitzenden gesichert hat. Daß wir durch die Festlegung der Größe des Vermittlungsausschusses der PDS
dort keinen Sitz zugestanden haben, entspricht übrigens
der Entscheidung, die wir heute treffen, vom Grundsatz
her. Insoweit verweise ich auf meinen Debattenbeitrag
vom 3. Dezember des letzten Jahres in diesem Hause.
Ich will zur verfassungsmäßigen Bewertung - das
haben Sie ja anklingen lassen - kurz auf folgendes hinweisen. Die Verfassung gewährt diesem Parlament seine
autonomen Rechte bei der Festlegung der Organisation
und der Strukturen. Die nehmen wir wahr - wenn es
notwendig ist, auch im Streit und mit Mehrheitsentscheidungen. Dabei werden die Rechte der PDS als
Fraktion - zumal als Oppositionsfraktion - nicht beschnitten. Nach herrschender Lehre hat nämlich nicht
jede Fraktion den Anspruch, in jedem Gremium vertreten zu sein.
Aus diesen Gründen kann und will ich auch nicht anders, als Ihnen allen zu empfehlen, den Anträgen der
PDS nicht zuzustimmen.
({0})
Wir kommen damit
zum Tagesordnungspunkt 4 a. Es handelt sich um die
Einsetzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums
gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit
des Bundes. Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag der
Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. vor.
Wie Ihnen bereits bekannt ist, hat die Fraktion der
PDS einen Änderungsantrag eingebracht, über den wir
zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf der Drucksache 14/1235 ({0})? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan-
trag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei drei
Enthaltungen aus der Fraktion von Bündnis 90/Die Grü-
nen abgelehnt worden.
Wir stimmen jetzt über den gemeinsamen Antrag der
Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-
nen und F.D.P. zur Einsetzung des Parlamentarischen
Kontrollgremiums auf der Drucksache 14/1218 ab. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion angenommen worden. Damit ist das Par-
lamentarische Kontrollgremium eingesetzt; die Mitglie-
derzahl ist auf neun festgelegt.
Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des Parlamentari-
schen Kontrollgremiums kommen, bitte ich um Ihre
Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfah-
ren: Nach § 4 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamenta-
rische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist
gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder
des Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer minde-
stens 335 Stimmen erhält. Auf der weißen Stimmkarte
können Sie höchstens neun Namensvorschläge ankreu-
zen, da das Parlamentarische Kontrollgremium nach
dem vorhin gefaßten Beschluß neun Mitglieder haben
soll. Ungültig sind Stimmkarten, die mehr als neun An-
kreuzungen, andere Namen oder Zusätze enthalten. Wer
sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung.
Die Wahlen finden offen statt. Sie können die
Stimmkarten also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie
die weiße Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen,
bitte ich Sie, den Schriftführerinnen und Schriftführern
an der Wahlurne Ihren weißen Wahlausweis zu überge-
ben. Die Abgabe des Wahlausweises dient als Nachweis
der Teilnahme an der Wahl.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen
besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Wahl.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist offensicht-
lich nicht der Fall. Ich schließe die Wahl.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis dieser Wahl
wird Ihnen später bekanntgegeben werden.*)
Wir setzen die Beratungen fort. Wir wählen jetzt die
Mitglieder des Gremiums gemäß § 41 Abs. 5 des Au-
ßenwirtschaftsgesetzes zur Kontrolle der Beschränkun-
gen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Es
liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
F.D.P. auf Drucksache 14/1222 vor. Es ist verlangt wor-
den, über die Vorschläge einzeln abzustimmen.
Wer stimmt für Hermann Bachmaier, SPD? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kolle-
ge Hermann Bachmaier bei Enthaltung der PDS-
Fraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Christian Lange, SPD?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
*) Seite 3967 B
Kollege Christian Lange bei Enthaltung der PDSFraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Dr. Ditmar Staffelt,
SPD? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist Dr. Ditmar Staffelt bei einigen Enthaltungen der
PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für die Kollegin Uta Zapf, SPD? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Kollegin Uta Zapf bei einigen Enthaltungen aus der PDSFraktion gewählt.
Wer stimmt für Kollegen Ruprecht Polenz,
CDU/CSU-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Ruprecht Polenz bei
Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff bei Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für Rudolf Kraus, CDU/CSU? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Rudolf Kraus bei Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Hans-Christian
Ströbele bei einer Enthaltung aus der F.D.P.-Fraktion
gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Hildebrecht Braun,
F.D.P.-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Hildebrecht Braun bei
einigen Stimmenthaltungen der PDS-Fraktion gewählt.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 4 c: Einsetzung des Gremiums nach Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes. Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der F.D.P. vor.
Die Fraktion der PDS hat, wie Ihnen bereits vorhin
mitgeteilt wurde, einen Änderungsantrag eingebracht,
über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den
Änderungsantrag auf der Drucksache 14/1236? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei zwei
Enthaltungen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
abgelehnt worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle nachtragen, daß es vorhin bei der Beschlußempfehlung zum ersten Änderungsantrag der PDS
eine Ja-Stimme aus der Fraktion BÜNDNIS 90/Die
Grünen gab. Ich konnte sie leider nicht erkennen, weil
hinten an der Wahlurne dichtes Gedränge war. Ich bitte,
mein Versehen zu entschuldigen, aber das ins Protokoll
aufzunehmen.
Ich möchte Sie daher noch einmal ermahnen, bei Abstimmungen tatsächlich auf den Plätzen zu bleiben, damit die Präsidentin bzw. der Präsident die Übersicht hat.
Wir stimmen jetzt über den gemeinsamen Antrag der
Fraktionen der SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/Die
Vizepräsidentin Petra Bläss
Grünen und F.D.P. zur Einsetzung des Gremiums nach
Artikel 13 Abs. 6 des Grundgesetzes auf Drucksache
14/1219 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion und bei einer Enthaltung von BÜNDNIS
90/Die Grünen angenommen. Damit ist das Gremium
nach Artikel 13 Abs. 6 des Grundgesetzes eingesetzt und
die Mitgliederzahl auf neun festgelegt.
Wir kommen jetzt zur Wahl der Mitglieder des Gremiums nach Artikel 13 Abs. 6 des Grundgesetzes. Es
liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/Die Grünen sowie F.D.P. und
PDS vor, Drucksachen 14/1223 und 14/1224. Auch hier
ist Einzelabstimmung verlangt.
Wer stimmt für Hans-Peter Kemper, SPD? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Hans-Peter Kemper bei einigen Stimmenthaltungen
aus der PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für Dr. Jürgen Meyer, SPD? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Dr. Jürgen Meyer bei einigen Stimmenthaltungen aus
der PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für die Kollegin Ute Vogt, SPD? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Kollegin Ute Vogt bei einigen Stimmenthaltungen aus der
PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für Hedi Wegener, SPD? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist Hedi Wegener,
SPD, bei einigen Stimmenthaltungen aus der PDSFraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Joachim Schmidt,
CDU/CSU-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Joachim Schmidt,
CDU/CSU, bei Stimmenthaltungen aus der PDSFraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Eckart von Klaeden,
CDU/CSU-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Eckart von Klaeden bei
Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Wolfgang Zeitlmann,
CDU/CSU-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Wolfgang Zeitlmann,
CDU/CSU, bei Enthaltung der PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Cem Özdemir,
BÜNDNIS 90/Die Grünen? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Kollege Cem Özdemir bei
einigen Stimmenthaltungen aus der PDS-Fraktion gewählt.
Wer stimmt für den Kollegen Jörg van Essen, F.D.P.?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Kollege Jörg van Essen bei einigen Stimmenthaltungen
aus der PDS-Fraktion gewählt.
Damit sind die neuen Mitglieder gewählt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vorhin
beschlossen, daß das Gremium nach Artikel 13 Abs. 6
des Grundgesetzes aus neun Mitgliedern bestehen soll.
Es liegt jedoch ein weiterer Wahlvorschlag vor, über den
wir befinden müssen. Sollte auch dieser Wahlvorschlag
angenommen werden, wäre damit die Zahl der Mitglieder neu festgelegt.
Wer stimmt für die Kollegin Ulla Jelpke, PDS? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Kollegin Jelpke gegen die Stimmen der PDS-Fraktion, gegen
eine Stimme aus der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen
und bei einer Enthaltung aus der SPD-Fraktion und einer
Enthaltung aus der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen
nicht gewählt.
({1})
- Zwei Ja-Stimmen von BÜNDNIS 90/Die Grünen und
eine Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Bei
dieser Abstimmung war das etwas schwierig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Ende dieses Wahlprozederes.
Ich rufe nun den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Politische Schlußfolgerungen aus dem Beschluß der Katholischen Bischofskonferenz
zur Schwangerschaftskonfliktberatung
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wir wollen keine Tricks“, sagte Bischof Lehmann noch
vor vier Tagen in Würzburg. Aber offensichtlich blieb
der Deutschen Bischofskonferenz nichts anderes übrig
als ein Trick. Im Ergebnis scheint rechtlich alles beim
alten zu bleiben; doch nach vier Jahren Diskussion ist
festzustellen: Der Versuch der katholischen Bischöfe,
eine größtmögliche Eindeutigkeit im Sinne des Schutzes
des Lebens herzustellen, hat zu einer noch größeren
Zweideutigkeit geführt. Das Aushalten dieser Zweideutigkeit wird den Frauen und in Teilen den Ärzten zugewiesen.
Die Männer der Bischofskonferenz haben eine schillernde Entscheidung getroffen und rücken damit sich
und ihren Einsatz für das Leben ins Zwielicht. Der unsäglichen Geschichte wurde ein weiteres Kapitel hinzugefügt.
({0})
Erinnern wir uns: Im Jahre 1995 haben wir nach über
25jähriger leidenschaftlicher Debatte hier im Parlament
einen breit getragenen Kompromiß gefunden. In dieser
Debatte hatten sich die Kirchen ebenfalls engagiert, und
sie sind auch gehört worden.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Ein wesentlicher Bestandteil dieses Kompromisses ist
die Schwangerschaftskonfliktberatung. Sie soll dem
Schutz des ungeborenen Lebens dienen, und gleichzeitig
hat sie zu berücksichtigen, daß dieses nur mit und nicht
gegen die Frau geschützt werden kann. Deshalb muß die
Beratung ergebnisoffen sein. Sie ist Voraussetzung für
einen straffreien Schwangerschaftsabbruch.
Der Gesetzgeber hat sich verpflichtet, ein flächendekkendes und plurales Angebot an Beratungsstellen vorzuhalten. Im Rahmen dieses Angebotes leisten die katholischen Beratungsstellen eine anerkannt gute Arbeit. Aber
bereits im Schatten der unerträglichen Scheindebatten
des letzten Jahres sind nach Aussage des Sozialdienstes
katholischer Frauen die Schwangerschaftskonfliktberatungen nach dem Gesetz zurückgegangen.
In dieser vom Vatikan aufgezwungenen Debatte ging
es niemals wirklich um die betroffenen Frauen, sondern
nur um die Probleme des Vatikans und eines Teils des
Klerus mit dem Schein. Anstatt Frauen in einer existentiellen Notsituation wirklich beizustehen, wurden ihnen
zusätzliche „Scheinprobleme“ von Männern aufgehalst.
({1})
Die Entscheidung der Bischofskonferenz hat dieses
Dilemma nur schlimmer gemacht. Die Quadratur des
Kreises ist eben nicht gelungen. Wenn der Vatikan
meint, er könne am bestehenden Staat-Kirche-Verhältnis
festhalten, indem er den Spagat zwischen kirchlicher
Lehre und gesellschaftlicher Verantwortung zur Zerreißprobe ausgestaltet, dann täuscht er sich. Das, was die
Römisch-Katholische Kirche seit Jahr und Tag ihren
Gläubigen abverlangt, nämlich ein Leben in der strukturellen Unwahrhaftigkeit - ich nenne als Beispiele nur
die Familienplanung und die Sexualmoral -, kann und
darf sie nicht auf die gesamte Gesellschaft übertragen.
({2})
Es ist eine Selbsttäuschung, wenn die Bischofskonferenz das grundgesetzlich abgesicherte Recht der Kirchen
auf Selbstbestimmung so weit auszudehnen versucht,
daß kirchliches Recht staatlichem Recht übergestülpt
werden soll.
Andererseits ist die Kirche Teil dieser Gesellschaft,
und es ist ihr wichtig, im Rahmen der Subsidiarität im
staatlichen Auftrag soziale Dienste zu leisten. Auch die
Tätigkeit der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen
ist als Beratungsarbeit im Sinne des Gesetzgebers eine
Auftragsverwaltung.
Nun wird in der römisch-katholischen Bescheinigung
„Beratung und Hilfe bei Schwangerschaftkonflikten Perspektiven für ein Leben mit dem Kind“ ab dem 1.
Oktober der Satz eingefügt:
Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung
straffreier Abtreibung verwendet werden.
Im Kommentar des Staatssekretariats, der zusammen mit
der Erklärung der Bischofskonferenz veröffentlicht wurde, wird ausgeführt, daß die Umsetzung zur Folge haben
werde - ich zitiere -, „daß die Kirche eine Konfliktberatung eigener Art anbietet und in einem konkreten
Punkt vom Weg des Gesetzgebers abweicht.“ Damit
stellt sich die Frage, ob die Voraussetzung für die Auftragsverwaltung im Sinne des Gesetzgebers noch gegeben ist. Der Schein, so Bischof Lehmann in der heutigen
Ausgabe des „Rheinischen Merkurs“, ist ein kirchlicher
Schein, der im Rechtsbereich der Kirchen keine Folgewirkungen hat. Damit bestätigt er zwar das staatliche
Recht, aber das Pontius-Pilatus-Prinzip läßt grüßen.
({3})
Die Formulierung bringt Zweideutigkeiten und Mißverständnisse mit sich. Wem ist denn zu erklären, daß sich
der eingefügte Satz auf die Lehre der Kirche und nicht
auf die Gültigkeit des staatlichen Rechts bezieht? Wie
sollen beispielsweise die muslimischen Frauen diesen
Satz verstehen, wenn sie eine katholische Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsuchen? Immerhin waren 12 Prozent aller Frauen, die 1997 eine katholische
Beratungsstelle aufgesucht haben, muslimischen Glaubens.
Ein Dilemma gewinnt nicht an Eindeutigkeit, wenn
man die Verantwortung verlagert. Das Engagement in
der Sache wird wirkungsloser. Die einzige Klarheit, die
entstanden ist, ist die, daß den Bischöfen die Einheit mit
dem Papst und untereinander wichtiger ist als die Einheit mit ihren Gläubigen und mit den Menschen in dieser Gesellschaft, vor allem mit den Frauen.
({4})
In dieser Situation nennt der Passauer Bischof Eder
die Position der Kirche - ich zitiere - „einen entscheidenden Beitrag zur Bewußtseinsbildung und zur geistigmoralischen Zukunft der Gesellschaft“. In welcher Welt
leben diese Männer eigentlich? Sie produzieren Rechtsunklarheit, schieben alles auf die Frauen ab. Die Kirche
verrennt sich, bis sie nicht mehr zu erkennen ist, nur um
keine wirklichen Entscheidungen zu fällen, sondern Taschenspielertricks zu spielen.
({5})
Eine so verfaßte Kirche macht sich als Vertragspartnerin zur Übernahme staatlicher Aufgaben im Rahmen
der Subsidiarität leider unglaubwürdig. Sie wird zur unsicheren Kantonistin und betreibt damit selbst ihren
Rückzug aus der Gesellschaft. Mit Entscheidungen wie
dieser und einem Handeln nach der Devise - ich zitiere
die „FAZ“ vom 21. Juni - „unerlaubt, aber gültig“ trägt
die katholische Kirche nicht zum vielbeschworenen
Wertekonsens bei, von dem der freiheitliche Staat lebt.
Ich danke schön.
({6})
Als nächste Rednerin spricht für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Frau Nickels, was Sie
gerade gemacht haben, ist überzogen. Sie stilisieren die
Entscheidung der Bischöfe zu einem Streit zwischen
Männern und Frauen hoch. Das ist in der Weise, wie Sie
es gebracht haben, unangemessen.
({0})
Ich begrüße grundsätzlich den Beschluß der katholischen Bischofskonferenz, in der bisherigen Schwangerenkonfliktberatung zu bleiben. Es ist mir wichtig, daß
die katholischen Beratungsstellen in der gesetzlichen
Beratung verbleiben können.
({1})
Zugleich ist es für mich beruhigend, daß führende deutsche Juristen zu dem von der Kirche geplanten modifizierten Beratungsschein eine rechtlich positive Stellungnahme abgegeben haben. Denn in § 7 des Schwangerenund Familienhilfeänderungsgesetzes von 1995 kommt es
dem Gesetzgeber allein auf die geforderte Bestätigung
der Beratung an. Die Ergebnisoffenheit muß durch die
Beratung selbst garantiert werden.
Insofern teile ich die Erleichterung der bayerischen
Sozialministerin Barbara Stamm. Sie hat gestern erklärt,
daß nach dem Beschluß in den nächsten Tagen und Wochen in Gesprächen mit den Bischöfen und Beratungsstellen eingehend erörtert werden soll, wie die Beratung
im einzelnen künftig auszugestalten ist. Ich appelliere an
alle Bundesländer, etwaige rechtliche Fragen baldmöglichst zu klären und die künftige Gestaltung der Konfliktberatung mit der Kirche zu besprechen.
Mein Dank gilt insbesondere dem Vorsitzenden der
Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, für seinen unermüdlichen Einsatz für einen Verbleib der katholischen
Kirche im Beratungssystem.
({2})
Meine Damen und Herren, als Katholikin bedauere
ich jedoch, daß diese Entscheidung der deutschen Bischöfe so gefällt werden mußte. Die guten Argumente
der Bischofskonferenz für einen Beratungs- und Hilfeplan vom Anfang dieses Jahres hätten es verdient, voll
gewürdigt zu werden.
({3})
Durch den jetzt von Rom verlangten Zusatz entsteht leider Verunsicherung bei den hilfesuchenden Frauen und
bei den Beraterinnen. Daher ist es notwendig, so schnell
wie möglich eventuelle Rechtsunsicherheiten zu klären
und alles zu tun, damit das bisherige plurale Angebot an
Beratungsstellen aufrechterhalten werden kann.
Mein Anliegen ist, daß auch weiterhin gerade jene
Frauen Rat und Hilfe bei den katholischen Beratungsstellen finden, die um eine Entscheidung ringen. Um
diese Frauen geht es uns ja in allererster Linie. Wir wissen, wie qualifiziert die Beratung in den katholischen
Beratungsstellen ist und daß eben hier der Auftrag des
Gesetzgebers, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen, in hervorragender Weise erfüllt
worden ist und erfüllt wird.
({4})
Dieses wurde in der Vergangenheit auch fraktionsübergreifend immer wieder hervorgehoben. Wenn dieses
Lob, das die katholischen Beratungsstellen von allen
Seiten erhalten haben, in der Vergangenheit ernst gemeint war, dann ist es jetzt Aufgabe aller, dafür zu sorgen, daß die kirchlichen Beratungsstellen auch in Zukunft ihre erfolgreiche Tätigkeit fortsetzen können.
Ich wünsche mir, insbesondere im Interesse der hilfesuchenden Frauen, daß diese qualifizierte Beratung, die
wir alle anerkennen und für die wir der katholischen
Kirche danken, in vollem Umfang erhalten bleiben kann.
({5})
Für die SPDFraktion spricht nun die Kollegin Hanna Wolf.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich gebe sicherlich die Meinung des ganzen Hauses wieder, wenn
ich zunächst den katholischen Beratungsstellen für ihre
bisher geleistete Arbeit in der Schwangerschaftskonfliktberatung danke.
({0})
Aber wie danken es die Bischöfe den Beraterinnen?
Die Bischöfe verstehen sich offenbar darauf, Konflikte
mit dem Papst zu schlichten. Vom Schwangerschaftskonflikt verstehen sie wenig.
({1})
Der Zusatz auf dem Beratungsschein lautet: „Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier
Abtreibungen verwendet werden.“ Dieser Zusatz hat das
Niveau eines mittelalterlichen Ablaßhandels.
({2})
Er desavouiert die Beraterinnen. Er setzt Frauen in Not
noch weiter unter Druck.
({3})
- Ja.
({4})
Es mag sein, daß sich die Bischöfe damit im gesetzlichen Beratungssystem sehen. Sie drohen sogar mit dem
Rechtsweg. Dann aber haben sie dieses Beratungssystem
gründlich mißverstanden.
Es ist richtig, daß die Bischöfe sagen, daß das Ziel
der kirchlichen und der staatlichen Ordnung dasselbe ist,
nämlich Leben zu schützen. Entscheidend ist aber: Wir
gehen unterschiedliche Wege. Wir haben uns für einen
bestimmten, neuen Weg entschieden. Die Kirche kann
nicht zwei Wege zugleich gehen. Die Bischöfe haben
unseren Weg verlassen. Wir setzen auf das ergebnisoffene Beratungsgespräch. Beratung verlangt aber Offenheit und Ehrlichkeit auf beiden Seiten.
({5})
Ein Beratungsgespräch ist um so erfolgreicher, je offener es geführt werden kann. Eine Schwierigkeit liegt
bereits in der gesetzlichen Pflicht zur Beratung. Trotzdem haben wir diese Pflicht damals in das Gesetz aufgenommen, um im Bundestag eine große Mehrheit zu bekommen und um auch die katholische Kirche mit einzubinden.
({6})
Wir wollten endlich einen Paradigmenwechsel von der
Strafe zur Hilfe. Damit wollten und wollen wir werdendes Leben besser schützen als zuvor, Frauen und Ärzte
aus der Illegalität holen und die hohe Dunkelziffer zum
Verschwinden bringen.
Mit diesem Zusatz auf dem Beratungsschein wird die
Konfliktberatung in einer katholischen Beratungsstelle
zur Farce. Oder handelt es sich hier um einen augenzwinkernden Trick? Dann kann die ratsuchende Frau
doch keinen Respekt für ihre Nöte erkennen. Die
Glaubwürdigkeit ist für sie erschüttert. Der Zusatz soll
den Druck auf die Frauen ein weiteres Mal erhöhen. Bei
einer Entscheidung für die Abtreibung ist die Schuldzuweisung an die Frau die Strafe durch die Hintertür. Das
kann verheerende Folgen für die Frau haben, mit denen
sie auch noch fertig werden muß. Der größte Druck aber
besteht darin, ob der Arzt einen solchen Beratungsschein
akzeptiert oder akzeptieren darf. Die Äußerungen dazu
haben Sie hoffentlich zur Kenntnis genommen.
Schon seit dem letzten Brief des Papstes im Jahre
1998 sind viele Frauen verunsichert. Immer weniger
Frauen, die sich in einem Schwangerschaftskonflikt befinden, suchen katholische Beratungsstellen auf. Für
diesen Vertrauensschwund bei den Frauen ist bisher ausschließlich der Papst verantwortlich gewesen, und jetzt
sind es auch die deutschen Bischöfe. Sie schaffen die
ergebnisoffene Beratung und den gesetzlichen Beratungsschein im Prinzip ab.
Das Gesetz sieht ein plurales, wohnortnahes Beratungsangebot vor, in dem auch katholische Einrichtungen ihren Platz haben sollen. In manchen Bundesländern
- das ist ganz eklatant in Bayern der Fall, Frau Eichhorn
- ist aber die Pluralität im umgekehrten Sinn nicht gewährleistet. Zum Beispiel werden 24 von 38 Einrichtungen freier Träger in Bayern von der katholischen Kirche
betrieben. Dafür werden sie staatlich alimentiert. Inzwischen meiden sogar Katholikinnen die Schwangerschaftskonfliktberatung der katholischen Kirche.
Wenn nun eine Landesregierung der Meinung ist, daß
sie katholische Beratungsstellen unterstützen möchte,
obwohl diese nicht mehr ergebnisoffen beraten, dann
kann sie das - wenn überhaupt - zusätzlich tun. Um den
Sicherstellungsauftrag zu erfüllen, müssen Frauen aber
vor Ort ein plurales Angebot vorfinden. Das heißt: Diese
Landesregierung muß weitere Einrichtungen anderer
freier Träger zulassen.
({7})
Die katholischen Beratungsstellen können jetzt nicht
mehr mitgezählt werden.
Wir haben das Gesetz 1995 abschließend und mit
großer Mehrheit beschlossen. Dieses Gesetz wollen wir
angewendet sehen. Wir wollen nicht jedes Jahr alles
wieder von vorne aufrollen. Wir brauchen endlich
Rechtsfrieden und Rechtssicherheit in diesem Bereich.
Danke schön.
({8})
Ich gebe der Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Staat hat zu gewährleisten, daß wir in
Deutschland eine Vielzahl von Beratungsstellen haben.
Wir als F.D.P. wollen das. Wir wollen, daß auch konfessionelle Beratungsstellen mitwirken und zu einem Netz
gehören, das den in Not geratenen Frauen hilft.
Gerade in den letzten Tagen aber ist der Druck auf
die christlich orientierten Frauen durch den Papst-Brief
und die Entscheidung der Bischöfe drastisch erhöht
worden.
({0})
Der Zusatz auf dem Beratungsschein „Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden“ bedeutet gerade bei den in
Not geratenen Frauen, die sich mit ihrer Entscheidung
sehr, sehr schwertun, einen zusätzlichen psychischen
Druck. Das müssen wir hier im Parlament kritisieren;
das muß ganz deutlich gesagt werden.
({1})
Die Bischofskonferenz hat zwar einen Ausweg gefunden, trägt den innerkirchlichen Konflikt aber auf dem
Rücken der Frauen aus.
({2})
Meine Damen und Herren, ist das ein Stück christlich
gelebter Lehre?
({3})
Hanna Wolf ({4})
Ich denke, die Kirchen hätten die Aufgabe gehabt, den
Frauen nicht noch mehr zuzumuten. Deshalb sind der
Papst und die Bischöfe, auch wenn sie sich sehr um eine
Konfliktbefriedung bemüht haben, zu kritisieren.
Schlecht ist, daß die Beraterinnen nun in der Situation
sind, daß ihnen wegen der Rechtsunsicherheit Mißtrauen
entgegengebracht wird. Deshalb sollten sich die Länder
umgehend und umfassend darüber äußern, ob sie wie
Bayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg diesen Beratungsschein anerkennen oder nicht, und dann
mit den katholischen Kirchen vor Ort in Kommunikation
treten.
Der Göttinger Verfassungsrechtler Starck, der Staatsrechtler Eser und der Ex-Verfassungsrichter Böckenförde haben eindeutig gesagt, daß dieser Schein den deutschen Gesetzen Genüge tue. Ich hoffe, daß dies der Fall
ist, damit der Rechtsfrieden gewahrt ist.
Ich möchte aber noch einmal auf die Aussagen unserer Justizministerin, Frau Däubler-Gmelin, zurückkommen. Diese haben bei mir Unverständnis und Ärger ausgelöst. Die Aussage, es solle eine genaue Beobachtung
der katholischen Beratungsstellen erfolgen, kann ich
wirklich nur als Mißtrauen auslegen. Wenn sie etwas
anderes meint, soll sie sich gefälligst direkter und genauer äußern. Für mich ist dies Mißtrauen gegenüber
den Frauen, die die Beratung durchführen; denn es wird
unterstellt, daß sich die Beratung qualitativ ändert: hin
zu einer Beratung im Sinne des Papstes. Ich denke, daß
dies nicht zu einer Gewissensprüfung ausarten darf.
({5})
Hierzu sollte sich einmal die Familien- und Frauenministerin Bergmann klar äußern. Sie sollte Frau Däubler-Gmelin auf die Irritationen hinweisen, die sie vielleicht nicht bewirken wollte, die ich aber aus ihren dpaMeldungen herauslese.
Die Justizministerin sollte hier einmal klar Schiff machen. Wie kann sie denn an die Öffentlichkeit gehen und
sagen, das sei rechtlich noch nicht geklärt! Ich denke,
eine Justizministerin ist dafür da, erst zu prüfen und
dann an die Öffentlichkeit zu gehen und somit für Klarheit zu sorgen. Das hat sie hier nicht getan.
({6})
Ich möchte auch, daß parteipolitischer Streit hier unterbleibt. Wir sind uns im Grundsatz alle einig, daß die
Frauen diejenigen sind, die unserer Hilfe bedürfen, und
nicht die Bischofskonferenz.
({7})
Die Selbstbestimmungsrechte der Frau müssen im Rahmen der Gesetzgebung der Frau überlassen bleiben. Sie
wird mit der schweren Entscheidung alleine gelassen; da
können wir als Politiker ihr nicht helfen.
Die F.D.P. ist mit der Entscheidung, wie sie die Bischofskonferenz und die katholische Kirche getroffen
haben, nicht einverstanden, denn die Verlierer sind die
in Not geratenen Frauen.
({8})
Für die PDS spricht
nunmehr die Kollegin Petra Bläss.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die katholischen Bischöfe haben mit
ihrer Entscheidung zur Schwangerschaftskonfliktberatung endgültig den Kompromiß zum § 218 aufgekündigt. Dieser Kompromiß ist hier im Bundestag bekanntlich nach langem und hartem Ringen zustande gekommen. Sie alle wissen, daß meine Fraktion von Anfang an
für die ersatzlose Streichung des § 218 gekämpft hat.
({0})
Der Kompromiß, der für Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt eine Pflichtberatung vorschreibt, hat die
Grenze des Zumutbaren für die Frauen unseres Erachtens ohnehin schon überschritten. Ich bin auch heute
noch der festen Überzeugung, daß der tiefe Konflikt, in
den schwangere Frauen geraten, nur von ihnen selbst zu
lösen ist. Sie brauchen dafür Unterstützung, aber, bitte
schön, selbst gewählt und ohne Bevormundung.
({1})
Nur eine Frau selbst kann letztlich entscheiden, ob sie
eine Schwangerschaft fortsetzen möchte oder nicht. Diese Entscheidung kann und darf ihr niemand abnehmen.
Dieses Selbstbestimmungsrecht und diese letztliche
Verantwortung hat ihr die katholische Kirche schon immer abgesprochen. Nun trägt sie ihre ideologischen
Auseinandersetzungen erneut auf dem Rücken der Frauen aus.
({2})
- Dafür sind Sie bestimmt Experte. - Das ist für gläubige Frauen zutiefst bedauerlich und wird hoffentlich zu
Debatten innerhalb der katholischen Kirche führen. Die
Kirche von unten hat den Bischofsbeschluß heute bereits
heftig kritisiert.
Dieser Beschluß ist für alle Frauen eine unerträgliche
Zumutung. Der Staat darf ein solches Verhalten der katholischen Kirche nicht einfach hinnehmen. Er muß die
Rechte von Frauen auch gegenüber den Bischöfen verteidigen. Die katholische Kirche wird die Beratungsscheine mit dem Zusatz ergänzen, daß diese Bescheinigungen nicht für die Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden dürfen. Damit hat sie meines
Erachtens die gesetzlich festgeschriebene Forderung
nach ergebnisoffener Zwangsberatung endgültig ad absurdum geführt.
({3})
Die katholischen Bischöfe nehmen bekanntlich in
Kauf, daß dieser Zusatz keine rechtlichen Konsequenzen
nach sich zieht. Aber trotzdem wird der Druck auf die
Frauen immens steigen. Dieser unsägliche Zusatz auf
dem Schein wird sie weiter verunsichern und demütigen.
Ebenso werden die Beraterinnen, Ärztinnen und Ärzte
verunsichert - das haben auch die Umfragen gestern
sehr deutlich gemacht -, und zwar immer zu Lasten der
betroffenen Frauen.
Das können und dürfen wir als Gesetzgeberinnen und
Gesetzgeber so nicht hinnehmen; das muß politische
Konsequenzen haben.
({4})
Wir müssen deshalb unbedingt prüfen, ob die katholischen Beratungsstellen weiterhin mit Steuergeldern finanziert werden, und in der staatlichen Schwangerschaftsberatung bleiben können.
Im letzten Herbst haben die katholischen Bischöfe in
Deutschland Schwangerschaftsabbrüche als „abscheuliche Verbrechen“ bezeichnet. Auch das dürfen wir als
Politikerinnen und Politiker nicht hinnehmen, ohne daß
dies politische Konsequenzen hat.
({5})
Denn solange der § 218 im Strafgesetzbuch steht, sehen
sich die Bischöfe mit einer solchen zutiefst frauenverachtenden Haltung von der Politik noch bestätigt. Der
sogenannte §-218-Kompromiß muß wieder auf die politische Agenda gebracht werden. Wir müssen zu einer
Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchrechts kommen, denn wir müssen endlich mit der unerträglichen
Bevormundung von Frauen Schluß machen.
({6})
Selbstbestimmung über unseren Körper und unser Leben
können wir Frauen erst erreichen, wenn der § 218 aus
dem Strafgesetzbuch verschwunden ist.
({7})
Diese Diskussion ist doch nur deshalb möglich, weil der
§ 218 noch im Strafgesetzbuch steht. Wir brauchen
schnellstens Rechtssicherheit für die betroffenen Frauen,
aber auch für die Beraterinnen und die Ärztinnen und
Ärzte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, Sie haben in der Vergangenheit, als Sie
noch in der Opposition waren, immer wieder betont, daß
auch Sie den § 218 aus dem Strafgesetzbuch streichen
wollen. Es gibt in diesem Haus mittlerweile zumindest
theoretisch eine klare Mehrheit für die Streichung des
§ 218. Deshalb fordern wir Sie auf, so schnell wie möglich eine Neuregelung des Abtreibungsrechts vorzulegen.
Sie können sich jetzt nicht mehr verstecken, weder
vor dem Bundesverfassungsgericht noch vor der katholischen Kirche. Die Frauen in diesem Land erwarten etwas von Ihnen; denn Sie sind im Herbst des letzten Jahres auch deshalb gewählt worden, weil Sie mit dieser
Forderung aufgetreten sind.
({8})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Welche politischen Konsequenzen ziehen wir
aus dem Beschluß der Katholischen Bischofskonferenz?
Das ist die heutige Frage. Ich fürchte, wir ziehen bundespolitisch keine Konsequenzen.
Die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch
oder zumindest die Abschaffung der Zwangsberatung
wären ein Weg aus dem Dilemma. Auch wenn ich weiß,
daß dies politisch nicht mehrheitsfähig ist, möchte ich
dies doch zumindest erwähnen.
Die Länder sind gefragt, politische Konsequenzen zu
ziehen. Sie haben den Schwarzen Peter, weil die Bischöfe ihren Streit mit Rom loswerden wollten. Die Länder
müssen juristisch prüfen, ob ein Beratungsschein, auf
dem ausdrücklich steht, daß er nicht zur Durchführung
straffreier Abtreibungen verwendet werden kann, den
gesetzlichen Bestimmungen entspricht.
Ich sehe nicht, daß bei dieser Position wirklich noch
von einer ergebnisoffenen Beratung gesprochen werden
kann. Dennoch: Einzelne Länder haben bereits erkennen
lassen, daß sie - besonders mit Blick auf ihre Finanzminister - mit dieser Lösung leben könnten. Nicht mit dieser „Schein-Lösung“ im doppelten Sinne des Wortes
können allerdings die Frauen, die Beraterinnen und die
Ärzte und Ärztinnen leben.
({0})
Auch wenn sich der Satz, „Diese Bescheinigung kann
nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden“, auf die Lehre der Kirche bezieht und
nicht auf staatliches Recht, werden die Frauen unter
massiven Druck gesetzt. Die katholische Kirche verschärft die Konfliktsituation der Frauen zusätzlich und
gibt es ihnen sozusagen mit Brief und Siegel, daß das,
was sie tun, Sünde ist und Strafe verdient. Das dürfen
wir nicht zulassen.
({1})
Immerhin sind zwei Drittel der ratsuchenden Frauen
in den katholischen Beratungsstellen nicht katholisch.
Die Pluralität der Beratungslandschaft bedeutet doch
nicht, daß die katholische Kirche um jeden Preis beteiligt bleiben muß. Setzt sich die Kirche selbst außerhalb
des Gesetzes, so ist politischer Handlungsbedarf gegeben.
Was machen die Frauen, wenn sie mit diesem Schein
zu einer Ärztin oder zu einem Arzt gehen, der ihnen auf
Grund des neuen Beratungsscheins den Abbruch verwehrt? Muten wir den Frauen zu, daß sie von Pontius zu
Pilatus laufen müssen? Schon jetzt warnt der Hartmannbund: „Das wäre eine illegale Abtreibung.“ Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und
Geburtshilfe, Günter Kindermann, vermutet, daß kein
Arzt das strafrechtliche Risiko eingehen werde, Abtreibungen auf Grund solcher Scheine vorzunehmen.
Aber auch die Situation der katholischen Beraterinnen hat sich immens verschärft. Zwar schreibt der Papst
in seinem Brief an die Bischöfe, daß die Beraterinnen
durch den bereits genannten Zusatz auf den Beratungsscheinen aus einer Situation befreit seien, die mit ihrer
Grundauffassung in der Frage des Lebensschutzes und
dem Ziel ihrer Beratung in Konflikt steht. Die Realität
sieht ganz anders aus: Entweder verraten die Beraterinnen jeden Tag die Lehre der katholischen Kirche und
sagen: „Es ist doch nicht so wichtig, was auf dem Schein
steht“, oder sie nehmen den Satz ernst, und dann ist die
Beratung nicht mehr ergebnisoffen.
({2})
- Das ist überhaupt nicht kompliziert, Herr Kollege.
Dieses Detail wollten die Bischöfe nicht klären, sie
haben es weggeschoben. Wenn nun die katholische Kirche von der mitgetragenen Verantwortung in den Beratungsstellen in Form des Satzes „Dein Bauch gehört dir“
Abstand nimmt, zeigt sich der ganze Zynismus, die ganze Doppelmoral dieser Männer, die immer sagen, daß
sie nur Gutes für die Frauen und die Kinder wollen.
Wie sagte Bischof Lehmann gestern noch so treffend:
Die Freiheit und die Verantwortung für diese Entscheidung liegen bei der Frau. Das hört sich gut an. Das hört
sich nach sexuellem Selbstbestimmungsrecht an, gemeint ist aber eine weitere Disziplinierung der Frauen.
({3})
Daß das Ganze in „gewisser Weise eine Provokation“
ist, hat Bischof Lehmann selbst eingestanden. Er und
seine Kollegen wissen doch genau, daß sich trotz des
von ihnen gewünschten Zusatzes Frauen für einen
Schwangerschaftsabbruch entscheiden werden. Nicht
zufällig wird in der Presse der Vergleich mit Pilatus herangezogen: dem Druck von Rom nachgeben und dabei
die eigenen Hände in Unschuld waschen. Das wird der
Situation von Frauen in Konflikten nicht gerecht.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Staat hat dafür
Sorge zu tragen, daß seine Gesetze angewendet werden.
Immerhin handelt es sich - die Kolleginnen vor mir haben es schon gesagt - beim Schwangerschaftskonfliktgesetz um einen mühevoll zustande gekommenen
Kompromiß, der 1995 über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg gefunden wurde. Dieser Kompromiß,
der den Frauen ein Mindestmaß an Selbstbestimmung
läßt, darf nicht gefährdet werden. Darum sollten in den
nächsten Tagen in aller Ruhe alle Möglichkeiten geprüft
werden. Im Zentrum unserer Überlegungen muß jedoch
die wirkliche Hilfe für die Frau stehen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Es spricht nun für
die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Dorothea StörrRitter.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Bläss - sie ist zur Zeit nicht da -, ich habe nicht das Gefühl, daß in den letzten Tagen und Wochen auf meinem
Rücken eine innerkirchliche Debatte ausgetragen worden ist.
Mit der Entscheidung des Papstes zur Schwangerschaftskonfliktberatung wurden die Bischöfe vor eine
schwierige Situation gestellt. Papst und Bischöfe wollen
- so entspricht es der Kirchenlehre - für das ganze Gottesvolk und für alle Menschen, das heißt auch für jeden
einzelnen, das Beste.
({0})
Wer in der Kirche oder in ihrem Namen eine Erklärung
abgibt, handelt deshalb in der Verantwortung und Verpflichtung gegenüber dem ganzen Gottesvolk. Deshalb
können wir, wie ich meine, sicher sein, daß sowohl der
Papst als auch die Bischöfe erst nach hartem Ringen und
ernsthaftesten Bemühungen um den wirksamsten Lebensschutz für das ungeborene Kind und die beste Hilfe
für die schwangere Mutter zu diesen ihren Entscheidungen gelangt sind.
({1})
Zwar liegt der Erklärung des Papstes eine Haltung
zugrunde, die die Argumentation der Kirche in
Deutschland zum Verbleib in der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung und den Sinn der Aufhebung
der Strafandrohung für die Frau nicht ausreichend berücksichtigt hat. Dies wird nicht nur von all denjenigen
bedauert, die sich höchstpersönlich und mit viel Engagement für die Anerkennung des weltweit einmaligen
Konzeptes des Lebensschutzes in Deutschland eingesetzt haben. Dennoch hat auch der Papst in seinem Brief
nicht den Ausstieg aus der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung verlangt.
Insbesondere Bischof Karl Lehmann ist es zu verdanken, daß sich die Deutsche Bischofskonferenz angesichts der päpstlichen Entscheidung nicht gespalten und
eine Antwort darauf gefunden hat, die wir respektieren.
({2})
Mit dieser Antwort einher geht ein neuer Beratungs- und
Hilfeplan, der voraussichtlich ab dem 1. Oktober 1999
nach erfolgter Beratung ausgehändigt werden wird und
sowohl konkrete Hilfszusagen wie auch Rechtsansprüche für schwangere Frauen enthalten wird. Beratungsstellen anderer Träger haben diese flankierenden Hilfsmaßnahmen nicht zu bieten.
({3})
Es wird auch weiterhin viele Frauen geben, die aus unterschiedlichsten Bedürfnissen gerade die kirchliche Hilfe in Anspruch nehmen wollen.
({4})
Es ist richtig, daß die Entscheidung einen juristischen
Unsicherheitsfaktor hinterläßt; diese Frage gilt es zu klären. Die Bischofskonferenz hat die Verantwortung hierIrmingard Schewe-Gerigk
für den Ländern übertragen. Es ist richtig - und derzeit
ohne Alternative -, das Ergebnis abzuwarten. Deshalb
verstehe ich auch diese Aufgeregtheiten nicht. Es ist
falsch und der Sache nicht dienlich, diese Entscheidung
der Bischöfe voreilig in einem Ton zu kommentieren,
der der Sache nicht angemessen und nur von Vorwürfen
geprägt ist.
({5})
Damit werden Ängste und Unsicherheiten erst richtig
geschürt.
Hier entsteht der Eindruck, daß Sie damit bewußt das
Aus der kirchlichen Schwangerschaftskonfliktberatung
herbeireden wollen. Sie hatten es eben schon bestätigt.
({6})
Diese negative Diskussion soll letztlich dazu führen, den
katholischen Beratungsstellen die staatliche Anerkennung und Förderung zu entziehen. Ich begrüße deshalb
noch einmal den erklärten Willen der Deutschen Bischofskonferenz, aus der Schwangerschaftskonfliktberatung nicht aussteigen zu wollen, und das große finanzielle Engagement durch die bischöflichen Hilfsfonds.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine,
wir sollten immer im Auge behalten: Die grundsätzlichen Probleme, die uns heute bei der Abtreibungsproblematik so zu schaffen machen, werden schon bald
auch in anderen Zusammenhängen und vermutlich noch
größeren Dimensionen auf uns zukommen. Ich persönlich halte es für vermessen, zu glauben, daß wir gerade
in Fragen des menschlichen Lebens auf Hilfe und Rat
der Kirchen verzichten können.
({7})
Frau Kollegin StörrRitter, dies war Ihre erste Rede in diesem Parlament. Im
Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Hauses
möchte ich Sie dazu herzlich beglückwünschen.
({0})
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr.
Christine Bergmann.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wissen
alle, wie lang und mühselig der Weg war, bis wir uns
1995 endlich auf eine gesetzliche Regelung zum Schutz
des ungeborenen Lebens einigen konnten. Es waren damals vor allem die Frauen des Deutschen Bundestages,
die über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg einen
Kompromiß fanden, der dann von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragen wurde. Das war eine
Leistung, die Frauen zustande gebracht haben; das
möchte ich hier noch einmal deutlich sagen.
({0})
Es zeigt sich nun nach Jahren der Rechtspraxis, daß diese Gesetze auch eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung gefunden haben.
In dem Gesetz ist ein Lebensschutzkonzept verankert,
in dem die Beratung der Frauen in Konfliktsituationen
eine entscheidende Rolle spielt. Es war übrigens die katholische Kirche, die damals besonderen Wert auf die
Pflichtberatung legte. Diese Schwangerschaftskonfliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens.
Sie soll ermutigen und Verständnis wecken. - So steht
es im Gesetzestext. - Sie soll nicht belehren oder bevormunden. Zu Recht weist der Gesetzgeber darauf hin,
daß die Beratung ergebnisoffen geführt werden soll;
denn er geht von der Verantwortungsbereitschaft und
von der Mündigkeit der Frau aus.
In diesem Sinne haben alle Beratungsstellen ihre Arbeit sehr engagiert geleistet, kirchliche Beratungsstellen
ebenso wie nichtkonfessionelle. Ich schließe mich dem
Dank, den Hanna Wolf hier ausgesprochen hat, ausdrücklich an.
({1})
Wir haben immer ein Interesse daran gehabt - das hat
auch der Gesetzgeber gesagt -, daß die Pluralität des
Angebotes umgesetzt wird und erhalten bleibt, weil wir
von den Frauen ausgehen: Jede Frau soll in die Beratungsstelle gehen können, in der sie sich am besten aufgehoben und vertreten fühlt. Ich kann die Vorwürfe, irgend jemand hätte ein Interesse daran, diese Pluralität,
diese Vielfalt einzuschränken, überhaupt nicht nachvollziehen. Dem ist nicht so.
({2})
- Wir wollen das jedenfalls nicht.
Die Debatte über den Verbleib der katholischen Kirche im staatlichen Beratungssystem wird schon seit Monaten geführt. Sie zieht sich schon eine ganze Weile hin.
Es gibt jetzt die Entscheidung der Bischöfe. Wir kennen
den Satz aus dem Papst-Brief, der in Zukunft auf dem
Beratungsschein stehen soll: „Diese Bescheinigung kann
nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden.“ Damit kommen einige Probleme auf
uns zu: auf den Staat, auf die Beratungsstellen und vor
allem auf die Frauen. Das ist keine Panikmache. Wer
verantwortlich mit diesem Thema umgeht, der weiß, daß
hier einiges zu klären ist.
Ich will jetzt gar nicht darüber reden, wie die Frauen,
die zwar ihre Kirche ernst nehmen, die sich aus existentieller Not heraus aber für einen Abbruch entschieden
haben, mit einem solchen Satz auf dem Schein leben
können. Das ist eine andere Frage.
Ich will auch nicht noch einmal darüber reden, was
man Beraterinnen in diesen Einrichtungen zumutet, die
einen Schein ausstellen, der Voraussetzung für einen
Abbruch ist, die den Frauen aber gleichzeitig erklären
müssen: Das, was da sonst noch draufsteht, nehmt ihr
nicht so ernst.
Was wir aber ganz dringend klären müssen - da sind
wir uns auch einig -, das sind die rechtlichen Fragen.
Die erste Frage ist: Ist der Schein, der Voraussetzung für
Straffreiheit ist, mit diesem Zusatz noch anzuerkennen?
Denn eigentlich steht auf dem Schein: Dieser Schein ist
kein Schein.
({3})
- Klar, das ist auch ein rechtliches Problem.
Die zweite Frage ist: Ist die Beratung noch als ergebnisoffen einzuschätzen? Dazu sage ich gleich auch noch
etwas.
Die dritte Frage ist: Was sind die Konsequenzen für
die Länder?
Es gibt viel Verunsicherung. Es gibt Verunsicherung
bei den Frauen; es gibt sie bei den Ärzten; es gibt sie bei
den Beraterinnen. Das war den Bischöfen auch klar.
Nicht umsonst spricht Bischof Lehmann, der sich hier
wirklich sehr bemüht hat, von einem gewissen „Unbehagen“, das mit dieser Entscheidung sicher aufkommt.
Unbehagen ist aber noch eine milde Formulierung. Es
gibt schlichtweg Unsicherheit. Hier muß sehr schnell
rechtliche Klarheit geschaffen werden, weil wir nicht
wollen, daß es neuerliche Auseinandersetzungen gibt,
die wieder auf dem Rücken der Frauen ausgetragen
werden. Die Hauptleidtragenden sind immer die Frauen.
Sie brauchen Hilfe und Verständnis, aber keine neuerlichen Debatten.
Die rechtlichen Fragen sind noch nicht eindeutig geklärt. Es geht ja nicht nur um die Frage der Straffreiheit.
Es muß klar sein, daß im Sinne des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ergebnisoffen beraten wurde. Das sage
ich auch Ihnen noch einmal, Frau Lenke. Dies meint
auch die Justizministerin, wenn sie darauf hinweist, daß
der Zusatz ein Problem darstellt. Es muß auf dem Beratungsschein dokumentiert sein, daß §§ 5 und 6 Schwangerschaftskonfliktgesetz wirklich erfüllt sind. Das ist
kein Mißtrauen; das ist einfach Voraussetzung für die
rechtliche Sicherheit.
({4})
In den Ländern werden rechtliche Prüfungen durchgeführt, übrigens auch in Baden-Württemberg und in
Bayern, weil sich jeder, der sich dem Thema verantwortlich stellt und neue Unsicherheit und neue Debatten
verhindern will, dies natürlich genau anschaut. Wir werden uns wahrscheinlich schon in der nächsten Woche
mit den Ministerinnen und Ministern der Länder zusammensetzen, um alle anstehenden Fragen zu klären.
Auch beabsichtige ich, mit Vertreterinnen der Beratungsstellen zusammenzutreffen; denn alle brauchen Sicherheit: die Beratungsstellen, die Ärzte, vor allem aber
die Frauen. Sie brauchen mehr als rechtliche Sicherheit.
Sie brauchen Hilfe und Verständnis in ihrer schwierigen
Situation. Sie brauchen Hilfe und Verständnis bei der
Entscheidungsfindung, aber auch dann, wenn sie sich,
aus welchen Gründen auch immer, nicht für ein Kind
entscheiden können. Sie brauchen Unterstützung durch
eine verläßliche Familienpolitik, damit sie sich für ein
Kind entscheiden können. Hier haben wir sehr viel
nachzuholen. Wir sind aber auf einem guten Weg und
hoffen, daß wir noch einiges auf die Reihe bringen werden.
Danke.
({5})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ministerin hat hier eben ausgeführt, daß wir alle juristischen Konsequenzen aus dieser veränderten ScheinLösung der katholischen Kirche prüfen müssen. Aber
jenseits all dieser juristischen Finessen hat uns doch die
Konfliktscheu der Bischöfe mit diesem leidigen und sehr
schwierigen Thema wieder ohne Not in eine komplizierte Situation gebracht.
Die katholische Kirche ist im Zwiespalt: Sie will den
Gehorsam gegenüber Rom, und sie will weiterhin in der
gesetzlichen Schwangerenberatung bleiben, wo sie bisher eine hervorragende Arbeit geleistet hat. Mir selber
war das plurale Angebot immer sehr wichtig. Es ist notwendig, daß gläubige katholische Frauen eine Institution
ihres Vertrauens haben, die sie unterstützt. Aber mit dieser Schein-Lösung der Bischöfe ist doch im Grunde genommen ein dreifacher Verrat begangen worden: erstens
ein Verrat an den Frauen, denen man eine offene Beratung verspricht, und denen man dann bescheinigt, daß
der Schein nichts wert ist, zweitens am Gesetz, das eindeutig eine ergebnisoffene Beratung verlangt, und drittens an Rom, mit dem man den Konflikt vermeiden will,
indem man den Ukas akzeptiert, aber augenzwinkernd
dem Gesetzgeber, den Beraterinnen, den Ärzten und den
ungewollt schwangeren Frauen signalisiert, daß es gar
nicht so gemeint sei. Ich sage das nicht mit Häme, sondern mit Bedauern: Das tut dieser moralischen Instanz
katholische Kirche wirklich nicht gut. Es tut ihr in dieser
Zeit nicht gut, es tut ihr grundsätzlich nicht gut. Es ist
ein großer Fehler in bezug auf ihre Glaubwürdigkeit.
({0})
Die „FAZ“ hat, wenn auch mit einer anderen Intention, aber doch mit meiner vollen Zustimmung geschrieben:
Das ist keine Doppelmoral, dafür gibt es keine
Worte mehr.
So empfinde ich es auch.
Frau Störr-Ritter, wir wollen die Kirche nicht aus der
Beratung heraus haben. Wir wollen sie in der Beratung
haben und finden, daß diese gute Beratung weitergeführt
werden muß. Aber daß jetzt Bischof Lehmann den Spieß
herumdreht und sagt, daß eventuell gerichtliche Schritte
eingeleitet werden und die Länder versuchen, diesen
unwürdigen Schein der Kirche nicht anzuerkennen und
damit die Anerkennung der Beratungsstellen und ihre
Finanzierung auf dem Spiel stehen. Das ist aber doch
nicht unser Problem; das hat der Bischof mit seiner Konferenz vielmehr selber so produziert. Wir wollen das
nicht.
({1})
Die Last der Frauen wird verdoppelt: Zum Konflikt
mit der ungewollten Schwangerschaft, den sie sowieso
schon haben, kommt ein Konflikt durch den Schein hinzu, der impliziert, daß sie nicht straffrei abtreiben dürfen, obwohl sie in Not sind und abtreiben wollen. Da
wäscht die Kirche ihre Hände auf Kosten der Rechtssicherheit und auf Kosten dieser ungewollt schwangeren
Frauen, die ihre Hilfen wollen, in Unschuld.
({2})
Das Schlimme daran ist, daß wir wieder da sind, wo
wir hergekommen sind und wo wir nicht mehr hinwollten: Die bundeseinheitliche Praxis wird aufgebrochen;
es wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche
Auslegungen geben; in Ost und West, Nord und Süd
werden wir für die Frauen, für die Ärztinnen und Ärzte
sowie für die Beraterinnen unterschiedliche Verhältnisse
haben. Das muß man eigentlich vermeiden.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Kirche soll in
der Schwangerschaftskonfliktberatung bleiben. Sie muß
aber zu ihren Bedingungen bleiben können. Hier spielt
das Verhältnis zwischen Staat und Kirche eine Rolle,
das wir in unserer Verfassung festgelegt haben. Sie
räumt der Kirche einen eigenen Raum ein. Der Staat hat
in diesen Raum nicht hineinzuregieren. Das muß man,
so meine ich, bedenken, wenn man über diese Frage diskutiert.
({0})
Es gibt innerhalb der katholischen Kirche Bedenken
hinsichtlich der Beteiligung der Kirche an der Schwangerschaftskonfliktberatung durch Beratungsstellen, so,
wie sie das Gesetz vorschreibt. Diese Bedenken hat die
Bischofskonferenz am 25. September 1995, nachdem
der Bundestag das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz Ende Juni 1995 erlassen hatte, formuliert.
Seit dieser Zeit gibt es eine Diskussion über die Frage,
ob die Kirche in der Schwangerschaftskonfliktberatung
gemäß den §§ 5 bis 7 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes verbleiben kann.
Es gibt innerhalb der deutschen Kirche und zwischen
der deutschen Kirche und Rom eine Diskussion darüber.
Das ist richtig. Es gibt drei Briefe des Papstes. Auch das
ist richtig und allgemein bekannt. Dabei geht es aber
immer um die Kernfrage: Kann die Kirche nach ihren
Bedingungen in der Beratung bleiben? Hier gibt es für
die Kirche drei Probleme. Diese bitte ich einmal zu bedenken.
Das erste Problem, das in § 218 Abs.1 Ziffer 1 Satz 1
des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes
aus dem Jahre 1995 auftaucht, ist die Frage der straffreien Abtreibung, damit verbunden das Beratungskonzept
und in der Folge die Vorlage des Scheins, der notwendig
ist, um eine straffreie Abtreibung zu ermöglichen. Es
gibt und gab in der Kirche schon immer Bedenken darüber, ob die kirchlichen Beratungsstellen einen solchen
Schein ausstellen können und sich damit in den Prozeß
einfügen lassen können, der zu einer straflosen Abtreibung führt, die die Kirche ablehnt.
Der zweite Punkt betrifft die im Gesetz normierte
letzte Entscheidungsbefugnis der Frau. Im Verständnis
der katholischen Kirche gibt es für niemanden eine
letzte Entscheidungsbefugnis über das Lebensrecht eines
anderen. Das kann es nach dem Selbstverständnis der
katholischen Kirche nie geben.
({1})
Damit hat die Kirche mit der Beteiligung an der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung Probleme. Das
muß man einmal sehen und, wie ich meine, einfach respektieren. Die Bischöfe haben es sich nun wirklich
nicht leichtgemacht.
Das dritte Problem - es ist hier schon angesprochen
worden und gehört in diesen Zusammenhang - ist die
sogenannte ergebnisoffene Beratung. Wenn man darunter versteht, daß letztendlich die Frau die Entscheidung
treffen muß, dann ist das wohl akzeptabel. Aber wenn
man darunter versteht, daß sich die kirchlichen Beratungsstellen nicht eindeutig für das Recht des Kindes auf
Leben entscheiden dürfen - im Konfliktfall auch gegen
die Interessen der Mutter -, dann würde das zur Konsequenz haben, daß die Kirche nicht ergebnisoffen beraten
könnte. Die Kirche kann nie von ihren eigenen Prinzipien abweichen. Das muß man verstehen.
Trotz dieser Bedenken haben die Bischöfe beschlossen, daß die Kirche in der staatlichen Beratung bleibt,
aus der sehr respektablen Überlegung heraus, mit einem
Verbleiben in der staatlichen Beratung weiterhin Leben
retten zu können. Eine Ausnahme ist Fulda, das konsequenterweise anders vorgegangen ist. Das ist ein anderes
Kapitel. Hier gibt es eine andere Betrachtungsweise.
Der Kirche ging es pausenlos darum, daß ihr Engagement für das ungeborene Leben, wie es der Papst in
seinem Brief vom Januar 1998 fordert, nicht verdunkelt
wird. Das war das Problem der Bischöfe. Deswegen
haben die Bischöfe am 25. Februar dieses Jahres - also
noch vor dem jetzigen Papst-Brief - erklärt, daß folgende Formulierung in den Beratungsschein aufgenommen
wird - ich zitiere -:
Die Aushändigung dieses Beratungs- und Hilfeplans bedeutet keine Akzeptanz des Schwangerschaftsabbruchs.
Die Kirche kann den Schwangerschaftsabbruch nicht
akzeptieren. Nach der Auffassung der Kirche ist ein solcher Abbruch ein schweres Unrecht. Die Berücksichtigung dieser Auffassung durch den Staat ist die Voraussetzung, unter der die Kirche in der staatlichen Beratung
verbleiben kann. Ich bitte Sie darum, dies bei Ihren
Überlegungen zu berücksichtigen.
Es steht außer Frage, daß die Kirche im Sinne des
Lebensschutzes, wie es unsere Verfassung vorschreibt,
berät. Es gibt keine andere Institution in Deutschland,
die im Sinne der Verfassung mehr für den Lebensschutz
berät als die Kirche. Deswegen habe ich auch gar keine
Bedenken.
({2})
Für die jetzige Regelung des Schwangerschaftsabbruchs mag es momentan Mehrheiten geben, die aber
übermorgen ganz anders aussehen können. Entscheidend
ist die Verfassung. Die Kirche berät im Sinne der Verfassung für das ungeborene Leben. Deswegen habe ich
keine Bedenken. Ich rate Bischof Lehmann, sofort eine
Klage anzustrengen, wenn irgend jemand auf den Gedanken kommen sollte
Kollege Geis, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
- Entschuldigung, ich
bin sofort fertig; ein letztes Wort -, den katholischen
Stellen die Erlaubnis zur Beratung, die durch das
Schwangerschaftskonfliktgesetz ermöglicht wird, zu
entziehen. Nach meinem Verständnis der Verfassung bin
ich mir sicher, daß diese Klage eindeutig zugunsten der
Kirche ausgeht.
Danke schön.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor wir in der Rednerliste fortfahren,
möchte ich Ihnen das Ergebnis der Wahl der Mitglie-
der für das Parlamentarische Kontrollgremium mit-
teilen.*) Abgegebene Stimmen 594. Alle sind gültig,
Enthaltungen keine. Von den gültigen Stimmen entfielen
auf die Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier 547 Stimmen, auf den Abgeordneten Volker Neumann ({0}) 548 Stimmen, auf den Abgeordneten Dr. Willfried
Penner 554 Stimmen, auf den Abgeordneten Ludwig
Stiegler 531 Stimmen, auf den Abgeordneten Erwin
Marschewski 507 Stimmen, auf den Abgeordneten
Hartmut Büttner ({1}) 534 Stimmen, auf den
Abgeordneten Wolfgang Zeitlmann 478 Stimmen, auf
den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele 329 Stimmen, auf den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
546 Stimmen und auf die Abgeordnete Ulla Jelpke 73
Stimmen.
Die Abgeordneten Anni Brandt-Elsweier, Volker
Neumann ({2}), Dr. Willfried Penner, Ludwig
*) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Stiegler, Erwin Marschewski, Hartmut Büttner ({3}), Wolfgang Zeitlmann sowie Dr. Edzard SchmidtJortzig sind damit gewählt. Sie haben die nach § 4
Abs. 4 des Gesetzes über die Parlamentarische Kontrolle
nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderliche Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Sie sind damit
als Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums
gewählt.
Wir setzen jetzt die Aktuelle Stunde fort. Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christine Lehder, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir lassen
Sie nicht allein!“ - so lautete das Motto einer Schwerpunktaktion zur Schwangerenkonfliktberatung, die im
Dezember 1998 im Bistum Limburg gestartet wurde.
Diese lebensnahe Idee hatte der Limburger Bischof
Franz Kamphaus selbst. Den Entschluß zu dieser Aktion
faßte er nach monatelangem Austausch mit Mitarbeiterinnen der bistumseigenen Beratungsstellen und nach
vielen Gesprächen mit Frauen, die abgetrieben hatten
oder diesen Schritt erwogen. Dabei sei ihm klargeworden, welche große Bedeutung seine Beratungsstellen für
Frauen in Konfliktsituationen hätten.
Deswegen finde ich die lebensferne Entscheidung des
Papstes sehr traurig, die Schwangerschaftskonfliktberatung der katholischen Kirche in Verbindung mit der
Ausgabe des Beratungsscheins abzulehnen. Dieser Forderung folgend faßte nun die Deutsche Bischofskonferenz einen Beschluß, den ich als absolut scheinheilig bezeichnen möchte.
({0})
Jetzt sollen doch tatsächlich die katholischen Beratungsbescheinigungen mit dem Vermerk versehen werden,
daß diese nicht mehr zum straffreien Schwangerschaftsabbruch verwendet werden können. Damit wird der
Schwarze Peter der Entscheidung voll und ganz auf die
Frauen und den Staat abgeschoben; auch die Beraterinnen in den Beratungsstellen werden damit verunsichert.
Hat sich nicht vor ein paar Jahren eine Mehrheit des
Deutschen Bundestages dafür entschieden, den betroffenen Frauen weniger Strafe, sondern mehr Hilfe anzubieten? Daraus ergibt sich nämlich die Möglichkeit einer
straffreien Schwangerschaftsunterbrechung nach eingehender Beratung. Der Schutz des ungeborenen Lebens
kann nur mit der Mutter gemeinsam, nicht aber gegen
die Mutter gewährleistet werden. Nur die Frau selbst
sollte wirklich darüber entscheiden können. Ihre Persönlichkeit und ihre Gewissensentscheidung wurden in
diesem Parlamentsbeschluß respektiert.
({1})
Im Papstbrief an die Bischöfe ist hingegen von den
betroffenen Frauen und ihrer Persönlichkeit und freien
Gewissensentscheidung kein einziges Mal die Rede.
Wer diesen Frauen nun die ergebnisoffene Beratung
verweigert und damit versucht, das ungeborene Leben
zu schützen, der verschließt die Augen vor der gesellNorbert Geis
schaftlichen Realität. Man muß respektieren, daß man
nicht über den Willen einer Frau verfügen, sondern ihr
nur helfen kann.
({2})
Bundesweit gibt es insgesamt 1 700 Beratungsstellen,
davon 270 von der katholischen Kirche. Allein im Jahr
1997 wurden insgesamt 20 097 schwangere Frauen in
Deutschland beraten. Dabei leisteten die katholischen
Beratungsstellen - das muß man wirklich sagen - bisher
einen fachlich und menschlich hochqualifizierten Beitrag.
({3})
Die zukünftige katholische Beratungsarbeit dagegen
wird viele Frauen ohne Hilfe und Orientierung lassen.
Sie werden in tiefe moralische Konflikte gestürzt, sollten sie bei ihrem Beschluß zum Schwangerschaftsabbruch dem Arzt den neuen Beratungsschein vorlegen.
Dann wäre nämlich die Verwendung des Scheines im
Sinne der katholischen Kirche mißbräuchlich.
Für die Frauen aus den neuen Bundesländern - und
das betrifft auch mich - bedeutete die Einführung der
Schwangerschaftskonfliktberatung durch die bundesdeutsche Gesetzgebung ohnehin einen massiven Eingriff
in unser bis dato gewährtes Selbstbestimmungsrecht.
({4})
- Darauf können wir gerne noch einmal eingehen, Frau
Rönsch. - Zwar ist die Zahl der katholischen Beratungsstellen in den neuen Ländern mit 33 - davon sechs in
meiner Heimat Thüringen - im Vergleich zum gesamten
Bundesgebiet gering, Dennoch ist die Kirche durch ihre
Hilfe und ihre Beratung für schwangere Frauen auch bei
uns in den neuen Bundesländern unentbehrlich geworden. Um so unverständlicher erscheint es dann, daß der
innerkirchliche Streit männlicher Würdenträger nunmehr auf dem Rücken hilfesuchender Frauen ausgetragen wird.
Für mich ist unerträglich, wie die katholische Amtskirche durch die von ihr provozierte Diskussion und den
nun von ihr gefundenen - in meinen Augen sehr
schlechten - Kompromiß Frauen in Schwangerschaftskonflikten verunsichert. Das kann in keinem Fall dem
Lebensschutzkonzept dienen. Es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, daß die Beratungen für
Frauen in Konfliktsituationen unbedingt ergebnisoffen
bleiben müssen. Jedoch ist das nunmehr mit dem Vermerk auf dem Beratungsschein hinfällig. Ich gehe sogar
so weit und sage zum Schluß: Wenn diese ergebnisoffenen Beratungen nicht mehr - wie wir es im Interesse der
katholischen Frauen wünschen - mit der katholischen
Kirche möglich sind, dann eben ohne diese Kirche.
({5})
Das Ergebnis der Bischofskonferenz vom gestrigen Tage zeigt bedauerlicherweise, daß die katholische Kirche
in diesem sozialen Bereich für unseren Staat nun leider
kein verläßlicher Partner mehr ist. Ich finde das sehr
schade.
({6})
Frau Kollegin Lehder, auch für Sie war das die erste Rede hier im Plenum
des Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Sie dazu recht herzlich
beglückwünschen.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Hannelore Rönsch.
Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, dieses
für uns alle sehr ernste und für viele bedrückende Thema
verdient teilweise eine andere Sprache. Wer Frauen in
Konfliktsituationen, in einer schwierigen Lebensphase
helfen will, der braucht Nachdenklichkeit. Wer Sicherheit und Hilfe geben will, der muß gemeinsame Lösungswege vorschlagen und darüber nachdenken, wie
man mit dem umgeht, was uns jetzt vorliegt.
Ich begrüße sehr nachdrücklich, daß die deutschen
Bischöfe nach langem und schwerem Ringen eine Antwort gefunden haben, die die Weisung, den Brief des
Papstes, für uns jetzt handhabbar macht. Ich denke
schon, daß dieser Nachsatz die innere Haltung der katholischen Kirche widerspiegelt. Aber ich meine auch,
daß wir alle - in der Politik, in der Bevölkerung, katholisch, evangelisch - diese Haltung zu respektieren haben.
({0})
Ich fordere Sie sehr nachdrücklich dazu auf.
Wir in der Politik sind jetzt aufgefordert, Wege aufzuzeigen, wie die Beratungsbescheinigung mit diesem
Zusatz im Sinne der strafrechtlichen Vorschriften auch
in der Zukunft anerkannt werden kann. Lassen Sie uns
doch gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen!
Frau Dr. Bergmann, Sie haben gleich mitgeteilt, daß
Sie diejenigen, die dafür in Zukunft Verantwortung tragen, innerhalb kurzer Zeit zusammenrufen wollen. Ich
glaube, daß dies ein guter Weg ist. Ich halte nichts von
der Vorgehensweise der deutschen Ärzteschaft, die gestern unmittelbar nach der Pressekonferenz der Bischöfe
die Meinung vertreten hat, diese Beratungsbescheinigung genüge nicht den strafrechtlichen Vorschriften. Die
Juristen sehen das zu einem großen Teil wesentlich anders.
({1})
Der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Caesar, hat sofort gesagt: In seinem Bundesland genügt das. Andere
Justizminister werden folgen.
Um die Unsicherheit, die bei Frauen auftreten kann
und die vielleicht auch in den Beratungsstellen, unter
den Beraterinnen und Beratern, vorhanden ist, umgehend abzustellen, sind die Bundesländer und das Bundesfamilienministerium aufgefordert, unmittelbar etwas
zu unternehmen.
An dieser Stelle will ich einfügen: Für uns ist
Schwangerschaft - die Entscheidung für das Leben oder
die Entscheidung für einen Abbruch - immer eine Frage
nicht nur der Frauen, sondern auch der Männer.
({2})
- Auch die katholische Kirche, die sich mit der Ethik
und dem Leben beschäftigt, dürfen wir von dieser Diskussion nicht ausschließen, Frau Kollegin Wolf.
Es hat sich heute in der Diskussion gezeigt, daß Kolleginnen wieder ein Vehikel gefunden haben, um die
durchaus nicht immer geliebten Beratungsstellen der
katholischen Kirche ein Stück an den Rand der Beratungen zu drängen.
({3})
- Ich habe nicht die Absicht, Frau Dr. Höll, auf Ihre
Zwischenrufe einzugehen. Aber ich empfehle jedem, der
das anders sieht, einmal die Protokolle nachzulesen.
Daß meine unmittelbare Vorrednerin zu dem Schluß
kommt „Dann eben ohne die katholische Kirche“, zeigt,
wohin der Weg führt und daß man jetzt wieder Möglichkeiten gefunden hat, katholische Beratungsstellen in
die Diskussion zu bringen.
Frau Kollegin Wolf, Ihnen empfehle ich, ganz einfach einmal in Statistiken nachzuschauen, wie und wie
oft in katholischen Beratungsstellen beraten wird. Sie
haben gesagt, die Zahl der Beratungen nimmt ab. Dies
trifft nicht zu.
({4})
- Es genügt ein Blick in die Statistik. Die Zahl der Beratungen zwischen 1993 und 1996 ist um 33 Prozent angestiegen, und im Jahr 1997 stieg sie noch einmal um
1,5 Prozent.
({5})
- Liebe Frau Kollegin Nickels, mir liegen die Zahlen für
das Jahr 1998 noch nicht vor. Aber auch in diesem Jahr
wird die Beratung weiter kontinuierlich fortgelaufen
sein.
({6})
Aber da die Zahlen noch nicht vorliegen, hat keiner das
Recht zu sagen, in katholischen Beratungsstellen nehme
die Zahl der Beratungen ab.
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten alle Möglichkeiten ausschöpfen, damit die Pluralität
der Beratung in der Bundesrepublik Deutschland auch
weiterhin gewährleistet wird.
({7})
Wir sollten sicherstellen, daß die katholischen Beratungsstellen, in denen Frauen in schwierigen Lebenssituationen, die sich genau diese Beratungsstellen ausgesucht haben, Informationen und Hilfestellungen für ihre
Konfliktsituation erhalten, nicht durch das Gezerre der
Politik an den Rand gedrängt werden. Lassen Sie uns
gemeinsam einen Weg finden, wie wir hier weiterhelfen
können.
({8})
Das Wort hat jetzt
für die SPD-Fraktion die Kollegin Renate Gradistanac.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tickermeldung vom 23. Juni 1999 gestand der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Karl Lehmann, „die neue Regelung
könne Unbehagen oder Unverständnis auslösen“. Stimmt! Es gibt wieder keine klare und eindeutige Entscheidung zugunsten der Frauen.
So ist in der Erklärung des Ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz zu lesen, daß die Forderung
des Papstes, Beratungsscheine künftig mit einem Zusatz
zu versehen, umgesetzt werden soll. Dieser Zusatz soll
lauten:
Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung
straffreier Abtreibungen verwendet werden.
Dies wäre dann die zweite Einschränkung, die die
katholische Kirche machen würde. Schon bisher steht in
den Richtlinien für die katholischen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen:
Die Aushändigung dieses Beratungs- und Hilfeplans bedeutet keinerlei Akzeptanz eines Schwangerschaftsabbruchs.
Die kritische Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem am 25. August 1995 verkündeten Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz ist nicht neu.
Schon damals hat die katholische Kirche angekündigt,
daß sie sich mit diesem Gesetz nicht abfinden wird.
Im Januar 1998 wird öffentlich, daß der Papst in einem Brief erklärt hat, er wolle die Bestätigung für die
Beratung, die auch Voraussetzung für eine straffreie
Abtreibung ist, in den katholischen Beratungsstellen
nicht dulden. Das kam einem Affront gleich, waren es
doch die katholischen Bischöfe, die bei der gesetzlichen
Neuordnung des § 218 auf die Pflichtberatung von Frauen in Schwangerschaftskonflikten gedrungen haben.
Hannelore Rönsch ({0})
Diese verpflichtende Beratung wurde aufgenommen,
und so konnte nach zähem Ringen mit breiter parlamentarischer Mehrheit ein Gruppenantrag verabschiedet
werden. Ein tragfähiger Kompromiß über Parteigrenzen
hinweg wurde gefunden.
({1})
Wir waren zufrieden.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzten
sich seit den 20er Jahren im Parlament für eine Fristenlösung ein. Nun haben wir ein Gesetz, das die Würde
der Frau wahrt, die eigene Entscheidung der Frau respektiert und auch dem werdenden Leben Schutz und
Entwicklungschancen garantiert. Außerdem bringt es
erstmals im vereinigten Deutschland Rechtssicherheit
für die betroffenen Frauen in Ost- und Westdeutschland,
für die Ärztinnen und Ärzte und für die Beraterinnen
und Berater.
Nun muß nach dem gestrigen unklaren Ergebnis der
Bischofskonferenz zum Verbleib in der staatlichen
Schwangerschaftkonfliktberatung geprüft werden, ob
sich eine rechtliche Konsequenz aus dem geforderten
Zusatz zu den Beratungsbescheinigungen ergibt.
Meine Damen und Herren, unabhängig vom Ausgang
dieser Nachprüfung stelle ich mit großem Bedauern fest,
daß die katholische Kirche die Frauen offensichtlich moralisch unter Druck setzt und zur zusätzlichen psychischen Belastung der Frauen beiträgt. Welchen Auftrag
hat denn die katholische Kirche in unserer Gesellschaft
noch, wenn sie Frauen in Konfliktsituationen nicht zur
Seite steht?
Vielen Dank.
({2})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Anni Brandt-Elsweier,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Hilfe statt Strafe - das war
der Leitsatz, der das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz des Jahres 1995 letztlich prägte. Über
diese Hilfen umfassend zu informieren und zu beraten
ist Aufgabe der Schwangerschaftsberatungsstellen, deren Träger unter anderem in weiten Bereichen auch die
katholische Kirche ist.
Nun soll der damals mühsam gefundene Kompromiß
wieder in Frage gestellt werden, weil der Papst der Meinung ist, daß der Beratungsschein, der zugleich notwendiges Dokument für eine straffreie Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft ist, in dieser
Funktion - ich betone: in dieser Funktion - von den katholischen Beratungsstellen nicht ausgestellt werden
kann.
Bereits das erste Schreiben des Papstes vom 11. Januar 1998 verdeutlichte dessen Forderung an die katholischen Bischöfe, im Text des Beratungsscheins klarzustellen, daß er nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden könne.
In diesem Sinne haben sich nun die deutschen Bischöfe auch entschieden. Der Zusatz auf dem Schein ist
hier mehrfach zitiert worden; ich brauche ihn nicht zu
wiederholen. Meines Erachtens entspricht dies nicht
mehr den gesetzlichen Anforderungen des § 219 StGB,
der letztlich von einer ergebnisoffenen Beratung ausgeht. Schon zeichnen sich widersprüchliche Meinungen
zur Auslegungsfähigkeit des neuen Wortlautes ab. Dies
führt zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit. Das wollen wir nicht.
({0})
Mit dieser „Schein-Lösung“ ist der Schwangeren in
einer Konfliktsituation nicht geholfen. Es ist fraglich das sage ich als Juristin -, ob dies nicht faktisch auch einen Ausstieg aus der gesetzlichen Konfliktberatung bedeutet. Dies wird zu prüfen sein.
Auf diese Weise hat sich nun die katholische Kirche
zunächst einmal geschickt aus der Affäre gezogen. Mir
kommt sie dabei vor - er ist schon einmal genannt worden - wie Pilatus, der seine Hände in Unschuld wäscht
und anderen die Schuld für seine Taten zuschiebt. Denn
jetzt ist es der Arzt bzw. die Schwangere, die für einen
eventuellen Schwangerschaftsabbruch geradestehen
müssen, und die Kirche stiehlt sich aus ihrer Verantwortung.
Sie muß sich allerdings fragen, sehr geehrter Herr
Kollege Geis, wenn ihr Schein trotz des Wortlauts doch
für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch benutzt
wird, also seine Funktion behält, ob nicht der Gewissenskonflikt weiter bestehenbleibt. Wenn ich beide
Papst-Briefe lese, habe ich da meine Zweifel.
({1})
Ich habe als Katholikin schon früh gelernt, daß Christus sich gerade für die Mühseligen und Beladenen eingesetzt hat. Ich frage Sie: Sind damit nicht gerade die
Frauen gemeint, die in seelischer Not, in einer Konfliktsituation besonders dann die Hilfe ihrer Kirche dringend
benötigen?
({2})
Hier läßt sie die katholische Kirche in dieser Situation
allein.
Was Frauen in schwerer Gewissensnot erleiden, ist
für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Aber die gesetzlich vorgeschriebene Pflichtberatung ist die große
und oft einzige Chance, Frauen zu erreichen, die vielfach in Unkenntnis im Abbruch der Schwangerschaft
den einzigen Ausweg sehen. Dies zeigt der Erfolg der
katholischen Beratungsstellen auch sehr deutlich.
Im Bistum Speyer zum Beispiel verzichteten von Anfang an 15 Prozent der beratenen Frauen auf die Ausstellung des Scheins, und aus Gesprächen mit dem örtliRenate Gradistanac
chen Sozialdienst katholischer Frauen in Neuss weiß
ich, daß zahlreiche Frauen nach der Beratung auf den
Abbruch verzichten, wenn sie über die Hilfen ausreichend informiert worden sind. Deswegen teile ich die
öffentlich betonte Auffassung des SkF Neuss, die besagt, daß ein Ausstieg aus der gesetzlichen Konfliktberatung in der Tat bedeuten würde, daß sich die Kirche
künftig am Tod all jener Kinder mitschuldig macht, die
bisher auf Grund der Beratung vor der Abtreibung bewahrt werden konnten. Im letzten Jahr waren dies bei
allen katholischen Beratungsstellen bundesweit immerhin 5 000 Kinder.
Ich schließe mich deshalb dem Appell all derer an,
die die Verantwortlichen auffordern, nicht aus der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung auszusteigen, sich ihrer Verantwortung für schwangere Frauen zu
stellen und den katholischen Beratungsstellen eine Fortsetzung ihrer sinnvollen und unverzichtbaren Arbeit zu
ermöglichen.
({3})
Die Aktuelle Stunde
ist damit beendet. Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
({0})
- Drucksachen 14/873, 14/1066 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Klaus
Grehn, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Wiederherstellung des Interessenausgleichs zwischen Arbeitslosen und Beitragszahlern - Interessenausgleichsgesetz ({2})
- Drucksache 14/208 ({3})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({4})
- Drucksache 14/1205 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor, über den wir im Anschluß an die Aussprache namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
spricht zunächst der Parlamentarische Staatssekretär im
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Gerd
Andres.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Das Zweite Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch, das Ihnen
heute zur Beschlußfassung vorliegt, ist ein wichtiger
Baustein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Das Gesetz ergänzt die erfolgreichen Sofortmaßnahmen, die die
Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt zur Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt auf den Weg
gebracht hat.
In einem ersten Schritt haben wir das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt. Im Mai nahmen
101 000 junge Männer und Frauen an Sofortmaßnahmen
des Programms teil. Bis Ende Mai sind 141 792 Jugendliche in Maßnahmen des Sofortprogramms eingetreten.
Das ist ein voller Erfolg, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({0})
Als zweiten Schritt haben wir die Mittel, die für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen, deutlich
erhöht, um schnell und gezielt helfen zu können, wo es
nötig ist, aber auch um eine Verstetigung und Verläßlichkeit der Arbeitsmarktpolitik zu erreichen. Hier
mußten wir auch auf das Hochfahren arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen im Wahljahr 1998 reagieren.
Auch mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf
sollen kurzfristig Maßnahmen umgesetzt werden, die im
Interesse der vielen arbeitslosen Menschen in unserem
Lande liegen und zu einer Verbesserung ihrer persönlichen Lage und der Situation auf dem Arbeitsmarkt beitragen können. Nach Auffassung der Bundesregierung
müssen die Weichen in der Arbeitsmarktpolitik neu gestellt werden. „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“
und „Vorfahrt für mehr Beschäftigung“ sind unsere
zentralen Ziele. Hierzu muß auch das Arbeitsförderungsrecht in dieser Legislaturperiode umfassend überarbeitet
werden. Dies wird aber sorgfältig und unter Einbeziehung aller am Arbeitsmarkt Beteiligten geschehen. Hier
und heute geht es darum, die Probleme, bei denen wir
einen dringenden Handlungsbedarf sehen, sofort anzupacken und nicht auf die lange Bank zu schieben.
Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf hat drei
Schwerpunkte.
Erstens. Die aktive Arbeitsmarktpolitik soll effizienter und zielgenauer werden. Die Leistungen der Arbeitsförderung sollen da ankommen, wo sie gebraucht
werden. Deshalb geht es insbesondere darum, diejenigen
zu unterstützen, die es schwer haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Zweitens. Die Arbeitsämter sollen von überflüssiger
Verwaltungsarbeit und Bürokratie entlastet werden. Die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsämtern
leisten unter hohem Arbeitsdruck hervorragende Arbeit.
Sie haben Anspruch darauf, daß ihr Engagement nicht
durch Vorgaben blockiert wird, bei denen Aufwand und
Ertrag in keinem Verhältnis stehen.
Drittens schließlich wollen wir mit diesem Gesetz
auch soziale Härten beseitigen, die mit der Arbeitsförderungsreform der früheren Bundesregierung verursacht
wurden. Arbeitslose haben ein Recht darauf, daß man
fair mit ihnen umgeht.
({1})
Mit der verbesserten und zielgenauen Ausrichtung
der aktiven Arbeitsförderungsleistung wollen wir insbesondere die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen, älteren Arbeitslosen, aber auch von solchen Arbeitslosen erleichtern, denen Langzeitarbeitslosigkeit
droht. Diese Arbeitslosen gehören zu den Hauptzielgruppen der Arbeitsmarktpolitik. Ihre Integration in reguläre Beschäftigung ist besonders schwierig, so daß
vielen von ihnen Dauerarbeitslosigkeit droht. Dem wollen wir durch flexiblere und besser auf die besonderen
Vermittlungsprobleme dieser Personengruppen abgestimmte Arbeitsförderungsleistungen frühzeitig entgegenwirken. Damit leisten wir zugleich einen wichtigen
Beitrag zur Umsetzung der beschäftigungspolitischen
Leitlinien der Europäischen Union.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich an dieser Stelle nur die wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen anführen. Die Förderung älterer
Arbeitnehmer durch Eingliederungszuschüsse an Arbeitgeber soll künftig wesentlich erleichtert werden. Die
frühere Bundesregierung hat das Mindestalter für eine
Förderung von 50 auf 55 Lebensjahre heraufgesetzt und
eine Weiterbeschäftigungspflicht für Arbeitgeber eingeführt. Die Folge war ein Rückgang der Zahl der geförderten Personen von rund 40 000 Ende 1997 auf 23 000
im April 1999 - und das, obwohl wir 1999 weit mehr
Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellt haben als 1998. Wir haben deshalb das Mindestalter für die Förderung mit Rechtsverordnung, zunächst
befristet für die Zeit vom 1. August dieses Jahres bis
zum Dezember 2001, wieder vom 55. auf das 50. Lebensjahr herabgesetzt. Eine Förderung ist künftig bereits
nach sechsmonatiger Arbeitslosigkeit möglich. Bisher
wurden Zuschüsse im Regelfall erst nach zwölf Monaten
gezahlt. Die Zuschüsse können danach dort, wo es notwendig ist, frühzeitiger eingesetzt werden, um Langzeitarbeitslosigkeit möglichst zu verhindern.
Schließlich beseitigen wir eine weitere Einstellungshürde für ältere Arbeitslose. Arbeitgeber müssen die Zuschüsse nicht mehr zurückzahlen, wenn sie die älteren
Arbeitnehmer nach der Förderung nicht mehr weiterbeschäftigen können. Diese drohende Rückzahlungspflicht hat viele Arbeitgeber bisher davon abgehalten,
ältere Arbeitnehmer einzustellen. Davon erwarten wir
zusätzliche Einstellungen insbesondere bei gemeinnützigen Trägereinrichtungen und öffentlichen Körperschaften.
Zum Förderinstrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen berichten Mitarbeiter aus den Arbeitsämtern,
daß Langzeitarbeitslosigkeit vielfach auch durch flexiblere Zuweisungsbestimmungen verhindert werden
kann. Deshalb soll die Zuweisung in eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht mehr starr nur an das Vorliegen von Langzeitarbeitslosigkeit geknüpft, sondern
künftig bereits nach sechsmonatiger Arbeitslosigkeit
möglich sein, um auch hier Langzeitarbeitslosigkeit gar
nicht erst entstehen zu lassen.
Besondere Probleme haben die älteren Arbeitslosen,
die in den neuen Bundesländern und in Arbeitsamtsbezirken mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit
wieder eine Beschäftigung suchen. Ihnen wollen wir
durch eine Neuregelung gezielt helfen oder eine Brücke
zum sozialverträglichen Übergang in die Altersrente
bauen. Danach können Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr
vollendet haben, bis zu fünf Jahre in ausschließlich für
diese Personen eingerichteten Strukturanpassungsmaßnahmen gefördert werden. Die Förderfelder für
Strukturanpassungsmaßnahmen werden im übrigen bundeseinheitlich geregelt und um das Maßnahmefeld
„Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur“ erweitert. Den Arbeitsämtern wird damit ein weiteres Instrument an die Hand gegeben, um die aktive Arbeitsmarktpolitik wirksamer als bisher mit der regionalen
Wirtschafts- und Strukturpolitik zu verknüpfen und zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslose
zu schaffen.
Die Arbeiten in diesem Maßnahmefeld müssen an
Wirtschaftsunternehmen vergeben werden, die dafür befristet arbeitslose Arbeitnehmer einstellen. Damit tragen
wir auf der Basis arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen
zur Wertschöpfung bei und schlagen für die Arbeitnehmer eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt.
Unser Ziel ist es, die vorhandenen und neuen Instrumente genauer und wirksamer als bisher umzusetzen.
Mitnahmeeffekte werden soweit wie möglich ausgeschlossen. Dies können die beschäftigten Arbeitnehmer
und Arbeitgeber, die mit ihren Beiträgen die Mittel für
die Arbeitsförderung aufbringen, mit Recht erwarten.
({2})
Deshalb konzentrieren wir die Förderung von Strukturanpassungsmaßnahmen in Wirtschaftsunternehmen in
den neuen Bundesländern und Berlin ({3}) stärker als
bisher auf arbeitsmarktpolitische Zielgruppen. Denn
vieles spricht dafür, daß bisher ein Teil der Fördermittel
von Betrieben in Anspruch genommen wird, die ohnehin
Arbeitnehmer eingestellt hätten.
Wir wollen dies korrigieren, ohne die Chancen der
Arbeitslosen auf einen Arbeitsplatz zu vermindern. Diese Förderung wird heute zu oft allein als Wirtschaftsförderung mißverstanden, für die jedoch viele andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Deshalb soll dieses
Förderinstrument künftig verstärkt jugendlichen Arbeitslosen, Langzeitarbeitslosen, älteren Arbeitslosen
und Menschen, die behindert sind, die Chance eines
Wiedereinstiegs in den Beruf eröffnen.
({4})
Neben diesen arbeitsmarktpolitischen Schwerpunkten
enthält der Gesetzentwurf weitere wichtige Regelungen
für Arbeitslose und Arbeitsämter. Die von der früheren
Bundesregierung eingeführte Verpflichtung von Arbeitslosen, ihre persönliche Arbeitslosmeldung im Abstand von drei Monaten zu erneuern, hat in der Praxis zu
einem erheblichen Verwaltungsaufwand in den Arbeitsämtern geführt, ohne daß dadurch die Vermittlungsarbeit
verbessert oder die Bekämpfung des Leistungsmißbrauchs erleichtert wurde.
({5})
Die Regelung zur Pflicht, sich regelmäßig zu melden,
soll deshalb entfallen.
({6})
Zur Mißbrauchsbekämpfung stehen den Arbeitsämtern
weitaus effektivere Mittel wie zum Beispiel die gezielte
Einladung zur Arbeitsberatung zur Verfügung.
Die ebenfalls von der früheren Bundesregierung eingeführte Verlängerung der zumutbaren Pendelzeiten für
Vollzeitarbeitnehmer von zweieinhalb auf drei Stunden
täglich und für Teilzeitarbeitnehmer von zwei auf zweieinhalb Stunden täglich wird rückgängig gemacht.
({7})
Der Anreiz für Arbeitslose, eine im Vergleich zur
früheren Beschäftigung niedriger entlohnte Arbeit
aufzunehmen, wird verbessert. Arbeitslose, die eine gegenüber der letzten Beschäftigung niedriger entlohnte
Arbeit annehmen, sind bei erneutem Beschäftigungsverlust innerhalb von drei Jahren durch eine Bestandsschutzregelung vor Nachteilen bei der Arbeitslosengeldbemessung geschützt.
Allerdings ist das Arbeitslosengeld jetzt in solchen
Fällen noch auf das Nettoentgelt der letzten Beschäftigung begrenzt. Dies erfordert in jedem Einzelfall eine
verwaltungsaufwendige Vergleichsberechnung und
führt zu sozialpolitischen Härten für Arbeitslose, die
zuletzt eine Beschäftigung aufgenommen haben, deren
Nettoentgelt das letzte Arbeitslosengeld unterschreitet.
Die Regelung zur Begrenzung auf das Nettoentgelt
der letzten Beschäftigung wird von uns deshalb aufgehoben.
({8})
Meine Damen und Herren, das vorliegende Änderungsgesetz kann und soll die vorgesehene umfassende
Reform der Arbeitsförderung nicht ersetzen. Wir können
in der kurzen Zeit nicht alles anpacken und lösen, was
wünschenswert und sinnvoll wäre. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß wir mit den vorgesehenen Maßnahmen und Regelungen eine wirksame Soforthilfe für
Arbeitslose und Arbeitsämter leisten.
({9})
Ich bitte deshalb um Ihre Zustimmung für dieses Gesetz und bin fest davon überzeugt, daß mit seinem Inkrafttreten am 1. August dieses Jahres die Situation für
Arbeitslose und Arbeitsämter wesentlich verbessert
wird.
Herzlichen Dank.
({10})
Als nächster Redner
spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege HansPeter Friedrich.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der
vorliegende Gesetzentwurf - der Staatssekretär hat darauf hingewiesen - wird von der Bundesregierung nur als
erster Schritt der Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik bezeichnet. Damit ist zu befürchten, daß auch bei den
weiteren Schritten, die folgen werden, die falsche Richtung eingeschlagen wird.
({0})
Deswegen müssen wir in diesem Hause einmal grundsätzlich darüber reden, wofür die Gelder der Beitragszahler und die Gelder der Steuerzahler in der Arbeitsmarktpolitik eigentlich ausgegeben werden sollen.
Bisher war es Ziel der Arbeitsmarktpolitik,
({1})
möglichst viele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt,
das heißt: in reguläre Arbeitsverhältnisse, zu bringen.
({2})
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf macht die
rotgrüne Regierung allerdings deutlich, daß sie das offensichtlich nicht mehr als vorrangiges Ziel ansieht.
({3})
Bisher waren die Instrumente darauf ausgelegt, die
Phase im zweiten Arbeitsmarkt für die Beschäftigten
möglichst kurz zu halten. Mit diesem Gesetzentwurf
wird der Arbeitsmarktpolitik statt dessen eine soziale
Auffangfunktion zugewiesen: Statt kurzzeitiger Überbrückung soll jetzt eine staatliche Versorgung bis zu
fünf Jahren bis zum Eintritt in die Rente möglich sein.
Eine solche bloße Auffangfunktion wird aber erstens die
Arbeitnehmer auf Dauer nicht befriedigen und zweitens
nicht finanzierbar sein, jedenfalls dann nicht, wenn Rotgrün das Problem der Arbeitslosigkeit statt über eine
vernünftige Wirtschaftspolitik auch weiterhin über öffentlich finanzierte Beschäftigung lösen will.
({4})
Der Bundeskanzler hat in dem zusammen mit Tony
Blair formulierten Papier gesagt - ich darf einmal daraus
zitieren -:
Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit,
Arbeit zu finden, behindert,
- das ist ganz bezeichnend muß reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in
ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.
Nach den Maßstäben von Schröder und Blair sind
der Bundesarbeitsminister und, wie ich festgestellt habe,
auch sein Staatssekretär keine modernen Sozialdemokraten. Sonst kämen nämlich die beiden nicht auf die
Idee, die dreimonatige Meldepflicht der Arbeitslosen
beim Arbeitsamt abschaffen zu wollen. Denn Hintergrund dieser Meldepflicht ist unter anderem, daß der
Arbeitsuchende, der sich verstärkt um einen Arbeitsplatz
bemühen muß, im Dreimonatsturnus beim Arbeitsamt
nachweist, was er getan hat, um eine Arbeit zu finden.
Es ist ein völlig falsches Signal, wenn diese Meldepflicht abgeschafft wird. Ebenso falsch ist es, die zumutbaren Pendelzeiten für Leistungsempfänger reduzieren zu wollen.
({5})
Rotgrün mutet den Arbeitnehmern im Lande viel zu.
({6})
Rotgrün mutet den Autofahrern und den Steuerzahlern
immer mehr zu. Nur den Arbeitslosen wollen Sie nicht
zumuten, was ihnen im Interesse von Millionen von
Beitragszahlern zugemutet werden muß.
({7})
Verhängnisvoll ist das Vorhaben, das Betätigungsfeld
subventionierter Beschäftigungsgesellschaften zu erweitern und damit gute, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in der gewerblichen Wirtschaft kaputtzumachen.
Nach geltendem Recht sind Arbeitsbeschaffungs- und
Strukturanpassungsmaßnahmen dann förderfähig, wenn
sie an Wirtschaftsunternehmen vergeben werden, also in
den Betrieben des ersten Arbeitsmarktes durchgeführt
werden. Die Durchführung dieser Maßnahmen in eigener Regie des Trägers ist an außerordentlich restriktive
Voraussetzungen geknüpft, und das zu Recht. Mit diesem Gesetz aber öffnen Sie die Schleusen für eine massenhafte Durchführung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Eigenregie der Träger.
({8})
Heerscharen von hochsubventionierten ABM-Kräften
werden künftig die Arbeiten ausführen, die bisher
Handwerksbetriebe, Gartenbaubetriebe und mittelständische Bauunternehmen ausgeführt haben.
({9})
Tausende von Arbeitsplätzen in diesem Bereich werden
vernichtet.
Es ist beinahe makaber: Die Arbeitnehmer zahlen
Beiträge an die Arbeitslosenversicherung. Und mit diesen Beiträgen wird die Vernichtung ihrer eigenen Arbeitsplätze finanziert.
({10})
Das ist ein wahres Meisterstück der planwirtschaftlichen
Selbstüberlistung.
({11})
In dem Schröder/Blair-Papier - ich zitiere wieder
daraus - heißt es:
Kleine Unternehmen müssen leichter zu gründen
sein und überlebensfähiger werden …
Wenn Herr Schröder das wirklich ernst meint, dürfte er
seinem Arbeitsminister nicht gestatten, ein so unglaubliches Gesetz vorzulegen; denn mit diesem Gesetz weiten
Sie den öffentlichen Beschäftigungssektor zu Lasten der
mittelständischen Betriebe aus.
Ich gebe ehrlich zu, daß es natürlich Arbeitnehmer
und Arbeitsuchende gibt, die zu den marktüblichen Bedingungen auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sind. Für diese Menschen müssen wir etwas tun. Das
ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, das ist auch
ein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft.
Aber es ist Wahnsinn, was Sie mit diesem Gesetz anrichten. Ein 50jähriger wird zum alten Eisen erklärt.
({12})
Die Bundesregierung hat ein Trauerspiel in drei Akten
vorbereitet: mit 50 in die altersbedingte ABM,
({13})
mit 60 werden alle in die Rente geschickt, und am
Schluß werden sie mit einer gekürzten Rente oder einer
Einheitsrente abgespeist.
({14})
Das ist die Trilogie rotgrünen Sozialchaos.
({15})
Man muß etwas für die schwerer Vermittelbaren tun,
aber man muß dabei stets deutlich machen: Ziel bleibt
Dr. Hans-Peter Friedrich ({16})
die Überführung in den ersten Arbeitsmarkt. Dies muß bevor Sie weiterschreien, lieber Herr Gilges - ohne Einschränkung auch für Problemgruppen gelten, weil alles
andere ein völlig falsches Signal wäre. Richtig ist zweifellos, daß bestimmte Problemgruppen zu den Bedingungen und insbesondere zu den Kosten auf dem normalen Arbeitsmarkt nicht eingestellt werden. In diesem
Fall muß man die Unternehmen von den übermäßigen
Kosten entlasten. Das Prinzip der Lohnkostenbezuschussung haben wir bei den Vergabe-ABM ebenso wie
bei den verschiedenen Kombilohnmodellen, die Sie
nicht diskutieren wollen. Die zügige Umsetzung der
Vergabe-ABM ist meines Erachtens nur eine Frage des
ökonomischen Anreizes für die Unternehmen, solche
Vergabe-ABM durchzuführen.
Selbstverständlich muß man jede Lohnbezuschussung an eng eingegrenzte Voraussetzungen knüpfen,
denn es soll ja ein Ausufern der Dauersubventionen verhindert werden. Aber ich denke, Herr Staatssekretär,
man sollte das Lamento über die Mitnahmeeffekte auch
nicht übertreiben, denn die vorzunehmende Abwägung
in diesen Fällen heißt: Mitnahmeeffekte einiger weniger
Unternehmen in strukturschwachen Gebieten auf der einen Seite oder die Aufblähung eines öffentlich finanzierten zweiten Beschäftigungssektors, wie Rotgrün ihn
jetzt vorhat, auf der anderen Seite. Vor dem Hintergrund
einer solchen Abwägung sollten wir die marginalen
Mitnahmeeffekte in Kauf nehmen.
Ich bin im übrigen der Auffassung, daß die Rolle der
Städte und Gemeinden bei dem Thema Arbeitslose und
Sozialhilfeempfänger gestärkt werden soll. Diese Rolle
kann aber nur darin bestehen, Bindeglied, Vermittler,
Katalysator zwischen Arbeitsuchenden auf der einen
Seite und Unternehmen auf der anderen Seite zu sein.
Ordnungspolitisch bedenklich ist es allerdings, wenn
die Erfinder des neuen Arbeitsförderungsgesetzes regionale Wirtschafts- und Strukturpolitik über die Arbeitsämter mitgestalten wollen. In der Begründung des
Gesetzentwurfes - Sie haben das vorgetragen - heißt es,
daß den Arbeitsämtern Instrumente an die Hand gegeben
werden sollen, „um die aktive Arbeitsmarktpolitik wirksam mit der regionalen Wirtschafts- und Strukturpolitik
zu verknüpfen“. Herr Staatssekretär, das ist die Sprache
der Planwirtschaft.
({17})
Wir werden das Problem der Arbeitslosigkeit nicht mit
planwirtschaftlicher Ausrichtung und einem öffentlich finanzierten zweiten oder dritten Beschäftigungsmarkt lösen. Was wir brauchen, ist die Schaffung
wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze und nicht ihre Vernichtung durch öffentlich finanzierte Konkurrenzveranstaltungen.
({18})
Was wir brauchen, ist ein Ausloten der Bedingungen, zu
denen Unternehmen bereit sind, auch Problemgruppen
im ersten Arbeitsmarkt bezuschußt zu beschäftigen.
Die rotgrüne Bundesregierung führt diesen Dialog
nicht frei von ideologischem Ballast; das ist ihr Problem,
und das ist auch das Problem des vorliegenden Gesetzentwurfes, dem wir deswegen nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({19})
Ich gebe das Wort
der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Ein zentrales Ziel der Bundesregierung ist es, Arbeitslosigkeit abzubauen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu erschließen. Wir wollen die Grenzen einreißen zwischen dem ersten Arbeitsmarkt und denen, die
draußen stehen. Wir wollen Brücken bauen, weil es einfach so ist, daß niemand freiwillig arbeitslos ist, aber
auch, weil sich unsere Gesellschaft diese hohe Arbeitslosigkeit langfristig nicht leisten kann.
Deswegen müssen arbeitsmarktpolitische Maßnahmen effizienter und zielgenauer ausgerichtet werden, gerade auf diejenigen Arbeitslosengruppen, die es am Arbeitsmarkt besonders schwer haben, wie Langzeitarbeitslose oder auch ältere Arbeitslose.
({0})
Arbeitslose brauchen die gezielte Förderung und keine Schikane. Arbeitsämter brauchen die Möglichkeit,
nicht in Bürokratien zu ersticken, sondern ihrer Beratungstätigkeit nachkommen zu können. Genau das
macht dieses Gesetz.
({1})
Da das Gesetz sehr umfangreich ist, kann ich nur
einige Punkte nennen. Ich will mich auf sechs beschränken. Erstens: die Abschaffung der Meldepflicht. Sie hat
beschäftigungspolitisch überhaupt nichts gebracht, statt
dessen hat sie die Arbeitsämter in Arbeit ersticken lassen.
({2})
Zweitens: die Reduzierung der Pendlerzeiten. Sie ist
gerade für Frauen wichtig, die versuchen, Berufs- und
Familienarbeit irgendwie unter einen Hut zu bekommen.
Das ist auch heute immer noch nicht einfach.
Drittens: der erleichterte Zugang zu ABM für Menschen, die sechs Monate arbeitslos waren. Der erleichterte Zugang ist deswegen wichtig, weil er so etwas wie
ein kleiner Kurswechsel dahin gehend ist, Langzeitarbeitslosigkeit vorzubeugen.
Viertens: Bestandschutz für das Arbeitslosengeld.
Wenn Arbeitslose bereit sind, eine Arbeit aufzunehmen,
die geringer bezahlt ist und für die niedrigere Qualifikationen notwendig sind, dürfen sie nicht bestraft werden,
wenn sie wieder in die Arbeitslosigkeit zurückfallen. Ich
denke, es ist wichtig - es geht darum, die Aktivität der
Dr. Hans-Peter Friedrich ({3})
Arbeitslosen zu fördern -, den Bestandschutz für das
Arbeitslosengeld zu stärken.
({4})
Fünftens: die verstärkte Möglichkeit, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu fördern.
Sechstens - dieser Punkt ist uns besonders wichtig -:
die Förderung von Existenzgründerinnen und Existenzgründern.
({5})
Es gibt sehr viele Arbeitslose, die den Mut aufbringen,
eine Existenz zu gründen. Alle, die sich damit ein wenig
auskennen, wissen, daß die Bürokratie, zum Beispiel die
Schwierigkeiten, an Kredite heranzukommen, häufig dazu führt, daß eine zeitliche Lücke zwischen dem Bezug
des Arbeitslosengeldes und der Existenzgründung, die
formell anerkannt werden muß, entsteht.
Deswegen ist es ungeheuer gut, gerade an dieser
Stelle die Lücke im SGB III zu schließen und den Existenzgründerinnen und Existenzgründern das Übergangsgeld, das als Einstiegsgeld notwendig ist, zu geben. Aber es liegt auf der Hand: Gerade CDU und
F.D.P. wollen das nicht. Sie wollen Rücknahmen im Gesetz. Diese lehnen wir ab.
Die PDS hat ebenfalls Änderungsvorschläge gemacht. Diese Änderungsvorschläge gehen weiter. Ich
kann Ihnen nur sagen, wir werden eine Reform des Arbeitsförderungsgesetzes im nächsten Jahr angehen. Dann
können wir auch Ihre Punkte weiter diskutieren.
Frau Kollegin Dükkert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Singhammer?
Ja, das tue ich gern.
({0})
Immer, Herr
Kollege Gilges.
Frau Kollegin Dückert, Sie haben davon gesprochen,
daß Sie gerade denjenigen, die neu anfangen, den Bestandschutz der Arbeitslosenversicherung gewähren
wollen. Ich frage Sie: Wie paßt das zusammen, wenn Sie
mit den Sparbeschlüssen die originäre Arbeitslosenhilfe
für einen Personenkreis abschaffen wollen, der noch
nichts einzahlen konnte, weil er beispielsweise bei der
Bundeswehr war, der aber dann eine Existenzgründung
wagen will und deshalb den besonderen Schutz braucht?
Wie paßt es zusammen, wenn Sie den Schutz vor Arbeitslosigkeit abschaffen?
Herr Kollege Singhammer, es ist schön, daß Sie mir diese Frage stellen, aber sie ist doch reichlich konstruiert.
Sie wissen doch selber, daß die beiden Personengruppen
sehr unterschiedliche Personengruppen sind. Ich bedaure
es sehr, daß die originäre Arbeitslosenhilfe im Zusammenhang mit unserem notwendigen Sparkonzept angegriffen wird.
Sie wissen aber auch, daß junge Menschen, die beispielsweise ein ökologisches Jahr gemacht oder den
Wehrdienst abgeleistet haben, nicht zu den Personengruppen zählen, die vorrangig Existenzen gründen. Ich
will Ihnen nur eines sagen: Sie können frohen Mutes
sein,
({0})
da wir - übrigens auch im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Scheinselbständigkeit und um die
Wirtschaftsförderung - alles, aber auch wirklich alles
tun werden, um jungen Menschen bei der Existenzgründung zu helfen.
({1})
Auch das ist ein Weg dahin; es erschwert Existenzgründung nicht, sondern unterstützt sie. Gerade deswegen
finde ich das gut.
({2})
Meine Damen und Herren, wir können feststellen,
daß die Konturen für die zukünftige Reform der Arbeitsmarktpolitik schon durch dieses Gesetz vorgezeichnet sind. Ein zentraler Punkt ist es, Bürokratie abzubauen. Der andere zentrale Punkt ist es, Brücken in den
Arbeitsmarkt zu bauen und Eigeninitiativen zu stärken.
Das ist uns sehr wichtig.
({3})
Es geht aber bei den zukünftigen Reformen nicht nur
um Effizienzsteigerung und ein besseres Erreichen der
Zielgruppen, sondern es geht vor allen Dingen darum,
Mittel und Wege zu finden, Arbeit statt Arbeitslosigkeit
zu fördern. Die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik müssen geöffnet werden und neue müssen entwickelt werden, um auf veränderte Bedingungen eingehen und Antworten auf flexible Formen der Erwerbstätigkeit und auf die sehr vielfältigen Probleme am Arbeitsmarkt finden zu können. Deswegen ist es uns sehr
wichtig, daß auch die Bundesregierung eine BeschäftiDr. Thea Dückert
gungspolitik vorantreibt, die zeigt, daß sie bereit und in
der Lage ist, Neues auszuprobieren.
Es gibt in der Beschäftigungspolitik mit Sicherheit
keinen Königsweg, es gibt aber sehr viele gute Modelle
und auch Beispiele aus dem Ausland, die uns weiterhelfen können. Ich möchte ein Beispiel aus Dänemark nennen: Die Dänen wenden seit Jahren das Modell der
Jobrotation an. Menschen aus den Betrieben werden zu
Qualifizierungsmaßnahmen freigestellt, da die technische Entwicklung voranschreitet. Dafür werden Arbeitslose angelernt und schaffen so den Sprung in die
Betriebe. Damit einher geht ein sehr hoher Effekt der
Integration auf der einen Seite und der Qualifikation auf
der anderen Seite. Hier werden die Grenzen zwischen
drinnen und draußen durchlöchert und überschritten.
Dieses Modell sollten wir bei der Änderung des SGB III
im nächsten Jahr auf jeden Fall aufnehmen.
({4})
- Für eine umfassende arbeitsmarktpolitische Reform ist
das aus grüner Sicht ein ganz zentraler Punkt.
({5})
Meine Damen und Herren, wir müssen aber weitergehen, Knoten in den Köpfen zerschlagen und uns auch
ein Stück weit von alten und überkommenen arbeitsmarktpolitischen Modellen lösen, weil es Möglichkeiten
gibt, dynamische Beschäftigungsverhältnisse weiter voranzubringen und gerade auch in den preiselastischen
Marktsegmenten, wie beispielsweise im Dienstleistungsbereich, Beschäftigungspotentiale zu erschließen.
Wir sollten an dieser Stelle die akademische Diskussion
beenden und nicht mehr länger die einzelnen Möglichkeiten und Vorschläge in ihren Beschäftigungseffekten
abwägen, sondern wir sollten viele Vorschläge, die auf
dem Tisch liegen, einem Praxistest unterziehen.
({6})
England macht das längst. Diese Ansätze können wir
nicht einfach übertragen. Aber zum Beispiel mit der
Working-family-Tax werden hier in intelligenter Form
staatliche Transferleistungen mit Beschäftigung verbunden. Das eröffnet gerade Alleinerziehenden und auch
Leuten mit Kindern den Weg in den Arbeitsmarkt. Wir
können davon nur lernen. Auch in der Bundesrepublik
gibt es gute Vorschläge. Deswegen schlagen wir vor,
schon im Juni im Bündnis für Arbeit ein Viererpack zu
schnüren, das über den Ansatz des Programmes hinausgeht, das 100 000 Jugendliche in den Arbeitsmarkt bringen soll. An vier anderen Stellen, die auch relevant für
den Arbeitsmarkt sind, sollten auch Programme für jeweils 100 000 Beschäftigte aufgelegt werden:
Zum einen ein Programm, mit dem Langzeitarbeitslose mit einem Einstiegsgeld in Höhe des Regelsatzes der
Sozialhilfe in den Arbeitsmarkt einsteigen können.
Zum zweiten sollen Möglichkeiten geschaffen werden, um die Teilzeitmauer zu überwinden, indem gestaffelte Zuschüsse zu den Beiträgen zur Sozialversicherung bei Beschäftigungsverhältnissen, die über 630 DM
liegen, gezahlt werden.
Drittens über die Modernisierung der Arbeitsvermittlung. Da können wir auch vom Ausland lernen, zum
Beispiel von den Niederlanden. Die Niederlande und übrigens auch NRW haben mit den Maatwerken - so heißen diese Einrichtungen - Firmen gefunden, die in Unternehmen Klinken putzen, um Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslose zu finden. Sie haben hohe Erfolgsquoten bei der Vermittlung gerade auch von Langzeitarbeitslosen. So etwas müssen auch wir auf den Weg
bringen.
({7})
- Ja, wir bringen das ein.
({8})
Wir sind im Gegensatz zu Ihnen an der Regierung und
haben gute Chancen, das auch durchzusetzen. Es ist ein
modernes Programm. Genau das will diese Regierung.
({9})
Der vierte Komplex in diesem Paket ist, Beschäftigungspotentiale im Dienstleistungssektor zu erschließen. Hier liegen große Chancen. Das ist analysiert. Auch
Streek und Heinze haben solche Vorschläge gemacht.
Wir denken, daß es gut wäre, mit einem Modellprojekt
einen Praxistext zu wagen; denn es geht darum, zu überprüfen, wie groß die Beschäftigungseffekte wirklich
sind.
Zusammengenommen muß ich eines sagen: Wir haben Veränderungen am Arbeitsmarkt, in der Arbeitswelt. Um Antworten zu finden, müssen wir neue Wege
gehen. Wir müssen, denke ich, sehr unideologische Diskussionen im Klein-Klein vermeiden und einfach das
ausprobieren, was im Entwurf schon längst auf dem
Tisch liegt.
({10})
Für die Beschäftigungspolitik bedeutet das, daß wir
einen ersten Schritt gegangen sind, daß wir im nächsten
Jahr das SGB III ändern werden, daß wir in diesem Jahr
mit dem „Bündnis für Arbeit“ schnell vorankommen
müssen. Das heißt, wir brauchen auch in der Beschäftigungspolitik einen Paradigmenwechsel, um Brücken in
den Arbeitsmarkt bauen zu können. Wir brauchen neue
Instrumente. In Kombination mit der Herabsenkung der
Lohnnebenkosten, womit wir begonnen haben, und in
Kombination mit der ökologisch-sozialen Steuerreform
werden wir, denke ich, einen guten Weg gehen im Hinblick auf bessere Beschäftigungsmöglichkeiten für die
Arbeitslosen in der Zukunft.
({11})
Für die F.D.P.Fraktion spricht nun der Kollege Dirk Niebel.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich muß mich schon darüber wundern, Frau Kollegin Dückert, was Sie gerade
über das tolle Instrument im Zusammenhang mit der
Firma Maatwerk gesagt haben. Ich weiß aus meiner
eigenen Erfahrung nämlich, daß Grüne und SPD auf
kommunaler Ebene verhindern,
({0})
daß Firmen wie Maatwerk damit beschäftigt werden,
Langzeitarbeitslose, die besonders schwer zu vermitteln
sind, in den Arbeitsmarkt einzugliedern.
Herr Kollege Niebel, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Kollegin Thea
Dückert?
Sehr gerne.
Herr Kollege Niebel, ich wäre froh, wenn Sie uns Lernprozesse zugestehen würden. Aber das ist an dieser
Stelle gar nicht nötig. In rotgrün regierten Ländern, wie
beispielsweise NRW, sind mit dem Startprogramm - das
wissen Sie - sehr moderne Wege gegangen worden. Übrigens ist das Projekt - das wird die F.D.P. besonders
interessieren - auch wirtschaftlich und hat hohe Beschäftigungseffekte. Es stellt zu 50 Prozent Langzeitarbeitslose ein und kann diese auch vermitteln.
({0})
Im übrigen gibt es dieses Projekt auch in Niedersachsen.
Frau Kollegin,
vielleicht machen Sie irgendwann einmal ein Fragezeichen. Das wäre ganz hilfreich.
Ich frage den Kollegen, ob ihm klar ist, daß es diese
Projekte gibt. Auch in Niedersachsen - übrigens durch
die rotgrüne Koalition vorbereitet, woran ich beteiligt
war - sind diese Projekte angegangen worden. Ich
wollte Sie fragen, ob Ihnen das entgangen ist.
({0})
Herr Kollege Niebel, Sie haben jetzt Gelegenheit, darauf zu antworten.
Liebe Frau Kollegin Dückert,
mir ist eindeutig nicht entgangen, daß Rotgrün zum Beispiel im Rhein-Neckar-Kreis verhindert hat, einen Modellversuch mit der Firma Maatwerk durchzuführen.
Aber offenkundig ist Ihnen entgangen, daß sich Rot und
Grün hier in diesem Hause vehement dagegen gewehrt
haben, Schritte in der privaten Arbeitsvermittlung zu
gehen.
Offenkundig ist Ihnen des weiteren entgangen, daß
im Land Baden-Württemberg Modellversuche durchgeführt werden, die den Weg zur Öffnung des sogenannten
Niedriglohnsektors ebnen und dazu dienen sollen, gerade bei den Niedrigqualifizierten Arbeitslosigkeit abzubauen. Sie dagegen haben sich auch in diesem Hause
bisher strikt geweigert, hierüber überhaupt eine Diskussion zu beginnen.
({0})
Sie lassen die Menschen in der Arbeitslosigkeit und verhindern im Niedriglohnsektor, daß durch Bürgergeld
oder Kombilohn neue Wege gegangen werden können,
um im Bereich der Geringqualifizierten die Arbeitslosigkeit abzubauen.
({1})
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie haben sich den Abbau der Arbeitslosigkeit zur Meßlatte
gemacht. Auf Grund der demographischen Entwicklung
wird die Arbeitslosenquote in nächster Zeit wahrscheinlich sinken. Allerdings ist das kein echtes Absinken der
Arbeitslosigkeit. Dazu müssen Sie schon in die Trickkiste von Arbeitsminister Walter Riester greifen; denn
Ihre Politik bewirkt bisher exakt das Gegenteil dessen,
was Sie sich vorgenommen haben.
({2})
Beim Antritt der Regierung Schröder hatten wir
400 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr. Heute sind
es nur noch 200 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr,
und saisonbereinigt haben wir erstmals wieder einen
Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Das ist die
Konsequenz Ihrer Politik: Sie haben die Reformen, die
endlich zu greifen begannen, zurückgedreht.
({3})
Das Arbeitsförderungsreformgesetz von 1997 hat
die Erwerbschancen der Arbeitslosen verbessert, die Effizienz der Bundesanstalt für Arbeit erhöht, es ermöglicht, Mißbrauch und illegale Beschäftigung festzustellen, Beitragszahler entlastet und die Eigenverantwortung
aller Betroffenen gefördert. Diese Regierung aber hat
noch nichts dazu beigetragen, die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.
({4})
Im Gegenteil, Sie haben alle Reformschritte, die gerade
greifen konnten, rückgängig gemacht. Die Eile, die Sie
bei diesem Gesetz, das bereits am 1. August in Kraft
treten soll, an den Tag legen, zeigt, daß Sie wieder einmal „riestern“. Sie machen wieder nur ein Gesetz mit
einer Halbwertszeit von nicht einmal einem Jahr und
kündigen ein umfassenderes Reformwerk an, das man
nach den bisherigen Erfahrungen schon fast als Bedrohung für den Arbeitsmarkt ansehen muß.
Allerdings gibt es auch in diesem Gesetz Positives.
Selbstverständlich sind die Liberalen dafür, daß bürokratische Hemmnisse abgeschafft werden.
({5})
Selbstverständlich sind auch die Liberalen dafür, daß
Arbeitsvermittler von vermittlungsfremden Tätigkeiten
entlastet werden, um den Menschen, die dringend der
Unterstützung und intensiver Betreuung bedürfen, helfen zu können, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren.
Sie stellen dabei aber die Weichen falsch. Der Arbeitsmarkt ist kein Testgelände, sondern ein sensibler
Bereich, der auf falsche Weichenstellungen sehr negativ
reagiert.
({6})
Ihre Feldversuche aus dem Elfenbeinturm heraus haben
schon Tausende von Arbeitsplätzen im Bereich der geringfügig Beschäftigten und der Scheinselbständigen
vernichtet. Sie haben die Bürger bisher als Versuchskaninchen mißbraucht und schaffen keine neuen Arbeitsplätze. Sie stärken den zweiten Arbeitsmarkt, statt die
Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu unterstützen.
Das Ziel muß die Förderung des ersten Arbeitsmarkts
sein, wobei wir zugestehen, daß es bei einigen Zielgruppen sinnvoll sein kann, diesen Einstieg mit Subventionen zu erleichtern.
({7})
Die Aufstockung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hingegen ist nicht sinnvoll. Doch allein
durch die Verkürzung der Fristen bei den Zugangsvoraussetzungen von zwölf auf sechs Monate werden Sie
diesen Bereich massiv ausweiten.
Herr Riester sagt, all das werde nicht mehr kosten.
Ich sage Ihnen, Herr Riester irrt. Es wird zu hohen
Mehrkosten kommen, wie Sie im nächsten Haushalt
feststellen können.
Im Bereich älterer Arbeitsloser verzichten Sie auf die
Beibehaltung der Weiterbeschäftigungsfrist. Das ist
falsch; denn diese Menschen werden nach Ablauf der
Förderung im Zweifelsfall wieder freigesetzt und dem
Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt. Sie sind dann noch
älter und noch schwerer vermittelbar. Die Beschäftigungspflicht im Anschluß an die Förderung hat verhindert, daß diese Menschen nach Mitnahme der Leistungen der öffentlichen Hand einfach wieder auf die Straße
geworfen werden. Die Abschaffung der Meldepflicht ist
ein sehr populistisches Vorgehen. Die F.D.P.-Fraktion
ist der Überzeugung, daß einem Arbeitslosen nicht zuviel zugemutet wird, wenn er wenigstens einmal in drei
Monaten zu seinem Arbeitsvermittler geht. Das hat auch
noch den Vorteil, daß man sich im wahrsten Sinne des
Wortes ein Bild voneinander machen
({8})
und miteinander darüber reden kann, wie es weitergehen
soll. Der Umstand, daß der Arbeitsvermittler einen Arbeitsuchenden einladen kann, hat eine ganz andere Qualität. Die Meldepflicht sorgt dafür, daß die Initiative der
Vorsprache vom Arbeitsuchenden auszugehen hat. Ein
gewisses Maß an Eigenbemühungen bei der Wiederaufnahme eines Arbeitsverhältnisses, Kollegin Buntenbach,
kann man auch Arbeitslosen zumuten.
({9})
Denn die Solidargemeinschaft hat ein Anrecht darauf,
daß Arbeitsuchende nachweisen, daß sie sich bemühen,
Arbeit zu finden.
({10})
Die Förderung von Existenzgründern war auch der
alten Regierung ein großes Anliegen; deswegen hat auch
die alte Regierung Existenzgründer mit Überbrückungsgeld gefördert. Das unterstützen wir ausdrücklich. Auf
der anderen Seite ersticken Sie Selbständigkeit - gerade
in der Gründungsphase - durch Ihr wirres Gesetz zur
sogenannten Scheinselbständigkeit.
({11})
Man müßte Existenzgründer gerade dazu drängen, Leistungen nach dem Arbeitsförderungsrecht in Anspruch
zu nehmen; denn dadurch sind sie, nach Lesart von Arbeitsminister Riester, nicht mehr verpflichtet, zu widerlegen, daß sie scheinselbständig sind. Nur derjenige, der
sich ohne Staatsknete selbständig macht, ist der Dumme;
denn der muß beweisen, daß er wirklich selbständig ist.
Das ist rotgrünes Gesellschaftsbild.
({12})
Die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung ist
der eindeutige Beweis dafür, daß die alte Linke in diesem Land regiert. Von 298 Abgeordneten Ihrer Fraktion
sind 244 Gewerkschaftsmitglieder. Selbst Bodo Hombach wird jetzt noch in die Wüste geschickt.
({13})
Die Bundesregierung ist in Teilen allerdings lernfähig.
Sie hat das von uns bis 2001 verlängerte Programm für
Langzeitarbeitslose richtigerweise verlängert. Ich fordere Sie auf: Verstetigen Sie dieses gute Instrument,
überführen Sie es in den Förderungskatalog der Bundesanstalt für Arbeit, damit man auch in Zukunft mit diesen
Maßnahmen weiterarbeiten kann.
Ein letztes Wort zum Interessenausgleichsgesetz der
PDS: Natürlich ist es im Interesse der Arbeitslosen, vor
Einkommensverlusten geschützt zu werden. Auf der anderen Seite ist es aber auch im Interesse der Solidargemeinschaft, daß der Arbeitslose so schnell wie möglich
wieder Arbeit aufnimmt. Wir alle wissen, daß man aus
einer Beschäftigung heraus, auch wenn sie schlechter
bezahlt ist, leichter Arbeit finden kann als aus der Arbeitslosigkeit heraus. Deswegen müssen wir beide Gesetzentwürfe leider ablehnen.
Vielen Dank.
({14})
Für die Fraktion der
PDS spricht nun der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Staatssekretär, es mutet
schon merkwürdig an, wenn Sie vor dem Hintergrund
der Debatte um das Sparpaket davon reden, daß die Arbeitslosen ein Recht auf mehr Fairneß haben. Sehen Sie
zu, daß auch das Sparpaket den Arbeitslosen Fairneß
angedeihen läßt.
Herr Kollege Friedrich, es ist genauso merkwürdig,
wenn man auf der einen Seite Maßnahmen gegen Arbeitslose im Sparpaket beklagt und auf der anderen Seite
die Maßnahmen in diesem Änderungsgesetz ablehnt.
Vor dem Hintergrund der gestrigen und heutigen Debatte zum Sozialabbau und der Offenbarung des größten
deutschen Reformers aller Zeiten und seiner denkenden
Kleinrechner mutet der vorliegende Gesetzentwurf der
Bundesregierung wie ein Stück sozialdemokratischer
Vergangenheit, wie ein Stück verlorengegangener Traditionen an. Damals wußte der Kollege Riester noch,
wofür er angetreten war. Er hatte die Empörung und den
Aufschrei der Millionen Arbeitslosen über die unsozialen Gesetze der Kohl-Regierung noch im Ohr: diese
ständige Diffamierung, über diese Abstrafung, über diese Disziplinierung und Bevormundung. „Einmal draußen, immer draußen“, und das zu immer geringeren Leistungen - diese Denkhaltung wurde propagiert. So sah
auch das Arbeitsförderungsrecht im SGB III aus.
Ich würde nie wagen, zu behaupten, daß der Herr
Kollege Riester, die Mitarbeiter in seinem Ministerium
und die sozial- und arbeitsmarktpolitisch engagierten
Abgeordneten der regierenden SPD die Lage von Arbeitslosen, von Langzeitarbeitslosen, die Lage von so
oder anders sozial Benachteiligten und bereits Ausgegrenzten nicht kennen. In den Wahlkämpfen, in den Zusammenkünften und Gesprächen vor Ort haben die Abgeordneten der SPD die Beweggründe erfahren, warum
gerade diese Menschen ihre Hoffnungen auf einen Politikwechsel setzen. Soziale Gerechtigkeit wurde als
Firmenzeichen der traditionsreichen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands verstanden. Nie wäre es den
arbeitslosen Wählerinnen und Wählern in den Sinn gekommen, daß der SPD-Bundeskanzler und seine Führungscrew dieses ehrliche Engagement aus mehr als
hundert Jahren Sozialdemokratie preisgeben.
Heute soll offensichtlich den Banken und Konzernen
soziale Gerechtigkeit widerfahren, deren Gewinne in
den letzten Jahrzehnten den Standort Deutschland angeblich so geschwächt haben. Wenn Rechnen wichtiger
ist, als Gerechtigkeit zu schaffen, dann seien die Kollegen Eichel und Riester daran erinnert, daß in einem
mathematischen Produkt die Faktoren ausgetauscht werden können. Wenn man sie austauscht, bleibt das Ergebnis gleich. Um ein Produkt von 100 zu erhalten, kann
man 50 mal 2, aber auch 10 mal 10 rechnen. Der Bundesfinanzminister nimmt beispielsweise von 50 Armen
jeweils 2 DM. Der Bundessozialminister sollte dafür
sorgen, daß von 10 Reichen jeweils 10 Mark genommen
werden.
({0})
Statt dessen werden erneut nur die Armen zur Kasse
gebeten. Erneut bringen Konzerne, Banken und die
boomende deutsche Industrie nichts in das sogenannte
Reformwerk ein. Mit Ihrem Sparpaket haben Sie ein
Damoklesschwert über den Arbeitslosen aufgehängt.
Auch das Zweite Gesetz zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch ist kein ganz großer Wurf.
Allerdings stimmt es - das muß man sehr deutlich sagen - in der Richtung. Aber es enthält eine Fülle von
sehr richtigen und wichtigen Entscheidungen, deren
Umsetzung von den Arbeitslosen sehr begrüßt wurde. Dazu gehört die Regelung über die Förderung der
über 55jährigen für die Dauer von 5 Jahren, die dringend notwendig ist. Man kann darüber reden, ob Menschen mit 55 Jahren in Rente geschickt werden sollen
oder nicht. Aber ältere Menschen völlig draußen zu
lassen und ihnen gar keine Hoffnung zu geben, das ist
falsch.
({1})
Dazu zählt auch die Abschaffung der Meldepflicht für
Arbeitslose, einer Meldepflicht, die in den Arbeitsämtern für kasernenhofähnliche Zustände gesorgt hat, ohne
daß auch nur ein Arbeitsloser einen Arbeitsplatz erhalten
hat.
({2})
Und schließlich gehört dazu die Arbeitswegregelung.
Ich könnte noch andere Beispiele auflisten.
Herr Staatssekretär, Sie haben deutlich gemacht, welches die richtige Richtung ist. Ich bitte Sie: Sorgen Sie
dafür, daß mit dem Sparpaket die richtige Richtung fortgesetzt wird. Setzen Sie diese Richtung auch bei der
Neufassung des SGB III durch, die irgendwann kommen
soll.
Eine Gerechtigkeitslücke wird mit dem Änderungsantrag der PDS geschlossen, nämlich die noch immer
vorhandene Abwertung der beruflichen Qualifikation
und die Aberkennung des Anspruchs der Arbeitslosen
auf Sicherung ihres Lebensniveaus beendet.
Zum Schluß stelle ich die Frage: Warum soll ein Arbeitsloser nicht das Recht haben, entsprechend seiner
Qualifikation und seinem bisherigen Erwerbseinkommen eingestellt zu werden? Ein Beschäftigter, der seinen
Arbeitsplatz wechseln möchte, entscheidet selbst, ob er
auf etwas verzichten möchte oder kann. Es ist nicht gerecht, einen Arbeitslosen mit der Androhung des Leistungsentzugs zur Aufnahme einer Beschäftigung unterhalb seiner früheren Entlohnung zu zwingen. Wir fordern die Abgeordneten der SPD und der Bündnisgrünen
auf, unserem Änderungsantrag zuzustimmen und ihn
nicht deshalb abzulehnen, weil er von der PDS stammt.
Es geht um Ihre geschundene Wählerschaft, nicht um
die PDS.
({3})
Für die SPDFraktion spricht nun der Kollege Adolf Ostertag.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Jeder, der renoviert,
weiß: Bevor etwas Neues aufgebaut werden kann, muß
erst das schadhafte Alte beseitigt werden. Mit unserem Gesetz entrümpeln wir das Arbeitsförderungsrecht.
Wir machen Schluß mit einer ganzen Reihe von unsinnigen und kontraproduktiven Bestimmungen, die unter Minister Blüm Eingang ins Arbeitsförderungsrecht
gefunden haben. Kein Gesetz ist in den 90er Jahren so
oft geändert worden wie das AFG, das jetzt SGB III
heißt.
Herr Niebel, Sie haben mit einem Halbsatz aus Ihrer
Rede recht: Das AFG ist ein sensibles Instrument. Nur,
weshalb haben Sie dann 16 Jahre lang an ihm herumgefummelt, wenn es doch so sensibel ist?
({0})
Ich erinnere an die letzte Änderung in der Kohl-Ära, die
die absurdeste war. Damals mußte das neu geschaffene und bereits vom Parlament verabschiedete SGB III
geändert werden, noch bevor es überhaupt in Kraft
getreten war. Sie haben wirklich Kapriolen geschlagen.
Sie haben uns in den letzten Wochen und Monaten
immer wieder vorgeworfen, wir würden die Gesetze zu
schnell auf den Weg bringen und sie mit heißer Nadel
stricken. Manchen Kritikpunkt haben wir uns zu Herzen
genommen; das gebe ich zu. Aber erinnern Sie sich doch
an die eigene Regierungsarbeit. Soviel Mut müssen Sie
schon haben. Packen Sie sich doch einmal an die eigene
Nase, bevor Sie Kritik üben.
({1})
Bekanntlich hat Ihre ganze Flickschusterei am AFG
nichts gebracht: Die Arbeitslosenzahlen stiegen kontinuierlich. Die Lohnersatzleistungen wurden gekürzt. Die
aktiven Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurden - krisenverschärfend - ausgerechnet in
Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zurückgefahren.
({2})
Ich möchte eine kleine Bilanz ziehen - heute findet
vielleicht die letzte arbeitsmarktpolitische Debatte in
diesem Parlament statt - und mich gerade an Sie, Herr
Schemken, wenden: Ich habe mir ein an Ihre Fraktion
gerichtetes Schreiben von Norbert Blüm vom 12. Januar 1998 mitgenommen. Darin findet man wunderbare
Zahlen zur Arbeitsförderung, sozusagen eine ZehnPunkte-Auflistung dessen, was Sie bei der Arbeitsförderung angerichtet haben. Nehmen Sie sich dieses Papier
vom 12. Januar 1998 noch einmal zur Hand, wenn wir in
den nächsten Wochen und Monaten über den Haushalt
diskutieren werden. Da heißt es dann im zweiten Abschnitt:
Arbeitsförderung/Arbeitslosenversicherung: Entlastungswirkungen 1997 … ca. 38 Mrd. DM.
In den zehn Punkten wird dann aufgeschlüsselt:
1. Haushaltsbegleitgesetze 1983/1984 … Entlastungswirkung …
- so heißt es immer schamhaft ({3})
3 Mrd. DM.
2. 10. AFG-Novelle … Entlastungswirkung … 7,5
Mrd. DM.
3. Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms … Entlastungswirkung … 1,5
Mrd. DM.
4. Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms …
- tolle Titel hatten Ihre Gesetze schon; aber sie verkleisterten die Realität, weil die Arbeitslosen in Wirklichkeit ständig abgezockt wurden ({4})
Entlastungswirkung … 12,5 Mrd. DM.
Dann folgen Angaben über das Arbeitslosenhilfereformgesetz, das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz usw. Das summiert sich insgesamt auf ein Minus
von 38 Milliarden DM.
Nehmen Sie sich Ihre alten Papiere noch einmal vor
und schauen Sie, was Sie angerichtet haben, bevor Sie in
den nächsten Tagen und Wochen mit dem Finger auf
uns zeigen und sagen, wir würden schlimme Einschnitte
vornehmen!
({5})
Das Gegenteil ist der Fall; wir machen etwas anderes:
Wir stabilisieren die aktive Arbeitsmarktpolitik auf
einem hohen Niveau, das Sie im übrigen nie hatten, und
führen das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit fort, das diesem wichtigen Bevölkerungskreis eine
Perspektive bietet.
({6})
Herr Kollege
Ostertag, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meckelburg?
Natürlich.
Verehrter Herr
Kollege Ostertag, könnten Sie mir bestätigen, daß Sie
gerade unter dem sehr schönen Titel „Deutschland erneuern“ ein Sparpaket größten Ausmaßes vorgelegt haben, das Sie inzwischen als Glorienschein mit sich tragen, worin unter anderem der Wegfall originärer Arbeitslosenhilfe - 1 Milliarde DM -, Einsparungen bei
Strukturanpassungsmaßnahmen Ost für Wirtschaftsunternehmen - 800 Millionen DM -, die reduzierte Erhöhung der Renten 2000 - 0,7 Milliarden DM - usw. vorgesehen sind? Würden Sie mir bestätigen, daß Sie nur
neun Monate gebraucht haben, um ein riesiges Sparpaket auf den Weg zu bringen, um das, was Sie Anfang
des Jahres eingebrockt haben, wieder zurückzuholen?
Herr Meckelburg, Sie vergessen eines: Wir sprechen über einen Haushaltsentwurf, den die Regierung gestern beschlossen hat. Die
Einzelheiten werden wir - wie ich gesagt habe - in den
nächsten Wochen und Monaten sicherlich mit Ihnen diskutieren.
({0})
Wir bringen einen Haushalt der Solidarität ein, der
von allen Bevölkerungsgruppen verlangt, sich in den
nächsten zwei Jahren bei der Erhöhung ihres persönlichen Einkommens mit einer Erhöhung zu begnügen, die
den jeweiligen Preissteigerungsraten entspricht. Das erwarten wir von den Rentnern, von den im öffentlichen
Dienst Beschäftigten und von den Arbeitslosen.
({1})
Das ist ein Unterschied zu dem, was Sie gemacht haben,
die Sie Leistungen massiv gekürzt haben.
({2})
Diesen Unterschied müssen Sie begreifen. Bei uns wird
der Zuwachs begrenzt, und das machen wir nicht leichten Herzens. Das ist notwendig, weil wir die Erblast, die
Sie uns hinterlassen haben, Schritt für Schritt aufarbeiten müssen.
Begreifen Sie eines: Die neue Regierung legt mit dem
Haushalt 2000 erstmals einen originären Haushalt vor.
Der Haushalt 1999 war ja noch einer, der im wesentlichen fortgeschrieben wurde - allerdings waren dabei
schon die zwei Punkte, die ich eben genannt habe,
wichtig: Verstetigung der umfangreichen aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und das Jugendprogramm.
Die Flickschusterei in der Arbeitsförderung, die Sie
zu verantworten haben, wird aufhören. Ich sage Herrn
Friedrich, der vorhin gesprochen hat, daß wir mit diesem
Haushalt in der Tat nicht - wie Sie - das machen, was
ich eben aufgelistet habe, also nicht Jahr für Jahr etwas
Neues.
({3})
In den letzten Jahren gab es über 38 Änderungen bei der
Arbeitsförderung. Wir bringen eine Verstetigung und
machen eine Strukturpolitik, die sich wirklich sehen lassen kann.
({4})
Die Arbeitsförderung soll für die Arbeitsämter praktikabler werden - die Verwaltungsvereinfachung ist angesprochen -, und vor allen Dingen gibt es für die einzelnen Arbeitsämter mehr Entscheidungsspielräume,
denn letzten Endes sollen sie aktiv an dieser Reform
mitarbeiten. Diese Gelegenheit haben die Arbeitsämter
jetzt. Herr Friedrich hat vorhin in etwa gesagt, daß die
Arbeitsämter in Bereiche einbezogen werden, die sie
nichts angehen. Dazu möchte ich sagen: Wir in NRW
zum Beispiel haben schon vor vielen Jahren sehr erfolgreich die Verzahnung von aktiver Arbeitsmarktpolitik mit regionaler Strukturpolitik begonnen. Bei diesem Vorhaben haben wir versucht, alle Akteure der Arbeitsmarktpolitik einzubeziehen. Dazu gehören die Arbeitgeber genauso wie die Gewerkschaften. Wesentliche
Akteure sind dabei die Arbeitsämter: Sie verfügen über
einen nicht unbeträchtlichen Teil von Mitteln, können
lenkend eingreifen und den Arbeitsmarkt stützen, also
Brücken bauen. Unsere vielfältigen Maßnahmen - angefangen von ABM über Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen bis hin zu den sehr erfolgreichen Jugendprogrammen - belegen, daß man von einer sehr erfolgreichen Verzahnung von regionaler Strukturpolitik
und Arbeitsmarktpolitik sprechen kann.
({5})
Der Staatssekretär hat auf unser zweites großes Ziel
hingewiesen: das Arbeitsförderungsgesetz, das SGB III,
zu überarbeiten. Wenn wir in den nächsten Monaten an
die Vorbereitung dessen gehen, wird unser generelles
Ziel, die Akteure auf der regionalen Ebene künftig zu
stärken, sicher fortgeschrieben werden. Allerdings wollen wir es nicht so hektisch machen, wie das bei Ihnen
der Fall war. Sie haben Gesetze in so schneller Folge
verabschiedet, daß zu dem Zeitpunkt, als das BMA die
entsprechenden Verordnungen an die Arbeitsämter geschickt hat, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
oder im Plenum schon das nächste Papier zur Abstimmung auf dem Tisch lag. Sprechen Sie doch einmal mit
den Menschen, die das in den Arbeitsämtern umzusetzen
hatten: Sie sind gar nicht mehr herausgekommen aus der
Arbeit mit den Veränderungsvorschriften, die ihnen auf
den Tisch gelegt worden sind.
Diese Flickschusterei also muß aufhören. Mit diesem
Vorschaltgesetz machen wir die Arbeitsförderung für
die Arbeitsämter praktikabler. Es werden - dies ist
wichtig - zusätzliche Entscheidungsspielräume gewährt.
Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition bei diesem Gesetz heute abstimmen
werden. Denn - wir haben sowohl im Ausschuß als auch
hier genau hingehört - das eine oder andere befürworten
sie. Hier können Sie sich wirklich einmal den berühmten
Ruck geben und einem Gesetz zustimmen, das in den
nächsten Jahren Weichenstellungen in die richtige
Richtung vornimmt: effizienter, zielgerichteter und weniger bürokratisch.
Nehmen Sie das Beispiel der Meldepflicht: Wenn
die Arbeitsämter von sich weiter arbeitslos meldenden
Menschen verstopft sind, ist es doch klar, daß die Leute
in den Arbeitsämtern keine Zeit für ihre eigentliche
Aufgabe haben. Die Arbeitsämter sollten ja in erster Linie Dienstleistungszentren für die Betriebe und die Arbeitslosen sein. Damit, sich den Stempel abzuholen, ist
es nicht getan. Vielmehr müssen sich die Arbeitsberater
und -vermittler vor Ort um Arbeitsplätze und Arbeitslose kümmern. Das, was Sie mit dem SGB III eingeführt
haben, ist eine sinnlose Arbeitsvermehrung zu Lasten
der Beschäftigten in den Arbeitsämtern. Und es stellte in
gewisser Weise auch eine Schikane gegenüber den Arbeitslosen dar; denn Sie wissen: Wenn das Arbeitsamt
jemanden einbestellen will, kann es dies tun. Dies wird
auch künftig so sein.
Damit keine Mißverständnisse auftreten: Die SPD besteht darauf, daß jeder Arbeitslose seine Arbeitskraft
einsetzen muß, soweit er oder sie dazu fähig ist. Sofern
von einzelnen Mißbrauch betrieben wird, werden wir
dagegen konsequent vorgehen. Aber wir sind gegen ein
rein bürokratisches Ritual, wie es die dreimonatige Meldepflicht für die Arbeitslosen darstellt.
Herr Kollege
Ostertag, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Dr. Grehn?
Ja, bitte.
Herr Kollege Ostertag, ich
gehe davon aus, daß wir darin übereinstimmen, daß dieses Änderungsgesetz für mehr soziale Gerechtigkeit
sorgt. Stimmen Sie mit mir auch darin überein, daß dieses Änderungsgesetz ein kostenneutraler Weg für mehr
soziale Gerechtigkeit ist? Und wie bewerten Sie im Gegensatz dazu die Regelungen des Sparpaketes, die die
Arbeitslosen betreffen?
Herr Grehn, Ihre Frage habe
ich eigentlich schon mit der Antwort auf die letzte Zwischenfrage beantwortet. Aber ich kann mich gerne wiederholen: Es handelt sich um einen Haushalt der Solidarität. Damit, daß die Steigerungsraten nicht so sind, wie
sich das die Arbeitslosen und die Rentner ausgerechnet
haben, verlangt man in der Tat viel. Aber wir tun immer
noch wesentlich mehr als die alte Regierung in den
letzten Jahren, insbesondere für die Rentner.
Wir kürzen nicht bei der Arbeitslosenhilfe, und wir
kürzen auch nicht beim Arbeitslosengeld. Wir werden
mit Ihnen auch im Ausschuß intensiv über den Vorschlag diskutieren, der zur originären Arbeitslosenhilfe
auf dem Tisch liegt. Ich glaube nicht, daß er sozial ungerecht ist. Im übrigen: Wenn es tatsächlich gelingt, einen
Haushalt der Solidarität hinzubekommen, der alle Bevölkerungsgruppen beteiligt, dann, so glaube ich, werden auch die Arbeitslosen und die Rentnerinnen und
Rentner Verständnis dafür haben, daß sie zwei Jahre
lang nur Zuwächse in Höhe der Preissteigerung haben
werden.
({0})
Meine Damen und Herren, die neue Bundesregierung
ist angetreten, um es besser zu machen. Deshalb machen
wir Schluß mit dieser Arbeitsmarktpolitik.
({1})
- Mit der F.D.P. müssen wir uns in der Frage der Arbeitsmarktpolitik wirklich nicht auseinandersetzen. Das
tun wir lieber mit der alten Regierung insgesamt,
({2})
denn was Sie in den letzten Jahren und auch in diesen
Tagen, etwa in der Ausschußberatung, geboten haben,
wenn es um die Arbeitsförderung ging, das sollte man
schleunigst vergessen. Das ist es nicht wert, sich damit
auseinanderzusetzen.
({3})
Die rotgrüne Bundesregierung räumt mit diesem Unsinn der vergangenen Jahre im SGB III ganz eindeutig
auf. Arbeit statt Arbeitslosigkeit fördern - das war ein
Slogan, den wir in den letzten Jahren immer wieder gebraucht haben und den wir auch umsetzen wollen. Er
soll und wird kein Lippenbekenntnis für uns sein, sondern wir wollen daraus konkrete Politik machen. Die
konkrete Politik schlägt sich jetzt erstmals im Gesetz zur
Änderung des SGB III nieder.
Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf
ist ein notwendiger Schritt zu einer besseren Arbeitsmarktpolitik. Sie können sich darauf verlassen, meine
Damen und Herren: Diese Bundesregierung wird der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit über die gesamte Legislaturperiode höchste Priorität einräumen. Wir werden
in dieser Legislaturperiode eine grundlegende Reform
der Arbeitsförderung durchführen. Wir werden die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik auf dem hohen Niveau von 1999 verstetigen, solange die Arbeitslosenzahl
dies erfordert. Wir werden keine Stop-and-go-Politik
und -Finanzierung betreiben, wie es in den letzten Jahren geschehen ist, sondern Verläßlichkeit für Arbeitslose
und Maßnahmeträger bieten. Das gilt trotz der schwierigen Haushaltslage des Bundes. Wir haben hier eindeutige Prioritäten gesetzt.
Bereits heute steht fest, daß das erfolgreiche Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit auch im nächsten Jahr fortgesetzt wird.
({4})
Die notwendigen Mittel werden in den Bundeshaushalt
eingestellt.
Wir werden die ersten Ergebnisse des Bündnisses
für Arbeit und Ausbildung gesetzgeberisch umsetzen.
Bei einigen haben wir es schon gemacht. Wir werden
nächste Woche in diesem Haus über einen dieser Mosaiksteine unserer Arbeitsmarktpolitik diskutieren. Wir
werden einen Antrag zur Wiedereinführung des
Schlechtwettergeldes verabschieden. Ich glaube, diese
Mosaiksteine passen gut zu einer neuen Perspektive in
der Arbeitsmarktpolitik - nicht nur für Bauarbeiter, sondern auch für andere Menschen.
({5})
Im Ergebnis sind wir auf einem guten Weg hin zu
mehr Beschäftigung und hin zu einer wirkungsvolleren
Arbeitsmarktpolitik. Die ersten Schritte sind getan; die
anderen werden konsequent in dieser Legislaturperiode
folgen.
Vielen Dank.
({6})
Bevor wir zur namentlichen Abstimmung kommen, gebe ich nun dem
voraussichtlich letzten Redner in dieser Debatte, dem
Kollegen Heinz Schemken, für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Ostertag, da fragt man sich wirklich, wer hier fummelt.
Die Diskussion über dieses Vorschaltgesetz macht deutlich, wie kurzfristig, wie kurzatmig und, so möchte ich
fast sagen, wie konzeptionslos diese Bundesregierung
und die Koalition dastehen, was den Arbeitsmarkt angeht.
({0})
Mit diesem Gesetz bringen Sie nicht mehr Menschen in
Arbeit, sondern weniger; das steht außer Frage. Gerade
die Elemente mit Brückenfunktion, die wir mit dem
AFRG eingebaut hatten, werden in wesentlichen Teilen
zurückgenommen. Gerade der Weg in den ersten Arbeitsmarkt könnte eine Brückenfunktion ausüben. Sie
aber verstärken die sozialen Leistungen. Sie nehmen die
Zumutbarkeitsgrenze zurück und kommen damit auch
sicherlich gegenüber den Beitragszahlern in die Beweislast. Sie nehmen Teile zurück, auch im Verhältnis
der Zumutungen, der Belastungen der Werktätigen und
der Beitragszahler. Das müssen wir auch einmal berücksichtigen. Sie stellen damit das Thema geradezu auf den
Kopf.
({1})
Ich frage Sie: Ist dies denn gerechter und sozialer?
Unter dieser Prämisse sind Sie ja im Wahlkampf angetreten. Ich sage: nein. Zum Beispiel die Verpflichtung,
daß sich Arbeitslose alle drei Monate bei ihrem zuständigen Arbeitsamt melden, verstärkt die Bemühungen,
verstärkt die Arbeitssuche, die Arbeitsbereitschaft und
im übrigen auch die Möglichkeit der Vermittlung. Das
war ein positiver Ansatz.
({2})
- Konrad, ja.
({3})
Dies ist sozial und gerecht - gegenüber den Beitragszahlern, gegenüber den Leistungsträgern und gegenüber
der Wirtschaft.
({4})
Dazu gehört auch die tägliche Pendelzeit. Ich kann
gar nicht einsehen, daß jemand, der einer Arbeit nachgeht, der in einem Arbeitsverhältnis steht, diese Pendelzeiten auf sich nehmen muß
({5})
und der Arbeitslose, der in Arbeit soll, Pendelzeiten als
Zumutung empfindet. Dies ist unverständlich.
({6})
Ich meine, es gehört zu einer gewissen Gerechtigkeit
und einem gewissen Selbstverständnis, daß dies miteinander übereinstimmen muß.
Die Frage der Tätigkeitsfelder, die Strukturanpassungsmaßnahmen, die Regiearbeit, die Sie wieder fördern wollen, all das macht deutlich, daß Sie nicht die
Brückenfunktion in den ersten Arbeitsmarkt, in reguläre
Arbeitsplätze, in erster Linie sehen, sondern daß Sie die
Alimentierung durch den Staat weiter verstärken wollen.
({7})
Dies ist nicht unser Weg. Wir wollen gerade die mittelständische Wirtschaft in den jungen Bundesländern
befähigen, daß sie sich über die Vergabemaßnahmen
bedient
({8})
und letztlich im städtebaulichen Bereich, im Denkmalschutz, in der Landschaftspflege mit Hilfe des Synergieeffekts mittelständische Strukturen verstärkt werden
können.
Lieber Kollege
Schemken, einen Augenblick. - Ich bitte wirklich, die
Höflichkeit gegenüber dem Redner zu wahren und keine
halben Fraktionssitzungen mitten im Plenarsaal durchzuführen.
({0})
Ich bitte wirklich, die Besprechungen in der Mitte des
Saales zu beenden.
({1})
Konrad, hör doch
einmal zu. - Deshalb ist die Rückführung der Strukturmaßnahmen gerade für die jungen Bundesländer nicht
das, was wir eigentlich erwarten, auch im Hinblick auf
die zukünftige Gestaltung des Arbeitsmarktes dort und
insbesondere in der Schaffung von Strukturen mittelständischer und handwerklicher Betriebe.
({0})
Dort sind die Arbeitsplätze entstanden. Es konnten gerade im mittelständischen Bereich in den letzten Jahren
300 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden.
Die grundsätzliche Erfahrung bei der Umsetzung dieser
Brückenfunktion sollte meiner Meinung nach nicht unterbrochen werden.
Herr Kollege
Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grehn?
({0})
- Die Frage habe ich allerdings an den Kollege Schemken gerichtet.
({1})
Ich muß eigentlich
auf diejenigen Rücksicht nehmen, die dort hinten an der
Wahlurne stehen. Ich kenne das ja. Es tut mir leid, Herr
Dr. Grehn. Ich hätte Ihre Frage gerne beantwortet. Das
hätte sicherlich auch zur Erheiterung beigetragen. Aber
ich bin davon überzeugt, daß ich in Ihrer aller Sinn handele, wenn ich die Ausführungen geschlossen zur
Kenntnis bringe.
Es ist sicherlich auch richtig, daß wir vor Ort mit den
Kommunen, mit den Handwerkskammern, mit der
mittelständischen Wirtschaft und den Arbeitsämtern dieses Thema angehen. Es ist von Herrn Ostertag eben gesagt worden, es würden mehr Spielräume für kreatives
Handeln vor Ort geschaffen. Ja, da frage ich mich: Wo
waren wir denn vor zwei Jahren? Wir haben diesen Innovationstopf eingeführt, der 10 Prozent der Mittel frei
verfügbar macht,
({0})
damit vor Ort in Eigenverantwortung gehandelt werden
kann. Sie haben ein kurzes Gedächtnis.
({1})
- Sicherlich, Herr Staatssekretär. Das haben Sie abgeschrieben. Sie wissen das doch. Sie waren doch morgens
bei den Obleuten dabei.
Aber - ich nenne ein Beispiel aus den jungen Bundesländern - der Druck der regionalen Handwerkskammern - etwa in Leipzig - hat es immerhin möglich gemacht, daß durch Vergabemaßnahmen der Gebäudesicherung und Gebäuderestaurierung ein Projekt von 24
Millionen DM mit 500 ABM-Kräften verwirklicht worden ist. Davon sind 10 Prozent in den ersten Arbeitsmarkt überführt worden. Das sind die Beispiele, die wir
brauchen. Deshalb ist die jetzige Rückführung in Regiemaßnahmen der falsche Weg. Wir kommen dabei
vom Ziel ab, nämlich den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen. Das wäre sozial, das wäre gerecht.
({2})
Gerade die Übernahme in Dauerarbeitsverhältnisse, soweit sie das Handwerk angeht, möchte ich zum
Anlaß nehmen, den Mittelständlern zu danken, die uns
davor bewahrt haben, daß die Arbeitslosigkeit noch höher ausgefallen ist.
({3})
Denn gerade in den großen Unternehmen und Konzernen wurden die Arbeitsplätze zurückgeführt. Es ist sicherlich unstrittig, daß Arbeitsplätze vom Mittelstand
geschaffen wurden. Dafür können Sie den Ministerpräsidenten und ehemaligen Wirtschaftsminister des Landes
Nordrhein-Westfalen, Herrn Clement, als Zeugen nehmen. Er propagiert das alle Tage. Aber Sie machen hier
genau das Gegenteil.
({4})
Ich habe es schon gesagt: Sie gehen den Weg zum
anderen Ufer der Alimentierung. Wir wollen eine Brükke hinüber in den ersten Arbeitsmarkt. Mit Ihren Maßnahmen bauen Sie nicht Brücken, sondern brechen
Brücken ab. Das ist die Wahrheit.
({5})
Ihre ständigen Ankündigungen stellen einen nachhaltigen Unsicherheitsfaktor dar, und diese negative Entwicklung macht sich sogar auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Es gibt - daran beißt keine Maus den Faden
ab; das ist Fakt - in diesem Monat im Vergleich zum
selben Monat des Vorjahres weniger Arbeitsplätze.
({6})
Ich mache jetzt schon darauf aufmerksam: Wir werden
das, was die Jobs und die Arbeitslosigkeit angeht, sauber
nachhalten, weil sich die Arbeitslosigkeit alleine schon
wegen der demographischen Problematik zurückentwickelt.
({7})
Entscheidend ist, was Sie in der Wirtschaft, im innovativen Bereich, bewirken. Mit der Erneuerung, mit der
Modernisierung muß es auch um neue Jobs gehen.
Soeben ist hier noch einmal England angeführt worden. Frau Dr. Dückert, Sie haben das auch getan. Die
englischen Verhältnisse wollen wir bei unserem gesellschaftlichen Verständnis von sozialer Marktwirtschaft
nicht haben. Zwei Drittel der Arbeitsplätze in England
werden als Jobs angeboten und sind keine gesicherten
Arbeitsverhältnisse. Deshalb wollen wir Herrn Blair
nicht unbedingt als Zeugen holen. Es wäre bedauerlich,
wenn das Schröder/Blair-Papier so übernommen würde.
Ich bin einmal gespannt, wie Leute vom Schlage Dreßlers und Schreiners zukünftig dazu stehen.
Meine Damen und Herren, alles in allem geht es um
die Glaubwürdigkeit. Was wir in den letzten Tagen erlebt haben und was auch heute morgen deutlich geworden ist, unterhöhlt das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit. Wenn Sie Eichels Sparplänen folgen, dann frage
ich die Sozialpolitiker unter den Sozialdemokraten:
Wollen Sie die Rente wirklich innerhalb von zwei Jahren auf 67 Prozent kürzen? Ist das wirklich von Ihnen so
gewollt? Ich sage Ihnen: Das ist ein Wortbruch. Sie wissen, ich bin sonst sehr vorsichtig, aber ich möchte folgendes feststellen: Wer von Ihnen in jüngster Zeit den
Rentnern die Nettolohnanpassung garantiert hat und diesem Kürzungsvorhaben zustimmt, muß sich vorhalten
lassen, daß er ein politischer Schwindler oder sogar
Lügner ist.
({8})
- Wenn er diesen Vorschlägen zustimmt und den Rentnern erklärt hat, daß die nettolohnbezogene Erhöhung
bleibt und gesichert wird.
({9})
- Ja, Frau Barnett. Ich werde Sie daran erinnern, und wir
werden das auch nachhalten.
Ich sage Ihnen abschließend noch eines: Ich wundere
mich über den DGB. Sie haben da ja sehr großen Einfluß. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten auch
nur halbwegs das angekündigt, was Sie jetzt vorhaben.
Dann hätten die Gewerkschaften einen Sturmmarsch auf
Bonn unternommen. Aber die Gewerkschaften haben
dieses Unternehmen im Wahlkampf nun einmal mitfinanziert und sind nun mitgefangen. Ich bedauere das
sehr. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn Sie weiterhin
in dieser Einvernehmlichkeit mit dem DGB Ihre Politik
machen, dann treten Sie am Ende gegen die kleinen
Leute an, verschaffen diesen noch Brüder und Schwestern, geben aber draußen vor - und da stellt sich die
Frage der Glaubwürdigkeit -, Anwalt der kleinen Leute
zu sein.
({10})
- Dann handeln Sie anders!
Ich kann nur eines sagen: Die Sozialpolitiker aus den
Reihen der Koalition müßten, wenn das eintritt, was hier
heute morgen auf den Tisch gelegt wurde, eigentlich gebeugt durch die Lande gehen. Sie müßten rot werden,
wenn sie vor den Spiegel treten.
({11})
Sie wissen sehr wohl, daß wir in den Ausschüssen darüber reden werden. Es ist nicht nur ein Stück unehrlicher
Politik, es ist auch Arroganz, die sich hier breit macht.
Ich bedauere dies sehr. Dieses Unternehmen, wie Sie es
jetzt in die Politik einführen, findet nicht unsere Zustimmung. Es schafft keine Arbeitsplätze, es bringt eine
soziale Schieflage von großem Ausmaß, und das Vertrauen in die Politik ist vollends gestört.
Schönen Dank.
({12})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch in der Ausschußfassung auf den
Drucksachen 14/873, 14/1066 und 14/1205 Buchstabe a.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
auf der Drucksache 14/1214 vor, über den wir zuerst abstimmen.
Die Fraktion der PDS verlangt dazu namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich eröffne die Abstimmung.
Darf ich fragen, ob Kolleginnen oder Kollegen im
Saale sind, die ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung.
({0})
- Ich habe doch gefragt, ob Kolleginnen oder Kollegen
im Saale sind, die noch nicht abgestimmt haben. Darauf,
daß dies der Fall ist, gab es von den Schriftführerinnen
und Schriftführern keine Hinweise.
Ich schließe also die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der Abstimmung
unterbreche ich die Sitzung.
({1})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 14/1214 bekannt. Abgegebene Stimmen 587. Mit Ja
haben gestimmt 30, mit Nein haben gestimmt 556, eine
Enthaltung. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 587;
davon:
ja: 30
nein: 556
enthalten: 1
Ja
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke-Reymann
Dr. Gregor Gysi
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Heidi Lippmann-Kasten
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Christine Ostrowski
Petra Pau
Gustav-Adolf Schur
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({0})
Wolfgang Bosbach
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Hartmut Büttner
({1})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({2})
Peter H. Carstensen
({3})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer
({5})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({6})
({7})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Dr. Heiner Geißler
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({8})
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({9})
Hansgeorg Hauser
({10})
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({11})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({12})
Dr. Manfred Lischewski
({13})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
({14})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Bernward Müller ({15})
Elmar Müller ({16})
Bernd Neumann ({17})
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({18})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Dr. Bernd Protzner
Dieter Pützhofen
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({19})
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
({20})
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth ({21})
Norbert Röttgen
Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({22})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({23})
Andreas Schmidt ({24})
Hans Peter Schmitz
({25})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Wolfgang Schulhoff
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr
von Stetten
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Dr. Rita Süssmuth
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß ({26})
Gerald Weiß ({27})
Heinz Wiese ({28})
Hans-Otto Wilhelm ({29})
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
SPD
Brigitte Adler
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({30})
Klaus Barthel ({31})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({32})
Bernhard Brinkmann
({33})
Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({34})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({35})
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Lilo Friedrich ({36})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Günter Graf ({37})
Angelika Graf ({38})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({39})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Vizepräsident Rudolf Seiters
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Uwe Hiksch
Reinhold Hiller ({40})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({41})
Walter Hoffmann
({42})
Iris Hoffmann ({43})
Frank Hofmann ({44})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({45})
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({46})
Detlev von Larcher
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({47})
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({48})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Christoph Matschie
Ingrid Matthäus-Maier
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({49})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({50})
Jutta Müller ({51})
Christian Müller ({52})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({53})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Holger Ortel
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({54})
Birgit Roth ({55})
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({56})
Ulla Schmidt ({57})
Silvia Schmidt ({58})
Dagmar Schmidt ({59})
Wilhelm Schmidt ({60})
Heinz Schmitt ({61})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Dr. Mathias Schubert
Reinhard Schultz
({62})
Volkmar Schultz ({63})
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dietmar Schütz ({64})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({65})
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({66})
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({67})
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({68})
Jürgen Wieczorek ({69})
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({70})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({71})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({72})
Waltraud Wolff ({73})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({74})
Volker Beck ({75})
Matthias Berninger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({76})
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Klaus Wolfgang Müller
({77})
Kerstin Müller ({78})
Winfried Nachtwei
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({79})
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({80})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Dr. Antje Vollmer
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm ({81})
Margareta Wolf ({82})
F.D.P.
({83})
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({84})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({85})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Walter Hirche
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich Kolb
Gudrun Kopp
Vizepräsident Rudolf Seiters
Jürgen Koppelin
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Jürgen W. Möllemann
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({86})
Cornelia Pieper
Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sylvia Voß
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({87})
Adam, Ulrich, CDU/CSU
Freitag, Dagmar, SPD
Lintner, Eduard, CDU/CSU
Neumann ({88}), Gerhard,
SPD
Siebert, Bernd, CDU/CSU
Behrendt, Wolfgang, SPD
Dr. Hornhues, Karl-Heinz,
CDU/CSU
Lörcher, Christa, SPD
Dr. Scheer, Hermann, SPD
Dr. Wodarg, Wolfgang, SPD
Bindig, Rudolf, SPD
Hornung, Siegfried,
CDU/CSU
Maaß ({89}),
Erich, CDU/CSU
Schloten, Dieter, SPD
Zierer, Benno, CDU/CSU
Bühler ({90}), Klaus,
CDU/CSU
Jäger, Renate, SPD
Müller ({91}), Manfred,
PDS
von Schmude, Michael,
CDU/CSU
Dann kommen wir zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf in der Ausschußfassung. Wer stimmt für diesen
Gesetzentwurf in der Ausschußfassung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
F.D.P. angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten
Beratung angenommen.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurf eines Inter-
essenausgleichsgesetzes auf Drucksache 14/208. Der
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf
Drucksache 14/1205 unter Buchstabe b, den Gesetzent-
wurf abzulehnen.
Ich lasse nun über den Gesetzentwurf der PDS auf
Drucksache 14/208 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf der PDS zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abge-
lehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c - Ent-
wicklungspolitische Debatte - auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ({92})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Unterstützung der demokratischen Entwick-
lung in Nigeria
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen
Hedrich, Dr. Christian Ruck, Karl Lamers, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Demokratische Entwicklung in Nigeria unter-
stützen
- Drucksachen 14/315, 14/283, 14/1243 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Becker-Inglau
Hans-Christian Ströbele
Carsten Hübner
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ({93})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Kortmann, Brigitte Adler, Hermann
Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian
Ströbele, Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten in bewaffneten Konflikten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Erika Reinhardt, Dr. Norbert Blüm, Klaus-Jürgen
Vizepräsident Rudolf Seiters
Hedrich, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Gegen den Mißbrauch von Kindern als
Soldaten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Fred Gebhardt, Carsten Hübner, Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Einsatz von Kindern als Soldaten wirksam
verhindern
- Drucksachen 14/806, 14/310, 14/552, 14/1242 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({94})
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({95})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele
Fograscher, Adelheid Tröscher, Günter Oesinghaus, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller
({96}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
UN-Sondergeneralversammlung - 5 Jahre
nach der Konferenz für Bevölkerung und
Entwicklung in Kairo - Aktive Bevölkerungspolitik in der Entwicklungszusammenarbeit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marlies
Pretzlaff, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Norbert
Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
5 Jahre nach Kairo: Umsetzung der Beschlüsse der Konferenz der Vereinten Nationen zu Weltbevölkerung und Entwicklung 1994
- Drucksachen 14/797, 14/446, 14/1239 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Fograscher
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({97})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als erster Rednerin der Kollegin Karin Kortmann von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche haben wir in der internationalen Staatengemeinschaft zwei entscheidende Weichenstellungen für
eine armutsorientierte Entwicklungspolitik beschließen
können.
Die Kölner Entschuldungsinitiative der G-7Staaten ermöglicht es den hochverschuldeten armen
Entwicklungsländern, sich endlich aus der Armutsspirale zu befreien und in ihren nationalen Haushalten
finanzielle Mittel für Armutsbekämpfung, wie unter anderem für Bildung, Gesundheit und Wasserversorgung,
bereitzustellen.
({0})
Unser gemeinsamer Dank in diesem Parlament sollte
heute unserer Entwicklungsministerin Heide WieczorekZeul gelten,
({1})
durch deren unermüdlichen Einsatz es in kürzester Zeit
gelungen ist, in der Zusammenarbeit mit den NGOs für
Geber- und Empfängerländer zu einer gemeinsamen erfolgversprechenden Grundlage zu kommen. Es zeigt
sich, daß es des politischen Willens bedurfte, festgefahrene Strukturen zu verändern und nach langem Stillstand
auf internationaler Ebene wieder ein Einvernehmen herzustellen.
({2})
Die zweite entscheidende Weichenstellung, die wir
auch hier im Parlament beraten haben, wurde vor genau
einer Woche vorgenommen. Da haben nämlich in Genf
174 Mitgliedstaaten der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, eine neue Konvention zur Beseitigung der
schlimmsten Formen der Kinderarbeit verabschiedet.
Wir begrüßen die einstimmige Entscheidung der ILOKonferenz, die schwerwiegenden Formen der Ausbeutung von Kindern durch Kinderarbeit weltweit abzuschaffen.
({3})
Es ist kaum vorstellbar, daß nach wie vor schätzungsweise 50 bis 60 Millionen Kinder im Alter von
fünf bis elf Jahren unter ausbeuterischen und gefährlichen Bedingungen arbeiten müssen - ein Skandal und
ein Armutszeugnis für die Welt, in der wir leben und für
die wir doch alle Verantwortung zu tragen haben.
Neben dem Verbot der Sklaverei, des Kinderhandels
und der Prostitution hat die ILO-Konvention unter anderem die Zwangsrekrutierung von Kindern für den
Einsatz in bewaffneten Konflikten verboten. Dies begrüßen wir ausdrücklich, denn es war längst überfällig,
daß dies geschieht.
({4})
Wir wissen, daß Kinder schon immer die Leidtragenden in bewaffneten Konflikten waren. Sie wurden für
kriegerische Zwecke mißbraucht. Heute stehen wir vor
der traurigen Bilanz, daß zirka 300 000 Kinder weltweit,
Vizepräsident Rudolf Seiters
vor allem in den sogenannten Entwicklungsländern, in
kriegerischen Konflikten eingesetzt werden. Neben dem
Einsatz als Frontkämpfer in bewaffneten Konflikten
werden Kinder auch als Handlanger, Spione, Wachen,
Leibwächter und sogar als lebendige Schutzschilde oder
Voraustrupp für Minenfelder mißbraucht - eine Aufzählung, die, wie ich meine, kaum tragischer sein
könnte.
Das Alter der Rekrutierten liegt meist zwischen 15
und 18 Jahren; jedoch belegen Veröffentlichungen, daß
immer mehr Heranwachsende unter 15 Jahren und sogar
Kinder unter zehn Jahren zum Dienst an der Waffe
herangezogen werden. Neben dem direkten Anwerben
kommt es zunehmend zu Zwangsrekrutierungen durch
Erpressung oder Entführung. Meistens stammen die
Opfer aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten
Gruppen oder aus Konfliktzonen; sie sind Vertriebene
und Flüchtlinge. Es sind häufig die Armut, die mangelnde Versorgung und die fehlende Zukunftsperspektive,
die diese jungen Menschen in bewaffnete Gruppen treiben.
Besonders grausam - und deswegen besonders hervorzuheben - ist das Schicksal von Mädchen. In zahlreichen Rebellenorganisationen sind sie fester Bestandteil. Sie werden dort nicht nur wie die Jungen im Krieg
eingesetzt, sondern sie sind nach wie vor leider häufig
Opfer sexuellen Mißbrauchs und sexueller Ausbeutung.
Der Begriff Soldatenbräute ist ein beschönigender Ausdruck für ein nicht wiedergutzumachendes Verbrechen
an diesen Kindern, unter deren seelischen Folgen sie ein
Leben lang leiden und das ihnen häufig eine Rückkehr
in ein ziviles Leben unmöglich macht. Ich glaube, es ist
nicht übertrieben, wenn man sagt, es ist ein Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, das an Millionen von Kindern
verübt wird.
({5})
Mit unserem Antrag „Gegen den Einsatz von Kindern
als Soldaten in bewaffneten Konflikten“ unterstreichen
wir, daß es Aufgabe der Politik ist, den umfassenden
Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten zu garantieren. Dazu haben wir einen umfassenden Maßnahmekatalog vorgelegt, der helfen soll, die Menschenrechte der schutzbedürftigen Kinder zu sichern. Dazu
gehört für uns zuallererst, daß wir uns bei den Verhandlungen über ein Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention für die Festlegung eines Mindestalters von
18 Jahren für Kinder in bewaffneten Konflikten einsetzen. Das schließt sowohl die direkte als auch die indirekte Teilnahme an Kampfhandlungen ein. Es muß ein
Zusatzprotokoll verabschiedet werden, das die Rekrutierung und Einberufung von Kindern unter 18 Jahren in
Armeen sowie ihre aktive Teilnahme an bewaffneten
Feindseligkeiten ausschließt. Das ist dringend erforderlich.
Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierung
darauf hinwirken, daß minderjährige Flüchtlinge, die in
ihrer Heimat als Kindersoldaten eingesetzt wurden, bei
ihrer Ankunft in Deutschland psychosoziale Betreuung
erhalten. Wir müssen vor allem sicherstellen, daß eine
erneute Rekrutierung ehemaliger Kindersoldaten auf
Dauer ausgeschlossen wird.
({6})
Wir haben große Verpflichtungen im Bereich der Rüstungsexportpolitik und der Waffenherstellung. Ich
möchte Sie auf drei Punkte aufmerksam machen, deren
Umsetzung wir vorhaben.
Erstens. Gemäß des von der Bundesregierung unterstützten EU-Code-of-Conduct für Waffenexporte aus
den EU-Staaten in Drittländer muß die Menschenrechtssituation im Empfängerland als ein wichtiges Kriterium
für die Untersagung von Waffenexporten betrachtet
werden.
Zweitens. Gemeinsam mit der Bundesregierung werden wir uns in Anlehnung an die von ihr initiierte gemeinsame Aktion der EU weiterhin für Maßnahmen zur
Bekämpfung der exzessiven und unkontrollierten Ansammlung und Proliferation von Kleinwaffen einsetzen.
Drittens. Wir erwarten, daß die Bundesregierung auch
weiterhin darauf hinwirkt, daß das Ottawa-Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der
Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen
und über deren Vernichtung Universalität erlangt und
internationale Bemühungen zur Minenräumung gestärkt
werden.
({7})
Wir freuen uns, daß die Bundesregierung unsere Anregung für eine für den Herbst diesen Jahres von der
„Coalition to Stop the Use of Child Soldiers“ in
Deutschland geplante Konferenz unterstützt und
Deutschland Gastgeberland ist.
({8})
Es zeigt wieder einmal, wie wichtig die Zusammenarbeit
mit den Nichtregierungsorganisationen ist.
Ich möchte an dieser Stelle stellvertretend all denjenigen danken, die sich wie UNICEF, Terre des hommes
oder das Jugendrotkreuz national und weltweit gegen
den Einsatz von Kindern als Soldaten in bewaffneten
Konflikten einsetzen. Ihnen möchte ich an dieser Stelle
ausdrücklich Dank sagen. Bleiben Sie uns auch weiterhin kritische Solidaritätspartner! Die Kinder und wir
brauchen Sie. Dafür danken wir Ihnen ganz herzlich.
({9})
Das war die erste
Rede der Kollegin Karin Kortmann. Ich möchte ihr dazu
im Namen des Hauses herzlich gratulieren.
({0})
Nun gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Christian
Ruck, CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige
entwicklungspolitische Debatte findet vor dem Hintergrund mehrerer wichtiger Ereignisse der letzten Tage
statt, die unsere Arbeit und unsere Politik beeinflussen
werden. Dazu gehört die ILO-Entscheidung zur Kinderarbeit und zu den Kindersoldaten. Darüber sind wir uns
einig. Dazu gehört auch die auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln beschlossene Entschuldung armer Entwicklungsländer.
Auch wir begrüßen ausdrücklich die Verhandlungsergebnisse, gemäß denen die Bundesrepublik in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten auf die Rückzahlung
von 3 bis 3,5 Milliarden DM verzichtet. Wir setzen damit die Tradition der Schuldenerlasse in der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit, wie zum Beispiel unter
den Ministern Spranger und Johnny Klein, fort; bisher
wurden bereits Schulden in einer Größenordnung von
9,1 Milliarden DM erlassen. Wir begrüßen auch, daß die
anderen wichtigen Gebernationen für eine Paketlösung
respektablen Ausmaßes gewonnen werden konnten, daß
die Zielmarge für tragfähige Entschuldung abgesenkt
wurde und daß das Fristen- und Mengengerüst flexibilisiert werden konnte.
({0})
Alles in allem gehen wir damit einen für viele hochverschuldete Entwicklungsländer wichtigen Schritt in
die richtige Richtung, der geschlossen vom Parlament
unterstützt wird, zu dem wir aber auch durch eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen, einschließlich
der beiden großen Kirchen in Deutschland, angestoßen
und gedrängt wurden. Auch diesen gilt unser Dank und
unsere aufrichtige Anerkennung.
({1})
Eine entscheidende Frage wurde jedoch nicht geklärt,
nämlich wie Entschuldung konkret in Entwicklung umgesetzt werden kann. Zwar haben alle Beteiligten, auch
die 16 Bischöfe, die vor kurzem in Bonn waren, versichert, daß die Notwendigkeit einer Konditionierung unstrittig sei. Wie diese aber konkret aussehen soll, wurde
weder von den Kirchenvertretern noch von anderen Gipfelteilnehmern endgültig beantwortet. Auch die Gegenwertfonds kommen in den Abschlußdokumenten nicht
vor. Das Thema wurde dem IWF und der Weltbank bis
zur Herbsttagung als Hausaufgabe mit auf den Weg gegeben.
Ich glaube, wir sind nicht nur deswegen gut beraten,
in der Frage der Konditionierung einen sehr strikten
Kurs zu fahren, weil es um das Geld des deutschen
Steuerzahlers geht. In vielen Fällen besteht die Gefahr,
daß die Entschuldung wirkungslos verpufft, wenn nicht
gleichzeitig in den Ländern selbst grundlegende wirtschaftliche, politische und soziale Reformen stattfinden.
Nach einem Neuanfang darf es nicht mit der gleichen
Verschwendung, der gleichen Mißwirtschaft, der gleichen Ausbeutung der Armen und der gleichen Umweltzerstörung weitergehen.
Wir haben bis zum Herbst Zeit, den potentiell großen
Einfluß der Bundesrepublik auf Weltbank und IWF zum
Festzurren von Methoden geltend zu machen, damit die
Entschuldungsinitiativen tatsächlich der breiten Bevölkerung und „good governance“ zugute kommen, zum
Beispiel durch wasserdichte und trotzdem unbürokratische Gegenwertfonds oder durch hieb- und stichfeste
Anpassungsvereinbarungen, die mehr als makroökonomische Grunddaten beinhalten.
Die Einmischung in verkorkste innere Angelegenheiten mancher Entwicklungs- und Schwellenländer hat
natürlich einen Preis, der über die Entschuldung hinausgeht. Wir müssen glaubwürdig und Schritt für Schritt
auch den Protektionismus der EU abbauen und den
Welthandel so liberalisieren, daß auch schwächere Entwicklungsländer ihren komparativen Vorteil zum Tragen
bringen können.
Herr Kollege Ruck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, Frau Staatssekretärin.
Herr
Kollege Ruck, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
daß bei der Kölner Entschuldungsinitiative sehr wohl
eine Konditionalität eingeführt worden ist, nämlich die
der guten Regierungsführung? Das heißt, daß in Zukunft
Regierungen bzw. Länder sich nicht qualifizieren bzw.
von der Entschuldung ausgeschlossen werden, wenn sie
keine gute Regierungsführung aufweisen, wenn also
zum Beispiel ihre Ausgaben für militärische Zwecke
steigen oder Korruption nicht unterbunden wird.
({0})
Nehmen Sie dies bitte zur Kenntnis. Sie haben es nämlich eingefordert und so getan, als gäbe es diese Konditionalität nicht. Deswegen meine Frage, ob Sie zur
Kenntnis nehmen würden, daß es diese Konditionalität
gibt.
Ich antworte Ihnen
darauf wie folgt, Frau Eid: Ich habe davon gesprochen,
daß diese Konditionierung im Detail nicht endgültig
und zufriedenstellend gelöst ist. Auch ich kenne die
Texte, aber wenn „good governance“ wirklich als Kriterium zum Tragen kommen soll, gibt es noch genug Arbeit, um für all die Länder, die in Frage kommen, Fall
für Fall zu definieren, was darunter spezifisch für dieses
und jenes Land zu verstehen ist. Ich möchte Ihnen ein
Vizepräsident Rudolf Seiters
Beispiel nennen, wo dieses meines Erachtens schiefgegangen ist.
({0})
- Das gehört allerdings auch noch zur Beantwortung
meiner Frage.
({1})
- Ich sage das wegen der Redezeit.
Der Fall Elfenbeinküste ist auch unter dem Stichwort
„good governance“ geregelt worden; das ist eigentlich
schon abgehakt. Trotzdem haben wir, glaube ich, einen
Fehler gemacht: Wir haben den Forstsektor länderspezifisch nicht genau festgezurrt. An der Elfenbeinküste
liegt ein wichtiger Schwerpunkt auf dem Forstsektor. Im
Rahmen des Klimaschutzes müssen an der Elfenbeinküste die letzten Regenwälder gerettet werden. Wir haben
Riesenschwierigkeiten, mit der Elfenbeinküste zusammenzuarbeiten. Ich will jetzt gar nicht die Details nennen; Sie kennen sie wahrscheinlich. Es wäre meiner Ansicht nach wichtig gewesen, in der HIPC-Akte die Kooperation der Elfenbeinküste auch für den Forstsektor zu
fordern. Das ist nicht geschehen.
Meiner Ansicht nach sind wir im Fall der Gegenwertfonds, die gerade von den NGOs eingefordert wurden,
noch nicht konkret genug geworden, obwohl das ein
Mittel ist, das wir, wenn wir einiges daran verbessern,
gut in die Diskussion einbringen könnten. Ich hoffe, ich
habe Ihre Frage damit beantwortet.
Wir haben damit einen klassischen Fall erlebt, wie man seine Redezeit verlängern kann.
So wollte ich das
gar nicht verstanden wissen.
Die Entwicklungsereignisse des Kölner Gipfels treten
angesichts des großen Ereignisses der letzten zwei Tage
allerdings völlig in den Hintergrund, nämlich angesichts
des furchtbaren Desasters, das rotgrüne Politik in unserem Entwicklungshaushalt anrichtet. Die allenfalls
60 Millionen bis 80 Millionen DM pro Jahr, die dem
Bundeshaushalt durch die Entschuldung verlorengehen
und den Entwicklungsländern zugute kommen, sind
nämlich tatsächlich Peanuts im Vergleich zu dem Kahlschlag von über 570 Millionen DM im Ressort für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung allein für
das Jahr 2000. Die Katastrophe weitet sich auf ein
Minus von fast 1 Milliarde DM bis zum Jahr 2003 aus.
Meine Damen und Herren, mir klingeln noch die Ohren von den jährlichen entrüsteten Vorwürfen der damaligen Oppositionsredner, wenn unser Haushalt nur leicht
erhöht wurde oder gar - übrigens zu unserem eigenen
Mißfallen - leicht gesunken ist. Im Gegensatz zu uns
haben Sie den Wählern große Zeiten auch im Entwicklungshaushalt angekündigt, und dies noch Ende letzten
Jahres. Sie, Frau Ministerin, haben die Trendwende in
der Entwicklungspolitik beschworen - völlig zu Recht;
denn jetzt fallen wir mit unserem Entwicklungshaushalt
auf den Stand von 1988 und 1989 zurück. Sie haben der
dritten Welt sogar noch auf dem Gipfel in Köln eine Erhöhung der deutschen Entwicklungsmittel zugesagt, und
zwar schriftlich. Das ist nichts anderes als ein gigantischer Fall von nationalem und internationalem Vertrauensbruch.
({0})
Was haben Sie Minister Spranger und uns damals bei
viel bescheideneren und trotzdem ärgerlichen Kürzungen immer vorgeworfen? Wir hätten uns in der Gesamtpolitik nicht durchsetzen können. Das, was jetzt geschieht, ist im Vergleich dazu ein Erdrutsch, unter dem
Sie alle begraben liegen, ein entwicklungspolitischer Offenbarungseid erster Qualität.
({1})
Eines möchten wir festhalten: Unser Entwicklungshaushalt wurde verfrühstückt von Lafontaine mit seinen
unverantwortlichen Haushaltssteigerungen im konsumtiven Bereich, im Personalbereich an der falschen Stelle,
durch die Rücknahme von Reformen im Renten- und
Gesundheitsbereich, durch die Aufblähung in der Arbeitsmarktpolitik usw. usf. Den großen entwicklungspolitischen Sprüchen folgt nichts anderes als Kahlschlag, Steinbruch und Wortbruch; Wortbruch gegenüber den Kirchen und Stiftungen und anderen engagierten NGOs, deren Mittel Sie in dramatischer Weise
zusammenstreichen - zuerst um 70 Millionen DM
und bis zum Jahr 2003 um sage und schreibe 140 Millionen DM -, Wortbruch beispielsweise auch gegenüber
den Transformationsländern, die auf unsere Hilfe mehr
denn je angewiesen sind, und Wortbruch auch gegenüber den Menschen in den Entwicklungsländern.
Die Entwicklungspolitiker der CDU/CSU-Fraktion
hängen zu sehr am Thema, als daß sie Schadenfreude
entwickeln könnten. Wir können auch nachempfinden,
wie den Kollegen der Koalition zumute ist. Aber mit
diesem entwicklungspolitischen Scherbenhaufen können
und wollen wir uns nicht abfinden. Diese Regierung
steht auch in der Entwicklungspolitik für „bad governance“. Wenn die rotgrüne Bundesregierung dies
nicht schnell korrigiert, können Entwicklungsländer und
Entwicklungspolitiker nur auf einen schnellen Regierungswechsel hoffen. Wir jedenfalls arbeiten darauf hin.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Werner Schuster von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Deswegen antworte
ich Ihnen auch, Herr Ruck.
Mit Ihrem heutigen Beitrag haben Sie der Entwicklungspolitik einen Bärendienst erwiesen. Sie wußten
ganz genau, daß für die heutige Sitzung primär eine
Diskussion über Nigeria beantragt worden war. Es war
mühsam genug, zu diesem Thema - es geht um das
volkreichste Land in Afrika; dazu wird Herr Tappe
nachher noch etwas sagen - eine Beschlußempfehlung
hinzubekommen. Dann sind die Themen Kindersoldaten
und Weltbevölkerung draufgesattelt worden. Beide
Themen hätten einen eigenen Tagesordnungspunkt gerechtfertigt. Ich nehme an, daß Sie das genauso sehen.
({0})
Daraus ist nun ein entwicklungspolitischer Eisenbahnzug geworden, den wir alle nicht wollten.
Jetzt mißbrauchen Sie diese Debatte nachträglich sogar noch zu einer Grundsatzdiskussion, obwohl Sie wissen, daß wir über den Haushalt im September und November ausführlich reden werden.
Nun möchte ich Ihnen aber noch den kleinen Unterschied deutlich machen: Es tut niemandem mehr weh als
uns Entwicklungspolitikern, daß Kürzungen in diesem
Bereich stattgefunden haben. Aber wir haben keine
Schattenhaushalte zur Verfügung, wir haben die Verschuldung nicht verfünffacht. Sie haben es nie geschafft,
30 Milliarden DM einzusparen. Wir haben die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts nicht zu verantworten.
Das ist die Konsequenz Ihrer Familienpolitik. Damit
müssen wir jetzt fertig werden. Wir haben ganz andere
Voraussetzungen. Sie haben bei steigendem Gesamthaushalt gekürzt. Wir kürzen im Rahmen eines drastisch
gesenkten Haushaltes. Wenn das kein Unterschied ist,
Herr Ruck, dann haben wir Probleme, miteinander zu
diskutieren.
({1})
Deswegen, Herr Blüm, meine herzliche Bitte an Sie:
Lassen Sie uns in den nächsten Monaten bis zum November, wenn über den Haushalt entschieden werden
wird, gemeinsam zwei Dinge tun: Erstens. Wenn gekürzt werden muß, dann lassen Sie uns bitte schön mit
entwicklungspolitischem Sachverstand und nicht mit
Haushältersachverstand kürzen und umschichten. Lassen
Sie uns zweitens gemeinsam versuchen, durchzusetzen,
daß für den BMZ-Haushalt dasselbe wie für den Forschungshaushalt gilt, daß er nämlich den Zusagen, die
aus gutem Grund in der Koalitionsvereinbarung enthalten sind, wenigstens annähernd gerecht wird. Darüber
sollten wir im Herbst, nicht aber heute im Rahmen einer
Sachdebatte diskutieren.
({2})
Vorsorglich weise
ich darauf hin, daß eine Kurzintervention als Antwort
auf die Kurzintervention des Kollegen Schuster nicht
möglich ist. Allenfalls darf der angesprochene Kollege
Ruck antworten, sofern er dies möchte.
Lieber Kollege
Schuster, daß ich Ihre Interpretation der Ursachen der
Haushaltslage nicht teile, habe ich schon vorhin deutlich
gemacht. Der frühere Finanzminister Lafontaine hat mit
einer beispiellosen Aufblähung des Haushaltes vor allem
im komsumtiven Bereich, die nicht nötig gewesen wäre,
die Grundlage dafür geschaffen, daß der rotgrünen Bundesregierung auf allen Feldern das Geld ausgeht. Das ist
die Wahrheit und nichts anderes.
Natürlich sind das Thema Nigeria - ich habe an dem
Antrag selbst mitgestrickt - und noch mehr das Thema
Kindersoldaten sehr ernste Themen; da gibt es kein
Vertun. Aber wenn eine Haushaltsvorlage bekannt wird,
die vorsieht, daß der Entwicklungshaushalt um bis zu
1 Milliarde DM pro Jahr zusammengestrichen wird,
dann geht es um Dimensionen, die wirklich alles in den
Schatten stellen. Durch solche Kürzungen produzieren
wir nicht nur ein Nigeria, sondern viele Nigerias. Deswegen bin ich nicht bereit, zu akzeptieren, daß Sie mir
die Themen der heutigen entwicklungspolitischen Debatte vorschreiben wollen. Gestern ist die Bombe geplatzt, heute ist die erste Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Deswegen müssen wir es heute auch tun.
({0})
Das Wort hat nunmehr für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Angelika Köster-Loßack.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu dem, was der geschätzte Kollege Ruck gerade sagte, nur eine Bemerkung: Der frühere Bundeskanzler Kohl hat beim UNCED-Gipfel 1992 in Rio einen Aufwuchs des entwicklungspolitischen Budgets auf
0,7 Prozent zugesagt. Statt dessen hatten wir 1998 mit
0,26 Prozent den Tiefstand erreicht.
({0})
Wir müssen die Gesamtentwicklung sehen, was diesen
Haushalt angeht, auch wenn wir darüber ebenfalls nicht
glücklich sind.
Nun komme ich zu den Themen, die wir heute behandeln wollen, also zur Problematik der Kindersoldaten
und zu den Perspektiven der Bevölkerungspolitik fünf
Jahre nach der Konferenz in Kairo.
Es ist erfreulich, daß wir beim Thema Bevölkerungspolitik zu einer interfraktionellen Beschlußempfehlung
gekommen sind. Auch bei den Anträgen zu den Kindersoldaten ist in vielen Punkten Einigkeit festzustellen. In
allen Anträgen wird gefordert, daß der Einsatz von
Kindern in bewaffneten Konflikten endlich international verboten wird. Das schließt auch an das letzte Woche beschlossene ILO-Übereinkommen zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit an. Der Fortschritt dieser
neuen Konvention besteht darin, daß die Altersgrenze
von 15 auf 18 Jahre hochgesetzt wurde. Leider wurde hauptsächlich auf Druck der Vereinigten Staaten von
Amerika und von Großbritannien - nur die Zwangsrekrutierung von Kindern für den Einsatz in bewaffneten
Konflikten verboten. Ich finde es dagegen notwendig,
daß jeder Einsatz von Kindern in bewaffneten Konflikten künftig geächtet wird.
({1})
In diesem Zusammenhang sollte auch der deutsche
Verteidigungsminister ernsthaft prüfen, die Ausbildung
und den Dienst von unter 18jährigen an der Waffe einzustellen. Dies würde die internationale Glaubwürdigkeit Deutschlands erhöhen, die wichtig dafür ist, endlich
ein Abkommen zum Verbot jeder Teilnahme von Kindern an bewaffneten Konflikten durchsetzen zu können.
({2})
Psychosoziale Betreuung für geflüchtete Kindersoldaten in Deutschland muß möglich gemacht werden;
denn ohne den Versuch, wenigstens die schwersten
Traumatisierungen abzubauen, wird die Spirale der Gewalt in die nächsten Generationen hineingetragen.
Wir wollen auch die Menschenrechtssituation in
den Empfängerländern als wichtiges Kriterium für die
Untersagung von Waffenexporten einführen. Gerade in
dieser Frage wird sich zeigen, ob wir die richtigen Lehren aus dem Kosovo-Krieg ziehen.
Wir müssen die Instrumente der zivilen Krisenprävention stärken und Waffenexporte in Zukunft viel restriktiver handhaben.
({3})
Dazu gehört für mich auch eine bessere Mittelausstattung in den kommenden Haushalten im Hinblick auf die
zivile Krisenprävention. Krisenprävention im Vorfeld
kriegerischer Auseinandersetzungen ist menschenrechtlich geboten und in jeder Hinsicht billiger als militärische Gewalt. Das haben wir immer wieder - leider meist
ohne Erfolg - schon bei der alten Regierung angemahnt.
Die Vorgeschichte des Kosovo-Krieges liefert hier ein
abschreckendes Beispiel von unterlassener Hilfeleistung.
({4})
Aber auch unsere eigene Regierung wird an der Gewichtung von Krisenprävention gemessen werden.
Mädchen sind als Kindersoldaten einer doppelten
Diskriminierung ausgesetzt; insbesondere sind sie Opfer
sexueller Gewalt. Wir fordern die Bundesregierung auf,
sich auch in diesem Zusammenhang für die Beseitigung
eklatanter Menschenrechtsverletzungen einzusetzen.
Zur Überprüfung von Verstößen gegen internationale
Übereinkommen ist es außerdem wichtig, daß wir darauf
hinarbeiten, daß Kinder Dokumente erhalten, aus denen
ihr Alter hervorgeht. Auch setzen wir uns gemeinsam
dafür ein, daß sich die Bundesregierung für die universelle Geltung des Ottawa-Übereinkommens zum Verbot
von Antipersonenminen einsetzt; denn Minen stellen in
bewaffneten Konflikten insbesondere für Kinder eine
besondere Gefährdung dar.
In diesem Zusammenhang verdient auch die von den
EU-Entwicklungshilfeministern aufgenommene Initiative der neuen Regierung zur Eindämmung der Verbreitung von Kleinwaffen jede Unterstützung. Ich finde es
wichtig, darauf hinzuweisen, daß es dem Einsatz der
Bundesregierung zu verdanken ist, daß eine der vier
weltweiten Regionalkonferenzen zum Thema Kindersoldaten im Herbst in Berlin stattfinden wird, wo alle
diese Fragen nicht nur diskutiert werden können, sondern hoffentlich auch zu einem guten Abschluß gebracht
werden.
({5})
Wenn wir uns das riesige Problem der Überbevölkerung und der zunehmenden Armut in vielen Entwicklungsländern vergegenwärtigen, wird klar, daß Bevölkerungspolitik auch in Zukunft ein Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit sein muß. Bisher werden die
Ziele des Kairoer Aktionsprogramms von der Bundesregierung mit jährlich 450 Millionen DM unterstützt. Aus
meiner Sicht muß vor allem die Sexualaufklärung von
Jugendlichen gefördert werden; denn ungewollte
Schwangerschaften und gefährliche Methoden des
Schwangerschaftsabbruchs gefährden eine verantwortliche Familienplanung und vor allem die reproduktive
Gesundheit von Mädchen und Frauen.
Entscheidend für den Erfolg aller dieser Maßnahmen
ist die Stärkung der Stellung der Frauen. Nur wenn diese
Zugang zu Grundbildung, Basisgesundheitsdiensten und
zu unabhängiger Existenzsicherung erhalten, läßt sich
der fatale Kreislauf von Unwissenheit, Armut und Überbevölkerung durchbrechen.
({6})
Ich komme zum Schluß. Es ist besonders notwendig,
mit Regierungsinstitutionen, aber auch mit den Initiativen der Zivilgesellschaft in Nord und Süd zusammenzuarbeiten, die die von mir beschriebenen Ziele vertreten
und unterstützen. Mit den Regierungen gibt es in diesem
Zusammenhang oft Probleme.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Als nächster Redner
spricht für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Gerhard
Schüßler.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte eine
Vorbemerkung machen - Herr Schuster hat schon darauf
hingewiesen -: Für eine entwicklungspolitische Debatte
mit drei wichtigen Themen ist eine Zeit von einer Stunde absolut unangemessen.
({0})
Es stimmt einen sicherlich nachdenklich, wenn man sich
fragt, ob diese kurze Debattenzeit nicht einen Hinweis
auf den Stellenwert der Entwicklungspolitik in diesem
Hause gibt. Ich habe es besonders schwer, weil ich in
sieben Minuten zu drei wichtigen Themen etwas sagen
möchte. Ich werde es versuchen.
Mit der Vereidigung des neuen Präsidenten Obasanjo
in Nigeria am 29. Mai 1999 ist nach mehr als 15 Jahren
die Militärdiktatur zur Demokratie zurückgekehrt. Obasanjo, der sein Land 1979 aus freien Stücken zur Demokratie zurückgeführt, freie Wahlen organisiert und die
Macht an eine zivile Regierung übergeben hat, bietet
jetzt wohl Gewähr dafür, daß der Demokratisierungsprozeß fortgesetzt wird und die Generäle keinen Vorwand mehr haben, wieder die Macht an sich zu reißen.
Jedoch hat der neue Präsident außerordentlich
schwierige Aufgaben zu bewältigen. Einige Landesteile
streben nach Unabhängigkeit. Die Wirtschaft steht trotz
reicher Ölvorkommen am Rande des Zusammenbruchs.
Korruption und Mißwirtschaft erschweren den Neubeginn. Zur weiteren Festigung der Demokratie und zur
wirtschaftlichen Stabilisierung ist Nigeria gerade in dieser Übergangsphase stark auf Hilfe von außen angewiesen. Die Unterstützung Nigerias kann und darf sich nicht
auf positive politische Signale beschränken, sondern
muß sich auch auf die Aufhebung der gegen Nigeria
verhängten Sanktionen sowie auf die Wiederaufnahme
der Entwicklungszusammenarbeit erstrecken.
({1})
Die Bundesregierung hat auch am Ende ihrer EURatspräsidentschaft bezüglich dieser Unterstützung eine
besondere Verantwortung.
Die vom Kölner G-8-Gipfel verabschiedete Entschuldungsinitiative kommt für Nigeria eigentlich genau zum
richtigen Zeitpunkt. Für uns, die F.D.P.-Fraktion, die
diese Initiative begrüßt hat, ist es besonders wichtig, daß
Entschuldungsmaßnahmen zukünftig von wirtschaftlichen Rahmenprogrammen und solider Haushaltsführung
abhängig gemacht werden sollen, die für die wirtschaftliche Gesundung Nigerias von essentieller Bedeutung
sind.
({2})
Wir bedauern außerordentlich, daß es nicht gelungen
ist, an dem ursprünglich geplanten interfraktionellen
Ansatz festzuhalten und einen gemeinsamen Antrag
vorzulegen. Aber da wir den nunmehr vorliegenden Antrag der Regierungskoalition aktiv mitgestaltet haben,
werden wir ihm auch zustimmen.
Noch schrecklicher als die Bilder hungernder Kinder
sind die erschütternden Bilder kleiner Geschöpfe, die
nicht in die Schule, wo sie hingehören, sondern mit dem
Gewehr unter dem Arm in den Krieg geschickt werden.
Als manipulierbare Werkzeuge mißbraucht, kommen
Hunderttausende von ihnen bei Kampfeinsätzen, bei
Minenräumungen und bei Selbstmordkommandos ums
Leben. 600 000 Kinder und Jugendliche wurden allein in
den 90er Jahren bei Kampfeinsätzen verwundet oder
verstümmelt. Diejenigen, die mit dem Leben davonkommen, sind zumeist drogenabhängig und in jedem
Falle seelisch verroht. Neben Sklavenhaltung und Folter
ist der Einsatz von Kindersoldaten eine der verabscheuungswürdigsten Politiken unserer Zeit.
({3})
Die zivilisierte Staatengemeinschaft muß diesem
Unwesen überall dort, wo es auftritt, entschlossen und
entschieden entgegentreten. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt, daß es gelungen ist, zwischen den Mitgliedstaaten der Internationalen Arbeitsorganisation,
ILO, einen Konsens über die Konvention zum Verbot
gefährlicher Kinderarbeit einschließlich der Zwangsrekrutierung minderjähriger Soldaten zu erzielen.
Diese Konvention muß jetzt zügig ratifiziert werden.
Es ist zu hoffen, daß von ihr die gleiche disziplinierende
Wirkung wie von vielen anderen großen UNOKonventionen ausgeht. Es kann nicht hingenommen
werden, daß sich einige Staaten von einem Mindeststandard an humanitärer Verantwortung für die jüngere Generation verabschieden und die eigenen Kinder als Kanonenfutter in den Krieg schicken.
Gerade auch im Lichte der soeben unterzeichneten
Konvention ist es aus Sicht der F.D.P.-Bundestagsfraktion unerläßlich, daß die deutsche und die von uns mitgetragene europäische Entwicklungspolitik konsequent
und kompromißlos jede Form der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit solchen Regimen ablehnt,
die die Rekrutierung von Kindersoldaten fördern oder
dulden. In diesem letzten Punkt hat der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion eine wesentlich eindeutigere Formulierung als der Koalitionsantrag. Deswegen wird die
F.D.P.-Fraktion dem CDU/CSU-Antrag zustimmen.
Lassen Sie mich zuletzt ein paar Sätze zur Weltbevölkerungskonferenz sagen. Seit der Weltbevölkerungskonferenz von Kairo sind Bevölkerungspolitik und
Familienplanung bereits unter der früheren Bundesregierung ein zentraler fachlicher Schwerpunkt der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit gewesen. Sie war
durch einen integrierten Ansatz gekennzeichnet, der die
Akzente auf die Erweiterung des Angebotes von Familienplanungsleistungen und die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerung insbesondere in den Bereichen allgemeine Gesundheit, Bildung und Frauenförderung legte. Wir nehmen mit Genugtuung zur Kenntnis, daß die neue Bundesregierung
diese erfolgreiche Politik fortzusetzen gedenkt.
({4})
Nach den statistischen Erhebungen der Vereinten
Nationen hat sich das Bevölkerungswachstum in diesem Jahrzehnt erstmals verlangsamt. Diese positive
Entwicklung ist in erster Linie auf die verbesserte Aufklärung insbesondere der weiblichen Bevölkerung
zurückzuführen. Das zeigt, daß der Aktionsplan des
Weltbevölkerungsgipfels in vielen Ländern umgesetzt
wird.
Dennoch gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Denn
trotz erster sichtbar werdender Erfolge ist ein wirklicher
Durchbruch nicht erzielt worden. Daher dürfen wir in
unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Langfristig
kommt es darauf an, daß sich eine erfolgreiche Bevölkerungspolitik als Querschnittsaufgabe versteht, die bei
allen Entwicklungsanstrengungen berücksichtigt werden
muß. Die Regierungen der Entwicklungsländer müssen
Familienplanung und Aufklärung in ihre Entwicklungsstrategien aufnehmen. Diese müssen integraler Bestandteil aller Projekte der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit werden.
({5})
Meine Damen und Herren, die beiden vorliegenden
Anträge unterstützen diesen Ansatz und stimmen im übrigen in ihrer Analyse und in ihren operativen Forderungen weitgehend überein. Es handelt sich um eine umfassende Zwischenbilanz des fünf Jahre nach Kairo Erreichten und der noch erforderlichen Anstrengungen.
Die Förderung der Eigenverantwortlichkeit einzelner
Länder und nationaler Regierungen zur Verbesserung
der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen
wird nachhaltig eingefordert.
Der gemeinsamen Beschlußempfehlung des Ausschusses stimmen wir zu, weil sie die Kernforderungen
liberaler Entwicklungspolitik enthält.
Danke.
({6})
Als
nächster Redner hat der Kollege Carsten Hübner von der
PDS das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Eines ist noch nicht angesprochen worden, deswegen mache ich das jetzt: Die
Entscheidung dieses Hohen Hauses, die Entwicklungspolitik endlich einmal wieder in der Kernzeit und nicht
immer in den frühen Nachtstunden zu debattieren, war
eine gute Entscheidung. Denn die Fragen der Entwicklungszusammenarbeit, die Fragen nach einer gerechten
Weltwirtschaftsordnung, die Fragen nach ziviler Konfliktprävention und -bewältigung, die Fragen nach der
Lösung globaler Probleme und die Fragen nach den sozialen, ökologischen und menschlichen Auswirkungen
der neoliberalen Globalisierung in weiten Teilen der
Welt müssen im Zentrum einer Politik stehen, die nicht
nur Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit im Munde führt,
sondern sich auch tatsächlich die Bekämpfung von
Elend, Hunger, Krieg und Unterentwicklung auf die
Fahnen geschrieben hat und die in einem weiteren Sinn
eine nachhaltige Entwicklung in allen Teilen der Welt
befördern will.
Die Freude darüber, daß die Entwicklungspolitik im
Bundestag zu einer öffentlichkeitswirksamen Tageszeit
diskutiert wird, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,
daß dieses eigentlich positive Moment durch das relativiert wird, was ich einmal als einen entwicklungspolitischen Gemischtwarenladen bezeichnen möchte. Ich frage mich ernsthaft: Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, die Themen Kindersoldaten, Bevölkerungspolitik und Entwicklung in Nigeria in einem einzigen Tagesordnungspunkt abhandeln zu wollen?
({0})
Die Kollegen Schuster und Günther haben darauf bereits
hingewiesen. Fachliche Aspekte können dafür jedenfalls
nicht das Motiv gewesen sein. Viel eher war wohl der
Wunsch, drei Fliegen mit einer Klappe aus der parlamentarischen Welt zu schaffen, ursächlich für diesen
Tagesordnungspunkt.
({1})
Damit ist der Status quo der Entwicklungspolitik leider wiederhergestellt, obwohl doch gerade der Kosovokrieg und der G 7/G 8-Gipfel nachdrücklich darauf
aufmerksam gemacht haben, wie wichtig es ist, sich
rechtzeitig mit dem nötigen Ernst und in ausführlicher
Diskussion mit entwicklungspolitischen Fragen zu befassen. Im Ergebnis bedeutet die jetzige Situation, daß
eine kleine Fraktion wie die PDS - ähnlich wie die
F.D.P. - drei wichtige entwicklungspolitische Themen
in fünf Minuten abhandeln muß. Ich konnte das im Kopf
ausrechnen: 1,6 Minuten für jedes Thema - das ist beim
besten Willen absurd.
({2})
Das ist um so bedauerlicher, als der parlamentarische
Werdegang von zwei der drei Themen, die hier zur Debatte stehen, nicht gerade als politisches Glanzlicht aufleuchtet. Ich beziehe mich nur einmal auf die Frage der
Kindersoldaten. Bei den Anträgen zu den Kindersoldaten haben die mitberatenden Ausschüsse für Auswärtiges, für Menschenrechte und für Verteidigung dem federführenden Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in ihren Stellungnahmen angeraten, die drei Anträge von SPD und Grünen, von
CDU/CSU und von PDS auf Grund offenkundiger inhaltlicher Parallelen zu einem interfraktionellen Antrag
zusammenzufassen. Das war letzte Woche.
Und was ist gestern im AWZ geschehen? Angeblich
auf Grund zeitlicher Probleme stand ein interfraktioneller Antrag gar nicht erst zur Debatte. Jeder Antrag steht
nun doch einzeln zur Abstimmung, obwohl wir uns wohl
alle einig sind - dahin gehend wurde auch gesprochen -,
daß uns in dieser brisanten Frage ein einheitliches fraktionsübergreifendes Votum durchaus gut zu Gesichte
gestanden hätte, als ein Signal der Geschlossenheit dieses Parlaments gegenüber all jenen, die meinen, sie
könnten Kinder für ihre schmutzigen Kriege mißbrauchen und damit ihr Leben zerstören.
({3})
Aber wie so oft siegt auch hier offenbar Parteiegoismus
über Fachlichkeit. Man muß das einfach so empfinden.
Bei der Bevölkerungspolitik ist es, wenn auch anders,
ähnlich unbefriedigend gelaufen. Ich gehe darauf jetzt
nicht weiter ein. Es hätten noch viele Fragen diskutiert
werden müssen, zum Beispiel die Frage, ob Armut,
Elend und Unterentwicklung tatsächlich ein Ergebnis
der sogenannten Überbevölkerung sind oder ob die erbärmliche Lage in vielen Teilen der Welt nicht eher Ergebnis einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, einer
ungerechten Ressourcenverteilung zugunsten der Reichen und auf Kosten der Armen ist.
({4})
Statt dessen ist in den Anträgen viel von regionalen Ursachen und Interventionen die Rede. Im AWZ konnten
wir diesen Widerspruch allerdings nicht klären, lediglich
rudimentär diskutieren. Auch dafür galten zeitliche
Gründe als Argument.
Ich frage Sie deshalb hier: Machen wir es uns insgesamt nicht ein wenig einfach mit dieser Thematik? Wird
diese Thematik durch diesen Tagesordnungspunkt nicht
im Grunde diskreditiert?
Punkt drei ist Nigeria, was im wahrsten Sinne des
Wortes ein weites Feld wert gewesen wäre. Denn sosehr
man den Demokratisierungsprozeß dort begrüßt, so
wichtig ist es, dennoch abzuwägen zwischen dem, was
unsere Wunschvorstellungen sind, was eingeleitete Reformen sind und was sich in der Praxis tatsächlich bereits bewegt hat. Es gibt Anzeichen, die sowohl eine positive als auch eine negative oder eine interessiertabwartende Haltung begründen könnten; denken Sie nur
an die derzeitigen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in den Ölförderregionen. Aber auch darauf
kann ich jetzt leider nicht weiter eingehen.
Deshalb möchte ich hier nur abschließend sagen: Ich
kann nur hoffen, daß die interessierte Öffentlichkeit eine
ausführlichere Auseinandersetzung einfordern wird. Ich
bin mir sicher, sie wird diese Diskussionsprozesse um
einiges sorgfältiger und mit einem sehr viel größeren
Zeitfonds organisieren. Den Themen wäre es angemessen.
Vielen Dank.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Joachim Tappe von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz der kurzen Zeit freut es
mich, daß wir wieder einmal Gelegenheit haben, eine
afrikapolitische Debatte führen zu können, die im Gegensatz zu der in den Medien weit verbreiteten Darstellung Afrikas als Kontinent der Katastrophen steht.
Durch diese undifferenzierte Form der Berichterstattung
wird doch in der Öffentlichkeit viel zuwenig wahrgenommen und gewürdigt, daß es in diesem gebeutelten
und geschundenen Kontinent eine Vielzahl positiver
Trends und Entwicklungen gibt, die bei allen zeitweiligen Rückschlägen hoffnungsvolle Perspektiven eröffnen. Das trifft besonders auf Nigeria zu.
Weil wir, die entwickelten Länder, Teile der Probleme sind, unter denen Afrika leidet, müssen wir verstärkt
unsere Verantwortung wahrnehmen und Teil der Lösung
werden. Angesichts unserer Mitverantwortung verdienen
die positiven Entwicklungen, die in vielen Ländern
Afrikas trotz allem stattgefunden haben, nicht nur unseren Respekt, sondern vor allem unsere tatkräftige Unterstützung.
({0})
Das trifft besonders auf die vier Schlüsselländer Subsahara-Afrikas zu, die sowohl für eine friedvolle Entwicklung des gesamten Kontinents als auch für die jeweilige Region von zentraler Bedeutung sind: die Republik Südafrika für den südlichen Teil Afrikas, der
Sudan für das östliche Afrika, der Kongo für die Region
der großen Seen und eben Nigeria für Westafrika.
Gerade aus Nigeria kommen seit Monaten eine Fülle
hoffnungsvoller Signale. Der friedliche Übergang von
der Militärdiktatur und der Schreckensherrschaft
Abachas über Abubakar, der an der aktuellen Entwicklung in Nigeria großen Anteil trägt, bis hin zum frei gewählten neuen Präsidenten Obasanjo gibt Anlaß zu großer Hoffnung.
Obasanjo hat sehr schnell deutliche Zeichen gesetzt.
Für Menschenrechtsverletzungen und Ausbeuteraktivitäten mitverantwortliche Offiziere sind entlassen worden
und sollen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Menschenrechtssituation hat sich spürbar verbessert. Viele
politische Gefangene sind wieder auf freiem Fuß. Nach
dem Beispiel Südafrikas ist eine Wahrheitskommission
eingesetzt worden, die die Verbrechen der Militärdiktatur aufarbeiten soll. Der Kampf gegen Korruption ist
glaubhaft in Gang gesetzt worden, und - das finde ich
ein wichtiges Symbol - die sterblichen Überreste Ken
Saro-Wiwas und seiner hingerichteten Gefährten sollen
ehrwürdig beigesetzt werden können.
Für mich sind das mutmachende Zeichen dafür, daß
es Obasanjo ernst meint mit good governance. Dennoch
muß uns klar sein: Wenn auch wir wollen, daß Obasanjo
Erfolg hat und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die
Einhaltung der Menschenrechte in Nigeria auf Dauer eine realistische Chance haben sollen, dann geht das nur
mit massiver westlicher Hilfe.
({1})
Aber dazu ist es erforderlich, daß wir die Konditionierung unserer Entwicklungszusammenarbeit gegenüber Nigeria relativieren. Herr Schüßler, da wage ich
Ihnen zu widersprechen; denn jeder von uns weiß, daß
dieses Land auf Grund seiner Ölvorkommen - es ist
weltweit der zehntgrößte Erdölproduzent - nicht unter
die Kriterien eines Entwicklungslandes fällt, aber dennoch durch die verbrecherische Politik der Militärs alle
Merkmale eines solchen Entwicklungslandes aufweist.
Der größte Teil der Bewohner in diesem mit
120 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Land
Afrikas lebt unterhalb der Armutsgrenze, und die Verschuldung ist so groß, daß trotz des Ressourcenreichtums die Probleme der Unterentwicklung aus eigener
Kraft über eine absehbare Zeit leider nicht gelöst werden
können. Allein die Altschulden gegenüber Deutschland
betragen nach meiner Information rund 7 Milliarden
DM. Genau hier liegt das größte Problem für eine nachhaltige positive Entwicklung Nigerias.
Die Wiederaufnahme bzw. Verstärkung der deutschen und europäischen Entwicklungszusammenarbeit
und die Aufhebung der verhängten Sanktionen werden
ihren Beitrag leisten, das Land zu stabilisieren. Ich befürchte jedoch, daß Nigeria ohne ein umfassendes
Schuldenmoratorium nicht die Kraft finden kann, seine
Probleme in absehbarer Zeit zu lösen. Das wäre ein
Verhängnis für die gesamte Region.
Nigeria hat mehr Einwohner als alle anderen afrikanischen Länder Westafrikas zusammen. Deren Volkswirtschaften sind in der regionalen Wirtschaftsgemeinschaft
ECOWAS eng miteinander verflochten. Ein erneuter
Absturz Nigerias hätte somit zwangsläufig schlimme
Folgen auch für solche Länder in der Region, die sich in
den letzten Jahren mit Erfolg auf den Weg gemacht haben, eine soziale Demokratie zu entwickeln. Ich will
beispielhaft Benin, Ghana, die Côte d'Ivoire, den Senegal und Mali nennen. Wenn wir also eine Balkanisierung
der Verhältnisse in ganz Westafrika vermeiden wollen,
dann braucht Nigeria unsere uneingeschränkte Unterstützung und Hilfe.
({2})
Ich bin deshalb froh, daß wir uns in der Beurteilung
und der Bedeutung der nigerianischen Situation in diesem Hause einig sind. Die gemeinsame, heute zur Abstimmung stehende Entschließung zur Unterstützung der
demokratischen Entwicklung in Nigeria macht das deutlich. Sie ist ein wichtiger Schritt zu einer neuen GATTRunde, nicht auf der Grundlage der UruguayVerhandlungen, sondern, wie mir neulich ein Afrikaner
gesagt hat, als „German-African think-tank“.
Danke schön.
({3})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marlies Pretzlaff von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Herrn Tappe für
diese ausführliche Darstellung der Probleme Afrikas und
Nigerias sehr dankbar. Ich möchte auch aus unserem
Hause hier dem neugewählten Präsidenten Nigerias,
der noch nicht einmal einen Monat im Amt ist, Herrn
Obasanjo, und seiner neuen Regierung eine glückliche
Hand und gute Entscheidungen wünschen.
Es ist wirklich kein leichtes Unterfangen, die schweren Versäumnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten, die
immer noch andauernden Konflikte zwischen den verschiedenen Ethnien dieses Völkerstaates zu befrieden
und, wie er es sich vorgenommen hat, einen breiten
Konsens zwischen allen Parteien und einer völlig verarmten Bevölkerung herzustellen.
Es wird - das ist auch meine Befürchtung; die Entwicklungspolitiker haben Nigeria im Mai besuchen können - ein schwerer Weg für ihn werden. Nigeria braucht
unsere Hilfe. Auch in der Entwicklungspolitik müssen
wir wieder verstärkt versuchen, den Menschen dort zu
helfen.
Ich denke, eine der Ursachen der wirklich schlimmen
Zustände in Nigeria - das ist mein zweites Thema - ist
das Bevölkerungswachstum. Nigeria hat 3 Prozent Bevölkerungswachstum, eines der höchsten der ganzen Erde. Dies ist zeitweilig sogar forciert worden.
Meine Damen und Herren, seit dem Rio-Gipfel 1992
wird in fast allen entwicklungspolitischen Reden und
Debatten die Senkung des Bevölkerungswachstums als
Voraussetzung jeglicher nachhaltigen Entwicklung und
Zukunftssicherung beschworen. Aktionspläne und Absichtserklärungen nutzen aber wenig, selbst wenn sie
von 180 Staaten unterzeichnet werden, wenn die Umsetzung nur halbherzig geschieht und die Finanzierung der
Maßnahmen nicht gesichert ist.
Ich möchte Sie wirklich ernsthaft darauf aufmerksam
machen, daß im Jahre 1800 die erste Milliarde Menschen auf der Erde erreicht war und daß wir damals
noch 130 Jahre brauchten, um die zweite Milliarde zu
erreichen. In nur 70 Jahren - von 1930 bis 1999 - ist die
Erdbevölkerung auf nun sechs Milliarden Menschen angewachsen. Da wir alle wissen, daß sich die Erdoberfläche nicht vergrößert, können wir uns ausrechnen, wie
dringend dieses Problem ist und daß wir darüber eigentlich eine eigene Debatte hätten führen müssen.
({0})
Wir alle wissen um die negativen Auswirkungen des
schnellen Bevölkerungswachstums in den Entwicklungsländern. Ich will nur einige aufzählen: die Verknappung der natürlichen Ressourcen, die Verschärfung
der Ernährungsprobleme, die rasante Verstädterung und
Migration, vermehrte Krisen und Konflikte, erhöhter
Druck auf dem Arbeitsmarkt und nicht zuletzt ein verzögertes Wirtschaftswachstum. Wir alle wissen auch,
daß Frauen besonders betroffen sind. Denn Frauen und
Mädchen sind vor allen Dingen in den Entwicklungsländern immer noch unterprivilegiert, auch in den Familien.
Ungeplante Schwangerschaften, zu frühe Heiraten und
zu frühe Geburten sowie eine immer noch viel zu große
Kinder- und Säuglingssterblichkeit beeinflussen ganz
wesentlich den Zuwachs der Bevölkerung.
Seit der Konferenz in Kairo im Jahre 1994 bemühen
sich die Industrie- und die meisten Entwicklungsländer,
das Bevölkerungswachstum mit ihrer jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Leistungsfähigkeit in Einklang
zu bringen, und tatsächlich ist die Geburtenrate leicht
gesunken. Die durchschnittliche Kinderzahl ist in den
letzten 30 Jahren beachtlich gefallen, und zwar immerhin von 6,1 auf 3,5 je Elternpaar. Aber selbst bei weiter
fallender Geburtenrate wird die Bevölkerung wachsen,
und zwar auf neun Milliarden bis zwölf Milliarden MenJoachim Tappe
schen in den nächsten 50 Jahren. Dies ist ein Zeitraum,
der zumindest für unsere Kinder noch wichtig sein wird.
Ich will dies begründen: Erstens. Tatsache ist, daß
derzeit eine Milliarde Jugendliche im Alter von 15 bis
24 Jahren, also im heiratsfähigen Alter sind, die große
Mehrheit von ihnen ohne jegliches Wissen um Familienplanung, Geschlechtskrankheiten und Vorsorgemöglichkeiten.
Zweitens. Die Eltern von morgen sind schon heute
geboren; denn in vielen Entwicklungsländern sind 40
Prozent bis 50 Prozent der Gesamtbevölkerung unter 15
Jahre alt.
Drittens noch ein anderer Aspekt: Die weltweit verbesserte Gesundheitsversorgung und der medizinische
Fortschritt verlängern zunehmend auch die Lebenserwartungsspanne der älteren Menschen in den Entwicklungsländern.
Die Weltbevölkerung wird also weiter wachsen. Aber
wir können dieses Wachstum beeinflussen, zum Beispiel
durch Frauenförderung und eine - wie wir es in unseren Anträgen formuliert haben - bevölkerungspolitische
Komponente, die in allen Entwicklungsprojekten Einzug
halten sollte.
Zum Schluß möchte ich noch etwas mir ganz Wichtiges betonen: Zwangsmaßnahmen, die einem auch in den
Sinn kommen, wenn man das Bevölkerungswachstum
beeinflussen will, zum Beispiel Sterilisation, erzwungene Schwangerschaftsabbrüche oder die Tötung weiblicher Föten, lehnen wir mit aller Entschiedenheit ab, Frau
Köster-Loßack.
({1})
Denn die Zahl der Nachkommen und die Abstände
der Geburten frei und eigenverantwortlich zu bestimmen
ist ein Menschenrecht, und zwar ein Menschenrecht
nicht nur der Männer, sondern auch der Frauen.
Dieses Recht auf Familienplanung umfaßt auch den
Zugang zu modernen Verhütungsmitteln, zu den erforderlichen Kenntnissen und muß allen Menschen weltweit ermöglicht werden. Deshalb unsere erneute Initiative zur aktiven Bevölkerungspolitik. Wir meinen, fünf
Jahre nach Kairo ist es wichtig, daß wir wieder einmal
darüber sprechen.
In einigen Tagen findet eine Sondergeneralversammlung der UNO statt. Wir in diesem Hohen Hause
wollen - ich hoffe, einstimmig - dazu beitragen, daß wir
Menschen auch künftig auf dieser Erde leben und überleben können.
Danke.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Christian Ströbele vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Entwicklungspolitik muß das Ziel haben,
menschenwürdige Lebensbedingungen für die Völker
herzustellen und den Schutz sowie die Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu erreichen. Darüber sind
wir uns in dieser allgemeinen Form im Deutschen Bundestag inzwischen wohl einig.
Einig sind wir uns inzwischen offenbar auch darüber,
daß den ärmsten Ländern mindestens ein Teil ihrer
Schulden - am besten alle - erlassen werden muß. Es
war ja nicht immer so, daß darüber Einigkeit bestand.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist bei dem Gipfel am letzten Wochenende in Köln geschafft worden,
und das war gut so.
Wir haben auch gehört - und das ist richtig -, daß
Entschuldung allein aber der großen Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern nicht hilft, daß trotzdem
Armut bleibt, daß Abhängigkeit bleibt, Unterdrückung
bleibt. Deshalb muß die Entschuldung an Konditionen
gebunden werden. Die Frage ist - darüber sollten wir
uns dann im Ausschuß und sicherlich auch in zukünftigen Debatten hier im Bundestag weiter unterhalten -:
Wie müssen diese Konditionen aussehen? Wie sind sie
kontrollierbar, und wie kann garantiert werden, daß sie
wirklich zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse
der großen Mehrheit der Bevölkerung führen?
Wir reden hier aber heute nicht über eines der ärmsten Länder, für die Entschuldung in Betracht kommt,
sondern wir reden hier heute über Nigeria, an sich ein
reiches Land: reich an Bodenschätzen und nicht nur an
Öl. Aber wir müssen feststellen, daß dieser Reichtum
des Landes keineswegs einen Reichtum für die Gesamtbevölkerung bedeutet. Ein großer Teil der Bevölkerung
Nigerias hat nichts von dem Reichtum des Landes. Die
Umweltschäden sind unermeßlich. Wir erinnern uns an
Fernsehbilder von zerstörten Gegenden, an die Schäden
durch Emissionen von Raffinerien, die von Firmen, die
auch hier in Deutschland oder in Europa ansässig sind,
angerichtet werden. Diese Emissionen haben in großen
Teilen des Landes Landwirtschaft unmöglich gemacht.
Mangroven- und Regenwälder sind vernichtet worden.
Die Bevölkerung kann nicht einmal das Benzin bezahlen, das nach Nigeria reimportiert werden muß. Größtenteils lebt sie in Armut und leidet sogar Hunger. Die
Gesellschaft dort leidet in den letzten Jahrzehnten unter
Korruption, Unterdrückung, Aggression und Krieg.
Wir erinnern uns - auch das ist angesprochen worden
- an den Schriftsteller Ken Saro-Wiwa, der 1995 verurteilt und gehenkt wurde, weil er sich für mehr Demokratie in seinem Land eingesetzt hat. International wurde
Nigeria isoliert, und es wurden Sanktionen verhängt und
durchgehalten. Jetzt hofft Nigeria auf internationale
Hilfe.
Die Situation hat sich in den letzten Monaten tatsächlich verbessert, wenn ich auch die Euphorie der Hoffnungen nicht teilen kann. Bei den Wahlen, die in Nigeria
stattgefunden haben, gab es nur eine ganz geringe Beteiligung der Bevölkerung - das hatte Gründe; zum Teil
lag die Wahlbeteiligung bei 10 Prozent; das muß man
sich einmal vor Augen führen -, und es gab auch Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung der Wahl. Das
dürfen wir nicht vergessen. Wir müssen auch feststellen,
daß zwar politische Gefangene freigelassen worden
sind, daß aber immer noch politische Gefangene in den
Gefängnissen sind und daß es in der Bevölkerung immer
noch Aufstände gegen Armut, gegen Hunger und Unterdrückung gibt.
Wir haben uns entschlossen, mit dem fraktionsübergreifenden Antrag, den wir im Bundestag eingebracht
haben, die Bundesregierung aufzufordern, den begonnenen Reformprozeß - dieser ist ohne Zweifel vorhanden
- nachhaltig zu unterstützen. Das heißt, wir setzen uns
dafür ein, daß alle politischen Gefangenen freikommen,
daß die Menschenrechte gewährleistet werden, daß
Rechtsstaatlichkeit gesichert und demokratische Strukturen entwickelt werden.
Demokratie heißt für uns natürlich auch, daß die Bevölkerung, und zwar alle ethnischen Bevölkerungsgruppen, bei der Umverteilung der Erdölerlöse beteiligt wird,
daß sie mitbestimmen kann. Es darf in Zukunft nicht so
weitergehen, daß die Militärs ihre Taschen und ihre
Konten in der Schweiz und in anderen Ländern Europas
füllen. Vielmehr muß erreicht werden, daß dieser
Reichtum des Landes der gesamten Bevölkerung zugute
kommt.
({0})
Rechtsstaatlichkeit muß für uns heißen: Bekämpfung
von Korruption und Vetternwirtschaft. Nur wenn das
geschieht, soll auch die technische Zusammenarbeit
Schritt für Schritt wieder aufgenommen werden, um die
Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern und
die unermeßlichen ökonomischen Schäden wenigstens
zu lindern.
Zu einer gerechten Wirtschaftsordnung gehört, daß
die ökologische Situation und die Lebensgrundlagen der
Menschen verbessert werden. Ebenso wie bei der Entschuldung der ärmsten Länder wollen wir auch bei Nigeria die Entwicklungshilfe, die wieder aufgenommen
werden soll, konditionieren, also von überprüfbaren Bedingungen abhängig machen, die sicherstellen, daß diese
Hilfe der Gesamtbevölkerung nützt. Sonst droht die
Entwicklungshilfe - das hört sich absurd an, aber es ist
so - eine Hilfe zur Unterdrückung der Bevölkerung und
zur Aufrechterhaltung von Elend und Armut zu werden
und einer ungerechten Wirtschaftsordnung geradezu zu
dienen. Deshalb sind die Konditionen und deren Überprüfung so ungeheuer notwendig.
Wir im Deutschen Bundestag und die deutsche Bundesregierung sind aufgefordert, dafür zu sorgen, den
Menschen dort so zu helfen, daß sie ihre Verhältnisse
selber regeln können, daß sie mitbestimmen können und
daß sie eine bessere Zukunft haben werden.
({1})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Erika Reinhardt von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir alle haben
begrüßt, daß auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln ein
Schuldenerlaß beschlossen worden ist. Aber dem 1995
auf dem Weltsozialgipfel gesteckten Ziel, bis 2015 die
absolute Armut zu halbieren, sind die Industrieländer
durch diesen Schuldenerlaß leider nicht nähergekommen.
Der Schuldenerlaß ist die eine Seite, eine nachhaltige
Entwicklungspolitik die andere. Im Zentrum jeder gemeinsamen Anstrengung muß die Verbesserung der
rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stehen. Dazu gehören die Verbesserung der
Gesundheitsvorsorge, der Zugang zu Bildung und
Ausbildung genauso wie eine Verbesserung der Stellung der Frau und die Notwendigkeit der Familienplanung.
Der in Köln beschlossene Schuldenerlaß für die ärmsten Länder soll davon abhängig sein, ob diese die Menschenrechte achten und sich verpflichten, das eingesparte Geld - soweit man hier überhaupt von eingespartem Geld sprechen kann - nicht zum Waffenkauf
zu verwenden. Die Bundesregierung muß kontrollieren, ob diese Voraussetzungen, nämlich die Achtung
der Menschenrechte und die Nichtverwendung des Geldes für den Kauf von Waffen, wirklich eingehalten werden.
Das heißt auch, daß die Länder, die die deutsche
Entwicklungshilfe empfangen, nicht gleichzeitig den
Einsatz von Kindersoldaten billigen und fördern dürfen.
({0})
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, strikt darauf zu achten, daß deutsche Gelder nicht in Entwicklungsländer fließen, in denen Kindersoldaten eingesetzt
werden.
In kriegerischen Auseinandersetzungen werden zunehmend Kindersoldaten eingesetzt. Nach dem Bericht
des zuständigen Berichterstatters der Vereinten Nationen, Otunnu, sind rund 300 000 Jungen und Mädchen
unter 18 Jahre weltweit als Soldaten in Regierungsarmeen und Rebellenverbänden aktiv. Das entspricht - das
muß man sich einmal vorstellen - der Stärke unserer
Bundeswehr. In mindestens 25 Konfliktgebieten werden
Kinder ab sieben Jahre für Minenräumen, Spionage und
Selbstmordanschläge eingesetzt. Dabei werden die speziellen Eigenschaften von Kindern gezielt genutzt: Sie
sind leichter zu manipulieren und zu kontrollieren als
Erwachsene; sie kosten weniger in bezug auf Essen und
Sold.
Die Rekrutierung der Kinder erfolgt durch Zwang.
Um sie gefügig zu machen, wird sehr oft mit Drogen gearbeitet. Oft werden die Kinder gezwungen, ihre Geschwister zu töten, um sie noch gefügiger zu machen.
Kinder sind aber die Zukunft der menschlichen Zivilisation. Sie dürfen nicht als Schachfiguren in einem Krieg,
weder als Opfer noch als Täter, mißbraucht werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich weltweit
für die Rechte der Kinder und für die Umsetzung des
Verbots der Rekrutierung von Kindern in bewaffneten
Konflikten einzusetzen.
({1})
Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die Mobilisierung
der öffentlichen Meinung. Nur so kann ein politisches
Klima erzeugt werden, das den Mißbrauch von Kindern
als Soldaten verhindert. Über das bittere Unrecht, das
diesen Kindern zugefügt wird und unter dem sie ihr Leben lang leiden, muß öffentlich gesprochen werden. Dabei darf es keine Tabus geben.
Es gibt eine vorbildliche Kampagne, die „Youth must
act“ des Deutschen Jugendrotkreuzes - die Kollegin
Kortmann hat ebenfalls eine Kampagne genannt; es gibt
verschiedene -, die sich gegen den Einsatz von Kindersoldaten richtet. Davon ist ein enorm positives Signal
ausgegangen; es ist auch eine Öffentlichkeitswirksamkeit erreicht worden. Es gibt viele Institutionen und Organisationen, die sich dem angeschlossen haben. Ich
möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei all denen,
die sich an dieser Kampagne beteiligt haben, bedanken.
Ich glaube, daß sie alle auch unsere Unterstützung brauchen.
({2})
Entwicklungspolitik muß auch vorbeugen. Es kann
und darf nicht sein, daß Kinder, statt lesen und schreiben
zu lernen, zum systematischen Töten erzogen werden.
Der Zugang zu Bildung und Ausbildung für Kinder in
den armen Ländern muß deshalb deutlich verbessert
werden. Hier sind natürlich in erster Linie die Regierungen der Entwicklungsländer gefordert. Hierfür muß es
Anreize geben, und da können wir Hilfestellung leisten.
Ich glaube, dies ist ganz wichtig; denn nur gebildete
Kinder sind starke Kinder, und starke Kinder sind nicht
manipulierbar.
In der zukünftigen Entwicklungsarbeit muß verstärkt
darauf geachtet werden, daß Maßnahmen zur Demobilisierung und Resozialisierung von Kindersoldaten gefördert werden. Die Wiedereingliederungsprojekte sind
vermehrt anzubieten.
Meine Damen und Herren, Kinderrechte sind Menschenrechte. Deshalb muß das Thema „Kindersoldaten“
in der Entwicklungspolitik verstärkt berücksichtigt werden. Ich fordere die Bundesregierung auf, alles zu tun,
damit es ein Ende des Mordens von Kindern gibt.
Wir haben unseren Antrag bereits im Januar vorgelegt. Leider Gottes ist es nicht zu einem gemeinsamen
Antrag gekommen; wir haben uns darum bemüht. Wir
haben und werden uns auch jetzt wieder bei der Abstimmung über den Antrag der SPD und der Grünen, der
Regierungskoalition, enthalten. Es würde Ihrerseits ein
Stück Glaubwürdigkeit bedeuten, wenn Sie unseren Antrag hier nicht ablehnten, wie es im Ausschuß geschehen
ist.
Herzlichen Dank.
({3})
Das
Wort hat nun die Bundesministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde
vorhin angesprochen: Am letzten Wochenende hat der
Gipfel der G 7/G 8 eine umfangreiche Entschuldungsinitiative beschlossen, die aus meiner Sicht mit Fug und
Recht als Jahrhundertwerk bezeichnet werden kann. Dadurch sollen den ärmsten Entwicklungsländern im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar die Schulden erlassen
werden, was für viele Millionen Menschen, vor allen
Dingen für die Kinder, dort eine Chance eröffnet.
({0})
Das ist der erste multilaterale Schuldenerlaß. Das Zusammenwirken von Nichtregierungsorganisationen und
Regierungen ist auch ein Beispiel dafür, wie es in der
globalen Entwicklung der Weltwirtschaft möglich ist,
Elemente der Strukturen sozial und wirtschaftlich zu gestalten, ein Beispiel, das von fortschrittlichen Regierungen und Nichtregierungsorganisationen in vielen anderen Initiativen aufgegriffen und nachgemacht werden
sollte.
Es wird eine bilaterale Entschuldung der Bundesregierung gegenüber Nicaragua, Honduras, Bolivien, Elfenbeinküste, Guyana und darüber hinaus gegenüber
Ghana, Senegal und Kamerun geben, und zwar unter
den Kriterien, die vorhin genannt worden sind. Wir, vor
allem ich, werden selbstverständlich auch bei der Weltbank dafür sorgen, daß die Kriterien, die wir gesetzt haben, wirklich befolgt werden.
({1})
Heute morgen haben wir den Entwurf des Bundeskabinetts für den Haushalt 2000 diskutiert. Er zeigt einen
zweiten Handlungsstrang der Bundesregierung auf. Wir
müssen nämlich nach der verheerenden Finanzpolitik
der früheren Bundesregierung auch eine Entschuldungsinitiative für die Finanzpolitik des Bundes einleiten.
({2})
Dies führt zu einem enormen Einsparpaket, an dem sich
alle Einzelhaushalte beteiligen müssen. Wer auch immer
in den kommenden Tagen und Wochen mit irgendwelchen Rechenkunststückchen Politik machen will: Ich
werde mich daran nicht beteiligen. Fakt ist, daß in der
Entwicklungspolitik im kommenden Jahr 576,5 Millionen DM eingespart werden müssen. Dies bedeutet einen
schmerzhaften und von mir nicht gewollten Einschnitt in
allen wichtigen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit.
Wir werden bei der Umsetzung dieser Einschnitte
streng darauf achten, daß wir unsere erfolgreiche Arbeit
in der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit
dennoch fortsetzen können, und wir werden vor allen
Dingen unsere neuen Akzente und Schwerpunkte deutlich machen.
({3})
Das gilt etwa für den Zivilen Friedensdienst, der neu
geschaffen wird und jetzt in Gang kommt. Ich sage an
dieser Stelle: Ich hoffe, daß, wenn der erste Einsatz des
Zivilen Friedensdienstes stattfindet, auf ihn mindestens
so viele Kameras gerichtet sind, wie das sonst bei militärischen oder anderen Einsätzen der Fall ist.
({4})
Frau
Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Gerne.
Herr
Weiß, bitte schön.
Frau
Bundesministerin, nach Ihren Äußerungen zum Entwurf
des Bundeshaushaltes: Müssen Sie nicht Ihre gesamten
Ankündigungen - Erhöhung des Entwicklungshilfeetats
bzw., wenn es zu Kürzungen kommt, dann doch wenigstens bei der Entwicklungshilfe weniger kürzen als anderswo - als gescheitert und konterkariert erklären,
nachdem der Entwicklungshilfeetat um 8,7 Prozent gesenkt wird, während der gesamte Bundeshaushalt durchschnittlich um 1,6 Prozent gesenkt wird, das heißt der
Entwicklungshilfeetat der Etat ist, der weit überdurchschnittlich abgesenkt wird? Stehen Sie nicht vor dem
Bankrott Ihrer eigenen Erklärung und Ihrer eigenen
Entwicklungspolitik?
Erstens habe ich gesagt, daß der gleiche Anteil für jeden
Etat gilt. Das können Sie auch nachlesen. Das ist die
Zahl, die ich Ihnen eben genannt habe.
Zweitens. Ich gehöre zu den Personen, die sich auch
in schwierigen Situationen nicht der politischen Verantwortung entziehen. Entwicklungspolitik ist eine Aufgabe, die auch und gerade unter solchen Bedingungen geleistet werden muß. Jetzt kommt es darauf an, daß wir
die Schwerpunkte, die wir uns vorgenommen haben, tatsächlich umsetzen.
({0})
Jetzt will ich dazu noch folgendes sagen. Auch bei
dem Zivilen Friedensdienst, den ich eben angesprochen
habe, geht es darum, dafür zu sorgen, daß die Arbeit öffentlich stärker anerkannt wird. Ich habe gesagt, ich
kann immer nachmittags um 15 Uhr im BMZ ein Briefing über den Fortgang der Friedensarbeit des Zivilen
Friedensdienstes geben, damit auch die öffentliche
Aufmerksamkeit auf diese wirklich friedenssichernde
Arbeit gelenkt wird.
({1})
Alles, was zur Friedenssicherung geleistet werden
kann - das gilt für das Engagement gegen den Einsatz
von Kindersoldaten, für das Engagement gegen Waffenexporte und genauso für das Engagement gegen den
illegalen Transfer von Kleinwaffen -, gehört zu den
Schwerpunkten, die wir weiterhin setzen werden, ebenso
wie die Entschuldungsinitiative.
Zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, will
ich auf folgendes hinweisen: Wir werden - das ist den
geschätzten Kollegen der CDU entgangen - mit dem
Wiederaufbau in Südosteuropa einen zusätzlichen
Schwerpunkt in unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit setzen. Dafür stehen unserem Ministerium 200 Millionen DM zur Verfügung, die dazu beitragen sollen, daß der Wiederaufbau der Region, vor allem
aber die Hilfe für die betroffenen Menschen im Kosovo
unterstützt wird. Das ist eine Aufgabe, die sich unser
Ministerium besonders vorgenommen hat und der wir
uns mit aller Entschlossenheit stellen werden.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({2})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen
Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau
Ministerin, ich hatte Ihnen in der Debatte im Mai geraten: Nehmen Sie den Mund nicht zu voll! Damals - das
war im letzten Monat, nicht im letzten Jahr - haben Sie
angekündigt: Es gibt eine Trendwende, die Mittel werden aufgestockt. - Sie haben es in der Tat geschafft das haben Sie persönlich zu verantworten -, eine
Trendwende einzuleiten, nämlich mit 8,7 Prozent von
den Soll-Zahlen.
Aber das ist noch nicht alles. Wir haben die Kollegen
auch darauf hingewiesen, daß sie beim Haushalt von den
Ist-Zahlen ausgehen müssen. 1998 wies der Entwicklungshilfeetat knapp 8 Milliarden DM aus. Sie landen
jetzt bei 7 Milliarden DM. Das ist eine Kürzung von
mehr als 10 Prozent. Es ist überhaupt keine Trendwende
zum Besseren zu erwarten, sondern Ihr Etat wird zu den
wenigen Einzeletats des Bundeshaushalts gehören, bei
denen weiter gespart wird. Es werden 1,9 Prozent in
2001, 1,7 Prozent im Jahre 2002 und 2 Prozent im Jahre
2003 eingespart.
Ich kann auf eines verweisen: Sie haben einen beamteten Staatssekretär im Finanzministerium, der seit Jahr
und Tag - ich sage das in aller Deutlichkeit - versucht,
dem Entwicklungshaushalt ans Leder zu gehen. Wir haHeidemarie Wieczorek-Zeul
ben mit Mühe und Not eine stärkere Reduzierung der
Mittel verhindern können. Wir haben es im letzten Jahr
geschafft, daß die Mittel gestiegen sind. Zum erstenmal
ist dieser Mann bei Ihnen wirklich im wahrsten Sinn des
Wortes erfolgreich gewesen, und Sie stehen vor den
Scherben Ihrer Politik.
Vor dem Hintergrund der Entschuldungsinitiative, die
von uns begrüßt wird, möchte ich einen weiteren Punkt
ansprechen. Es handelt sich um Peanuts. Der Kollege
Ruck hat darauf hingewiesen. Sie haben gestern im Ausschuß gesagt, es gehe um 60 bis 80 Millionen DM Entlastung für die Entwicklungsländer. Im Haushalt geht es
jetzt um 580 Millionen DM. Um es pathetisch und emotional zu formulieren: Sie nehmen den Armen im nächsten Jahr 500 Millionen DM weg. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik.
Es kommt aber noch schlimmer. Sie haben wissentlich und vorsätzlich Ihren G-7-Partnern etwas Falsches
erzählt. Sie haben den Bischöfen etwas Falsches erzählt,
und Sie haben der Öffentlichkeit etwas Falsches erzählt;
denn Sie haben in dem Dokument von Köln erklärt, die
Mittel für die Entwicklungshilfe würden steigen. Das
Gegenteil ist der Fall, und das ist nicht anständig.
({0})
Frau
Ministerin, wollen Sie erwidern? - Ja, bitte schön.
Ich
möchte auf eines hinweisen: Einen Schuldenerlaß in einem Umfang von 70 Milliarden US-Dollar hat es überhaupt noch nicht gegeben. Er umfaßt in der Tat 60 bis
80 Millionen DM, die dem deutschen Haushalt fehlen
werden. Das ist eine Leistung zugunsten von vielen
Millionen Menschen mit einem vergleichsweise geringen Aufwand. Das, denke ich, ist eine gute Sache. Das
ist eine Trendwende; denn Sie haben bisher jeden multilateralen Schuldenerlaß verhindert.
({0})
Sie haben ihn über Jahre hinweg blockiert. Das ist eine
Neuorientierung, weil Sie sich in den internationalen
Gremien als Bremser aufgeführt haben. Deshalb, Herr
Hedrich, sage ich es Ihnen an dieser Stelle noch einmal:
Wer selbst über Jahre hinweg in der Verantwortung gestanden und dazu beigetragen hat, daß solche Sachen
blockiert wurden, der sollte sich dafür schämen und sich
nicht in einer solchen Diskussion zu Wort melden.
({1})
Ein Zweites möchte ich noch sagen: Es geht in der
entwicklungspolitischen Debatte darum, daß die
Schwerpunkte, die wir gesetzt haben, auch wirklich umgesetzt werden. Es stellt doch ein gewisses Maß an Heuchelei dar, wenn die Redner Ihrer Fraktion in der Debatte heute morgen sagen, es sei nicht genug gekürzt
worden, Sie aber bei konkreten Diskussionen das genaue
Gegenteil sagen. Gelinde gesagt halte ich das für sehr
unehrlich.
({2})
Sie haben die Haushaltsmisere zu verantworten. Stehen Sie auch dazu, wie Sie Ihre Verantwortung über 16
Jahre hinweg wahrgenommen haben! Nehmen Sie dieses auf sich, und halten Sie sich mit Kritik dieser Art an
der Finanzpolitik sehr zurück!
({3})
Als
letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die
Kollegin Gabriele Fograscher von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es tut mir schon etwas
leid, daß wir die knapp bemessene Debattenzeit jetzt für
eine Haushaltsdebatte verwenden, die ja an anderer
Stelle ausführlich geführt werden müßte. Sie wird ja
auch noch stattfinden.
({0})
Natürlich ist die Frage, wieviel Geld vorhanden ist,
wichtig. Aber gerade in der Entwicklungspolitik geht es
auch darum, wie und wo das Geld eingesetzt wird.
Das Thema Entwicklung der Weltbevölkerung umfaßt in der Tat einen Bereich, in dem Geld benötigt wird.
Es geht da aber auch um mehr: um Aufklärung, Bildung
und den Zugang von Frauen zu Bildungsmaßnahmen. Es
ist ein aktuelles Thema, denn im Herbst dieses Jahres
wird der sechsmilliardste Mensch auf der Erde geboren.
In welchem Land oder auf welchem Kontinent dieses
Kind geboren wird, wissen wir nicht. Die Zukunftschancen, die dieser sechsmilliardste Mensch haben wird,
hängen davon ab, ob er in einem Land Europas, Amerikas, Lateinamerikas, Asiens oder Afrikas geboren und
aufwachsen wird.
Wenn dieser sechsmilliardste Mensch - egal ob Junge
oder Mädchen - in einem Industrieland geboren wird,
hat er die Chance, zur Schule zu gehen, in sozialer Sicherheit zu leben, einen Arbeitsplatz zu erhalten und in
Wohlstand aufzuwachsen. Seine Lebenserwartung wird
dann etwa 75 Jahre betragen.
Wird dieser sechsmilliardste Mensch aber als Mädchen in Afrika geboren, wird es vermutlich in den ersten
Lebensjahren an den Genitalien verstümmelt werden
und psychisch und physisch an diesem Eingriff ein Leben lang leiden müssen. Die Chancen, daß dieses Mädchen zur Schule gehen und Lesen, Schreiben und Rechnen lernen kann sowie eine Ausbildung erhalten und einen Beruf ergreifen wird, sind gering. Dieses Kind wird
schwer schuften müssen. Es wird schlimmstenfalls sogar
zur Prostitution gezwungen. Seine Lebenserwartung beträgt im günstigsten Falle 45 Jahre.
Unser Ziel - das ist ja durchaus ein gemeinsames Ziel
aller Entwicklungspolitiker - ist es, einem Kind, egal,
wo es geboren wird und ob es ein Mädchen oder ein
Junge sein wird, die Chance zu geben, ein menschenwürdiges Leben zu führen und es eigenverantwortlich zu
bestimmen. Unsere „Eine Welt“, die ja immer wieder
viel beschworen wird, hat aber nur begrenzte Ressourcen. Deshalb ist es wichtig, Bevölkerungspolitik zu betreiben und als wichtigen Faktor einer nachhaltigen
Entwicklung zu begreifen. Der Prozeß des Umdenkens
auf diesem Gebiet hat 1994 in Kairo begonnen. Es sind
Maßnahmen eingeleitet worden, die durchaus Effekte
zeigen: Die Vereinten Nationen haben die Prognosen zur
Entwicklung der Weltbevölkerung reduziert. Für das
Jahr 2050 wird mit nur noch 9 Milliarden Menschen gerechnet werden müssen.
Wir müssen diesen Ansatz weiter verfolgen. Die heutige Debatte ist auch deshalb aktuell, weil die stattfindende UNO-Sondergeneralversammlung den Folgeprozeß „Kairo plus fünf“ einleiten und natürlich auch Bilanz ziehen wird.
Daß die großen Fraktionen des Bundestags zu einer
gemeinsamen Position gekommen sind, ist zum einen
wichtig, um der Bundesregierung den Rücken zu stärken. Es ist zum anderen aber auch ein Signal an die
Entwicklungsländer, ihre Eigenanstrengungen zu forcieren.
Zum Gipfel von Köln ist heute schon einiges gesagt
worden. In der Tat: Von dem vereinbarten Schuldenerlaß und der Konditionierung dieses Schuldenerlasses an
Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge, der Bildung und
Ausbildung sowie der Frauenförderung können wahrscheinlich 36 von 41 Entwicklungsländern, die hoch
verschuldet sind, profitieren.
In den Bereichen reproduktive Gesundheitsversorgung, Gleichberechtigung der Geschlechter, Sicherung
gesundheitlicher Grundversorgung muß investiert werden. Die Geberländer werden diese Maßnahmen unterstützen. Sie werden natürlich darauf achten, daß die
freiwerdenden Mittel den schwächsten Bevölkerungsgruppen zugute kommen. Wir wissen, daß gerade die
Ärmsten der Armen am wenigsten aufgeklärt sind, am
wenigsten über Familienplanungsmaßnahmen wissen
und keinen oder nur schweren Zugang zu Familienplanungsdiensten haben.
Neben diesen Maßnahmen sind auf dem Kölner Gipfel auch Strategien zur Verhütung, zur Impfstoffentwicklung, für wirksame Therapien und zur AIDSVerhütung beschlossen worden. Auch sie werden positive bevölkerungspolitische Wirkungen haben.
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja. - Ich bedanke
mich bei den Kolleginnen und Kollegen für die Zusammenarbeit, durch die die gemeinsame Beschlußempfehlung zustande gekommen ist. Ich bedanke mich natürlich auch bei der Frau Ministerin für ihre Initiative auf
dem Kölner Gipfel, für ihre Bemühungen, der Entwicklungspolitik einen weiterhin hohen Stellenwert innerhalb
der Regierungspolitik einzuräumen.
Schönen Dank.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur
Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu den Anträgen
der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen
sowie der Fraktion der CDU/CSU zur Unterstützung der
demokratischen Entwicklung in Nigeria auf Drucksache
14/1243. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf den
Drucksachen 14/315 und 14/283 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Bei Enthaltung der PDS-Fraktion ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen den Einsatz von Kindern als
Soldaten in bewaffneten Konflikten, Drucksache
14/1242 Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/806 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Bei Enthaltung von CDU/CSUFraktion und F.D.P.-Fraktion ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU gegen
den Mißbrauch von Kindern als Soldaten auf Drucksache 14/1242 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/310 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlußempfehlung
abgelehnt; denn die Mehrheit war eben auf der rechten
Seite des Hauses.
({0})
Wir kommen zur Beschlußempfehlung der Ausschus-
ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur wirksa-
men Verhinderung des Einsatzes von Kindern als Sol-
daten, Drucksache 14/1242, Buchstabe b. Der Ausschuß
empfiehlt - ich bitte Sie, aufzupassen -, den Antrag auf
Drucksache 14/552 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und F.D.P. sowie einigen
Stimmen bei den Grünen gegen die Stimmen von PDS
und einigen Stimmen bei den Grünen angenommen.
Wir kommen nun zur Beschlußempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu den Anträgen der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen sowie der Fraktion der
CDU/CSU zu einer aktiven Bevölkerungspolitik in der
Entwicklungszusammenarbeit sowie zur Umsetzung der
Beschlüsse der Konferenz der Vereinten Nationen zu
Weltbevölkerung und Entwicklung, Drucksache
14/1239. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf den
Drucksachen 14/797 und 14/446 in der Ausschußfas-
sung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußemp-
fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ist die Be-
schlußempfehlung angenommen.
Ich gebe bekannt, daß vom Kollegen Carsten Hübner
von der PDS eine Erklärung zum Abstimmungsverhal-
ten nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegt. Diese
Erklärung wird zu Protokoll genommen.*)
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 14/898 ({1})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 14/1240 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Widmann-Mauz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Regina Schmidt-Zadel von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Mit der Verabschiedung
eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes macht der Bundestag heute den Weg für den
medikamentösen Schwangerschaftsabbruch frei. Damit
steht endlich auch Frauen in Deutschland die Möglichkeit offen, diese im Vergleich zu herkömmlichen Methoden mit geringerem gesundheitlichen Risiko behaftete Methode zu wählen.
({0})
------------
*) Anlage 3
Der Weg hierher war mühsam und von jahrelangen,
zum Teil sehr emotional geführten Debatten begleitet.
Während der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch
in einigen Ländern, vor allem in Frankreich, für viele
Frauen, die sich zum Abbruch entschlossen haben, eine
seit Jahren angewandte und inzwischen selbstverständlich gewordene Methode des Abbruchs darstellt, haben
wir uns in Deutschland in dieser Frage bisher sehr
schwer getan. Dabei, meine Damen und Herren, war es
nicht die Politik allein, die eine frühere Einführung des
medikamentösen Abbruchs in Deutschland blockiert hat.
Vielmehr hat der Versuch einiger gesellschaftlicher
Gruppen, die Grundsatzdebatte um den Schwangerschaftsabbruch neu zu entfachen, eine sachliche Debatte
unnötig behindert.
Es ist das Verdienst des französischen Herstellers des
Präparates Mifegyne, das früher unter der Bezeichnung
RU 486 bekannt war, mit seinem Zulassungsantrag auch
in Deutschland ein Ende dieser jahrelangen Auseinandersetzungen herbeigeführt zu haben.
({1})
Der Antrag des Herstellers und die für Juli zu erwartende Zulassung des Präparates stellen klar: Es geht
nicht mehr darum, ob der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch auch deutschen Frauen zur Verfügung
steht, sondern nur noch um die Frage, wie wir den Frauen die Präparate für diese Abbruchmethode verfügbar
machen.
Wir haben es uns in dieser Frage nicht leichtgemacht.
Die Gesundheitspolitik stand vor der grundsätzlichen
Frage, ob überhaupt ein besonderer Vertriebsweg für
Präparate zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch notwendig ist.
({2})
Dazu stelle ich zunächst fest: Prinzipiell ist ein Sondervertriebsweg sicher nicht notwendig.
({3})
- Hören Sie gut zu; es kommt noch etwas. - Sollte das
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in
den kommenden Tagen die Zulassung für Mifegyne erteilen, wäre das Präparat nach den geltenden gesetzlichen Regelungen in jeder Apotheke zu haben.
({4})
Voraussetzung wäre nur eine ärztliche Verordnung und
die Bereitschaft des Herstellers, das Präparat nach erfolgter Zulassung auch auf dem deutschen Markt anzubieten.
Allen Kritikern dieses Gesetzentwurfs und des Präparats selbst halte ich noch einmal vor Augen: Käme
diese 9. AMG-Novelle nicht, dann wäre die von ihren
Gegnern so genannte Abtreibungspille in Deutschland
ohne besondere Regelungen erhältlich, dann wäre der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
von vielen befürchtete graue Markt nicht mehr aufzuhalten.
({5})
- Ich sage nichts Falsches. Herr Zöller, regen Sie sich
doch bitte nicht so auf! Hören Sie mir mal zu!
({6})
Die Koalitionsfraktionen haben sich daher dazu entschlossen, für Präparate zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch einen besonderen Vertriebsweg einzuführen. Das hat einen guten Grund.
({7})
Die gesetzlichen Regelungen für einen Schwangerschaftsabbruch schreiben vor, daß ein Abbruch nur in
Einrichtungen gemäß den Regelungen im Schwangerschaftskonfliktgesetz vorgenommen werden darf und
auch nur dann, wenn zuvor eine obligatorische Beratung
erfolgt ist, die den Frauen zudem bescheinigt werden
muß. Diese Regelung ist der Kern des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, das seinerzeit nach langer und
schwieriger Diskussion als Gruppenantrag parteiübergreifend als Kompromiß verabschiedet wurde und das
nach verfassungsrechtlicher Überprüfung seitdem Bestand hat und funktioniert. Daher ist es wichtig, daß dieser gesellschaftliche Konsens auf der Grundlage des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes bestehenbleibt. Wir
wollen keine neue Grundsatzdebatte zum § 218 anfangen.
({8})
Die Zulassung des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs muß mit einer gesetzlichen Regelung verbunden werden, die verhindert, daß auch nur ein einziger
Schwangerschaftsabbruch mit den Präparaten außerhalb
der gesetzlich vorgesehenen Einrichtungen und damit
illegal erfolgt.
({9})
Eine freie Verfügbarkeit auch mit Verordnungspflicht
kann dies nicht garantieren. Es gilt, jedwede illegale
Anwendung und jeden grauen Markt zu verhindern.
Diesen Zweck erfüllt die vorliegende neunte Novelle des
Arzneimittelgesetzes. Jedes Präparat für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch wird vom Hersteller direkt an den Arzt oder die Einrichtung geliefert, die
im Sinne des Schwangerschaftskonfliktgesetzes den Abbruch vornehmen darf.
Ich wünsche mir in Deutschland eine ebenso sachliche, von medizinischen und gesundheitlichen Argumenten bestimmte Debatte wie in Frankreich.
({10})
Die Beratung in den Ausschüssen hat bereits gezeigt,
daß es in dieser Frage zumindest in der Politik einen
Wandel gegeben hat. Für die Diskussion in den Ausschüssen bin ich Ihnen dankbar.
({11})
Das Präparat selbst ist nicht in Frage gestellt worden;
dem größten Teil der Kolleginnen und Kollegen der
Union und der F.D.P. ging es in der Ausschußberatung damit komme ich Ihnen entgegen ({12})
letztlich nur um Details des Vertriebswegs, wie zum
Beispiel um die Apothekenfrage. Ich freue mich daher
über diesen grundsätzlichen Konsens. Das will ich ausdrücklich in dieser Sache sagen.
Wir kommen Ihnen ja entgegen, indem wir zu diesem
Gesetzentwurf eine Entschließung eingebracht haben,
die nach zwei Jahren - zwei Jahre sind eine kurze Zeit einen Bericht über die Erfahrungen mit dem Sondervertriebsweg fordert.
Ich möchte noch einmal zum Grundsätzlichen zurückkommen: Ich fordere auch die Gegner des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs, allen voran die
katholische Kirche auf: Respektieren Sie die Tatsache,
daß es immer Schwangerschaftsabbrüche gegeben hat
und daß es sie auch in Zukunft leider weiterhin geben
wird! Respektieren Sie, daß der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland durch eine demokratische Mehrheitsentscheidung gesetzlich klar geregelt ist! Respektieren Sie bitte auch, daß es innerhalb dieser gesetzlichen
Regelungen allein Sache der Frau und des Arztes ist,
welche Methode des Abbruchs unter medizinischen Gesichtspunkten angebracht ist!
({13})
Im übrigen diskreditiert die Haltung der katholischen
Kirche in der Frage der Schwangerschaftsberatung damit komme ich noch einmal auf das Thema der Aktuellen Stunde zurück - jede kirchliche Äußerung zur Abbruchmethode.
({14})
Es ist schon ein starkes Stück - lassen Sie mich das
so klar sagen -, daß sich ausgerechnet diejenigen, die
aus der Beratung aussteigen wollen und damit die Frauen in ihrer Notlage im Stich lassen, in der Frage der Abbruchmethode auch noch gegen jede Minderung des gesundheitlichen Risikos aussprechen.
({15})
- Sie haben das doch in den letzten Tagen gehört.
({16})
- Die Kirche will nur unter besonderen Bedingungen
nicht aussteigen, Herr Zöller. Im Grundsatz hat der
Papst die katholische Kirche in Deutschland aufgefordert, aus dem staatlichen Beratungssystem auszusteigen.
Das ist Fakt.
({17})
Keine Frau entscheidet sich leichtfertig für einen
Schwangerschaftsabbruch. Keine Frau bürdet sich ohne
Not eine solche schwere Gewissensentscheidung auf.
Keine Frau nimmt grundlos die psychischen Belastungen eines Abbruchs, auch eines medikamentösen Abbruchs auf sich. Es gibt keinen Grund mehr, Frauen eine
Schwangerschaftsabbruchmethode zu verweigern, die in
bestimmten Fällen, bei einer bestimmten Anzahl von
Frauen unbestritten die Methode mit dem geringeren gesundheitlichen Risiko ist.
Mit der AMG-Novelle wird sichergestellt, daß abbruchwilligen Frauen in Kürze die medikamentöse Methode zur Verfügung steht. Ich bitte Sie daher sehr eindringlich, heute unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank.
({18})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Annette
Widmann-Mauz von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde
es sehr mutig von Frau Schmidt-Zadel, daß sie heute ihre Fraktion in der Auseinandersetzung um die Änderung
des Arzneimittelgesetzes in diesem Hohen Hause vertritt. Eigentlich hätte dies gerechterweise - wenn man
die inhaltlich vorherrschenden Vorstellungen in ihrer
Fraktion bedenkt - die gesundheitspolitische Sprecherin
der SPD-Fraktion, Frau Schaich-Walch, tun müssen. Ich
werde später noch intensiver darauf eingehen.
„Wir haben verstanden!“ - Mit diesen Worten zieht
Gerhard Schröder Bilanz seiner desaströsen Regierungsarbeit und gelobt Besserung. Endlich, möchte man meinen. Doch der Crashkurs dieser Bundesregierung geht
weiter. Beinahe jedes Gesetzesvorhaben von Rotgrün
sorgt für Kopfschütteln. Nach dem vermurksten 630Mark-Gesetz, dem Versuch, die Scheinselbständigkeit
zu bekämpfen, der Ökosteuer, Funkes Bauernopfer und
Riesters Rentenchaos droht nun ein weiteres Stück aus
dem Tollhaus.
({0})
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung, also abschließend, über eine Gesetzesänderung mit weitreichender Bedeutung. Ministerin Fischer hat vor acht Wochen die 9. AMG-Novelle durch Rotgrün hier einbringen lassen. Wir haben damals in erster Lesung darüber
diskutiert und sind einhellig zu der Auffassung gelangt,
daß es hier Beratungsbedarf gibt und daß man noch
einmal gründlich darüber nachdenken muß, ob der Vertriebsweg geändert werden muß.
({1})
Oppositions- und Regierungsparteien haben gemeinsam beschlossen, eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf durchzuführen und dann zu entscheiden, was am
sichersten ist.
Wir alle wissen, worum es geht. Das Abtreibungspräparat wird demnächst in Deutschland zugelassen. Wir
müssen einen Vertriebsweg finden, mit dem sichergestellt ist, daß die Pille nicht in die falschen Hände gerät
und kein Mißbrauch mit ihr betrieben werden kann.
In der Anhörung standen zwei Vorschläge, zwei klare
Alternativen zur Diskussion. Die Regierung hat vorgeschlagen, die Apotheken außen vor zu lassen, also ein
Vertriebsweg ohne die Apotheken. Wir von der
CDU/CSU-Fraktion plädieren indessen für die direkte
Belieferung durch die Apotheken an die Ärzte, also für
einen Vertriebsweg mit den Apotheken.
Was hat diese Anhörung im Gesundheitsausschuß
nun eigentlich ergeben? Das Ergebnis war eindeutig:
Alle Sachverständigen - ich betone: alle ({2})
haben die Position von CDU/CSU geteilt. Mit der direkten Belieferung der Ärzte durch die Apotheken, so
die Sachverständigen, ist ein Vertriebsweg gewährleistet, ohne daß die Frau das Präparat in der Apotheke frei
erwerben kann und damit unkontrolliert in die Hand bekommt. Das ist die einhellige Meinung der Sachverständigen gewesen. Selbst die extra auf Wunsch der SPD
aus Frankreich angereiste Sachverständige Dr. Aubeny
hat den deutschen Vertriebsweg für die Arzneimittel
über die Apotheken als vorbildlich und als in hohem
Maße sicher bezeichnet. Sie sagte, sie könne sich den
von CDU/CSU vorgeschlagenen Weg sogar auch für
Frankreich vorstellen.
({3})
Erlauben Sie mir, die Kollegin Schmidt-Zadel wohlgemerkt von der SPD - zu zitieren. In einem Brief,
den sie an die Ministerin Fischer geschrieben hat, heißt
es:
Sehr geehrte Frau Ministerin, in der Sachverständigenanhörung im Ausschuß für Gesundheit für eine
9. AMG-Novelle haben die Vertreter der Apothekerschaft noch einmal dafür plädiert, die Apotheken bei der Regelung des Vertriebsweges für Präparate zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch doch mit einzubeziehen. Ich bitte Sie daher,
als Alternative zum vorliegenden Entwurf in Ihrem
Haus eine gesetzliche Regelung ausarbeiten zu lassen, die die Einbeziehung der Apotheken in den
Vertriebsweg vorsieht.
({4})
Liebe Frau Schmidt-Zadel, Sie haben verstanden!
({5})
- Es ist ganz nett, daß Sie das dazwischenrufen; aber Sie
werden verstehen, daß ich in diesem Hohen Hause nicht
Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion bloßstellen
möchte.
({6})
Frau Schmidt-Zadel hat verstanden: Nicht die Apotheken sind das Problem, im Gegenteil: In der Apotheke
stehen Männer und Frauen, die ihr Fach gelernt haben.
Die Apotheken und die Apotheker sind kein Risikofaktor.
Frau Ministerin Fischer, wo ist denn eigentlich Ihr
Alternativentwurf? Warum rücken Sie die Apothekerinnen und Apotheker immer noch in ein schräges Licht?
Sie haben doch in der vergangenen Debatte gesagt, Sie
täten das nicht, und Sie hätten Vertrauen in die Apotheken. Warum wollen Sie ihnen dann die Verantwortung
für den Vertriebsweg wegnehmen? Lassen Sie die Finger von unserem Apothekensystem! Ich sage Ihnen: Wir
brauchen keinen Bruch in diesem gut funktionierenden
Apothekensystem. Wenn Sie jetzt damit beginnen, die
Apotheken aus dem Vertriebsweg zu nehmen, wo wollen Sie dann denn aufhören?
({7})
Handelt es sich um eine einmalige Ausnahme oder doch
um einen schleichenden Systemwandel? Ist das der Einstieg in das Dispensierrecht für die Ärzte? Von Herrn
Dreßler wissen wir, daß er diese Dispensierung will.
Aber Frau Fischer, was wollen denn eigentlich Sie? Ist
das auch Ihre Politik? Wer regiert denn? Sie oder Herr
Dreßler? Sie wissen doch ganz genau: In allen Ländern,
wo dieses Recht gilt, steigen die Kosten - zur Freude der
Pharmaindustrie.
Frau Schaich-Walch, stimmt es eigentlich, daß sich
bei einer Probeabstimmung in Ihrer Fraktion - ich meine, in der Arbeitsgruppe der SPD - die überwiegende
Mehrheit der Mitglieder für unser Modell ausgesprochen
hat und nur Sie, Frau Schaich-Walch, nicht? Ich weiß,
Sie haben in Ihrem Wahlkreis viel Pharmaindustrie. Das
ist aber nicht das, was ich unter Wahlkreisarbeit verstehe.
({8})
Aber es kommt noch schlimmer. Der von Rotgrün
angedachte Systembruch eines Vertriebsweges ohne die
Apotheken sei, so die Sachverständigen in der Anhörung, ein unkalkulierbares Risiko. Diese Anhörung war
an Eindeutigkeit nicht zu überbieten. Das Regierungsmodell ist bei allen Sachverständigen ohne Wenn und
Aber durchgefallen.
({9})
Jetzt muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Daß Sie dennoch - trotz dieser eindeutigen Haltung - an Ihrem Gesetzentwurf festhalten und wir heute darüber entscheiden müssen, ist ein absoluter Skandal.
({10})
Sie ignorieren komplett den Sachverstand. Da frage ich
mich: Warum haben wir diese Anhörung eigentlich
überhaupt gemacht?
({11})
Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Sie haben nichts
verstanden. Jetzt machen Sie mit dem gleichen Gesetzesmurks weiter, von dem wir alle gehofft haben, daß
endlich Schluß damit ist. Gegen den Rat - man kann das
gar nicht oft genug sagen - aller Sachverständigen wollen Sie ein Gesetz beschließen, das sich gegen die Apotheken, gegen ein seit Jahrzehnten bewährtes System,
gegen eine Kultur der Sicherheit, die sich bewährt hat,
richtet.
Bei alledem ist Ihr Vorhaben keinen Deut sicherer als
das bewährte System. Im Gegenteil, viele Fragen bleiben offen. Es bleibt eine Ungewißheit. Es bleibt ein unkalkulierbares Risiko. Ich habe den Eindruck - das sage
ich ganz offen -: Ihnen geht es in dieser Frage nicht
mehr um die Sache, um eine strenge Kontrolle des Vertriebsweges, sondern offensichtlich nur noch darum, das
Gesicht der Ministerin zu wahren.
({12})
Wie sonst ließe sich denn Ihr Entschließungsantrag verstehen? Da heißt es - ich zitiere -:
Die Bundesregierung wird gebeten, innerhalb von
zwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes darüber
zu berichten, wie sich der … vorgesehene Sondervertriebsweg bewährt hat, insbesondere ob Probleme im Hinblick auf … die Überwachung des Vertriebs aufgetreten sind.
({13})
Sie selbst haben also offenbar Zweifel an der Sicherheit
des von Ihnen eigens vorgeschlagenen Weges. Ich glaube, Sie verkennen den Ernst der Lage. Hier geht es nicht
um irgendeinen Hustensaft, hier geht es um ein Abtreibungspräparat.
({14})
Wo sind wir denn eigentlich, Frau Schaich-Walch?
Sie machen hier Gesetze nach dem Trial-and-errorSystem: Mal sehen, ob es klappt, wenn nicht, na ja, dann
probieren wir es halt später mit etwas Neuem. - Sie
sollten das permanente Nachbessern nicht zu Ihrer Maxime machen. Gesetze mit sinkender Halbwertszeit gewinnen kein Vertrauen. Sie haben überhaupt nichts verstanden.
({15})
Wir von unserer Fraktion haben Änderungsanträge
eingebracht, die ganz klar und deutlich den Rat der
Sachverständigen berücksichtigen und die Apotheken in
die Verantwortung nehmen. Wir wollen die Apothekerinnen und Apotheker in den Vertrieb von RU 486 mit
einbinden, ohne daß die Abgabebeschränkung im Sinne des § 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes und
die Nachweispflichten verletzt werden. Dazu haben wir
die notwendigen Gesetzesänderungen erarbeitet und im
Ausschuß eingebracht. Das ist die einzig richtige AlterAnnette Widmann-Mauz
native, die eigentlich Sie, liebe Frau Ministerin, hier
hätten vorlegen sollen. Im Ausschuß hat Ihr Haus nicht
ein einziges Wort zu diesen Vorschlägen gesagt, und
auch heute habe ich in dem Redebeitrag der Vertreterin
der größten Fraktion davon wieder nichts gehört. Da
drängt sich schon die Frage auf: Warum verweigern Sie
sich dieser Diskussion?
Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD: Lassen Sie uns gemeinsam den Weg einschlagen, den auch Sie im Grunde für den richtigen halten! Zeigen Sie, daß Sie tatsächlich etwas verstanden
haben! Nicht nur wir würden es begrüßen, auch Ihr
Kanzler würde es Ihnen sicher danken.
Herzlichen Dank.
({16})
Als
nächste Rednerin hat die Bundesministerin für Gesundheit, Andrea Fischer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht
heute nicht um die Frage, wie wir überhaupt zur Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs mittels des Medikamentes Mifegyne stehen.
({0})
Die Entscheidung darüber wird das Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte treffen. Eines will
ich allerdings zur Einführung doch grundsätzlich sagen: Es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger
als um eine Alternative zum chirurgischen Eingriff
beim Schwangerschaftsabbruch. Das mag für manche
Frauen eine schonendere Methode sein; für manche mag
sie auch belastender sein als ein chirurgischer Eingriff.
Es gibt kein eindeutiges Ergebnis der Erfahrungen.
Wenn das Medikament allerdings die Anforderungen
des Arzneimittelgesetzes erfüllt, dann sollte es als eine
weitere Möglichkeit den Frauen zur Verfügung gestellt
werden.
Ich habe den bisherigen Beiträgen entnommen, daß
hier im Plenum Einigkeit darüber besteht, daß die Ermöglichung einer solchen Alternative, also die Verabreichung dieses Medikamentes, keine erneute Diskussion über den § 218 erfordert. Die Entscheidung über
den Schwangerschaftsabbruch ist schon gefallen, wenn
dieses Mittel zum Einsatz kommt. Ich bin dankbar dafür,
daß offensichtlich wenigstens in diesem Punkt im Hause
Einigkeit besteht.
Nun geht es heute um die Frage: Brauchen wir einen
besonderen Vertriebsweg? Ihrem kritischen Beitrag,
Frau Widmann-Mauz, entnehme ich, daß Sie der Meinung sind, daß wir durchaus einen streng kontrollierten
Vertriebsweg brauchen, daß wir aber die Kontrolle mit
der von uns vorgeschlagenen Verkürzung des Vertriebsweges zu weit treiben - wenn ich das, was Sie gesagt haben, einmal so interpretieren darf.
Wir wollen keinen Schwarzhandel, und wir wollen
keinen Mißbrauch dieses Medikaments.
({1})
Darüber sind wir uns auch einig, denke ich. Das ist
der Grund, warum wir - übrigens durchaus auch mit
Blick auf das Ausland; darauf komme ich gleich noch
einmal - gesagt haben, wir wollen das Mittel nicht
direkt an Frauen abgeben,
({2})
sondern nur an die zum Schwangerschaftsabbruch berechtigten Einrichtungen, und wir wollen, daß es nur
durch einen Arzt angewendet werden darf. Es muß so
sein, daß auch diese Form des Schwangerschaftsabbruchs nur unter ärztlicher Kontrolle stattfindet, weil das
ein drastischer Eingriff ist.
({3})
Die Änderung des Arzneimittelgesetzes, wie sie für
den Sondervertriebsweg erforderlich ist, wie wir ihn
uns vorstellen, ist notwendig - das wurde auch in dem
Beitrag der Kollegin eben ganz deutlich -, weil bislang
die Abgabe eines Arzneimittels vom pharmazeutischen
Unternehmer über den Großhandel an die Apotheken
und den Endverbraucher vorgesehen ist.
Ich weiß sehr wohl, daß sich die Sachverständigen
der Apothekerschaft in der Anhörung für eine Beibehaltung des bestehenden Vertriebsweges und für eine
Regelung zur Abgabe des Mittels von der Apotheke an
die Einrichtungen ausgesprochen haben.
({4})
Ich denke - das ist gerade in dem Beitrag von Frau
Widmann-Mauz auch ganz deutlich geworden -, dahinter steckt die Befürchtung, daß man hier einen Präzedenzfall für weitere Sonderregelungen schaffen will.
({5})
Ich will noch einmal darauf hinweisen: Sie haben die
französische Expertin genannt. Sie hat nach meinem
Kenntnisstand ebenfalls gesagt, daß man auch in Frankreich anfangs ausgesprochen vorsichtig,
({6})
vielleicht sogar auch übervorsichtig gewesen ist. Wir
sind jetzt hier ebenfalls am Anfang, Herr Kollege Parr.
Ich glaube, daß Sie mit der Art und Weise, wie Sie
über unseren Gesetzentwurf reden, überhaupt erst dazu
beitragen, daß das entsteht, was Sie dann beklagen, die
Annahme nämlich, ich würde die Apotheker in ein
schräges Licht rücken. Der Gesetzentwurf und vor allem
auch seine Begründung gibt das nicht her;
({7})
wir haben im Gesetzentwurf vielmehr vollkommen klar
gesagt, es geht um einen Sondervertriebsweg, und er
wird ausschließlich bezogen auf Arzneimittel, die zur
Vornahme eines Schwangerschaftsabbruches geeignet
sind. Weil Sie nach meiner Position dazu gefragt haben:
Wir wollen keine Abkehr vom bewährten Vertriebsweg
über Großhandel und Apotheken.
({8})
Sie wissen, daß der Weg, den Sie vorgeschlagen haben, der Weg der Direktabgabe, genausogut den Vorwurf begründen kann, einen Präzedenzfall zu schaffen.
Auch er hat seine Tücken und seine weitergehenden
Folgen.
({9})
Ich halte es für überhaupt nicht klug, daß Sie jetzt das machen nicht wir, das machen Sie - die Debatte um
einen Sondervertriebsweg für Mifegyne, die schwierig
genug ist, wie wir beim täglichen Blick in die Zeitung
feststellen können und alle wissen,
({10})
mit einer Debatte darüber verknüpfen, ob Sie aus unseren Absichten, die wir dort haben, irgendwie auf tieferliegende Absichten zur grundlegenden Abschaffung des
Apothekensystems schließen können.
({11})
Ich habe es in der ersten Lesung erklärt, und ich bin gern
bereit, es heute noch dreimal zu sagen ({12})
ich weiß nicht, wie oft ich irgend etwas sagen muß, damit es bei Ihnen ankommt -: Ich habe ein Interesse daran, durch ein sehr strenges Verfahren sicherzustellen,
daß es zu keinem Mißbrauch bei diesem Medikament
kommt, und ich bekenne mich ausdrücklich zum Vertriebsweg über die Apotheken, wie wir ihn haben. Ich
halte allerdings die besonderen Bedingungen, wie sie bei
Medikamenten zum Schwangerschaftsabbruch gegeben
sind, für eine hinreichende Begründung dafür, für diese
Mittel einen besonderen Vertriebsweg zu wählen.
({13})
Das Arzneimittel wird von einer begrenzten Zahl von
Einrichtungen angewandt. Es soll dort vorgehalten werden dürfen und direkt an die Patientinnen ausgehändigt
werden.
({14})
Hier geht es um Beratung und auch Überwachung in
einem ganz anderen Ausmaß, als es in Apotheken üblicherweise der Fall ist. Wir wollen deshalb einen kurzen
Vertriebsweg.
({15})
Meines Erachtens konnten die Sachverständigen der
Apothekerschaft nicht überzeugend darlegen, warum die
Beibehaltung des Vertriebswegs über den Großhandel
und die Apotheke in diesem besonderen Fall aus Gründen der Qualitätssicherung erforderlich ist.
({16})
Abschließend will ich Sie darauf hinweisen, daß der
Bundesrat mit 15 : 1 Stimmen diesem Gesetzentwurf
zugestimmt hat. Ich gehe davon aus, daß auch dem Bundesrat die Ergebnisse der Expertenanhörung bekannt
sind.
({17})
Wenn wir mit dem Entschließungsantrag darauf hinweisen, daß wir nach zwei Jahren überprüfen wollen, ob
wir mit diesem Gesetzentwurf das Ziel erreicht haben,
das wir erreichen wollten, könnte das Ergebnis einer
solchen Überprüfung auch sein, daß wir nicht so streng
sein müssen, wie wir es jetzt sind.
Ich finde, in einer Situation wie der jetzigen, wo die
Abgabe dieses Medikaments so heiß umstritten ist, sind
wir auf dem richtigen Weg, wenn wir sagen, wir sind
lieber übervorsichtig als zu wenig vorsichtig. Ich halte
es für genauso richtig, darüber nachzudenken, daß man
sich das im Ergebnis noch einmal anschaut und sagt:
Vielleicht können wir diesen Vertriebsweg doch lokkern.
Ich halte es für vollkommen unangemessen, dies als
ein Stück aus dem Tollhaus zu bezeichnen. Ich glaube,
daß wir hier ausgesprochen verantwortungsvoll den
Weg für die eventuell demnächst erfolgende Zulassung
des Medikaments Mifegyne freimachen. Ich bitte deswegen um Zustimmung für diesen Gesetzentwurf.
({18})
Als
nächster Redner hat der Kollege Detlef Parr von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Frau Ministerin, den Bundesrat können Sie
wohl nicht zum Zeugen anrufen, wenn er den Beschluß
vor der Anhörung gefaßt hat und die Ergebnisse der Anhörung gar nicht in seine Entscheidungsfindung einbeziehen konnte.
({0})
Ich möchte mit einem Zitat beginnen, meine Damen
und Herren:
Es geht um eine für mich sehr grundsätzliche Frage, da kann ich keine Kompromisse machen. Ich
habe ein anderes Menschenbild als jenes, das diesem Entwurf
- gemeint ist die Strukturreform zugrunde liegt.
So Hans-Ulrich Klose heute in der „Rheinischen Post“.
Recht hat Ihr früherer Fraktionsvorsitzender.
({1})
Mißtrauen gegenüber der Verantwortung des Einzelnen durchzieht jeden Gesetzentwurf, den Sie, Frau
Fischer, hier einbringen.
({2})
Es ist Mißtrauen gegenüber Patientinnen und Patienten,
denen Sie mehr und mehr Wahlmöglichkeiten wegnehmen.
({3})
Es ist Mißtrauen gegenüber der Ärzteschaft, die Sie
gängeln und die Sie - ich zitiere wieder Hans-Ulrich
Klose - „per Gesetz zu Scheinselbständigen machen“.
({4})
Es ist Mißtrauen gegenüber den Apothekerinnen und
Apothekern, denen Sie absprechen, auch zukünftig für
sichere Vertriebswege in sensiblen Arzneimittelbereichen Sorge zu tragen.
({5})
Dabei gibt es nach den bisherigen Erfahrungen überhaupt keinen Grund, daran zu zweifeln.
Vielfältige rechtliche Vorgaben im Apothekengesetz
tragen zur Sicherheit und Effizienz der Arzneimittelversorgung bei. Ich nenne als Beispiele das Betäubungsmittelrecht, das Transfusionsgesetz, weitgehende Dokumentationspflichten auch für Importarzneimittel und
Rückrufsysteme. Sie belegen das bisherige Vertrauen in
den Vertriebsweg Apotheke.
Dieses Vertrauen hat auch die französische Sachverständige Dr. Aubény in der Anhörung deutlich gemacht.
Sie sagt:
Es scheint möglich, daß das Produkt vom Arzt verschrieben und von der Patientin in der Apotheke
gekauft wird, eventuell unter verstärkter Kontrolle
wie bei morphinhaltigen Produkten, um jeglichen
Schwarzhandel zu unterbinden.
So die französische Sachverständige, die zehn Jahre Erfahrung im Hinblick auf den Vertrieb von Mifegyne hat.
Sie setzen jetzt Vermutungen über die Richtigkeit Ihres am Schreibtisch erdachten Sondervertriebswegs
über die tatsächlichen Erfahrungen der bisherigen Praxis. Das ist ordnungspolitisch völlig falsch und gegen
jeglichen Sachverstand.
({6})
Die Anhörung hat Ihnen bescheinigt: Anspruch und
Wirklichkeit klaffen bei Ihnen weit auseinander. Sie
fordern zu Recht außerordentliche Sorgfalt und Umsicht
für die hochsensible Produktgruppe von Arzneimitteln
zum Schwangerschaftsabbruch. Tatsächlich schaffen Sie
aber neue, unkalkulierbare Risiken, wenn wir nur an die
Aufbewahrungsmöglichkeiten denken.
({7})
Sie heben ohne Not die klare Trennung der Funktionen - Arzneimittelverordnung und -anwendung durch
den Arzt und Distribution durch die Apotheken - auf.
Da ist es natürlich kein Wunder, daß Befürchtungen laut
werden, Sie seien klammheimlich dabei, den Einstieg in
die Umgehung des pharmazeutischen Großhandels und
der öffentlichen Apotheken zu betreiben.
In einem scheint die Anhörung bei Ihnen allerdings
Früchte getragen zu haben. Dies beweist Ihr Entschließungsantrag zur Einführung eines Sondervertriebsweges
auf Probe. Nach zwei Jahren soll über eventuelle Probleme im Hinblick auf die Versorgung und Überwachung berichtet werden. Ich denke, das ist ein Beweis
für Ihre eigene Unsicherheit.
({8})
Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen,
Frau Schmidt-Zadel, sparen Sie sich diese Probezeit!
Setzen Sie auf die Stärke eingeübter und vielfach bewährter Verfahren.
Frau Ministerin, abschließend möchte ich Ihnen ein
weiteres Zitat mit auf den Weg geben. Der österreichische Schriftsteller Robert Musil hat einen Leitsatz formuliert, der die aktuelle Lage der gesundheitspolitischen
Debatte trefflich beschreibt: „Wir irren vorwärts!“ Wann
endlich bemerken Sie es?
({9})
Als
letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kollegin
Dr. Ruth Fuchs von der PDS-Fraktion das Wort. Bitte,
Frau Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Widmann-Mauz, wir
haben im Ausschuß und auch an anderer Stelle bisher
eine wirklich sachliche Diskussion geführt. Wir hatten
lediglich Meinungsverschiedenheiten. Ich finde es sehr
traurig, daß heute persönlich gefärbte Argumente die
Sachlichkeit der Argumentation getrübt haben.
({0})
- Ich habe eine Meinung, und diese darf ich doch wohl
äußern. Ich möchte das zum Ausdruck bringen, weil ich
glaube, daß dies der Sache, über die wir diskutieren,
nicht dient.
({1})
Das Wichtigste, um das es im Zusammenhang mit
diesem Gesetz geht, ist die Tatsache, daß die Frauen
hierzulande endlich auch die Möglichkeit erhalten, unter
ärztlich kontrollierten Bedingungen einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen,
wenn dies im Einzelfall nach ärztlichem Rat und individueller Entscheidung als das schonendste Verfahren angesehen wird.
({2})
Wir jedenfalls begrüßen deshalb, daß die Zulassung des
Medikaments in Kürze zu erwarten ist. Darüber gibt es
Gott sei Dank auch keine Meinungsverschiedenheiten.
({3})
Bei der jetzt notwendigen Festlegung des Verfahrensweges - nur darum geht es heute in diesem Gesetz halten wir es auch für verständlich, vielleicht auch für
verantwortlich, daß die Bundesregierung in besonderer
Weise bestrebt ist, ein Maximum an Vorsicht und Sicherheitsvorkehrungen beim Umgang mit diesem Präparat walten zu lassen. Bekanntlich verfügt im eigenen
Land noch niemand über einschlägige Erfahrungen im
Hinblick auf möglichen Mißbrauch. Ich glaube, die Erfahrungen in Frankreich nützen uns nicht viel, und ich
denke, es ist ratsam, das Präparat zwei Jahre lang zu erproben, wie dies im Entschließungsantrag gefordert
wird.
({4})
Lassen Sie uns dann noch einmal sachlich darüber reden.
({5})
Der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gewählte
Weg, die vorgesehenen Nachweispflichten und die noch
einmal präzisierten Aufbewahrungsvorschriften, bieten
unseres Erachtens die Gewähr dafür, daß die genannten
Ziele erreicht werden können. Das gleiche gilt für die
notwendige Vorkehrung zur Sicherung der Anonymität
der Frauen.
({6})
- Vier Minuten, ja. - Ihre Befürchtungen hinsichtlich
möglicher unbekannter Risiken halte ich persönlich im
Moment, bezogen auf den veränderten Vertriebsweg, für
eine künstlich aufgebaute Drohkulisse, die in der Realität gar nicht existiert. Wir werden dem Gesetz zustimmen, und wir werden auch dem Entschließungsantrag
zustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Zu einer
Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung gebe ich dem Kollegen Hubert Hüppe von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Nachdem Frau Schmidt-Zadel einiges zu RU 486 allgemein gesagt hat, was eigentlich
nicht zum Thema gehört, möchte ich noch einmal deutlich machen, daß nicht alle Mitglieder des Ausschusses,
daß zumindest meine Person nicht grundsätzlich mit RU
486 einverstanden ist. Ich stimme heute nicht deswegen
gegen den Antrag, weil es mir um den Vertriebsweg
geht, sondern weil ich der Auffassung bin, daß es sich
bei RU 486 um ein Mittel zur Tötung menschlichen Lebens handelt und ich dies unter dem Begriff „Medikament“ nicht führen möchte.
({0})
- Weil auch auf Grund der Ausführungen von Frau
Fischer der Eindruck entstanden ist, es gebe grundsätzlich Übereinstimmung über das Mittel, möchte ich nur
noch einmal sagen: Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen innerhalb des Hauses, die bei RU 486 grundsätzliche Bedenken haben und die nicht nur Bedenken haben,
was den Vertriebsweg angeht.
Frau Schmidt-Zadel, ich darf an dieser Stelle auch
sagen: Es hat mich schon sehr gewundert, daß Sie, als
Frau Aubény gesagt hat, daß man das Mittel bei Frauen
in der Dritten Welt angewandt habe, daß man also Frauen als Versuchsmenschen benutzt hat, kein einziges
Wort der Kritik geäußert haben. Ich denke, wenn Sie
sich darauf allgemein eingelassen haben, hätten Sie auch
dies betonen müssen.
Ich stimme heute dagegen, auch weil ich den Eindruck habe, daß die Übereile, die ja von Ihnen an den
Tag gelegt worden ist, anscheinend auch damit zu tun
hat, das BfArM von einer objektiven Beurteilung abzuhalten und politisch unter Druck zu setzen. Dieses Verfahren halte ich nicht für richtig. Ich bitte, daß auch
meine Meinung hier wahrgenommen und toleriert wird.
Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, Drucksachen 14/898 und 14/1240. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Dritte Beratung und Schlußabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in dritter LeDr. Ruth Fuchs
sung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P.
angenommen.
Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt unter Ziffer 2
seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/1240 die
Annahme einer Entschließung. Ist Ihnen bewußt, worüber wir da abstimmen?
({0})
- Gut. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist
diese Entschließung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Vierten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch - 4. SGB XI-Änderungsgesetz ({1})
- Drucksachen 14/407, 14/580 ({2})
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- Drucksache 14/1203 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/1204 Berichterstattung:
Abgeordnete Walter Schöler
Manfred Kolbe
Matthias Berninger
Jürgen Koppelin
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Dr. Martin Pfaff von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ausschuß hat ein einstimmiges Votum abgegeben, diesen Gesetzentwurf zu unterstützen, er hat aber auch ein einstimmiges Votum abgegeben, daß noch etlicher Handlungsbedarf in diesem
Bereich der Pflegeversicherung besteht, und hat sich vor
allem mit dem Thema der psychisch Kranken und der
Demenzkranken befaßt. Dabei wurde beschlossen auch das war einstimmig -, daß wir eine Anhörung genau zu diesem Thema durchführen wollen, um dann
einen gediegenen Bericht vorlegen zu können. So im
Bericht des Ausschusses vom 22. Juni nachzulesen. Ich
sage dies aus gegebenem Anlaß. Denn es geht ja nicht
nur um dieses Gesetz, es geht auch um weitergehende
Anliegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, daß die
gesetzliche Pflegeversicherung die Situation vieler Menschen stark verbessert hat, aber nicht grundsätzlich die
Situation aller Menschen in allen Bereichen. Das muß
man einfach sagen. Die positiven Seiten sind aber anzuerkennen. Dies ist ein Meilenstein in der Entwicklung
des Sozialstaates in Deutschland. Denn nicht länger
sollen Männer und Frauen 30, 40 oder mehr Jahre arbeiten, Beiträge zur Sozialversicherung zahlen und dann
im Alter, wenn sie pflegebedürftig werden, von der Sozialhilfe - das trifft in Heimen für 70 Prozent zu - abhängig sein. Nicht länger sollen sie zuerst ihre Ersparnisse, dann das Häuschen und am Ende gar - bis auf ein
Taschengeld - die Rente verlieren. Das empfinden sie
als sozialen Skandal, und ich sage, ich empfinde es
ebenfalls so.
({0})
Das wurde durch die gesetzliche Pflegeversicherung geändert.
Wenn Männer oder Frauen - in der Regel sind es ja
Frauen - Oma und Opa pflegen - 90 Prozent der Pflege
findet ja in der Familie statt -, dann sollen sie nicht
dreimal bestraft werden: zum einen, weil sie auf ein
eigenes Einkommen verzichten, zum zweiten, weil sie
dadurch keine Anwartschaften für das Alter erreichen,
und zum dritten, weil, da kein Einkommen vorhanden
ist, auch keine private Absicherung möglich ist. Auch
das war ein Skandal. Das ist geändert worden. Festzustellen ist, daß dies für viele in diesem Lande eine wichtige Verbesserung darstellte.
({1})
Aber es verbleiben noch Lücken im System. Veränderungen sind nötig. Das heutige Gesetz verändert einiges, aber nicht alles:
({2})
Erstens. Es sieht deutliche Verbesserungen bei der
Anrechnung von Pflegegeld auf die Unterhaltsansprüche vor. Nicht länger sollen die Unterhaltsansprüche
einer geschiedenen Frau deshalb gemindert werden, weil
sie Pflegegeld für die Pflege des eigenen behinderten
Kindes bekommt. Dies ist zu begrüßen. Das ist ein Fortschritt.
({3})
Zweitens. Auch bei Ersatzpflege im Falle von Unfällen oder anderen Ausfällen der häuslich pflegenden
Personen müssen die betroffenen Menschen nicht erst
ein Jahr pflegend tätig sein, bevor sie eine Ersatzpflege
finanziert bekommen. Auch dies sowie die Tatsache,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
daß wir dies gemeinsam beschlossen haben, ist gut und
richtig.
({4})
Drittens. Was Verhinderungen und die Möglichkeit
der Urlaubspflege angeht, sage ich: Gerade Pflegepersonen haben Anspruch auf Urlaub. Dies wird in dem
vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt. Auch das ist
richtig.
({5})
Viertens. Beim Tod der Pflegebedürftigen mußten
die Angehörigen bisher das Pflegegeld für den Monat, in
dem der Pflegebedürftige gestorben ist, ab dem Sterbedatum zurückzahlen. Dies wurde von vielen nicht nur als
pietätlos und unwürdig empfunden. Die Ironie dieser
Sache war auch, daß der Verwaltungsakt oft viel teurer
war als die wiedereingetriebenen Beträge. Ich finde, es
ist höchste Zeit, daß wir dies heute gemeinsam verändern.
({6})
Daß die Leistungen der Tages- und Nachtpflege den
leistungsrechtlichen Höchstbeträgen bei der Pflegesachleistung angepaßt werden, ist auch richtig. Wenn
schließlich die Kosten der Pflichtpflegeeinsätze - sie
dienen ja nicht nur der Information; wir sagen direkt,
daß damit auch ein Element der Kontrolle der Qualität
der Pflege verbunden ist - nicht von den Betroffenen,
sondern von der Versicherung gezahlt werden, wird die
Akzeptanz dieser Pflichtpflegeeinsätze verbessert.
({7})
Auch das ist richtig, und so ist es in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen,
daß damit nicht alle Probleme der Pflegebedürftigen
gelöst sind. Denn wir dürfen niemals vergessen, daß mit
einem Beitragssatz von 1,7 Prozent nur eine Grundsicherung finanziert wird. Dies ändert natürlich nichts an
den Bedürfnissen und Problemen der Menschen; ich erwähne es nur.
Der echte Überschuß von 5,7 Milliarden DM - ich
lasse die Rücklagen und die Betriebsmittel von 4 Milliarden DM weg - soll für die Abdeckung des demographischen Kostenrisikos dienen. Die uns vorliegende
Arbeit von Prognos zeigt uns, daß bis zum Jahre 2040
mit einem Anstieg des Beitragssatzes auf 2,6 oder gar
2,8 Prozent zu rechnen ist, und zwar allein demographiebedingt. Wir wissen auch, daß bis zum Jahre 2010
350 000 Menschen mehr pflegebedürftig sein werden.
Deshalb brauchen wir diese Rücklagen, und deshalb ist
es richtig, daß wir die Grenzen des Machbaren erkennen.
Aber dennoch - auch wenn die Pflegeversicherung
im Spannungsfeld zwischen Bedarfsdeckung und Finanzierung liegt, das ist die Realität; das ist die Wahrheit muß doch gelten: Die sozialpolitische Qualität des Sozialstaates kann nicht von der Kassenlage diktiert werden.
({8})
- Darauf habe ich gewartet. Die Spezialisten für diese
Art der Politik sind Sie. Ich weiß das. Ich kann mir vorstellen, daß Sie deshalb entsprechende Papiere mit sich
führen.
Deshalb müssen wir uns fragen, was noch in dieser
Legislaturperiode verändert werden muß: Notwendig
sind ein Abbau der Bürokratie und eine deutliche Qualitätsverbesserung bzw. Qualitätssicherung. Vor allem ist
notwendig, daß wir die Problembereiche der Behinderten in der stationären Einrichtung der Behindertenhilfe
angehen. Eine ganzheitliche Betreuung ist ohne Wenn
und Aber erforderlich. Hier müssen wir den Bestrebungen der Sozialhilfeträger in Richtung Umwidmung - dies
geschieht doch aus finanziellen Gründen - entgegentreten. Die Probleme der Abgrenzung zwischen Pflegeversicherung und Sozialhilfe werden heute weitgehend
- liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist die traurige
Wahrheit - auf dem Rücken der Behinderten „gelöst“.
Damit muß Schluß sein.
Dabei trifft uns alle in diesem Haus eine hohe Verantwortung; denn die gemeinsame Entschließung, die
wir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben,
hat dieses Problem nicht gelöst. Wir müssen die Abgrenzung zwischen Pflegeversicherung, Sozialhilfe und
gesetzlicher Krankenversicherung in dieser Legislaturperiode präzise regeln.
Herr
Kollege Pfaff, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Seifert von der PDS-Fraktion?
Natürlich, sehr gerne.
Bitte
schön, Herr Dr. Seifert.
Herr Kollege Pfaff, muß ich
Ihre Bemerkung, daß Sie die Pflege von behinderten
Menschen in stationären Einrichtungen verbessern wollen, dahin gehend verstehen, daß die, die außerhalb der
Einrichtungen leben, in dieser Legislaturperiode nicht
bedacht werden sollen? Das wäre natürlich eine Katastrophe.
Nein, ich bin noch bei der
Auflistung; ich bin erst bei der Hälfte angelangt.
Herr Dr. Seifert, Sie haben mich zu diesem Thema
bereits an anderer Stelle gehört. Deshalb will ich gar
nicht polemisch antworten. Natürlich ist dies nicht der
Fall; das ist doch klar.
({0})
Die Situation der geistig Behinderten und der psychisch Kranken ist ein ganz großes Problem. Ich freue
mich, daß wir im Ausschuß eine gemeinsame Position
bezogen haben. Ich kann aber wirklich nicht verstehen,
warum Sie jetzt wieder Ihre alte Entschließung hervorgeholt haben, das Problem des Kapitalstocks weglassen
und einen Termin setzen, der im Widerspruch steht zu
einer gediegenen Beratung eines so wichtigen und
schwierigen Themas.
({1})
Ich muß es einmal in aller Deutlichkeit sagen: Die
Probleme der psychisch Kranken, der Demenzkranken,
sind viel zu ernst, als daß damit parteitaktische Spielchen betrieben werden könnten.
({2})
Sie wollen uns doch vorführen. Sie wollen, daß wir Ihren Entschließungsantrag ablehnen, den wir in großen
Teilen nicht nur mitgetragen haben; wir haben dies inhaltlich auch gefordert.
({3})
Sie haben ihn mit einem Termin versehen, der nicht akzeptabel ist. Wir werden ihn deshalb auch ablehnen.
Diesen Gefallen werden wir Ihnen tun.
({4})
Ich finde es aber wirklich schäbig - ich sage es einmal
auf deutsch -, daß eine Gruppe, die so große Schwierigkeiten hat, für eine parteitaktische Auseinandersetzung
in diesem Haus herhalten muß. Irgendwo muß eine
Grenze sein.
({5})
Sie hatten die Möglichkeit, das Problem selber zu lösen, haben es aber nicht getan. In Ihrem Regierungsbericht steht:
Eine Benachteiligung der psychisch Kranken und
der geistig Behinderten gegenüber Pflegebedürftigen mit körperlichen Erkrankungen in der Pflegeversicherung ist deshalb insgesamt nicht festzustellen.
Ich finde, dies ist eine weltfremde Beobachtung, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Sie weicht leider sehr von der Realität ab.
Wir müssen Prävention und Rehabilitation im Bereich der Pflege ernst nehmen. Wir müssen den Begriff
der Pflegebedürftigkeit überprüfen. Wir müssen den
ganzheitlichen Ansatz nicht nur im stationären, sondern
auch im ambulanten Bereich überprüfen.
({7})
Wir müssen die Defizite bei der Forschung - über besondere Risikogruppen, über Frühdiagnostik bei beginnender Demenz und Depression - abbauen. Wir müssen
die Aus- und Fortbildung von Fachärzten auf dem Gebiet der Geriatrie und der Gerontopsychatrie verbessern.
Wir müssen auch die Pharmakotherapie verbessern. Wir
müssen die Einflußfaktoren besser in den Griff bekommen. Wir müssen die gesellschaftlichen Bedingungen,
die zu diesen Alterserkrankungen führen, genauer unter
die Lupe nehmen, die Versorgungsforschung vorantreiben und vieles andere mehr.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Legislaturperiode stehen wir im Bereich der Pflegeversicherung vor wirklich großen Herausforderungen. Wir haben
gemeinsam - ich spreche vor allem die rechte Seite des
Hauses an - einen Meilenstein in der Entwicklung des
Sozialstaates Bundesrepublik Deutschland gesetzt. Wir
haben die Probleme zwischen Bedarfsdeckung und
Finanzen erkannt und einen Mittelweg gefunden. Das
kann aber nur ein Schritt in die richtige Richtung sein.
Deshalb fordere ich Sie auf, zur Gemeinsamkeit zurückzukehren. Streit gehört zur Kultur des Parlamentes.
Die größten Stunden des Parlamentes zeichnen sich aber
dadurch aus, daß in einem so wichtigen Bereich die
Gemeinsamkeit der Demokraten bemüht wird.
({8})
Ich denke, die Pflegebedürftigen werden es uns danken.
Danke schön.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulf Fink von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Professor Pfaff, wir
streiten uns gerade darüber, ob wir Ihnen zu 95 Prozent
oder zu 99 Prozent attestieren sollen, daß es eigentlich
eine ganz gute Rede war, die Sie gehalten haben.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf zu. Er enthält notwendige und
sinnvolle Verbesserungen für die Pflegebedürftigen. Sie
wurden im übrigen bereits in der letzten LegislaturperiDr. Martin Pfaff
ode im Bundesarbeitsministerium konzipiert, konnten
aber parlamentarisch nicht mehr durchgesetzt werden.
Wir hätten uns gewünscht - Sie sind darauf eingegangen, Professor Pfaff -, bei dieser Gelegenheit zugleich die Situation der Altersverwirrten verbessern
zu können. Die Gruppe der Altersverwirrten stellt einen
großen und immer weiter wachsenden Anteil an den Hilfe- und Pflegebedürftigen dar. Fast die Hälfte aller Pflegeheimbewohner haben altersbedingte demenzielle Erkrankungen.
Die Absicherung dieses Personenkreises hat von Anfang an ein Problem der Pflegeversicherung dargestellt.
Die Pflegeversicherung kennt nur einen sehr engen, verrichtungsbezogenen Begriff der Pflegebedürftigkeit,
({0})
der auf Körperpflege, Ernährung und Mobilität sowie
hauswirtschaftliche Versorgung abstellt. Personen mit
geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen, wie zum Beispiel die Altersverwirrten, haben aber
oft einen Hilfebedarf, der außerhalb dieser Verrichtungen anfällt. Deshalb muß an dieser Stelle zusätzlich etwas getan werden.
({1})
In der Koalitionsvereinbarung hat die Regierungskoalition die Notwendigkeit anerkannt, hier zu Änderungen zu kommen. Dann haben das Land Bayern und das
Land Baden-Württemberg konkrete Gesetzentwürfe
erarbeitet, um dieses Problem zu lösen. Sie sind mit diesen Gesetzesanträgen allerdings an der Mehrheit im
Bundesrat gescheitert. Auch ein entsprechender Entschließungsantrag unserer Fraktion ist an der Stimmenmehrheit der Regierungskoalition gescheitert. Die notwendigen Verbesserungen für die Altersverwirrten wird
es also zumindest jetzt nicht geben. Ich bedaure das im
Interesse dieser Mitbürger sehr. Ich hätte ihnen gerne eine bessere Nachricht überbracht.
({2})
Die Regierungskoalition hat die Ablehnung unserer
Anträge auf der einen Seite damit begründet, daß sie gesagt hat, sie brauche noch Zeit für die Beratung; das war
jetzt insbesondere auch Ihre Begründung. Sie hat aber
auf der anderen Seite auch finanzielle Gründe angeführt.
Sie hat gesagt, die Gesetzesanträge von BadenWürttemberg und Bayern seien so nicht finanzierbar.
In der Tat scheint es so zu sein, daß die Zeiten der
großen Überschüsse der Pflegeversicherung vorbei
sind. In dem Hearing des Ausschusses für Gesundheit
und dann in einem ausführlichen Schreiben vom 9. Juni
dieses Jahres hat sich das Bundesversicherungsamt in
Berlin zur finanziellen Entwicklung der Pflegeversicherung geäußert. Danach betrug das Gesamtvermögen der
Pflegeversicherung am Ende des vergangenen Jahres
zwar 9,64 Milliarden DM - davon muß man natürlich
die gesetzlich vorgeschriebene Rücklage abziehen -,
aber das Vermögen hat sich in 1998 nur noch um
250 Millionen DM erhöht, und für 1999 erwartet das
Bundesversicherungsamt lediglich ein ausgeglichenes
Ergebnis. Übrigens erwartet das Bundesversicherungsamt auch für die kommenden Jahre nur noch ausgeglichene Ergebnisse.
Wir wissen alle miteinander: Prognosen sind unsicher. Auch das Bundesversicherungsamt mag sich irren.
Deshalb fordern wir heute in einem Entschließungsantrag, daß die Koalition darlegen soll, wie sie denn das
Versprechen, den Altersverwirrten zu helfen, das sie gegeben hat, nun einlösen will. Das Abstimmungsergebnis
wird - nicht nur wegen des Punktes Dezember; über den
hätten wir ja reden können - vor allem deshalb aufschlußreich sein, weil Sie letztendlich die spannende
Frage beantworten müssen, wie Sie es zwar einerseits
für finanziell unvertretbar halten, jetzt den Altersverwirrten in dem Umfang zu helfen, wie es Bayern und
Baden-Württemberg vorgeschlagen haben, es aber andererseits für vertretbar halten, der Pflegeversicherung
jährlich mindestens 600 Millionen DM - der VdAK sagt
sogar: 1 Milliarde DM - an Einnahmen zu entziehen.
Denn Sie haben ja den Sparbeschlüssen von Herrn
Eichel zugestimmt, und diese sehen vor, daß die Pflegeversicherung künftig Hunderte von Millionen DM weniger von der Arbeitslosenhilfe bekommt und wegen der
geringeren Rentenanpassung weitere Hunderte von Millionen DM bei der Pflegeversicherung ausfallen.
({3})
Das ersparte Geld, Professor Pfaff, kommt nicht den
Pflegeversicherten und auch nicht den Pflegebedürftigen
zugute, sondern es wird genutzt, um den Etat von Herrn
Eichel zu sanieren.
({4})
Das Geld der Pflegeversicherung gehört den Pflegeversicherten und Pflegebedürftigen. Es ist nicht dazu da,
Lücken zu schließen, die als Folge einer verfehlten
Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bundesetat aufgerissen wurden.
({5})
Herr
Kollege Fink, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Professor Pfaff?
Sehr gern.
Mit dem letzten Satz stimme
ich zu mehr als 95 Prozent überein. Aber, geschätzter
Herr Kollege Fink, ist Ihnen bekannt, daß zum Beispiel
die neuen Schätzungen des BMG einen Ausfall in Höhe
von 350 Millionen DM bedeuten würden, wenn die
Beiträge für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe zur
Pflegeversicherung in der nur diskutierten und bisher in
keiner Weise verabschiedeten Form umgesetzt würden?
Es geht also nicht um 500 Millionen DM à la „Handelsblatt“ oder um andere Schätzungen. Im schlimmsten Fall
geht es nach BMG-Schätzung, so wurde mir berichtet,
um 350 Millionen DM. Das ändert nichts am Prinzip,
aber an der Größenordnung.
Professor Pfaff, der VdAK
schätzt die Beitragsausfälle durch Senkung der Beitragsbemessungsgrenze - es wird statt 80 Prozent nur
noch der tatsächliche Zahlbetrag bei der Arbeitslosenhilfe berücksichtigt - nicht auf 350 Millionen DM, sondern
auf 604 Millionen DM. Das wollen wir aber mal offenlassen. Sie müssen aber zu den 350 Millionen DM hinzurechnen, daß der Übergang der originären Arbeitslosenhilfe auf die Kommunen weitere Beitragsausfälle bei
der Pflegeversicherung verursacht. Hinzurechnen müssen Sie, daß durch die geringere Rentenanpassung - sie
soll in den nächsten zwei Jahren nicht mehr nach den
Nettolöhnen erfolgen, sondern nur nach der Preissteigerungsrate - auch weniger Einnahmen bei der Pflegeversicherung ankommen. Dafür müssen Sie mindestens 200
bis 300 Millionen DM einsetzen. Dann kommen Sie auf
wenigstens 600 Millionen DM, die der Pflegeversicherung durch die Sparbeschlüsse fehlen werden.
({0})
Damit wir uns recht verstehen: Wir verneinen natürlich nicht die Notwendigkeit, zu sparen, aber wenn man
spart, dann muß man nach einem klaren und einsichtigen
Konzept vorgehen. Wir waren es, die das große Werk
der Pflegeversicherung umgesetzt haben, und zwar zu
einer Zeit, als es die großen Aufgaben der Wiedervereinigung zu bewältigen galt. In einer solchen Zeit das große Werk der Pflegeversicherung umzusetzen, das war
wirklich eine beachtliche politische Leistung.
({1})
Wir sind aber nicht blind gegenüber den Problemen.
Von den Altersverwirrten habe ich bereits gesprochen.
Daneben gibt es aber noch weitere Probleme, die mit
den Stichworten „Abrechnung und Pflege im Minutentakt“, „Verschiebebahnhöfe zu Lasten der Pflegebedürftigen zwischen Sozialämtern und Pflegeversicherung“
und dem letztlich nicht befriedigend gelösten - und in
dieser Konstellation vielleicht gar nicht lösbaren - Problem des Verhältnisses von Eingliederungshilfe für Behinderte zu Pflegeversicherung beschrieben sind.
({2})
Wenn man diese Probleme lösen will, dann braucht
man dazu ein klares und überzeugendes Konzept. Dann
reicht es eben nicht aus, Professor Pfaff, daß der so
plötzlich aus dem Amt geschiedene ehemalige Finanzminister Lafontaine aus heiterem Himmel erklärt, die
Pflege solle künftig aus Steuermitteln finanziert werden
und sich an der Bedürftigkeit orientieren, und der sich
noch im Amt befindliche Wirtschaftsminister Müller
diesen Vorschlägen von Herrn Lafontaine ausdrücklich
zustimmt.
Man darf auch nicht, wie jetzt beabsichtigt, die Kassen der Pflegeversicherung für Zwecke plündern, für die
diese gar nicht vorgesehen sind. In der sozialen Marktwirtschaft unterliegt nicht nur der wirtschaftliche Teil
ordnungspolitischen Prinzipien. In der sozialen
Marktwirtschaft muß sich auch der soziale Teil an ordnungspolitischen Prinzipien orientieren. Ich glaube, darüber sind wir einer Meinung. Leider vermissen wir diese
ordnungspolitischen Prinzipien nicht nur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Koalition, sondern
auch in der Sozialpolitik.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fink, die Art und Weise, in der Sie gerade die Kritik an unserer Politik vorgetragen haben, stimmt mich
für die weiteren Beratungen über die Pflegeversicherung
und über die wichtigen Aufgaben, die zur Lösung anstehen, doch sehr hoffnungsvoll. Daß wir heute alle gemeinsam diesem Gesetzentwurf zustimmen, ist Ausdruck der Einmütigkeit von Opposition und Regierungsfraktionen in der Frage, daß die Weiterentwicklung der
Pflegepolitik eine gemeinsame Aufgabe ist und gemeinsame Anstrengungen verlangt. Wenn man einmal von
meiner Person und meiner Fraktion absieht, ist sie hier
ja auch von allen gemeinsam konzipiert worden. Ich
nehme aber das Erbe, das man mir weitergegeben hat,
gerne an.
({0})
- Ich versichere Ihnen, Herr Lohmann, daß ich dieses
Erbe ganz sorgsam verwalten werde.
({1})
Ich will nicht verhehlen - vielleicht mögen sich einige von denen, die damals dabei waren, erinnern -, wie
zornig ich vor einem Jahr war, als die Verabschiedung
dieses Gesetzes gescheitert ist. Ich freue mich, wenn uns
seine Verabschiedung jetzt gelingt. Wir haben es nicht
verändert, damit alle die Möglichkeit haben, zuzustimmen, die schon vor einem Jahr darüber verhandelt haben. Es geht um leistungsrechtliche Verbesserungen bei
der Tages- und Nachtpflege, die ich für sehr notwendig
halte, um einen leichteren Zugang zur Kurzzeitpflege
sowie um die Kostenübernahme bei Pflichtpflegeeinsätzen. Der Kollege Pfaff hat ja eben schon ausführlich
dargestellt, um welche Bereiche es geht. Man sollte hier
noch einmal in Ergänzung zu dem, was Sie ausgeführt
haben, darauf hinweisen, daß es sich angesichts der Tatsache, daß die Mehrheit derjenigen, die die Pflege in
privaten Haushalten wahrnehmen, Frauen sind, immer
auch um ein Stück Frauenpolitik handelt, wenn wir in
diesem Bereich Verbesserungen verabschieden.
({2})
Es ist - auch das gehört zu meiner Art, wie ich das
Erbe annehme, Herr Kollege Lohmann - durch die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung zweifelsohne ein großer Fortschritt erreicht worden. Dieser FortDr. Martin Pfaff
schritt drückt sich für mich nicht nur in der Zahl von 1,8
Millionen Menschen aus, die als pflegebedürftige Menschen regelmäßig Geld- oder Sachleistungen bekommen. Wichtig ist über die reinen Geldzahlungen hinaus,
daß hier Selbstbestimmungsspielräume geschaffen
werden und es das Selbstwertgefühl stärkt, wenn man
andere für ihre Arbeit entlohnen kann. Man sollte es
nicht geringschätzen, daß die Pflegeversicherung über
das hinaus, was sie für Individuen getan hat, die Kommunen ganz deutlich von Sozialhilfezahlungen entlastet
hat.
Gleichzeitig - da stimme ich ausdrücklich den Kollegen Pfaff und Fink zu - gibt es eine Reihe von Problemen innerhalb der Pflegeversicherung, die wir nicht
ignorieren dürfen und die dringend einer Lösung zugeführt werden müssen. Viele der Probleme, die Kritik von
Betroffenen, Wohlfahrtsverbänden und Selbsthilfegruppen auslösen, sind auf den Charakter der Pflegeversicherung als Teilabsicherung zurückzuführen, also derart,
daß die Leistungssätze nach oben begrenzt sind und der
Pflegebegriff nur einen Teil der Hilfen umfaßt, auf die
viele Pflegebedürftige angewiesen sind.
Ich kann die Forderung nach Umsetzung eines ganzheitlichen Pflegebegriffs der Sache nach vollkommen
nachvollziehen. Ich hielte es für angemessen, auf körperliche, seelische und soziale Aspekte der Pflege gleichermaßen zu verweisen.
({3})
Trotzdem werden auch wir diese Forderungen unter den
gegebenen Bedingungen nicht vollständig erfüllen können. Eine Öffnung des Pflegebegriffs würde die Zahl der
Leistungsberechtigten und damit natürlich auch die
Aufgaben der Pflegeversicherung drastisch steigen lassen. Dann wären wir mit der Frage konfrontiert, ob wir
auf Dauer bereit sind, eine Deckelung des Beitragssatzes, also seine Begrenzung, zu akzeptieren. Ich denke,
daß auch Ihre Seite durchaus anerkennt, daß es ein
ernsthaftes Problem bei der Ausweitung des Pflegebegriffs gibt. So interpretiere ich jedenfalls Ihren geänderten Entschließungsantrag.
Wir haben zwei Hauptaufgaben bei der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Eine besteht darin darauf hat der Kollege Fink eben schon hingewiesen -,
die verschiedenen an der Absicherung des Pflegerisikos
beteiligten Sozialleistungssysteme gut aufeinander abzustimmen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wolf?
Ja.
Die Botschaft hör‘ ich
wohl, allein mir fehlt der Glaube. Frau Ministerin, wie
passen Ihre Ausführungen dazu, daß Sie Herrn Eichel
oder Herrn Riester - ganz, wie Sie wollen -, obwohl für
die Pflegeversicherung so viele neue Aufgaben anstehen, jetzt 500 Millionen oder 600 Millionen DM - darüber läßt sich trefflich streiten; jedenfalls beachtlich viel
Geld - schenken? Früher bestand in diesem Haus Konsens darüber, daß die Rücklagen der Pflegeversicherung
allein den Pflegebedürftigen zugute kommen und daß
damit keine Haushaltslöcher gestopft werden sollen.
({0})
Diesen Konsens verlassen Sie mit diesen Beschlüssen.
Wie passen Ihre Sorgen um die Pflegeversicherung und
um ihre künftigen Aufgaben dazu, daß Sie dieses Geld
jetzt einfach weggeben?
Ich habe gestern den Kollegen Blüm gegen frühere
Vorwürfe in Schutz genommen, daß man sich diebisch
verhalte, wenn man Änderungen bei Beitragssätzen,
Einnahmen und Ausgaben, der Sozialversicherungen
vornehme. In diesem Fall möchte ich meinen Kollegen
Eichel gegen die Behauptung in Schutz nehmen, da
werde ihm persönlich etwas geschenkt. Der Haushalt,
den wir als Bundesregierung gerade sanieren, ist unser
aller Haushalt. Wir alle sind die Gesellschaft, der Staat.
Die Frage, wieviel Schulden wir haben und wie wir mit
den Staatsfinanzen umgehen, geht uns alle an.
({0})
Ich halte es wirklich für unangemessen, das so zu beschreiben. Ich will nicht verhehlen, daß es für mich bitter ist und daß ich es gerne anders gehabt hätte. Ich habe
auch die Kürzung in meinem Haushalt, dem Haushalt
des BMG, selbstverständlich nicht gerne vorgenommen.
Aber wenn man eine Gesamtschau der Probleme vornimmt, dann muß man, glaube ich, sagen, daß die Belastung der Pflegeversicherung vertretbar ist. Sie wissen,
daß wir das bei der Krankenversicherung entgegen den
ursprünglichen Plänen gelöst haben. Ich kann das Sozialsystem an einem solchen Punkt nicht isoliert betrachten,
({1})
sondern muß es als ein Gesamtpaket sehen. Leider müssen wir eine Hypothek abtragen.
Ich will noch einmal ganz deutlich sagen: Ich finde,
es ist falsch, Worte wie „Wegschenken“ oder „Dieberei“
oder „Jemandem wird fälschlicherweise Geld genommen“ zu wählen. Wenn Sie es insgesamt betrachten,
können Sie sagen: Das ist unser aller Geld, das Geld aller Bürgerinnen und Bürger. Wir suchen im Moment
nach einer Balance, mit diesem Geld umzugehen.
({2})
Die beiden Hauptaufgaben, die ich sehe, habe ich
eben schon angesprochen. An der Absicherung des
Pflegerisikos sind verschiedene Leistungsträger beteiligt: die Pflegeversicherung selber, die Krankenversicherung und die Sozialhilfe. Ich glaube, daß es für einen
hohen Pflegestandard in der Zukunft wichtig ist, die Leistungspotentiale der verschiedenen Beteiligten voll auszuschöpfen. Das können wir erreichen, indem wir sie
besser aufeinander abstimmen, Reibungsverluste und
Bürokratie abbauen. Das halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben, denen wir uns stellen müssen.
Ein zweites Problemfeld der Pflegeversicherung, das
ich für noch vordringlicher halte, ist die Frage der Qualität von Pflegeeinrichtungen. Dazu haben uns in den
letzten Wochen und Monaten durchaus alarmierende
Berichte erreicht. Ich glaube, es herrscht große Einigkeit
darüber, daß man den Großteil der professionell Pflegenden gegen den Vorwurf schlechter Pflege
({3})
in Schutz nehmen muß. Wir sind um so mehr aufgerufen, diejenigen, die schlecht arbeiten, zu guter Arbeit zu
zwingen. Wir sind darüber im Gespräch mit den Leistungserbringern, mit den Verbänden; auch die Länder
sind einbezogen. Auch die Initiative, die aus Bayern und
Baden-Württemberg kommt, wird berücksichtigt werden. Ich glaube, daß wir schon im Laufe dieses Sommers oder Herbstes eine Vorlage haben werden, mit der
wir weiterkommen können.
Ich meine, die Frage der besseren Berücksichtigung
der Altersdementen und der psychisch Kranken muß
ganz oben auf unserer Agenda stehen; da bin ich mit
Ihnen selbstverständlich vollkommen einer Meinung.
Gleichwohl werden Sie mir zugestehen: Als jemand, der
die Teilabsicherung der Pflegeversicherung, den eingeschränkten Pflegebegriff geerbt hat, bin ich manchmal
doch ein bißchen überrascht, wie Sie nach dem Regierungswechsel die Pflegeversicherung und ihre grundlegenden Regeln kritisieren - so, als hätten Sie nie etwas
damit zu tun gehabt. However!
({4})
Ich habe über diese Fragen ausführlich mit dem Bundespflegeausschuß geredet, der mir - bei allen Differenzen im Detail - in der Problembeschreibung recht gegeben hat. Wir werden auch die Frage der Behandlung der
Dementen und der psychisch Kranken ebenso wie die
Abgrenzung der verschiedenen Systeme - Herr Fink
hatte ja vollkommen recht, als er darauf hinwies in enger Abstimmung mit dem Bundespflegeausschuß
angehen.
Aber gerade Sie, die Sie immer sagen, wir seien bei
dem, was wir machen, zu hurtig, sollten uns mit Ihrem
Entschließungsantrag nicht eine Deadline zum Ende des
Jahres setzen.
({5})
Wir werden es auch so hinbekommen; das ist jedenfalls
unsere ernsthafte Absicht. Sie brauchen bestimmt keine
Sorge zu haben, daß wir uns ohne eine solche Deadline
nicht um dieses Thema kümmerten.
({6})
Herr Fink, eine
Zwischenfrage kann ich leider nicht mehr zulassen.
Aber ich gebe Ihnen gerne das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Ministerin, da Sie Ihre
Rede schon beendet hatten, hatte ich nicht mehr Gelegenheit zu einer Frage. Deswegen wähle ich die Form
einer Kurzintervention, auf die Sie dann ja antworten
können.
Sie haben zu Recht gesagt, daß Sie ganz offenbar mit
Herrn Eichel oder Herrn Riester eine Vereinbarung getroffen haben, wonach die Beitragsausfälle, die durch
die Eichelschen Sparbeschlüsse auftreten, bei der Krankenversicherung aufgefangen werden sollen. So habe ich
es jedenfalls verstanden. Zumindest haben Sie gesagt,
daß Beitragsausfälle nicht stattfänden. Eine vergleichbare Vereinbarung für die Pflegeversicherung haben Sie
offenbar nicht angestrebt und auch nicht getroffen.
({0})
Dazu möchte ich Ihnen eine Passage aus dem Schreiben des Bundesversicherungsamtes vom 9. Juni vorlesen. Zunächst wurde ausgerechnet, was geschähe, wenn
die Pflegeversicherung mit jährlich zusätzlich 500 Millionen DM belastet würde. Die Beitragsausfälle auf
Grund der Eichelschen Sparbeschlüsse sind wahrscheinlich sogar höher. Herr Sartori vom Bundesversicherungsamt endet wie folgt: Die Zahlen des Mittel-Ists
zeigen, daß die Mehrbelastung mit 500 Millionen DM
jährlich die Mittel des Ausgleichsfonds in wenigen Jahren aufbraucht. Wie wollen Sie die Verbesserung für die Altersverwirrten durchsetzen, wenn bereits durch diese Maßnahmen das ganze Geld der Pflegeversicherung - es gehört
nun einmal den Pflegeversicherten - aufgebraucht wird?
Herr Kollege Fink, ich habe selbstverständlich darum
gekämpft, daß die Beitragsbemessungsgrundlage für die
Pflegeversicherung genausowenig abgesenkt wird wie
für die Arbeitslosenhilfe. Ich bekenne hier, daß ich diesen Kampf nicht erfolgreich bestanden habe. Insoweit
weise ich erst einmal Ihre Unterstellung zurück, ich
hätte mich nicht für die Pflegeversicherung eingesetzt.
Ich habe eben in meiner Rede schon zum Ausdruck
gebracht, daß ich nicht verhehle, daß das eine schwierige und für mich persönlich bittere Entscheidung ist.
Gleichwohl weise ich darauf hin, daß die Entwicklung
der Finanzen der Pflegeversicherung, wenn wir weiterhin an einem gesetzlich festgelegten Beitragssatz festhalten, wie wir ihn jetzt haben, natürlich auch davon beBundesministerin Andrea Fischer
einflußt wird, ob es uns gelingt, das mit dem großen
Haushaltskonsolidierungspaket und den anderen Maßnahmen angestrebte Ziel, eine Wiederbelebung der
Konjunktur und damit auch eine Verbesserung der Beschäftigungssituation, zu erreichen. Dies wird natürlich
auch Folgen für die Finanzen der Pflegeversicherung
haben. Vor diesem Hintergrund empfand ich es als vertretbar, daß diese Entscheidung so getroffen wurde, auch
wenn ich sie mir anders vorgestellt hätte. Aber davon,
daß bei den Bemühungen um Haushaltskonsolidierung
nicht jeder das bekommt, was er am liebsten möchte,
können Sie sicherlich auch aus eigener Erfahrung ein
Lied singen, auch wenn Sie es jetzt öffentlich nicht gern
tun wollen. Trotzdem macht es im Interesse des großen
Ganzen Sinn, sich an einem solchen Prozeß zu beteiligen, zumal es auch positive Rückwirkungen auf die Einzelteile haben wird. Vor diesem Hintergrund halte ich
das für vertretbar.
({0})
Jetzt erhält der
Abgeordnete Dr. Dieter Thomae das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu. Aber eines möchte ich hier schon
betonen: Wenn Sie in dem Bereich der Pflege um 500
Millionen DM kürzen, treffen Sie die Ärmsten. Das
empfinde ich als ausgesprochen unsozial; das muß man
sehr deutlich sagen.
({0})
Und ich bin schon erstaunt, daß Sie den Mut aufbringen,
den Bürgern zu sagen, daß bei Pflegefällen erheblich
gekürzt wird. Das werden Ihnen die Bürger eines Tages
vergelten. Sie sind seit wenigen Tagen eine unsoziale
Partei; denn Sie zeigen sehr deutlich, daß Sie gerade den
schwachen Bürgern soziale Leistungen entziehen. Das
ist das Brutale an Ihrer Politik.
({1})
In der Tat: Noch werden wir einige Leistungen in der
Pflegeversicherung finanzieren können. Herr Fink hat
aber sehr deutlich darauf hingewiesen - und auch Herr
Satori hat das noch einmal sehr deutlich gemacht; er war
in dieser Woche bei uns in Bonn -, daß, wenn das so
weitergeht, in fünf Jahren alle Reserven aufgebraucht
sind, zumal sich in der Pflegeversicherung neue Entwicklungen abzeichnen. Die ambulante Pflege nimmt
ab, der Trend geht in Richtung stationäre Pflege. Das ist
eine ganz wichtige Entwicklung, die berücksichtigt werden muß. Außerdem müssen wir - das sage ich sehr
deutlich - darüber nachdenken, den Demenzkranken zu
helfen. Daran kommen wir nicht vorbei.
Aber wir haben uns entschieden: Die Pflegeversicherung ist keine Vollversicherung. Diesen Eckpunkt wird
man nicht aufgeben können. Außerdem muß man wissen, daß wir die Pflegeversicherung nach diesen Jahren
auf ihre Struktur hin überprüfen, um herauszufinden,
inwieweit es die eine oder andere Einsparmöglichkeit
gibt. Ich weiß - und das wissen Sie fast alle -, daß es in
einigen Bereichen durchaus die Möglichkeit gibt, Einsparungen vorzunehmen, um diese Leistungen zu finanzieren.
({2})
- Es gibt beispielsweise Einsparmöglichkeiten bei der
Zurverfügungstellung von Hilfsmitteln, zum Beispiel bei
Betten oder Rollstühlen.
({3})
- Wenn man sich das in der Praxis näher anschaut, Herr
Kirschner, dann sieht man, daß das nicht der Fall ist. Ich
könnte mir andere Lösungsmöglichkeiten vorstellen, die
effektiver und preisgünstiger sind. Ich behaupte nicht,
daß ich die Ideallösung habe. Ich sage nur: Bei neuen
Leistungen bedarf es einer Überprüfung des jetzigen
Leistungspaketes. Keine Kürzungen, aber wo es sinnvoll
ist, sollten wir Einsparungen auf den Weg bringen.
Wir wollen die Veränderungen in diesem Gesetzeswerk. Wir wollen ebenfalls genau überprüfen, wie man
Demenzkranken und anderen Personengruppen helfen
kann. Das aber muß in Einklang stehen mit den Aussagen des Bundesversicherungsamtes und der jetzigen Regierungspolitik, die in diesem Bereich nennenswert gekürzt hat. Das wird kein einfacher Weg sein. Aber dieser
Personenkreis muß von uns unterstützt werden. Diesen
Weg wollen wir gehen.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst stelle ich mit großer Freude
fest, daß es möglich ist, in diesem Hause in Sachfragen
zu einheitlichen Lösungen zu kommen. Wir werden ja
alle dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Ich
hoffe, daß das nachher, wenn wir über das Teilhabesicherungsgesetz reden, auch der Fall sein wird; es handelt
sich um den gleichen Sachverhalt.
Zweitens stelle ich fest, daß hier die Gelegenheit
genutzt wird, darüber zu reden, was man in Zukunft
machen müßte. Dazu muß ich sagen: Im Gegensatz zu
Ihnen, Herr Kollege Pfaff -der CDU brauche ich das
erst gar nicht zu sagen -, halte ich die Pflegeversicherung in keiner Weise für ein erfolgreiches Werk; sie hat
nämlich eine Menge Schaden angerichtet.
({0})
Jede Menge Behinderteneinrichtungen werden zum Beispiel in Pflegeeinrichtungen umgewandelt. Dadurch fällt
jegliche pädagogische, soziale und kulturelle Betreuung
weg. Das halte ich für eine Katastrophe.
Weiterhin stellen wir fest, daß Sie - das finde ich
wichtig - einen Weg vorgezeichnet haben, der so etwas
wie ein Rückzug aus der Sackgasse ist. Das ist schon ein
gewisser Fortschritt. Wenn wir aus der Sackgasse heraus
sind, kommen wir an einen Kreuzweg. Und da müssen
Sie sich entscheiden. An diesem Scheideweg stehen
ganz viele Wegweiser von der „Lebenshilfe“, von der
BAGH, vom VdK, vom Reichsbund und vom ABiD. Ich
könnte noch mehrere Behinderten- und Wohlfahrtsorganisationen aufzählen. Alle Schilder weisen in eine
ordentliche Richtung. Ich hoffe, daß wir diese Richtung
auch gemeinsam einschlagen werden.
Es wird hier immer davon geredet, daß die Pflegeversicherung auch bei dementen Menschen greift. Jeder von Ihnen weiß, daß die Pflegeversicherung dafür
absolut ungeeignet ist; denn bei dementen, bei geistig
behinderten und bei psychisch kranken Menschen geht
es nicht darum, denen - mit Verlaub - den Hintern
abzuwischen.
({1})
- „Auch.“ - Es geht vor allem darum, daß jemand diesen Menschen im entscheidenden Moment sagt, wann
sie sich den Hintern wischen sollen. Diese Menschen
machen es nicht, wenn es Zeit ist, sondern nur dann,
wenn es ihnen gesagt wird. Entschuldigung, daß ich hier
in drastischen Worten gesagt habe, worum es in der
Pflege eigentlich geht.
Bevor wir über die Verbesserung der Bedingungen
für demente Menschen reden, müssen wir zuerst dafür
sorgen, daß diese Menschen in der Gesellschaft überhaupt akzeptiert werden. Wir müssen dafür sorgen, daß
es nichts Unanständiges ist, wenn ein Familienmitglied
Alzheimer oder andere demente Erscheinungen hat. Wir
können diesen Menschen vor allen Dingen dadurch
helfen, daß wir sie als Teil unserer Gesellschaft akzeptieren.
Wenn wir das vorliegende Gesetz, das nur einen geringen Fortschritt bedeutet, gleich verabschiedet haben
werden, freue ich mich auf die Debatten darüber, wie
Menschen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind, so geholfen werden kann, daß sie soweit wie möglich ein
selbstbestimmtes Leben führen können, soweit wie
möglich frei entscheiden können, wo sie leben wollen
- also nicht in Einrichtungen, sondern möglichst zu
Hause - und wie sie ihren Tag strukturieren wollen.
Darum geht es in Zukunft.
Ich bitte, daß wir den heutigen Konsens in wichtigen
Punkten beibehalten. Wenn wir das schaffen, können
wir uns über 500 Millionen DM oder noch größere
Summen gerne streiten. Ich hätte vor allen Dingen noch
ein paar inhaltliche Vorschläge einzubringen. Darüber
müssen wir nachher diskutieren.
Danke schön.
({2})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-
derung des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Das sind
die Drucksachen 14/580 und 14/1203. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses,
also einstimmig, angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/1217. Der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert hat eine per-
sönliche Erklärung zu seinem Abstimmungsverhalten
abgegeben.*) Sind Sie damit einverstanden? - Danke
schön. Dann nehmen wir sie mit Ihrer Zustimmung zu
Protokoll.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsan-
trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. sowie gegen drei
Stimmen der PDS bei Enthaltung der übrigen Stimmen
der PDS abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu
dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung des Elften
Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 14/1203. Der
Ausschuß für Gesundheit empfiehlt, den Gesetzentwurf
auf Drucksache 14/407 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS
gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Hildebrecht Braun ({0}), Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Feierliche Gelöbnisse der Bundeswehr in der
Öffentlichkeit
- Drucksache 14/284 ({1}) -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Adam, Paul Breuer, Georg Janovsky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Öffentliche feierliche Gelöbnisse der Bundes-
wehr
- Drucksache 14/641 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß
*) Anlage 4
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann-Kasten, Dr. Winfried Wolf, Fred Gebhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Keine feierlichen Gelöbnisse der Bundeswehr
in der Öffentlichkeit
- Drucksache 14/642 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die PDS sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Abgeordnete Braun das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Millionen junge Deutsche haben den Grundwehrdienst geleistet und sind damit dem Auftrag des Grundgesetzes
und des Deutschen Bundestages nachgekommen. Sie
haben unserem Land zwischen zehn und 18 Monaten
gedient und sind Soldat geworden. Sie mußten persönliche Interessen hintanstellen und Einkommensverluste in
beträchtlichem Umfang hinnehmen bzw. haben wichtige
Zeit in ihrer beruflichen Ausbildung verloren. Sie haben
unserem Land ein großes Opfer gebracht.
({0})
Wenn die jungen Menschen ihren Wehrdienst antreten, geloben sie nicht nur, unserem Staat einen Teil ihrer
Jugend zur Verfügung zu stellen. Sie geloben zugleich,
das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer
zu verteidigen. In anderen Worten: Sie geloben, ihr
Leben, wenn es denn sein muß, für unser Land einzusetzen. Das ist keine Kleinigkeit! Die deutsche Öffentlichkeit schuldet diesen jungen Männern Dank und
Anerkennung.
Es ist daher sehr naheliegend, daß diese Gelöbnisse
öffentlich stattfinden und daß Repräsentanten dieses
Staates und der zivilen Gesellschaft an diesen Feiern
teilnehmen. Oft kommen Familien von Soldaten mit, die
diese Gelöbnisse mit bangem Herzen, aber auch mit
Stolz verfolgen. Schließlich ist das Soldatwerden ein
wichtiger Einschnitt im Leben der Söhne, Brüder und
manchmal auch schon Väter. Kein Soldat und schon gar
kein Wehrpflichtiger muß sich in unserer Gesellschaft
verstecken oder für seine Bereitschaft, diesem Lande zu
dienen, entschuldigen. Wer Soldaten und die Gelöbnisse
in die Kasernen verbannen oder sie gar abschaffen will,
macht einen großen Fehler.
({1})
Es gibt viele Menschen, die die Notwendigkeit einer
Armee nicht verstanden haben, weil sie die Bedrohungspotentiale in unserer sich verändernden Welt nicht
zur Kenntnis nehmen wollen. Noch am 7. Juni 1995 erklärte die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen,
Angelika Beer:
Der 40. Jahrestag der Bundeswehr ist für uns die
Herausforderung für eine radikale Abrüstung und
Reduzierung der Bundeswehr. Erst dann, nach Abschaffung der Bundeswehr, haben wir einen wirklichen Grund zu feiern. Wir gratulieren allen
Kriegsdienstverweigerern.
({2})
({3})
Meine Damen und Herren, mittlerweile hören wir im
Verteidigungsausschuß gar seltsame Schalmeienklänge
von Frau Beer und von Herrn Nachtwei. Aber es gab ja
schon einmal einen großen Evangelisten, der sehr plötzlich vom Saulus zum Paulus wurde. Nur war es damals
die göttliche Eingebung, die die Veränderung zustande
gebracht hat, jetzt war es der Umzug von den Oppositionsbänken auf die Regierungsbank.
({4})
Der Einsatz der Bundeswehr im Oderbruch, in Bosnien, in Mazedonien oder jetzt im Kosovo muß auch dem
verbohrtesten Ideologen die Zweifel an der Lauterkeit
der Motive der Friedenspolitik unseres Staates und der
Haltung unserer Soldaten genommen haben. Wenn dennoch unheilbare Irrwische in der Politik von Militarisierung des öffentlichen Lebens sprechen und deshalb öffentliche Gelöbnisse angreifen, dann stößt diese Haltung
auf den erbitterten Widerstand all derer, denen unsere
Soldaten, die ausschließlich dem Frieden verpflichtet
sind und dem Frieden dienen, am Herzen liegen.
({5})
Für die Frage der öffentlichen Gelöbnisse scheint in
der Regierung Herr Minister Trittin zuständig zu sein.
({6})
Seine schrillen und unverantwortlichen Äußerungen haben nicht nur nachhaltige Zweifel an seiner Eignung
zum Bundesminister aufkommen lassen. Es gibt viele
Menschen im Land, die „Trittin“ für ein Umweltgift
halten. Sie haben gar nicht so unrecht, denn was Trittin
mit seinen unsäglichen Äußerungen zu öffentlichen
Gelöbnissen, speziell in Berlin, gesagt hat, war geistige
Umweltvergiftung in einer Art, die für ein Mitglied der
Bundesregierung schlechterdings unerträglich ist.
({7})
Sicherlich ist es Sache des Kanzlers, zu entscheiden, ob
er in seinem Team derartige Leute haben will, die erhebliche Zweifel an ihrer Haltung zum Grundgesetz
aufkommen lassen.
Der Deutsche Bundestag wird aber heute mit großer
Mehrheit - das läßt sich schon jetzt sagen - klarstellen,
daß er hinter den wehrpflichtigen Soldaten und hinter
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
der Bundeswehr insgesamt steht, da die Bundeswehr unser aller Vertrauen hat und wir der Bundeswehr und denen, die in ihr dienen, die Gewißheit geben wollen und
müssen, daß die Entgleisungen eines Herrn Trittin für
dieses Parlament nicht repräsentativ sind.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion der
SPD spricht jetzt der Kollege Johannes Kahrs.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herrn! Die F.D.P. beantragt,
daß wir hier und heute den Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping, unterstützen. Das ist eine gute
Sache. Das tun wir als Sozialdemokraten natürlich immer gerne.
({0})
Aber ich frage Sie: Braucht man dafür einen Antrag der
F.D.P.?
({1})
- Natürlich nicht! Aber es geht der F.D.P. ja auch gar
nicht darum, unserem Vereitigungsminister den Rücken
zu stärken. Es geht ihr und der CDU noch nicht einmal
darum, der Bundeswehr ein Zeichen der Unterstützung
zu geben. Worum es der Opposition hier geht, sind parteipolitische Tricks, sonst nichts.
({2})
Wir Sozialdemokraten haben in den vergangenen Jahren immer wieder festgestellt, daß die Bundeswehr ein
Parlamentsheer ist. Sie gehört weder der Regierung
noch einer Partei, sondern ist Teil unserer ganzen Gesellschaft.
({3})
Die Bundeswehr beruht auf der allgemeinen Wehrpflicht. In einem feierlichen Gelöbnis bekennt der wehrpflichtige Soldat seine Treue zur Bundesrepublik
Deutschland. Öffentliche Gelöbnisse sind der sichtbare
Ausdruck dafür, daß die Bundeswehr in der Mitte unserer Gesellschaft steht.
({4})
Als ich 1984 mit meinen Kameraden vom Panzergrenadierbataillon 322 in Schwanewede gelobte, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht
und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, war dies für mich ein wichtiger Moment. Inzwischen bin ich Hauptmann der Reserve und habe viele
Gelöbnisse miterlebt und mit vielen Wehrpflichtigen
darüber gesprochen. Eines kann ich Ihnen sagen: Die
Kameraden wissen genau, was sie da tun, und sie wissen
auch, wofür sie es tun.
({5})
Sie stehen persönlich dafür ein, diese Gesellschaft und
ihre Werte zu schützen und gegebenenfalls zu verteidigen. Deswegen sind öffentliche Gelöbnisse im Prinzip an fast jedem Ort und zu fast jedem Zeitpunkt möglich.
Wie oft allerdings ein feierliches Gelöbnis in der Öffentlichkeit abgehalten werden soll, ist - jetzt kommen
Sie - eine Frage des Einzelfalls.
({6})
Nach der einschlägigen Dienstvorschrift - die ist hoffentlich auch Ihnen nicht unbekannt - ist das Gelöbnis
in der Kaserne die Regel und das öffentliche Gelöbnis die Ausnahme. Die war auch gültig, als Sie regierten. Das soll auch so bleiben. Auch an welchem Ort
und zu welchem Zeitpunkt ein feierliches öffentliches
Gelöbnis stattfinden soll, ist eine Frage - jetzt hören Sie
gut zu, Herr Breuer - des politischen Gespürs und Taktgefühls, auch und gerade gegenüber den Wehrpflichtigen.
({7})
Wir jedenfalls mißbrauchen unsere Bundeswehr
nicht. Wir provozieren nicht bewußt Streit und Unruhe
durch eine absichtlich kontroverse Auswahl von Ort und
Zeit der Gelöbnisse und schlachten dies für die Innenpolitik aus. Wir lassen die jungen Soldatinnen und Soldaten nicht auspfeifen, nur damit wir einen Grund haben, den politischen Gegner anzuschwärzen.
({8})
Diesen Standpunkt - ja zu öffentlichen Gelöbnissen,
aber mit Vernunft und Sachlichkeit - haben wir Sozialdemokraten in den letzten Jahren in diesem Hohen Hause schon des öfteren vertreten. Wir haben das bei den
Debatten im Juni 1996, im Januar 1998 und erneut bei
der Fragestunde im Januar 1999 getan.
({9})
- Entschuldigung, Herr Kollege.
Dieser Standpunkt ist richtiger als je zuvor. Die gemeinsamen öffentlichen Gelöbnisse der deutschen Bundeswehr mit jungen Soldatinnen und Soldaten aus
Frankreich, Polen und der Tschechischen Republik, um
nur einige zu nennen, sind ein sinnstiftendes und schönes Zeichen für die neue Art des Miteinanders in Europa.
({10})
Kurzum: Wir Sozialdemokraten haben keinen Grund,
unseren richtigen und hier beständig vorgetragenen
Hildebrecht Braun ({11})
Standpunkt zu ändern. Das wissen Sie genau, meine
Damen und Herren von der Opposition.
({12})
Warum zetteln Sie dann diese überflüssige Debatte an?
({13})
Diese Debatte, die schon zweimal verschoben wurde,
weil sie während der Kampfhandlungen im Kosovo jetzt möge die F.D.P. zuhören - kleinkariert gewirkt
hätte, ist heute, wo unsere Soldaten im härtesten und gefährlichsten Einsatz ihrer Geschichte stehen, nicht weniger kleinkariert.
({14})
Sie tun dies weder für die Bundeswehr, meine Damen
und Herren von der Opposition, noch für Rudolf Scharping, noch für eine ernsthafte Sachdebatte. Ein Kollege
der CSU hat kürzlich klar und deutlich ausgesprochen,
worum es Ihnen hier geht. Er hat die Ansicht vertreten,
daß diese Debatte geführt werden muß, weil da endlich
klar werden würde, wie es die verschiedenen politischen
Lager mit der Bundeswehr halten.
Das ist Ihr Ziel: Sie wollen uns vorführen, weil wir
Ihre abstrakten Treueschwüre nicht unterschreiben werden. Um diese Art von Gelöbnissen, Herr Breuer, geht
es Ihnen.
({15})
In den gleichen Sack gehört auch das durchsichtige
Stück der CDU zum Thema Verunglimpfung der Bundeswehr. Außerdem wollen Sie ablenken, ablenken von
Ihren eigenen Versäumnisse der letzten Jahre.
({16})
Die Regierung von Union und F.D.P. und ihr letzter
Verteidigungsminister haben die Bundeswehr in ein finanzielles und organisatorisches Desaster geführt,
({17})
wobei das Wort Führung da noch geschmeichelt ist.
({18})
Sie hat die Investitionen gekürzt - das wissen Sie
auch, Herr Breuer - und die Ausrüstung so auf den
Hund gebracht, daß hochwertiges Gerät heute ausgeschlachtet wird. Sie hat eine Atmosphäre des Jasagertums gefördert, statt militärische Vordenker zu ermutigen.
({19})
Seien Sie einmal glücklich - und hören Sie sowieso
einmal zu -, daß wir wegen der Lage im Kosovo aus
Taktgefühl zur Zeit diese Bilanz von Volker Rühe nicht
stärker thematisieren. Dazu haben wir im Wahlkampf in
Schleswig-Holstein Zeit genug.
({20})
Herr Kollege Kahrs,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, würden Sie mir bitte erläutern, welcher Satz in dem
Antrag, den wir gestellt haben, Ihr Mißfallen erregt, so
daß Sie überhaupt darüber nachdenken können, den Antrag eventuell insgesamt abzulehnen, wie Sie das im
Moment signalisieren?
Herr Kollege, in Ihrem
Antrag hat mir überhaupt kein Satz mißfallen.
({0})
- Lassen Sie mich doch ausreden.
Sie loben in diesem Antrag die SPD, den Bundesverteidigungsminister, diese Regierung, und das ist gut so.
Das können wir alle nur unterstützen.
({1})
Es ist aber relativ selten, daß die Opposition sich hier
hinstellt und die Regierung lobt,
({2})
und dann fragt man sich natürlich, was dahintersteckt.
({3})
Wenn man genauer guckt, dann stellt man fest, daß Sie
hier Debatten über öffentliche Gelöbnisse und ähnliche
Punkte führen wollen,
({4})
aber die wesentlichen Punkte, um die es hier geht, verschleiern, nämlich den katastrophalen Zustand der Bundeswehr, den Sie zu verantworten haben.
({5})
Und jetzt, da Verteidigungsminister Scharping die
Arbeit macht und neben seinen anderen Pflichten, die
weiß Gott groß genug sind, auch noch die von Ihnen
hinterlassenen Zustände aufräumen muß, kommen Sie
daher und bauen hier Pappkameraden wie diese Gelöbnisanträge oder die sogenannte Ehrenschutzkampagne
auf. - Ablenken wollen Sie, meine Damen und Herren,
einfach nur ablenken!
({6})
Die gleiche Art, den politischen Gegner auf Kosten
der Truppe vorführen zu wollen, haben Sie schon betrieben, als Sie noch die Mehrheit in diesem Hause hatten.
Bei uns Sozialdemokraten zieht der von Ihnen gewünschte Showeffekt sowieso nicht mehr, weil inzwischen jeder sieht, daß Rudolf Scharping die Arbeit besser macht, als Sie das je gemacht haben.
({7})
Gleichzeitig wollen Sie mit diesen Anträgen einen
Keil zwischen SPD und Grüne treiben. Das wird Ihnen
nicht gelingen. Die Kollegen von den Grünen haben
nach ernsthaften Debatten,
({8})
denen Respekt gebührt, Herr Breuer, Verantwortung
übernommen.
Ob die kindischen Spielchen der Union und der
F.D.P. ebenfalls die Worte „ernsthaft“ und „verantwortungsvoll“ verdienen, das beantworten Sie mal besser
selbst.
({9})
Wissen Sie, wir Sozialdemokraten sind das von Ihnen
schon gewohnt, uns langweilt das ja auch schon. Die
Grünen werden das auch überleben.
Nur daß die PDS auf Ihr durchsichtiges Manöver hereinfällt und sich mit ihrem üblichen Tamtam vom preußischen Militarismus produziert, das ist peinlich. Ihr
Vokabular war schon lange vor Eduard von Schnitzler
das gleiche. Bei Ihrer Art von Pazifismus kommt einem
das kalte Grausen.
({10})
Sie plakatieren in Hamburg mit verschämten Einschüben „Soldaten sind Mörder“ und meinen damit die
Soldaten der Bundeswehr. Aber als in den letzten Monaten Vertreibungen und Massenmorde stattgefunden
haben, wie die grauenvollen Funde dieser Tage bestätigen, da waren Sie stolz darauf, als erste im serbischen
Staatsfernsehen aufzutauchen und Herrn Milosevic die
Hand zu schütteln.
({11})
Sie haben in den letzten Monaten also deutlich gezeigt,
was wir von Ihnen zu halten haben. Soweit also nichts
Neues.
Aber daß Sie, meine Damen und Herren von der
F.D.P. und der CDU/CSU, sich nicht schämen, ausgerechnet jetzt, da die Bundeswehr im Einsatz steht, schon
wieder mit aufgesetztem Pathos Ihre parteipolitischen
Spielchen auf dem Rücken der Soldaten auszutragen,
das ist wirklich neu. Lassen Sie das doch bitte bleiben,
zum Wohle der Bundeswehr, dieses Hauses und zum
Wohle unseres Landes.
Vielen Dank.
({12})
Herr Kollege Kahrs,
dies war Ihre erste Rede hier im Deutschen Bundestag.
Ich beglückwünsche Sie ganz herzlich im Namen des
ganzen Hauses.
({0})
Es ist besonders hervorzuheben, daß Sie sowohl eine
Frage zugelassen als auch die Zeit mehr als eingehalten
haben. Das kommt, wie wir alle wissen, in diesem Hause selten vor.
({1})
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Werner Siemann.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Kahrs, ich kann Ihr Erstaunen nicht so ganz verstehen,
weshalb die Opposition die Regierung so selten lobt. Es
gibt auch keinen Grund, die Regierung zu loben,
({0})
bei dem Unsinn, bei dem Murks, der in den letzten Wochen und Monaten gemacht worden ist.
({1})
Ich finde es auch sehr bedauerlich, Herr Kahrs, daß
Sie die Debatte mit Begriffen wie „parteipolitische
Tricks“ führen. Ich denke, das ist der Sache nicht angemessen. Hier geht es um unsere Soldaten und um nichts
anderes. Man muß die Unterstellung zurückweisen, daß
in diesem Punkt parteipolitische Tricks angewendet
worden seien.
({2})
Herr Kahrs, ich habe Ihre Worte sehr wohl gehört,
aber in Frankfurt/Oder ist das feierliche Gelöbnis nicht
daran gescheitert, daß die hiesigen Oppositionsparteien das feierliche Gelöbnis nicht wollten, sondern daran, daß die SPD-Fraktion gemeinsam mit der PDS dagegen war.
Herr Kahrs, wir würden natürlich auch gerne an Ihrem Wohnsitz - ich glaube, Sie kommen aus Hamburg einmal ein öffentliches Gelöbnis durchführen. Vielleicht
schaffen Sie es, dort ein feierliches Gelöbnis stattJohannes Kahrs
finden zu lassen, wenn Sie ein paar Dienstgrade höher
sind.
({3})
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, wir leben in
einer Welt, die noch weit von Kants apostrophiertem
„ewigen Frieden“ entfernt ist. Dies hat uns der KosovoKrieg erneut deutlich vor Augen geführt.
Seit mehr als drei Monaten befinden sich deutsche
Soldaten im Kosovo-Einsatz. Dort setzen sie sich für
Gerechtigkeit, Frieden und die Einhaltung der Menschenrechte ein. Wenn es nach dem Willen eines Teils
der Grünen und der PDS geht, sollen sie in Deutschland
allerdings hinter Kasernentore verbannt werden.
({4})
Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen wertvollen Beitrag bei dem Wiederaufbau des ihnen zugewiesenen Sektors und genießen nicht nur bei unseren
Partnern, sondern auch bei der leidgeprüften Bevölkerung des Kosovos hohes Ansehen. Die übertragenen
Fernsehbilder von der freudigen und dankbaren Aufnahme unserer Soldaten in Prizren haben sicherlich nicht
nur mich tief bewegt. Die NATO-Soldaten wurden als
Befreier gefeiert, und wer in die Gesichter der Befreiten
schaute, wußte, daß der NATO-Einsatz richtig war.
({5})
Während wir zu Recht stolz auf die Leistungen unserer Soldaten im Einsatzgebiet sein dürfen, wollen PDS
und Teile der Grünen ihnen zu Hause das Recht absprechen, in der Öffentlichkeit zu bekennen, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und
die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Es ist geradezu paradox, wenn sich deutsche Soldaten
in der Kosovo-Region für die Erhaltung der Freiheit der
dorthin nun zurückkehrenden Bevölkerung einsetzen,
ihnen aber im eigenen Land die Freiheit genommen
werden soll, öffentlich zu geloben und zu schwören, genau diese Freiheit zu schützen.
({6})
Wie können wir von unseren Soldaten einerseits verlangen, ihr Leben für die Freiheit anderer einzusetzen,
ihnen andererseits aber das Recht nehmen, diese Freiheit
in Form von feierlichen Gelöbnissen in der Öffentlichkeit zu demonstrieren?
Für die Unionsfraktionen sind und bleiben öffentliche
Gelöbnisse eine Selbstverständlichkeit. Es hätte fatale
Auswirkungen, gerade die Soldatinnen und Soldaten der
Unterstützung der gesamten Öffentlichkeit zu berauben,
die persönlich Verantwortung für Frieden, Freiheit und
Gerechtigkeit übernehmen. Wir verlangen von ihnen
Mut, Hilfsbereitschaft und in letzter Konsequenz den
Einsatz ihres Lebens. Im Gegenzug sind wir verpflichtet,
ihnen den nötigen Rückhalt zu geben. Mit der Teilnahme an den öffentlichen Gelöbnissen zollen wir den Soldatinnen und Soldaten den Respekt, den sie als Staatsbürger in Uniform verdienen und genießen sollten.
Durch die Teilnahme an den öffentlichen Gelöbnisfeiern dokumentieren zudem die Angehörigen ihre Verbundenheit mit den Grundwehrdienstleistenden. Die
Wehrpflicht stellt daher auch in Zukunft einen Garant
für die Einbindung der Streitkräfte in unsere Gesellschaft dar.
({7})
Was die Haltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
angeht, so bestehen keine Zweifel darüber, daß wir die
Bundeswehr so oft wie möglich und bei den verschiedensten Anlässen und Gelegenheiten in der Öffentlichkeit sehen wollen. So eindeutig und unmißverständlich
steht es auch in unserem Antrag. Die Bundeswehr gehört
in unsere Mitte.
({8})
- Frau Fuchs, daß Sie zu den größten Zwischenrufern
gehören, wundert mich sehr.
Auch in der Bevölkerung besteht der Wunsch nach
feierlichen Gelöbnissen in der Öffentlichkeit. Ich bin gespannt, ob wir uns heute auf eine gemeinsame Linie verständigen können oder ob der Spuk der vermeintlichen
Militarisierung der Gesellschaft immer noch durch ein
paar Köpfe geistert. Wir sind nicht bereit, einer schleichenden Abschaffung der Bundeswehr das Wort zu reden.
({9})
Wenn ich mir den Antrag der PDS und seine Zielsetzung vor Augen führe und auch die Aussagen bestimmter Politiker der Grünen in den vergangenen Monaten
und Jahren bewerte, so steckt System dahinter, wenn Sie
es zulassen und befürworten, daß Soldaten „Mörder“
genannt werden dürfen.
({10})
- Warum sind Sie eigentlich so aufgeregt? Ich verstehe
das überhaupt nicht.
({11})
Wer lieber heute als morgen die Anzahl der Soldaten
auf die Hälfte reduzieren möchte, wer die Wehrpflicht,
obwohl eines der erfolgreichsten Modelle, welches unser
Staat hervorgebracht hat, ständig in Zweifel zieht,
({12})
wer die Bedeutung feierlicher Gelöbnisse in der Öffentlichkeit mit höchst fragwürdigen und vordergründigen
Argumenten abqualifiziert,
({13})
wer generell die Soldaten in die Kasernen und aus dem
Straßenbild und damit aus der Gesellschaft verbannen
will, kann kein Freund der Bundeswehr und letztlich
auch kein Freund unserer freiheitlich-demokratischen
Grundordnung sein.
({14})
Das feierliche Gelöbnis in der Öffentlichkeit, ob einmal im Jahr oder zehnmal am Tag, bedeutet keineswegs,
daß die zivile Gesellschaft an die Mittel des Militärischen gewöhnt werden soll. Diese völlig haltlosen Vorwürfe hat - Herr Braun ist schon darauf eingegangen der heutige Bundesumweltminister Trittin Mitte des
vergangenen Jahres erhoben.
({15})
Hinter der Forderung nach dem Verzicht auf öffentliche Gelöbnisfeiern verbirgt sich in Wahrheit eine gefährliche Politik von Teilen der Grünen und der PDS.
Sie wollen der Bundeswehr die Symbole nehmen. Das
öffentliche Gelöbnis ist ein solches Symbol.
({16})
Die Gelöbnisfeiern sind integraler Bestandteil der Kultur
des demokratischen Deutschlands. Sie sind deshalb keinesfalls ein militärisches Relikt. Sie stellen eine bleibende Verpflichtung in Gegenwart und Zukunft dar.
({17})
- Herr Nachtwei, warum regen Sie sich so auf? Sie haben doch vielleicht die Möglichkeit, nachher noch zu reden.
({18})
Gerade vor dem Hintergrund, daß die Bundeswehr
zur Zeit ihren gefährlichsten Einsatz in ihrer Geschichte
meistert, ist es wichtig, daß ihr Rückhalt in der Bevölkerung zuteil wird. Dieser Rückhalt drückt sich eben auch
in öffentlichen Gelöbnissen aus. Der Verzicht hierauf
wäre gleichbedeutend mit dem Versuch, die Bundeswehr ins politische Abseits respektive ins politische
Niemandsland zu stellen.
Für die CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause bekräftige ich, daß die gute Tradition dieser Treuebekenntnisse
unserer Soldaten gegenüber der Bundesrepublik weiter
gepflegt und auch weiter ausgebaut werden soll. Wenn
Herr Verteidigungsminister Scharping hier wäre, hätte
ich an ihn appelliert: Lassen Sie unsere Bundeswehr
auch weiterhin Teil der Öffentlichkeit sein. Auf die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion könnte er sich dann
verlassen.
Vielen Dank.
({19})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Angelika Beer.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt
hier eine ganz neue Form der großen Koalition in Sachen
politischer Instrumentalisierung der Bundeswehr: Auf der
einen Seite liegen die Anträge der F.D.P. und der CDU/
CSU vor, auf der anderen Seite der Antrag der PDS.
Selbstverständlich versuchen alle drei Parteien, wenn auch
mit widersprüchlichen Inhalten, das Thema, wie so oft im
letzten Jahr, erneut zu instrumentalisieren. Hierbei zeigen
sie Phantasielosigkeit und machen deutlich, daß sie immer
noch nicht in der Lage sind, eigene Vorstellungen zu entwickeln, obwohl sie jetzt doch in der Opposition sind
({0})
und eigentlich etwas offener diskutieren könnten als in
den letzten Jahren.
({1})
Ich will mich daran aber nicht zu lange festhalten.
Die neue Regierung versucht in vielen Bereichen, die
Bundeswehr weiterzuentwickeln. Der Minister hat erfreulicherweise einen neuen Stil der Diskussion in der
Bundeswehr eröffnet, von dem ich aus vielen Gesprächen auch mit Soldaten weiß, daß er positiv aufgegriffen
wird. Wir als Grüne werden, soweit es möglich ist, dazu
aktiv beitragen, ob Ihnen das paßt oder nicht.
Das Gelöbnis, das am 20. Juli in Berlin im Bendlerblock stattfinden wird, ist Ausdruck eines neuen Traditionsverständnisses. Ich weiß, daß das für Sie ein
Fremdwort ist, aber ich möchte das hier unterstreichen.
Wir begrüßen dieses Gelöbnis, weil damit einmal mehr
deutlich wird, daß die neue Regierung sich von der Traditionstümelei, die Sie in der liberal-konservativen Regierung betrieben haben, absetzt und an den Widerstand
gegen Hitler anknüpft.
({2})
Das ist eine Tradition, die wichtig ist und die auch von
der Armee und von der Gesellschaft getragen wird.
({3})
Frau Kollegin Beer,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
Nein, danke.
({0})
Das zeigt ein neues Verständnis des Umgangs der
Bundeswehr mit Tradition. Der vorherige Verteidigungsminister hat durch seine Definition des Bürgers in Uniform zur praktischen Tabuzone - das ist nämlich das, was
Volker Rühe betrieben hat - ein Traditionsverständnis
zementiert, das sich an vermeintlichen soldatischen
Tugenden festgemacht hat. Ich will das hier unterstreichen, weil das auch das Thema des Untersuchungsausschusses Rechtsextremismus in der Bundeswehr war und
das dort zutage getretene Verständnis Ihrer Partei, Herr
Breuer, gezeigt hat, daß Sie auf dem falschen Weg waren.
Der vorherige Verteidigungsminister hat damit verhindert - und das ist schlimm, schlimm in den Auswirkungen -, daß die Soldaten sich reflexiv mit der besonderen Verantwortung der Bundeswehr für die demokratischen und liberalen Traditionen Deutschlands auseinandersetzen konnten.
({1})
Die preußischen Reformen wurden von Ihnen vielleicht in Sonntagsreden erwähnt, in der Praxis aber wurde nicht der mitdenkende Gehorsam des Soldaten gefördert, sondern Duckmäusertum und Sekundärtugenden
gefordert.
({2})
Damit ist Schluß. Das ist der Stil der neuen Bundesregierung. Ich muß sagen: Es freut mich, daß ausgerechnet
die F.D.P. diesen neuen Weg mit ihrem ansonsten überflüssigen Antrag aktiv unterstützt.
({3})
Herr Siemann, die Basis für Gelöbnisse in dieser
Zentralen Dienstvorschrift 10/80
({4})
- 10/8, ja ({5})
- ich rate Ihnen: werfen Sie doch einmal einen Blick
hinein - ist Grundlage seit dem Jahr 1983. Ich will folgenden Satz hier noch einmal zitieren, denn er ist ja offensichtlich nicht bekannt:
Vereidigungen und feierliche Gelöbnisse sind im
Regelfall innerhalb militärischer Anlagen durchzuführen.
Diesen Satz hat Ihre Partei, als Sie die Regierung angeführt haben, ad absurdum geführt.
({6})
Sie haben im gröbsten Stil mit der Bundeswehr Wahlkampf gemacht, sie auf öffentliche Plätze gezwungen
und eine gesellschaftliche Kontroverse erzwungen, die
Sie für den Wahlkampf instrumentalisiert haben. Ich bin
froh, daß das nicht gelungen ist.
({7})
Wir wollen diese Zentrale Dienstvorschrift nach ihrem Wort und ihrem Sinn durchführen. Wir glauben,
daß es richtig ist, feierliche Gelöbnisse in Kasernen abzuhalten. Wir glauben, daß es richtig ist, Kasernen für
die Gesellschaft weiter zu öffnen, und wollen damit
auch symbolisieren, daß die Bundeswehr für die Gesellschaft transparent sein muß. Das erzwingen Sie nicht
durch Bestrafung oder durch öffentliche Gelöbnisse auf
Plätzen, die umstritten sind, sondern indem diese Bundeswehr ihre Tore öffnet.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich will ganz klar
betonen, daß das, was die alte Regierung gemacht hat,
unserem Demokratieverständnis klar widersprochen hat,
weil eine Zentralisierung der Zuständigkeit für Gelöbnisse, wie Minister Rühe sie durchgeführt hat, indem er
die Entscheidung der Kommandeure an sich gezogen
hat, nicht ein bewußter Akt der Demokratie war, sondern eben dieser Instrumentalisierung, die wir immer das unterstreiche ich heute nach wie vor - zurückgewiesen haben.
Gleichzeitig - und dafür hat er dann auch die Verantwortung in der Vergangenheit zu übernehmen ({8})
muß die Bundeswehr als Armee in der Demokratie,
wenn sie instrumentalisiert wird, natürlich auch damit
rechnen, daß Bürgerinnen und Bürger sich im öffentlichen Raum gegen eine solche Instrumentalisierung aussprechen. Und was ich faszinierend finde: Die Soldaten
haben mit einem demokratischeren Umgang, mit einem
demokratischeren Selbstverständnis die Tatsache, daß
eine solche Instrumentalisierung kritisiert wird, beantwortet, als Sie von der Union offensichtlich auch heute
in der Lage sind. Das ist ein Trauerspiel.
({9})
Zurück zu dem Bild des Soldaten der inneren Führung - dieses Bild wollen wir unterstreichen -, dem Bild
vom Staatsbürger in Uniform, das auf die Eigenverantwortung des Soldaten und auf seine Verpflichtung auf
die Achtung der demokratischen Grundwerte und
Pflichten abzielt, die übrigens im Grundgesetz allen
Bürgern zugesichert sind, also auch den Soldaten: Dies
festzuschreiben und umzusetzen, dem Soldaten zu signalisieren, daß er die gleichen Rechte hat wie jeder andere Bürger, was ihn zum Staatsbürger in Uniform
macht, das ist von Ihrer Regierung einem Teil der Soldaten weitestgehend verweigert worden.
({10})
In die gleiche Kerbe schlägt Ihr Antrag zum Ehrenschutz von Soldaten - wir haben das neulich erst
debattiert; wir werden das in Kürze wieder tun -, der
interessanterweise auch in der Bundeswehr umstritten
ist.
({11})
Das demokratische Selbstbewußtsein der Bundeswehr
ist groß genug, um Kritik - auch wenn sie manchmal
unberechtigt ist - aushalten und sich mit ihr auseinanAngelika Beer
dersetzen zu können, um darüber zu diskutieren und
Antworten zu geben.
({12})
- Ich finde es beruhigend, Herr Breuer, daß Soldaten
diese Diskussion häufig gelassener betrachten als die
Kollegen und Kolleginnen Ihrer Fraktion.
({13})
Weder das Strafrecht noch Rechthaberei tragen zur
Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft bei.
({14})
Wir können auf der Basis von Diskussion, Transparenz
und Umgang mit den Widersprüchen von Demokratie
und Militär andere Wege der Integration gehen, die mit
dem Bild vom Staatsbürger in Uniform praktizierbar
geworden sind. Wenn wir dies tun, dann können Sie Ihre
Anträge als Altpapier ad acta legen. Denn dann zeigen
wir den Soldaten, daß wir uns mit den Problemen der
heutigen Bundeswehr, die Sie - es wurde schon angesprochen - mitverursacht haben, aktiv und im Dialog
auseinandersetzen und sie bekämpfen.
({15})
Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Heidi Lippmann.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Kahrs, auch ich
gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede. Aber ich hätte mir
gewünscht, sie wäre etwas weniger polemisch ausgefallen und Sie hätten bei der Recherche zu Ihrer Rede bemerkt, daß wir, die PDS-Fraktion, einen originalen SPDAntrag eingebracht haben,
({0})
der von Ihrer Fraktion 1996 hier in diesem Parlament als
Kritik gegenüber der damaligen Regierung eingebracht
wurde.
({1})
Das kommt davon, wenn man seine Hausaufgaben nicht
macht. Dann geht einem das durch, und man kennt die
eigenen Anträge nach dem Machtantritt nicht mehr.
({2})
- Das kann man natürlich auch so sehen.
Frau Kollegin Beer, bei Ihnen haben wir in dem
Dreivierteljahr seit dem Machtantritt von Rotgrün schon
einiges erlebt. Aber daß Sie sich hier heute hinstellen
und ein öffentliches Gelöbnis begrüßen, das ist, so finde
ich, ein starkes Stück.
({3})
Ich möchte ganz einfach daran erinnern, was Sie noch
vor einem Jahr gesagt haben: „Gelöbnisse in der Öffentlichkeit sind Bestandteil der Relegitimierung des Militärs und der Militarisierung der Gesellschaft. Gelöbnisse
gehören in die Kasernen, nicht auf öffentliche Plätze.“
({4})
Aber - das habe ich Ihnen schon gestern im Ausschuß
gesagt -, der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Dies haben wir in den vergangenen
Monaten immer wieder ganz intensiv erlebt.
({5})
Kommen wir zurück zu dem Grundauftrag, den die
reformorientierten Gründerväter der Bundeswehr damals
im Kopf hatten, als sie davon sprachen, Soldaten seien
Staatsbürger in Uniform. Sie hatten diesen Begriff als
Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem preußischen
Militarismus und der Hitler-Wehrmacht entwickelt. Dieses Konzept - das auch heute noch gültig ist - beinhaltete seinerzeit nicht nur, daß Regeln des zivilen Lebens
soweit wie möglich in den Streitkräften realisiert werden.
({6})
Vielmehr beinhaltet es auch, daß die Streitkräfte der
parlamentarischen und öffentlichen Kontrolle unterworfen sind.
({7})
Mit diesem Konzept sollte unter allen Umständen vermieden werden, daß sich wieder ein Staat im Staate herausbildet.
Die Soldaten sollten gesellschaftlich integriert werden. Für eine solche Integration tritt auch die PDS ein,
({8})
so lange die Bundesrepublik noch Streitkräfte unterhält.
Wir interpretieren diese Integration als Beitrag zu einer
möglichen Zivilisierung des Militärs. Was wir allerdings
ablehnen, ist der umgekehrte Prozeß, nämlich die Militarisierung des öffentlichen Raums. Und der Verdacht
liegt nahe, daß die Anträge von CDU/CSU und F.D.P.
darauf abzielen.
Wir sind nicht dafür, Soldaten zu stigmatisieren. Wir
wollen aber auch keine Heroisierungen, mit denen der
Verstand ausgeschaltet wird. Spektakulär inszenierte öffentliche Gelöbnisse und Zapfenstreiche sind eine MiAngelika Beer
schung aus militärischem Imponiergehabe und weihevoller Andacht,
({9})
die nicht frei von martialischen und grotesken Zügen ist.
Die Verklärung und auch die quasireligiöse Überhöhung, die derartige Inszenierungen zur Folge haben
können, sind überaus gefährlich; denn sie erinnern an
vergangene Zeiten, die mit der Neugründung der Bundeswehr gerade überwunden werden sollten.
({10})
Aus diesem Grund fanden die Gelöbnisse über lange
Zeit nur in den Kasernen und nur im engsten Kreis der
Soldaten und ihrer Familienangehörigen statt.
({11})
Die Intention von CDU und F.D.P., dieses Spektakel
verstärkt öffentlich zu inszenieren, ist nicht neu, auch
nicht die dazugehörige Debatte. Neu aber sind, wie gesagt, einige Entwicklungen, die wir in den vergangenen
Monaten erlebt haben.
({12})
- Nein, Herr Breuer, das ist meine eigene Rede. Das
werden Sie auch gleich merken; denn ich komme gleich
zu aktuellen Dingen, die von Frau Beer damals noch
nicht angesprochen werden konnten.
Kommen wir zum Beispiel einmal zu dem Sprachgebrauch, der sich in den vergangenen Monaten entwickelt hat. Wir erleben eine Militarisierung der Gesellschaft, die weiter zunimmt; das merken wir auch am
Sprachgebrauch. Wenn ich zum Beispiel sagen würde,
die Bundeswehr habe in den vergangenen Wochen einen
Angriffskrieg geführt, dann würden Sie mir vehement
widersprechen; denn es war in Ihrem Sprachgebrauch
kein Angriffskrieg, sondern allenfalls ein „Kriseneinsatz“. Bombardierungen werden heute nicht mehr als
Bombardierungen bezeichnet; es wird vielmehr von
„humanitären Lufteinsätzen“ gesprochen. Das ist die
ganz große Gefahr, vor der ich Sie warnen möchte: die
Normalisierung des Abnormalen. Abnormal ist es, zu
töten.
({13})
Wir tragen weder diese Politik noch diesen Sprachgebrauch mit; denn es gibt keine humanen Bomben.
Doch eine stärkere Militarisierung verlangt natürlich
auch nach erhöhter Akzeptanz in der Gesellschaft.
Was Sie - damit meine ich Sie alle in diesem Haus brauchen, ist die Akzeptanz für die neue NATOStrategie - die Sie vehement verteidigen -, mit der sich
die NATO als neue militärische Ordnungsmacht ohne
territoriale Grenzen präsentiert. Sie brauchen Akzeptanz
für die neue europäische Militärunion, die vor wenigen
Wochen auf dem Gipfel in Köln beschlossen wurde.
Natürlich brauchen Sie alle auch Akzeptanz für die neue
Bundeswehr, für ihre neue Ausrüstung, für den Ausbau
zur Interventionsarmee
({14})
und letztlich natürlich auch für die Aufstockung der Krisenreaktionskräfte. Um diese Akzeptanz werben Sie.
Deswegen bringen gerade Sie, meine Herren von der
rechten Seite des Hauses, Anträge ein, die tatsächlich
überflüssig sind.
({15})
- Unser Antrag war eine Persiflage darauf. Wenn man
das aber nicht bemerkt, kann man nicht entsprechend
reagieren.
Es wurde schon vor einigen Jahren auch in diesem
Parlament darüber diskutiert, ob Soldaten Mörder seien.
({16})
Vor drei Jahren hat Kardinal Meissner bei einem Soldatengottesdienst in Köln gesagt: „Wem käme es in den
Sinn, Soldaten, die auch Beter sind, dann noch als Mörder zu diskriminieren? Nein, in betenden Händen ist die
Waffe sicher.“
Heute, einige Jahre nach diesen Debatten - jetzt darf
man solche Debatten gar nicht mehr führen -,
({17})
erleben wir kaum eine Plenardebatte, in der den Soldaten nicht für ihren heroischen Einsatz gedankt wird.
({18})
Diese Entwicklung finde ich überaus bedrohlich.
({19})
Wenn das so weitergeht, dann ist damit zu rechnen, daß
nicht nur deutsche Waffen und deutsches Geld, sondern
auch deutsche Soldaten weltweit im Einsatz sind.
({20})
Einer solchen Entwicklung, wie sie durch pathetische
Zeremonien deutlich wird, setzen wir uns zur Wehr.
Meine Fraktion hat vor zwei Jahren einen Antrag zur
Änderung des Soldatengesetzes eingebracht, wonach die
Eides- und Gelöbnisformel durch ein Versprechen ersetzt werden sollte. Das Versprechen, das die Soldaten
abgeben sollten, lautet:
Ich verspreche, meinem Land treu zu dienen, das
Grundgesetz und die Freiheit zu achten und zu
verteidigen. Nie wieder sollen Krieg und Völkermord von Deutschland ausgehen.
({21})
Heute, nachdem sich Deutschland über die Friedenspflicht in Art. 26 des Grundgesetzes hinweggesetzt
hat Heidi Lippmann
Frau Kollegin Lippmann, bitte denken Sie an die Redezeit.
- ich komme zum Schluß und an einem völkerrechts- und verfassungswidrigen
Angriffskrieg beteiligt war, ist diese Änderung um so
wichtiger geworden.
({0})
Wir werden diesen Antrag deswegen erneut einbringen.
Mit einem Versprechen der Soldaten,
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist überschritten.
- daß nie wieder Krieg und
Völkermord von Deutschland ausgehen sollen, würde
man nicht nur der historischen Verantwortung gerecht,
sondern auch der aktuellen Entwicklung entgegensteuern.
({0})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Arnold.
Frau Präsidentin! Verehrte
Damen und Herren! Für mich ist es überhaupt kein
schlechtes Zeichen, wenn sich vor dem Hintergrund der
deutschen Geschichte, des Mißbrauchs militärischer
Rituale und Symbole viele Bürger und Bürgerinnen in
unserem Land mit öffentlichen Gelöbnissen ein Stück
weit schwertun. Viele wissen nämlich, daß die große
Zahl öffentlicher Vereidigungen in den Jahren nach der
Versammlung in der Frankfurter Paulskirche in erster
Linie ein Ziel hatte: den demokratisch gesinnten Bürgerinnen und Bürgern ihre Grenzen aufzuzeigen.
Ich würde mir deshalb wünschen, daß die Opposition
auch die heutige Debatte als ernsthafte Auseinandersetzung gerade mit diesen Bürgern und Bürgerinnen versteht, die sich mit öffentlichen Gelöbnissen schwertun.
({0})
Um nicht mißverstanden zu werden: Ich meine damit
nicht diejenigen, die sich durch Randale Gehör verschaffen. Aber unser Parlamentsheer verträgt eine Diskussion
um die richtige Pflege von Tradition und öffentlicher
Darstellung sehr wohl.
({1})
Was unsere Soldaten aber auf gar keinen Fall brauchen können, sind immer neue Versuche, die Bundeswehr parteipolitisch zu instrumentalisieren, wie Sie es
tun.
({2})
Nach meinem Eindruck haben Sie Ihre Anträge im Januar vor allen Dingen formuliert, um Teile der Regierungskoalition einmal mehr als vaterlandslose Gesellen
brandmarken zu können. Dieser Versuch wirkt angesichts des politischen Einsatzes des Verteidigungsministers, des Außenministers und des Kanzlers, aber
auch angesichts unserer gemeinsamen Anstrengungen in
den vergangenen Wochen wirklich peinlich und kleinkariert.
({3})
Herr Kollege Arnold,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
Ich würde bei meiner ersten
Rede eigentlich gerne das Recht für mich in Anspruch
nehmen, meine Gedanken zu Ende zu führen. In Zukunft, Herr Breuer, wenn ich nicht mehr so nervös bin,
sehr gerne.
({0})
Wenn nun die andere Oppositionspartei, die PDS, öffentliche Gelöbnisse mit dem Verweis auf die unheilvolle Tradition militärischer Aufmärsche in der deutschen Geschichte ablehnt, muß sie sich schon fragen lassen, ob sie nur die Massenaufmärsche der Nazizeit im
Gedächtnis hat. Ich jedenfalls habe die unsäglichen Paraden in der DDR nicht vergessen. Dort sind sogar Kinder instrumentalisiert worden.
({1})
Gerade für Ihre Partei ist es deshalb völlig unzulässig,
öffentliche Gelöbnisse in unserer Demokratie mit einer
Militarisierung unserer Gesellschaft gleichzusetzen. Das
wird der Bedeutung der Bundeswehr nicht gerecht.
({2})
Militarismus, Frau Kollegin, entsteht im übrigen nicht
dadurch, daß Soldaten Kontakt zu den zivilen Bürgern
haben, sondern Militarismus entsteht - wenn überhaupt
- am ehesten, wenn man die Soldaten immer innerhalb
der Kasernenmauern läßt. Das ist doch ein entscheidender Punkt.
({3})
Nein, wir haben heute weniger Anlaß denn je, unsere
Soldaten in den Kasernen zu verstecken. Wir haben
vielmehr allen Grund, auch öffentlich deutlich zu sagen,
daß es hohe Werte sind, die unsere Soldaten unter ihren
besonderen Schutz nehmen: Freiheit, Recht, Unabhängigkeit, Frieden. Wir erfahren doch dieser Tage ganz besonders, daß solche Werte gewiß höher einzuschätzen
sind als hohles Pathos, den manche diesen Gelöbnisreden gelegentlich unterstellt haben. Inhaltsleeres Pathos
wäre unserer jetzigen jungen Generation von pragmatischen Soldaten fremd. Er wäre heute gewiß nicht die
angemessene Form für Gelöbnisse, ob öffentlich oder
nicht.
Verteidigungsminister Scharping hat deshalb völlig
recht: Die Soldaten gehören in unsere demokratische
Mitte. Darum halten wir Sozialdemokraten an diesen
Gelöbnissen fest. Rudolf Scharping hat ebenso recht,
wenn er einen sensiblen Umgang mit der Traditionspflege einfordert, eingeschliffene Rituale oder falsche Vorbilder entfernt und an die Stelle falscher Heldenverehrung zum Beispiel die Erinnerung an den Widerstand
setzt.
({4})
Deshalb steht die weitere Stärkung der staatsbürgerlichen Bildung in der Bundeswehr in einem engen Zusammenhang mit dem öffentlichen Bekenntnis der jungen Soldaten zu unseren Grundwerten.
Öffentliche Gelöbnisse können einen wichtigen Beitrag zur Integration der Bundeswehr in unsere Gesellschaft leisten. Dies gilt vor allen Dingen dann hierauf hat auch der Generalinspekteur von Kirchbach
hingewiesen -, wenn öffentliche Gelöbnisse möglichst
dort stattfinden, wo schon vielfältige Beziehungen zwischen der Truppe und den Einwohnern bestehen. Wenn
dieses Umfeld jedoch nicht stimmt und statt dessen den
jungen Wehrpflichtigen Trillerpfeifen und massiver
Polizeieinsatz in Erinnerung bleibt,
({5})
wird der eigentliche Zweck eines öffentlichen Gelöbnisses in sein Gegenteil verkehrt.
({6})
Herr Siemann, Sie haben vorhin zu Recht gesagt, es
geht um die Soldaten. Das stimmt. Es geht um die Soldaten, und es geht nicht darum, daß ein Verteidigungsminister seiner eigenen Partei zeigen kann, wie schneidig er ist.
({7})
Wir können unterstreichen, daß unsere Demokratie
hinter dem Parlamentsheer steht, und die jungen Menschen, die an den Gelöbnissen teilnehmen, unterstreichen ihre Verbundenheit mit der Demokratie. Das zeigt,
daß die bürgerlichen Normen auch beim Militär gelten.
In diesem Sinn hat die Bundeswehr das Prinzip der inneren Führung aufgebaut. Gerade die sozialdemokratischen Minister Georg Leber und Helmut Schmidt haben
es weiterentwickelt.
Auch in Zukunft müssen militärische Normen und ihre äußere Form immer wieder daraufhin hinterfragt werden, ob sie die gesellschaftliche Integration fördern oder
eher Distanz zum zivilen Umfeld aufbauen. Damit keiner Angst bekommt: Unsere Musikkorps müssen noch
lange nicht Hip-Hop-Rhythmen spielen. Das ist keine
Frage.
Auch ein Zeremoniell ist veränderbar und kann weiterentwickelt werden. Es muß immer wieder neu weiterentwickelt werden, so daß es möglichst nah ist am Lebensgefühl der Generation, die wir erreichen wollen.
Vor diesem Hintergrund sind öffentliche Gelöbnisse
auch in Zukunft der Normalfall, eine Selbstverständlichkeit. Dabei müssen sich unsere Soldaten keinesfalls
hinter den Kasernenmauern verstecken. So werden wir
das in den nächsten Jahren realisieren. Und das hätten
wir auch ohne die Anträge der CDU und F.D.P. geschafft.
Herzlichen Dank.
({8})
Herr Kollege Arnold,
auch für Sie war das die erste Rede im Plenum des
Deutschen Bundestags. Ich möchte Sie im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen dazu beglückwünschen.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS, das Wort.
Herr Kollege, als erstes
möchte ich Sie darauf hinweisen, daß unsere Rednerin
eine im Westen geborene Bürgerin ist,
({0})
die in den alten Bundesländern groß geworden ist, so
daß Sie ihr zumindest nicht das Recht absprechen können, sich zu äußern; denn sie hat das auf ihrem Lebensweg hier kennengelernt und daraus ihre Meinung gebildet.
Als zweites möchte ich anmerken, daß es keinem
demokratischen Verständnis entspricht, uns die Lernfähigkeit absprechen zu wollen. Aber es unterscheidet uns
vielleicht, daß wir mit der DDR und den Militarisierungen, die es dort gab, sehr kritisch umgehen. Wir haben
uns zu diesen Fehlern bekannt und daraus gelernt.
({1})
Deshalb legen wir sehr großen Wert darauf, über den
Unterschied zwischen Versprechen und Gelöbnis zu
diskutieren und zu hinterfragen, ob es notwendig ist,
solche Zeremonien öffentlich durchzuführen oder nicht.
Einen Großen Zapfenstreich haben auch wir gehabt.
Aus meiner Kindheit kenne ich das zur Genüge. Aber
gerade deshalb ist es wichtig, daß wir unsere Erfahrungen hier einbringen. Wir lassen uns das Recht dazu von
Ihnen nicht absprechen.
Ich möchte noch einmal auf die Gründe verweisen,
warum es notwendig ist, den Inhalt zu ändern und das
Gelöbnis durch ein Versprechen zu ersetzen. Da besteht nämlich ein grundlegender Unterschied.
({2})
Ich zitiere einfach aus unserem alten Antrag:
Der Wechsel vom Schwur und vom Gelöbnis zum
Versprechen trägt den pluralen, religiösen, philosophischen und politischen Gegebenheiten der Moderne Rechnung, deren plurale Grundlage jede autoritäre und einseitige Festlegung obsolet macht.
({3})
Der Verweis auf die Verhinderung von Krieg und
Völkermord konkretisiert die in Art. 26 GG vorgeschriebene Friedenspflicht des Staates. Für die in
den Streitkräften dienenden Bürgerinnen und Bürger- ({4})
- Das ist vielleicht auch wichtig, Herr Schmidt. Ich
möchte das hier noch sagen.
Frau Kollegin Höll,
ich bitte Sie, diese Intervention nicht zum Zitieren zu
benutzen, sondern die freie Rede zu gebrauchen.
({0})
Damit schließe ich das Zitat ab.
Ich möchte aber noch auf den letzten Punkt, den wir
bereits damals in unserem Antrag ausgeführt hatten jetzt aus dem Kopf und nicht mehr als Zitat -, verweisen: Wichtig ist auch - das haben wir betont -, daß die
Tapferkeit aus der Gelöbnisformel gestrichen wird. Tapferkeit können Sie nämlich nicht per Gelöbnis verordnen.
({0})
Deshalb ist diese Formulierung sowieso schon obsolet.
({1})
Tatsächlich ist es wichtig, darüber zu diskutieren, um
einen anderen Umgang damit zu erreichen und gleichzeitig den verschiedenen Lebenserfahrungen Rechnung
zu tragen. Dabei sollten gerade die Erfahrungen, die wir
in der DDR gemacht haben, nicht geringgeschätzt werden.
({2})
Ich glaube, wir müssen uns nicht über den Inhalt von Interventionen streiten.
({0})
Ich habe den Stil angemerkt.
({1})
Ich lasse mich als Präsidentin an dieser Stelle nicht kritisieren.
({2})
Ich habe meine Kritik da angemeldet, wo es Rechtens
war.
Ich frage den Kollegen Arnold, ob er auf diese Intervention erwidern möchte. - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich den letzten Redner in dieser Debatte
auf; das ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Rossmanith.
({3})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! An sich
kommt es selten bei mir vor, aber heute vermisse ich den
Herrn Bundesminister des Äußeren. Es hätte mich nämlich gerade nach dem Beitrag seiner Fraktionskollegin
Angelika Beer schon interessiert, wie er zu Gelöbnissen
der Bundeswehr in der Öffentlichkeit steht.
({0})
Ich könnte hier eine lange Reihe von Zitaten des grünen Außenministers aus den letzten Wochen vorlesen, in
denen er voller Überzeugung und sehr glaubwürdig seinen Respekt und seine Anerkennung für die Leistung
unserer Bundeswehrsoldaten ausgedrückt hat.
({1})
Der Außenminister weiß sehr genau, daß unsere Soldaten zur Zeit im Kosovo und in Bosnien persönlich Verantwortung für Frieden, für die Freiheit der Menschen
und für Gerechtigkeit übernehmen.
({2})
Unsere Soldaten sind ja längst an vielen Orten dieser
Welt zu Botschaftern des demokratischen Deutschlands
geworden.
({3})
Deshalb stellt sich für mich schon die Frage: Wo bleibt
denn eigentlich der zustimmende Antrag der Grünen zu
den öffentlichen Gelöbnissen?
({4})
Was muß denn eigentlich noch geschehen, damit diese
Partei endlich ihr Verhältnis zur Bundeswehr klärt?
({5})
Viele Soldaten haben bis heute nicht die geschmacklosen Ausfälle des derzeitigen Umweltministers Trittin es wurde ja schon darauf hingewiesen - anläßlich des
öffentlichen Gelöbnisses in Berlin im vergangenen Jahr
vergessen.
({6})
- Er ist nicht mehr Minister? Haben Sie ihn heute entlassen?
({7})
Das Gesagte würde ich mit Freude sofort zurücknehmen, wenn er nicht mehr Umweltminister wäre. Aber
offensichtlich sind Sie nicht ganz auf dem neuesten
Stand.
({8})
Ich muß allerdings auch sagen, daß es Stimmen vernünftiger Grüner gab,
({9})
die sich nicht zu schade waren, Verteidigungsminister
Scharping im Februar öffentlich wegen seiner Teilnahme an einem öffentlichen Gelöbnis von Bundeswehrsoldaten im sächsischen Marienberg zu kritisieren. Lieber
Kollege Nachtwei, Sie haben damals dem Verteidigungsminister die zentrale Dienstvorschrift 10/8 entgegengehalten - so, wie heute die Kollegin Beer uns -,
({10})
nach der Vereidigungen und feierliche Gelöbnisse im
Regelfall innerhalb militärischer Liegenschaften durchzuführen seien.
({11})
Ich muß sagen: Ich finde es geradezu rührend, wenn die
Grünen zur Begründung Ihrer Politik militärische
Dienstvorschriften zitieren.
({12})
Lassen Sie mich einige Fakten nennen. Feierliche
Gelöbnisse in der Öffentlichkeit sind längst ein fester
Bestandteil der Kultur unseres demokratischen Staates
geworden.
({13})
- Da insbesondere, ja. - Ich verstehe nicht, wie man sich
der Tatsache verschließen kann, daß Eltern, Verwandte,
Freunde, ja große Teile der Bevölkerung gerne an einem
feierlichen öffentlichen Gelöbnis unserer Wehrdienstleistenden teilnehmen. Überall im Lande, nicht nur bei uns
im Allgäu - ich lade jeden ein: kommen Sie einmal zu
uns -, ist es schlicht und einfach nicht denkbar, daß ein
feierliches Gelöbnis nicht öffentlich durchgeführt wird,
sei es im Winter im Eisstadion - 3 000 bis 4 000 Bürgerinnen und Bürger sind dabei -,
({14})
sei es im Sommer unterhalb des schönen Schlosses Neuschwanstein, wo noch mehr Bürger anwesend sind. Das
sind Festtage für uns, das hat für uns Volksfestcharakter.
({15})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt
überhaupt keinen Grund, unsere Soldaten hinter Kasernenmauern zu verstecken.
({16})
Nichts drückt die Idee vom Staatsbürger in Uniform
besser aus als ein Gelöbnis in der Öffentlichkeit:
({17})
der Staatsbürger in Uniform für die Staatsbürger. Vor
Ihnen legt er sein Gelöbnis ab.
({18})
Ich hätte bald gesagt: Um Himmels willen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen - von der
PDS will ich hier erst gar nicht sprechen -, legen Sie
doch endlich Ihre Berührungsängste gegenüber der
Bundeswehr ab.
({19})
Das haben Sie doch gar nicht nötig. Ich frage Sie: Wieso
verharren Sie - ich hätte bald gesagt: bockbeinig - in
Ihrer eigenen Wahrnehmungswelt? Wer ein öffentliches Gelöbnis als einen Akt der Militarisierung empfindet, muß sich - ich kann es in der Tat nicht anders saKurt J. Rossmanith
gen - schon sehr stark in seiner Ideologie verfangen haben.
({20})
Aber die Grünen - Frau Kollegin Beer hat heute leider
wieder ein Beispiel dafür geliefert - haben ein besonderes Talent, Geister zu verfolgen. Nur sie nehmen sie
wahr, nur sie sehen sie.
Hier den Untersuchungsausschuß einzubringen, liebe Frau Kollegin Beer, habe ich nicht als sehr hilfreich
empfunden.
({21})
Auch hier waren Sie es, die in allen Nischen und Ecken
der Bundeswehr Rechtsradikalismus vermutet und gesehen haben. Dieser Untersuchungsausschuß hat genau das
Gegenteil erbracht.
({22})
Aus diesem Grund war ich im nachhinein froh über diesen Untersuchungsausschuß. Betrachten Sie nicht alles
durch die grüne Brille, setzen Sie sich auch einmal
ernsthaft mit der Bundeswehr, mit unseren Soldaten
auseinander!
Öffentliche Gelöbnisse sind längst eine Selbstverständlichkeit. Deshalb freue ich mich, daß unser Bundesverteidigungsminister Scharping dieses Mittel nutzen
will, um der Integration unserer Bundeswehr in der Gesellschaft Ausdruck zu verleihen.
Öffentliche Gelöbnisse sind für mich Teil einer neuen, guten Tradition der Bundeswehr. Die Kritik daran ist
meines Erachtens nicht glaubwürdig, sondern eine Ersatzhandlung für eine Ablehnung der Bundeswehr insgesamt. Das sollten Sie sich, da Sie jetzt in der Regierung vertreten sind, doch überlegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in unserem
Lande gibt es unter den Bürgern längst einen breiten
Konsens über feierliche Gelöbnisse in der Öffentlichkeit. Das feierliche Gelöbnis freier Bürger sollte auch
für uns Parlamentarier eine Selbstverständlichkeit sein.
Es geht hier um ein würdevolles Zeremoniell, das wir
pflegen und in seiner Form maßvoll ausbauen sollten.
Auch in diesem Punkt bin ich mit vielen meiner Vorredner einig.
Daher möchte ich zum Schluß sagen: Wir sollten uns
dies nicht von denjenigen zerreden lassen,
({23})
die es bis heute nicht geschafft haben, ihr Verhältnis zur
Bundeswehr zu klären, und uns uneingeschränkt zu einer modernen, in der Demokratie verankerten Armee
bekennen. Das tun wir; deshalb stehen wir auch zu den
öffentlichen Gelöbnissen.
({24})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/284 ({0}), 14/641 und 14/642
an den Verteidigungsausschuß vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Lohmann ({1}),
Wolfgang Zöller, Dr. Wolf Bauer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur
Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
({2})
- Drucksache 14/886 ({3})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4})
- Drucksache 14/1216 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion der
CDU/CSU-Fraktion spricht zuerst der Kollege Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1992 sahen wir
uns beim Entstehen des Gesundheitsstrukturgesetzes,
das ja bekanntlich über die Fraktionsgrenzen hinweg in
gemeinsamer Arbeit zustande gebracht worden ist, durch
ein Verfassungsgerichtsurteil veranlaßt, ich betone ausdrücklich: endlich auch Arbeiter und Angestellte in ihren Rechten gegenüber den Systemen sozialer Sicherung
gleichzustellen. Dazu gehörte beispielsweise die Einführung der freien Wahl der Krankenkasse, was zuvor für
Arbeiter ja nicht möglich war. Daraufhin wurde, Herr
Professor Pfaff, auch der Risikostrukturausgleich eingeführt, weil nach Möglichkeit gleiche Startchancen in den
verschiedenen Kassenarten gegeben werden mußten. Ich
betone hier aber das Recht, die Kasse frei zu wählen.
Das hat uns später in der Überzeugung bestärkt, die
Frage aufzuwerfen, warum eigentlich nur freiwillig Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung das
Recht haben sollten, Kostenerstattung zu wählen,
Pflichtversicherte aber nicht. Wir wußten andererseits
auch - das wissen Sie genauso -, daß über Jahre auch
ein Teil der Pflichtversicherten Kostenerstattung wählen
konnte. Die Kassen haben das auf dem Kulanzwege
mitgemacht und teilweise sogar als Werbeargument gebraucht. Mit den Neuordnungsgesetzen haben wir zum
1. Juli 1997 die freie Wahl der Kostenerstattung für alle
eingeführt.
Nun haben Sie kurz nach Antritt Ihrer Regierung im
Solidaritätsstärkungsgesetz, wie Sie es genannt haben,
handstreichartig und für manche zunächst unbemerkt
dieses Wahlrecht wieder abgeschafft. Frau Ministerin
Fischer, ich muß mich darüber schon wundern. Sie haben vorhin im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung - ich habe es mir aufgeschrieben - gesagt, Sie
freuten sich darüber auch deswegen, obwohl ihre Fraktion seinerzeit Bedenken gegen die Pflegeversicherung
hatte, weil mit der Pflegeversicherung neue Selbstbestimmungsspielräume für die alten und pflegebedürftigen Menschen eröffnet worden seien.
({0})
Diese Ihre Freude haben wir bereits im Jahre 1997 weiter verstärkt, indem wir die freie Wahl der Kostenerstattung eingeführt haben. Sie gehört zu den Rechten,
die der einzelne haben muß.
({1})
In der öffentlichen Anhörung hat der Sachverständige
Schulte, der, wie Sie wissen, mit den Krankenkassen
verbunden ist, unter anderem gesagt: In der Zeit vom 1.
Juli 1997 bis zum 31. Dezember 1998 kann ein großer
Teil der Krankenkassen
überhaupt nicht nachvollziehen, welcher Teil der
Pflichtversicherten in dieser Zeit von der Möglichkeit der Kostenerstattung Gebrauch gemacht hat.
Viele Pflichtversicherte haben in den 18 Monaten,
weil sie nicht krank gewesen sind, überhaupt keine
Gelegenheit gehabt, einen Antrag zu stellen. Die
Ankündigung der Bundesregierung, in diesem Sinne eine Änderung herbeizuführen, hat praktisch zur
Folge, daß Krankenkassen im Augenblick das machen, was sie für richtig halten. Das geschieht auf
ungesicherten rechtlichen Grundlagen. Insoweit
muß derjenige, der A sagt, das heißt Kostenerstattung für freiwillig Versicherte und
- wie Sie jetzt nach erheblichem Druck von der Öffentlichkeit einräumen für einen Teil der Pflichtversicherten,
die bis zum 1. September davon Gebrauch gemacht haben auch B sagen, nämlich Kostenerstattung für alle.
Wir sind derselben Überzeugung; etwas anderes ließe
sich auch niemandem mehr erklären.
Professor Neubauer sagt:
Es ist nirgendwo ableitbar, daß Kostenerstattung
zur PKV gehörten und Sachleistungen zur GKV.
Das ist eine völlig irrige Welt. … Umgekehrt hat
noch niemand darlegen können, daß das Kostenerstattungsprinzip nicht zur GKV paßt. Schließlich
haben wir genügend Länder, in denen das in dieser
Form praktiziert wird. … Ich bleibe dabei, mehr
Mitwirkungsmöglichkeiten der versicherten Patienten sind wichtig und richtig.
Darum geht es uns: um mehr Mitwirkungsmöglichkeiten
für die Patienten.
({2})
Wir haben geglaubt, daß das bei Ihnen, Frau Ministerin, auf fruchtbaren Boden fallen würde. Aber nein, wir
sind auch in diesem Zusammenhang tief getäuscht worden.
({3})
Von Ihnen und einem Teil der Krankenkassen wurde
gesagt, in der Vergangenheit hätten die freiwillig Versicherten von dem Recht, das sie ja hatten, relativ wenig
Gebrauch gemacht, und seit dem 1. Juli 1997 bis zum
31. Dezember 1998 die Pflichtversicherten noch weniger. Wenn das so ist, muß man um so mehr fragen, warum man den wenigen, die von diesem Wahlrecht trotzdem Gebrauch machen wollen, das Recht dazu abspricht. Warum werden die Versicherten in der gleichen
gesetzlichen Krankenversicherung in drei bzw. vier verschiedene Gruppen von Versicherten aufgeteilt und mit
unterschiedlichen Rechten ausgestattet? Dafür haben wir
kein Verständnis.
({4})
Wir sprechen über die Verbesserung von Qualität und
darüber, daß die Versorgung der Bevölkerung mit medizinischen Leistungen gesichert werden muß. Wir sprechen aber auch davon, daß die Finanzierung gesichert
bleiben muß. Kostenerstattung kostet die gesetzliche
Krankenversicherung keine müde Mark mehr als das
Sachleistungssystem - eher ist vielleicht sogar das Gegenteil richtig. Wenn jemand, der pflichtversichert ist,
für sich diese Entscheidung treffen möchte und das Risiko eingehen möchte, was in jeder freiheitlichen Entscheidung steckt, warum wollen Sie ihm diese Möglichkeit nicht einräumen? Warum sagen Sie: Nein, wir wissen besser, was für dich als Versicherten richtig ist? Ich habe das in der Ausschußsitzung als eine typisch
ideologisch vorgeprägte Zwangsbeglückung bezeichnet.
({5})
Das heißt, Sie aus der Politik wissen besser, was für den
einzelnen, der bereit ist, ein Risiko einzugehen, richtig
ist.
Herr Kollege Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, sicher.
Herr Kollege Lohmann, Sie
haben aus den Anhörungen zitiert. Stimmen Sie mir zu,
Wolfgang Lohmann ({0})
daß die Befunde aus den Untersuchungen, die nicht sehr
zahlreich waren, aufzeigen, daß erstens der Informationsgehalt der Kostenerstattung etwas besser ist - aber
nicht dramatisch -, daß zweitens allerdings die systematische Kontrollfunktion durch die jeweiligen Kassenärzte oder Kassenzahnärzte unterlaufen wird und daß
drittens die Gesamtkosten steigen, weil nämlich die einzelnen nach der Dicke ihrer Geldbörse gestaltbare Zuzahlungen leisten, so daß im Endeffekt das System teurer wird und nicht besser?
({1})
Ich stimme Ihnen nicht zu; das wird Sie nicht wundern.
({0})
Ich will das auch begründen. Wenn für Wilhelm Schulze
oder Karl Meyer nach seiner Entscheidung seine gesundheitliche Versorgung ein paar Mark teurer ist - das
mag in dem einen oder anderen Fall so sein -, dann muß
ich fragen: Was geht das eigentlich uns an? Was geht es
uns an, wenn er das so will, wenn er sagt, meine Krankenkasse, in die ich meine Beiträge zahle, will ich nicht
mehr belasten? Im übrigen geht es den Staat bzw. die
Krankenversicherung einen feuchten Kehricht an, was
ich mit dem Geld mache.
({1})
Sie schreiben ja auch niemandem vor, er möge bitte
zum nächsten Händler um die Ecke gehen und dort gefälligst einkaufen, weil es dort möglicherweise billiger
ist. Der Kunde entscheidet doch selbst, ob ihm zum Beispiel der Service zusagt.
({2})
- Herr Kirschner hat eben zu Recht geraten, nicht noch
weitere Fragen zu stellen, weil das möglicherweise kontraproduktiv sein könnte.
({3})
- Aber so etwas ähnliches haben Sie, Herr Kirschner,
schon gesagt. Ich kann gut hören; das wissen Sie ja.
({4})
Nachdem großer Druck von der Öffentlichkeit und
immerhin auch vom Verband der Angestelltenkrankenkassen, der auch irgendwann wach geworden ist und
Ihnen Briefe geschrieben hat, ausgeübt worden ist, ist
die Regierung wenigstens in einem Teilbereich den Forderungen nachgekommen, indem sie nun sagt: Wer zwischen dem 1. Juli 1997 und dem 31. Dezember 1998 von
der Regelung Gebrauch gemacht hat, der möge sein bisheriges Wahlrecht - sozusagen eine Art Besitzstandswahrung - behalten. Er hat sich damals entschieden,
deshalb soll er sein Recht auch behalten.
Diejenigen - ich weise darauf noch einmal hin -, die
in diesen 18 Monaten das Pech hatten, nicht krank zu
sein, konnten keine Wahl treffen. Das Thema war für sie
ja nicht akut. Wenn Sie demjenigen, der am 1. Januar
1999 krank geworden ist, auch noch ein Wahlrecht einräumen, weil das mit Blick auf denjenigen, der schon im
Dezember 1998 krank geworden ist, fair wäre, dann
würde sich das - so ist das immer bei Stichtagen - unendlich fortsetzen. Sie kommen also letztlich nicht um
eine Entscheidung herum.
Wenn schon auf jeder Seite des Schröder/BlairPapiers von mehr Eigenverantwortung und mehr Flexibilität die Rede ist, dann frage ich, warum nicht mehr
Eigenverantwortung dort ermöglicht wird, wo sie wirklich hingehört. Warum geben Sie den Versicherten nicht
mehr Freiheitsrechte? Deswegen sind wir der Auffassung, daß unser Antrag richtig ist. Wir erwarten, daß Sie
ihm zustimmen.
({5})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Klaus Kirschner.
({0})
Frau Präsidentin! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Lohmann, wir
werden Sie enttäuschen.
({0})
Ich wundere mich, wie von allen Seiten des Parlaments einerseits die hohe Leistungsfähigkeit unseres
Gesundheitswesens und insbesondere die der gesetzlichen Krankenversicherung - auch im internationalen
Vergleich gesehen - herausgestellt wird. Aber auf der
anderen Seite wird diese Leistungsfähigkeit an den untauglichsten Stellen wieder in Frage gestellt. Lassen Sie
mich ganz deutlich sagen: Zu den Grundprinzipien - das
ist eine der Stärken unseres Sozialversicherungssystems,
unserer gesetzlichen Krankenversicherung - gehören ({1})
- das glaube ich, daß du das am liebsten hättest - das
Solidarsachleistungs- und Selbstverwaltungsprinzip sowie die Maxime, daß den Versicherten eine medizinisch
ausreichende und notwendige Vollversorgung zur Verfügung gestellt wird.
Sie sagen, das stellen wir nicht in Frage. Aber die
Versicherten sollen selbst wählen, ob sie die Sachleistungen oder die Kostenerstattung in Anspruch nehmen wollen. Sie haben dabei auf den vor wenigen Stunden gefaßten Beschluß verwiesen. Ich gebe Ihnen recht.
({2})
- Das ist nicht unsystematisch, sondern ein Kompromiß
zwischen den freiwillig Versicherten, die auch noch die
Möglichkeit haben, Mitglied in einer PKV zu werden,
und den Pflichtversicherten, die eine Vertrauensschutzregelung benötigen. Nichts anderes ist das. Ich betone
das ausdrücklich als eindeutiger Anhänger des Sachleistungsprinzips.
({3})
- Herr Kollege Lohmann, meinetwegen können Sie dies
auch Ideologie nennen. Ich empfinde das nicht als Beschimpfung. Ich bin ganz eindeutig dafür.
({4})
Im übrigen bin ich freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung - das unterscheidet
mich von sehr vielen Abgeordneten in diesem Parlament
- und rede nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg.
({5})
- Ich habe nicht gesagt „alle“, sondern „viele“. Es sollten einmal alle aufstehen, die immer sagen, daß wir die
gesetzliche Krankenversicherung verbessern müssen,
aber selber nicht Mitglied in ihr sind.
Sie von der CDU/CSU und F.D.P. haben mit Ihren
sogenannten Neuordnungsgesetzen die vertragszahnärztliche Versorgung ausgehebelt und das Prinzip der
Kostenerstattung eingeführt.
({6})
Wohin das geführt hat, haben wir alle gesehen. Die
Ausgaben für Zahnersatz sind 1998 hier im Westen um
27 Prozent und im Osten um 38,5 Prozent zurückgegangen.
({7})
- Lieber Kollege Lohmann, Sie verwechseln Ursache
und Wirkung.
({8})
- Doch! - Diese Entwicklung spricht doch gegen eine
solche Regelung. Im ersten Quartal dieses Jahres setzt
sich diese Entwicklung bisher fort. Fiskalisch ist das für
die gesetzliche Krankenversicherung gut. Aber gesundheitspolitisch habe ich bezüglich der Versorgung erhebliche Zweifel. Diese Fehlentwicklung wird uns noch
einholen. Daraus sollten Sie lernen.
Ich möchte Sie noch etwas fragen: Haben Sie nicht
die Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK und
der Verbraucherforschung zur Kenntnis genommen, die
vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde? Zwanzig Personen sind zu jeweils zehn Zahnärzten gegangen. Nicht
nur die unterschiedlichen Therapievorschläge - bis zu
acht bei einem einzelnen Patienten -, sondern auch
Preisunterschiede bis zu 600 Prozent kamen dabei heraus. So sehen doch die Fakten aus. Das nennen sie einen
Fortschritt, aus dem Sachleistungsprinzip auszusteigen
und zur Kostenerstattung zu kommen! Sie sollten endlich dazulernen!
({9})
Es geht nicht um die Bevormundung des Patienten,
wie Sie - wider besseres Wissen - behaupten. Das
Sachleistungsprinzip ist besser als die Kostenerstattung
geeignet, Qualität, Wirtschaftlichkeit und Effizienz
der Versorgung sicherzustellen. Es gewährleistet, daß
jeder Versicherte unabhängig von seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit direkten Zugang zu den notwendigen Dienstleistungen der medizinischen Versorgung hat. Es sichert zudem den Einfluß der gesetzlichen
Krankenkassen auf das medizinische Leistungsgeschehen und insbesondere - darauf lege ich Wert - auf die
Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungsempfänger.
Das ist ein unverzichtbares Element zur Ausgabensteuerung. Das sollten Sie doch auch wissen!
Nirgends ist ein kostensenkender Effekt durch Kostenerstattung empirisch belegt,
({10})
weder bei uns noch in anderen Ländern wie zum Beispiel in Frankreich oder in den USA. Worin also liegen
die Vorteile, auf das Kostenerstattungsprinzip umzustellen?
({11})
- Ich nenne Ihnen gleich die Nachteile.
Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie letzten Endes
die Vertragsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und den Organisationen der Leistungserbringer,
also den Kassenärztlichen und den Kassenzahnärztlichen
Vereinigungen, aushebeln. Wenn Sie das wollen - das
betrifft die direkten Vertragsbeziehungen zwischen den
Versicherten und den Ärzten bzw. den Zahnärzten -,
dann sagen Sie das aber auch! Sagen Sie, wie Sie Effizienzsteigerungen und Wirtschaftlichkeit in der Versorgung erreichen wollen! Das Gegenteil ist der Fall:
Die Kassen bleiben außen vor. Damit machen Sie - konsequent zu Ende gedacht - die Vertragsebene von
Zwischenkassen und den KVen bzw. den KZVen überflüssig.
Sie stärken keineswegs die Versicherten, wie Sie behaupten und wie es in der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf steht. Die Kostenkenntnisse der Versicherten sind - das ist unbestritten - zwar besser als
beim Sachleistungsprinzip. Das hat jedoch keinerlei
Einfluß auf die Inanspruchnahme, wie man bei den
Ausgaben bei den freiwillig Versicherten oder bei der
privaten Krankenversicherung feststellen kann. Wenn
Sie das behaupten, dann sage ich Ihnen: Schauen Sie
sich doch einmal die Unterlagen an! Die Empirie zeigt
das.
({12})
- Kollege Lohmann, dazu komme ich noch.
Wenn man allerdings meint - das ist doch Ihre versteckte Intention -: „Wer Kostenerstattung wählt, hat
Anspruch auf eine bessere Versorgung“, dann sage ich
Ihnen, daß das fatale Folgen für unsere gesetzliche
Krankenversicherung hat.
({13})
Die Versicherten müssen die Gewähr haben, daß der
Pflichtleistungskatalog im Rahmen der Sachleistungen
die notwendige - ({14})
- Ich bitte Sie! Sie tun so, als ob das, was in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegeben wird, auch tatsächlich ausgegeben werden müßte. Sie kennen doch die
Beispiele. Der frühere Gesundheitsminister, Herr Seehofer, hat das vor nicht allzu langer Zeit auf 25 Milliarden
DM beziffert.
({15})
- Am 4. Februar 1996. Er hat wörtlich ausgeführt: „Wir
haben versagt.“ Nehmen Sie doch noch Ihre eigenen
Worte zur Kenntnis! Denken Sie doch einmal an die
Zahlen über die Arzneimittelausgaben der einzelnen
Kassenärztlichen Vereinigungen! In Südbaden sind es
328 DM, in Nordbaden 399 DM und im Saarland 450
DM, jeweils umgerechnet je Einwohner. Sie können
doch nicht so tun, als ob immer alles medizinisch bedingt sei!
({16})
- Verehrter Herr Lohmann, erinnern Sie sich nicht an
Ihre eigenen Gesetze?
({17})
- Die Lehren daraus gezogen?
Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal:
Die Versicherten müssen die Gewähr haben, daß sich
die notwendige medizinische Behandlung ausschließlich
am ausreichenden und zweckmäßigen Bedarf orientiert.
Sie dürfen nicht das Gefühl haben, es gäbe da noch etwas Besseres oder Ihre Versorgung sei nicht ausreichend
gewährleistet.
Ob Sie das wollen oder nicht: Wenn ökonomische
Anreize in der Krankenversicherung so gesetzt werden,
daß es für mehr Geld mehr medizinische Versorgungsleistungen gibt, dann führt dies zu der gesundheitspolitisch fatalen Konsequenz, daß bessere Gesundheitsleistungen nur mit mehr Geld zu kaufen sind. In diese Gefahr begeben Sie sich, wenn Sie die gesetzliche Krankenversicherung auf das Gleis der Kostenerstattung setzen wollen.
({18})
Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Wir sagen nein zu dem von Ihnen vorgeschlagenen Weg.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({19})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Gesetz
lese ich, Patientenschutz werde in den Mittelpunkt dieses Gesetzes gestellt. - Wenn ich mir aber überlege, wo
der Patientenschutz wirklich praktisch umgesetzt wird,
dann stelle ich fest: Es gibt keinen. Man nimmt dem Patienten das Recht, wie bisher zwischen Sachleistung und
Kostenerstattung zu entscheiden.
({0})
Das Erstaunliche bei dieser Gesetzgebung ist, daß
man nach den unterschiedlichen Versicherungsgruppen,
die es im gesetzlichen System gibt, differenziert. Die einen, die freiwillig Versicherten, dürfen wählen. Warum,
weshalb, wieso, kann mir mit sachlichen Argumenten
keiner erklären. Sind sie intelligenter, sind sie kapitalkräftiger, oder was steckt dahinter? Sie also dürfen weiter Kostenerstattungen in Anspruch nehmen.
({1})
Dann gibt es einen weiteren Personenkreis, die
Pflichtversicherten, die das Wahlrecht schon bisher
hatten, weil es klug und vernünftig war. Den Hinzukommenden dagegen wird das Wahlrecht untersagt.
Diese Logik kann im Grunde genommen keiner nachvollziehen. Dies wird auf Dauer nicht haltbar sein. Ich
sage Ihnen heute voraus: Da wird es Verfassungsklage
geben. Dies kann man in diesem System nur unterstützen.
({2})
Auch der nächste Punkt ist hochinteressant. Ein freiwillig Versicherter darf im europäischen Ausland in Zukunft Leistungen in Anspruch nehmen, wie die Frau Ministerin sagte. Aber demjenigen, der im Rahmen der Kostenerstattung diese Leistungen als Pflichtversicherter in
Anspruch nehmen möchte, ist dies verboten. Ich möchte
wirklich wissen, wo Sie die Unterscheidung treffen,
wenn ein Versicherter Urlaub im Ausland macht und
dort Leistungen in Anspruch nimmt. Wollen Sie den
Pflichtversicherten gegen die Wand laufen lassen?
Sie dulden doch schon heute, daß Pflichtversicherte
solche Leistungen in Anspruch nehmen, sogar bei
Nichtvertragsärzten. Dies wird von den gesetzlichen
Krankenkassen bezahlt - und Sie unternehmen nichts.
Wenn Sie konsequent sind, müssen Sie hier einschreiten
und klipp und klar sagen, welche Leistungen in diesem
Zusammenhang in Anspruch genommen werden dürfen.
Nein, Sie sind zu feige, in dieser Frage etwas zu unternehmen.
Wir müssen überlegen, wie wir den Gesundheitssektor in den europäischen Markt einbeziehen können. Sie
können einen Markt mit einem Volumen von 500 Milliarden DM nicht abschotten.
({3})
Diesen Weg werden Sie nicht durchhalten.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch eines sagen: Ich
bedauere sehr, daß Sie von der SPD und den Grünen unseren Vorschlag, die Vergütung in den neuen Bundesländern besonders zu verbessern, abgelehnt haben. Sie
werden sehen: Die Entwicklung der Krankenhäuser und
anderer medizinischer Einrichtungen in den neuen
Bundesländern wird in den nächsten Wochen - über
die Sommerpause - äußerst negativ sein. Diese negative
Entwicklung werden Sie verantworten müssen. Denn Sie
greifen verantwortungslos in den Arbeitsmarkt ein und
behindern so eine vernünftige medizinische Versorgung.
Wir werden den Bürgern gerade in den neuen Bundesländern klarmachen, daß Sie Ihrer Verantwortung nicht
nachkommen.
({4})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Herren von der Opposition!
({0})
- Ich nehme Sie gerne dazu, liebe Frau Bergmann-Pohl.
Aber ich wollte gerne die beiden ansprechen, die hier
geredet haben. - Ich möchte gern am Anfang einmal die
Frage stellen, warum Sie ausgerechnet die Kostenerstattung hier zum Thema machen.
({1})
Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, über die wir
diskutieren könnten, was wir gerade im Zusammenhang
mit der Gesundheitsstrukturreform machen, zum Beispiel, welche Verbesserungen es für Patientinnen und
Patienten geben könnte.
({2})
Da hätten wir eine breite Diskussionsbasis, aber Sie suchen sich ausgerechnet die Kostenerstattung aus. Ich
vermute, daß Sie sie sich deshalb aussuchen, weil Sie
der Meinung sind, daß sich davon die Leistungserbringer etwas versprechen.
({3})
Da geht es eben nicht um die Patientinnen und Patienten, sondern um die Leistungserbringer. - Wir haben an
einer Stelle nachgebessert, an der es um die Patientinnen
und Patienten geht, und dazu werde ich nachher noch
etwas sagen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen haben im letzten Jahr mit
dem Solidaritätsstärkungsgesetz dafür gesorgt, daß einige der dramatischsten Verschlechterungen im Gesundheitsbereich zurückgenommen worden sind. Ich
erinnere nur an die Versorgung der Jungen mit Zahnersatz, wo Sie nach dem Motto „Sollen sie doch Zähne
putzen“ vom solidarischen Prinzip Abschied genommen
haben.
({4})
Genau das betrifft auch die Kostenerstattung. Der Solidaritätsgedanke in der gesetzlichen Krankenversicherung wird damit unterlaufen.
Die neue Regierung hat sich mit dem Vorschaltgesetz
eindeutig dazu bekannt,
({5})
mit dieser Art von Zweiklassenmedizin Schluß zu machen. Solidarität darf keine Einbahnstraße sein, meine
Damen und Herren. Das sehen wir ja heute in vielen Bereichen. Dazu haben wir heute schon eine ganze Reihe
von Debatten geführt.
Ich erinnere an die von Ihnen an die Wand gefahrene
Haushaltspolitik Ihrer Regierung, die Sie auf Kosten der
Jungen gemacht haben. Uns jetzt Vorwürfe zu machen,
weil wir das Ruder gerade noch einmal herumgerissen
haben, ist so lächerlich wie unsolide.
({6})
Sie haben ein Gesundheitssystem hinterlassen, das
eben nicht Patientinnen und Patienten in ihrer eigenen
Verantwortung und Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellt,
({7})
sondern an den Leistungen herumwerkelte und kürzte,
um bestimmte Leistungsabgänger vor Veränderungen zu
schützen.
({8})
Oder sehen wir uns an, was Sie uns in der Familienpolitik hinterlassen haben. Da ist das, was ich zum
Zahnersatz sagte, doch nur symptomatisch. Das VerfasDr. Dieter Thomae
sungsgericht hat es Ihnen ja am Ende auch ins Stammbuch geschrieben. Die Familien waren die Gekniffenen,
weil Sie Lobbypolitik für andere gemacht haben.
Oder sehen wir uns an, wie Sie den Solidaritätsgedanken bei der Altersvorsorge ausgehebelt haben. Nach
dem Motto: Hauptsache, die Rente der Generation von
Herrn Blüm ist noch sicher,
({9})
haben Sie die Jungen gezwungen, in eine Kasse einzuzahlen, bei der sie heute schon ahnen, daß sie, wenn es
so weitergegangen wäre, nichts Adäquates mehr herausbekommen könnten.
Aber kommen wir zurück zur Kostenerstattung. Meine Bemerkungen zu den anderen Bereichen haben untermauert, daß das Solidaritätsprinzip nicht nur in der
gesetzlichen Krankenversicherung, sondern insgesamt
zur Disposition stand. Hier haben wir an einer Stelle gesagt: Nein, so geht es nicht mehr weiter. Die Auswirkungen hat Ihnen Herr Kirschner sehr gut an Hand von
Zahlen dargelegt. Wir wollen Ausgleich und Klarheit.
({10})
Mit dem jetzt bevorstehenden Entwurf zur Strukturreform 2000 werden wir dafür sorgen, daß auch in Zukunft mit einem modernen Leistungskatalog notwendige
und angemessene Versorgung abgesichert ist.
Es geht Ihnen doch gar nicht um Selbstbestimmung.
Worum geht es Ihnen denn? - Es geht Ihnen um freiwilligen Verzicht auf Leistungen. Selbstbestimmung - ja;
dazu stehen wir, das sagen wir, aber die Verunsicherung
der Patientinnen und Patienten lehnen wir ab. Das ist mit
uns nicht zu machen.
({11})
Schon die Tatsache, daß Sie mit diesem eingeführten
Prinzip für einen dramatischen Einbruch bei den zahnärztlichen Leistungen gesorgt haben, daß man doch tatsächlich befürchten mußte, künftig Arme am lückenhaften Lächeln zu erkennen, macht den von uns beschrittenen Weg nachvollziehbar und richtig.
({12})
Es geht eben nicht um Kosten, sondern um umfassende Versorgung und eben auch um die Unterstützung
der Patientinnen und Patienten durch die Kassen. Qualität und Wirtschaftlichkeit - das verlangen wir zu
Recht.
({13})
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Argument sagen,
die Patientenrechte würden durch dieses Instrument gestärkt. Meine Damen und Herren von der Opposition, da
können Sie uns wirklich nichts vormachen. Schon im
vorliegenden Entwurf zur Strukturreform gibt es eine
ganze Reihe neuer und sinnvoller Maßnahmen, um die
Rechte von Patientinnen und Patienten zu stärken.
({14})
Ich erinnere an die geplanten neuen Möglichkeiten der
Patientenberatung, die tatsächlich dazu führt, daß man
Wahlmöglichkeiten kennt und in Anspruch nehmen
kann,
({15})
oder an die Unterstützung von Selbsthilfegruppen oder
an die Verpflichtung der Kassen, den Versicherten bei
Behandlungsfehlern beizustehen. Das alles hätten Sie
machen können, relativ unspektakulär, sogar kostenneutral. Sie haben das nicht gemacht. Sie standen auf der
Seite der Leistungserbringer und haben die Interessen
der Patientinnen und Patienten aus den Augen verloren.
Hier brauchen wir eine Kehrtwende, und diese werden
wir einleiten.
({16})
Daß wir jenen, die das von Ihnen eingeführte Element
genutzt haben, dies auch weiter ermöglichen, ist im Sinne des Vertrauensschutzes richtig.
({17})
Wir werden sehen, ob der Personenkreis nach den jetzt
von uns vorgelegten Gesetzesänderungen auch in Zukunft davon noch Gebrauch machen will. Meine Prognose ist: Der Anteil dieser Personen wird immer kleiner werden, weil sich die Leistungen insgesamt nachvollziehbar verbessern werden.
({18})
Meine Damen und Herren, wir haben heute viel über
sozialen Ausgleich gesprochen.
({19})
Zurück zur Solidarität! Das will diese Regierung. Dafür
stehen wir, auch in diesem Detail. Deswegen lehnen wir
Ihr Zurück zu den alten Wegen ab.
Vielen Dank.
({20})
Es spricht jetzt für
die PDS-Fraktion die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion soll die mit dem
Vorschaltgesetz abgeschaffte Möglichkeit der Kostenerstattung wieder eingeführt werden, und zwar als
Wahlmöglichkeit für alle Pflichtversicherten in der
GKV.
Dies ist nach unserer Auffassung nicht richtig, da das
Sachleistungsprinzip in einer sozialen Krankenversicherung unverzichtbar ist.
({0})
Gemeinsam mit der solidarischen und paritätischen Finanzierung bildet es bekanntlich die Grundlage dafür, daß die Versicherten entsprechend ihrem gesundheitlichen Bedarf und nicht nach ihrer individuellen Zahlungsfähigkeit medizinische Hilfe erhalten können.
Nun ist es wahr - keiner will es leugnen -, daß freiwillig Versicherte Kostenerstattung wählen können,
({1})
auch wenn verständlicherweise nicht so viele davon Gebrauch machen, wie Sie auf der rechten Seite uns hier
vorgaukeln wollen.
({2})
Diese von den Konservativen und Liberalen nun lebhaft beklagte Gerechtigkeitslücke zuungunsten der
Pflichtversicherten erscheint allerdings tolerabel, wenn
man sich vor Augen hält, daß das mit Abstand wichtigste Gerechtigkeitselement in der gesetzlichen Krankenversicherung in einem gut funktionierenden Solidarausgleich besteht.
Ich meine, alles, was diesen Solidarausgleich stärkt dazu gehört auch, daß die GKV möglichst viele freiwillig Versicherte hat; ich bin selber auch freiwillig versichert, weil ich das Solidarprinzip für mich als richtig erachte -,
({3})
fördert Gerechtigkeit weitaus mehr als eine sogenannte
Wahlfreiheit, die für viele Pflichtversicherte in der GKV
eine Scheinwahlmöglichkeit ist, weil sie die Kosten dafür gar nicht aufbringen können.
({4})
Damit schafft man wieder eine soziale Ausgrenzung.
({5})
- Ja, das ist so. Ich gehe mit Ihnen in den neuen Bundesländern in die Praxen. Dort sitzen Leute, die teilweise nicht einmal den prozentualen Anteil ihrer Zahnpflege bezahlen können und sich kein Gebiß machen lassen
können.
({6})
- Okay, wir haben eine Härtefallregelung. Aber das ist
doch egal.
Außerdem besteht die Wahlfreiheit oft nur darin, daß
eine qualitativ gleiche Behandlung mit zusätzlichen Kosten für den Einzelnen verbunden ist und gar keine bessere Qualität herauskommt.
Lieber Kollege Thomae, es ist für mich auch überhaupt nicht überzeugend, die Einführung von Kostenerstattung in der GKV mit den bekannten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs begründen zu wollen.
({7})
So wie Sie Sachverständige angeführt haben, nenne ich
Ihnen ebenfalls einen namhaften Sachverständigen, der
in der Anhörung deutlich gemacht hat, daß man dieses
Problem mit den ausländischen Leistungserbringern
ebensogut über ein Sachleistungsprinzip klären kann. Er
hat es nicht nur für möglich, sondern regelrecht für wünschenswert erachtet, damit eine gesetzliche solidarische
Grundlage besteht.
({8})
- Hier geht es jetzt darum, daß es möglich ist. Es kommt
dann darauf an, wie in den Abkommen usw. reagiert
wird. Fakt ist: Dieser Weg ist auch gangbar.
Sie sagen, daß die Kostenerstattung richtig war. Ich
dagegen behaupte: Es war einer der Fehler in der vorhergehenden Gesundheitsstrukturreform, daß diese
Möglichkeit überhaupt eröffnet worden ist.
({9})
Wir bleiben dabei: Die Gewährung medizinischer
Behandlung als Sachleistung ist nach unserer Meinung
in einer solidarischen Krankenversicherung nur konsequent. Ich hoffe, daß dies auch in Zukunft nicht verändert wird. Daraus ergibt sich, daß wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Ich sage nicht einmal
„leider nicht zustimmen können“, denn ich hoffe, daß
diese Gedanken niemals in der Gesundheitspolitik Fuß
fassen können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Zöller,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die
Debatte verfolgt hat, muß man sich fragen: Zu welchem
Tagesordnungspunkt sind eigentlich die Redebeiträge
abgeliefert worden?
Es geht hier nicht um die Einführung der Kostenerstattung im Gesundheitswesen. Es geht einzig und allein
darum, daß wir sagen: Wir wollen für die Versicherten
wieder Wahlfreiheit einführen. Wer kann eigentlich etwas gegen die Wahlfreiheit von Versicherten haben?
({0})
Im übrigen müssen Sie sich schon die Frage gefallen
lassen: Wie wollen Sie es mit der Gleichbehandlung der
Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung
halten, wenn Sie den Besserverdienenden mehr Rechte
geben und den weniger Verdienenden weniger Rechte?
Was hat das noch mit Gleichbehandlung in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tun?
Ein weiteres Argument, das Sie vielleicht noch gar
nicht erkannt haben: Sie sagen, mit der Ablehnung unseres Vorschlages würden Sie die gesetzliche Krankenversicherung stärken. Genau das Gegenteil werden Sie tun.
Die Leute, die freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind und jetzt nicht mehr die Möglichkeit haben, Kostenerstattung zu wählen, werden es
sich sehr genau überlegen, ob sie nicht in die private
Krankenversicherung abwandern. Das bedeutet: Wenn
Sie heute unseren Gesetzentwurf ablehnen, schwächen
Sie zum einen die gesetzliche Krankenversicherung und
führen zum anderen eine Ungleichbehandlung zwischen
Besserverdienenden und weniger Verdienenden ein. Wie
die Sozialdemokraten dies mit ihren Grundsätzen vereinbaren wollen, bleibt deren Geheimnis. Es ist aber
eine Fortführung Ihrer Regel: Überschrift - Verbessern
der Patientenrechte - hervorragend, Inhalt gerade das
Gegenteil und deshalb schlecht. - Stimmen Sie unserem
Vorschlag zu.
({1})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksache
14/886. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf
Drucksache 14/1216, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse nun über den Gesetzentwurf der CDU/CSU
auf Drucksache 14/886 abstimmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung.
Ich rufe nun den Tagesordungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Hans-Peter Repnik, Ilse Aigner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung anläßlich der Hochwasserkatastrophe Pfingsten 1999 in Süddeutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Hildebrecht Braun ({1}), Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung anläßlich der Hochwasserkatastophe in Süddeutschland
- Drucksachen 14/1144, 14/1152, 14/1244 Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Max Stadler
Petra Pau
Es liegt je ein Änderungsantrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe
Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion der
CDU/CSU hat die Kollegin Ilse Aigner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen! Vor ziemlich genau einem
Monat kam es in Süddeutschland zur größten Hochwasserkatastrophe der letzten hundert Jahre. Es kam zu massiven Schäden in Baden-Württemberg und auch in Bayern. Menschen starben, fast 20 000 Anwesen sind geschädigt, Gewerbebetriebe und Haushalte sind von
Überschwemmung betroffen. Zahlreiche Verkehrswege
wurden erheblich beschädigt, das Tourismusgewerbe
wurde geschädigt usw.
In schneller und unbürokratischer - und ich möchte
sagen: in geradezu vorbildlicher - Weise hat die Bayerische Staatsregierung ein umfassendes Hilfsprogramm in
Höhe von über 200 Millionen DM aufgelegt.
({0})
Darüber hinaus läuft eine landesweite Spendenaktion,
die allein bis jetzt mehr als 3,6 Millionen DM erbracht
hat.
Die gewaltigen Schäden in Süddeutschland haben eine Dimension erreicht, mit der man die Länder nicht
mehr allein lassen kann und die auch die Hilfen des
Bundes erfordern. Vor allem in Bayerisch Schwaben, an
der Donau und am Bodensee, sind die Auswirkungen
verheerend. Auch in Baden-Württemberg wird die Gesamtschadenssumme bereits jetzt in dreistelliger Millionenhöhe geschätzt. Der Schadensumfang ist erheblich
größer als das, was nach dem Oder-Hochwasser als nationale Katastrophe galt, eine Welle der Hilfsbereitschaft
auslöste und den Bund zu einer massiven Hilfeleistung
veranlaßte. Das Land Brandenburg hatte damals selbst
Landesmittel in Höhe von 145 Millionen Mark aufgebracht.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD und
der Grünen, wir erkennen an, daß uns auf Grund unseres
Antrages und des Antrages der F.D.P. und auch durch
Ihre Unterstützung aus Bayern mittlerweile in einigen
Punkten entgegengekommen worden ist. In anderen
Punkten sind wir uns allerdings noch nicht ganz einig
geworden. Deshalb stellen wir unsere Anträge erneut als
Änderungsanträge zu dieser Beschlußempfehlung. Wir
wollen von Ihnen - ich habe das auch in der letzten Debatte schon angesprochen - vergleichbare Mittel wie bei
der Oder-Katastrophe im November 1997 erhalten.
({1})
Die Landesregierung Brandenburg hatte damals, im
November 1997, die entstandenen Schäden und Aufwendungen auf rund 647 Millionen DM beziffert. Der
Bund hat dort mit 20 Millionen DM als Soforthilfe und
mit großzügigen Hilfen zur Schadensbewältigung beigetragen. Bei gleichem Engagement wie beim OderHochwasser, aber auch nach den Prinzipien von Fairneß
und Gerechtigkeit müßten den in Süddeutschland Geschädigten unbürokratisch rund 50 Millionen DM als
Soforthilfe zur Verfügung gestellt werden.
({2})
Notwendige Hilfen wie beim Oder-Hochwasser wären
Soforthilfen für die Landwirtschaft und gewerbesteuerliche Erleichterungen, Sondermittel zum Wiederaufbau
geschädigter Verkehrswege.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in der letzten
Debatte scheint es ein Mißverständnis gegeben zu haben. Deshalb will ich noch einmal konkret ausführen,
um was es bei den Verkehrswegen geht. Sie haben ausgeführt - ich glaube, Herr Kollege Kubatschka war es -,
daß selbstverständlich die Bundesstraßen aus Bundesmitteln wiederhergestellt werden. Das ist schön und gut.
Es ist nur die Frage, aus welchem Topf es kommt.
Kommt es aus den Pauschalmitteln, die jedes Jahr den
Ländern vom Bund zur Verfügung gestellt werden und
die eh schon ziemlich eng bemessen sind, oder wird
hierfür ein Sonderposten zur Verfügung gestellt? Nur
darum geht es. Entweder wollten Sie es nicht verstehen,
oder Sie haben es nicht verstanden. Ich hoffe, ich konnte
dieses Mißverständnis jetzt aufklären, und wir bekommen Mittel.
({3})
All diese von uns geforderten Maßnahmen, die ich
zuletzt genannt habe, lehnen Sie mit Ihrer Beschlußempfehlung ab, und das können wir natürlich so nicht mittragen.
Im Unterschied zur Regierung Kohl beim OderHochwasser 1997 hat sich beim Pfingst-Hochwasser
1999 zunächst niemand aus der Bundesregierung den
entstandenen Schaden überhaupt ansehen wollen, nicht
einmal der über die bayerische Landesliste gewählte
Bundesinnenminister Schily. Ich verzichte jetzt darauf,
die selbst von SPD-Abgeordneten zu Recht als „saudumme Bemerkung“ klassifizierte Äußerung des Regierungssprechers Heye erneut zu zitieren, da sich Herr
Hombach ja mittlerweile Gott sei Dank dafür entschuldigt und das zurückgenommen hat.
Frau Kollegin Aigner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Vom Herrn Kollegen Barthel selbstverständlich.
Frau Kollegin
Aigner, Sie laufen in der Öffentlichkeit herum - ({0})
- Warten Sie halt, bis ich den Satz zu Ende habe! Warum sind Sie denn so aufgeregt? - Sie sind mit der Behauptung herumgelaufen, man setze sich dafür ein, daß
zusätzliche Mittel für den Straßenbau zur Verfügung gestellt werden. Damit wird in der Öffentlichkeit Reklame
gemacht. Sie haben es auch jetzt noch einmal erwähnt.
Das ist ja schön und gut, und ich will es jetzt auch nicht
hinterfragen. Ich will Sie nur einmal fragen, wo in Ihrem
Antrag, in welchem Ausschuß und bei welchem Anlaß
Sie in diesem Hause eine konkrete Anforderung in dieser Richtung gestellt haben und inwiefern sich auch die
Bayerische Staatsregierung in diesem Punkt verwendet
hat, die ja mit der Bundesregierung über all das gesprochen hat. Ich will also nur einmal wissen, woher die unterschiedliche Sprachregelung in diesem Haus und in der
Öffentlichkeit kommt und was tatsächlich hier die Anliegen sind. Denn sonst kann man sagen, es wird halt
versucht, aus dem Hochwasser politisches Kapital zu
schlagen, aber das hilft niemandem etwas.
Ich kann diese Passage
jetzt nicht so auf einen Schlag finden, aber das ist inbegriffen, weil nämlich auch bei der Oder-Katastrophe
Mittel für den Verkehrswegebau zur Verfügung gestellt
worden sind. Deshalb ist das inbegriffen, ganz einfach!
({0})
Ich möchte darauf hinweisen, daß Herr Minister
Hombach erst am 18./19. Juni in die Region gekommen
ist und dann gemeinsam mit dem Minister Faltlhauser
beschlossen hat, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die
jetzt klärt, was man tun kann.
({1})
- Ich weiß nicht, ob er geflüchtet ist. Ich weiß auch
nicht: Ist er jetzt noch Minister, oder ist er nicht mehr
Minister?
({2})
Das entzieht sich momentan meiner Kenntnis. Es ist hier
auch nicht relevant, ob er noch Minister ist oder nicht.
Er ist wohl vom Hochwasserbeauftragten zu einem anderen Beauftragten geworden.
Auf jeden Fall bleibt die Frage bestehen, warum die
Arbeitsgruppe nicht schon vor vier Wochen eingesetzt
worden ist. Die Schäden haben, so glaube ich, auf der
Hand gelegen. Die hat man sehen können. Man hätte
schon vor vier Wochen nach Mitteln im Haushalt suchen
können. Wir hätten schon heute konkret über eine Lösung diskutieren können. Jetzt ist diese Gelegenheit
nicht mehr gegeben, weil wir vor der Sommerpause
nicht mehr genug Zeit dafür haben. Das bedauere ich
sehr. Ich frage mich, ob das nicht mit Taktik verbunden
ist. Ich hoffe es nicht.
Deshalb fordere ich Sie abschließend auf, den bayerischen und baden-württembergischen Bürgern, die nichts
für diese Katastrophe können, die gleichen Mittel und
Soforthilfen zur Verfügung zu stellen, wie es beim
Oder-Hochwasser der Fall war.
({3})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Harald Friese.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Da drei Anträge zu diesem
Thema vorliegen und nachdem in den Ausschüssen
kontrovers entschieden wurde, gehe ich davon aus, daß
wir heute eine kontroverse Abstimmung haben werden.
Aber daß jetzt, nachdem wir darüber schon vor einer
Woche hier im Hause beraten haben, wieder die Aussage von Herrn Heye zitiert wurde, ist sinnlos.
({0})
Er hat sich doch für seine Aussage entschuldigt. Wir
sind uns ja einig, daß diese Äußerung deplaziert war.
Vor einer Woche wurde auch gesagt, daß es sicher besser gewesen wäre, wenn die Bundesregierung nicht erst
vor einer Woche, sondern früher einen Besuch im Katastrophengebiet abgestattet hätte. Es nützt nichts, wenn
wir diese Dinge ständig aufwärmen.
Es geht doch im Prinzip darum, ein Konzept zu entwickeln und auf den Tisch zu legen, wie diesen Menschen, die in Bayern und in Baden-Württemberg von der
Hochwasserkatastrophe betroffen sind, effektiv geholfen
werden kann. Dies muß das Ziel unseres politischen
Handelns sein und nicht das Prinzip, nach hinten zu
schauen und über Dinge zu diskutieren, die die Vergangenheit betreffen.
({1})
Dieses Hochwasser war in seinen Auswirkungen
schlimmer als das Oder-Hochwasser. Das ist richtig. Die
Schäden sind größer. Auch das ist richtig. Wir sind uns,
so glaube ich, darüber einig, daß der Bund verpflichtet
ist, ergänzende Hilfen zu leisten. Dies hat die Bundesregierung auch getan: Die Bundesregierung hat die Bundeswehr eingesetzt. Die Bundesregierung hat den Bundesgrenzschutz und das THW eingesetzt. Diese Institutionen waren im Einsatz zur Rettung von Menschen, zur
Sicherung von Brücken und Fähren sowie zur logistischen Unterstützung der anderen Rettungsdienstorganisationen. Allein das THW hat über 7 000 Helfertage erbracht.
Ich möchte hier eines noch einmal feststellen - das
sollten wir gemeinsam betonen -: Es ist angemessen,
den Helfern und Angehörigen der genannten Institutionen, aber auch den Angehörigen der freiwilligen Feuerwehren, der Berufsfeuerwehren, der DLRG, der Polizei,
der anderen Rettungsdienstorganisationen und auch den
Mitarbeitern der Kommunalverwaltungen der Städte, der
Gemeinden und der Kreise zu danken.
({2})
Ich möchte eindeutig dem Gerücht widersprechen,
das bei Ihnen, Frau Kollegin Aigner, wieder unterschwellig auftauchte, daß der Bund nicht geholfen habe.
Der Bund hat durch seine Hilfe bei der Katastrophenbekämpfung unmittelbar und sofort geholfen, und die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat nach Pfingsten, Ende
Mai dieses Jahres, einen Kreditrahmen von 200 Millionen DM aufgelegt, um Aufbauhilfe leisten zu können.
Dies ist geschehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich.
Herr Friese, wie bewerten Sie denn die Tatsache, daß die Bundeswehr vorgestern an die Stadt Immenstadt eine Rechnung für ihren
Hilfseinsatz gestellt hat
({0})
und, Herr Stiegler, daß bis heute, obwohl ich dazu eine
Anfrage gestellt habe und ich Bundesverteidigungsminister Scharping schriftlich zu einer Entscheidung aufgefordert habe, keine Entscheidung der Bundesregierung
({1})
über einen kostenfreien Einsatz der Hilfskräfte zur
Schadensbewältigung nach dem Katastrophenfall vorliegt, wie dies beim Oder-Hochwasser sechs Wochen
später zur Bewältigung der Katastrophe selbstverständlich der Fall war?
({2})
- Bis heute liegt keine Entscheidung vor.
Herr Kollege, ich kann den
Zuruf des Kollegen Stiegler aufnehmen: Sie sind tatsächlich nicht auf dem neuesten Stand. Die Bundesregierung wird die Kosten für den Einsatz der Bundeswehr, des Bundesgrenzschutzes und des THW nicht in
Rechnung stellen. Dies können Sie als verbindliche
Aussage zur Kenntnis nehmen.
({0})
Ich habe den Eindruck, daß Sie das, was geschehen ist,
gar nicht als einen Hilfseinsatz der Bundesregierung
bewerten.
({1})
Der bayerische Staatsminister der Finanzen, Herr Faltlhauser, hat am 28. Mai in einem Schreiben an den Bundesfinanzminister erklärt, daß er für die wichtige Hilfe
durch den Bund danke, und zudem festgestellt, daß diese
Hilfe Anerkennung verdiene.
({2})
Ich habe das Gefühl, der bayerische Staatsminister der
Finanzen ist viel weiter als Sie. Sie haben noch gar nicht
erkannt, was da geschehen ist.
({3})
Herr Faltlhauser hat noch etwas erkannt: Hochwasserschutz und Katastrophenhilfe sind Aufgaben der
Länder. Dies will weder die Bayerische Staatsregierung
noch die baden-württembergische Landesregierung ändern. Auch wir wollen das nicht ändern, und ich glaube,
Sie auch nicht.
({4})
Es ist aber unbestritten, daß der Bund ergänzende Hilfen
leisten kann und leisten will,
({5})
wenn dies erforderlich und notwendig ist. Dies hat er
getan.
Wir sind der Meinung, daß der Bund noch etwas
mehr tun muß. Deshalb haben wir beantragt, daß die
Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau für fünf
Jahre zins- und tilgungsfrei gewährt werden. Hier unterscheidet sich unsere Position wesentlich von Ihrer. Es
führt nämlich nicht weiter, die Vereinbarungen, die angesichts der Katastrophe beim Oder-Hochwasser getroffen wurden, schematisch auf Bayern und BadenWürttemberg zu übertragen.
({6})
- Ich erkläre Ihnen sofort, warum: Die Voraussetzungen
sind andere.
Erstens. Wenn der Bund prüft, ob Gelder zur Verfügung gestellt werden sollen - dies muß er tun, wenn er
dies freiwillig tut -, muß er auch die finanzielle Leistungsfähigkeit des Bundeslandes berücksichtigen.
({7})
Ich glaube, daß dies richtig ist. Es geht schließlich um
unsere Steuergelder. Wenn ein Bundesland finanziell
leistungsfähiger ist als zum Beispiel Brandenburg, dann
ist es gerechtfertigt
({8})
- Sekunde! -, daß die Bundesmittel in diesem Fall geringer ausfallen.
Zweitens. Die Lage in Baden-Württemberg ist komplett anders als in Brandenburg.
({9})
In Baden-Württemberg werden im Rahmen der Gebäudeversicherung auch Elementarschäden versichert. Deshalb hat die baden-württembergische Landesregierung
auch kein Hilfsprogramm aufgelegt. Deshalb besteht gar
nicht die Notwendigkeit von Soforthilfen. Und deshalb
ist es der richtige Weg, die Voraussetzungen für eine
Hilfe zur Selbsthilfe zu schaffen. Dies geschieht durch
das Kreditprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau.
({10})
- Herr Kollege, ganz ruhig bleiben!
In Bayern ist die Situation wieder anders. Hier sind
tatsächlich die Bürger und die Betriebe massiv betroffen; denn dort gibt es keine Elementarschadensversicherung.
({11})
Die Bayerische Staatsregierung hat aber dankenswerterund richtigerweise - das sage ich ausdrücklich - ein sehr
beeindruckendes, detailliertes und auch finanziell umfangreiches Hilfsprogramm aufgelegt. Das hat sie aus
ihrer Verantwortung für Hochwasserschutz und Katastrophenhilfe getan.
Deshalb ist das, was wir heute beantragen, sozusagen
die idealtypische Ergänzung zu dem, was die Bayerische
Staatsregierung getan hat,
({12})
nämlich die Stärkung der Hilfe zur Selbsthilfe, um den
Bürgern und auch den Betrieben, egal ob landwirtschaftlicher, gastronomischer oder gewerblicher Art, die
Chance zu geben, sich wieder in den Wirtschaftskreislauf einzuklinken, ihnen die Chance zu geben, sich selber zu helfen. Ich glaube, dies ist der richtige Weg.
({13})
Dazu gehören des weiteren Bürgschaften und die
Möglichkeit nachrangiger Kredite durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Ganz wichtig ist auch, daß sich
die Kommunen über das Infrastrukturprogramm der
Kreditanstalt für Wiederaufbau an diesem Hilfsprogramm beteiligen können. Daß hier auch steuerliche
Maßnahmen greifen, auch Stundungen und Aufschiebungen der Vollstreckungsmaßnahmen, brauche ich
nicht weiter auszuführen.
Dies aber ist der Unterschied zwischen uns: Mit unserem Antrag wird auf die besondere Situation in Bayern
und Baden-Württemberg reagiert. Es wird nicht pauschal und schematisch eine Hilfsmaßnahme, die beim
Oder-Hochwasser berechtigt war, auf diese Länder
übertragen.
({14})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige Anmerkungen zu den Punkten IV und V unseres Antrages machen.
Mit Punkt IV werden wir sicherlich noch Veränderungen im Rahmen des Haushaltsvollzugs bewirken
können. Es geht auch um Straßenbaumittel - das betrifft Kapitel 12 des Haushaltsplans -: Durch Vorabzuweisungen wird es möglich sein, Bundesstraßen früher
instandzusetzen. Zudem besteht die Möglichkeit, wie es
auch im Land Brandenburg der Fall war, daß aus der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“ übrigbleibende Haushaltsmittel
auf Maßnahmen für den Hochwasserschutz und den
Deichausbau übertragen werden können, wenn der
PLANAK, der sogenannte Planungsausschuß für Agrarstruktur und Küstenschutz, dem zustimmt. Im Fall Brandenburg ist dies geschehen. Die Länder sind an diesem
Ausschuß beteiligt. Ich gehe davon aus, daß sie dieser
Übertragung zustimmen werden.
Auch im Bereich der Landwirtschaft, bei den europäischen Richtlinien, gibt es erste Erfolge: Die Aussaatfristen wurden verlängert, und die EU verzichtet auf die
Rückzahlung von Beihilfen, wenn Flächen durch die
Hochwassereinwirkungen nicht mehr bewirtschaftet
werden können.
Sie sollten eines zur Kenntnis nehmen: Der bayerische Finanzminister ist auch in diesem Fall weiter
als Sie. Das ist das, was mich immer verblüfft. Ich zitiere ihn gerne. Herr Faltlhauser hat, jedenfalls nach der
„Süddeutschen Zeitung“ vom 21. Juni 1999, gesagt,
daß er mit den Zusagen des Herrn Ministers zufrieden
sei
({15})
-, der noch im Amt ist; das will ich Ihnen nur sagen,
damit es kein Mißverständnis gibt. Er hat abschließend
festgestellt:
Damit werden wir bis Anfang Juli eine gemeinsame
Basis für die Hilfestellungen des Bundes haben.
({16})
- Wenn Sie damit nicht zufrieden sind, dann ist das Ihr
Problem. Ich glaube, wenn der bayerische Staatsminister
der Finanzen bei der besonderen Eigenwilligkeit von
Bayern damit zufrieden ist, kann uns das in diesem Fall
als Maßstab genügen.
Vielen Dank.
({17})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt die Kollegin Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich gerade höre, wenn
wir mit dem Antrag nicht zufrieden seien, den Sie vorgelegt haben, sei das unser Problem, will ich Ihnen sagen: Das kann ganz schnell Ihr Problem werden, denn
die Menschen, die vom Hochwasser betroffen sind, werden die Rede, die Sie gehalten haben, nicht verstehen.
({0})
Ich bin froh, daß der Deutsche Bundestag es innerhalb der letzten Woche wenigstens geschafft hat, gemeinsam zu der Erkenntnis zu kommen, daß es nicht
sein kann, daß wir die Länder Baden-Württemberg und
Bayern mit diesen Fragestellungen, die sich auf Grund
der enormen Schadenshöhe ergeben, allein lassen. Das
ist wenigstens etwas. Aber allein der Zeitpunkt des Antrags, den Sie im Ausschuß eingereicht haben und der
offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt ist, zeigt, daß
überhaupt nicht erkannt worden ist, welche Dimensionen die Schäden zwischenzeitlich haben. Außerdem
zeigt sich, wenn man den Antrag und den Zeitpunkt seiner Einbringung betrachtet, daß die Opposition Sie wieder einmal hat zum Jagen tragen müssen.
({1})
Ich bin froh, daß wir angesichts des Unglücks der
Betroffenen die Debatte im Deutschen Bundestag nicht
über Wochen gestreckt haben und daß wir es wenigstens
gemeinsam geschafft haben, eine schnelle Beratung zu
erreichen, damit den Menschen vor Ort Antworten auf
die Frage gegeben werden können, was die Bundesregierung bereit ist an komplementären Hilfen für sie bereitzustellen. Ob das ausreichend ist oder nicht, diese
Entscheidung ist erst einmal wichtig.
Ich freue mich auch, daß Sie in Ihrem Antrag deutlich
klargestellt haben, daß die Kosten für den Einsatz von
THW, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr bei der Bekämpfung der Katastrophe und bei den Aufräumarbeiten
vom Bund getragen werden. Ich hoffe, daß Sie das auch
so durchziehen. Ich halte das für ein wichtiges Ergebnis;
denn wenn die Kommunen, die betroffen sind, auch diese Kosten noch übernehmen müßten, stünden einige
Kommunen vor dem finanziellen Ruin.
({2})
Das allerdings, was Sie für Landwirtschaft, Gewerbe
und Private an Hilfen anbieten, ist absolut unzureichend.
Es geht über zinsgünstige Kreditprogramme der KreditHarald Fiese
anstalt für Wiederaufbau nicht hinaus. Deswegen fordert die F.D.P. noch einmal, daß die vom Hochwasser
Betroffenen in Baden-Württemberg und Bayern schnelle
und unbürokratische Hilfe, vor allem dort, wo es um
existenzbedrohende Situationen geht, erhalten, und zwar
in Form von nicht zurückzahlbaren Zuschüssen.
Ich will Ihnen noch eines sagen. Wir fordern nicht
mehr und nicht weniger als das, was von der alten Bundesregierung beim Oder-Hochwasser an Unterstützung
gegeben wurde.
({3})
Wir verlangen schlichtweg eine Gleichbehandlung.
Deswegen ist es auch gerechtfertigt, daß wir das heute
noch einmal zur Abstimmung stellen.
Wenn Sie hier ausführen, Hilfe zur Selbsthilfe sei das
Wichtigste, ist das angesichts der Schadensausmaße und
angesichts der Existenzbedrohung für viele Landwirte,
für viele touristische Betriebe und auch für viele Private
am Bodensee schlicht ein Hohn.
({4})
Die Länder tun ihr möglichstes. Das Hochwasser in
Süddeutschland übersteigt allerdings die Schäden des
Oder-Hochwassers um ein Mehrfaches. Entgegen dem,
was Sie hier noch in der letzten Woche im Plenum behauptet haben, hat die Staatssekretärin Frau Probst gestern im Umweltausschuß deutlich erklärt, auch wenn
die Schadensbilanz noch nicht abgeschlossen sei, so
könne man doch feststellen, daß die Schäden in Süddeutschland durch das Hochwasser ein Mehrfaches dessen betragen, was das Oder-Hochwasser ausgemacht
hat. Deshalb sagen wir noch einmal, daß unsere Forderungen absolut gerechtfertigt sind.
Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Frau Kollegin, wie
bewerten Sie die Tatsache, daß sich das deutsche Parlament innerhalb von einer Woche das zweite Mal unter
großer Beteiligung mit aller Ernsthaftigkeit dieser Debatte stellt und um Lösungen und Hilfen für die betroffenen Bürger bemüht ist, während die Bundesregierung
heute genauso wie das letzte Mal nicht bereit ist, uns
eine Antwort zu geben? Die Regierungsbank ist genauso
verwaist, wie es die Rednerliste vermuten ließ.
({0})
Wie bewerten Sie die Tatsache, daß die Bundesregierung nicht bereit ist, dem Parlament eine offizielle Antwort zu den Maßnahmen, die jetzt eingeleitet werden
sollen, zu geben?
({1})
Herr Kollege, zunächst
möchte ich sagen: Die Regierungsbank ist Gott sei Dank
nicht ganz verwaist. Aber angesichts der Probleme, über
die wir diskutieren, ist sie völlig unzureichend besetzt.
({0})
Wir können in der Tat nicht mit einer Antwort der
Bundesregierung auf die Fragen, die wir stellen, rechnen. Wir können vor allen Dingen keine Antwort auf die
Frage erwarten, was die Bundesregierung beispielsweise
bei der Europäischen Kommission vorgetragen hat. Dort
ging es nämlich darum, für die Landwirte zu erreichen,
daß stillgelegte Ackerflächen ohne Rückforderung der
Direktzahlung mit überfluteten Flächen getauscht und
abgeerntet werden dürfen.
Frau Kollegin Homburger - Birgit Homburger ({0}): Ich antworte noch auf
die Frage.
Anschließend möchte
der Kollege Diller noch eine Zwischenfrage stellen.
Gerne, wenn ich mit der
Antwort auf die erste Frage fertig bin.
Wir haben vor allen Dingen auf die Frage, warum
immer noch kein Ergebnis erzielt worden ist, warum die
Landwirte immer noch auf unbürokratische Hilfe warten, obwohl es nur einer kleinen schriftlichen Erklärung
bedürfte, keine Antwort bekommen und werden auch
heute keine erhalten. Ich teile Ihre Meinung, daß das
nicht in Ordnung ist. Ich finde dieses Auftreten der
Bundesregierung schlichtweg peinlich.
({0})
Verehrte Frau Kollegin, wie erklären Sie, daß die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P.
im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages gestern ihre Anträge für erledigt erklärt
({0})
und darum gebeten haben, sich dem Koalitionsantrag
anschließen zu können? Diesem Antrag hat die Koalition natürlich gerne zugestimmt.
({1})
Ist das, was die Kollegin Aigner und Sie äußern, eine
Kritik an den Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktionen im Haushaltsausschuß?
({2})
Herr Kollege, ich beabsichtige nicht, die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. im Haushaltsausschuß
zu kritisieren. Ich möchte anmerken, daß der federführende Innenausschuß festgestellt hat, daß die Anträge
von F.D.P. und CDU/CSU nicht als erledigt angesehen
werden und daß wir Ihren Anträgen nicht zustimmen
können.
Ich möchte zum Schluß kommen. Ich bedaure die
fehlende Einsicht der Bundesregierung, daß die Hilfen
für die Menschen in Süddeutschland ebenso gestaltet
werden sollten wie seinerzeit beim Oder-Hochwasser.
Weil diese Einsicht fehlt, sehen wir uns gezwungen, unseren Antrag aufrechtzuerhalten. Wir werden nachher
über die Änderungsanträge abstimmen können.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege HansJosef Fell.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits in der letzten Woche hat mein Fraktionskollege Albert Schmidt die bündnisgrüne Position deutlich gemacht.
({0})
Wir nehmen das Ausmaß der Schäden sehr ernst und
wollen gemeinsam Hilfestellungen organisieren.
({1})
Auch ich will nochmals betonen, daß wir die bekannten Äußerungen des Regierungssprechers für unangemessen und ärgerlich halten. Die Kritik aus Bayern
daran war berechtigt. Dennoch hat die Bundesregierung
von Anfang an geholfen. Spätestens seit dem Besuch
von Herrn Hombach in Bayern, der sicherlich zu spät
kam,
({2})
ist klar, daß Süddeutschland in bezug auf die Hochwasserhilfe anderen Bundesländern gleichgestellt wird, die
ähnliche Katastrophen zu erleiden hatten.
Herr Kollege Dr. Müller, Sie hatten vorhin nach der
Immenstädter Rechnung gefragt. Es ist klar - ich habe
mich heute im Kanzleramt auch noch einmal rückversichert -, daß diese Rechnung irrtümlich herausgegangen
ist und inzwischen zurückgezogen wurde.
({3})
Damit ist klar dokumentiert, daß keine Rechnungen für
Bundeswehreinsätze und andere Hilfen an die Kommunen ausgestellt werden.
({4})
Es gibt - das wurde schon mehrfach betont - günstige
Kredite der KfW. Neu ist, daß diese Kredite nun so zugeschnitten werden, daß sie auch von den Betroffenen in
Anspruch genommen werden können. Dies war in der
Vergangenheit zum Beispiel in Brandenburg ein Problem. Die Informationsmaßnahmen über diese Kredite
werden verstärkt, so daß die Menschen auch erfahren,
wo sie diese Kredite bekommen und wie sie sie beantragen können. Die eingerichtete Arbeitsgruppe wird viel
für die Koordination zwischen Bonn, München und
Stuttgart leisten.
({5})
Klar ist auch, daß diese Hilfen nicht jedes Problem
lösen können. Daher möchte ich der Bundesregierung
eine Hilfsmaßnahme vorschlagen, die weiter als die bisher vorgeschlagenen Maßnahmen geht. Die grünen
Bundestagsabgeordneten aus Bayern haben heute einen
entsprechenden Brief an das Bundeskanzleramt geschickt. Darin schlagen wir eine direkte Hilfe für die
Heizungsanlagen der Geschädigten vor. Durch das
Hochwasser sind viele Ölheizungen zerstört worden.
Durch in das Hochwasser gelaufenes Heizöl wurden
schwerwiegende Umweltbelastungen verursacht. Im
Normalbetrieb fallen CO2-Emissionen an, die ursächlich
für den Treibhauseffekt sind. Darauf ist ja zum Teil auch
die Zunahme der außergewöhnlichen Regenfälle zurückzuführen. Die Heizungen müssen nun schnell erneuert werden. Gelingt es nun, ökologisch schädliche
Heizungen preisgünstig durch umweltfreundliche zu ersetzen, kann zugleich etwas für die Menschen und die
Umwelt getan werden. Es liegt also nahe, eine Soforthilfe für die Heizungserneuerung der Betroffenen mit dem
gleichzeitigen Einbau von umweltfreundlichen Heizungsanlagen zu verbinden.
({6})
Im ländlichen Bayern macht es großen Sinn, hier gezielt
den CO2-neutralen Brennstoff Holz einzusetzen.
Wir Grünen haben in dem oben erwähnten Brief das
Kanzleramt aufgefordert,
({7})
als Soforthilfe die Mittel unseres neuen Programms für
die Markteinführung von erneuerbaren Energien für die
Betroffenen aufzustocken. Vorgesehen sind dort unter
anderem Unterstützungen für den Einsatz moderner
Pellet-Heizungen. Wir schlagen vor, die vorgesehenen
Fördersätze für die Hochwassergeschädigten anzuheben.
Damit könnten die Geschädigten bald neue Heizungen
zu erschwinglichen Preisen installieren.
({8})
Selbstverständlich reichen auch diese Hilfen noch
nicht aus. Von daher möchte ich an dieser Stelle auf ein
grundsätzliches Problem hinweisen: Nach Aussagen der
Münchener Rück werden in Deutschland durch Naturkatastrophen jährlich Schäden in Höhe von 500 Millionen DM verursacht, die nicht durch Versicherungen abBirgit Homburger
gedeckt sind. Laut Aussagen der Klimaforscher ist eine
Zunahme dieser Schäden zu befürchten. Wer neueste
Nachrichten über die Oder erhalten hat, weiß, daß in
diesen Stunden der Oder eine neue Hochwasserwelle
droht. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, daß unsere
Aussagen bezüglich der Klimaveränderungen stimmen.
Öffentliche Haushalte geraten zunehmend an ihre
Grenzen, wenn es um den Ausgleich dieser Schäden
geht. Wir schlagen deshalb vor, einen bundesweiten
Elementarschadenfonds einzurichten, wie er in BadenWürttemberg bereits seit Jahrzehnten gute Dienste leistet.
({9})
Aus einem solchen Fonds könnten auch Vorsorgemaßnahmen wie Deichbauten finanziert werden. Ich rege an, diesen Elementarschadenfonds verursachergerecht zu finanzieren, zum Beispiel aus Abgaben auf Flächenversiegelung oder auf den Ausstoß von CO2 oder
anderen Klimagasen. Ein solcher Vorschlag muß natürlich noch detailgenauer formuliert werden. Die Geschädigten des nächsten Hochwassers, des nächsten Sturmes
oder der nächsten Sturmflut werden dankbar sein, wenn
ein solcher Elementarschadenfonds zur Verfügung steht.
Meine verehrten Damen und Herren von der Opposition, wir haben Ihre Anregungen sehr wohl aufgenommen und einen eigenen Antrag formuliert. Die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen nehmen das
Hochwasserproblem in Süddeutschland wirklich ernst.
Wir haben auch neue Vorschläge gemacht, die in der
Öffentlichkeit bisher nicht bekannt waren. Ich würde
mich freuen, wenn das gesamte Hohe Haus diese Vorschläge in einer zielführenden Diskussion aufgreifen
würde.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Daß der
Deutsche Bundestag erst heute, über vier Wochen nach
der Flutkatastrophe in Bayern, einen Antrag der Bundesregierung auf Unterstützung der Geschädigten zur Abstimmung vorgelegt bekommt, ist schlichtweg ein Skandal.
({0})
Kein Minister dieser Regierung hat sich bis zu der vergangenen Woche in den betroffenen Gebieten sehen lassen. Erst auf heftigstes Drängen seiner bayerischen Genossinnen und Genossen hat sich der ehemalige Kanzleramtsminister Hombach, nachdem er seine Gedanken
zu der neuen sozialdemokratischen Mitte verfaßt hatte,
trockenen Fußes nach Bayern aufgemacht und dort die
Lage schildern lassen. Herr Schily, mit bayerischen
Stimmen in den Bundestag gewählt und als Innenminister eigentlich zuständig in dieser Angelegenheit ist
schlichtweg weggetaucht. Obwohl ich nichts vom Katastrophen-Sightseeing von Politikerinnen und Politikern
halte, meine ich: Einige verständnisvolle Worte, werte
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, oder
die Ankündigung adäquater Hilfestellungen wären von
den Betroffenen bestimmt positiv aufgenommen worden.
({1})
Im übrigen: Hätte sich eine ähnliche Katastrophe in
Hannover ereignet, wäre dort die Leine oder in Wolfsburg der Mittellandkanal über die Ufer getreten, wäre
Kanzler Schröder einer der ersten vor Ort gewesen.
({2})
Solidarität ist keine Frage des Parteibuches. Die Bundesregierung hat mit ihrer Untätigkeit aber genau diesen
Eindruck erweckt. Sie hat die Betroffenen im Stich gelassen, weil ihr Sprecher meinte, die reichen Bayern
könnten sich allein helfen. Ich weiß, er hat es revidiert.
Das mag für die Spezis der CSU ja gelten; doch der
Landwirt an der Donau oder im Voralpenland wird sich
fragen, welcher Teufel die in Bonn geritten hat, einen
solchen Schmarren zu erzählen.
({3})
Wir sind der Meinung: Die Bundesregierung muß den
Geschädigten die gleiche Hilfe zukommen lassen wie
den Opfern der Flutkatastrophe an der Oder vor zwei
Jahren. Es macht keinen Unterschied, ob der Familie im
Oderbruch oder der Familie in Neustadt an der Donau
das Haus voll Wasser läuft. Beide haben den gleichen
Anspruch auf die Solidarität aller Verantwortlichen in
diesem Land.
Außerdem hat das ignorante Verhalten der Bundesregierung auch eine politische Bedeutung. Wir bekämpfen
die CSU nicht glaubwürdig ob ihrer unsolidarischen
Kritik am Länderfinanzausgleich oder ihrer erpresserischen Haltung gegenüber den neuen Bundesländern,
({4})
wenn wir den Menschen in Bayern konkrete Solidarität
versagen. Das ist ja geradezu eine Steilvorlage für die
CSU, die sie - so kenne ich die Spezis - in Zukunft des
öfteren aus der Tasche ziehen wird. Sie macht das schon
dauernd; man hört es ja.
Deshalb: Philosophieren Sie weniger über die Neue
Mitte. Wenden Sie sich den konkreten Problemen der
Menschen in diesem Land zu! Helfen Sie den Menschen
in den betroffenen Gebieten schnell und unbürokratisch!
({5})
Die PDS wird nach Durchsicht der vorliegenden Anträge den F.D.P.-Antrag unterstützen, weil er konkret
und schnell die notwendige Hilfe verspricht.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum zweitenmal innerhalb einer Woche debattieren wir im Deutschen Bundestag über die vom Pfingsthochwasser betroffenen Regionen in Süddeutschland. Ich bin davon
überzeugt, daß genau einen Monat nach der Hochwasserkatastrophe die Zeit der Worte nun beendet sein muß.
({0})
Die Menschen in den betroffenen Regionen erwarten zu
Recht Taten von der Politik in Kommunen, Land und
Bund.
Die vorläufige Bilanz mit Stand vom 18. Juni 1999
ergibt für den Freistaat Bayern Schäden in Höhe von
rund 1 Milliarde DM. In dieser Summe sind die Schäden
des am stärksten betroffenen Landkreises GarmischPartenkirchen aber noch gar nicht berücksichtigt.
In vorbildlicher Weise hat die Bayerische Staatsregierung ein Soforthilfeprogramm mit einem Gesamtvolumen von 200 Millionen DM Soforthilfe und weiteren
40 Millionen DM für Deichbaumaßnahmen aufgelegt.
Die Landesregierung von Baden-Württemberg wird dem
Beispiel der Bayerischen Staatsregierung folgen. Erste
Schätzungen gehen in Baden-Württemberg von einer
Schadensumme in dreistelliger Millionenhöhe aus. Die
genannten Zahlen belegen den dringenden Handlungsbedarf in dieser Frage. Meines Erachtens bedarf eine
Naturkatastrophe von solchem Ausmaß auch eines Aktes nationaler Solidarität.
Beim Oderhochwasser von 1997 gab es einen solchen
Akt nationaler Solidarität. Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat damals schnell und unbürokratisch mit
dem Bundesland Brandenburg eine Verwaltungsvereinbarung getroffen. Immerhin hat auch der Bundeskanzler
Dr. Kohl das Oderhochwasser zur Chefsache gemacht.
Er hat sogar seinen Urlaub unterbrochen und ist zu den
betroffenen Menschen gefahren.
({1})
Insofern ist es nur konsequent, wenn die CDU/CSUBundestagsfraktion ein vergleichbares finanzielles Engagement von der rotgrünen Bundesregierung einfordert. Für eine vergleichbare Lösung müßte die Bundesregierung also rund 50 Millionen DM zur Verfügung
stellen.
Meine Damen und Herren, grundsätzlich ist zu prüfen, ob ein nationaler Katastrophenfonds geschaffen
und eine nationale Katastrophenkommission mit Vertretern aus Bund und Ländern eingerichtet werden kann
und ob sie dazu beitragen kann, schneller und effektiver
auf Natur- und Umweltkatastrophen wie Sturmfluten,
Lawinenabgänge, Schneestürme und Hochwasser zu
reagieren. Mit etwas Phantasie könnte man einen solchen Nationalfonds aus den Einnahmen aus Sonderbriefmarken, Lotterien, Benefizveranstaltungen und Zuschüssen des Bundes und der Länder speisen.
Bei einer Bereisung der Arbeitsgruppe Tourismus der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf Einladung unserer
baden-württembergischen Kollegen Thomas Dörflinger
und Hans-Peter Repnik konnten wir uns Anfang Juni vor
Ort über die katastrophalen Auswirkungen des Hochwassers am Bodensee vor allem auf die Hotel- und
Gaststättenbranche und die Landwirtschaft informieren.
Die Umsatzeinbußen im Bereich des Tourismus gerade
auf den Inseln des Bodensees haben viele Unternehmer
unverschuldet in eine existentielle Notlage gebracht.
({2})
Eine anscheinend mangels Sachkenntnis falsche überregionale Medienberichterstattung sorgt zusätzlich dafür, daß auch weiterhin potentielle Bodenseeurlauber
von einer Reise abgehalten werden, obwohl die Inseln
gar nicht überflutet sind, der Zugang gewährleistet ist
und alle touristischen Angebote wie Hotels und Gaststätten ihre Dienstleistungen ohne Einschränkungen anbieten können. Allen Deutschlandurlaubern rufe ich zu:
Lassen Sie sich von der Medienberichterstattung nicht
verschrecken! Auch jetzt bietet der Bodensee Ihnen alle
Möglichkeiten für einen erholsamen Urlaub.
({3})
Um die entstandenen Schäden und Umsatzausfälle zu
minimieren, die betroffenen Betriebe zu erhalten und die
gefährdeten Arbeitsplätze zu sichern, ist jetzt schnelle,
direkte und unbürokratische Unterstützung notwendig.
Die vorliegende Beschlußempfehlung des Innenausschusses, die auf einem Änderungsantrag der rotgrünen
Regierungskoalition beruht, setzt auf Hilfe zur Selbsthilfe, zinsgünstige Kredite der KfW und Appelle zum Teilerlaß von Altkrediten an die Banken. Sie bleibt damit
weit hinter den Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion
zurück.
Herr Kollege,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Hans Georg Wagner?
({0})
- Das muß der Kollege schon selbst beantworten.
Nein, ich möchte meine Rede zu Ende führen.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Regierungskoalition, in der Beschlußempfehlung gehen Sie davon
aus, daß die Bundesregierung Hilfe leisten wird, appellieren an die Banken und fordern die Bundesregierung
auf, Verabredungen mit der EU zu treffen. Was die Hotel- und Gaststättenbesitzer, die Landwirte und Gärtnereibetriebe der Region brauchen, ist eine zuverlässige
Soforthilfe, die ihnen eine langfristige Perspektive für
den Fortbestand ihrer Unternehmen bietet, aber keine
weiteren Prüfungen und Appelle.
Unterstützen Sie deshalb unseren Änderungsantrag
auf Drucksache 14/1244, in dem wir eine vergleichbare
Lösung wie beim Oderhochwasser einfordern! Setzen
Sie ein Zeichen nationaler Solidarität! Entkräften Sie
damit den durch die Aussagen des Regierungssprechers
Karsten Heye aufgekommenen Verdacht, die Bundesregierung würde Solidarität nach parteipolitischen Gesichtspunkten ausüben! Sichern Sie Arbeitsplätze in den
hochwassergeschädigten Regionen im Freistaat Bayern
und im Land Baden-Württemberg! Geben Sie den Betroffenen in den Regionen ein Zeichen der Hoffnung!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schmidt das Wort.
Liebe Kollegen, auch wenn Sie Ihre eigenen Redner
feiern, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen: Das
Recht zu reden ist parlamentarisches Grundrecht.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei allem Verständnis für die abendliche
Stimmung möchte ich doch versuchen, noch einen
ernsthaften Gedanken hier hineinzubringen.
({0})
Ich möchte mich in meiner Kurzintervention auf die
Redner aus beiden Abteilungen dieses Hauses beziehen.
Anders als zu Beginn der letzten Debatte - also der ersten Lesung hier im Hause -, ist teilweise ein Ton angeschlagen worden, der, so meine ich, dem Anliegen, um
das es uns allen geht, nicht gerecht wird.
({1})
Wir haben doch alle miteinander zum Ausdruck gebracht, daß es unser gemeinsames Anliegen ist, nicht nur
das zu tun, was auf Grund gesetzlicher Vorgaben sowieso geschehen muß - sprich: Steuerstundungen und Steuervergünstigungen im üblichen Rahmen -, sondern daß
wir alle bemüht sind, den Betroffenen darüber hinaus
möglichst konkrete Hilfe zukommen zu lassen. Diese
Hilfe soll sich nicht nur an Private richten, sondern auch
an Geschäftsleute, an Betriebe und vor allem an die
Landwirtschaft.
Lassen Sie mich einen Gedanken dick unterstreichen,
der vorhin, so meine ich, etwas untergegangen ist. Dieser Gedanke ist vor allem für das Allgäu wichtig, Herr
Kollege Dr. Müller. Wir müssen allen Ernstes versuchen, daß die Landwirte stillgelegte Flächen, die ihnen
zur Abernte bereitgestellt wurden, gegen andere Flächen, die sie gerne abernten würden, die aber überschwemmt sind, tauschen können, ohne daß ihnen dadurch die Stillegungsprämie gestrichen wird. Diese
Tauschmöglichkeit müssen wir unbedingt eröffnen.
Das ist für die Bauern von entscheidender Bedeutung.
({2})
Lassen Sie mich deshalb zum Schluß appellieren die Mitglieder des Haushaltsausschusses haben uns doch
vorgemacht, wie es geht -: Die Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuß aus den Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. haben festgestellt, daß ihr
Anliegen in der Beschlußempfehlung des federführenden Ausschusses gut aufgehoben ist, und haben sich
dem Mehrheitsantrag angeschlossen. Darin, so meine
ich, sind alle wesentlichen Anliegen enthalten. Lassen
Sie es uns gemeinsam nun genauso handhaben, lassen
Sie uns mit einer Stimme sprechen, um deutlich zu machen, daß es uns allen um dasselbe geht!
Ich danke Ihnen.
({3})
Weitere
Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu den Anträgen der Fraktionen der CDU/CSU sowie der F.D.P. zu
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung anläßlich der
Hochwasserkatastrophe in Süddeutschland. Das ist die
Drucksache 14/1244 ({0}), Buchstabe a. Der Ausschuß
empfiehlt, die Anträge auf die Drucksachen 14/1144 und
14/1152 in der Ausschußfassung anzunehmen.
Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. vor, über die wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der
CDU/CSU auf Drucksache 14/1265? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS
abgelehnt.
({1})
- Wir sind uns alle hier oben im Präsidium einig, daß
das das korrekte Ergebnis war.
({2})
Wer stimmt für den Änderungsantrag der F.D.P. auf
Drucksache 14/1264? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Wir müssen uns eben beraten. - Darf ich
diejenigen, die dafür sind, noch einmal um das Handzeichen bitten? - Gegenstimmen? - Zwei hier oben haben
gesagt, daß das die Mehrheit sei; einer meinte etwas anderes. Bei diesem Stand müssen wir einen Hammelsprung machen. ({3})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. Ich bitte Sie, den
Saal zu verlassen. - Liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Aufforderung war, den Saal zu verlassen, weil
wir vorher nicht mit der Abstimmung beginnen können.
- Die Nacht ist noch lang.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, draußen spielt die
Musik. - Ich bitte jetzt endgültig, den Saal zu verlassen,
damit wir die Türen schließen können. Sind denn
Schriftführerinnen und Schriftführer an den Türen?
Kann ich einmal ein entsprechendes Zeichen haben? Klaus Brähmig
Ich bitte, die Türen zu schließen. Ich brauche jetzt aber
eine Nachricht, ob die Schriftführerinnen und Schriftführer da sind.
Kann sich der Kollege Reuter einmal bei mir melden,
damit ich weiß, ob er seine Schriftführer zusammen hat?
- Herr Kollege Reuter, können wir mit der Abstimmung
anfangen? - Ich eröffne die Abstimmung. Darf ich eine Nachricht bekommen, ob alle Abgeordneten die Türen passiert haben? - Dann bitte ich, die Türen zu schließen. Die Abstimmung ist geschlossen. Ich
bitte, mir das Ergebnis mitzuteilen.
Ich gebe Ihnen das Ergebnis des Hammelsprungs bekannt, mit dem gleichzeitig festgestellt worden ist, ob
wir beschlußfähig sind: Mit Ja haben gestimmt 167, mit
Nein haben gestimmt 203.
({5})
Es gab keine Enthaltungen. Die Beschlußfähigkeit wurde auch erreicht. Der Antrag ist damit abgelehnt worden.
({6})
Ich darf mit den Abstimmungen fortfahren. Wer
stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen worden.
({7})
- Herr Repnik, wollten Sie zustimmen oder dagegen
stimmen?
({8})
- Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und einigen Stimmen der
CDU/CSU, unter anderem des Kollegen Repnik, bei
Ablehnung durch F.D.P., CDU/CSU im übrigen und
PDS angenommen worden.
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache
14/1244 ({9}), Buchstabe b, weiterhin, die Anträge auf
den Drucksachen 14/1144 und 14/1152 in der ursprünglichen Fassung abzulehnen. Da diese Anträge soeben in
der Ausschußfassung angenommen wurden, erübrigt
sich eine Abstimmung darüber.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({10}), Eduard Lintner, Dirk
Fischer ({11}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Nationale Verkehrssicherheitskampagne Sonderprogramm für junge Autofahrerinnen
und Autofahrer zur Verhinderung von alkohol- und drogenbedingten Verkehrsunfällen
- Drucksache 14/659 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
({13})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ein bißchen lei-
ser! Ich weiß zwar, daß Hammelsprünge bei Sommerfe-
sten nicht so beliebt sind, aber ich finde, wir haben das
doch ganz gut hinter uns gebracht. Deswegen wollen wir
jetzt auch mit den nächsten Punkten so fortfahren.
Zu Tagesordnungspunkt 12 haben folgende Kollegen
gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu können: die
Abgeordneten Bruckmann, Börnsen, Schmidt, Guttma-
cher und Bulling-Schröter.*) Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/659 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Beilegung des Westsaharakonflikts
- Drucksache 14/1151 -
Auch hier haben die Kollegen gebeten, die Reden zu
Protokoll geben zu dürfen. Dies sind die Kollegen
Brecht, Schockenhoff, Irmer, Hübner sowie Staatsmi-
nister Volmer.**) Sind Sie einverstanden, daß wir so
verfahren? - Das ist der Fall. Dann kann ich die Aus-
sprache über diesen Tagesordnungspunkt beenden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den gemein-
samen Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. zur Beilegung des
Westsaharakonfliktes auf Drucksache 14/1151. Wer
stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
sowie der CDU/CSU und der F.D.P. und einigen Stim-
men der PDS angenommen worden. Einige Kolleginnen
und Kollegen haben, soweit ich es gesehen habe, nicht
mitgestimmt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der
PDS
Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder
*) Anlage 5
**) Anlage 6
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
chronischen Krankheiten am Leben der Gemeinschaft, zur deren Gleichstellung und zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile ({14})
- Drucksache 14/827 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({15})
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist noch nicht sehr lange her, da haben wir hier recht
einvernehmlich über die geringfügige Verbesserung der
Pflegeversicherung geredet. Ich würde mich freuen,
wenn wir jetzt ebensoviel Einmütigkeit erzielen würden,
da es darum geht, die Lebenssituation von Menschen mit
den verschiedensten Behinderungen und chronischen
Krankheiten grundlegend zu verändern.
Die PDS hat dazu einen Antrag zur Vorlage eines
Teilhabesicherungsgesetzes vorgelegt, das aus verschiedenen Teilen bestehen soll. Erstens soll es einen Gleichstellungsteil enthalten, also einen Menschenrechtsteil,
mit dem wir das Diskriminierungsverbot tatsächlich
ausgestalten und Diskriminierungen mit Sanktionen belegen wollen. Zweitens geht es um die materielle Sicherung der Teilhabe. Das heißt, wir wollen die
Nachteile, die gesellschaftlich bedingt sind, auch durch
die Gesellschaft - das heißt in diesem Falle den Staat ausgeglichen haben. Eine der entsprechenden Maßnahmen ist ein Teilhabesicherungsgeld, mit dem die Menschen ihr Leben tatsächlich frei gestalten können. Als
dritten Punkt haben wir verschiedene Gesetzesänderungen vorgeschlagen, mit denen wir unter anderem - das
ist besonders wichtig - Verbandsklagerechte für Behindertenselbsthilfeinitiativen und -organisationen vorsehen. Ich denke, dies wäre ein besonders demokratisches Element, damit das Kind nicht immer erst in den
Brunnen gefallen sein muß, bevor man Diskriminierungen ahndet.
({0})
Nicht zuletzt enthält unser Vorschlag natürlich auch
einen Finanzierungsteil. Ich will hervorheben, daß wir
darin alle bestehenden Leistungen - entweder nach der
Eingliederungshilfe des BSHG, nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach der Beamtenversorgung, also
der Beihilfe -, die bereits steuerfinanziert sind, zusammengefaßt haben, so daß der finanzielle Mehrbedarf
verhältnismäßig gering ist und maximal 10 Milliarden DM beträgt.
({1})
- In diesem Falle, in dem es um Menschenrechte und
um die Teilhabesicherung von mehr als 10 Prozent der
Bevölkerung geht, ist dies eine verhältnismäßig geringe
Summe.
Außerdem wollen wir bei dieser Gelegenheit dem Finalitätsprinzip, von dem ohnehin alle reden, tatsächlich
Geltung verschaffen. Es gibt nämlich eigentlich keinen
erkennbaren Grund, warum jemand, der sein Bein im
Krieg verliert, höhere Anrechte haben soll als jemand,
dessen Bein bei einem zivilen Unfall verlorengeht. Bei
gleichartiger Behinderung wollen wir gleiche Leistungen. Es gibt keinen Grund dafür, daß es nicht so ist.
Vor allem wollen wir - das will ich ganz deutlich
hervorheben - Menschen, die von Geburt an behindert
sind und praktisch nie eine Chance haben, eigene Anwartschaften zu erwerben und ein eigenes ausreichendes
Einkommen zu erreichen, so stellen, daß sie zu einer
selbstbestimmten Lebensführung kommen können. In
diesem Zusammenhang sieht unser Antrag ausdrücklich
vor, daß persönliche Assistenzen für diejenigen, die das
wollen, zum Regelfall werden sollen, aber nicht, wie es
jetzt ist, die Ausnahme bilden.
Nicht zuletzt sieht unser Gesetzentwurf ausdrücklich
vor, Menschen mit den verschiedensten Behinderungen
oder chronischen Krankheiten, die man häufig gar nicht
sieht, die aber die gleiche Wirkung haben wie sichtbare
Behinderungen, gleichartig zu behandeln, das heißt, ihnen allen die Chance zu einer selbstbestimmten Lebensführung zu geben. Das betrifft insbesondere auch geistig
behinderte Menschen, demente Menschen.
Ich will nicht verhehlen: Wir alle, Sie und alle anderen im Lande, kommen mehrmals im Leben in die Situation wie Behinderte, obwohl Sie sich dessen nicht
bewußt sind. Für kleine Kinder sind hohe Treppen ein
genauso hohes Hindernis wie für mich im Rollstuhl.
Wenn Sie mit drei Koffern in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, brauchen Sie ebenso fremde Hilfe.
Auch wenn man sich beim Skifahren ein Bein bricht und
im Gips unterwegs ist, wäre man froh, wenn öffentliche
Verkehrsmittel mit Einstiegshilfen ausgerüstet wären,
die es einem erleichtern hineinzukommen, ohne über
sehr, sehr steile Treppen oder über breite Schluchten gehen zu müssen, wenn etwa der Abstand zwischen Bahnsteig und Bahn zu breit ist.
Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie
dringend darum, unseren Antrag in den vielen Ausschüssen, an die wir ihn verwiesen haben wollen, weil es
in sehr vielen Bereichen Diskussionsbedarf gibt, genauso sachlich zu diskutieren, wie wir das vorhin bei der
- geringen - Veränderung der Pflegeversicherung getan
haben, sowie darum, daß wir am Ende zu einem Ergebnis kommen, das wirklich einen Fortschritt für die Situation vieler Menschen in diesem Lande darstellt. Ich
verspreche Ihnen: Auch diejenigen, die sich nicht als
behindert empfinden, die sich nicht als chronisch krank
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
empfinden, werden davon profitieren. Denn das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung sollte
innerhalb unserer Gesellschaft zu einer selbstverständlichen Sache werden. Darum bitte ich Sie, zu einer gemeinsamen Diskussion und zu einer sachlichen Aussprache zu kommen, in der wir am Ende alle klüger und
vor allen Dingen auch in der materiellen Ausgestaltung
der Sicherung der Teilhabe am Leben der Gemeinschaft
ein bißchen weiter sind.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf eine interessante Diskussion.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Silvia Schmidt.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Der Antrag der PDS zum Teilhabesicherungsgesetz gibt
uns - wenn auch zu später Stunde - einen Anlaß, zu
aktuellen Fragen der Behindertenpolitik Stellung zu
nehmen. Ich möchte im Vorfeld den Behindertenbeauftragten entschuldigen. Er hatte einen dringenden Termin, war aber vorhin noch einmal hier.
Ob sich allerdings die aktuellen Fragen dieses wichtigen Sozialfeldes im Antrag der PDS wiederfinden, wage
ich zu bezweifeln. Wir werden in den Ausschüssen noch
darüber zu diskutieren haben. Deshalb möchte ich hier
meine Kritik nicht in aller Breite darlegen, sondern nur
auf das Wesentliche eingehen.
Sie stellen Forderungen auf, die teilweise schon seit
langem überholt sind. Sie kennen ja Art. 3 des Grundgesetzes und § 10 Sozialgesetzbuch I. Das Anhörungsrecht
zum Beispiel ist für die Behindertenverbände auf Bundesebene eine Selbstverständlichkeit. Teilweise wird eine unzeitgemäße und unfinanzierbare Vollversorgung
gefordert. Ich nenne nur die Forderungen nach dem umfassenden Teilhabesicherungsgeld, im Umfang orientiert
an einer optimalen Eingliederung und Teilhabe sowie an
einer zusätzlichen „Persönlichen Assistenz“ als Regelform des Nachteilsausgleichs. Teilweise haben Sie
schlichtweg die Inhalte unserer Koalitionsvereinbarung
abgeschrieben. Darüber will ich mich absolut nicht beschweren. Denn wo Sie recht haben, haben Sie recht.
Für uns Sozialdemokraten sind behinderte Menschen
grundsätzlich mündig, selbständig und eigenverantwortlich. Das ist für uns oberster Maßstab, und von diesem
Bild lassen wir uns leiten.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage von Dr. Seifert?
Herr Dr. Seifert,
ich habe noch gar nicht richtig angefangen. Sie können
nachher gerne Zwischenfragen stellen.
Die Eckpunkte des PDS-Antrages sind am 14. Juni
1999 in der Verbändeanhörung zum Diskussionspapier
für das SGB IX vorgetragen worden. Eine Übernahme
haben sie nicht erfahren. Vielmehr sind die Grundpositionen der maßgeblichen Behindertenverbände zu aktuellen Fragen der Fortentwicklung der Rehabilitation in
der Grundsatzerklärung festgehalten, die auf diese Anhörung hin verteilt wurde.
Auch wenn vieles im einzelnen noch weiter ausdiskutiert werden muß, sehe ich eine weitgehende Übereinstimmung der Positionen der großen Behindertenverbände und der Bundesregierung. Über diese grundsätzliche Übereinstimmung freue ich mich natürlich. Hier sehe ich die Geschäftsgrundlage für eine neue Ausarbeitung zum SGB IX und zum Gleichstellungsgesetz. Insofern, meine Damen und Herren von der PDS-Fraktion,
kommen Sie mit Ihrem Antrag zu spät. Und was mit denen passiert, die zu spät kommen, das wissen Sie. Das
haben wir ja im November 1989 erlebt.
({0})
Die Verbesserung der Lebenssituation der Behinderten in der Bundesrepublik Deutschland verlangt
viel von uns. Vielfältig sind die Versäumnisse in der
Vergangenheit, groß die Probleme - und hoch ist die
Erwartung der Betroffenen. In intensiver Zusammenarbeit mit den Behindertenverbänden und den Selbsthilfegruppen arbeiten wir an einer Verbesserung der Lebensumstände behinderter Menschen.
In unserer Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober
1998 haben wir für die Behindertenpolitik vier Schwerpunkte festgelegt:
Erstens. Wir werden das Recht auf Rehabilitation in
einem neunten Buch der Sozialgesetzgebung zusammenfassen. Damit gestalten wir diese wichtigen Bereiche der
Behindertenpolitik effektiver, effizienter und transparenter. Rehabilitationsleistungen müssen schneller einsetzen. Sie müssen endlich besser aufeinander abgestimmt werden und möglichst nahtlos ineinandergreifen.
Die Umsetzung dieses Gesetzesvorhabens ist eine Chance, bestehende Defizite in der Rehabilitation - die es sicher gibt - abzubauen und zugleich durch den Abbau
von Wartezeiten sinnvoll Geld einzusparen, das man in
anderen Behindertenbereichen einsetzen kann.
Wir sollten die Chance nutzen, Verbesserungen bei
der Zusammenarbeit der Träger umzusetzen und für eine
Angleichung der einzelnen Leistungen zu sorgen. Vor
allem aber wollen wir es behinderten Menschen leichter
machen, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen; Stichwort:
Verbandsklagerecht. Die Behinderten sind die Betroffenen und die Experten in eigener Sache. Sie sollen entscheiden können, ob sie Hilfeleistungen bei der Lebensgestaltung in Anspruch nehmen möchten und wenn ja, in
welcher Form.
({1})
Trotz der angespannten Haushaltslage werden wir
nicht den Fehler der früheren Bundesregierung machen:
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben die Fortentwicklung der Rehabilitation in den 90er
Jahren vermeintlichen Sparzwängen geopfert. Wären Sie
an der Regierung geblieben, dann hätten Sie die Erwerbsunfähigkeitsrente gekürzt, und der Zugang zu ihr
wäre verschlechtert worden.
Zweitens. Wir werden dem Haus den Entwurf eines
Gleichstellungsgesetzes vorlegen. Immer noch sind behinderte Menschen in vielen Lebensbereichen erheblichen Benachteiligungen ausgesetzt und werden in vielfacher Hinsicht diskriminiert. Das steht zwar jeden Tag
in der Zeitung. Viel schlimmer aber ist es, wenn man es
tagtäglich erleben muß.
Es ist also höchste Zeit, das Benachteiligungsverbot
des Grundgesetzes eindeutig zu interpretieren und es mit
Leben zu füllen. Auf jeden Fall werden wir unsere behinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen mit wirksamen, einklagbaren Rechten ausstatten. Konkrete Gespräche zu diesem Vorhaben fanden bereits zwischen
dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung und
der Justizministerin statt.
Frau Kollegin,
würden Sie jetzt eine Zwischenfrage gestatten?
Ja.
Frau Kollegin Schmidt, inzwischen hätte ich natürlich schon zwei Zwischenfragen,
aber gut.
Wenn Sie schon behaupten, wir hätten viel aus Ihrer
Koalitionsvereinbarung abgeschrieben, dann müssen Sie
zumindest zugeben, daß etwas mehr hinter unserem Antrag steckt als nur die drei Sätze in der Koalitionsvereinbarung. Ist Ihnen denn entgangen, daß in unserem Antrag auf Vorlage eines Gesetzes zur Teilhabesicherung
eben nicht von Rehabilitation die Rede ist, sondern von
einem Leistungsgesetz? Die Behindertenverbände verlangen nämlich ein Leistungsgesetz, da sich die Rehabilitation ausschließlich an der beruflichen Wiedereingliederung orientiert. Vorrangig müßte es aber um die soziale Rehabilitation gehen. Darüber haben Sie allerdings
noch kein Wort gesagt.
({0})
Herr Dr. Seifert,
ich glaube, da mißverstehen Sie mich. Warten Sie doch
ab, was ich noch sage. Im übrigen steht Rehabilitation
auch schwerst- und mehrfachbehinderten Menschen zur
Verfügung. In einem Sozialgesetzbuch IX wollen wir
alle diese Punkte zusammenfassen, also in einem einzigen Leistungsgesetz.
Drittens. Wir werden innovative Ansätze zur Beschäftigung von Schwerbehinderten ausarbeiten. Dies
ist dringend erforderlich; denn die Arbeitslosigkeit unter
den behinderten Menschen erhöht sich seit Jahren. Da
sind wir mit Sicherheit einer Meinung. Ich möchte nur
darauf hinweisen, daß die Arbeitslosigkeitsquote in den
letzten vier Jahren von 14,6 Prozent auf 17,9 Prozent
angestiegen ist. Es genügt nicht, die Beschäftigungsquote oder auch die Ausgleichsabgabe der Arbeitgeber
zu erhöhen. Wir müssen neue Wege finden, aus dieser
fatalen Entwicklung herauszukommen.
Wir setzen auf die Vermittlung von Behinderten in
den ersten Arbeitsmarkt. So unterstützen wir nicht nur
die Konzepte der Integrationsfachdienste, sondern fördern auch den allgemeinen Integrationsgedanken. Integrationsfirmen beweisen sehr deutlich, daß auch stark
beeinträchtigte Schwerbehinderte, auch geistig Behinderte, im ersten Arbeitsmarkt tätig sein können.
({0})
Der Schwerbehindertenanteil in diesen Firmen erreicht
bereits 80 Prozent. Die Behinderten arbeiten in marktund wettbewerbsorientierten Firmen und sind nachweislich in der Lage, sich auf dem ersten Arbeitsmarkt zu
behaupten.
({1})
- Wenn Sie der Meinung sind.
Viertens. Wir werden die Anerkennung der deutschen Gebärdensprache in die Wege leiten, wohl
wissend, daß sie nur ein erster Schritt sein kann, aber ein
Schritt in die richtige Richtung.
In Zusammenarbeit mit den Ländern werden wir
weitere Ansätze diskutieren und beraten. Dazu gehören
die Früherkennung und Frühförderung, Gebärdensprachkurse für Eltern, Betreuer und Erzieher, die Sicherung des Rechts auf Information und Unterhaltung und
die Anerkennung des Berufes des Gebärdendolmetschers. Der Behindertenbeauftragte wird in den kommenden Monaten mit den Arbeits- und Sozialministern
der Länder zusammentreffen und über Zielvereinbarungen beraten.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Regierungskoalition geht in der Frage der Behindertenpolitik neue und
richtige Wege. Das Teilhabesicherungsgesetz und das
dafür bestimmte Geld beschreibe ich ganz einfach mit
„Wir bauen wieder einen goldenen Käfig“.
({2})
- Für mich ist es so. Bitte akzeptieren Sie auch meine
Meinung.
Das freut mich besonders für die betroffenen Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land. Die bisherigen Reaktionen der einzelnen Behindertenverbände bestätigen mich in meiner Überzeugung, daß unsere Zielsetzungen die richtigen sind.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Claudia Nolte.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen umSilvia Schmidt ({0})
fassenderen Forderungskatalog für ein Gesetz zur Teilhabesicherung von Menschen mit Behinderung und
chronisch Kranken kann man sich wohl kaum vorstellen:
Von der Gleichstellung, der Neuregelung der Eingliederungshilfe über den Nachteilsausgleich bis hin zum Verbandsklagerecht und zur Förderung der Selbsthilfe ist
alles vertreten. Es fehlt eigentlich nur noch die Kodifizierung des Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts in einem SGB IX, was man problemlos in das
Artikelgesetz einbauen könnte.
Ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich beim Lesen
des Antrages an meine frühen Stunden des Staatsbürgerkundeunterrichts in der ehemaligen DDR erinnert gefühlt habe. Ich kann mich noch recht gut daran erinnern,
wie man vor uns die Vision der kommunistischen Gesellschaft entfaltete, in der man kein Geld braucht, weil
alle Waren frei verfügbar sind und sich jeder nehmen
kann, was er braucht, wobei man selbstverständlich davon ausgegangen ist, daß man sich nur das nimmt, was
man auch wirklich braucht.
({1})
Eine faszinierende Vision, für mich als zwölfjähriges
Mädchen sehr beeindruckend, allerdings weit entrückt in
das Reich der Märchen, weil die Ahnung, daß das mehr
als unrealistisch ist, untrüglich war.
Ähnlich ist es auch hier: Die Forderungen lassen ein
Bild der Verheißungen entstehen, denen man gar nicht
widersprechen mag, weil sie alle so schön und gut sind.
Das Strickmuster der PDS ist dabei immer das gleiche:
Sämtliche Erwartungen und Wünsche, die derzeit auf
dem Markt sind, werden zusammengeschrieben und in
einem Antrag präsentiert. So sieht sie sich denn auch als
Rächer und Vertreter aller benachteiligten Gruppen.
Zwangsläufig sind in einem solchen Antrag Dinge
enthalten, die ihre Berechtigung haben. Seit dem Jahr
1994 gilt der Zusatz im Grundgesetz: „Niemand darf
wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
({2})
Es ist klar, daß dies mit Leben erfüllt werden muß; denn
Tatsache ist: Es gibt noch immer in vielen Bereichen
Handlungsbedarf, auch auf gesetzgeberischer Ebene.
So ist es ein großer Nachteil, daß Leistungsansprüche
auf viele Einzelgesetze verteilt sind. Damit fehlt es an
Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit im Schwerbehinderten- und Rehabilitationsrecht. Hier zu einer Kodifizierung im Rahmen eines SGB IX zu kommen halten
wir für vorrangig.
Es ist deshalb bedauerlich, daß die Bundesregierung
dem Deutschen Bundestag bis heute noch keine konkreten Überlegungen vorgestellt hat. Im übrigen darf
man sich nicht täuschen - da spreche ich, was ich mit
Bedauern sage, aus Erfahrung -: Es ist eine komplizierte
Materie, und man wird einen langen Weg zurücklegen
müssen, um zu einem Kompromiß zu kommen. Deshalb
sollte sehr früh damit angefangen werden, wobei ich erwarte, daß die Opposition von Beginn an mit in die Beratung einbezogen wird; denn Sie dürften seitens der
Regierungskoalition ein Interesse an unserer Zustimmung haben.
Auch im Leistungsrecht bestehen Defizite. Es ist in
Teilen unzumutbar, wie stark Familien mit behinderten
Angehörigen finanziell belastet werden. Verschärft wird
die Situation durch die nachvollziehbaren Sparbemühungen der Sozialhilfeträger, die die Leistungen der
Eingliederungshilfe gern einschränken würden. Vielerorts werden Behinderteneinrichtungen dazu gedrängt,
sich nach Leistungen der Pflegeversicherung umzuschauen, um damit aus der Eingliederungshilfe des
BSHG herauszufallen - mit der fatalen Folge, daß die
soziale Integration nicht stattfindet.
({3})
Dies hat seine Ursachen vor allem in der Ansiedlung
der Eingliederungshilfe im BSHG und der daraus normalerweise folgenden Nachrangigkeit. Das bedeutet
nämlich nicht nur den Rückgriff auf Einkommen und
Vermögen des Betroffenen bzw. seiner Angehörigen,
sondern das führt auch zu der inkompatiblen Konstruktion, daß die Eingliederungshilfe zwar eine Vorrangstellung gegenüber anderen Hilfeformen und Leistungsträgern wie der Pflegeversicherung eingeräumt bekommt, durch die Verortung im BSHG aber die
Nachrangigkeit anderen Gesetzen gegenüber eigentlich
logisch konsequent wäre. Deshalb halten wir es für notwendig, Wege zu finden, die Eingliederungshilfe aus
dem BSHG herauszulösen, wobei eine Verortung im neu
zu schaffenden SGB IX nach unserer Auffassung naheliegt.
Nun kann man zweifelsohne die Wünsche und Forderungen nach Ausweitung des Leistungsrechts ins schier
Unendliche treiben. Ein Stück weit übt sich der Antrag
der PDS darin. So ist zum einen die Forderung nach bedarfsdeckender Grundsicherung und zum anderen die
Forderung nach einer umfassenden Nachteilsausgleichsregelung im Antrag enthalten. Ich finde es sehr problematisch, Bewertungs- und Ermittlungskriterien zu finden, um einen behinderungsbedingten Mehrbedarf pauschaliert abdecken zu können. Denn es gibt so viele
Formen der Behinderung und chronischen Krankheiten,
daß eine Kategorisierung oder Pauschalierung in meinen
Augen eigentlich nicht denkbar ist. Außerdem gibt der
Grad einer Behinderung auch nicht automatisch Auskunft über den Grad des Hilfebedarfs. Das heißt, es wird
immer eine individuelle Feststellung des Hilfebedarfs
notwendig sein.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
Herr Seifert, wir werden
im Ausschuß lange diskutieren, aber nicht um diese
Uhrzeit im Plenum.
Wir alle, die wir uns damit befassen, wissen, welch
komplexe Bereiche geregelt werden sollen. Es geht um
die Rechte und Ansprüche von Menschen, die es auf
Grund ihrer Behinderung noch immer schwer haben, ihr
Leben, soweit es möglich ist, tatsächlich selbstbestimmt
und gleichberechtigt zu führen. Dabei dürfen wir nicht
vergessen, daß es „den“ Behinderten nicht gibt; es geht
immer um Einzelschicksale. Gerade die Vielzahl der
Behinderungen und chronischen Krankheiten macht es
unmöglich, allen Interessen mit Pauschalen gleichermaßen gerecht zu werden. Deshalb erwarte ich hier bald
sehr konkrete Vorschläge seitens der Bundesregierung
bzw. der Regierungskoalition.
Ein weiterer großer Punkt in dem Antrag ist das
Thema Gleichstellung. Dieser ist in der Tat spannend.
Es ist diskriminierend und ausgrenzend, wenn ein Rollstuhlfahrer nicht in ein Gebäude kommen kann, weil eine Rampe fehlt, wenn Schwerhörige und Gehörlose von
jeglicher Kommunikation mit anderen Menschen ausgeschlossen sind, weil sie unsere Sprache nicht verstehen,
wenn Blinde zu Hause bleiben, weil es an Leitsystemen
fehlt. Es ist also dringend erforderlich, eine Struktur zu
schaffen, die Behinderten die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht.
Das gilt in besonderer Weise, aber nicht ausschließlich, für die Bauvorschriften in den Landesbauordnungen, in denen Barrierefreiheit konsequent durchgesetzt
werden muß. Die Frage, inwieweit wir uns insgesamt
bei der Durchsetzung der Teilhabeinteressen beispielsweise am amerikanischen Vorbild orientieren können,
das sich auf die konsequente Umsetzung der Idee der
Bürgerrechte gründet und so dem Behinderten ein einklagbares Zugangsrecht ermöglicht, halte ich für sehr
prüfenswert. Auch wenn das amerikanische Rechtssystem sich nicht so einfach auf unseres übertragen läßt,
finde ich den Ansatz sehr interessant. Zumindest muß
die Beteiligung Behinderter an Entscheidungsprozessen,
zum Beispiel an Planfeststellungsverfahren, besser verankert werden. Da reichen die Anhörungen auf Bundesebene nicht aus. Gerade im kommunalen Bereich sind in
der Umsetzung große Defizite vorhanden.
({0})
- Wenn Sie sich die Details anschauen, stellen Sie fest,
daß es hier noch große Defizite gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte nicht viel
von solchen Wunsch- und Forderungskatalogen, wie die
PDS sie vorgelegt hat. Zielführender, natürlich auch anstrengender, ist es, konkrete Einzelschritte vorzuschlagen und umzusetzen.
Die Bundesregierung hat sich laut Koalitionsvertrag
viel vorgenommen - es ist hier noch einmal ausdrücklich darauf verwiesen worden -, angefangen bei der
Schaffung eines SGB-IX-Leistungsgesetzes mit der
Neuregelung der Eingliederungshilfe bis hin zu einem
Gleichstellungsgesetz. Nun lassen die bisherigen Erfahrungen mit dem Umgang des Koalitionsvertrags und der
Umsetzung von gegebenen Wahlversprechen nichts
Gutes vermuten - man muß auch hier befürchten, daß
am Ende Enttäuschungen zurückbleiben -, aber wir
werden Sie nicht aus der Pflicht entlassen, endlich konstruktive Vorschläge vorzulegen, die über allgemeine
Aussagen hinausgehen.
Ich bleibe bei meiner Zusage, daß wir Sie konstruktiv
begleiten werden und Sie dort, wo die Situation Behinderter sichtlich verbessert werden kann, unterstützen.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat:
Die Koalition hat sich einiges vorgenommen, und wir
werden das nacheinander abarbeiten. Wir wollen das
Benachteiligungsverbot endlich mit Leben füllen und
im einfachen Gesetz wirksam werden lassen. Da unterscheiden wir uns grundsätzlich von der alten Mehrheit,
die es jahrelang abgelehnt hat sowohl im Privatrecht wie
im Bau- und Verkehrsrecht als auch im SGB IX, die
notwendigen Schritte zu gehen.
Diese Debatte war es aber schon fast wert, weil die
Kollegin Nolte nun für die CDU erklärt hat, sie fände
die Überlegungen in der amerikanischen Antidiskriminierungsgesetzgebung grundsätzlich interessant. Das ist
schön. Schöner wäre es gewesen, Sie hätten sie schon
interessant gefunden, als Sie noch den Gestaltungsauftrag vom Wähler hatten.
({0})
Frau Nolte, ich muß sagen, Sie haben den Mund beim
SGB IX etwas voll genommen. Ich kann mich noch gut
an zwei Große Anfragen der beiden heutigen Mehrheitsfraktionen erinnern. 1995 gab es eine von den Grünen.
Die Antwort der Bundesregierung lautete: Noch in diesem Jahr wird das SGB IX kommen. Im Jahr 1996 lautete die Antwort auf die Große Anfrage der SPD: Das
SGB IX kommt noch in diesem Jahr. Wir warten immer
noch darauf. Es ist in der Tat eine schwierige Materie.
({1})
- Wir haben Ihnen noch nicht gesagt, es kommt in diesem Jahr. Wir haben gesagt: Wir haben mit der Arbeit
begonnen und legen es vor, wenn wir fertig sind. Wir
machen keine leeren Versprechungen.
({2})
Wir wollen uns aber nicht nur mit der CDU auseinandersetzen, sondern auch mit dem vorliegenden Antrag
der PDS. Ich denke, der Antrag enthält viele wichtige
und gute Anregungen, aber er verspricht in der Tat auch
alles und jedes und wird damit ein wenig beliebig. Wenn
man in der Politik etwas erreichen will, muß man Prioritäten setzen und klar definieren, welches der nächste
Schritt sein soll und wie er finanzierbar ist. Da weisen
Sie nicht den Weg. Sie versprechen alles, werden aber
deshalb in der politischen Auseinandersetzung mit Ihren
Vorschlägen wenig Wirkung erzielen, zum Teil zu
Recht, weil diese Vorschläge unfinanzierbar sind. Ich
halte - by the way - 10 Milliarden DM im Jahr nicht für
eine Kleinigkeit. Ich wünschte mir, ich hätte sie und
könnte sie freigebig für Behindertenpolitik ausgeben.
Ich sehe darin in der Tat eine politische Priorität.
Gleichwohl muß man es finanzieren können bzw. sagen,
woher man das Geld nehmen will. Diese Antwort zumindest sind Sie schuldig geblieben. Damit sind auch
alle Ihre schönen finanziellen Versprechungen gegenstandslos.
Aber auch in anderen Bereichen sind Ihre Vorschläge
nicht präzise formuliert und durchdacht. In bezug auf die
Barrierefreiheit, die ein ganz wichtiges Anliegen ist,
sprechen Sie davon, daß Sie in das Gesetz schreiben
wollen: „Gebäude und Einrichtungen müssen barrierefrei
sein.“ So können wir nicht vorgehen. Wir können vorschreiben, daß alle neu gebauten Gebäude, alle neu zugelassenen Verkehrsträger und alle neu zugelassenen
Kommunikationsmittel behindertengerecht sein müssen.
Aber mit der Behauptung, wir könnten von einem Tag
auf den anderen die ganze Welt, die leider nicht behindertengerecht ist, auf Vordermann bringen, überhebt
sich jeder Gesetzgeber. Damit schaden Sie dem Anliegen, weil Sie Ängste und Widerstände produzieren.
Auch wir wollen, daß die Welt mehr als bisher behindertengerecht wird, weil die Teilhabe nur gesichert wird,
wenn behindertes Leben zur Norm menschlichen Lebens
gehört. Diesen Gedanken muß sich auch der Gesetzgeber zur Richtschnur nehmen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
Lassen Sie es uns im Ausschuß besprechen, es ist schon
spät.
({0})
Wir treffen uns so oft auf behindertenpolitischen Kongressen, um über diese Fragen zu diskutieren. Neue Argumente würden wir jetzt sicher nicht austauschen.
Meine Damen und Herren, wir müssen präziser und
realistischer an die vor uns liegenden Aufgaben herangehen. Dann können wir auch erhebliche Verbesserungen erreichen. Es sollte uns schon zu denken geben, daß
wir unsere ICE-Technologie in den letzten Jahren nicht
in die USA verkaufen konnten, weil sie der amerikanischen Norm für behindertengerechte Verkehrsmittel
nicht entsprach. Daran zeigt sich, daß wir hier auf dem
Stand eines Entwicklungslandes sind und aufschließen
müssen. Diese Koalition wird den Weg beschreiten. Wir
werden dies auch bei dem wichtigen Thema der Kommunikation tun und endlich die deutsche Gebärdensprache gesetzlich anerkennen, und zwar nicht nur als
Teil der deutschen Sprache, wie die PDS es fordert, sondern als eigenständige Sprache und eigenständiges
Kommunikationsmittel.
({1})
Wir werden zeigen, daß uns dieses gelingt.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe zwar nur eine
sehr knappe Redezeit, aber ich möchte trotzdem einen
Teil dieser Zeit darauf verwenden, Sie über Erfahrungen
zu informieren, die ich am letzten Samstag in Darmstadt
als Teilnehmer an einer von den Veranstaltern als „RolliDemo“ bezeichneten Demonstration von Rollstuhlfahrern, die für die Durchsetzung des grundgesetzlich verbrieften Anspruchs des Art. 3 Abs. 3 demonstrierten, gesammelt habe. Ich wurde gefragt, ob ich nicht Lust hätte,
an dieser Demonstration im Rollstuhl teilzunehmen. Ich
habe spontan gesagt: Ja, ich mache das.
Die Stadt Darmstadt, die ich eigentlich gut kenne, habe ich in dieser Stunde auf dem zweieinhalb Kilometer
langen Demonstrationsweg aus einer ganz neuen Perspektive wahrgenommen. Ich hätte nicht gedacht, daß
man so hilflos vor einem schon abgesenkten, aber immer
noch 10 cm hohen Bordstein stehen kann, daß eine
schräg geneigte Fläche oder ein grob gepflasterter Platz
eine derartige Kraftanstrengung erfordert - selbst wenn
man nach einer Stunde wieder aus dem Rollstuhl aufstehen kann. Ich kann nur jedem raten, dieses auszuprobieren. Dann wird es einem sehr viel deutlicher, was mit
der Durchsetzung von Teilhabe gemeint ist.
Mich hat nachdenklich gestimmt, daß viele der anwesenden Betroffenen davon berichtet haben, daß in den
letzten Jahren, seit wir 1994 Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes ergänzt haben, die Dinge nicht besser geworden
sind, sondern der Nachholbedarf aus ihrer Sicht eher
größer wurde.
Es gibt in diesem Haus schon einen gewissen
Grundkonsens. Wir sind uns, glaube ich, alle einig, daß
es darum gehen muß, Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes
mit Leben zu füllen. Über den Weg dahin kann man
streiten, Herr Seifert. Ich frage mich aber, auch nach den
Gesprächen, die ich am Samstag geführt habe, ob das
Teilhabesicherungsgesetz, das Sie von der Bundesregierung vorgelegt haben wollen, von den Menschen, die auf
Grund körperlicher oder geistiger Behinderung im täglichen Leben beeinträchtigt sind, wirklich in dieser Ausprägung gewollt ist. Gleichberechtigung bedeutet doch,
daß behinderte und nicht behinderte Menschen die gleichen Rechte haben. Mein Eindruck ist, daß Ihre Vorstellungen von einem Teilhabesicherungsgesetz weit
darüber hinausgehen. Ich denke da zum Beispiel an den
individuellen Rechtsanspruch für Menschen mit Behinderungen nach § 14 Schwerbehindertengesetz.
Ich bin auch der Meinung, daß Ihre Vorstellungen
vom Baugesetz oder von Fahrzeugen im öffentlichen
Personenverkehr zusätzliche Bürokratie und mehr
Prüfvorgänge schaffen. In den Unternehmen kommt es
zu einem erhöhten bürokratischen Aufwand bei Einstellungsmaßnahmen.
Volker Beck ({0})
Wir müssen im Ausschuß auch über die finanziellen
Auswirkungen der von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen beraten. Ich glaube, daß Ihre Rechnung nicht
aufgeht, selbst wenn man die Ausgleichsabgabe in Höhe
des soziokulturellen Existenzminimums erheben wird.
Für die Unternehmen wollen Sie das übrigens - das muß
man hier noch einmal deutlich unterstreichen - steuerlich nicht absetzbar machen. Das bedeutet eine deutliche
Mehrbelastung gegenüber dem Status quo.
Ich glaube, daß die Leistungen nicht aus einem Fonds
bezahlt werden können, wie Sie sich das vorstellen.
Wenn ich allein an die Assistenzen denke, die als Regelfall vorgesehen sind, scheint mir schon relativ klar, daß
der von Ihnen kalkulierte Aufwand von 10 Milliarden
DM bei weitem nicht ausreichen wird. Als Konsequenz
- das deuteten Sie schon an - wären Zuschüsse aus allgemeinen Steuermitteln wohl unabweisbar. Das alles
muß sehr genau beleuchtet werden.
Ich will hier auch sagen, daß ich in der von Ihnen
gewollten Einführung eines Verbandsklagerechts eine
Bevormundung der Betroffenen, der Behinderten sehe.
Die Entscheidung, ob eine Benachteiligung vorliegt,
wird dann nicht mehr von dem Betroffenen selbst getroffen, sondern auf Funktionärsebene. Das ist meines
Erachtens so nicht haltbar.
Auf weitere Feinheiten Ihres Antrags kann ich aus
Zeitgründen nicht eingehen, obwohl es lohnend wäre,
sie zu beleuchten.
Ich will nur noch sagen, daß ich den Ansatz des Antrags, alle Leistungen, die Behinderte betreffen, in ein
einziges Gesetz zu überführen, unter dem Gesichtspunkt
der Gleichbehandlung von Behinderten durchaus für
richtig halte. Das ist ein Ansatz, den die F.D.P. so unterstützen könnte. Die Behinderten kämen dann aus dem
BSHG heraus, in das sie eigentlich gar nicht hineingehören. Das wäre auch für das Selbstverständnis der Behinderten wichtig.
Die Idee, daß der öffentliche Sektor mit gutem Beispiel vorangehen muß, findet unsere Zustimmung. Das
betrifft sowohl die weitere Verbreitung der Gebärdensprache als auch den Einzug der Technik behindertengerechten Bauens in die einschlägigen Studiengänge sowie
die Anregungen bezüglich des Wahlrechts.
Aber insgesamt - das unterscheidet uns vielleicht
doch, Herr Seifert - setzen wir weniger auf Zwang und
mehr auf Überzeugungsarbeit. Wir wollen Aufklärung
und Information, um das Bewußtsein in der Bevölkerung zu schärfen. Die „Aktion Grundgesetz“, von der
ich eingangs gesprochen habe, leistet hier meines Erachtens gute Arbeit.
Im Ausschuß gibt es noch einiges zu klären. Wie gesagt: Wir sehen hier Licht und Schatten. Der Schatten
überwiegt wohl, deswegen in dieser ersten Lesung eine
eher ablehnende Tendenz unsererseits. Aber wir werden
das im Ausschuß noch vertiefen können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/827 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrike Flach, Hildebrecht Braun
({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Erhöhung der Attraktivität des freiwilligen
Umweltaudits durch Deregulierung
- Drucksache 14/570 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({1})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Die Kollegen Caspers-Merk, Müller, Hermann,
Homburger und Bulling-Schröter haben gebeten, ihre
Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit
einverstanden? - Dann machen wir das so.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/570 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Kersten Naumann, Dr. Gregor
Gysi und der Fraktion der PDS
Vererblichkeit von Bodenreformeigentum
- Drucksache 14/1063 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({2})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Auch hier haben einige Kollegen, und zwar die Kol-
legen Fornahl, Luther, Lemke und Türk, darum gebeten,
ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.**) Einverstanden? - Dann machen wir das so.
Das Wort hat jetzt als einzige Rednerin die Abgeordnete Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die heutige „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ findet es kurios, daß ausgerechnet
**) Anlage 7
**) Anlage 8
wir „gegen eine entschädigungslose Enteignung durch
den Staat auftreten und hierbei ({0}) auf die
Verfassung pochen“. Aber wer, wenn nicht wir, sollte
die Bodenreform verteidigen? Lassen Sie mich zu unserem Antrag „Vererblichkeit von Bodenreformeigentum“
folgendes sagen:
Mit dem Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz
wurde 1992 in das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen
Gesetzbuch ein Abschnitt „Abwicklung von Bodenreformeigentum“, Art. 233, §§ 11 bis 16, eingefügt. Mit
diesen Regelungen wollte der Gesetzgeber die Rechtslage vor 1990 nachzeichnen. Man ging davon aus, daß
in der DDR im Grunde kein Erbrecht an Bodenreformeigentum bestand. Die Zuordnung von Bodenreformeigentum an Erben wurde von der Zuteilungsfähigkeit
abhängig gemacht. Zuteilungsfähig ist nach § 12 Abs. 3
nur, „wer bei Ablauf des 15. März 1990 in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet in der
Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft insgesamt
mindestens zehn Jahre lang tätig war und im Anschluß
an diese Tätigkeit keiner anderen Tätigkeit nachgegangen ist und einer solchen voraussichtlich auf Dauer nicht
nachgehen wird“.
Hiermit werden viele Erben von der Übertragung des
Bodeneigentums ausgeschlossen. Sie wurden und werden gezwungen, das Bodenreformeigentum unentgeltlich dem Fiskus zu überlassen oder den Verkaufserlös
auszukehren.
Das ist aus heutiger Sicht eine entschädigungslose
Enteignung von Erben. Es hat sich nämlich erwiesen,
daß diese sogenannte Nachzeichnung von DDR-Recht
nicht zutreffend ist, weil sie auf einem Irrtum beruht. In
der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR war
das Bodenreformeigentum zu jeder Zeit - sowohl unter
dem Regime des ZGB als auch dem des BGB - vererblich. Das hat inzwischen bei ausdrücklicher Abwendung
von seiner bisherigen Rechtsprechung auch der BGH in
Urteilen vom Dezember 1998 anerkannt.
({1})
Das Erbrecht war allerdings von Vorschriften überlagert, die Verfügungsbeschränkungen und Nutzungsgebote enthielten. Am Bestand des Erbrechts änderte das
nichts. Diese Beschränkungen und Gebote wurden durch
das sogenannte Modrow-Gesetz vom 6. März 1990 aufgehoben. Damit war die volle Ausübung des Erbrechts
wiederhergestellt.
Es entspricht der juristischen Logik, daß nach dieser
neuen Erkenntnis besagter Abschnitt nicht mehr haltbar
ist. Er zeichnet die Rechtslage in der DDR unrichtig
nach. Trotzdem sieht die Bundesregierung derzeit keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, wie aus der
Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion ersichtlich ist.
({2})
Sie beruft sich darauf, daß der BGH besagte Vorschriften für verfassungsgemäß hält.
In der Tat hat der BGH mit, vorsichtig ausgedrückt,
ziemlich eigenwilligen Argumenten diese Regelungen
für weiter anwendbar erklärt. Sie laufen im Kern darauf
hinaus, daß die Volkskammer der DDR gar nicht das
gewollt haben kann, was sie mit dem Modrow-Gesetz
beschlossen hat. Es besteht deshalb nach wie vor eine
„verdeckte Regelungslücke“, die durch das EGBGB geschlossen wurde. Diese Argumente sind in der Literatur
von Joachim Göhring und Beate Grün unter Beiziehung
der Protokolle der Volkskammer und ihres Rechtsausschusses sowie anderer Materialien eindeutig widerlegt
worden.
Der in Rede stehende Abschnitt ist nach meiner Meinung verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar. Unabhängig davon sind diese Regelungen gegenüber den Erben
ungerecht und rechtspolitisch fragwürdig. Die Bundesregierung kann sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, daß gesetzgeberischer Handlungsbedarf erst dann
entsteht, wenn ein Bundesgericht einen Rechtszustand
für verfassungswidrig erklärt. Bekanntlich hat der Bundestag in der Vergangenheit des öfteren Heilungsregelungen erlassen, wenn es um Ungerechtigkeiten im
Vermögensrecht ging.
Diese Regelung benachteiligt niemanden unangemessen. Die Alteigentümer, die durch die Bodenreform enteignet wurden, müssen damit leben können, denn sie
behaupten ja immer, daß sie nicht neues Unrecht für die
Begünstigten der Bodenreform schaffen wollen. Auch
an bestehenden Pachtverträgen würde sich hierdurch
nichts ändern.
Die PDS-Fraktion fordert deshalb eine erbrechtliche
Gleichstellung von Bodenreformeigentum, indem die
jeweiligen Grundstücke an die Erben zurückgegeben
werden bzw. dort, wo es nicht mehr möglich ist, diese
entschädigt werden.
({3})
Wir verlangen, daß in diesen Fällen Übereignungen von
Bodenreformeigentum aus dem Fiskus bis zu einer Neuregelung unverzüglich ausgesetzt werden. Das entspricht
nach meiner Meinung rechtsstaatlichem Denken und
schließt eine Gerechtigkeitslücke in der noch immer
vielfach gespaltenen Gesellschaft unseres Landes.
Danke.
({4})
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1063
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 25. Juni 1999, 9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.